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German Pages 358 Year 2017
Eike Wittrock Arabesken – Das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 35
Eike Wittrock (Dr. phil.) ist Tanz- und Theaterwissenschafter und forscht zu Medien der Tanzgeschichtsschreibung, queerer Theatergeschichte und Floriographie. Als Kurator und Dramaturg arbeitete er u.a. für das Internationale Sommerfestivals Kampnagel, war Mit-Initiator des Julius-Hans-Spiegel-Zentrums und der Greatest Show on Earth 2016. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim.
Eike Wittrock
Arabesken – Das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert
Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin angefertigt und eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1. Einleitung | 7
Le Délire d’un peintre: Figur und Fantasie | 11 Zur Methode | 20 Der Begriff Arabeske | 36 Tanzhistorischer Forschungsstand | 53 2. Danseuses d’Herculanum | 65 3. Genealogie der Arabeske | 97
Drei frühe Auftritte der Arabeske | 104 Carlo Blasis’ Theorie der Arabeske | 108 Eingebildete Linien | 131 Of the figure that moves against the wind | 146 Finale Arabeske/Unzählige Variationen | 149 Im Cirque Olympique | 159 Arabesken in Giselle | 168 4. Thea, oder: Die Blumenfee | 195 5. Voyages dans les espaces imaginaire | 217
Ballet fantastique | 236 Unterwasserwelten | 266 The fading form of the Ondine | 277 Von einer Schönheit, die im Rahmen wohnt | 284 Letzte Arabesken (Fanny Elßler) | 294 6. Schluss | 309 7. Literaturverzeichnis | 319 8. Abbildungsverzeichnis | 353
1. Einleitung Book I/Part I/Theory/General Information As the art of dance is essentially decorative and aesthetic, the dancer should try to mold his body into vigorously aesthetic forms; this gives the poses, even transiently, all that grace and artistic beauty that never grates upon the eye of the audience. GRAZIOSO CECCHETTI1
Diese tanzhistorische Arbeit entwickelt sich aus einem einzigen Muster heraus: der Arabeske. Parallel zu den Entwicklungen in Literatur, Philosophie und Bildender Kunst zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielt auch im europäischen Bühnentanz das Ornament eine zentrale Rolle in jenen tiefgreifenden Umwälzungsprozessen, die sich in den Künsten im Registerwechsel von der Rhetorik zur Ästhetik vollziehen: „Die Problematik des Ornaments entstand […] im Spannungsfeld zweier Paradigmen: dem antiken Paradigma der Rhetorik und dem modernen Paradigma der ausdifferenzierten Sphären der Erkenntnis (Wahrheit), der Moral und der Ästhetik. Sobald es nicht mehr ausschließlich als bloßer Bestandteil der Rhetorik verstanden wurde, wurde das Ornament zum Streitobjekt.“2 Das Auftauchen einer Figur namens Arabeske
1
Grazioso Cecchetti: Classical Dance. A Complete Manual of the Cecchetti Method,
2
Frank-Lothar Kroll, Gérard Raulet: „Ornament“, in: Karlheinz Barck u.a (Hg.): Äs-
Bd. 1, hg. von Flavia Pappacena, Rom 1997, S. 17. thetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 656-683, hier S. 656. Die unterschiedlichen Ornamentbegriffe der Rhetorik (‚aristotelisch und grammatisch‘) und der Ästhetik (‚kantianisch und substantialisch‘) arbeitet sehr gut heraus: Danièle Cohn: „Der Gürtel der Aph-
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im Ballettvokabular dieser Zeit – zuerst als Gruppenfigur, dann als singuläre Pose – ist das deutlichste Indiz dieser Veränderung im künstlerischen Bühnentanz. Die Verbindungen, Übertragungen und Transpositionen zwischen Tanz und den anderen Künsten nehmen in dieser Arbeit dabei eine herausgehobene Position ein, da die Arabeske nicht nur eine Ornamentfigur ist, die zwischen den Künsten wandert, sondern die medialen Übergänge selbst verkörpert bzw. reflektiert: sie vermittelt zwischen Schrift und Bild, und (kon)notiert darüber hinaus Bewegung an sich. Die Pose Arabeske ist jedoch nur ein Aspekt des Ornamentalen im Ballett des 19. Jahrhunderts.3 Das Ornamentale ist ein modus operandi, der sich – als das Arabeske – auf verschiedenen Ebenen dieser Ballette wiederfindet: neben der Ornamentalisierung der einzelnen Tänzer*innen-Figur auch in Gruppenformationen, wie den tableaus und décors, der Dramaturgie dieser Werke, als auch in Erinnerungsobjekten von Balletten und Tänzer*innen. In den Zwischenräumen von visuellen und schriftlichen Dokumenten, zwischen Notationen, Bildern und Texten, soll so eine implizite Theorie der Ästhetik des Balletts im frühen 19. Jahrhundert aufgesucht werden. Die Kategorie des Ornamentalen, so wenig theoretische Aufmerksamkeit diese bisher erfahren hat, lässt sich bis in die Frühgeschichte des europäischen Tanzes zurückverfolgen. Grotesktanz, die Komplementärgattung der Arabeske, bezeichnet seit dem 18. Jahrhundert die Perversion bzw. Umkehrung des klassisch schönen Tanzideals.4 Auch in Tanzreformbewegungen erscheint das Ornament stets als Negativfolie. So argumentiert Jean-Georges Noverre im 18. Jahrhundert gegen das Ornament des höfischen Tanzes als ‚bloßes Accessoire‘, um den Tanz als selbstständige Kunstform aufzuwerten:
rodite. Eine kurze Geschichte des Ornaments“, in: Vera Beyer, Christian Spies (Hg.): Ornament. Motiv – Modus – Bild, München 2012, S. 149-178. 3
Die vorliegende Untersuchung verwendet statt dem epochalen Begriff „Romantisches Ballett“ die Bezeichnung Ballett im (frühen) 19. Jahrhundert, und operiert mit Begriffen wie dem Fantastischen und der Feerie, die Selbstbezeichnungen wie ballet fantastique und ballet féerique entlehnt sind.
4
Vgl. dazu Rebecca Harris-Warrick, Bruce Alan Brown (Hg.): The Grotesque Dancer on the Eighteenth-Century Stage. Gennaro Magri and His World, Madison 2005; wie auch für eine Diskussion der tänzerischen Groteske im 20. und 21. Jahrhundert: Susanne Föllmer: Valeska Gert. Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre, Bielefeld 2006; und dies.: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld 2009.
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„Je ne puis m’empêcher de dire que tous les ornemens postiches, inutiles et incohérens dont on a farci ce ballet [Le Jugement de Pâris], ont absolument étouffé l’impression qu’il devoit produire; que la danse, quelque agréable et quelque magnifique qu’elle soit, ne peut être regardée que comme accessoire, et que c’est un grand art de savoir la placer à propos, et d’éviter de s’en servir, lorsqu’elle peut être nuisible à l’action et à l’intérêt que peut faire naître la pantomime.“5
Die Reformkämpfe um die Kunstform Tanz im 20. Jahrhundert entzünden sich ebenfalls an der Frage des Ornaments und wiederholen so unter anderen Vorzeichen ästhetische Kämpfe des 18. Jahrhunderts (siehe Kapitel 2). Einerseits findet das Ballett in abstrakten Choreografien wie jenen Georges Balanchines im Ornamentalen zu einer ‚reinen‘ Form des Tanzes,6 andererseits lehnt der Moderne Tanz jedwede Ornamentalität als Vorwurf eines bloßen Divertissements ab: „Aus der Pariastellung, nur zur Unterhaltung und zur Auffrischung toter und müder Stunden zu dienen, ist [der Tanz] herausgekommen. Die Mißbewertung, so etwas wie ein arabeskenhaftes Kunstgewerbe zu sein, in einer technisch einfachen und leicht erlernbaren Bewegung zu einer Musik zu bestehen, hat man überwunden.“7
Jenseits dieser tanzhistorischen Polemiken soll in dieser Arbeit ein zeitlich begrenzter Abschnitt des Balletts und seiner Aufzeichungsformen auf ihr Ornamentales hin betrachtet werden, um das ästhetische, operative und reflexive Potenzial dieser Kategorie – zumindest für diesen begrenzten Zeitraum – aufzudecken.
5
Jean-Georges Noverre: Lettres sur les Arts Imitateurs en général, et sur la Danse en particuliér, Bd. 2, Paris 1807, S. 414.
6
Balanchines Choreografien wurden von der Kritik oft als ‚pure dance‘ gefeiert, vgl. exemplarisch Emily Coleman: „Apostle of the Pure Ballet. George Balanchine has little patience with costumes, scenery, frills, even plot. Nothing must distract from the dance“, in: New York Times, 1.12.1957, S. 37-43.
7
Fritz Böhme: Tanzkunst, Dessau 1926, S. 26, vgl. auch S. 103, dort nennt Böhme die rhythmischen Elemente des Tanzes „nichts als ein ins Arabeskenhafte umgeformter natürlicher Trieb“.
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Der Fokus dieser Arbeit liegt dabei auf dem europäischen Bühnentanz im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, in dem Ornament und Tanz eine besonders produktive Verbindung eingehen und in einen vielfältigen Austausch treten. Diese Arbeit versucht in der Konzentration auf einen herausgehobenen ästhetischen Aspekt – das Ornamentale – gleichsam die Materialität (und Medialität) der historischen Übertragung zu bedenken. Im Folgenden geht es also stets auch um die Aufzeichnung des europäischen Bühnentanzes im frühen 19. Jahrhundert im Ornamentalen. Somit stellt sich ebenfalls die Frage, welchen Einfluss die ästhetische Gestaltung der Aufzeichnungsformen von Tanz – die Lithografien, Traktate und Erinnerungsalben, aber auch Notationen und Skizzen – auf die Ästhetik des Bühnentanzes dieser Zeit (und das heutige Bild davon) haben. Weniger um die Darstellung einer Epoche der Tanzgeschichte geht es also im Folgenden um einen Abschnitt in der Geschichte der Tanznotation und -illustration und ihre theoretischen und ästhetischen Folgen. Der Bühnentanz im frühen 19. Jahrhundert ist ein gesamteuropäisches Phänomen mit verstreuten Zentren und unterschiedlichen lokalen Entwicklungen, die sich überlagern, überschneiden und kreuzen. Das Ballett der Pariser Oper nimmt als Institution eine herausgehobene Stellung in dieser Arbeit ein, da die bedeutendsten Werke an diesem Ort uraufgeführt wurden. Paris ist auch im Ballett die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts.8 Im Folgenden werden jedoch auch Werke aus anderen Ballettmetropolen, wie London, Wien und Berlin, untersucht, wie auch Werke jenseits der Zentren. Die Thesen dieser Arbeit werden aus close readings von tanzhistorischen Dokumenten entwickelt: aus Bild- und Textdokumenten, wie Lithografien, Traktaten, Libretti, Keepsakes, sowie choreografischen Arbeitsmaterialien, wie den Notationen von Henri Justamant und sogenannten Musterbüchern. Die Auswahl der Beispiele ist durch den Sammlungscharakter der Archive, die für diese Arbeit untersucht wurden, beeinflusst.9 So tritt mit dem Cho-
8
Die sozialen und politischen Gegebenheiten der Julimonarchie, die diese Entwicklung begünstigt haben, werden dargelegt in Anselm Gerhard: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1992, besonders S. 16-42 skizzieren die unternehmerischen und baulichen Veränderung der Pariser Opéra und die neue Ausrichtung auf ein bürgerliches Publikum.
9
Forschungen für diese Arbeit fanden in der Pariser Bibliothèque-Musée de l’Opéra, den Derra de Moroda Dance Archives in Salzburg, der Theaterwissen-
E INLEITUNG | 11
reografen Henri Justamant ein für die Ästhetik des 19. Jahrhunderts eher peripherer Künstler in den Fokus der Betrachtung, da seine umfangreichen Notationen bis heute das größte Konvolut von Aufzeichnungen des europäischen Bühnentanzes im 19. Jahrhundert darstellen und so für diese materialbasierte Untersuchung einen zentralen Bezugspunkt darstellen. Künstlerische Werke aus Mailand, Stuttgart oder Kopenhagen, die bedeutende ästhetische Impulse für diese Zeit geliefert haben, treten hingegen in den Hintergrund. Ziel dieser Arbeit ist das Ornamentale – jenseits einer Hierarchie von Bild und Rahmung, Figur und Dekor oder Haupt- und Nebensache – als grundsätzliche Kategorie der Ordnung und Anordnung aufzuwerten, die Ballett im 19. Jahrhundert jenseits von Narration, Bedeutung oder Körpertechnik strukturiert.
L E D ÉLIRE D ’ UN PEINTRE : F IGUR UND F ANTASIE Mit der Arabeske übernimmt der Tanz eine Ornamentfigur aus der Bildenden Kunst und überträgt sie in eine still gestellte Pose, die Bewegung (kon)notiert: aufzeichnet und gleichzeitig bildlich darstellt. Eine Verschränkung von Bild und Bewegung – als Bild der Bewegung, in Bewegung gesetztes Bild, wie auch Bild, das Bewegung anhält – durchzieht das Ballett im 19. Jahrhundert. Diese Verschränkung wird besonders im Ornamentalen dieser Werke deutlich, bezeichnet darüber hinaus jedoch auch eine generelle Herausforderung der tanzhistoriografischen Forschung, die sich oft auf ikonografische Quellen bezieht, in denen Bewegung im Bild festgehalten ist. Gabriele Brandstetter hat das Verhältnis von Bild und Bewegung ausgehend von einer Fotografie von Vaslav Nijinsky mit der Metapher des Bild-Sprungs beschrieben. Bild-Sprung ist dabei nicht nur die Abbildung eines Sprungs im Bild, Sprung markiert ebenso „die Bildlichkeit der Bewegung – im Bild“ wie auch
schaftlichen Sammlung Schloss Wahn, der Performing Arts Library in New York, dem Österreichischen Theatermuseum in Wien, wie auch in der Lipperheideschen Kostümbibliothek in Berlin statt. Darüber hinaus greift diese Arbeit auf die Sammlungskataloge von Debrah und Madison Sowell, die Allison Delarue Collection der Princeton University sowie auf Materialien aus der Sammlung von George Chaffee, die sich in der Harvard Theatre Collection befinden, zurück.
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„die Unterbrechung, die sich im Übergang der Medien zeigt; in der Sistierung von Bewegung, die – als flüchtiges Ereignis – nicht zu halten ist, und doch umgekehrt als Bewegungsbild erst entsteht mit der ‚Animation‘ des in Pose Still-Gestellten: in der medientechnischen Animation und in der Belehnung mit Bewegtheit im Blick des Betrachters.“10
Die Ballettpose Arabeske ist ein Bild-Sprung in besonderer Weise. Diese Figur entsteht nicht nur aus einem Übertrag in ein anderes Medium (vom Bild in den Tanz), sondern trägt in den Tanz Aspekte des Bildlichen ein: in der Stillstellung der einzelnen Figur, wie auch in ihrer grafischen Abstraktion und Zeichenhaftigkeit. Sprünge von Bild zu Bild finden sich darüber hinaus auch in ornamentalen Gruppenchoreografien, die ein weiteres Merkmal der Ballette des frühen 19. Jahrhunderts sind. Schlussendlich liegt jeder Form von Tanz-Notation ein Bild-Sprung zugrunde, in der Aufzeichnung von Bewegung im Bild (bzw. in Text/Bild-Hybriden, wie in den Notationen von Henri Justamant), sowie in dem stets drohenden Sprung aus dem BildRahmen, der Rückübersetzung der Notation in Bewegung (Re-Animationen) oder der Fortführung der Bewegung in der Imagination der Betrachtenden. Es ist ein besonderer Bild-Sprung, der ins Zentrum der Frage nach dem Ornamentalen des Ballets im 19. Jahrhundert führt. Es handelt sich um das Bild einer Tänzerin, Fanny Elßler, die aus dem (ornamentalen) Rahmen springt (Abb. 1). Diese Lithografie, die 1844 als Beilage der Wiener Allgemeinen Theaterzeitung veröffentlicht wurde, zeigt den (narrativ) entscheidenden Moment des kurzen Divertissements Le Délire d’un peintre (dt. Des Malers Traumbild), das Jules Perrot 1843 in London für Fanny Elßler choreografiert hat: der Maler erschrickt über das plötzlich zum Leben erweckte Gemälde einer Tänzerin, die aus dem Bilderrahmen steigt.11
10
Gabriele Brandstetter: „Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien“, in: dies.: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 6-14, hier S. 7.
11
„Fanny Elssler / in dem Divertissement: / ‚Des Malers Traumbild‘“, erschienen am 23.5.1844 als „Costume-Bild zur Theaterzeitung“ Nr. 99. Gezeichnet von „Cajetan“, das ist ein Pseudonym von Dr. Anton Elfinger. Vgl. Fritz Schobloch: Wiener Theater, Wiener Leben, Wiener Mode in den Bilderfolgen Adolf Bäuerles (1806-1858). Ein beschreibendes Verzeichnis, Wien 1974, S. 136.
E INLEITUNG | 13
Abbildung 1: Fanny Elßler in „Des Malers Traumbild“
Lithografie, Beilage der Wiener Allgemeinen Theaterzeitung, 1844.
Die Zusammenfassung der Handlung dieses kurzen Werks, das das Vorspiel für drei Bravournummern bildet, 12 sei hier aufgrund seiner Unbekanntheit (fast) vollständig aus der Kritik der Londoner Times von 1843 wiedergegeben: „Perrot is discovered sitting, pale, dejected, and with the air of a maniac, by the side of a veiled picture. Behind that veil he has embodied in colours the one form which possesses his entire mind, which reigns over his whole soul, and commands its deepest devotion. It is that of Blanche D’Oviedo, Ellsler [sic], a lovely and fascinating dancer, the incarnation of all beauty and all grace, whom he has once seen, and whose charms have so indelibly impressed themselves upon his being, that he has been enabled to paint her from memory, and henceforth to that presentable image he devotes a life of rapturous contemplation. In short, he becomes a madman, and not all the endeavours of his mother can divert him from his wild delirium. During a short moment of ab-
12
Ein Pas de deux von Elßler und James Sylvain, ein Pas de deux von Gosselin für Elisa Scheffer und Adeline Plunkett und ein spanischer Bolero, La Castilliana, den Jules Perrot für Elßler und sich selbst choreografiert hat. Vgl. Ivor Guest: Jules Perrot. Master of the Romantic Ballet, London 1984, S. 110.
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sence from his atelier, the real Blanche d’Oviedo appears, and learning the whole story of the young painter’s extraordinary passion, resolves to put an end if possible to his madness. She steps behind the curtain, and standing within the frame in the attitude of her portrait, awaits his return. He comes, and drawing aside the veil, kneels as usual in devout contemplation of the adored image, when to his awe the form gracefully steps forward and approaches him. He stands amazed and enraptured while the lovely dancer hovers around him, exhausting every grace the human form is capable of, now turning through a thousand fascinating evolutions, now approaching him with impassioned movements, and hanging over him like an angel of love. Steps are heard, and she vanishes through the frame again, leaving the painter still wilder in the madness of his passion; and when he again tears aside the veil, he finds Blanche in her common costume, no longer a dream, but a reality – ready to give him a token of it by becoming his wife. […] We cannot give an idea of the inexhaustible grace which flowed from every limb of Ellsler, dazzling the eye and confounding the senses as she flitted around the enraptured painter, mingling the most sparkling playfulness with the most deep-souled passion as she alone can do.“13
Das In-Bewegung-Setzen des Bildes (und das Innehalten des Betrachters darüber), das die Lithografie dieser Szene festhält, ist eine verschobene Wiederholung des Pygmalion-Motivs. An diesem wurden bereits im 18. Jahrhundert paradigmatisch darstellungstheoretische Fragen der Verlebendigung in Bild, Theater und Bewegung verhandelt, wie sie auch für die Diskussion der Arabeske im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung sind. Anhand von Pygmalion-Balletten des 18. Jahrhunderts hat Gabriele Brandstetter diese Fragen am Begriff der Figur, im doppelten Sinne von Plastik und Bewegungsgestalt, entwickelt. Der Pygmalion-Stoff bildet dabei den „Schlüsselmythos“ einer ästhetischen Reflexion über die Materialität des (inszenierten) Körpers und „seiner ‚Animation‘ im Sinne von Beseelung und Bewegung (als Bewegtheit)“,14 wie sie auch in Le Délire d’un peintre wiederzufinden ist.
13
„Her Majesty’s Theatre“, in: The Times (London), 4.08.1843, S. 5.
14
Gabriele Brandstetter: „Figura: Körper und Szene. Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert“, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 23-38, hier S. 29; vgl. auch dies.: „Der Tanz der Statue. Zur Repräsentation der Bewegung im Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Mathias Mayer, Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg 1997, S. 393-422.
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Die Szene der Belebung einer unbelebten Statue, die auf die Darstellung von Empfindsamkeit zielt, unterstreicht (und unterwandert) die Differenz von Natur und Kunst, in dem sie Kunst gleichsam natürlich erscheinen lässt, während der ‚natürliche‘ Körper der Darstellerin Künstlichkeit simuliert. In ihrer Darstellungstheorie bezieht sich Brandstetter auf Erich Auerbachs Figur-Begriff, der aus einer philologischen Betrachtung eine Reihe von Bedeutungsdimensionen herausgearbeitet hat. 15 Das lateinische figura bedeutet „plastisches Gebilde“, bezeichnet aber auch im späteren rhetorischen Sinn bei Quintilian den ornat als Figur der Rede. Aus der Wortbildung vom Stamm und nicht vom Supinum behält figura jedoch etwas „LebendBewegtes, Unvollendetes und Spielendes“, und trägt das „neu Erscheinende, sich Wandelnde“16 als Begriff mit sich. Mit figura lässt sich Gestaltwandel also auch sprachlich erfassen. Im Gegensatz zu forma oder imago, die jeweils auf eine Seite des Abbildungsprozesses festgelegt sind, oszilliert figura zwischen Ur- und Abbild.17 Gabriele Brandstetter hat Auerbachs Figur-Begriff erweitert und für den Tanz wie auch für die allgemeine Theorie der (theatralen) Darstellung fruchtbar gemacht.18 Sie weist darauf hin, dass genau die Unschärfe-Relation der Figur „symptomatisch für die Darstellungsästhetik im 18. Jahrhundert und für Aspekte ihres Wandels verstanden werden kann, wird doch damit gerade die Problematik der Beziehung zwischen Körper und Schrift, zwischen Bewegung und Bild, zwischen Text und szenischem Prozeß bezeichnet.“19 Bettina Brandl-Risi erweitert diese Reflexion über das Bildhafte der
15
Erich Auerbach: „Figura“ [1938], in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romani-
16
Ebd., S. 55.
17
Ebd., S. 58.
schen Philologie, Bern/München 1967, S. 55-92.
18
Neben plastischer Gestalt, rhetorischer Figur der abweichenden Rede und Leseformel der Figuraldeutung listet Brandstetter noch die Wahrnehmungsdimension (Figur-Grund-Relation) auf. Vgl. Gabriele Brandstetter: „Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu William Forsythe“, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 598-623; sowie dies.: „Figura: Körper und Szene“. Vgl. auch Gabriele Brandstetter, Sybille Peters (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002; sowie Gabriele Brandstetter, Gottfried Boehm, Achatz von Müller (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007.
19
Brandstetter: „Figura: Körper und Szene“, hier S. 24.
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Darstellung in ihrer Studie BilderSzenen zu einer transmedialen Wahrnehmungstheorie, die sie anhand der Körperinszenierungspraktiken der Attitüden und Tableaux vivants, theatralen Tableau-Effekten und einem tableauhaften Erzählmodus der Literatur entwickelt.20 Brandl-Risi betont dabei die Destabilisierung der Repräsentation, die Unschärfe der (verzitterten) Verkörperung, in der die Übersetzbarkeit von Text in Performance (und vice versa) in Frage gestellt wird und Lesbarkeit und Sichtbarkeit sich als zwei verschiedene Wahrnehmungsmodi ausdifferenzieren. Der Sprung aus dem Bild im Délire d’un peintre – der der Tanzpose Arabeske ähnelt – wendet sich in zentralen Punkten von der Darstellungstheorie des 18. Jahrhunderts ab und verweist auf die Verschränkung von Bild und Bewegung im Ornamentalen. In der Differenz dieses Divertissements zum Pygmalion-Mythos wird dies deutlich. In Le Délire d’un peintre ist das Objekt der Verlebendigung keine dreidimensionale Statue, sondern ein (zweidimensionales) Gemälde. Der (mediale) Sprung zwischen planem Vorbild und körperlicher Verlebendigung ist vergrößert, wie auch die Abstraktionsleistung der Betrachtenden, diese als identisch zu begreifen. Das ‚Traumbild‘ dieses Malers spielt mit der Wahrnehmung und täuscht die Betrachtenden (auf und außerhalb der Szene). Diese Täuschung beruht dabei nicht auf ‚natürlicher‘ Darstellung, sondern ist ein Effekt des Deliriums des Malers, der Kunst und Realität verwechselt. Die zum Leben erwachte, sich in Bewegung setzende, tanzende Tänzerin ist kein Traumbild, sondern (Bühnen-)Realität, die der Maler im Delirium verkennt. Sein Delirium ist im Ornamentalen vorgeprägt, das den Rahmen darstellt, aus dem die Tänzerin hervortritt und der ihre Bewegungen organisiert – ihre arabeske Pose übersetzt ästhetische Qualitäten des Rahmens.21 In dieser Darstellung der Tänzerin wird die Differenz zwischen Kunst und Natur aufgehoben und durch einen theatralen Mechanismus ersetzt. Die Tänzerin muss kein unbelebtes Kunstwerk imitieren, wie es in den
20
Bettina Brandl-Risi: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg 2013.
21
Gabriele Brandstetter hat anhand Fokines Le Pavillon d’Armide über einen ähnlichen Belebungsvorgang das „Ballett als Tapisserie“ beschrieben, als tanzendes (textiles) Ornament. Gabriele Brandstetter: „Die Inszenierung der Fläche. Ornament und Relief im Theaterkonzept der Ballets Russes“, in: Claudia Jeschke, Ursel Berger, Birgit Zeidler (Hg.): Spiegelungen. Die Ballets Russes und die Künste, Berlin 1997, S.147-163.
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Pygmalion-Balletten und den Attitüden und Tableaux vivants ihre größte Herausforderung ist, sondern die Szene ist von Anbeginn als theatrale entworfen. Der Vorhang lässt das Gemälde zu einer Bühne werden (der ornamentale Rahmen ist ihr Portal), auf der die Tänzerin auftritt. Im Délire d’un peintre ist in der Verlebendigung keine Erziehung zur Natürlichkeit verborgen, wie in den Pygmalion-Balletten,22 sondern sie aktualisiert die dargestellte Bewegung im Bild. Die Natur bleibt im Délire d’un peintre außen vor und wird durch eine halluzinatorische Vorstellungskraft ersetzt. Diese Szene der Verlebendigung ist somit weniger eine Reflexion über die Lebendigkeit und Natürlichkeit der Darstellung, als vielmehr ein Kommentar über das Bildhafte des Theaters: sie weist darauf hin, dass das Theater im tableau und anderen ornamentalen Raumkonfigurationen, wie auch in Posen wie der Arabeske, Kompositions- und Organisationsprinzipien aus der Bildenden Kunst übernimmt, die keine lesbaren Zeichen auf dem Theater produzieren, sondern Arabesken, die in sich in verschiedene Richtungen verzweigen. Dabei springt das Ornament (in einer Übersetzung, die in beide Richtungen funktioniert) zwischen räumlicher und zeitlicher Dimension, zwischen einer stillgestellten (flachen oder dreidimensionalen) Figur und ihrer Übertragung in Bewegung. In der Lithografie, die dem gedruckten Wort der Wiener Allgemeinen Theaterzeitung als bildliches Supplement beigelegt wurde, ist der Sprung aus dem Bild als Bild festgehalten (Abb. 1). Der Sprung aus dem Bild in die Szene (und die Rückübertragung dieses Sprungs ins Bild) markiert die Überschreitung der Gattungsgrenzen, die dem Prozess der Aufzeichnung zugrunde liegt und die wiederum die Basis dieser historiografischen Arbeit bildet. Diese Bild-Szene legt nahe, dass das ideale Medium der Aufzeichnung dieser Bewegungen nicht die Schrift ist, sondern das Bild. Tanzkritik, Paradigma einer beschreibenden Nachschrift von Tanz, bedient sich, wie das Beispiel aus der Times belegt, gerade nicht der Hypotypose, also einem lebhaften Vor-Augen-Stellen,23 sondern der Auslassung der Beschreibung, also einer Praeteritio.24 Der Kritiker evoziert die Größe des
22
Vgl. Brandstetter: „Figura: Körper und Szene“, S. 34 f.
23
Vgl. dazu Brandl-Risi: BilderSzenen, S. 192 ff.
24
Christina Thurner listet den Unsagbarkeitstopos als Aspekt des „Diskurses der Emphase“ der romantischen Tanzkritik. Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009, S. 163 ff. Gegenüber dem Unsagbarkeitstopos impliziert die Praeteritio
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Beschriebenen, in der Behauptung es nicht beschreiben zu können: ‚we cannot give an idea…‘. Erst im Delirium des Malers wird sichtbar, was dem Schreibenden entgeht. Das Ornamentale in seiner Position zwischen Schrift und Bild erweist sich im 19. Jahrhundert – so eine der zentralen Annahmen dieser Arbeit – besser geeignet als die rein schriftliche oder symbolische Notation, um das optische Spektakel des Balletts zu erfassen, wie auch um deren Stil und Grazie wiederzugeben. (Wort-)Schrift und symbolische Notation bilden im frühen 19. Jahrhundert nur ein Element der hybriden Aufzeichnungsformen des Balletts und stehen in einem Ensemble mit Diagrammen, Zeichnungen, Skizzen und anderen konventionalisierten Systemen wie der Musiknotation. Die (ornamentalen) Linien, die den Tanz aufzeichnen, können sich als Wortschrift realisieren, wie auch als Symbole oder Zeichen einer Notation, als Zeichnung oder Arabeske, die sich zwischen diesen Formen bewegt. Zentral bleibt auch im 19. Jahrhundert der Figur-Begriff. Er gewinnt im Ornamentalen eine neue Dimension hinzu und sein Verhältnis zum Rahmen, wie auch zum Grund der Darstellung, tritt in den Vordergrund. Die Figur tritt, in diesem neuen optischen Figurverständnis, 25 gleichermaßen zurück ins Bild: die einzelne Figur geht in die Gruppenfiguration über, die Figur löst sich im (ornamentalen) Dekor auf und der Körper selbst wird Ornament. Diese Figuren sind phantasmata, deren Möglichkeit in den (ornamentalen) Notationen entworfen wird und die in diesen Notationen als Nach-Bilder aufgezeichnet werden. Der Einbildungskraft kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Dieser Begriff wurde im frühen 16. Jahrhundert als deutsche Übertragung der grch. phantasia eingeführt, dem Vermögen, das Bilder (phantasmata) produziert. Bis zum 18. Jahrhundert werden Einbildungskraft, Fantasie und das lateinische Äquivalent Imagination meist gleichbedeutend verwendet und zwar allesamt unter negativen Vorzeichen. Einbildungskraft wird als materielles und körperliches Vermögen konzeptualisiert, das gegenüber der (immateriellen) transzendentalen Wahrheit unzuverlässig und anfällig für Fehler sei.26 Im
einen Abbruch der Rede, der hier in einem Medienwechsel vom Text zum Bild resultiert. 25 26
Vgl. Kap. 5 dieser Arbeit. Jochen Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 88-120, hier S. 93.
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18. Jahrhundert vollzieht sich ein abrupter Bruch in der Bewertung der Einbildungskraft. In der aufkommenden Disziplin der Ästhetik, der idealistischen Philosophie und der literarischen Romantik wird diese radikal aufgewertet und erhält subjektkonstituierenden Status. Im Gegensatz zum klassischen Ideal der Mimesis imitiert die Einbildungskraft die Wirklichkeit nicht, sondern führt diese weiter und produziert Bilder, die das Auge nicht sieht. Dabei entwickelt die Einbildungskraft einen Bezug auf die Zukunft und wird (produktives) Entwurfsvermögen: „Das autonome Individuum der Moderne, dem eine kreative Einbildungskraft zugeschrieben wird, stellt sich damit als ein sich auf imaginäre ‚Bilder‘ beziehendes heraus.“ 27 Im 18. Jahrhundert scheiden sich außerdem begrifflich Einbildungskraft und Fantasie. Die romantische Philosophie des 19. Jahrhunderts wertet die zügel- und regellose Fantasie auf und setzt sie erkenntniskritisch gegen die poetisch disziplinierte (und disziplinierende) Einbildungskraft ein.28 Dem folgt die romantische Literatur. Autoren wie E. T. A. Hoffmann, Jean Paul und später Charles Nodier erkunden die Grenzen und Möglichkeiten der Fantasie und versuchen die Kräfte zu wecken, „die in der Sprachkraft der Bilder schlummern und die vom schöpferischen Autor wie vom produktiven Leser als wucherndes Imaginäres aus dem Buchstaben erweckt werden können.“29 Während die romantische Literatur vielfach den Übergang (oder Sprung) zwischen Schrift und Bild versucht (und problematisiert), erfordert die Präsenz des Körpers im Ballett ein triadisches Modell zwischen inkorporierter Skulptur, Zeichnung und Zeichen. Die physikalische Realität des Körpers auf der Bühne setzt der Fantasie einerseits Grenzen, andererseits entwickelt das Ballett des 19. Jahrhunderts ästhetische Strategien, die einen fantastischen Blick auf Körper ermöglichen bzw. diesen erst erzeugen. Die wuchernde Aufzeichnung des Balletts des frühen 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Medien und Notationsformen korreliert so mit dem fantastischen Aspekt dieser Ballette, da diese selbst delirierende Effekte erzeugt.
27
Ebd., S. 92 f.
28
Vgl. Jochen Schulte-Sasse: „Phantasie“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 778-798. Für Friedrich Schlegel sind Fantasie und die Form Arabeske eng verwandt. Vgl. Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München/Paderborn 1966, S. 242 ff.
29
Gerhard Neumann, Günter Oesterle: „Einleitung“, in: dies.: (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik, Würzburg 1999, S. 9-23, hier S. 12.
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Das Ornament ist somit ideale Aufzeichnungsform der Ballette im frühen 19. Jahrhundert, da es den halluzinatorischen Effekt, den diese zum Ziel haben, in der Aufzeichnung – und der Betrachtung der Aufzeichnung – wiederholt. Die Notationen dienen weniger zur Sicherung der Werke als zu ihrer phantasmatischen Ergänzung. Sie zeichnen die Bilder nach, die im Kopf der Betrachtenden entstanden sind: Le Délire du spectateur.
Z UR M ETHODE Diese Arbeit ist, wie bereits angedeutet, geprägt vom Archiv. Archive des Tanzes, als institutionalisierte Orte der Sammlung tanzhistorischen Materials, bilden den Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Archive des Tanzes sind im erweiterten Sinn auch ihr zentraler Gegenstand, denn Aufzeichungsmedien wie Lithografien, Skizzen, Traktate und Notationen sind ebenfalls Speicherorte der tänzerischen Bewegung. Das Verfahren, mit dem sich diese Arbeit dem Archiv nähert, ist die Archäologie. In dieser Arbeit gibt es einen zweifachen Bezug zur Archäologie: einerseits als metaphorische Bezeichnung einer historiografischen Methode ‚nach Foucault‘, die die mediale Verfasstheit der Überlieferung und Konstitution von Geschichte mitbedenkt; sowie andererseits als konkrete historische Ausgrabungspraxis, die an der kunsthistorischen Wiederbelebung des Ornamentalen und insbesondere der Arabeske im 18. Jahrhundert beteiligt war. Mit dem Archiv und dem korrespondierenden Verfahren der Archäologie sind die methodischen Grundsätze dieser Arbeit benannt, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden. Phantasmagorische Historiografie
Tanzgeschichtsschreibung findet bis weit ins 20. Jahrhundert größtenteils außerhalb der akademischen Institutionen statt. Eine Theoriedebatte über Tanzhistoriografie hat erst in den letzten Jahren eingesetzt.30 Tanzgeschichte
30
Vgl. die Beiträge von Christina Thurner und Gabriele Klein in der von Gerald Siegmund herausgegebenen Ausgabe von Forum Modernes Theater 23/1 (2008) und den Band Christina Thurner, Julia Wehren (Hg.): Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich 2010. Im englischsprachigen Raum hat die akademische Reflexion darüber bereits in den 1990er Jahren eingesetzt, vgl. exemplarisch Susan Leigh Foster: „Choreographing History. Manifesto for
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zu schreiben bedeutete davor, auf der Basis von Kritiken, Lithografien, Biografien und anderen Quellen ein möglichst abschließendes und vollständiges Bild einer Epoche, Institution oder des Werks einzelner Tänzer*innen oder Choreograf*innen zu entwerfen. Der gelernte Rechtsanwalt Ivor Guest, dessen Schriften im englischsprachigen Raum bis heute stark rezipiert werden, hat mit dieser Herangehensweise das Ballett des 19. Jahrhunderts beschrieben. Seine Bücher legen den Grundstein für eine historische Beschäftigung mit diesem Jahrhundert und stellen häufig die erste umfassende Darstellung ihres Gegenstands dar. Guests Fokussierung auf Anekdotisches, Biografisches, seine psychologisierenden Narrative und fehlende Quellenkritik erschweren heute jedoch eine akademische Verwendung dieser Arbeiten. Guest selbst ist sich dabei der fehlenden theoretischen Fundierung seiner Arbeiten bewusst: „When it was pointed out to him, in conversation, that he was being criticized in some quarters for a failure to rise above the historical record and synthesize larger theories, he replied (in his usual unflappable way) that he was not good at such things and so worked away at what he was good at – basic research and establishing a clear historical record – so that others could use this material to come to their own conclusions.“31
Guests Idee eines clear historical record ist jedoch ein Phantasma, denn jede Geschichte ist zugleich Historie wie Erzählung und nach subjektiven Erkenntnisinteressen verfasst.32 Guest beabsichtigt mit seinen Arbeiten, wie er in den Adventures of a Ballet Historian erklärt, „to achieve a detailed reconstruction of the past – in short, to bring it to life for the reader.“33 Er
Dead and Moving Bodies“, in: dies. (Hg.). Choreographing History, Bloomington 1995, S. 3-21. 31
George Dorris: „Ivor Guest. An Appreciation“, in: Dance Chronicle 24/1 (2001), S. 1-5, hier S. 3.
32
Die von Reinhart Koselleck in den 1970er Jahren eingeführte Reflexivierung der Geschichtswissenschaft betrifft auch die Tanzwissenschaft, vgl. Christina Thurner: „Zeitschichten, -sprünge und -klüfte. Methodologisches zur Tanz-GeschichtsSchreibung“, in: Forum Modernes Theater 23/1 (2008), S. 13-18, wie auch Sabine Huschka: „Vom vergangenen Tanz Wissen“, in: Nicole Haitzinger, Karin Fenböck (Hg.): DenkFiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München 2010, S. 224-233.
33
Ivor Guest: Adventures of a Ballet Historian. An Unfinished Memoir, London 1982, S. 17.
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geht in seinem historiografischen Projekt wie in einer Geisterbeschwörung vor – womit er ein häufiges Motiv der Ballette im 19. Jahrhundert wiederholt. Seine Historiografie ist somit eher eine Phantasmagorie als ‚clear record‘, nüchterne Wiedergabe von Fakten, und somit selbst immanent romantisch. Mehr noch als die Theaterwissenschaft ist die Tanzhistoriografie geprägt vom ‚Verlust des Ereignisses‘, dem vergänglichen und irreduzibel verlorenen Untersuchungsgegenstand, wie Sabine Huschka bemerkt. Huschka weist auf die Historizität der Denkfigur des Flüchtigen hin, die aus dem 18. Jahrhundert stamme, und ordnet das historiografische Ziel eines klaren und lebendigen Bildes einer historischen Aufführung als romantisch ein. Sie formuliert dagegen die Notwendigkeit, der Vergänglichkeit der Aufführung nicht (melancholisch) anzuhängen, sondern in eine Reflexion über das Transitorische der Gattung umzuwenden: „Die mögliche Radikalität der Tanzwissenschaft und ihrer Historiographie liegt […] in der unbedingten Anerkennung des Verlusts und einer hierüber eingesetzten Erinnerungskultur im Schreiben.“34 Auch zeitgenössische, reflexive Tanzgeschichtsschreibung wie die vorliegende Arbeit ist phantasmatisch affiziert.35 Von den Geistern und Traumerscheinungen, die dabei in „historiografischen Visionen“ zum Sprechen und Tanzen gebracht werden,36 lässt sich diese jedoch nicht erschrecken, sondern vollzieht die (phantasmagorischen) Mechanismen ihrer Hervorbringung nach. Das Archiv ist der Ort für diese Erinnerung, eine institutionalisierte Gedächtnisstütze. Es bildet die Grundlage der vorliegenden Arbeit, deren Material verschiedene Aufzeichnungsformen von Tanz sind, verschiedene Medien, die sich um Ballettwerke gruppieren. Da die folgenden Ausführungen sich primär mit Aufzeichnungstechniken und sekundär mit deren Reflexen in der Aufführung oder im Werk – wenn diese überhaupt in den Aufzeichnungen erkennbar sind – beschäftigen, werden performative Kategorien wie Virtuosität, die in der Ballettästhetik des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle
34 35
Huschka: „Vom vergangenen Tanz Wissen“, S. 232. „Historiographie scheint in der Tanzwissenschaft aber nicht nur mit vergangenen Praktiken umzugehen, sondern sie ist gewissermassen von einem letztlich verlorenen Ereignisraum von Tanz und Bewegung (phantasmatisch) affiziert.“ Sabine Huschka: „Vom vergangenen Tanz Wissen“, S. 231.
36
Christina Thurner: „Tänzerinnen-Traumgesichter. Das Archiv als historiografische Vision“, in: Tanz und Archiv: Forschungsreisen 2 (2010), S. 12-21.
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spielt, nur am Rande verhandelt. Das Präsentische der Aufführung, das Erika Fischer-Lichte über die Analyse von Theater und Performance im 20. Jahrhundert als leibliche Ko-Präsenz von Akteur und Zuschauer bestimmt,37 ist nicht Gegenstand dieser Arbeit, sondern die Spuren oder Anzeichen einer vergangenen Präsenz sowie die (fantastische bzw. phantasmatische) Mechanik ihrer Wahrnehmung. Denn das Archiv wird, wie Jacques Derrida ausführt, „niemals das Gedächtnis noch die Anamnese in ihrer spontanen, lebendigen und inneren Erfahrung sein. Sondern ganz im Gegenteil: das Archiv hat Statt (a lieu) an Stelle (au lieu) einer ursprünglichen und strukturellen Schwäche besagten Gedächtnisses.“38 Das Archiv ist hypomnestisch: mnemotechnisches Supplement, Hilfsmittel oder Gedächtnisstütze.39 Diese Arbeit beschreibt Archivdokumente und die Art und Weise, in der diese das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert entwerfen und aufzeichnen, wie auch die fantastischen Effekte des Lesens und Betrachtens dieser Dokumente, die eine theatrale Betrachtungsweise wiederholen oder präfigurieren. Sie beschreibt die Mechanismen einer historischen Phantasmagorie, ohne dabei selbst Geister zum Leben erwecken zu wollen. Archäologie Der Begriff Archäologie ist seit einigen Jahren zum Leitbegriff verschiedener kulturwissenschaftlicher, historiografischer und künstlerischer Arbeiten geworden, die sowohl an die wissenshistorischen Arbeiten von Michel Foucault anschließen, wie auch an die archäologischen Methoden Sigmund Freuds, Walter Benjamins oder Aby Warburgs.40
37
Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004.
38
Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 25.
39
Vgl. ebd.
40
Die hier vorgestellte Ornamentarchäologie ist bis zu einem gewissen Grade der Methode Aby Warburgs verwandt, die ebenfalls archäologisch vorgeht. Das Ornamentale, besonders die Arabeske, nimmt eine in dieser Studie analoge Position zu Warbugs Pathosformeln ein, die als ‚Dynamogramme’ ebenfalls Bewegung indizieren. Für Warburg speichern die Pathosformeln jedoch Affekte und (psychische) Energien und sind somit Untersuchungsinstrumente einer Psychohistorie, die in dieser Studie explizit nicht verfolgt wird. Vgl. dazu Aby Warburg: „Mnemosyne Einleitung“, in: ders.: Werke in einem Band, hg. von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Frankfurt/Main 2010, S. 629-639; sowie Gab-
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Seit Foucaults Archäologie des Wissens (1969/1973) hat in den Geschichts- und Kulturwissenschaften ein Umdenken bezüglich der Narration von Geschichte und der Materialität der Übertragung geschichtlichen Wissens eingesetzt, in dem das Archiv, als Ort seiner Speicherung, zunehmend in den Blick getreten ist: „An der Basis dieser Revision [in den Geschichts- und Kulturwissenschaften] steht die Erkenntnis, dass Techniken und Medien, Apparate und Instrumente nicht externe Träger des kulturellen Wissens um die Vergangenheit sind, sondern zu deren primären Produzenten zählen.“41 Archäologie fasst seit Foucault schlagwortartig unterschiedliche Weisen materialbasierter historiografischer Forschung zusammen, die das Augenmerk auf die Medialität der Geschichtsschreibung lenken. Dabei geraten insbesondere unterschiedliche Speichermedien und Aufzeichnungstechniken in den Blick, sowie die Art und Weise, wie diese Wissen konfigurieren. Der Weg führt dabei oft an den physischen Speicherort von Wissen, ins buchstäbliche Archiv, das bei Foucault hingegen ‚nur‘ metaphorisch auftaucht: „Räumlich sind die Erben Foucaults […] dort angekommen, wo das Archivdenken seinen metaphorischen Ausgang nahm.“42 Foucault nennt in der Archäologie des Wissens die neue Ausrichtung der Historiografie eine „Infragestellung des Dokuments“,43 in dem die Geschichte nicht mehr die „Frische seiner Erinnerungen“44 wiederfindet, sondern das Dokument in ein Monument transformiert wird, um dieses „von innen zu bearbeiten und es auszuarbeiten: [die Geschichte] organisiert es, zerlegt es, verteilt es, ordnet es, teilt es nach Schichten auf, stellt Serien fest, unterscheidet das, was triftig ist, von dem, was nicht ist, findet Elemente auf, definiert Einhei-
riele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, 2. erweiterte Auflage, Freiburg 2013. 41
Knut Ebeling: „Die Mumie kehrt zurück II. Zur Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Kunst und Medien“, in: ders., Stefan Altekamp (Hg.): Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/Main 2004, S. 9-30, hier S. 15; vgl. auch Knut Ebeling: Wilde Archäologien 1. Theorien der materiellen Kultur von Kant bis Kittler, Berlin 2012.
42
Knut Ebeling, Stephan Günzel: „Einleitung“; in: dies. (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 7-26, hier S. 12.
43
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1973, S. 14, herv. i.O.
44
Ebd., S. 15.
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ten, beschreibt Beziehungen. Das Dokument ist also für die Geschichte nicht mehr jene untätige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur verbleibt: sie sucht nach der Bestimmung von Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst.“45
Diese methodische Neuausrichtung verlangt ein (historiografisches) „Denken der Diskontinuität“,46 das lineare historische Narrative aushebelt, und verunmöglicht die Idee einer unmittelbaren Erkenntnis der Vergangenheit im Angesicht der ‚authentischen‘ und ‚originalen‘ Aussagen in den Dokumenten. Die Tanzwissenschaft scheint hier besonders prädestiniert dafür, das „Vergangene in seiner Transitorik“47 zu bedenken und steht damit grundsätzlich der Archäologie, wie sie nach Foucault beschrieben wird, nahe:48 Im Tanzarchiv trifft man nicht auf die unmittelbare Ansicht der vergangenen Bewegung (wie in einer Phantasmagorie oder dem Kino), sondern auf ihre (hypomnestischen) Spuren und Reste, ihre traces (in einer Doppeldeutigkeit als Spur und Zeichnung), wobei der Tanz selbst die Leerstelle bleibt.49 Theater- und Tanzgeschichtsschreibung, die eine Geschichte der Aufführung anstrebt, verfügt, wie Friedemann Kreuder herausgestellt hat, ausschließlich über Dokumente und keine Monumente. 50 Die vorliegende Arbeit kon-
45
Ebd., S. 14, Herv. E.W.
46
Ebd., S. 13.
47
Huschka: „Vom vergangenen Tanz Wissen“, S. 230.
48
Knut Ebeling spricht von einer „fundamentalen Verborgenheit“ der Archäologie, deren Vergangenheit meist nicht nur verschwunden, sondern auch zerstört ist. Vgl. Ebeling: „Die Mumie kehrt zurück II“, S. 21. Giorgio Agamben beschreibt sie als „Ruinologie“: „Die Archäologie ist […] eine Wissenschaft von den Ruinen, eine ‚Ruinologie‘, deren Gegenstand, obschon er kein transzendentales Prinzip im eigentlichen Sinne konstituiert, niemals wirklich als ein empirisch gegebenes Ganzes präsent ist.“ Giorgio Agamben: Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt/Main 2009, S. 102.
49
Vgl. Gabriele Brandstetter: „Fundstück Tanz. Das Tanztheater als Archäologie der Gefühle“, in: Johannes Odenthal (Hg.): tanz.de. Theater der Zeit Arbeitsbuch 2005, Berlin 2005, S. 12-19.
50
Friedemann Kreuder: „Theaterhistoriographie“, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 344-346, hier S. 344.
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zentriert sich auf die Dokumente, die in der hier skizzierten Herangehensweise selbst zu Monumenten werden. Statt den Werken, werden Notationen und Aufzeichnungen – besonders deren dokumentarisches Gewebe – zu Monumenten, die archäologisch beschrieben werden.51 Diese Arbeit lehnt sich methodisch an Foucault an, folgt seiner Methode jedoch nicht streng und modifiziert sie für den hier betrachteten, ästhetischen Gegenstand. Archiv und Archäologie werden dabei enger (und buchstäblicher) gefasst als bei Foucault, gleichzeitig werden aber auch Aspekte seiner (metaphorischen) Verwendung beibehalten. So steht der Begriff Archiv für die ‚realen‘ Archive, aus denen das (größtenteils unveröffentlichte) Material für diese Studie gehoben wurde. Die Sammlungskriterien dieser Archive, die Techniken und Praktiken der archivarischen Aufbewahrung, Katalogisierung, Sortierung, Speicherung und Veröffentlichung sind zwar nicht Gegenstand dieser Arbeit, 52 geben dieser jedoch den Rahmen. Bestimmte Fragen, wie z.B. wann genau die Arabeske zu der Pose geworden ist, wie wir sie heute kennen, müssen aufgrund fehlender Dokumente (vorerst) offen bleiben. Dennoch lässt sich auch Foucaults metaphorischer Begriff des Archivs für diese Untersuchung anwenden. Notation, die hier auch Skizzen, Lithografien, Keepsakes, Kritiken, Libretti und Traktate umfasst, lässt sich (metaphorisch) als Archiv bezeichnen. Die Notation und das Ornament bilden „das allgemeine System der Formation und Transformation der Aussagen“53 (des Tanzes) und stellen ihre mediale Grundlage dar. Die Herangehensweise die-
51
Für einen ähnlichen historiografischen Ansatz in Bezug auf das 20. Jahrhundert vgl. Tessa Jahn, Eike Wittrock, Isa Wortelkamp: „Bilder von Bewegung. Eine Einführung“, in: dies. (Hg.): Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne, Bielefeld 2015, S. 11-28.
52
Für unterschiedliche Ansätze in diese Richtung vgl. Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke: „Körper und Archive. Die Derra de Moroda Dance Archives in Salzburg“, in: Johannes Odenthal (Hg.): tanz.de. Theater der Zeit Arbeitsbuch 2005, Berlin 2005, S. 29-31; Karin Fenböck: „Derra de Moroda. Dem Archiv verschrieben?“, in: Tanz und Archiv: Forschungsreisen 3 (2010), S. 12-19; sowie zu Joseph Cornells Archivhalluzinationen, Eike Wittrock: „Clowns, Elephants, and Ballerinas. Joseph Cornell’s Vision of 19th Century Ballet in Dance Index (as collage)“, in: Conversations Across the Field of Dance 31 (2011), S. 14-23.
53
Michel Foucault: Archäologie des Wissens, S. 188. Herv. i.O.
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ser Arbeit lässt sich somit als Archäologie des Ornamentalen bezeichnen, die gleichzeitig eine Archäologie der Notation ist.54 Dem Verständnis von Archäologie als historiografischer Methode nach Foucault, die erlaubt Techniken der grafischen/zeichnerischen Übertragung und den medialen Status der Arabeske zu reflektieren, steht ein konkretes Interesse des frühen 19. Jahrhunderts an der Archäologie gegenüber. Das Ornamentverständnis dieser Zeit ist, bis ins Ballett hinein, archäologisch geprägt. Eine der Urszenen der Ornamentdiskussion des 18. und 19. Jahrhunderts, die archäologischen Ausgrabungen der Arabesken und der Tänzerinnen von Herculaneum, ist Gegenstand des 2. Kapitels. Notation Notationen des Ornamentalen und ornamentale Notationen des Balletts im frühen 19. Jahrhundert bilden den zentralen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. In der Geschichte der Tanznotation stellt das 19. Jahrhundert jedoch eine Übergangszeit dar, in der sich keine standardisierte oder Universalität beanspruchende Form der Tanzaufzeichnung durchsetzt. 55 Im Gegensatz zur musikalischen Notenschrift, die in Europa seit dem 12. Jahrhundert eine mehr oder minder kontinuierlich sich ausdifferenzierende Entwicklung einer einzigen Notationsform darstellt, reagiert der Tanz mit einer Vielzahl unterschiedlicher Entwürfe auf die historisch spezifischen Anforderungen an Tanzschrift.56 Im 19. Jahrhundert werden eine Vielzahl nicht syn-
54
Théophile Gautier hat dieses Vorgehen bereits 1844 angekündigt, als er das Album Les Beautés de l’Opéra als künftiges „précieux ouvrage d’archéologie dramatique“ anpries. Théophile Gautier: „Reprise de la Sylphide. Rentrée de Mlle. Taglioni“, in: La Presse, 3.06.1844, S. 1.
55
Zur Tanzschrift des 18. Jahrhunderts vgl. S. 238 ff. dieser Arbeit. Die Bemühungen von Rudolf Laban um Tanznotation, wie die Entwicklung seiner Labanotation, dokumentiert die Zeitschrift Schrifttanz, die von 1928-1931 in der Universal Edition erschien. Vgl. Schrifttanz. Eine Vierteljahresschrift. Schriftleitung Alfred Schlee 1-4 (1928-1931), Neudruck hg. von Gunhild Oberzaucher-Schüller, Hildesheim 1991.
56
Für einen systematischen Überblick zur Geschichte der Tanznotation siehe Ann Hutchinson Guest: Choreo-Graphics. A Comparison of Dance Notation Systems from the Fifteenth Century to the Present, New York 1989; wie auch Claudia Jeschke: Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall 1983.
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thetisierbarer Notationsexperimente entwickelt, die der Herausforderung einer zunehmenden technischen Komplexität der körperlichen wie räumlichen Bewegungen auf der Tanzszene des 19. Jahrhunderts eklektisch und idiosynkratisch begegnen.57 Diese Arbeit betrachtet daher unterschiedliche Aufzeichnungsformen und beschreibt, welche Rückwirkungen deren Möglichkeiten und Beschränkungen auf den Gegenstand der Aufzeichnung – das Ballett – ausüben. Aufzeichnung darf dabei nicht als vollständige und wahrheitsgetreue Übertragung, exakte Reproduktion einer Bewegung oder Tanzaufführung verstanden werden, da der Medienwechsel der Notation notwendigerweise Transformation impliziert.58 Notation wird hier mit Gabriele Brandstetter verstanden, die Nelson Goodmans normative Definition von Notation als Identifikation eines Werks 59 zugunsten eines offenen Verständnisses von „Formen des Notationellen“ als „Formen der Strukturierung künstlerischer Gestaltungsprozesse“ 60 erweitert. Als Notationen werden im Folgenden unterschiedliche Materialien verstanden, die das Ornamentale des Balletts im frü-
57
Vgl. Claudia Jeschke, Gabi Vettermann, Nicole Haitzinger: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010, S. 488 (Autorin dieses Abschnitts ist Claudia Jeschke).
58
„Mit der Auf-Zeichnung, mit der Übertragung – die stets einen Medienwechsel impliziert – ist immer schon eine Transformation geschehen. […] Dies zu reflektieren und zu zeigen, wäre […] ein wesentliches Moment der Beschreibung selbst, die Aufzeichnung und Episteme des Aufzeichnens als ‚Kunst‘ (im Sinne von techné) begreift.“ Gabriele Brandstetter: „Aufführung und Aufzeichnung – Kunst der Wissenschaft?“, in: dies.: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 199-210, hier S. 200 f.
59
Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main 1995, S. 125. Ein emphatischer Werkbegriff, der von Aufführung zu Aufführung identisch ist, bildet sich im Tanz erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus. Einige der hier betrachteten Notation von Henri Justamant können als Indiz der Etablierung dieser Kategorie betrachtet werden.
60
Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann, Kirsten Maar: „Einleitung. Notationen und choreographisches Denken“, in: dies. (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg 2010, S. 7-26, hier S. 7. Vgl. ebenfalls Gabriele Brandstetter: „Schriftbilder des Tanzes. Zwischen Notation, Diagramm und Ornament“, in: Sybille Krämer, Rainer Totzke, Eva Cancik-Kirschbaum (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2012, S. 61-77.
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hen 19. Jahrhundert sowie deren technischen, ästhetischen, theoretischen und aufführungspraktischen Aspekte aufzeichnen, vorzeichnen und nachzeichnen. Diese Notations- und Aufzeichnungsformen sind Hybride und integrieren verschiedene Schrift-, Zeichen- und Zeichnungsformen. Sie sind sowohl Entwurfsinstrument, wie auch Imaginationsmaschine (ein spiritistisches Medium), um die ornamentale (arabeske) Fortführung der Bewegungen und Posen in der Vorstellung der Betrachtenden anzustoßen. Notation wird dabei als Aufzeichnung von Bewegungen und Posen gedacht, die zwar immer wieder an Schrift heranrückt, aber im weiteren Feld des Graphismus zu verorten ist, der sowohl Schrift wie (bildhafte) Zeichnung und das Ornamentale umfasst. Im Folgenden tritt das präskriptive Moment der Notation gegenüber dem bewahrenden und analytischen Moment der Aufzeichnung in den Hintergrund.61 Aufzeichnung erscheint hier dennoch nicht jenseits der Aufführung, sondern daneben, am Rande der Aufführung: parergonal.62 In diesem Notationsverständnis werden jene Aspekte wichtig, die von Sybille Krämer als Schriftbildlichkeit beschrieben wurden. Krämer akzentuiert mit diesem Begriff einen Perspektivwechsel hin zu einem lautsprachenneutralen Schriftkonzept, das die operative Dimension von Schriften und Notationen in den Vordergrund rückt. Die von Krämer für Schrift aufgestellten Kriterien – Räumlichkeit, Graphismus, Operativität/Explorativität und Mechanisierbarkeit – treffen jedoch nicht alle in der von Krämer (gemeinsam mit Rainer Totzke) beschriebenen Weise für den hier bearbeiteten Ge-
61
Vgl. Gabriele Brandstetter: „Notationen im Tanz. Dance Scripts und Übertragung von Bewegung“, in: dies., Franck Hofmann, Kirsten Maar (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg 2010, S. 87-108, hier S. 90.
62
Tanznotation unterscheidet sich hier von musikalischer Notation. Notation nimmt in der europäischen Tanzgeschichte keine so fundamental (gattungs-) identitätsstiftende Funktion ein wie in der Musik, ebenso dient Tanznotation auch nur äußerst selten zur Kommunikation zwischen Choreograf*in und Interpret*in. Zur Funktion der musikalischen Notation vgl. die Beiträge von Heidy Zimmermann, Peter Weibel und Angela Lammert im Katalog zur Notationsausstellung der Akademie der Künste, Berlin, die jedoch die Entwicklungen im 20. Jahrhundert fokussieren, in denen Notation selbstreflexiv wie entgrenzend eingesetzt wird. Hubertus Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Ausstellungskat. Akadmie der Künste Berlin, Berlin 2008.
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genstand zu.63 Ihr Verständnis von Schriftbildlichkeit ist auf Sinn und Referenz ausgerichtet. Das Ornamentale und die Notation gehören zwar dem Feld des Graphismus an, das Aspekte der Schriftbildlichkeit berührt, sind jedoch in Krämers und Totzkes Verständnis von Schrift, aufgrund dessen hermeneutischer Ausrichtung, explizit ausgeschlossen.64 Im Folgenden tritt dagegen der Referenzcharakter in den Hintergrund. (Tanz-)Notation hat zwar notwendigerweise einen Bezug zur Aufführung, zu Bewegung oder Tanz, dieser ist jedoch operativ und muss nicht zwingend als Bedeutung oder Referenz gedacht werden. Notation hat primär eine organisierende und strukturierende Funktion 65 und ist auf Handlungen bezogen, nicht auf Sinn.66 In der Notation entfaltet sich der Operationsraum 67 einer „wilden Diagrammatik“68, der sich durch graphic suggestiveness und manoeuvrability (Handhabbarkeit)69 auszeichnet, und sowohl entwerfendes, generatives wie auch analytisches Potenzial70 sowie eine fantastische Dimension beinhaltet.
63
Vgl. dazu Sybille Krämer, Rainer Totzke: „Einleitung. Was bedeutet ‚Schriftbildlichkeit‘?“, in: dies., Eva Cancik-Kirschbaum (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2012, S. 1335.
64
Ebd., S. 19. Krämers und Totzkes Abgrenzung der Schrift vom Ornament basiert auf einem traditionellen Vorurteil gegenüber dem Ornament, nicht referenziell zu sein. Einen Überblick zu jüngeren Positionen der Ornamenttheorie gibt Kroll, Raulet: „Ornament“.
65
Vgl. dagegen Krämer, Totzke: „Einleitung. Was bedeutet ‚Schriftbildlichkeit‘?“, S. 19.
66
Diese Unterscheidung ließe sich noch weiter ausformulieren, bzw. ebenso der Schnittpunkt dieser beiden Begriffe aufzeigen. Vgl. exemplarisch dazu Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main 2004.
67
In Anlehnung an Sybille Krämer: „‚Operationsraum Schrift‘: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift“, in: dies., Gernot Grube, Werner Kogge (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 23-57.
68
Brandstetter, Hofmann, Maar: „Einleitung. Notationen und choreographisches Denken“, S. 13.
69
Diese Begriffe wurden von Ursula Klein zur Beschreibung von ‚paper tools‘ herangezogen. Ursula Klein: „Paper Tools in Experimental Cultures“, in: Studies in History of Philosophy and Science, 32/2 (2001), S. 265–302. Klein übernimmt diese Begriffe von Nelson Goodman, der diese Eigenschaften jedoch als unwe-
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Mit dem Begriff der „wilden Diagrammatik“, einer Übertragung von Aleida Assmanns Theorie der „wilden Semiose“71 auf die Notation, lässt sich die fantastische Dimension der Lektüre greifen, die – besonders im 19. Jahrhundert – mit der Materialität von Schrift verbunden ist. Brandstetter, Hofmann und Maar leiten davon eine „imaginative Grundoperation“72 in der Übertragung von Notation in Bewegung ab, die das Verhältnis von Notation und Tanz an ihrem Kern berührt und in der impliziten Schriftbildlichkeit des Balletts im 19. Jahrhundert reflektiert ist. Notation, so könnte man formulieren, rückt dabei einen Aspekt der Schriftbildlichkeit ins Zentrum, der in literarischen Schrifttechniken besonders im Lesen zum Tragen kommt. Susanne Strätling verortet im Changieren der Schrift zwischen optischer und phantasmatischer Anschauung ein Vermögen, „die Wahrnehmbarkeit des Buchstabens mit der Vorstellbarkeit des Bildes zu verbinden“73 und gewinnt daraus ein Verständnis von Schrift (auch) als „Imaginationstechniken, als Operatoren von Phantasmen.“ 74 Das Ornament kann paradigmatisch für dieses Modell des Lesens einstehen, in dem das Schriftbild als Konstellation,
sentlich für eine „grundlegende theoretische Funktion von Notationssystemen“ ansieht und daher nicht weiter verwendet. Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 149. 70
„Zum Charakter der ‚Auf-Zeichnung‘ tritt die aktive, die schöpferische und analytische Seite der Notation.“ Brandstetter, Hofmann, Maar: „Einleitung. Notationen und choreographisches Denken“, S. 14.
71
Mit „wilder Semiose“ bezeichnet Assmann einen alternativen Modus des Lesens (den ‚faszinierenden Blick‘, das ‚Starren‘), das nicht zum Sinn durchdringt, sondern an der Oberfläche und Materialität der Zeichen hängenbleibt und so die Schrift zum Bild macht. Aleida Assmann: „Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose“, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main 1988, S 238-251.
72
Brandstetter, Hofmann, Maar: „Einleitung. Notationen und choreographisches Denken“, S. 16.
73
Susanne Strätling: „Schrifterscheinungen. Das Alphabet als Medium von Epiphanie, Invention und Alterität (N.V. Gogol’)“, in: Sybille Krämer, Rainer Totzke, Eva Cancik-Kirschbaum (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin 2012, S. 287-301, hier S. 293.
74
Susanne Strätling, Georg Witte: „Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung in diesen Band“, in: dies. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 7-18, hier S. 11.
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als eine Anordnung von Elementen, gelesen wird.75 Über diesen Begriff des Schriftbilds und dessen magische Seite sind, wie Menke und Brandstetter mit Walter Benjamin formulieren, Ornament und Tanz verwandt.76 Diese Verwandtschaft wird in den ornamentalen Tanznotationen dieser Arbeit explizit. Über diese imaginäre Grundoperation ist der Graphismus, den man im Ornamentalen des Balletts im 19. Jahrhundert auffinden kann, nicht auf die zweidimensionale Fläche77 beschränkt. Die Pose Arabeske ist eine Übertragung eines Ornaments in den dreidimensionalen Raum der Bühne und operiert im Zwischenspiel von flächiger Zweidimensionalität und räumlicher Dreidimensionalität. Sie exemplifiziert – als Pose – den kippfiguralen Aspekt des Ornaments, das mit der Illusion von Tiefe arbeitet und erschafft auf der Bühne die Illusion von Fläche. Schriftbildlichkeit fällt also in dieser Arbeit in zweifacher Weise ins Gewicht. Zum einen ist damit eine gemeinsame Dimension der vielfältigen Notationen und Aufzeichnungsformen von Tanz angesprochen, die die materiale Grundlage dieser Arbeit bilden. Zum anderen verweist dieser Begriff auf ein Schriftbild-Werden des Tanzes selbst, wie es im 19. Jahrhundert an der Pose Arabeske und anderen ornamentalen Formationen zu beobachten ist. Das implizite Schriftbild des Tanzes kann so als performative Reflexion auf den historischen Stand der Tanznotation im 19. Jahrhundert, die eklektisch
75
Bettine Menke entwickelt dieses Modell mit Walter Benjamins „Lehre vom Ähnlichen“. Benjamin nennt die im „Schriftbild“ der Wörter aufbewahrten „unsinnlichen Ähnlichkeiten“ mit Bedeutung die ‚magische Seite‘ der Schrift, dessen Lesbarkeit er phylogenetisch vor der Schrift ansiedelt: „‚Was nie geschrieben wurde, lesen.‘ Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.“ Ornament, Tanz und Sternkonstellationen stehen bei Benjamin metonymisch für eine Grundoperation des Lesens (und Schreibens, bzw. Aufzeichnens) ein. Bettine Menke: „Ornament, Konstellation, Gestöber“, in: Susi Kotzinger, Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam 1994, S. 307-326; vgl. Walter Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen“ sowie „Über das mimetische Vermögen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2,1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1977, S. 204-213, hier S. 213.
76
Menke: „Ornament, Konstellation, Gestöber“, S. 310; Brandstetter, Hofmann, Maar: „Einleitung. Notationen und choreographisches Denken“, S. 15.
77
Für Krämer und Totzke eines der Merkmale von Schrift. Krämer, Totzke: „Was bedeutet ‚Schriftbildlichkeit‘“?, S. 16.
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und unsystematisch auf die veränderte Tanzästhetik reagiert, gelesen werden kann. In der Arabeske zeichnet sich Tanz selbst (auf). Im Folgenden soll einerseits die wilde Diagrammatik dieser Notationen rekonstruiert und ihre fantastischen Dimensionen auf dem Papier wie auf der Bühne beschrieben werden. Andererseits wird dabei selbst eine wilde Semiose praktiziert, in dem die Dokumente jenseits ihrer Rückübersetzbarkeit78 verortet und die Materialität dieser Zeichen und Zeichnungen auf ihre Ornamentalität hin betrachtet werden, die – so die These dieser Arbeit – einen zentralen Aspekt des Balletts in dieser Zeit ausmachen. Das Justamant-Konvolut
Einen zentralen, in dieser Arbeit immer wiederkehrenden, Materialkorpus bilden die choreografischen Notationen von Henri Justamant, daher soll dieser hier kurz eingeführt werden. Claudia Jeschke hat die Tanzforschung auf diese Dokumente aufmerksam gemacht, die den bisher größten zusammenhängenden Korpus von Ballett- und Inszenierungsnotationen des 19. Jahrhunderts bilden. 79 Justamant hat seine Notationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angefertigt, unter ihnen finden sich auch Aufzeichnungen zu zentralen Werken des frühen 19. Jahrhunderts, wie die früheste erhaltene choreografische Notation von Giselle.80 Justamants Notate wurden, möglicherweise als Nachlass, im Pariser Auktionshaus Drouot am 15. Mai 1893 versteigert. Die Auktion umfasste zwölf Konvolute, darunter befanden sich Notationen kompletter Werke mit teilweise zusätzlichen Materialien wie Bühnenbild- oder Kostümskizzen, Tanzeinlagen und Notate einzelner Rollen, sowie einzelne Pas und Divertisse-
78
Einen Überblick über die praktischen Verwendungen von Bewegungsschrift gibt Jeschke: Tanzschriften, S. 44 f.
79
Vgl. Claudia Jeschke: „Inszenierung und Verschriftung. Zu Aspekten der Choreographie und Choreo-Graphie im 19. Jahrhundert“, in: Katharina Keim, Peter M. Boenisch, Robert Braunmüller (Hg.): Theater ohne Grenzen. Festschrift für HansPeter Bayerdörfer zum 65. Geburtstag, München 2003, S. 256-265. Und dies. mit Robert Atwood: „Expanding Horizons: Techniques of Choreo-Graphy in Nineteenth-Century Dance“, in: Dance Chronicle 29/2 (2006), S. 195-214.
80
Das Manuskript befindet sich im Deutschen Tanzarchiv Köln und wurde 2008 in einer Faksimileausgabe veröffentlicht. Frank-Manuel Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis. Ballet Fantastique en deux actes. Faksimile der Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren, Hildesheim 2008.
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ments. Heute sind die Konvolute auf verschiedene Archive verteilt, ihr zwischenzeitlicher Verbleib ist teilweise ungeklärt.81 Größere Teile besitzen jeweils die Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn bei Köln, die Bibliothèque Nationale, Département de l’Opéra, Paris und die Performing Arts Collection der Public Library New York. Der Verbleib zweier Konvolute mit Choreografien aus dem Théâtre des Folies-Bergère (1872 und 1887-1889) sowie das Konvolut Nr. 11 Ballet divers ist unbekannt. Dieser Verlust ist insofern bedauernswert, als es sich dabei mit 60 Bänden um das umfangreichste Konvolut der Auktion handelt, das u.a. eine „importante réunion des livrets d’anciens ballets de l’Acadèmie de Musique et d’autres théâtres de Paris“82 sowie einen Werk-Katalog von Justamant enthält. Zu diesem Konvolut gehörte auch die Kölner Giselle-Notation, die 2002 als einzelne Notation auf einem Trödelmarkt in Regensburg auftauchte.83 Henri Justamant hat mit seinen Choreografien bislang keinen prominenten Platz in der Tanzgeschichte gefunden.84 Die Stationen seines beruflichen Werdegangs sind mittlerweile jedoch gut dokumentiert.85 Justamant beginnt
81
Aus dem Bestandsverzeichnis der Theaterwissenschaftlichen Sammlung Schloß Wahn geht hervor, dass die Notationen durch Carl Niessen in den Besitz dieses Archivs gelangt sind und vorher mindestens ein weiteres Mal den Besitzer gewechselt haben. Paul Ludwig: Henri Justamant (1815-1890). Kommentiertes Bestandsverzeichnis seiner Ballett-Notationen in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung Schloß Wahn, Köln 2005, S. 11.
82
Catalogue de Livres Anciens et modernes et des manuscrits originaux des ballets et divertissements de M. Henri Justamant, Paris 1893, S. 20. Teilabdruck in Ludwig: Henri Justamant, S. 20.
83
Vgl. Frank-Manuel Peter: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten: Die unsterbliche Giselle tanzt noch immer auf ihrem Grab“, in: ders. (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. vii-xvi, hier S. xv.
84
In Ivor Guest: The Ballet of the Second Empire 1858-1870, London 1953, wird Justamant nur einmal erwähnt, und zwar in seiner Rolle als kurzzeitiger maître de ballet an der Pariser Opéra. Das Divertissement für Gounods Faust Oper 1869 ist die einzige Choreografie von ihm, die Guest erwähnt, vgl. ebd., S. 114.
85
Seine Lebensdaten hat Gabi Vettermann anhand behördlicher Dokumente rekonstruiert. Justamant wurde am 29.03.1815 in Bordeaux geboren und starb am 2.02.1886 in Saint-Maur-des-Fossés bei Paris. Wie mit diesem Sterbedatum seine gut 20 Notationen aus den Jahren 1887 bis 1890 vereinbar sind, kann auch Vettermann nicht erklären. Gabi Vettermann: „In Search of Dance Creators’ Biographies: The Life and Work of Henri Justamant“, in: Claudia Jeschke,
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seine Theaterkarriere wahrscheinlich 1828 als chef d’emploi am Grand Théâtre in Bordeaux, wo er 1837 maître de ballet wird. Anschließend arbeitet er in Theatern in Marseille, Lyon und Brüssel, ab 1866 in verschiedenen Pariser Theaterhäusern, u.a. als premier maître de ballet an der Pariser Opéra, aber auch an théâtres secondaires wie dem Porte Saint-Martin oder den FoliesBergère. Weitere Anstellungen führen ihn nach Berlin und London. Justamants Notationen verfahren nach einem einfachen Schema (vgl. Abb. 6, 18-21, 27, 29-30 & 34-35). Sie sind stets als Buch gebunden86 und beinhalten als Kern choreografische Notation. Teilweise sind neben den Choreografien noch Inhaltszusammenfassungen, Libretti, Kostümfiguren, Bühnenbild- und Requisitenskizzen, Fotos von Tänzerinnen und Zeitungsausschnitte beigelegt. Seine Notationsweise erläutert Justamant in der Regel zu Beginn des Bandes in einer kurzen Legende. Die einzelnen Tänzer und Tänzerinnen werden als Strichfiguren dargestellt, die aus einem rombenförmigem Oberkörper und einem glockenförmigen Rock bestehen, ihr Geschlecht ist farblich (rot für Damen, schwarz für Herren) indiziert.87 Diese Strichfiguren können zu einem kleinen Kreis oder Punkt abstrahiert werden, die Bodenwege werden als gestrichelte Linie aufgezeichnet. Die Schritte werden als Text unter den Zeichnungen erläutert, in der gleichen Weise wie auch die pantomimischen Dialoge transkribiert werden – der Unterschied zwischen Bewegungsanweisung und pantomimischen Dialogen wird aus dem Zusammenhang und dem Vokabular deutlich. Am Rand der Seite ist jeweils eine Spalte abgetrennt, in der die „Figuren“ der Choreografie nummeriert und die Länge der Sequenzen in (musikalischen) Takten angegeben werden. Claudia Jeschke beschreibt die komplexe Konstruktion von Justamants Notaten: „Die Inszenierungsnotate versuchen einerseits das, was man sehen und darstellen konnte, zu figurieren. Andererseits verweist die Wahl der graphischen Zeichen auf eine Wahrnehmungsebene jenseits des Visuellen: Das Bild ist so kein (mimetisches) Abbild, keine Imitation des realen Geschehens; vielmehr formen variable und komplexe Parameter Synthesen und Hybride aus Gesehenem, Vorgestelltem und körper-
Gabi Vettermann, Nicole Haitzinger: Les Choses espagnoles. Research into the Hispomania of 19th Century Dance, München 2009, S. 124-136. 86
Es ist wahrscheinlich, dass die Notationen erst posthum für die Auktion gebunden wurden, Unregelmäßigkeiten bei der Paginierung weisen darauf hin.
87
In Ausnahmen, z.B. für die Darstellung von Schmetterlingen, Teufeln oder anderen besonderen Figuren, weicht Justamant von dieser Darstellungsweise ab.
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lich und tänzerisch Präsentiertem. Die entstehende Darstellung liest sich wie ein multivalenter Text – jedoch chaotischer, weil die Leserichtung nicht vorbestimmt ist.“88
Justamants Notationen verwenden ein einfaches Zeichenvokabular und sind, wenn man mit dem Ballettvokabular vertraut ist, ohne große Einführung zu entziffern. Es existieren Aufzeichnungen sowohl seiner eigenen, wie auch von fremden Choreografien. Teilweise scheinen die Notationen für Wiederaufnahmen von Inszenierungen gedacht zu sein, teilweise spricht aus ihnen aber auch ein Wille zur Autorschaft, wenn Justamant die Aufzeichnungen mit großer Geste signiert oder Plagiatsvorwürfe gegenüber einzelnen Tänzer*innen erhebt. Der ästhetische Reiz seiner Aufzeichnungen liegt dabei in der Naivität seiner Notierungsweise, gleichwohl aber auch in der Deutlichkeit, in der die Tanzästhetik des 19. Jahrhunderts aus ihnen spricht.
D ER B EGRIFF A RABESKE Der folgende Abschnitt definiert zentrale Begriffe dieser Arbeit. Zuerst wird der Begriff des Ornamentalen, der für diese Arbeit zentral ist, vom Ornament abgesetzt: das Ornamentale bezeichnet einen modus operandi, der die Darstellung strukturiert. Anschließend wird der historische Begriff der Arabeske des 19. Jahrhunderts rekonstruiert, um daraus eine Arbeitsdefinition abzuleiten, die den historischen Mehrdeutigkeiten der Arabeske Rechnung trägt und ihre Integrationsfähigkeit produktiv macht. Desweiteren wird an dieser Stelle auch die orientalistische Dimension dieses Begriffs deutlich gemacht. Das Ornamentale als modus operandi Der Begriff des Ornamentalen ist jenseits der Diskussion um die Randständigkeit oder Zentralität des Ornaments verortet und setzt an einer grundlegenden Ebene der Darstellung und ästhetischen Organisation an.89 Niklas
88
Jeschke, Vettermann, Haitzinger: Interaktion und Rhythmus, S. 496 f.
89
Damit grenzen sich die folgenden Überlegungen von einer Ontologisierung des Ornaments als Parergon ab, wie sie einen Großteil der Ornamenttheorien bestimmt. Darunter fallen auch Isabelle Frank, Freia Hartung (Hg.): Die Rhetorik des Ornaments, München 2001; wie auch Gérard Raulet, Burghart Schmidt
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Luhmann operiert in systemtheoretischer Perspektive mit dem Begriff des Ornamentalen, das für ihn die „Infrastruktur des Kunstwerks“90 bildet und dazu dient, Raum und Zeit zu organisieren.91 Die abgrenzende Funktion des Ornaments (im Sinne eines Rahmens) faltet Luhmann ins Innere des Kunstwerks ein und dekonstruiert so die Opposition von guter Proportion und bloßer Verzierung. „Indem das Ornament sich als Verzierung ins Äußerliche verliert, entsteht es im Innern neu“,92 formuliert Luhmann angesichts der historischen Entwicklung des Ornaments im 18. Jahrhundert. Der Begriff des Ornamentalen wurde in der Folge in jüngeren bildtheoretischen Herangehensweisen eingesetzt, um sich gegenüber einem ontologischen Verständnis des Ornaments als identifizierbares Motiv abzugrenzen.93 Mit dem Begriff des Ornamentalen lassen sich (An-)Ordnungen des Sichtbaren beschreiben, die sich jenseits einer Opposition von Abstraktion und Figuration positionieren. Vera Beyer und Christian Spies bestimmen das Ornamentale als Struktur der Darstellung, die sich der mimetischen Repräsentation entzieht: „Über die Funktion von Ornamenten lässt sich die strukturierende Kapazität bildlicher Darstellung thematisieren, die den Möglichkeiten der Figuration und der Reprä-
(Hg.): Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments, Wien 2001. Vgl. dazu die Kritik dieser beiden Bände von Claudia Sedlarz, http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=6775, zuletzt abgerufen am 25.02.2017. Jacques Derrida dekonstruiert diese Unterscheidung in „Das Parergon“, in: ders.: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 56-176. 90
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, S. 186.
91
Als Beispiel der Ornamentalisierung von Zeit nennt Luhmann den Tanz, ebd., S. 185.
92
Ebd.
93
Thomas Golsenne verortet das Ornament in einer grundsätzlichen Dialektik der Philosophie und Politik des Okzidents zwischen Essenz und Erscheinung, dem Eigentlichen und Nebensächlichen, Zentrum und Rand. Thomas Golsenne: „L’ornemental: esthétique de la différence“, in: Perspective. La revue de l’INHA, 2010/2011-1 Ornement/Ornemental, S. 11-26. Isabelle Frank hat die Idee des ‚körperlosen Ornaments’ historisiert und als Effekt der Darstellungspraktiken des 19. Jahrhunderts beschrieben. Isabelle Frank: „Das körperlose Ornament im Werk von Owen Jones und Alois Riegl“, in: dies., Freia Hartung (Hg.): Die Rhetorik des Ornaments, München 2001, S. 77-99.
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sentation als eine Art Matrix zugrunde liegt. Ornamente können als eine Maßgabe bildlicher Ordnung verstanden werden.“94
Beyer und Spies führen Luhmanns systemtheoretischen Ansatz, der die Funktionalität des Ornaments betont, mit kunsthistorischen Ansätzen zusammen. Sie beziehen sich dabei auf eine französische Theorie des Ornamentalen, wie sie vom Mediävisten Jean-Claude Bonne als kunsthistorische Kategorie zur Beschreibung mittelalterlicher Kunst wiederbelebt wurde. Bonne beschreibt das Ornamentale als transversalen modus operandi, der eine konstruktive Rolle und eine Ausdrucksfunktion einnimmt.95 Den Unterschied zwischen Ornament und ornamental illustriert Bonne anhand von Schrift. Er vergleicht farbig oder filigran verzierte Initialen mit Buchstaben, die ornamental gebaut sind: „On pourrait ainsi distinguer entre les lettres (canoniques) simplement ornées, comme une lettrine colorée ou filigranée, et les lettres dont le bâti (végétal, zoomorphe, abstrait…) est lui-même devenu véritablement ornemental.“96 Bonne räumt ein, dass diese analytische Distinktion am konkreten Objekt stets ein fließender Übergang ist, dieses Fließen und Übergehen jedoch zur Natur des Ornamentalen gehöre und seiner Neigung entspricht, alles zu durchdringen und zu verflechten.97
94
Vera Beyer, Christian Spies: „Einleitung. Ornamente und ornamentale Modi des Bildes“, in: dies. (Hg.): Ornament. Motiv – Modus – Bild, München 2012, S. 13-23, hier S. 14.
95
„Cette ornementalité, directement intriquée aux figures, ne peut être interprétée en termes purement ‚stylistiques‘ (comme cela a été longtemps le cas), car elle joue un rôle à la fois constructif et expressif à l’égard de ce qu’elle affecte et met en valeur.“ Jean-Claude Bonne im Gespräch „Y a-t-il une lecture symbolique de l’ornement?“, in: Perspective. La revue de l’INHA, 2010/2011-1 Ornement/Ornemental, S. 27-42, hier S. 30, Herv. i.O. Vgl. auch Jean-Claude Bonne: „De l’ornemental dans l’art médiéval (VIIe-XIIe siècle). Le modèle insulaire“, in: Jérôme Baschet, Jean-Claude Schmitt (Hg.): L’image. Fonctions et usages des images dans l’Occident médiéval (= Cahiers du léopard d’or 5), Paris 1996, S. 207-240.
96
Bonne: „De l’ornemental dans l’art médiéval“, S. 213.
97
Bonne verwendet hier den englischen Begriff pervasiveness und als französische Umschreibung s’immiscer partout, was über das lateinische immiscere nicht nur als Allesdurchdringung, sondern auch als Allesverflechtung übersetzbar wäre. Ebd., S. 213.
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Die Ornamentalisierung, so Bonne, geht in die Konstruktion der Figuren ein und interferiert mit ihr. Das Ornamentale übernimmt eine strukturierende Funktion, errichtet Beziehungen und funktioniert als (ästhetische) Maßgabe, die zwischen den Genres vermittelt.98 Indem es ein bestimmtes (An-)Ordnungssystem impliziert, funktioniert das Ornamentale als Denkfigur und transportiert eine (historisch spezifische) Ästhetik und Epistemologie, die das Sichtbare strukturiert: „l’ornemental s’avére capable de fonctionner comme une sorte de transcodeur abstrait.“99 Das Ornamentale definiert sich durch die Fähigkeit, Elemente in eine Beziehung zu setzen und diese Beziehung auch über Genre- und Formgrenzen zu erhalten. „L’ornemental est donc profondément transversal: il traverse tant les ordres formels (la figuration, l’abstraction) que les catégories (beaux-arts, arts décoratifs). Cette capacité virtuelle infinie de tout transformer en ornement constitue sa force.“100 Im Folgenden bildet die Materialität des Ornamentträgers (sei es der Tänzer*innenkörper, ornamentale Requisiten oder die Materialität der Aufzeichnungsform) stets den Ausgangspunkt der Untersuchung. Das Ornamentale des Tanzes ist dennoch nicht deckungsgleich mit der Körperlichkeit der Tanzenden. Gerade das Beispiel der Arabeske wird zeigen, wie die Figur sich vom Ornamentträger lösen kann, um sich in der Vorstellung der Betrachtenden zu entfalten. Daraus resultiert keine abstrakte Stilgeschichte, sondern eine Beschreibung der Transformationen im Übergang zwischen verschiedenen Materialitäten. Die Geschichte des Ornamentalen umfasst deren historisch sich wandelnde Funktion, Funktionsweise und Status.101 Mit dem Konzept des Ornamentalen wird die Opposition von Ornament und Sinn/Bedeutung unterlaufen. Der von Beyer und Spies beschriebene Modus der bildlichen Bedeutungsgenerierung, der Figuration und Repräsentation ermöglicht, lässt sich um eine notationelle Dimension erweitern, die über Repräsentation und Bedeutung hinausgeht und Handlungsanweisun-
98
„[L]’ornemental appelle moins une interprétation qui le fonderait qu’il ne fonde lui-même une pensée de l’ordre ou même de l’organisation […]. [Il] élucide leurs rapports en leur donnant une mesure […].“ Ebd., S. 237.
99
Ebd., S. 239.
100 Golsenne: „L’ornemental: esthétique de la différence“, S. 14. 101 „Il semble donc que l’ornemental ait plusieurs fois changé non seulement de forme, ce qui n’a rien d’étonnant, mais, plus fondamentalement, de statut, de mode de fonctionnement et certainement de fonction. Il y aurait différentes façons d’être de l’ornemental.“ Bonne: „De l’ornemental dans l’art médiéval“, S. 210.
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gen enthält oder Affekte speichert. 102 Diese notationelle (und somit auch operative) Dimension des Ornamentalen wird besonders deutlich im Labyrinth, das gleichzeitig Muster und Bewegungsanleitung ist.103 Unter diesen Aspekt fällt auch die immer wieder beschriebene Lebendigkeit des Ornaments, die mit dessen Fähigkeit Bewegung aufzuzeichnen und zu speichern, eng verwandt ist (vgl. Kapitel 2). Historische Arabeskendefinitionen Das Ornamentale ist somit ein grundlegendes Strukturprinzip, das sich in konkreten Mustern oder Motiven aktualisieren kann. Das Ornamentmotiv Arabeske, mit dem sich besonders die erste Hälfte dieser Arbeit beschäftigt, steht im frühen 19. Jahrhundert emblematisch für den ornamentalen modus operandi und dessen Fähigkeit alle Genres zu durchdringen. Von ca. 1780 an erscheint die Arabeske gehäuft als ästhetischer und philosophischer Begriff, der von Bildender Kunst und Ornamenttheorie auf Literatur, Ästhetik, Tanz und Musik übertragen wird. Es fiel und fällt dabei schwer, eine generelle, universale oder absolute Definition der Arabeske zu treffen. Der Eintrag in Brockhaus’ Conversations-Lexikon von 1809 macht die ambivalente Haltung gegenüber diesem Begriff, wie auch die Schwierigkeiten seiner Definition und die Vielfalt der Referenzen im 19. Jahrhundert deutlich: „Die Arabesken, so nennt man eine Art von Verzierungen, welche jetzt überaus Mode geworden ist, so wenig auch der Geschmack derselben durchgängig Beifall verdient. Es sind Verzierungen, die größten Theils aus Pflanzen, Strauchwerk, schwachen Zweigen und Blumen zusammen gesetzt, und auf einen willkührlichen Grund ge-
102 Diese affektspeichernde Dimension wird zu Beginn des 20. Jahrhundert wichtig. Sowohl Wilhelm Worringers Ornamenttheorie, wie auch Aby Warburgs Begriff der Pathosformel lassen sich hier anschließen. Vgl. Fn. 40 dieses Kap., wie auch zum „Vitalismus“ des Ornaments, Golsenne: „L’ornemental: esthétique de la différence“, S. 13 f. 103 vgl. Bettine Menke: „Kritzel – (Lese-)Gänge“, in: Christian Driesen, Rea Köppel, Benjamin Meyer-Krahmer, Eike Wittrock (Hg.): Über Kritzeln. Graphismen zwischen Schrift, Bild, Text und Zeichen, Berlin 2012, S. 189-213. Vgl. auch Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 361. Siehe dazu auch die Notation in Fabritio Carosos Nobiltà di Dame (Venedig 1600, S. 241), in der die Bewegung als Ornament aufgezeichnet ist. Vgl. Brandstetter, „Notationen im Tanz“, S. 92; wie auch Oskar Bie: Der Tanz, Berlin 1919, S. 170.
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mahlt oder auch in erhabener Arbeit angebracht sind. Man verziert damit die Abtheilungen der Wände, die Einfassungen von Geräthschaften, Büchern u. s. f. Arabesken heißen sie von den Arabern, die keine Thiere und Menschen abbilden durften, und daher nur mit Laub und Blumen verzierten. Sie heißen auch Moresken, weil sich auch die Mauren derselben bedienten; ferner Grottesken, weil man in den Zimmern der verschütteten Gebäude der alten Römer und in den Gewölben unter der Erde, die man Grotten nannte, ähnliche Verzierungen fand.“104
Auch andere Enzyklopädien verweisen auf multiple Vorlagen. Der Artikel aus Diderots und d’Alemberts Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers von 1751 leitet die Arabesken ebenfalls von arabischer Kunst ab und vergleicht sie mit antikisierenden Grotesken, nennt jedoch vorwiegend zeitgenössische französische Beispiele wie das Schloss von Meudon und Arbeiten von Bérain, Gillot und Watteau. 105 Auch Larousses Grand dictionnaire universel du XIX. siècle (1866) definiert Arabesque als Dekoration gemäß eines „goût des Arabes“ und zählt als Referenz vorwiegend antike römische Ornamente auf.106 Unter dem Sublemma „Par anal[ogie]“ listet das Grand Dictionnaire jedoch eine Reihe von Belegstellen auf, die die Reichweite und Übertragbarkeit des Begriffs Arabeske – ihre pervasiveness oder Allesverflechtung107 – verdeutlichen: „Le prince prit un nouveau cigare, et contempla les ARABESQUES de sa fumée livrée aux vents. ([Honoré de] Balz[ac])108 || Evolutions capricieuses: Décrire les ARABESQUES de leur danse est chose impossible au langage vulgaire. (M[aurice] Alhoy.) || Se dit, au fig. et dans la critique littéraire, des caprices de l’imagination et du style: Jules Janin, un faux
104 Brockhaus Conversations-Lexikon, Bd. 1. Amsterdam 1809, S. 73. 105 Jacques-François Blondel: „Arabesque ou Moresque“, in: Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers, Bd. 1, Paris 1751 [Reprint Stuttgart 1966], S. 569. 106 „Arabesque“, in: Pierre Larousse (Hg.): Grand dictionnaire universel du XIX. siècle, Bd. 1, Paris 1866, S. 540-541. 107 Siehe Fn. 97 dieses Kap. 108 Dieses Zitat stammt aus Massimilla Doni (1837/39). Der Satz lautet korrekt: „Le prince prit un nouveau cigare et contempla les arabesques de sa fumée livrée au vent, comme pour voir dans leurs caprices une répétition de sa dernière pensée.“ Honoré de Balzac: La Comédie humaine, Bd. 10, Études philosophiques, Paris 1979, S. 552.
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bonhomme qui cache son érudition sous les ARABESQUES de son esprit, et qui connaît l’antiquité aussi bien que le jardin du Luxembourg. (Ed[mond] Texier.)“109
Die Zusammenschau dieser Textstellen macht deutlich, in welchen heterogenen Materialitäten Arabesken vorgefunden werden. Es handelt sich in diesen Fällen bezeichnenderweise um flüchtige bis immaterielle Erscheinungen, die als arabesk bezeichnet werden: Rauchschwaden sowie Denk- und Tanzbewegungen, die mit der ‚einfachen‘ Sprache nur schwer wiederzugeben seien. Im 20. Jahrhundert setzen sich in der Bestimmung der Arabeske in der Folge von Alois Riegl stilgeschichtliche Erklärungsmuster durch, die eine bereits im 18. und 19. Jahrhundert erkannte Verwandtschaft von antiker römischer und arabischer Verzierung110 als direktes Abstammungsverhältnis beschreiben. Die Arabeske wird dort als antinaturalistisches Rankenornament definiert, das sich zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert herausgebildet hat und vegetabile Vorlagen abstrahiert, geometrisiert und symmetrisch anordnet.111 Hinter dieser orientalistischen Erklärung,112 die die Arabeske als „ureigenste Schöpfung arabischen Geistes“113 ausweist, treten die Verwendungsweisen des 19. Jahrhunderts zurück. In seiner Definition in der Enzyklopaedie des Islām (1. Auflage) beschreibt Ernst Herzfeld die Historizität des Begriffs, die lokalen Unterschiede in der Begriffsverwendung wie den inhärenten Orientalismus dieses Begriffs als „populäre Bedeutung“, von der man sich abzuwenden habe: „Das Wort A r a b e s k e bezeichnet in der deutschen Sprache das P f l a n z e n r a n k e n - O r n a m e n t in der Kunst des I s l ā m , in etwas weiterem Sinne schon seit der Zeit des Barock das O r n a m e n t i n d i e s e r K u n s t ü b e r h a u p t . Ein fast synonymer Ausdruck ist M o r e s k e , eigentlich auf die Kunst des Islām in
109 „Arabeske“, in: Larousse (Hg.): Grand dictionnaire, S. 540. 110 So z.B. in Owen Jones: The Grammar of Ornament [1856], London 1868, S. 5659. 111 Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik [1893], Berlin 1923, S. 302 f. 112 Siehe unten. 113 Ernst Kühnel: Die Arabeske. Sinn und Wandlung eines Ornaments [1949], 2. vermehrte Auflage, Graz 1977, S. 3.
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Spanien bezüglich. Das Wort Arabeske wird aber in der modernen Sprache vielfach für dasjenige Ornament der Renaissancekunst verwandt, welches korrekter als G r o t e s k e zu bezeichnen ist. – Im Englischen liegt es ähnlich. Der Terminus wird allgemein, aber historisch ungenau, für die Grotesken-Dekoration gebraucht und oft die Moreske von ihm als eigentliches Ornament der islāmischen Kunst unterschieden. – Im Französischen bezeichnet das Adjektiv a r a b e s q u e seit jeher Kunstwerke aus den islāmischen Ländern. Seit der Renaissance wird auch das Substantiv a r a b e s q u e für die gleiche Ornamentation gebraucht und der Name dann auf die Grotesken-Dekoration übertragen.“114
In der zweiten Auflage dieser Enzyklopädie kritisiert Ernst Kühnel Herzfelds Artikel für sein weites Arabeskenverständnis und gibt eine kürzere und strengere Definition dieses Musters: „The principles which regulate the arabesque are reciprocal repetition, the formation of palmette or calice forms by pairs of split leaves, the insertion of geometric interlacings, medaillons or cartouche compartments. In every instance, two aesthetic rules are scrupulously observed: the rhythmical alternation of movement always rendered with harmonious effect, and the desire to fill the entire surface with ornament.“115
Mit diesem Gesetz lassen sich unendliche Motivvariationen unter dem Begriff Arabeske klassifizieren, wobei eine geografische und historische Beschränkung bestehen bleibt. Im Folgenden soll der Begriff Arabeske weder auf islamische Kunst begrenzt, noch soll vor der Begriffsvielfalt kapituliert werden.116 Die unendliche Variabilität und scheinbar endlose Übertragbarkeit dieses Musters stellen dagegen die Herausforderung dieser Arbeit dar, die Arabeske konzeptuell zu
114 Ernst Herzfeld: „Arabeske“, in: Martijn Theodor Houtsma (Hg.): Enzyklopaedie des Islam. Geographisches, ethnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker, Bd. 1, Leiden/Leipzig 1913, S. 380-384. 115 Ernst Kühnel: „Arabesque“, in: Clifford Edmund Bosworth (Hg.): The Encyclopedia of Islam. New Edition, Bd. 1, Leiden 1960, S. 558-560, hier S. 558. Vgl. auch die gleichnamige Monografie von Kühnel. 116 Der Kunsthistoriker Günter Irmscher rät z.B. aufgrund „der nicht exakt abgrenzbaren Definition des Begriffs“ davon ab, den Begriff typologisch zu aktualisieren. Günter Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments seit der frühen Neuzeit (1400-1900), Darmstadt 1984, S. 65.
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erfassen: ihre Integrations- und Anpassungsfähigkeit wird dabei zu einem prägenden Merkmal. Der folgende Abschnitt dient dazu, das historische Begriffsfeld im frühen 19. Jahrhundert zu umreißen. Bevor jedoch die wichtigsten Referenzfelder der Arabeske im 18. und 19. Jahrhundert beschrieben werden, soll die orientalistische Dimension dieses Begriffs beleuchtet werden. Orientalismus der Arabeske
Die Arabeske beinhaltet in ihrem Namen eine geografische Referenz, die sie als arabisches Ornament erscheinen lässt. Der Verweis auf diese Herkunft ist jedoch eine (teilweise fälschliche) Zuschreibung, in der sich Dekorationspraktiken im arabischen Raum mit europäischen Fantasien des Orients vermischen. Die Arabeske ist eine genuin orientalistische Kategorie. Sie ist ein Beschreibungsinstrument europäischer Wissensordnungen, das einen homogenen ästhetischen Raum des Orients schafft, dessen Eigenschaften mit denen übereinstimmen, die der Orientalismus des 18. und 19. Jahrhunderts seinem Gegenstand zuschreibt. Die europäische Faszination mit islamischen Ornamenten, die es seit Mittelalter und Renaissance gibt,117 findet ihren Höhepunkt in der Ornamenttheorie des 19. Jahrhunderts, in der sich Kunsttheorie mit dem Diskurs des Orientalismus vermischt. Werke wie Owen Jones The Grammar of the Ornament (1856)118 versuchen universelle Gestaltungsprinzipien aufzustellen und machen die Arabeske dabei zur „unifying essence of Islamic visual culture“.119 Gülru Necipoğlu hat in ihrer Studie zu islamischen Architekturentwürfen aus dem 15./16. Jahrhundert die wissenschaftliche Literatur zur Arabeske und ihre essenzialistischen Annahmen, die bis weit ins 20. Jahrhundert beibehalten werden, dekonstruiert und dem orientalistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts zugeordnet:
117 Früheste Belege finden sich bereits im 12. Jahrhundert, z.B. im Traktat De diversis artibus von Theophilus. Das erste Musterbuch mit Arabesken-Motiven ist Francisco di Pellegrinos Vorlagensammlung von 1530, veröffentlicht als La Fleur de la Science de Pourtraicture. Patrons de Broderie, Facon arabicque et ytalique (oft als Maureskenbuch bezeichnet). Vgl. Gülru Necipoğlu: The Topkapı Scroll. Geometry and Ornament in Islamic Architecture, Santa Monica 1995, S. 84 Fn. 2. 118 Siehe S. 208 ff. dieser Arbeit (Abschnitt „Art Botany“). 119 Necipoğlu: The Topkapı Scroll, S. 61.
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„The arabesque came to be identified as the primary characteristic of Islamic art by Orientalists focusing on the material culture of the Arabs in Syria, Egypt, North Africa, and Spain during the nineteenth century, when artistic styles very often were defined as reflections of racial and religious mentalities. The presence of figural imagery […] was conspicuously downplayed in constructing the ‚otherness‘ of the AraboIslamic visual tradition. Generally classified in terms of its geometric, vegetal, and calligraphic variants, the so-called arabesque (occasionally intertwined with stylized figures and animals) was assigned a purely decorative function that differed fundamentally from the iconographic tradition of Western representational art. The arabesque’s alleged absence of meaning facilitated its appropriation by modern European architects and industrial designers.“120
Die sogenannte orientalische Kunst wird dabei als zeitlos konzipiert und nicht in historischen, sondern ethnografischen Kategorien beschrieben. 121 Der (westlich-europäisch) geprägte Diskurs der Kunstgeschichte subsumiert dabei eine geografisch und historisch weit gestreute heterogene Kunstpraxis unter einem singulären Begriff, der die Exteriorität dieser Motivklasse markiert und sie als der westlich-europäischen Kunst essenziell fremd darstellt. Ihre Fremdheit wird dabei in mehrfacher Hinsicht behauptet: im Gegensatz zur komplexen Evolution europäischer Kunst handele es sich bei der Arabeske um eine statische, lokale Tradition, ihr fehle es gegenüber der europäischen Kunst an Bedeutung oder Referenz und schließlich verkörpere sie als Ornament den klassischen Gegensatz zu den schönen Künsten.122 Dieser Gegensatz zwischen Arabeske, die paradigmatisch für die ‚Kunst des Orients‘ steht, und europäischer Kunst schließt so an den Gegensatz an, den der Orientalismus des 18. und 19. Jahrhunderts generell zwischen Europa und dem Orient aufmacht. Edward Said paraphrasiert diese Gegenüberstellung: „The Orient is irrational, depraved (fallen), childlike, ‚different‘; thus the European is rational, virtuous, mature, ‚normal‘.“123 Wie der ‚orien-
120 Ebd., S. 62. 121 Ebd., S. 66. 122 Vgl. ebd., wie auch Golsenne: „L’ornemental: esthétique de la différence“, S. 12; wie Rémi Labrusse: „Face au chaos: grammaires de l’ornement“, in: Perspectives. La revue de l’INHA, Ornement/Ornamental 1 (2010/2011), S. 97-121, hier S. 111 f. 123 Edward Said: Orientalism [1978], London 2003, S. 40. Seit der Erstveröffentlichung 1978 hat Saids Orientalism zahlreiche Weiterführungen wie auch Kritik erfahren. Zusammenfassend dazu María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan:
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talische Charakter‘ vom Orientalismus als universal und essenziell beschrieben wird,124 gibt es trotz aller lokalen Differenzen und historischen Stilentwicklungen nur „e i n e Arabeske, der alten und neuen Zeiten, in Ost und West, in Süd und Nord.“125 Die Arabeske ist das Andere der europäischen Kunst: sie ist statisch und unveränderlich, abstrakt und nicht-abbildend, ohne Autor*in, und wird – als dekorative Form – implizit als weiblich begriffen.126 Diese orientalistische Dimension der Arabeske, die eine europäische Bezeichnung einer islamischen Dekorationspraxis ist, trägt sich bis in heutige Bestimmungen dieses Motivs.127 Dennoch wird der Begriff in kunsthistorischen und bildtheoretischen Werken wie im musealen Kontext immer noch zur Bestimmung von Motiven der islamischen Architektur verwendet,128 und
Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2. Auflage, Bielefeld 2015, S. 104-119. In der hier vorliegenden Analyse geht es nicht um Möglichkeiten des Widerstands lokaler Subjekte gegenüber Kolonialisierung, wie in den Arbeiten von Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha, oder um die ‚korrekte‘ Beschreibung nichtwestlicher Tänze, sondern um ästhetische Figurationen und deren politische Implikationen innerhalb des europäischen Diskurses, also um eine spezifisch europäische Imagination. 124 Vgl. Said: Orientalism, S. 38. 125 Herzfeld: „Arabeske“, S. 384. 126 Necipoğlu: The Topkapı Scroll, S. 67 f. 127 Necipoğlu verweist hier insbesondere auf die Veröffentlichungen im Rahmen des World of Islam Festival 1976, die mit antimodernistischem Unterton das orientalistische Verständnis der Arabeske als „primary ‚essence‘ of Islamic visual culture“ affirmieren und aus mystischen Sufi-Meditationen ableiten. Ebd., S. 74 ff. Ludger Schwarte hat ebenfalls auf die Kategorienfehler zeitgenössischer kunsthistorischer Bestimmungen der Arabeske hingewiesen. Ludger Schwarte: „Die Kunst, das Unvernehmen anzuerkennen. Bemerkungen über die Arabeske“, in: Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki (Hg.): Die Künste im Dialog der Kulturen, Berlin 2007, S. 116-128. 128 Ludger Schwarte verweist auf die Definition von Annemarie Schimmel aus dem Katalog Ornament und Abstraktion von 2001, die die Arabeske nach Riegl als Gabelblattranke definiert und mit einer theologischen Erläuterung schließt: „Arabesken sind das Ergebnis höchst komplizierter mathematischer Formeln, die, wie es der Muslim empfindet, auf den wunderbaren Bau der Welt hinweisen […]“, zitiert nach Schwarte: „Die Kunst, das Unvernehmen anzuerkennen“, S. 118.
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damit die generalisierende Vorstellung eines vermeintlich universalen ‚orientalischen‘ Ornaments fortgeführt.129 Obwohl André Paccard bereits 1980 eine alternative, arabische Terminologie für die einzelnen Formen von Arabesken vorgeschlagen hat, wird diese nur vereinzelt eingesetzt. Paccard unterscheidet für die traditionelle architektonische Verzierung in Marokko zwischen vier Begriffen. Tawrīq und tachjir130 sind die Arabesken aus gekrümmten Pflanzenmustern, tastīr die geometrischen Bandornamente und naskhī die kalligrafischen Schriftverzierungen.131 Für diese Arbeit muss daher festgehalten werden, dass der Begriff Arabeske weder eine arabische, islamische oder orientalische Herkunft impliziert noch einen arabischen, islamischen oder orientalischen Geist oder Charakter repräsentiert. Die Arabeske bezeichnet eine Form oder ein Motiv, das in Europa als arabisch empfunden wird. Arabeske ist ein genuin europäischer Begriff, der auf eine orientalistische Fantasie verweist, die ihren Ursprung im mittelalterlichen Europa hat und im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt gefunden hat. Sie ist die Fantasie einer abstrakten Form, die aus einem Pflanzenornament entwachsen ist und das Muster einer ästhetischen und kulturellen Projektion, die aus der (imaginären) Zusammenführung verschiedener Aspekte ihr Potenzial entwickelt.
129 Günter Irmscher verschiebt diese Problematik nur, wenn er vorschlägt, statt von Arabeske von Moreske oder ‚Grotteske‘ zu sprechen. Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des Ornaments, S. 65. 130 Der arabische Begriff tawrīq leitet sich vom Verb warraķa ab, „the act of putting forth leaves, branches“ „Tawrīķ“, in: Clifford Edmund Bosworth (Hg.): The Encyclopedia of Islam. New Edition, Bd. 10, Leiden 2000, S. 395. 131 Auch naskh. Dazu kommt noch eine unbenannte Kategorie für die Füllelemente. André Paccard: Le Maroc et l’artisanat traditionnel islamique dans l’architecture, Paris 1980, S. 145. Gülru Necipoğlu bezeichnet die geometrischen Ornamente der Topkapı-Rolle („star-and-polygon pattern“) als girih (persisch für Knoten). Necipoğlu: The Topkapı Scroll, S. 102. Die Grove Encyclopedia of Islamic Art and Architecture von 2009 unterscheidet zwar zwischen verschiedenen Stilen der Arabeske, wie z.B. rūmī oder hatāyī, verwendet sonst aber durchgehend den Begriff Arabeske zur Bezeichnung des islamischen Pflanzenornaments. Rūmī ist türkisch für „römisch“ und bezeichnet eine Blattverzierung in der ottomanischen Kunst und Architektur im 16. Jahrhundert; hatāyī ist türkisch für „chinesisch“ und meint Ornamente mit Voluten, die von der Lotus-Form abgeleitet sind.
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Im Folgenden wird Arabeske nicht durch einen ‚korrekten‘ Begriff der Ornamentformen ersetzt, nach denen die Ballettfigur benannt wurde, sondern mit dem schillernden (oder anders gesagt: ungenauen und politisch fragwürdigen) Begriff der Arabeske des 19. Jahrhunderts gearbeitet, dessen Hauptreferenzen im folgenden Abschnitt dargelegt werden. Arabeske als Hybrid von Schrift und Bild
In den Beschreibungen der Arabeske im 18. und 19. Jahrhundert lassen sich zwei zentrale Referenzfelder ausmachen. Arabesken heißen dort (1.) antike Wandverzierungen, besonders aus den Grotten der Domus Aurea und den zu dieser Zeit entdeckten Häusern von Pompeji, sowie Raffaels Loggien im Vatikan, die diese imitieren. 132 Daneben verweist der Begriff Arabeske zu dieser Zeit (2.) auch auf ein ideelles islamisches Schriftornament, ohne zwischen kalligrafischen (naskhī), vegetabilen (tawrīq) oder geometrischen Ornamenten (tastīr) zu unterscheiden. Ihre Vorbilder findet diese Arabeske in den architektonischen Verzierungen der Alhambra, wie auch in arabischen Schriftverzierungen. Gemeinsam haben diese beiden Stränge der Arabeske, dass sie – jeweils unterschiedlich gewichtet – Eigenschaften von Schrift und Bild ineinander überblenden. Die Beispiele unter (1.) lassen sich als grotesker Strang der Arabeske bezeichnen, der architektonische Elemente mit Akanthusmotiven, Tier- und Menschenfiguren vermischt. Günter Irmscher charakterisiert die Groteske als fantastisch-irreales, statische und räumliche Gesetze negierendes Muster, das „flächenüberdeckende Wandmalereien als Ganzes, wie sie durch die Domus Aurea vermittelt wurden, aber ebenso Mischwesen aller Art, phantastische Landschaften und komposite Architekturen als auch literarische Produkte“ 133 bezeichnen kann. Beispiele für dieses Arabesken-Verständnis finden sich um 1800 in der Malerei bei Philipp Otto Runge, in der Literatur bei Friedrich Schlegel, wie aber auch in der Raumdekoration und in Raffaels vatikanischen Loggien, die als kanonische Vorlage dienten.134 Werner Busch stellt einen Merkmalkatalog dieses Arabeskenverständnisses auf:
132 Vgl. dazu z.B. Jakob Ignaz Hittorff: „Parallèle entre les Arabesques peintes des anciens et celles de Raphaël et de ses élèves“, in: L’Artiste, Série 4 (1844), S. 33-36. 133 Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments, S. 147. 134 Die bedeutendste Publikation mit Darstellungen dieser Zeit ist G. Ottaviani und G. Volpato: Le loggie di Raffaele nel Vaticano, Rom 1772-77. Vgl. Grazia Bernini
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„die Arabeske ist ausgezeichnet durch kreisenden, gestaltlosen Rhythmus, künstlich geordnete Verwirrung, Häufung von Bildern, reizende Symmetrie, universale Korrespondenzen, musikalischen Aufbau, Fülle und Leichtigkeit, sie abstrahiert und setzt dadurch allegorische Potenz frei, durch ihren Verweisungscharakter ist die Arabeske schließlich, im Sinne der Romantiker, eine kritische Form.“135
Diese Arabeske kann Gegenstände unterschiedlicher Realitätsebenen miteinander verbinden, und zwischen Traum und Wirklichkeit, Sichtbarem und Unsichtbarem changieren. Ihr kommt dabei die geschichtsphilosophische Aufgabe zu, Erfahrungsfragmente einer Reihe von Brüchen zu binden.136 Diesen ersten Strang der Arabeske, der ornamenttheoretisch als grotesk benennbar ist und der sich vornehmlich auf der Bild-Ebene entwickelt, betont die Fähigkeit, Motive und Elemente verschiedenster Herkunft zusammenzuführen, sie visuell zu organisieren, und zu einer fantastischen, die Gesetze des Raumes und der Logik aushebelnden Komposition zu vereinigen, die zwischen Realitätsebenen vermittelt. 137 Mit Rekombinierbarkeit, Abstraktion und Grammatikalisierung verfügt dieses Ornament im Bereich des Bildlichen über Elemente, die sonst eher dem Bereich der Schrift zugeordnet werden.138
Pezzini, Stefania Massari, Simonetta Prosperi Valenti Rodinò (Hg.): Raphael invenit. Stampe da Raffaello nelle collezioni dell’Instituto Nazionale per la Grafica, Rom 1985, S. 104 ff., wie auch dort die Abbildungen auf S. 468-489. 135 Werner Busch: „Umrißzeichnung und Arabeske als Kunstprinzipien des 19. Jahrhunderts“, in: Regine Timm (Hg.): Buchillustration im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1988, S. 117-148, hier S. 137. Sowie Werner Busch: Die Notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, bes. S. 44-55. 136 Werner Busch bezieht die Arabeske auf den Bruch zwischen Form und Inhalt im Kunstwerk und Symbol, die Zerstückelung der Gegenwart nach der französischen Revolution sowie auf eine generelle postkantische Wahrnehmungs- und Wahrheitskrise. Busch: „Umrißzeichnung und Arabeske als Kunstprinzipien des 19. Jahrhunderts“, S. 132. 137 Damit ist sie auch der Bild- und Denkformel des Capriccio verwandt. Vgl. dazu. Roland Kanz: Die Kunst des Capriccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock, München/Berlin 2002. 138 Vgl. Krämer: „Operationsraum Schrift“.
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Die Beispiele zu (2.) lassen sich als mauresker Strang der Arabeske bezeichnen. Diese „formal zwischen reiner Linie, Band und naturalistischer Ranke“139 angesiedelten Arabesken werden mit islamischer Kalligrafie assoziiert. Dieser Form der Schriftverzierung hat Oleg Grabar in seiner Studie über das Ornament in der islamischen Kunst beschrieben.140 Vom 10. bis ins 13. Jahrhundert wird Schrift in der populären islamischen Kultur irakischer, iranischer, syrischer und turanischer Großstädte zur Verzierung von Objekten eingesetzt. In einem kurzen historischen Abriss zeigt Grabar, wie dort in einigen Fällen die Bedeutung des Textes gegenüber der Gestaltung und Anordnung der Buchstaben sekundär werden kann. Die Lesbarkeit einzelner Buchstaben oder Passagen tritt zugunsten esoterischer und mystischer Funktionen in den Hintergrund: „Letters can be modified, extended, looped, shortened, thickened; dots and diacritical marks float around letters rather than help fix their specificity; loops and hastae become flowers of leaves; poems are set obliquely on the page […] and the endless proverbs of Nishapur ceramics work their way uncomfortably around the rims of plates, while ‚correct‘ orthography is frequently violated for the sake of the composition.“141
Unter diesem Strang der Arabeske werden auch andere architektonische Verzierungen, wie Flechtwerke (entrelacs) und geometrische Muster subsumiert. Auf dieses Verständnis des Arabesken berufen sich um 1800 Goethe in seinem West-östlichen Divan, E. T. A. Hoffmann in Der goldne Topf und Balzac in La Peau de chagrin, die diese Form der Verzierung aufgrund ihrer häufigen Verwendung in Buchmalerei und auf Bucheinbänden142 mit dem Medium Schrift assoziieren. Andrea Polaschegg beschreibt, wie von diesen Autoren die arabische Schrift als „arabeske Gestalt“143 wahrgenommen wird.
139 Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments, S. 267. 140 Oleg Grabar: The Mediation of Ornament, Washington 1992, hier Kap. II „The Intermediary of Writing“, S. 47-118. 141 Ebd., S. 106. 142 Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments, S. 269. 143 Andrea Polaschegg: „‚Diese geistig technischen Bemühungen…‘ Zum Verhältnis von Gestalt und Sinnversprechen der Schrift: Goethes arabische Schreibübungen und E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf“, in: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine,
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Sowohl die arabischen Schreibübungen, die Goethe während seiner Arbeit am Divan angefertigt hat, wie auch die Kopiertätigkeiten von Anselmus, Protagonist von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der goldne Topf, sehen von der Referenzialität der Schrift ab und lassen Schriftgestalt und Bewegungsfiguren beim Schreiben in Erscheinung treten. Dabei vollzieht sich ein Aspektwechsel zu einem „Sehen der Schrift als Bild“: „Es ist die aufwendige künstlerische Gestaltung der Manuskripte, es ist die ornamentale Rahmung des Geschriebenen, die in Goethes Auge ein Schrift-Bild spiegelte, das jenseits konventionalisierter Referentialität gleichsam indexikalisch – nämlich als Ergebnis eines sichtbar hohen Maßes an betriebenem handwerklichen Aufwand – von der Hochachtung der Kalligraphen für das geschriebene Wort und seine Autoren zeugte. Der ornamentale Rahmen, der selbst nicht Schrift ist, hat das Auge des Weimarer Betrachters dazu verlockt, die gesamte Fläche des Textblatts, das Ornament und die von ihm eingerahmte Schrift, als Bild wahrzunehmen.“144
In den orientalischen Schriften nähern sich für die (oftmals des Arabischen unkundigen) europäischen Lesenden das Ornament und die Schrift aneinander an, zu einer Schrift, deren Referenz nicht greifbar ist, und einem Ornament, das Sinn verspricht, ohne es zu geben. Die bildhafte Dimension der Schrift tritt in den Vordergrund, und zwar in einem Blick, der das Schriftstück als Arrangement auf der Seite betrachtet, in der Schrift und Bild kaum mehr zu unterscheiden sind. Polaschegg betont, dass Goethes Lesart zwar von der tatsächlichen Referenz der Schrift absieht, in seiner Handhabung der arabischen Schrift jedoch das Sinnversprechen der (für ihn stets unlesbaren) Schrift in Dienst nimmt. Sowohl Goethe als auch Hoffmanns Figur Anselmus fokussieren dabei die Bewegung des Schreibens.145 In Anselmus’ Halluzination der kristallinen Stimme Serpentinas, „die als Schlange die arabischen Schreibbewegungsfiguren des Anselmus mit ihrem ganzen Körper vollzieht“,146 wird das Schreiben zu einem körperlichen Bewegungsvorgang, dessen Energie von dieser Schriftarabeske gespeichert wird. Die Serpentina-Figur tritt als figura serpentinata, Bewegungsmuster, Klang
München 2005, S. 279-304, hier S. 282. Vgl. auch Gerhard von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes „West-östlichen Divan“, Stuttgart 1994. 144 Polaschegg: „‚Diese geistig technischen Bemühungen…‘“, S. 285. 145 Polaschegg beschreibt diese als „tänzerisch anumutend“, ebd., S. 298. 146 Ebd., S 297.
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und Sprachrhythmus auf, und verkörpert eine allumfassende Naturschrift mit mystisch-metaphysischem Anspruch. 147 In der organischen Ableitung dieser Arabeske aus dem Pflanzenornament überträgt sich darüber hinaus eine Wachstumsvorstellung,148 die auch im grotesken Strang der Arabeske zum Tragen kommt. In dieser Arabeske ist die digredierende Weiterentwicklung wichtiger als der identische Rapport. Mit Balzacs La Peau de chagrin lässt sich außerdem der magische Aspekt dieser Arabeske begreifen, der das fantastische Potenzial der Schrift aktiviert und bei den Lesenden Tagträume, Halluzinationen und Geistererscheinungen hervorruft.149 Dieser zweite Strang der Arabeske entwickelt sich vornehmlich auf der Ebene der Schrift. Als zur Linie und zum Band abstrahierte Pflanzenranke wird die maureske Arabeske dabei über den geteilten graphematischen Hintergrund im Linienzug der Handschrift und der Assoziation mit arabischer Buch- und Schriftkultur in die Nähe der Schrift gerückt. Die für den europäischen Blick verstellte Lesbarkeit und die esoterischen und mystischen Komponenten eröffnen das Feld des Asemantischen und Rätselhaften mit einem Hang zum Metaphysischen, das zwar Sinn verspricht aber nicht einlöst. Dieser Strang der Arabeske operiert in der aisthetischen Dimension der Schrift, die dennoch stets ein (uneingelöstes) Sinnversprechen mit sich führt. Arabeske Schrift ist unlesbar, hat aber den Anschein einer Bedeutung und stimuliert fantastische Lesarten. Die Arabesken-Diskussion im 18. und 19. Jahrhundert führt diese beiden Stränge in einem hybriden Begriff der Arabeske zusammen und wiederholt somit eine Fähigkeit des Grotesken, Disparates zu vereinigen. Die Arabeske verzweigt sich zu einer Vielzahl von individuellen Aktualisierungen dieser Ornamentform, und behauptet – trotz oder gerade wegen den Verwandlungen, Proliferationen und Imaginationen, die diese Figur ausmachen – eine organische Einheit.
147 Vgl. dazu Günter Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen ‚Der goldne Topf‘“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69-107. 148 Busch: „Umrißzeichnung und Arabeske“, S. 138. 149 Die Arabeske ist in La Peau de chagrin doppelt präsent: einerseits in der aus Sternes Tristram Shandy zitierten Erzähllinie, die dem Roman als Motto voran steht, wie auch in der arabischen Schrift auf der magischen Eselshaut. Vgl. Sabine Mainberger: „Im Bann einer Linie. Zu Balzacs La Peau de chagrin“, in: Werner Busch, Oliver Jehle, Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München 2007, S. 95-117.
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T ANZHISTORISCHER F ORSCHUNGSSTAND Die Forschungsliteratur zum Ballett im frühen 19. Jahrhundert ist, auch aufgrund der noch jungen Geschichte des Fachs Tanzwissenschaft, begrenzt. Besonders zu Spezialfragen, wie der Bedeutung des Ornamentalen, gibt es wenig Vorarbeiten. Zwar betrachtet sowohl Andrei Levinson bereits in den 1920er Jahren das Ballett des 19. Jahrhunderts unter ästhetischen Fragestellungen,150 wie auch Serge Lifar, der anlässlich des 100-jährigen Bühnenjubiläums eine choreografische Analyse von Giselle unternimmt und dabei die Figur Arabeske als Symbol beschreibt.151 Bei Levinson und Lifar stehen jedoch einzelne Persönlichkeiten und Werke im Vordergrund. So auch in den Arbeiten von Ivor Guest. Guest breitet in seinen enzyklopädischen Werken, die seit den 1960er Jahren erscheinen, ein detailliertes Panorama des Balletts im 19. Jahrhundert aus, geht dabei aber ausschließlich positivistisch vor.152 Guest folgt der gängigen Epochenbezeichnung und betrachtet das Ballett im frühen 19. Jahrhundert als „romantisch“, wobei er einen stark verkürzten Romantik-Begriff verwendet. 153 Erik Aschengreen orientiert sich ebenfalls am RomantikBegriff, fokussiert dabei jedoch die sogenannte schwarze Romantik.154 Die enzyklopädische Arbeit von Guest hat Marian Smith, ohne Übernahme des Epochenbegriffs, in Ballet and Opera in the Age of Giselle fortgeführt und dort das Ballett des frühen 19. Jahrhunderts in den Kontext von Musiktheaterwerken seiner Zeit gestellt. Smith zeigt den geteilten Motivschatz und die gemeinsame Aufführungspraxis von Oper und Ballett und
150 Andrei Levinson: Meister des Balletts, Potsdam 1923, besonders die Kapitel zu Carlo Blasis und Théophile Gautier. 151 Serge Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, Paris 1942, S. 45 f. 152 Guests The Romantic Ballet in Paris wurde 1966 zuerst veröffentlicht. 2007 erschien eine überarbeitete und erweiterte Auflage. Besonders die tabellarischen Auflistungen von Aufführungen und Werken im Anhang sind für die Orientierung auf diesem Gebiet äußerst nützlich. 153 Die Romantik ist für Guest ein „revolutionary movement“, die „liberation from the bonds of classical restraint“ sucht. Die Romantiker entwickelten dabei, so Guest, eine „heightened sensitivity“, und schufen Werke „which throbbed with energy and vitality and spoke directly to the senses of the spectator, the listener or the reader.“ Ivor Guest: The Romantic Ballet in Paris, S. 2 ff. 154 Erik Aschengreen: The Beautiful Danger. Facets of the Romantic Ballet (= Dance Perspectives 58, Sommer 1974).
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rekonstruiert anhand von répétiteurs (Probenpartituren) den hohen Anteil pantomimischer Szenen in Balletten dieser Zeit, die in Inszenierungen des vergangenen Jahrhunderts meist gekürzt wurden.155 Ende der 1990er Jahre betonen eine Reihe von feministischen USamerikanischen Tanzwissenschaftlerinnen die Darstellung von Geschlecht und Nation im Ballett des frühen 19. Jahrhunderts, wie auch dessen soziale Aspekte. In ihrem Aufsatz „The ballerina’s phallic pointe“ untersucht Susan Leigh Foster die Geschlechterbilder, die sich in Technik und Narration dieser Werke wiederfinden und das Ballett bis heute prägen.156 In ihrer breit angelegten Studie Choreography & Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire erweitert Foster diese These und beschreibt, wie der Körper des Balletts im 18. und 19. Jahrhundert zeitgenössische soziale, politische und geschlechtliche Diskurse auf der Bühne spiegelt, festigt und hervorbringt.157 Besonders Fosters Thesen zum Geschlechterbild des Balletts haben Eingang in die vorliegende Arbeit gefunden. Im Gegensatz zu Fosters Ansatz wird hier jedoch kein umfassender Anspruch verfolgt, eine Geschichte des Balletts als Entwicklung von Körperbildern, sozialen und körperpolitischen Aspekten zu schreiben, sondern ein herausragender ästhetischer Aspekt beschrieben, den Foster nur andeutet. Foster analysiert die Arabeske als Figur des Begeh-
155 Marian Smith: Ballet and Opera in the Age of Giselle, Princeton 2000. 156 Susan Leigh Foster: „The ballerina’s phallic pointe“, in: dies. (Hg.): Corporealities. Dancing Knowledge, Culture and Power, London 1996, S. 1-24. 157 Susan Leigh Foster: Choreography & Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire, Bloomington 1996. Einen Teilaspekt untersucht Felicia McCarren. Sie betrachtet das Ballett Giselle vor einem medizin- und sozialhistorischen Hintergrund. Felicia McCarren: Dance Pathologies. Performance, Poetics, Medicine, Stanford 1998, S. 49-112. Einen noch größeren Bogen spannt Dorion Weickmann: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870), Frankfurt/Main 2002. Weickmann begreift Balletttechnik wechselweise als Sprache oder Schrift, geht auf das Ornamentale jedoch nicht ein, da sie sich vornehmlich auf Textdokumente (Kritiken, Libretti, Traktate, Biografien) stützt. Einzig in ihren Bemerkungen zur Notation lassen sich Ansatzpunkte für die Fragestellung dieser Arbeit finden. Carlo Blasis’ pädagogische Methode begreift Weickmann als „optisches Medium“ (ebd., S. 123), Arthur Saint-Léons Sténochorégraphie nennt sie eine „Bilderschrift“ (ebd., S. 145). Sie liest diese Modelle jedoch als Indiz einer „Segregation“ des Körpers, die einen Moment der Geschichte der Körperdisziplinierung darstellen, die das Ballett für sie ist.
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rens158 und setzt an, die Dichotomie zwischen Abstraktion und Darstellung im Tanz zu historisieren,159 ohne diesen Strang jedoch explizit ausführen. Das Ornamentale könnte als Scharnier dieser Unterscheidung begriffen werden. Lynn Garafola fasst den Stand jener Diskussion der 1990er Jahre im Vorwort zu Re-Thinking the Sylph. New Perspectives on the Romantic Ballet zusammen.160 Ihr Band versammelt feministische Lesarten, weitet den Blick auf die Internationalität dieses Phänomens aus und widmet den Nationalund Charaktertänzen einen längeren Aufsatz. Lisa C. Arkin und Marian Smith plädieren dort, diese folkloristischen und exotistischen Tänze als integralen Bestandteil der Ballettästhetik des 19. Jahrhunderts zu begreifen. In ihrer Typologie von Nationaltänzen, die sich nach Bournonville in den ‚kriegerischen‘, den ‚wolllüstigen‘ und den ‚keuschen‘ Typus unterteilen, kommen sie auch auf den Orientalismus dieser Ballette zu sprechen, ohne diesen aber im Rahmen des generellen Orientalismus des 19. Jahrhunderts zu verorten.161 Obwohl Garafolas Band reich mit historischem Bildmaterial ausgestattet ist und das Vorwort auf die Rolle von Lithografien in der Verbreitung und Etablierung ‚romantischer‘ Körperbilder hinweist,162 gehen die Beiträge ihres Bands größtenteils von der Handlung der Ballette aus und basieren ihre Analysen auf Libretti und Kritiken. 163 Weder Choreografie noch
158 Foster: Choreography & Narrative, S. 204 f. 159 Ebd., S. xvii und 277, Fn. 7. 160 Lynn Garafola: „Introduction“, in: dies. (Hg.): Re-Thinking the Sylph. New Perspectives on the Romantic Ballet, Hanover/London 1997, S. 1-10. 161 Lisa C. Arkin, Marian Smith: „National Dances in the Romantic Ballet“, in: Garafola (Hg.): Re-Thinking the Sylph, S. 11-68, hier S. 41. Vgl. auch Lisa C. Arkin: „The Context of Exoticism in Fanny Elssler’s ‚Cachucha‘“, in: Dance Chronicle 17/3 (1994), S. 303-325. Für eine Betrachtung vor dem Hintergrund des Orientalismus vgl. dagegen den Abschnitt „Heroism in the Harem“ in Deborah Jowitt: Time and the Dancing Image, New York 1988, S. 48-65. 162 Garafola: „Introduction“, S. 1 f. 163 Joellen Meglins dreiteilige intertextuelle Analyse der Ballette im frühen 19. Jahrhundert unter dem Begriff des Fantastischen steht ebenfalls in dieser Tradition. Joellen Meglin: „Behind the Veil of Translucence: An Intertextual Reading of the Ballet fantastique in France, 1831-1841“ Teil 1 „Ancestors of the Sylphide in the Conte Fantastique“, in: Dance Chronicle 27/1 (2004), S. 67-129; Teil 2 „The Body Dismembered, Diseased and Damned: The Conte Brun“, in: Dance Chronicle 27/3 (2004), S. 313-317; Teil 3 „Resurrection, Sensuality, and the Palpab-
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Ikonografie der Ballette des frühen 19. Jahrhunderts werden dort zum Gegenstand einer näheren Analyse. Ebenfalls auf das Diskursive fokussiert sind die Arbeiten von Monika Woitas und Christina Thurner, die beide historische Tanztraktate untersuchen. Sie erweitern damit den Untersuchungsgegenstand von den Kritiken, Anekdoten und Libretti auf technische Traktate. Monika Woitas betrachtet in Im Zeichen des Tanzes den „ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830“, untersucht tanztheoretische Quellen von JeanGeorges Noverres bis Carlo Blasis auf darstellungstheoretische und ästhetische Fragen und rückt sie in den Kontext der Schauspielästhetik ihrer Zeit. Woitas sucht in der sogenannten Ballettreform, in der der menschliche Körper zum ästhetischen Zeichen und empfindsamen Subjekt wird, den Ausgangspunkt für einen (vermeintlichen) Widerspruch von Form und Ausdruck im Tanz, der – laut Woitas – erst im Ausdruckstanz und dem Regieund Tanztheater des 20. Jahrhunderts aufgelöst wird. Im Wandel der darstellenden Künste vom 18. zum 19. Jahrhundert beobachtet sie „eine zunehmende Liberalisierung mimetischer Postulate zugunsten formalästhetischer Wertkriterien,“164 die jedoch im „Romantischen Ballett“ zu einer zeitweiligen Lösung des Form/Ausdrucks-Widerspruchs führt: „Paradoxerweise ist es die hier einsetzende Emanzipation von den Zwängen sprachorientierter Strukturen und Konzeptionen, die im Tanzstil des Romantischen Balletts schließlich kulminiert und in dieser Etablierung tanzspezifischer Ausdrucksqualitäten jene von der Ballettreform initiierte Aufwertung der Bewegung zum eigenständigen Kommunikationssystem tatsächlich realisieren kann. Die Dramatisierung des Balletts mündet gewissermaßen in einer Poetisierung der Bewegung, die im schwerelos-ätherischen Tanz Marie Taglionis schließlich die adäquate Verkörperung romantischer Sehnsüchte feiert.“165
Woitas Darstellung ist jedoch von einem impliziten Verfallsdiskurs geprägt, da sie das „Verhältnis bzw. Gewichtung von Ausdruck und Form als Fundamentalprinzipien künstlerischer Gestaltung“166 begreift, in der sie das Or-
le Presence of the Past in Théophile Gautier’s Fantastic“, in: Dance Chronicle 28/1 (2005), S. 67-142. 164 Monika Woitas: Im Zeichen des Tanzes. Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830, Herbolzheim 2004, S. 351. 165 Ebd., S. 79 f. 166 Ebd., S. 352.
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nament wiederholt pejorativ als dekoratives und unnützes Anhängsel beschreibt.167 Mit dem Begriff des Ornamentalen, den diese Arbeit als Analyseinstrument für das Ballett im frühen 19. Jahrhundert vorschlägt, lässt sich die von Woitas vollzogene Dichotomie zwischen Form und Ausdruck unterlaufen. Christina Thurner denkt Woitas’ Ansatz weiter und befasst sich in ihrer Arbeit Beredte Körper – bewegte Seelen ebenfalls mit dem Verhältnis von innerer und äußerer Bewegung. Thurner untersucht in ihrer Studie, wie historische Tanztraktate diese „doppelte Bewegung“ nicht nur be-schreiben, sondern auch er-schreiben.168 Sie zeigt, wie sich im 19. Jahrhundert ein neues Rezeptionsverständnis von Tanz etabliert, das die subjektive Wahrnehmung über eine objektive, instruktive Beschreibung stellt und dessen adäquates Textgenre folglich nicht mehr das Traktat ist, sondern die Tanzkritik im literarischen Feuilleton. Thurner beschreibt den „Diskurs der Emphase“ bei Tanzkritikern wie Théophile Gautier und Jules Janin nicht als Abbild, sondern als Übertragung der Wahrnehmung des Tanzens in das Schreiben.169 Thurner bietet in dieser Hinsicht ein Modell für die Frage dieser Arbeit, wie in Aufzeichnungsformen von Tanz ästhetische Dimensionen des Balletts übertragen werden. Die bisher vorgestellten Arbeiten beschäftigen sich vornehmlich mit Tanztexten, also mit Dokumenten, die Tanz in Form von Schrift bewahren bzw. beschreiben. Ikonografische Dokumente werden dort in der Regel nur als Illustration herangezogen170 und nicht auf ihren medialen Status, auf die Weise wie in ihnen Bewegung und Ballettästhetik aufgezeichnet wird, befragt. Bildliche Aspekte des Balletts im frühen 19. Jahrhundert wurden so
167 Vgl. ebd., S. 256, 279 und 357. 168 Vgl. Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen, Klappentext. 169 Ebd., S. 151 ff. Mit einem ähnlichen Ansatz nähert sich der Feuilletonkritik Lucia Ruprecht: „‚Elle danse, tout est dit‘ – die Metapher des Poetischen in der Kritik des romantischen Balletts“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 333-343. 170 So werden die Illustrationen aus dem Album Les Beautés de l’Opéra häufig als Abbild einer Bühnenrealität genommen, anstatt sie im Kontext der begleitenden Texte und der Gesamtgestaltung des Buches zu betrachten. Vgl. z.B. Foster: Choreography & Narrative, S. 244 und 246.
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bisher nur in Ansätzen beschrieben.171 Mit dem Fokus auf das Ornamentale und der Hinzuziehung einer Vielzahl nichtschriftlicher Quellen versucht die vorliegende Arbeit dieses Defizit auszugleichen. Dabei kann sich diese Arbeit auf einige Vorarbeiten stützen, die ikonografische Dokumente und selten bearbeitetes Archivmaterial vorstellen. Die beiden Bände der Reihe Souvenirs de Taglioni enthalten Hinweise auf Archivdokumente, in denen das bildliche Element stärker dominiert, und von denen einige im Folgenden eingehender untersucht werden.172 Claudia Jeschke hat dort und in verschiedenen anderen Aufsätzen auf das JustamantKonvolut und die Musterbücher von Franz Opfermann hingewiesen, und in knappen Thesen das Ornamentale dieser Blätter benannt.173 Sie nennt das
171 Bisher wurde vornehmlich das Ballett des 18. Jahrhunderts unter dieser Kategorie betrachtet. Vgl. Gabriele Brandstetter: „‚Die Bilderschrift der Empfindung‘. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde“, in: Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack (Hg.): Friedrich Schiller und die höfische Welt, Festschrift für Peter Michelsen zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 77-93. Dem Verhältnis von Tanz und Bild und ihren Übertragungen widmet sich Gabriele Brandstetter ausgehend von Henri Matisse und der Arabeske „als Figuration von Bewegung im Raum, als rhythmisierte Zeichnung“, in Gabriele Brandstetter: „SchnittFiguren. Intersektionen von Bild und Tanz“, in: dies., Gottfried Boehm, Achatz von Müller (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007, S. 13-32, hier S. 15. 172 Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, 2 Bd., München 2007. 173 Claudia Jeschke: „Inszenierung und Verschriftung“; dies.: „Schals und Schleier als choreographische Verfahren im Tanztheater des 19. Jahrhunderts“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller, Daniel Brandenburg, Monika Woitas (Hg.): „Prima la Danza!“ Festschrift für Sybille Dahms, Würzburg 2003, S. 261-275; dies., Robert Atwood: „Expanding Horizons: Techniques of Choreo-Graphy in Nineteenthcentury Dance“; dies.: „‚Tanz-Gruppen‘ – das Musterbuch von Franz Opfermann“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 1 „Taglioni-Materialien der Derra de Moroda Dance Archives“, München 2007, S. 67-75; dies.: „‚Les Choses espagnoles‘: Hispanomanie in Tanztheorie und Choreographie. Ein Forschungsbericht“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 175-193.
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Ornament ein „wesentliches Merkmal der Ballettästhetik der Zeit“,174 das die „optische Wirkung“ des corps de ballet steigert und den „Schauwert“ wie das „Sensationspotenzial“ des Balletts entfaltet. 175 In Opfermanns Musterbüchern werden die Tanzenden zu „skulpturalen Gebilden, die ein reges Abstraktionspotenzial für die Entwicklung des Performativen zwischen Schau und Verkörperung in sich bergen.“176 Claudia Jeschkes Thesen werden in dieser Arbeit an close readings einzelner Notate differenziert und weiterentwickelt, wobei der Fokus im Folgenden auf der operativen Dimension der Notate und Aufzeichnungsformen und ihrem choreografischen Entwurfspotenzial liegt. Als hilfreich bei der Materialsuche erwies sich außerdem das Magazin Dance Index, das zwischen 1942 und 1949 von Lincoln Kirstein in enger Zusammenarbeit mit den Dance Archives des Museum of Modern Art (aufgegangen in der Dance Division der New York Public Library) herausgegeben wurde. Einzelne Ausgaben, wie die von Marian Hannah Winter und George Chaffee, bilden wichtige Ausgangspunkte für die Archivrecherche, darüber hinaus praktizieren einige Ausgaben einen surrealistischen Zugang zur Tanzgeschichte, auf den an späterer Stelle eingegangen wird.177 Die Frage nach dem Ornamentalen des Tanzes wurde bisher nur in Ansätzen gestellt. Laurent Ferec vergleicht in „Getanzte Geschichte. Ornament und Bühnentanz“ die Agamemnon-Choreografien von Jean-Georges Noverre und Rudolf von Laban in ihrem Verhältnis zum Ornament. Er skizziert die Bedeutung des Ornamentalen im barocken Bühnentanz, wie auch die historische Verbindung von Tanz und Ornament in der Ableitung von Sternbildern.178
174 Jeschke: „Tanz-Gruppen“, S. 72. 175 Jeschke: „Inszenierung und Verschriftung“, S. 264. 176 Ebd., S. 261. 177 Vgl. den Zirkus-Abschnitt im 3. Kapitel dieser Arbeit, sowie Marian Hannah Winter: Theatre of Marvels, (= Dance Index 7/1-2, 1948); George Chaffee: Three or Four Graces, (= Dance Index 3/9-11, 1944); ders.: American Souvenir Lithographs of the Romantic Ballet 1825-1870 (= Dance Index 1/2, 1942); ders: American Romantic Ballet Music Prints (= Dance Index 1/12, 1942); und ders.: The Romantic Ballet in London (= Dance Index 2/9-12, 1943). 178 Laurent Ferec: „Getanzte Geschichte. Ornament und Bühnentanz“, in: Ursula Franke, Heinz Paetzold (Hg.): Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne, Bonn 1996, S. 133-148.
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Gabriele Brandstetter hat über das Ornament in Inszenierungen der Ballets Russes ein Spiel mit der Wahrnehmung und eine perspektivische Brechung zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben. Das Ornament, das Bühne, Kostüm und Körper zusammenführt, wird für Brandstetter zum Bild einer neuen Darstellungsweise, die zwischen Figur und Grund, Raum und Fläche oszilliert und die Vervielfältigung der Betrachter*innenperspektive im Körper der Tänzer*innen wiederholt.179 Das Ornamentale im Ballett des frühen 19. Jahrhunderts stellt für die folgende Arbeit ebenfalls die Figur einer neuen Wahrnehmungsweise, dem Fantastischen, dar, wie im 5. Kapitel dieser Arbeit gezeigt wird. Einen weiteren Aspekt der Geschichte des Ornamentalen im Tanz beschreibt Mark Franko in seiner Untersuchung des Barocktanzes als Text.180 Franko betrachtet den geometrischen Barocktanz vor dem Hintergrund von zwei Modellen, dem Labyrinth und der Hieroglyphe, deren Figurations- und Defigurationsprozesse auch als Schriftbild bzw. Ornament betrachtet werden können.181 Frankos Analyse des geometrischen Tanzes bildet eine Grundlage für die Betrachtung der ornamentalen Gruppentänze in Kapitel 5. Ausgangspunkt, sich mit dem Ornamentalen im Tanz zu beschäftigen, war die Ballettpose Arabeske. Den Anstoß dazu gab ein Aufsatz von Gabriele Brandstetter zu Carlo Blasis’ The Code of Terpsichore, in dem die Arabeske eine bevorzugte Figur darstellt. Brandstetter beschreibt die Arabeske dort als „Figur der Figur“, die ein flächiges Linienornament als Raumfigur refiguriert.182 Sie verortet die Arabeske dabei zwischen tanzästhetischer Darstellungstheorie und mechanischen Bewegungswissenschaften als Figur, in der Mechanik als Matrix der Grazie wirksam ist. Sabine Huschka führt Gabriele Brandstetters wissenspoetologische Herangehensweise183 an Blasis’ Traktat
179 Brandstetter: „Die Inszenierung der Fläche“. 180 Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993. 181 Ebd., S. 25. 182 Gabriele Brandstetter: „The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik“, in: dies., Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 49-72, hier S. 69. 183 Vgl. zu dieser Methode Gabriele Brandstetter, Gerd Neumann: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 9-13; wie auch Gabriele Brandstetter: „Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung“, in: Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.): Wissen in Bewe-
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fort. Huschka betrachtet den Körper als Ort, an dem sich das Wissen des Tanzes zeigt und den es formt. Sie weist auf die Rolle der Einbildungskraft in der Übertragung der Ornamentfigur Arabeske auf den Körper der Tänzer*innen hin und beschreibt die „phantastische Aufladung“ der Körper in der Arabeske.184 Im Vergleich dazu liegt im Folgenden der Fokus weniger auf einem zu rekonstruierenden Wissen des Tanzes, als auf den poetischen und poetologischen Prozessen und Stilfragen, die sich in historischen Dokumenten des Tanzes auffinden lassen und der Operativität (manoeuvrability) von Notationen,185 wobei letzteres auch als „tacit knowledge“186 zu fassen wäre. Dabei rücken Stilfragen, wie die orientalistische Dimension der Arabeske, und die Schriftbildlichkeit des Balletts im Ornamentalen ins Zentrum. Das Ballett des frühen 19. Jahrhunderts wird darin zu einem Schauplatz einer Neuverhandlung von (nicht nur ästhetischer) Wahrnehmung: das Ornamentale, als Ungrund oder Vorstufe von Sichtbarkeit und Anordnung, geht eine enge Bindung mit dem Fantastischen ein, das Ästhetik und Physiologie verbindet und die subjektive Dimension der Vorstellungskraft produktiv macht. Die ikonografischen Vorlagen der Pose Arabeske und ihre Übertragungen in den Tanz sind von den italienischen Tanzhistorikerinnen Flavia Pappacena und Francesca Falcone bereits ausführlich beschrieben worden, die die Antikenrezeption der Arabeske über die Tänzerinnendarstellungen von Antonio Canova fassen.187 Pappacena ergänzt ihren Kommentar zu Blasis’
gung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007, S. 37-48. 184 Sabine Huschka: „Wissen vom Tanzen: Carlo Blasis’ Instruktionen zur Anmut“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 113-136. 185 Vgl. oben die Definition von Notation nach Gabriele Brandstetter. 186 Böhme und Huschka übernehmen diesen Begriff von Michael Polanyi. Hartmut Böhme, Sabine Huschka: „Prolog“, in: Sabina Huschka (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009, S. 7-22, hier S. 11. 187 Francesca Falcone: „The Arabesque. A Compositional Design“, in: Dance Chronicle 19/3 (1996), S. 231-253; dies.: „The Evolution of the Arabesque in Dance“, in: Dance Chronicle 22/1 (1999), S. 71-117; Flavia Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, Lucca 2005; dies.: „Dance Terminology and Iconography in Early Nineteenth Century“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller
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Tanztraktaten mit einem umfangreichen Bildessay; sie beschreibt die Übertragung der Ornamentfigur Arabeske in den Tanz dabei jedoch als Inspirations- und Einflussverhältnis mit dem Ziel „künstlerische Freiheit“ von akademischer Strenge zu erlangen. 188 Während diese Arbeit auf Pappacenas und Falcones Katalogen ikonografischer Vorlagen aufbauen kann, werden hier hingegen die Mechanismen der stilistischen Übertragungen und das Bild- und Ornamentalwerden des Balletts im frühen 19. Jahrhundert fokussiert. Claudia Jeschke, Isa Wortelkamp und Gabi Vettermann haben in einem gemeinsamen Aufsatz die Figurationsprozesse der Arabeske um die „Strategien der Visualisierung von Fremdem“ erweitert.189 Sie stellen die Arabeske als ‚Fremdes‘ der Technik, der Erzählung und als dekorative Entgrenzung der Inszenierung, als „ornamentale räumliche Figuration“190 dar. In ihrem Ansatz ist der analytische Übergang von der Arabeske als singuläre ornamentale Körperfigur zu ornamentalen Raumgestaltungen mit Körpern, den diese Arbeit vollzieht, angedeutet. Der Inszenierung von Fremdheit im Ballett des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen haben sich Claudia Jeschke, Gabi Vettermann und Nicole Haitzinger in einer weiteren Studie gewidmet.191 In Interaktion und Rhythmus untersuchen sie einen breiten Materialkorpus von Tanztraktaten, medizinischen Diskursen des 19. Jahrhunderts, Libretti, Kritiken und Inszenierungsnotaten und beschreiben Fremdheit als „Generator szenischer und narrativer Möglichkeiten, der choreographischen Transgression und des tänzerischen Überflusses.“192 Jeschke, Vettermann und Haitzinger verwenden einen weitgefassten Begriff von Fremdheit, der Nationaltänze, die Hispano-
(Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 95-112. 188 Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, S. 293-306; dies., „Dance Terminology and Iconography in Early Nineteenth Century“, S. 105. 189 Claudia Jeschke, Isa Wortelkamp, Gabi Vettermann: „Arabesken. Modelle ‚fremder‘ Körperlichkeit in Tanztheorie und -inszenierung“, in: Claudia Jeschke, Helmut Zedelmaier (Hg.): Andere Körper – Fremde Bewegungen. Theatrale und öffentliche Inszenierungen im 19. Jahrhundert, Münster 2005, S. 169-210. 190 Ebd., S. 204. 191 Jeschke, Vettermann, Haitzinger: Interaktion und Rhythmus. 192 Ebd., S. 516.
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manie des 19. Jahrhunderts,193 Bewegungsqualitäten, groteske Körperbilder wie auch Krankheit und Wahnsinn umfasst. Der Orientalismus des 19. Jahrhunderts, der für die Arabeske einen zentralen Referenzpunkt des Fremden darstellt, wird dagegen nur beiläufig erwähnt.194 Eine Theorie und Analyse des Ornamentalen im Ballett des frühen 19. Jahrhundert, die sowohl die Pose Arabeske wie auch ornamentale Inszenierungsstrategien (also räumliche und zeitliche Dimension des Ornamentalen) auf der Basis ikonografischen Materials betrachtet, wie diese Arbeit sie anstrebt, betritt damit Neuland.
193 Vgl. dazu auch Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke, Gabi Vettermann: „Les Choses Espagnoles“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 137-193; sowie dies.: Les choses espagnoles. Research into the Hispanomania of 19th century dance, München 2009. 194 Jeschke, Vettermann, Haitzinger: Interaktion und Rhythmus, S. 459 ff.
2. Danseuses d’Herculanum Die Mahlerei besteht aus Arabesken, die aber durch ein reizendes Köpfchen in ihrer Mitte, oder durch irgend eine mythologische Darstellung in einem Medaillon, immer einen schönen Vereinigungspunkt haben, wodurch die ausschweifende Phantasie gleichsam wieder zu einem Hauptgegenstande zurückgeführt wird. KARL PHILIPP MORITZ, NEAPEL 4. MAI 17871
Zwei Frauenfiguren schweben auf einem Wolkengrund und geben sich in einem Reigen die Hände. Ihre diaphanen, wallenden Kleider zeichnen in ihren Falten eine Drehbewegung nach. Nur so, ins Bild übertragen und dort konserviert, ist der Tanz der Tänzerinnen von Herculaneum erhalten geblieben und bis heute überliefert. Ihre grazilen Bewegungen – wenn sie denn je so stattgefunden haben und nicht der künstlerischen Fantasie entsprungen sind – wären längst verschwunden und vergessen, wenn sie nicht in dieser Zeichnung gebannt, in diesen Falten gehalten wären. Die Tänzerinnen von Herculaneum – so der im 18. und 19. Jahrhundert weit verbreitete Name dieser Zeichnung – werden im Rahmen der archäologischen Ausgrabungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt, die das Interesse am Ornament in dieser Zeit neu entfachen. In den antiken Wandgemälden finden zeitgenössische Betrachter*innen einen anderen Umgang mit dem Ornamentalen vor, der zum Anlass für eine grundlegende Revision ihrer ästhetischen Funktion wurde. Die Arabeske bildet dabei den
1
Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788, Bd. 2, Berlin 1792, S. 62.
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zentralen Gegenstand der Auseinandersetzung.2 Und die Tänzerinnen von Herculaneum, die im 18. Jahrhundert eines der populärsten Motive der Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum sind, tauchen bis heute in verschiedenen Ableitungen der Ballettpose Arabeske auf.3 Die Überlieferungsgeschichte und die im Folgenden vorgestellten exemplarischen Stationen der Rezeption der Tänzerinnen von Herculaneum bilden die Vorgeschichte zur Archäologie des Ornamentalen im Ballett des frühen 19. Jahrhunderts. Im folgenden Kapitel sollen die stilistischen Implikationen dieser Figurengruppe, die ihre Popularität im 18. Jahrhundert erklären, freigelegt und ihre Verbindung mit der Arabeske, sowohl als Ornament der Bildenden Kunst wie auch der gleichnamigen Ballettfigur, aufgedeckt werden: Was ist das Arabeske der Tänzerinnen von Herculaneum? Re-Animation der Antike Die Wiederentdeckung der antiken Städte Pompeji, Herculaneum und Stabiae, die 79 n. Chr. bei einem Vesuvausbruch unter meterhohen Schichten von Asche, Schutt und Lava begraben wurden, machen zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen starken Eindruck. Der Vulkanausbruch hatte in beispielloser Weise den Stand der (spät-)antiken Kultur konserviert, denn die Bewohner*innen der süditalienischen Städte wurden von ihm ‚mitten im Leben‘ überrascht.4 Für die Betrachter*innen des 18. und 19. Jahrhunderts
2
Günter Oesterle: „Arabeske“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 272-286, hier S. 273 ff.
3
Vgl. Francesca Falcone: „The Arabesque. A Compositional Design“, in: Dance Chronicle 19/3 (1996), S. 231-253, hier S. 232 ff.; Flavia Pappacena: „Dance Terminology and Iconography in Early Nineteenth Century“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, 95-112, hier S. 99.
4
Die Drastik der Ereignisse dieses Tages sind im Augenzeugenbericht von Plinius d. Jüngeren, dessen Onkel Plinius d. Ältere im Laufe dieses Naturspektakels umkam, überliefert. Gaius Plinius Caecilius Secundus: Sämtliche Briefe, eingeleitet, übersetzt und erläutert von André Lambert, Zürich/Stuttgart 1969, S. 228-232 (Sechstes Buch Nr. 16).
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werden die archäologischen Städte zu Hohlformen vergangenen Lebens,5 die sie mit ihrer (zeitgenössischen) Fantasie füllen. Pompeji und Herculaneum erscheinen so den Betrachter*innen dieser Zeit weniger als abgeschlossene Vergangenheit denn als Einladung, sie in der Imagination erneut zum Leben zu erwecken. Friedrich Schillers Gedicht Pompeji und Herkulanum (1797) artikuliert eine solche Wiederbelebungsfantasie: „Griechen! Römer! O kommet und seht, das alte Pompeji Findet sich wieder, aufs neu bauet sich Herkules’ Stadt. Giebel an Giebel richtet sich auf, der Portikus öffnet Seine Hallen, o eilt, ihn zu beleben, herbei!“6
Gut vierzig Jahre nach den ersten Funden werden 1749 bei Ausgrabungen in der Nähe der Stadt Torre dell’Annunziata die Reste eines Landhauses gefunden, die sogenannte Villa di Cicerone. Die Wände dieses Hauses waren mit einem Zyklus von Tänzerinnen, Satyrn und Kentauren geschmückt, von denen Teile in der Folge als Tänzerinnen von Herculanum bekannt werden. Bei ihnen handelt es sich um elf Vignetten, die heute in zwei Tafeln zusammengefasst im Museo Archeologico Nazionale in Neapel gezeigt werden. Die Danzatrici e Menadi bestehen aus vier Einzelfiguren, verzeichnet unter Katalognummer 126 (Inv. 9295). Katalognummer 127 (Inv. 9297) zeigt auf sieben Vignetten insgesamt acht Figuren, farbig auf schwarzem Grund, die der Katalog als Menadi danzanti bezeichnet.7
5
„1862 entwickelte […] Giuseppe Fiorelli, der damalige Direktor der Ausgrabungen, eine Methode, die den Augenblick des Todes der Opfer der Katastrophe für immer sichtbar machte: Die Hohlformen, welche die Leichen im Gestein hinterlassen hatten, wurden mit einer Gipsmasse ausgegossen. Die auf diese Weise entstandenden calchi (‚Abgüsse‘) zeigten die im Tod erstarrten Männer, Frauen und Kinder in den Haltungen, in denen sie ihr Ende ereilt hatte.“ Dieter Richter (Hg.): Pompeji und Herculaneum. Ein Reisebegleiter, Frankfurt/Main 2005, S. 141. Zur Hohlform als Geschichtsmodell des 19. Jahrhunderts mit Blick auf Walter Benjamins Passagenarbeit, vgl. Isabel Kranz: Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte, München 2011, S. 147-150.
6
Friedrich Schiller: „Pompeji und Herkulanum“, in: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Hans-Günther Thalheim u.a., Berlin/Weimar 1980, S. 410-412.
7
Oreste Ferrari (Hg.): Le Collezioni del Museo Nazionale di Napoli, Rom 1986, S. 140 f. Vgl. auch Lawrence Richardson, Jr.: A Catalogue of Identifiable Figure
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Abbildung 2: Zwei der Tänzerinnen von Herculaneum
Saint-Non: Voyage Pittoresque […], Paris 1782.
Es ist dabei inbesondere die Leuchtkraft dieser Gemälde, deren Farben über die Jahrhunderte hinweg einen frischen Eindruck bewahrt haben, welche die zeitgenössischen Betrachter*innen in besonderem Maße begeistert, da sie sich vom bisherigen Bild der Antike stark unterscheidet.8 Zahlreiche Berichte, wie der von Karl Philipp Moritz, belegen dies: „Es ist ein auffallender und schöner Anblick, wenn man aus grauen Zeiten, wovon uns sonst nur die Umrisse in den unzerstörbaren Massen übrig sind, nun auch die Farben erhalten sieht; es ist einem bei diesem Anblick, als ob die erstorbene Vorzeit wieder lebendig würde.“9 In den Tänzerinnen von Herculaneum wird dieser Lebendigkeitstopos, der das neue Bild der Antike prägt, paradigmatisch verkörpert, da sich in ihnen die
Painters of Ancient Pompeii, Herculaneum and Stabiae, Baltimore 2000, S. 83-86 („The Villa di Cicerone Painter“). 8
Dieser Eindruck rührt von der Maltechnik. Die Autoren des 18. Jahrhunderts beschrieben diese als enkaustisch, heute gelten die Wandmalereien der Vesuvstädte als Fresken. Agnes Allroggen-Bedel: „‚Malerey der alten Griechen‘ und ‚verderbter Geschmack‘. Die Wandmalereien in und aus Herculaneum“, in: Josef Mühlenbrock, Dieter Richter (Hg.): Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum, Mainz 2005, S. 153-165, hier S. 153.
9
Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien, Bd. 2, S. 77.
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Farbigkeit der Malerei mit der motivischen Darstellung von Bewegung verbindet. In Friedrich Schillers Gedicht Pompeji und Herkulanum lässt sich dieses In-Bewegung-Setzen exemplarisch nachvollziehen. Die (vermeintlich) tanzende Bewegung findet ihren Ursprung dabei in einer „blumichten Kette“ – also in Arabesken: „Heitre Farben beleben die Wand, mit blumichter Kette Fasset der muntre Feston reizende Bildungen ein. Mit beladenem Korb schlüpft hier ein Amor vorüber, Emsige Genien dort keltern den purpurnen Wein, Hochauf springt die Bacchantin im Tanz, dort ruhet sie schlummernd, Und der lauschende Faun hat sich nicht satt noch gesehn. Flüchtig tummelt sie hier den raschen Zentauren, auf einem Knie nur schwebend, und treibt frisch mit Thyrsus ihn an.“10
Die bewegte Gruppe der Tänzerinnen von Herculaneum, die das 18. und 19. Jahrhundert so fasziniert, verhandelt im Bild Bewegung, deren künstlerische Aufzeichnung und die damit verbundene ästhetische Kategorie Grazie. Die Einbildungskraft der Betrachtenden hat dabei großen Anteil an diesem Verlebendigungsvorgang, denn sie ist der Ort, an dem diese (starren) Bilder sich in Bewegung setzen. Die Tänzerinnen von Herculaneum sind ReAnimationen der Antike, denn sie beleben (und bewegen) antike Figuren und wenden diese, im Prozess der Wiederherstellung, um.11
10 11
Schiller: „Pompeji und Herkulanum“, S. 411. Der erste Entwurf zu diesem Kapitel entstand 2011 anlässlich einer Tagung zu Re-Animationen des Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ in Weimar. Die Herausgeberinnen des Tagungsbandes definieren: „Re-Animationen bezeichnen das erneute Ingangsetzen erloschener Funktionen und Zustände. Als Prozesse der Wiederherstellung von Dingen, Verfahren, Repräsentationslogiken oder Wissensobjekten ordnen und organisieren sie diese neu. Indem sie etwas, das als vergangen oder wirkungslos gilt, neuerlich in (Eigen-)Bewegung versetzen, hinterfragen Re-Animationen die Kontinuität von Überlieferungen und entfalten Deutungen des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart.“ Ulrike Hanstein, Anika Höppner, Jana Mangold, „Einleitung“, in: dies. (Hg.): ReAnimationen. Szenen des Auf- und Ablebens in Kunst, Kultur und Geschichtsschreibung, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 7-25, hier S. 11. Vgl. auch den Beitrag des Verfassers in diesem Band, der eine Vorstudie dieses Kapitels darstellt: Eike Wittrock: „Die Tänzerinnen von Herculaneum. Zur Archäologie der Arabeske des
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Voyage Pittoresque Bedeutenden Anteil an der Popularität dieser Figuren und dem durch sie verbreiteten neuen Bild der Antike hatte ihre Verbreitung in Bildmedien. Ihren beinahe mustergültigen Status 12 erreichten die Tänzerinnen von Herculaneum, wie auch die Ornamente, für die diese Ausgrabungen berühmt waren, nur durch die weite Verbreitung in (grafischen) Reproduktionen. Die offizielle Veröffentlichung von Abbildungen der Kunstwerke aus Pompeji und Herculaneum beginnt 1757, als der neapolitanische König seine restriktive Kulturpolitik lockert und die Veröffentlichung der Reihe Delle antichità di Ercolano der Real accademia ercolanese veranlasst.13 Unter den vielen Publikationsvorhaben, deren Bandbreite von prachtvollen, mehrbändigen Großfoliobänden bis zu kleinen Werken mit wenigen Nachstichen reicht, ist Jean Claude Richard de Saint-Nons Voyage Pittoresque ou Description des Royaumes de Naples et de Sicile aus den 1780er Jahren eines der aufwendigsten
Romantischen Balletts“, in: ebd., S. 345-360. Vgl. ebenfalls Eike Wittrock: „Choreographic Reanimations: Dance, Death, and Archaeology“ in: Omar Kholeif (Hg.): Two Days After Forever: A Reader on the Choreography of Time, Ausstellungskat. Christodoulos Panayiotou, The Cyprus Pavilion, Biennale Arte Venezia 2015, Berlin 2015, S. 118-133. 12
Sie wurden häufig in der Wanddekoration kopiert, so z.B. in der Villa Hamilton in Wörlitz. Die Verbindung zur archäologischen Fundgeschichte war dort stets präsent: die Villa Hamilton grenzt an einen künstlichen Vulkan, der als pyrotechnisches Spektakel einen Ausbruch simulieren konnte. Volker Michael Strocka: „Kopie, Invention und höhere Absicht. Bildquellen und Bildsinn der Wörlitzer Raumdekorationen“, in: Frank-Andreas Bechtoldt, Thomas Weiss (Hg.): Weltbild Wörlitz. Entwurf einer Kulturlandschaft, Frankfurt/Main 1996, S. 163-193; sowie generell Peter Werner: Pompeji und die Wanddekoration der Goethezeit, München 1970.
13
Charles Nicolas-Cochin und Jérôme-Charles Bellicard haben trotz eines Verbots bereits 1748 begonnen, Abbildungen der ausgegrabenen Kunstgegenstände zu veröffentlichen. Zur frühen Publikationsgeschichte vgl. Alden R. Gordon: „Subverting the Secret of Herculaneum: Archaeological Espionage in the Kingdom of Naples“, in: Victoria C. Gardner Coates, Jon L. Seydl (Hg.): Antiquity Recovered. The Legacy of Pompeii and Herculaneum, Los Angeles 2007, S. 37-57.
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und bietet die erste „ausführliche Dokumentation der Grabungen in Pompeji“.14 Vergleicht man die Abbildungen der verschiedenen Publikationen miteinander, wie auch mit jüngeren Fotografien oder Rekonstruktionen der Fundstellen, stößt man auf gravierende Unterschiede in der Darstellungsweise (Abb. 3). So wird in Beschreibungen stets der schwarze Hintergrund der Tänzerinnen von Herculaneum betont. Der Kommentar in Saint-Nons Voyage Pittoresque lautet: „Leur caractère fantastique pourroit faire penser que les Anciens les avoient représentées sur un fond absolument obscur, afin de rappeller l’idée de certaines illusions qui nous offrent dans le sommeil des êtres que l’imagination & différentes impressions reçues pendant le jour, produisent au sein du repos. […] On pourroit ajouter que si ces charmantes Figures sont en effet produites par les songes, ou faites pour les imiter, leur habillement devoit bien en offrir la légèreté.“15
Obwohl dieser dunkle Untergrund hier als charakteristisches Merkmal herausgestellt wird, das auf das Traumhafte dieser Figuren hinweist, zeigt die entsprechende Zeichnung im gleichen Band ein anderes Bild. In der Voyage Pittoresque werden die Tänzerinnen von Herculaneum (in schwarzweiß) auf einem hellen (!) Wolkengrund dargestellt (Abb. 2). Zieht man zum Vergleich weitere Abbildungen hinzu,16 wird deutlich, dass in der grafischen Wiedergabe zwar das Motiv der Tänzerinnen von Herculaneum übertragen wird, der Hintergrund und Kontext jedoch verändert sind: die Tänzerinnen von Herculaneum werden isoliert und somit als Figuren zitierbar.17 Diese Ablösung des Motivs vom Grund wird auch in den Darstellungen der Arabesken von
14
Ulrike Steiner: Die Anfänge der Archäologie in Folio und Oktav. Fremdsprachige Antikenpublikationen und Reiseberichte in deutschen Ausgaben, Stendal/ Ruhpolding 2005, S. 237.
15
Jean Claude Richard de Saint-Non: Voyage Pittoresque ou Description des Royaumes de Naples et de Sicile. Seconde Partie du premier Volume. Tome second, Paris 1782, S. 22 f.
16
Vgl. Abbildungen 26, 27, 46, 49 und 50 in Steiner: Die Anfänge der Archäologie in Folio und Oktav.
17
Sabine M. Schneider vergleicht das „Prinzip der Isolierung“ mit Zitaten. Sabine M. Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne. Die Ornamentdebatte um 1800 und die Autonomisierung des Ornaments“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63/3 (2000), S. 339-357, hier S. 346.
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Pompeji und Herculaneum vollzogen. Dabei wird der zentrale Aspekt der Popularität dieser Ornamente, ihre immer wieder beschriebene gelungene Integration in die Wandgemälde, unterlaufen. Denn ursprünglich waren Tänzerinnen von Herculaneum in den Häusern, in denen sie gefunden wurden, mittig in einer größeren Fläche angeordnet, die an den Rändern von Blumengirlanden, balancierenden Satyrn und Ornamenten (Arabesken) – „Stäbchen, Schnörkel, Bänder, aus denen hie und da eine Blume oder sonst ein lebendiges Wesen hervorblickt“18 – umrandet ist. Abbildung 3: Fotomechanische Reproduktion des Wandgemäldes
Herrmann: Denkmäler der Kunst des Altertums, München 1904-1931.
Johann Wolfgang von Goethe betont in seinem kurzen Aufsatz Von Arabesken (1789) die Harmonie, die zwischen den einzelnen Teilen der Wandgemälde herrscht. Die in den Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum vorgefundenen Ornamente widerlegen so das Vorurteil der Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts, die den Einsatz von Ornamenten in der Dekoration
18
Johann Wolfgang von Goethe: „Von Arabesken“ (1789), in: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. 1, Bd. 47, Weimar 1896, S. 235-241, hier S. 236.
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mit Verweis auf Vitruv19 und das klassische Ideal unterbinden wollte.20 Die Arabeske erweist sich in dieser Diskussion als „Grenzgänger des Klassizismus“.21 Sie gefährdet mit ihrer Vernunft- und Regellosigkeit die „Ökonomie der Linie“, 22 und an ihrem Beispiel wird paradigmatisch die Freiheit der künstlerischen Einbildungskraft umkämpft, wie auch die Freiheit im Umgang mit der Kunstgeschichte. Am Ende dieser architektur- und kunsttheoretischen Debatte ist das Ornament, dank Fürsprechern wie Karl Philipp Moritz oder Immanuel Kant, rehabilitiert: „Die Ermächtigung der produktiven Einbildungskraft des Genies, selbstbewußt über die Tradition zu verfü-
19
Vitruv verbietet im fünften Kapitel des siebten Buchs über die Architektur fantastische Dekorationen, wie Arabesken. „An Stelle von Säulen setzt man kannelierte Rohrstengel, an Stelle von Dachgiebeln appagineculi [unbekannte Bedeutung] mit gekräuselten Blättern und Voluten, ferner Lampenständer, die die Gebilde kleiner Tempel tragen, über deren Giebel sich zarte Blumen aus Wurzeln mit Voluten erheben, auf denen sinnlos kleine Figuren sitzen, ferner Pflanzenstengel mit Halbfiguren, von denen die einen Menschen-, andere Tierköpfe haben. So etwas aber gibt es nicht, kann es nicht geben, hat es nicht gegeben. Wie kann nämlich ein Rohr ein Dach oder ein Lampenständer den Schmuck eines oder ein so zarter und biegsamer Stengel ein darauf sitzendes Figürchen tragen, oder wie können aus Wurzeln und Stengeln bald Blumen, bald Halbfiguren hervorsprießen?“ Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, übers. und mit Anm. versehen von Dr. Curt Fensterbusch, 4. Auflage, Darmstadt 1987, S. 333 f.
20
Damit wiederholt sich eine Kontroverse der Renaissance um Raffaels Arabesken in den Loggien des Vatikan, die ebenfalls nach archäologischen Entdeckungen (der Titusthermen) gestaltet wurden. Andreas Riem hat diese Debatte 1788 mit einer Philippika gegen die Arabeske in der offiziellen Monatsschrift der Berliner Akademie der Künste angefacht. Für eine Zusammenfassung dieser Debatte vgl. Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne“, S. 344-350.
21
Günter Oesterle: „‚Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente‘. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske“, in: Herbert Beck, Peter Bol, Eva Gérard-Maek (Hg.): Ideal und Wirklichkeit in der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, Berlin 1984, S. 119-139, hier S. 132.
22
Schneider: „Zwischen Klassizismus und Autonomieästhetik der Moderne“, S. 344.
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gen, ist die folgenreichste Konsequenz aus der Radikalisierung des Klassizismus zur Autonomieästhetik.“23 Im archäologischen und musealen Vorgehen wird dabei dennoch weiter zwischen randständigem Ornament und zentralem Motiv unterschieden und damit jener „folgenreiche[n] Trennung von Essenz und bloßem Schmuck, [der] Bindung der Schönheit an die Wahrheit und […] Diffamierung des Scheins“24 gefolgt, die sich im 18. Jahrhundert in Abgrenzung zum Rokoko formuliert hatte. An den Tänzerinnen von Herculaneum lässt sich diese Entwicklung exemplarisch verfolgen. Die figürlichen Teile werden aus der Wanddekoration herausgelöst und neu zusammengestellt als Serie im Museum präsentiert, während die ornamentalen Ränder an den Fundstätten verbleiben. Der Reigen der Tänzerinnen von Herculaneum, wie er auch heute noch im Museo Archeologico Nazionale in Neapel zu sehen ist, ist so ein Produkt der Selektion und Komposition der Archäologie des 18. Jahrhunderts.25 Dieser Eingriff ist aufmerksamen zeitgenössischen Betrachter*innen, denen die ursprüngliche Anordnung aus Beschreibungen bekannt waren, nicht entgangen.26 So klagt Goethe über die Praxis, nur die mittleren „Bildchen“ aus der Wand zu schneiden, gesondert auszustellen und so zu reproduzieren: „die Wände mit ihren Farben und Zierrathen stehen noch meistentheils freier Luft ausgesetzt und müssen nach und nach zu Grunde gehen. Wie wünschenswerth wäre es, daß man nur einige solche Wände im Zusammenhang, wie man sie gefunden, in Kupfer mitgetheilt hätte […].“27 Die zusammenhanglose Darstellung im Museum und in Publikationen (bzw. ihre Neuzusammenstellung), über die sich Goethe einerseits beschwert, resultiert jedoch aus einer Geringschätzung des Ornaments, die
23
Ebd., S. 350.
24
Ebd., S. 342.
25
„Serie di 7 vignette a fondo nero con le leggiadre, notissime Menadi danzanti in aerei veli, accompagnate da strumenti sounati da loro stesse.“ (23 x 155 cm) Katalognummer 127/Inventarnummer 9297 in Ferrari (Hg.): Le Collezioni del Museo Nazionale di Napoli, S. 140 f.
26
Wilhelm Zahns Die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemählde aus Pompeji, Herculanum und Stabiä, nebst einigen Grundrissen und Ansichten nach den an Ort und Stelle gemachten Originalzeichnungen (Bd. 1 1828/1829) stellt als einer der Ersten die Zeichnungen im Zusammenhang vor.
27
Johann Wolfgang von Goethe: „Von Arabesken“, S. 237.
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auch er selbst im Text vornimmt. Streng unterscheidet Goethe in Von Arabesken zwischen ‚würdigem Kunstwerk‘ und Zieraten. Die Funktion der Zierraten und Arabesken sieht Goethe in ihrer „Fröhlichkeit, Leichtsinn, Lust zum Schmuck“,28 sie bleiben aber ganz eindeutig der „bessern Kunst“ subordiniert und dienen ihr als Rahmen. Dort haben sie ihren legitimen Ort.29
Ähnlich wie Goethe trennt auch Saint-Non in seiner Voyage Pittoresque die Elemente der pompejanischen Gemälde und behandelt den Rahmen separat von den motivischen ‚Bildchen‘, die Arabesken getrennt von den Tänzerinnen. Interessant ist Saint-Nons Definition der Arabeske, die er nicht über ihre Position oder Motivik definiert, sondern als Verfahrensweise. Unterschiedliche Bildgenres werden in der Voyage Pittoresque als Arabesken bezeichnet, von kleinen allegorischen Rätselbildern aus den Ausgrabungen zu Elementen der (zeitgenössischen) Buchgestaltung, die in einem eigenen Register separat geführt und erläutert werden. Eines dieser Illustrationselemente verdeutlicht, was Saint-Non unter Arabeske versteht. Zu Beginn des Kapitels über griechische Manuskripte steht eine Vignette, die wie die meisten dieser Buch-Verzierungen aus Motiven original herculanischer Kunstwerke zusammengesetzt ist. Es handelt sich dabei um das berühmte Porträt eines jungen schreibenden Mädchens, das von Säulen, Blumengirlanden und Rankenbordüren sowie einer Eule und Lyra gerahmt ist (Abb. 4). Wie werden nun die einzelnen Elemente dieser Komposition (Schreibutensilien, Minerva, Lyra), die auf das folgende Kapitel verweisen, zusammengehalten? Die Erläuterung dieser Illustration am Anfang der Voyage Pittoresque erläutert, dass die Komposition „tient beaucoup du style, & de la légèreté des Arabesques d’Herculanum“.30 Die Arabeske erscheint hier als eine Weise der Figuration, ein modus operandi.
28 29
Ebd., S. 238. Günter Oesterle stellt heraus, wie Goethe in diesem Aufsatz diplomatisch vorgeht und gegenüber radikalen Klassizisten eine moderate Position vertritt, die sich am Ende in ein Lob der ‚priapischen Seite‘ der Arabeske und Raffaels sparsamen Einsatz dieser Figur umwendet. Günter Oesterle: „Das Faszinosum der Arabeske um 1800“, in: Walter Hinderer (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002, S. 51-70, hier S. 54 ff.
30
Saint-Non: Voyage Pittoresque, S. xv.
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Abbildung 4: Arabeske Buch-Vignette aus Saint-Nons Voyage Pittoresque
Saint-Non: Voyage Pittoresque […], Paris 1782.
Die Arabeske ist hier weniger eine starre Bildform als eine Formel, um verschiedene Bildelemente miteinander zu verbinden. Mit diesem Arabeskenbegriff, den das Dekor des Buches suggeriert, stimmt Saint-Nons Definition der Arabeske mehr überein als mit vielen der Beispiele, die sie eigentlich kommentieren soll. Denn auch wenn die meisten Arabesken-Beispiele der Voyage Pittoresque Allegorien und Rätselbilder sind, definiert Saint-Non sie in seiner Beschreibung der „Arabesques d’Herculanum“ als außergewöhnliche Zusammenstellung von Objekten: „Ce genre de Peinture destiné à l’ornement & à la décoration, permet des assemblages d’objets extraordinaires; & l’on est toujours tenté de penser qu’ils n’ont point été réunis sans projet & sans quelque intention secrète. Les Arabesques ne sont cependant, en effet, que des rêves; & le bon goût exige seulement qu’ils soient agréables, & qu’ils ne représentent pas des songes de malades.“31
31
Ebd., S. 15.
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Die Arabeske hat die Fähigkeit, die unterschiedlichsten Dinge nach einer Traumlogik zusammenzustellen, das Genre „permet des assemblages d’objets extraordinaires“. Wie die Tänzerinnen von Herculaneum zeichnen sich auch die Arabesken bei Saint-Non durch ihren Zusammenhang mit Traum und Einbildungskraft aus. Nach dieser Definition, die sich in den Buch-Verzierungen von SaintNons Voyage Pittoresque finden lässt, sind Arabesken nun also als unwahrscheinliche Zusammenstellungen von Bildelementen bestimmt: eine Kompositionsweise oder ein Muster, das sich durch Leichtigkeit (ein Schweben) auszeichnet und grazil wirkt, da es den Eindruck von Bewegung erzeugt. Und so sind auch die Varianten der Tänzerinnen von Herculaneum von einer arabesken Kompositionsweise informiert, da sie Motive in einen neuen Zusammenhang überführen. In der Abbildung in Saint-Nons Voyage Pittoresque wird nicht nur der schwarze Untergrund durch einen Wolkengrund ersetzt, sondern auch aus einzelnen Figuren ein neues Paar zusammengesetzt.32 Das Bild der Grazie Die archäologische Ausgrabungspraxis unterscheidet zwischen Ornament und Motiv. Die Tänzerinnen von Herculaneum und die Arabesken, die sie umranden, werden in zeitgenössischen Ausstellungen und Publikationen wie Saint-Nons Voyage Pittoresque getrennt, obwohl sie stilistisch – in ihrer Leichtigkeit und Traumhaftigkeit – verwandt sind. Ihre stilistische Verwandtschaft lässt sich dabei mit dem Begriff der Grazie fassen, dem im folgenden Abschnitt nachgegangen wird. Johann Joachim Winckelmanns Sendschreiben von den herkulanischen Entdeckungen von 1762 gehören zu den ersten Beschreibungen der Tänzerinnen von Herculaneum, die den Ruhm dieser Figurengruppe aus Italien heraustragen. Winckelmann berichtet von seinem Besuch im ‚Herculanischen Museum‘ und bespricht die dort ausgestellten Gemälde: „Die allerschönsten sind die Figuren der Tänzerinnen und der Centauren, von etwa einer Spanne lang, auf einem schwarzen Grunde, welche von einem großen Meister
32
Das Blatt in Saint-Nons Voyage Pittoresque gibt zwei Paare von Tänzerinnen wieder. Das obere Paar ist dem mittleren Abschnitt von Inv. 9297 entnommen, das untere Paar aus zwei Figuren neu zusammengesetzt.
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Zeugniß geben: denn sie sind flüchtig wie ein Gedanke, und schön wie von der Hand der Gratien ausgeführet.“33
Ähnliches Lob findet sich auch in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums, die den mustergültigen Status dieser Gruppe festigt: „Die schönsten Stücke der alten Gemälde in dem herculanischen Museo, welches die Tänzerinnen nebst Nymphen und Centauren sind, Figuren von einem Palme hoch, und auf einen schwarzen Grund gemalet, scheinen so geschwinde, als die ersten Gedanken einer Zeichnung entworfen.“34
Wie später auch Schiller und Moritz hebt Winckelmann die Kunstfertigkeit der Ausführung dieser Malereien und die scheinbare Leichtigkeit und Flüchtigkeit hervor, mit der die Tänzerinnen von Herculaneum dargestellt sind (und daher wiederum selbst leicht wirken). Was hat es nun mit Winckelmanns Verweis auf die (antiken) Grazien auf sich? Wie hängt Grazie mit der Leichtigkeit und Bewegtheit der Tänzerinnen von Herculaneum zusammen? Im 18. Jahrhundert werden verschiedene Versuche unternommen Grazie (bzw. Anmut) als ästhetisches Konzept zu bestimmen. Die Argumentation wird dabei häufig bildrhetorisch gestützt. Grazie ist dort eine Akzidenz, ein Beiwerk, das in Bewegungen und Gesten erscheint.35 Friedrich Schiller beginnt seine Reflexionen zur Anmut mit der Allegorie des Gürtels der Aphrodite, der Anmut verleiht. Anmut als „persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders,
33
Johann Joachim Winckelmann: „Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen“, in: ders.: Schriften und Nachlaß, Bd. 2,1, hg. von Stephanie-Gerrit Bruer und Max Kunze, Mainz 1997, S. 86.
34
Johann Joachim Winckelmann: „Geschichte der Kunst des Alterthums“ (2. Auflage Wien 1776), in: ders., Schriften und Nachlaß, Bd. 4,1, hg. von Adolf H. Borbein, Mainz 2002 S. 553 [587].
35
„Die Grazie in Werken der Kunst geht nur die menschliche Figur an und liegt nicht allein in deren Wesentlichem, dem Stande und Gebärden, sondern auch in dem Zufälligen, dem Schmucke und der Kleidung.“ Johann Joachim Winckelmann: „Von der Grazie in Werken der Kunst“, in: ders.: Werke in einem Band, Berlin/Weimar 1969, S. 48-56, hier S. 49.
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als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.“36 Janina Knab hat dargelegt, wie sich in den ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts eine Vorstellung von (post-rhetorischer) Anmut entwickelt. Diese beruht auf einem Ausdrucksverhältnis von Körper und Seele, deren Harmonie sich in einer unverwechselbaren, subjektiven Gebärde ausdrückt.37 Anmut zeigt sich in der geglückten Verbindung, in einem Körper, der sichtbares Zeichen der Seele ist.38 Anmut und Grazie basieren so auf einem grundlegenden Paradox – der vermittelten Darstellung von Unmittelbarkeit – an das sich eine Reihe weiterer Paradoxien anschließt: „Reiz und unschuldige Grazie, sinnliche Berührung und erhabene Distanzierung, unmittelbarer Ausdruck und bildende Darstellung, ästhetische Zweckfreiheit und sittliche Bedeutung, willkürliche Bewegungen und unwillkürliche Empfindungen, Sukzession des Reizes in Bewegung und Simultaneität von Anmut und Würde.“39 Diese Paradoxien lassen sich bevorzugt an menschlicher Bewegung und Tanz, sowie deren (bild-)künstlerischen Darstellungen artikulieren. Dabei behelfen sich verschiedene Theoretiker einer grafischen Formalisierung. Grazie wird – als Diagramm der Anmut – als bewegte Linie und „Linie der Bewegung“40 dargestellt. Inbegriff der Grazie ist dabei für Friedrich Schiller der Tanz, der sowohl in den Kallias-Briefen als auch in
36
Friedrich Schiller: „Über Anmuth und Würde“, in: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, Bd. 8, hg. v. Hans-Günther Thalheim u.a., Berlin 2005, S. 168-224, hier S. 170. Vgl. dazu auch Danièle Cohns Lesart der Fabel von Aphrodites Gürtel als „bewegliche Schönheit“, Danièle Cohn: „Der Gürtel der Aphrodite. Eine kurze Geschichte des Ornaments“, in: Vera Beyer, Christian Spies (Hg.): Ornament. Motiv – Modus – Bild, München 2012, S. 149-178. Vgl. außerdem zur „Mechanik der Grazie“ Kleists Essay Über das Marionettentheater und Gabriele Brandstetter: „The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik“, in: dies., Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 49-72.
37
Janina Knab: Ästhetik der Anmut. Studien zur „Schönheit der Bewegung“ im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1996.
38
Diese Körper- oder Gebärdenschrift ist eine quasi-natürliche Sprache, in der in der anmutigen Geste als ‚wahrhaftiges Zeichen‘ Bedeutung und Bedeutungsträger zusammenfallen.
39
Knab: Ästhetik der Anmut, S. 15.
40
Ebd., S. 164.
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seinem Gedicht Der Tanz als Metapher sozialer Beziehungen dient. In beiden Beispielen beschreibt er einen englischen Tanz mit „vielen verwickelten Touren“41 in einer Aufsicht, die den zeitlichen Verlauf in einem imaginären Bild sprachlich zusammenfasst. Die ineinandergreifenden, sich verschlingenden Pfade der Tanzenden, die nie zusammenstoßen, werden für Schiller zum Exempel von Freiheit in der Bewegung. Diesen Gedanken entwickelt er im Brief an Körner an einer zwischen die Zeilen eingefügten S-Linie. Sie ist, wie Sabine Mainberger herausgestellt hat, bildrhetorische Stütze seiner These:42 „Die einzelne Linie ist die Figur freien Sich-Ergehens. Wer oder was auch immer sich so bewegt, zeigt seine Freiheit; vervielfältigt aber und als Linien des Tanzes im Raum, liefern diese Formen ihm auch ein Sinnbild für das freie Agieren vieler, genauer für den ästhetischen Aspekt der Sozialität.“43 In Nachzeichnungen der Tänzerinnen von Herculaneum findet sich die S-Linie in der Haltung ihrer Arme und im Schwung der nach außen fliehenden Stoffteile wieder, die in der leicht versetzten Anordnung der Figuren eine seltsame Plastizität gewinnt (vgl. Abb. 2). Die S-Linie verläuft horizontal durch das Bild und vervielfältigt sich innerhalb des Rings der beiden Arme in einer zirkulären Wellenbewegung, die zwischen den beiden Figuren kreist und sich in den Gewandfalten der Tänzerinnen wiederfindet. Es sind also die verwickelten und verschlungenen Arme sowie die wellenhaft fallenden Falten des Peplons, in denen sich in dieser grafischen Darstellung der Tänzerinnen von Herculaneum die S-Linie und somit die Grazie, als Freiheit in der Bewegung, auffinden lässt. Und über die S-Linie bestärkt sich ein weiteres Mal die (formale) Verwandtschaft der Tänzerinnen von Herculaneum mit der Arabeske, die als Variante der S-Linie oder figura serpentinata gilt.44
41
Friedrich Schiller: [Brief-Traktate an Körner über den Begriff des Schönen], in: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, Bd. 8, hg. v. HansGünther Thalheim u.a., Berlin 2005, S. 629-673, hier S. 665.
42
Sabine Mainberger: „Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ‚Linienästhetik‘. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty“, in: DVjs 79/2 (2005), S. 196-252, hier S. 213.
43 44
Ebd., S. 217. Diese beiden Linien werden verglichen in Günter Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen ‚Der goldne Topf‘“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69-107; vgl. auch Horst Bredekamp:
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Wie ein Girlandengürtel wird die Anmut als Linienformel den Tänzerinnen angehängt. Das Verschwindende festhalten Die Verschränkung von zeichnerischer Darstellung und Bewegung durchzieht die ästhetische Diskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert. Im Gegensatz zu Schillers positiver Bezugnahme auf den Tanz scheint Johann Wolfgang von Goethe diesem eher skeptisch gegenüber zu stehen. Seine ästhetischen Präferenzen artikuliert er jedoch ebenfalls an einem Vergleich, in dem er die Tänzerinnen von Herculaneum mit einem zeitgenössischen Tanzpaar in Verbindung bringt. Nicht nur für Goethe sind Maria Medina Viganò und Salvatore Viganò das Paradigma einer tänzerischen Antikenrezeption im ausgehenden 18. Jahrhundert.45 Sie touren in den 1790er Jahren mit einem Auftrittsprogramm durch Nordeuropa, das durch seine als neu empfundene Bewegungsführung sowie durch die freizügigen Kostüme von Maria Viganò einen großen Eindruck macht: sie tritt ohne Perücke und Schminke auf und trägt über einem hautfarbenen Trikot ein antikisierendes Gewand aus wenigen Lagen, das mit einem Band um die Hüfte geschnürt ist. Der Tanz der Viganòs wirkt auf die zeitgenössischen Zuschauenden ‚griechisch’ und gilt als Re-Animation des antiken Tanzes. Wilhelm von Humboldt, der Maria Viganò in der Karnevalssaison 1795/96 in der Berliner Oper gesehen hat, beschreibt im Januar 1796 seine Eindrücke in einem Brief an Friedrich Schiller: „Man würde diese Tänzerin nicht mit Unrecht mit einer lebenden Antike vergleichen, wenn nicht fast alle weiblichen antiken Antiken ein gewisses Pathos an sich trügen, das ich wenigstens bis jetzt in ihr nicht kenne, ob ich sie gleich dessen nicht unfähig
„Die Unüberschreitbarkeit der Schlangenlinie“, in: Christian Schneegass (Hg.): minimal – concept. Zeichenhafte Sprachen im Raum, Berlin 2001, S. 205-208. 45
Für eine umfassende Untersuchung dieser Zeit vgl. Stephanie Schroedter: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action, Würzburg 2004; und Monika Woitas: Im Zeichen des Tanzes. Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830, Herbolzheim 2004; sowie speziell zu den Viganòs, Marian Hannah Winter: The Pre-Romantic Ballet, London 1974, S. 189-193.
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halten möchte. Da die Menschen besonders hier alles, was graziös und einfach ist, griechisch nennen, so erhält die Vigano diesen Namen in doppeltem Grade.“46
Inwieweit der Tanz der Viganòs tatsächlich auf einem Studium antiker Posen basiert, und diese – in einer Art Animation von stills – in einen Bewegungsfluss übersetzt, ist aufgrund der spärlichen Materiallage nicht nachvollziehbar. Verschiedene Zeugnisse belegen jedoch eindrücklich, inwieweit die Auftritte der Viganòs der zeitgenössischen Vorstellung der Antike entsprechen. Die Viganòs zitieren dabei jedoch nicht nur das Motiv, sondern auch den Stil und die Grazie der antiken Tänzerinnen, die in der Darstellungsweise aufgezeichnet wurden.47 Die Ähnlichkeit zwischen den Viganòs und den Tänzerinnen von Herculaneum tritt besonders deutlich in der Serie von 21 Radierungen von Johann Gottfried Schadow hervor, die neben den schriftlichen Dokumenten die wichtigsten Zeugnisse der Tänze dieses Paares darstellen.48 Im weitestgehenden Verzicht auf räumliche Situierung – die Grafiken deuten mit wenigen Strichen ein quadratisches Bodenraster an – konzentriert sich Schadow auf die Darstellung der Falten, in denen er die Bewegung des Tanzes einfängt.49
46
Wilhelm von Humboldt: [Brief an Friedrich Schiller, 12.1.1796], in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 36,1 , Briefwechsel, hg. von Norbert Oellers, Weimar 1972, S. 79-82, hier S. 80.
47
Ein Konzept diese Äquivalenz zu begreifen bietet Bettina Brandl-Risis Begriff der Zitationalität der Pose, die sie anhand von (antikisierenden) Attitüden, wie jenen von Emma Hamilton, beschreibt. Vgl. Bettina Brandl-Risi: „Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose“, in: dies., Gabriele Brandstetter, Stefanie Diekmann (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 52-67.
48
Zu den Drucken sind zeichnerische Skizzen erhalten, wie auch zwei Aquarelle und ein späterer Zinkdruck. Vgl. Hans Mackowsky: Schadows Graphik, (= Forschungen zur Deutschen Kunstgeschichte 19) Jahresgabe 1936, Potsdam/ Berlin 1936, S. 28-31, sowie Kat. Nr. 20-40, 133; Sibylle Badstübner-Gröger, Claudia Czok, Jutta von Simson: Johann Gottfried Schadow. Die Zeichnungen, Berlin 2006, Kat. 427-452, 1700-1706 und zusammenf. Claudia Czok: Atalante in Preussen? Schadows Bilder vom Tänzerpaar Viganò 1796/97, Berlin 2002.
49
„Seine Blätter suchen sich den Ansprüchen klassizistischer, auf Modellierung durch Binnenstruktur verzichtender Umrißradierung so weit wie möglich zu nähern. Gleichzeitig sollen die Linien einen eleganten wie flüssigen und leichten Duktus annehmen, um ihre vollkommene Angemessenheit an der Beschwingtheit des Tanzes zu behaupten.“ Czok: Atalante in Preussen?, S. 21.
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Abbildung 5: Das Tänzerpaar Viganò
Radierung von Johann Gottfried Schadow, 1797.
Goethe erwähnt Schadows Radierungen in einer Rezension eines Bands mit farblithografierten Darstellungen pompejanischer und herculanischer Kunstwerke als Beispiel einer geglückten Imitation der Antike.50 Den Ornamenten und Zeichnungen aus Pompeji und Herculaneum steht Goethe 1830
50
Johann Wolfgang von Goethe: „Die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemählde aus Pompeji, Herculanum und Stabiä“, in: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. 1, Bd. 49,1, Weimar 1898, S. 161-187, hier S. 171. Erstdruck in Jahrbücher der Literatur, Bd. 51, Wien 1830, S. 1-12. Eine Rezension von Wilhelm Zahn: Die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemählde aus Pompeji, Herculanum und Stabiä.
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noch genauso ambivalent gegenüber, wie 40 Jahre vorher in seinem Arabesken-Aufsatz. Von der Darstellung ‚schwebender Figuren‘, zu denen man auch die Tänzerinnen von Herculaneum zählen kann, leitet Goethe hier jedoch eine Aufgabe für das künstlerische Schaffen seiner Zeit ab. Wie die ‚Alten‘ sollte sich auch die Bildende Kunst seiner Zeit der Darstellung von Tanz widmen und versuchen, das Verschwindende festzuhalten: „Wen ergötzt nicht der Anblick großer theatralischer Ballete? Wer trägt sein Geld nicht Seiltänzern, Luftspringern und Kunstreitern zu? Und was reizt uns, diese flüchtigen Erscheinungen immer wiederholt zu verlangen, als das anmuthig vorübergehende Lebendige, welches die Alten an ihren Wänden festzuhalten trachteten. Hierin hat der bildende Künstler unserer Tage Gelegenheit genug, sich zu üben; er suche die augenblicklichen Bewegungen aufzufassen, das Verschwindende festzuhalten, ein Vorhergehendes und Nachfolgendes simultan vorzustellen, und er wird schwebende Figuren vor die Augen bringen, bei denen man weder nach Fußboden so wenig als nach Seil, Draht und Pferd fragt.“51
Als positives Beispiel einer solchen Imitation der antiken Wandmalerei nennt Goethe die Darstellungen der Viganòs von Schadow: „Gedenken wir an dieser Stelle eines vor Jahren gegebenen, hieher deutenden glücklichen Beispiels, der geistreich aufgefaßten anmuthigen Bewegungen der V i g a n o s , zu denen sich das ernste Talent des Herrn Director S c h a d o w seinerzeit angeregt fühlte, deren manche sich als Wandgemählde im antiken Sinne behandelt recht gut ausnehmen würden. Lasse man den Tänzern und andern durch bewegte Gegenwart uns erfreuenden Personen ihre technisch herkömmlichen, mitunter dem Auge und sittlichen Gefühle widerwärtigen Stellungen, fasse und fixire man das, was lobenswürdig und musterhaft an ihnen ist, so kommt auch wohl hier eine Kunst der andern
51
Ebd., S. 176. Goethes Anweisung, das Verschwindende durch ein Zusammenziehen des Vorher und Nachher darzustellen, erinnert an Lessings Vorgaben im Laokoon-Aufsatz. Malerei muss, so Lessing, „nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt.“ Lessing empfiehlt den „fruchtbaren Moment“ zur bildnerischen Darstellung, der statt des „Augenblick der Haupthandlung“ einen etwas früheren oder späteren Moment zeigt. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, hg. von Kurt Wölfel, Frankfurt/Main 1988, S. 26. und S. 120.
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zu Gute, und sie fügen sich wechselseitig in einander, um uns das durchaus Wünschenswerthe vor Augen zu bringen.“52
Das Medium der Zeichnung hat in Goethes Augen gegenüber dem Tanz den grundsätzlichen Vorteil, dass sie den Tanz von allem ‚Unsittlichen‘ und ‚technisch Mittelmäßigen‘ befreit und einen ‚reinen Stil‘ (das Muster-hafte) freilegt, wie er in einem Brief an Johann Friedrich Unger, der ihm 1797 die Radierungen von Schadow geschenkt hat, formuliert. „Man muß ein so solider, geistreicher und geübter Künstler seyn wie Herr Schadow, um vorübergehende Momente dergestalt zu fassen und wieder darzustellen, ja mehrere Momente in einem zu vereinigen, durch welche Operation ein fest aufgedrucktes Kunstwerk sich, vor den Augen des Zuschauers, immer in einer Art von Bewegung erhält. […] Herr Schadow hat, wie mich dünkt, immer den Punct glücklich getroffen wo sich diese Bewegungen einem reinern Styl nähern. Der allgemeine Beyfall den Madame Vigano erhält zeigt freylich daß sie selbst mit großer Energie auf einen reinen Styl arbeitet, dem denn sich doch in der Kunstwelt, wenn die Menschen einmal die Augen aufthun, nichts an die Seite setzen kann.“53
Dieser reine Stil ist der Schnittpunkt von Zeichnung und tänzerischer Imitation der Antike – gewissermaßen das Zitat des Zitats. Beide Künste, Zeichnung und Tanz, erzeugen in dem sie Vorstellungen der Antike überblenden gemeinsam ein Bild der Bewegung, einen idealen (klassizistischen) Stil. Dieses Bild, auch wenn es in den Zeichnungen vorgeprägt ist, entsteht mithilfe der Einbildungskraft in der rückwärtigen Projektion der Betrachtenden und den Imitationen von Dichtern, Malern und Tänzer*innen. Das Bild der Antike ist in den Reproduktionen der Tänzerinnen von Herculaneum wie auch in den tänzerischen Imitationen der Viganòs und in deren Abbildung von Schadow lebendig. Es kann jedoch nur re-animiert werden, da die Bewegung vergangen ist. Der Effekt der Lebendigkeit zehrt von dem stets vergeblichen Bemühen das Verschwindende festzuhalten, das notwendigerweise eine Stillstellung bedeutet und die Bewegung anhält:54 „Choreographie ist […] ein
52
Goethe: „Die schönsten Ornamente und merkwürdigsten Gemählde“, S. 177.
53
Briefkonzept von Goethe an Unger, 28.3.1797, in: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe) Abt. 4, Bd. 12, Weimar 1893, S. 78-80, hier S. 78 f.
54
Darin ist die bewegte Imitation der Antike mit dem Posen-Stellen des 18. Jahrhunderts verwandt, wie es Bettina Brandl-Risi beschreibt: „Als Stillstellung von Bewegung vermittelt [die Pose] zwischen Bild und Korporalität, markiert zwi-
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Schreiben an der Grenze von Anwesenheit und Nicht-mehr-da-Sein: eine Schrift der Erinnerung an jenen bewegten Körper, der nicht präsent zu halten ist. Choreographie ist ein Versuch, als ‚graph‘ zu halten, was nicht haltbar ist – Bewegung.“55 Die Imagination der Betrachtenden hebt diese Stillstellung auf und nivelliert schließlich die historischen und medialen Unterschiede, da alles gleichermaßen bewegt erscheint. Wiederkehr der Tänzerinnen von Herculaneum Die Tänzerinnen von Herculaneum bleiben bis weit ins 19. Jahrhundert im kulturellen Gedächtnis als Paradigma anmutiger Bewegung präsent, und tauchen so auch immer wieder in Beschreibungen des Bühnentanzes dieser Zeit – dem Ballett des 19. Jahrhunderts – auf. In einer Kritik anläßlich des Pariser Bühnendebüts der Tänzerin Fanny Cerrito zieht so Théophile Gautier die Tänzerinnen von Herculaneum heran, um Cerritos Grazie und Leichtigkeit zu beschreiben: „Comme danseuse, Fanny Cerrito a pour qualités principales la grâce des poses, l’imprévu des attitudes, la prestesse des mouvemens, la rapidie des parcours; elle rebondit et balonne avec une aisance, une élasticité admirables: tout le haut du corps est d’une grâce charmante; les bras, cet embarras des danseuses, qui écouteraient volontiers le conseil de la servante du Malade imaginaire, et se les feraient couper comme gênans et superflus, s’arrondissent, se plient et flottent mollement dans l’air comme ces draperies roses qui voltigent autour des nymphes sur le fond noir des fresques d’Herculanum.“56
Gautier analogisiert in dieser Kritik den wellenhaften Schwung von Cerritos Armen (ein ‚Biegen‘ und ‚weiches Wehen‘) und die flatternden Stofffalten der ‚Nymphen auf schwarzem Grund‘, den Tänzerinnen von Herculaneum: eine aktiv geführte Bewegung eines Körpergliedes wird gleichgesetzt mit
schen Bild und Bewegung das paradoxe Darstellungskonzept des Tableau vivant zwischen Verlebendigung durch Verkörperung und Mortifikation in der Stillstellung.“ Brandl-Risi: „Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose“, S. 57. 55
Gabriele Brandstetter: „Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung“, in: dies., Hortensia Völckers (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit 2000, S. 102-134, hier S. 102 f.
56
Théophile Gautier: „Académie Royale de Musique et de Danse. La Fille de marbre. Débuts de Cerrito“, in: La Presse, 25.10.1847, S. 1-2, hier S. 2.
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dem gezeichneten Bewegungsabdruck im wallenden Stoff. Gautier bezieht sich auf die vermeintliche Leichtigkeit der Kleidung, in deren Schwung die Drehbewegung sichtbar wird, um die Leichtigkeit des Tanzes zu beschreiben. Fanny Cerritos Grazie enthält, neben ihrer flüssigen, ‚schwimmenden‘ Bewegung, so auch eine Referenz auf eine stillgestellte Bewegung, ein StilZitat: den Reiz der (in der Bewegung arretierten) Tänzerinnen von Herculaneum. In der Tanzkritik des Feuilleton werden im frühen 19. Jahrhundert nicht nur einzelne Werke oder Tänzerinnen beschrieben, sondern die Ästhetik des Balletts im Text weitergeführt. Kritiker wie Jules Janin und Théophile Gautier entwickeln dort eine Sprache, die mittels ‚poetischer Emphase‘ und literarischer Transposition weniger das Ballett-Ereignis selbst als die Wahrnehmung der Betrachtenden beschreibt.57 Dazu verwenden die Kritiker, wie Christina Thurner herausgestellt hat, einen Unsagbarkeits-Topos, sprachliche Figuren der Bewegung und nehmen die Ballette zum Anlass, ihren eigenen Fantasien, die beim Betrachten entstanden, nachzugehen. Sie poetisieren die Erfahrung bei der Betrachung von Tanz, indem sie die Leichtigkeit und Flüchtigkeit der Tanzkunst metonymisch auf das Schreiben übertragen. Fanny Elßlers Tanz versetzt Théophile Gautier so in Gedanken in eine ‚antike‘ Stimmung: „Quand Fanny danse, on pense à mille choses joyeuses, l’imagination erre dans des palais de marbre blanc inondés de soleil et se détachant sur un ciel bleu foncé, comme les frises du Parthénon; il vous semble être accoudé sur la rampe d’une terrasse, des roses autour de la tête, une coupe pleine de vin de Syracuse à la main, une levrette blanche à vos pieds et près de vous une belle femme coiffée de plumes et en jupe de velours incarnadin; on entend bourdonner les tambours de basque et tinter les grelots au caquet argentin.“58
Der Kritiker verlängert den Tanz, den er beobachtet, in seiner Vorstellung und lässt sich dabei von stilistischen Qualitäten der Bewegung leiten, das Stil-Zitat löst eine Fantasie aus: „Der Bewegung der Tänzerin auf der Bühne folgt die bewegte Phantasie des Schriftstellers, der sich als Kritiker im Gestus kaum vom Dichter unterscheidet; in Gedanken geht ihm dabei eine
57
Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppel-
58
Théophile Gautier: „Reprise de la Sylphide“, in: La Presse, 24.09.1838, S. 1.
ten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009, Kap. 4.
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Welt auf, die Elemente des Gesehenen aufnimmt und mit dazu Imaginiertem vermischt.“59 Besonders Fanny Elßler regt Gautier dabei zum Vergleich mit der Antike an. Elßler wird für ihn zum Inbegriff einer ‚heidnischen Tänzerin‘ („une danseuse païenne“) – im Gegensatz zur ‚christlichen‘ Marie Taglioni, die seine Imagination in das romantische Schottland Walter Scotts versetzt. Ein Jahr zuvor hat Gautier diesen Vergleich anlässlich einer (wenig erfolgreichen) Aufführung von La Tempête mit Fanny Elßler in der Rolle der Alcina ausgeführt und sie auch dort mit den Tänzerinnen von Herculaneum verglichen: „Fanny Elssler est une danseuse tout à fait payenne; elle rappelle la muse Terpsichore avec son tambour de basque et sa tunique fendue sur la cuisse et relevée par des agrafes d’or; quand elle se cambre hardiment sur ses reins et qu’elle jette en arrière ses bras enivrés et morts de volupté, on croit voir une de ces belles figures d’Herculanum ou de Pompeï qui se détachent blanches sur un fond noir et accompagnent leurs pas avec les crotales sonores; le vers de Virgile, Crispum sub crotale docta movere latus. vous revient involontairement à la mémoire.“60
Der Hinweis auf die Tänzerinnen von Herculaneum hat in den beiden angeführten Kritiken unterschiedliche Funktionen. In der Beschreibung von Fanny Cerrito dient die Referenz auf die antiken Figuren, um eine Leichtigkeit und Bewegtheit, die in der Zeichnung im Stoff eingefangen ist, auf die Tänzerin zu übertragen. Die Stilisierung Fanny Elßlers zur ‚heidnischen‘ Tänzerin und ihr Vergleich mit den Tänzerinnen von Herculaneum soll dagegen eine Bewegungsqualität markieren.
59 60
Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen, S. 146.
Théophile Gautier [unter dem Pseudonym G. G.]: „Académie Royale de Musique“, in: La Presse, 11.09.1837, S. 1. Das lateinische Zitat stammt aus dem Copa-Gedicht des Appendix Vergiliana. Die ersten vier Zeilen, in denen eine tanzende Schankwirtin beschrieben wird, lauten korrekt: „Copa Surisca, caput Graeca redimita mitella, crispum sub crotalo docta mouere latus, ebria fumosa saltat lasciu taberna ad cubitum racucos excutiens calamos.“ Wendell Vernon Clausen, Francis Richard David Goodyear u.a.: Appendix Vergiliana, Oxford 1966, S. 81 („Copa“ hg. von E. J. Kenney).
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Elßler war besonders berühmt für ihre ‚Sinnlichkeit‘, die sich in folkloristischen Charaktertänzen wie der Cachucha zeigte.61 In der Biegung ihrer Hüften und dem Schwung ihrer Arme findet Gautier so eben nicht die „grâce aérienne“62 von Marie Taglioni, sondern eine Laszivität und Erotik an der Grenze zur dionysischen Ekstase, wie sie für ihn die Tänzerinnen von Herculaneum verkörpern.63 Gautier sieht in den Balletttänzerinnen des 19. Jahrhunderts Wiedergängerinnen antiker Tänzerinnen. Diese Geister-Halluzination wiederholt einerseits ein zentrales Motiv der Ballette des frühen 19. Jahrhundert, in denen den männlichen Protagonisten lockende Geister erscheinen, es erinnert andererseits aber auch an jenen „Wahn des phantasievollen Archäologen“,64 den Sigmund Freud beim Protagonisten von Wilhelm Jensens Gradiva diagnostiziert. Wie in Gautiers Novelle Arria Marcella. Souvenir de Pompei (1852) trifft in Jensens „pompejanischem Phantasiestück“ (so der Untertitel seiner Novelle) der männliche Protagonist in den Ruinen von Pompeji auf eine attraktive Frau, die sich als eine Bewohnerin der antiken Stadt zu erkennen gibt, die bei dem Vesuvausbruch ums Leben gekommen ist.65 Das Wahnhafte dieser Halluzination verweist auf die Rolle der
61
Vgl. dazu auch Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen, S. 168-172; wie auch Claudia Jeschke, Gabi Vettermann, Nicole Haitzinger: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010, S. 200 f. und 429 ff.
62
So charakterisiert er die ‚danseuse chrétienne‘ Marie Taglioni im selben Artikel. Gautier: „Académie Royale de Musique“, S. 1.
63
Diese Qualität unterstreicht die Zeile aus dem Copa-Gedicht, die den von Crotales-Klang begleiteten lasziven, wellenförmigen Hüftschwung der Schankwirtin beschreibt. Darstellungen von Fanny Elßler in der Cachucha zeigen sie ebenfalls häufig mit Kastagnetten, dem modernen Äquivalent der Crotales. Das Gedicht Copa beschwört den Genuss des Augenblicks und hat deutlich sexuelle Konnotationen. Vgl. Manfred Fuhrmann: Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999, S. 198.
64
Sigmund Freud: „Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva“ (1907), in: ders.: Bildende Kunst und Literatur. Studienausgabe, Bd. 10, Frankfurt/Main 2000, S. 9-85, hier S. 21. In Jensens Gradiva geht es ebenfalls um einen „ungewöhlichen und besonders reizvollen Gang“ (S. 16).
65
1940 wird Fanny Cerrito dem amerikanische Künstler und Ballettomanen Joseph Cornell als Halluzination im Manhattan Storage and Warehouse Building in New York begegnen. Sandra Leonard Starr: Joseph Cornell and the Ballet, New York 1983, S. 31.
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Einbildungskraft in dieser Re-Animation. Archäologie stellt dabei das paradigmatische Setting dieses fantastischen Vorgangs dar.66 Sie verschränkt – in der Rezeption des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – das Verschüttete und die angehaltene Bewegung mit der Fantasie ihrer Re-Animation: ihrer Wieder-Belebung und ihrem Wieder-in-Bewegung-Setzen. Indem Gautier Tänzerinnen des 19. Jahrhunderts, wie Fanny Elßler und Fanny Cerrito, mit den Tänzerinnen von Herculaneum in Beziehung setzt, stellt er sie in eine Genealogie des Antikenbezugs im Tanz, die im 18. Jahrhundert nicht erst mit den Tänzerpaar Viganò beginnt.67 Deutlich wird an diesem Beispiel, dass die Tänzerinnen von Herculaneum zu unterschiedlichen Zwecken herangezogen werden können und jeweils unterschiedliche Stile und Bewegungsqualitäten konnotieren. Während im 18. Jahrhundert die antiken Tänzerinnen und ihre Darstellungen als Bild der Grazie dienen, werden sie im 19. Jahrhundert auch als Referenz einer sinnlichen und erotischen Bewegungsqualität herangezogen. Die Linien der Tänzerinnen von Herculaneum können unterschiedlich interpretiert, das Stil-Zitat unterschiedlich ausgelegt werden. In jeder Re-Animation erscheinen die Geister anders. Die hier aufgezeigte Kontinuität des Antikenbezugs bricht mit einem gängigen Muster der Tanzgeschichtsschreibung, die in der Regel zwischen klassizistischen Epochen, die ihr Natürlichkeitsparadigma im Rückgriff auf die Antike entwerfen, und ihren ornamentalen Gegenpolen unterscheidet.68 Das sogenannte Romantische Ballett des 19. Jahrhunderts steht in diesem Geschichtsmodell zwischen dem Klassizismus des Ballet de Cour und Ballet en action im 17. und 18. Jahrhundert und der „Tänzerin im Museum“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts69 und wird so als Epoche ohne Antikenbezug gelesen. Über den Bezug zu den Tänzerinnen von Herculaneum, der in Carlo Blasis’ Herleitung der Ballettpose Arabeske ebenfalls eine Rolle spielen wird,70 stellt sich dagegen eine Kontinuität zwischen dem klassizistischen
66
Zur Definition des Fantastischen vgl. Kap. 5 dieser Arbeit.
67
Auch Noverre bezieht sich in der Dramaturgie und den pantomimischen Anteilen seiner Reformballette auf die Antike.
68
Vgl. Stephanie Schroedter: „Zur Rezeption des antiken Tanzes in der Tanzästhetik ab dem 17. Jahrhundert“, in: Sibylle Dahms (Hg.): MGG Prisma Tanz, Kassel 2001, S. 49-50.
69
Vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der
70
Siehe Kap. 3.
Avantgarde, 2. erweiterte Auflage, Freiburg 2013, S. 55-122.
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Ballett des 18. und dem ‚romantischen‘ des 19. Jahrhunderts her. In der Weise, wie dieses Motiv re-animiert wird, zeigen sich jedoch die Differenzen dieser beiden Ballettästhetiken. Tanz in Herculanum Die Reihe der hier angeführten Re-Animationen der Tänzerinnen von Herculaneum kulminiert in einer herculanischen Tanz-Szene auf der Bühne der Pariser Opéra. Im 19. Jahrhundert gibt es eine Mode literarischer und theatraler Reinszenierungen des Lebens in den untergegangen Vesuvstädten. Auslöser ist Edward Bulwer-Lyttons Roman The Last Days of Pompeii, der 1834 anonym in London erscheint. Bulwer-Lytton entwickelt dort aus den Ruinen von Pompeji (quasi archäologisch) eine literarische Fantasie, die stark von seiner Gegenwart beeinflusst ist: „[Bulwer-Lytton] turns Pompeian life into a version of Biedermeier“.71 Dieser Stoff wird in der Folge mehrfach für die Bühne adaptiert, wie in der gleichnamigen Oper von Julius Papst (1851), Josef Mucks Die Nazarener in Pompeji (1860) und Marziano Perosis Gli ultimi giorni di Pompei (1912).72 Eine Abwandlung dieses Stoffes ist Félicien Davids Oper Herculanum von 1859, die – folgt man dem Urteil von Hector Berlioz – eine der spektakulärsten Operninszenierungen seiner Zeit war.73 Herculanum wurde bis 1868 insgesamt 74 Mal in der üppigen Ausstattung von Joseph François Désirée Thierry, Charles-Antoine Cambon und Edouard Désiré Joseph Déspléchin
71
Angus Easson: „,At Home‘ with the Romans: Domestic Archeology in The Last Days of Pompeii“, in: Allan Conrad Christensen (Hg.): The Subverting Vision of Bulwer Lytton. Bicentenary Reflections, Newark 2004, S. 100-115, hier S. 100.
72
Vgl. auch den Katalogabschnitt über die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Pompeji im 19. Jahrhundert in Pompeji. Kunst und Leben in den Vesuvstädten, Ausstellungskat. Villa Hügel, Essen 1973, besonders S. 260 ff. über „Die letzten Tage von Pompeji“.
73
Der heute beinahe vergessene David gehörte zu den angesehensten Komponisten Mitte des 19. Jahrhunderts. In äußerst erfolgreichen Werken wie der Ode symphonie Le Désert und der Oper Lalla-Roukh entwickelt er, parallel zu zeitgenössischen Strömungen in Literatur und Malerei, einen musikalischen Exotismus und Orientalismus. Vgl. Jean-Pierre Bartoli: „David, Félicien (-César)“, in: Friedrich Blume, Ludwig Finscher (Hg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Personenteil Bd. 5, Kassel 2001, Sp. 504-510.
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aufgeführt, ohne jedoch den erhofften künstlerischen wie politischen Erfolg zu erzielen.74 Höhepunkt der vieraktigen Grand Opéra ist der Ausbruch des Vesuvs. Wie auch Bulwer-Lyttons Roman hat Davids Oper einen geschichtsphilosophischen Subtext. In Analogie zur Politik ihrer französischen und britischen Gegenwart stellen beide das römische Reich als Inbegriff des politischen Verfalls dar. Der Vesuvausbruch von 79 n. Chr. erscheint so in Davids Herculanum als Rache des (christlichen) Gottes für die Zerstörung Jerusalems und Christenverfolgung durch Rom. Eine Balletteinlage im dritten Akt versinnbildlicht die römische Dekadenz. In einem Bacchanal während eines Festes treten dort Musen, Bacchantinnen, Grazien und Waldnymphen auf. Emma Livry tanzt die Solopartie Erigone, deren Auftritt von Berlioz in seiner Kritik, neben dem Bühnenbild, besonders hervorgehoben wird: „Quant à la danse, Mlle Emma Livry en a eu les honneurs. Cette sylphide absorbe l’attention; le public n’a d’yeux et d’applaudissemens que pour elle. Il ne faut pas la comparer à l’oiseau, mais à l’abeille, tant son vol rapide est accidenté de charmans caprices, de mouvemens et de balancemens imprévus. Je ne crois pas qu’on ait rien fait à l’Opéra de plus magnifique que la mise en scène d’Herculanum. On est ébloui par l’éclat de ces costumes, de ces armes antiques; plusieurs décorations sont des mermerveilles; celle du tableau final, qui rappelle le fameux tableau de Martin, la Destruction de Ninive, est un chef-d’œuvre.“75
Eine ausführliche Beschreibung der ‚berauschenden‘ Choreografie des damaligen maître de ballet Joseph Mazilier findet sich in einer weiteren Kritik. Nach dem Tanz der Musen und Grazien folgt nach dieser Beschreibung „une bondissante Bacchanale, excitée par le tintement des crotales et fouettée par le tambourin. Les Egypans aux cornes d’or, et les Bacchantes, entortillées dans des peaux de panthère, se poursuivent en secouant leur thyrse. Evohé! Evohé! il y a quelque chose d’enivrant dans ce cri intermittent entrecoupé de silences, pendant lesquels résonne la
74
Zu Davids Umfeld des Saint-Simonismus und den politischen Implikationen dieser Oper als „soziale Utopie“ vgl. Peter Schleuning: „Herculaneum in der Musik. Die Oper von Félicien David“, in: Josef Mühlenbrock, Dieter Richter (Hg.): Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum, Mainz 2005, S. 213-217.
75
Hector Berlioz: „Théâtre de l’Opéra. Première représentation d’Herculanum“, in: Journal des débats, 12.3.1859, S. 1-2, hier S. 2.
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note unique, vertigineuse, opiniâtre qui trépigne sur les tambourins. – On roule sur le théâtre la vaste amphore des vendanges. Deux ménades s’accrochent à ses anses, un faune grimpe sur sa margelle, il y plonge un vase d’or qu’il épanche dans les coupes tendues à la ronde: Evohé! Evohé! puis, les bacchantes s’enlacent en bas-relief vivant autour de l’urne immense qui tourne sur elle-même, comme enivrée du vin qu’elle renferme. – La coryphée de cette belle orgie, c’est Mlle Emma Livry […].“76
Mit der Verlebendigung eines Basreliefs reflektiert diese Tanzeinlage ihre implizite mediale Grundlage: sie zitiert eine antike statische Darstellung von Bewegung. Die rauschhafte Atmosphäre des Bacchanals, die in den Kritiken betont wird, bezeichnet darüber hinaus einen Status, in dem die Einbildungskraft, die zur Re-Animation der statischer Bilder nötig ist, besonders produktiv ist. Dieser Tanz aus Herculanum wäre mittlerweile – wie die Tänzerinnen von Herculaneum – verschwunden, wenn er nicht als choreografische Notation überliefert wäre. Das Bacchanal von Davids Oper ist in den Archiven der Pariser Opéra in einer Notation von Henri Justamant erhalten. Der Pas de Satyres et des Bacchantes / Dansé dans herculanum befindet sich in einer Mappe mit Choreografien einzelner Tänze (Signatur B 217 [4]) und umfasst 20 Seiten in der charakteristischen Schreibweise von Henri Justamant. Das Divertissement stellt eine (erotische) Jagd zwischen Satyrn und Bacchantinnen dar. Nach einer eröffnenden Passage in Reihen- und Kreisformationen des corps de ballet, das aus acht Paaren von Satyrn und Bacchantinnen besteht, folgt ein Adagio. Das Adagio ist ein Pas de deux eines nicht näher bezeichneten männlichen Solisten (der Thyrsos in seiner Hand weist ihn als Satyr oder Dionysos aus) und einer weiblichen Solistin als Bacchantin, mit dem corps de ballet als Hintergrund. Die Balletteinlage schließt mit einer Coda des gesamten Ensembles. Ausgehend von der Stelle im Adagio-Teil dieser Choreografie, an der die Solisten und das corps de ballet wieder zusammengeführt werden, lässt sich der Unterschied im Ornamentalen zwischen der Balletteinlage von Davids Oper und den herculanischen Wandgemälden zeigen. Für die ersten paar Takte des Adagio (ca. 3 ½ Seiten der Notation) verharrt das corps de ballet in der Schlusspose der Introduktion: Die Männer stehen als Block in zwei Reihen während das weibliche corps de ballet mit dekorativen Port de bras im symmetrischen Kreis zum Publikum ausgerichtet ist. Nach einem kurzen Spiel
76
Paul de Saint-Victor: „Opéra: Herculanum“, in: La Presse, 6.03.1859, S. 2.
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der beiden Solisten beginnt der Hintergrund sich wieder zu bewegen. Das weibliche corps de ballet stellt sich in einer Reihe en arabesque auf, in der sie kurz verharren. Die Solisten versuchen sich gegenseitig den Thyrsos wegzunehmen, was in einem Sprung der weiblichen Solistin kulminiert.77 Die beiden Solisten führen das Spiel um den Thyrsos bis zur Coda weiter und das corps de ballet gruppiert sich dazu als Rahmen oder Hintergrund. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Tanzeinlage in Herculanum (nach der Notation von Justamant) und den Wandmalereien von Herculaneum und Pompeji werden deutlich an ihrem Einsatz der Arabeske. In den antiken Wandmalereien, die in den archäologischen Grabungen wieder ans Tageslicht getreten sind, taucht die Arabeske als rapportfähiges, also wiederholbares grafisches Dekor auf und nimmt eine rahmende Funktion ein. Im Ballett des 19. Jahrhunderts ist die Arabeske als Pose im Ballett zu einer singulären Figur geworden, die dennoch rapport-ähnlich als wiederholte Figur zur Rahmung eingesetzt werden kann, wie in der Aufstellung des weiblichen corps de ballet in dieser Szene in Herculanum. Abbildung 6: Arabesken in Davids Herculanum
Justamant: Grand Pas, Bibliothèque-Musée de l’Opéra Paris.
Anders als die antiken Wandgemälde trennt das Ballett im 19. Jahrhundert jedoch nicht zwischen figurativer Darstellung im Zentrum und ornamentalem Rand. Jeder einzelne Körper, von der Solistin bis zur Coryphée des corps de ballet, kann ornamental eingesetzt werden. Justamants grafische Darstel-
77
Vgl. die analoge Aufstellung des corps de ballet in Giselle in Abb. 19.
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lung der Tanzpose Arabeske als Strichfigur macht das Ornamentale des Körpers (und seine Abstraktion darin) hierbei besonders deutlich, bzw. steigert es in einer ornamentalen Notation: Die Körper werden auf der ideellen Fläche des Papiers zu einem grafischen Arrangement verflochtener Linien und bilden ein Arrangement von Körpergliedern als Liniengeflecht. In der Linie der Zeichnung nivellieren sich darüber hinaus zwei Bewegungsdarstellungen. Sowohl die (gestrichelten) Bodenwege wie auch die auf einen Strich reduzierten Arabesken indizieren beide Bewegung: die ausgeführte Bewegung im Raum und die zitierte Bewegung in der Pose. Auch wenn eine strenge Differenz zwischen Figuration und Abstraktion im Ballett nicht aufrechtzuhalten ist – wie im Laufe dieser Arbeit deutlich werden wird – lässt sich im hier angeführten Beispiel einer Tanzszene aus Herculanum zwischen Zentrum und Rahmen unterscheiden. 78 Diese Unterscheidung verläuft jedoch nicht über das Ornamentale; beides – Zentrum wie Rahmen – ist ornamental geworden, die Ballettpose Arabeske keinem der beiden Bereiche vorenthalten. Die Unterscheidung zwischen dem Ornamentalen der einzelnen Figur (paradigmatisch verkörpert in der Arabeske) und dem ornamentalen Rahmen (in den Bewegungsfiguren des corps de ballet) liegt in der Bewegung. Die Arabeske erzeugt den Eindruck von Bewegung gerade in der Stillstellung, während in den Gruppenfigurationen des corps de ballet das Ornament selbst bewegt ist. Im konstanten Wechsel der dreidimensionalen Figuren in den Formationen der Tänzer und Tänzerinnen, die in der Notation als Folge von Bildern erscheint, entsteht dort ein Ornament, das sich sowohl räumlich wie auch zeitlich erstreckt. Die Notation des Bacchanals aus der Oper Herculanum ist eine konservierende Übertragung – wie die Wandgemälde der Tänzerinnen von Herculaneum. Wie die Gemälde, die bei den Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji ans Licht kamen, so ist auch die Notation aus dem Archiv nur eine Momentaufnahme, die notwendig Leerstellen und Lücken enthält. In diesen Leerstellen und Lücken nistet sich jedoch die Fantasie der Betrach-
78
Die hierarchische Trennung zwischen Zentrum und Rahmen, wie man sie in den kunsthistorischen Publikationen und in der musealen Praxis des 18. Jahrhunderts findet, hat ihre Entsprechung im Ballett in der Hierarchie von Solisten und corps de ballet, die in der Pariser Opéra mit Übergangsstufen wie première danseuse, sujet und coryphée besonders ausgeprägt ist. Diese schrittweise Abstufung erlaubt eine gestaffelte Rahmung und einen weichen Fokuswechsel von der handelnden première danseuse zum Gefolge des corps de ballet.
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tenden ein, die (ständig und immer anders) diese Bilder von Bewegung reanimiert. Mit den Tänzerinnen von Herculaneum taucht ein Bild der Bewegung – weil sich die Bewegung selbst der historischen Aufzeichnung entzieht – immer wieder an der Stelle der Überlieferung auf: das Bild hält die Bewegung fest, markiert sie aber auch stets als vergangen. In der eingefrorenen Pose wiederholt sich dabei das unheimliche Moment des still gestellten Lebens, wie es in den archäologischen Fundstätten vorgefunden wurde. Es ist eine mehrfache, gestaffelte Konservierung: das bewegte Leben ins statische Bild übertragen, im Lavagestein über die Zeit aufbewahrt, auf der Bühne zum Leben erweckt und erneut ins Bild übertragen. In der Verbindung von Bild und Bewegung werden die Tänzerinnen von Herculaneum so auch zu einer Metapher tanzhistorischen und choreografischen Arbeitens. Die Darstellungen der Tänzerinnen von Herculaneum (bzw. ihre unterschiedlichen Aufzeichnungen) werden zu einer Szene der Verhandlung ästhetischer Konzepte und Figuren, die mit Bewegung und ihrer medialen Konservierung verbunden sind. Die Arabeske ist dabei das Muster, das diese Übertragung strukturiert. Eine Stufe dieser Übertragungen wurde bisher unterschlagen. In Carlo Blasis’ Code of Terpsichore, einem der wichtigsten Traktate des Balletts im frühen 19. Jahrhundert, tauchen die herculanischen Tänzerinnen ebenfalls an zentraler Stelle in der Genese der Tanzpose Arabeske auf. Der Eindruck der Bewegtheit in den Darstellungen der Tänzerinnen von Herculaneum wird so in den Tanz zurück übertragen. Die Tänzerinnen von Herculaneum werden dort jedoch nicht in Bewegung gesetzt, sondern sind Vorbild für eine Pose: die Arabeske. Die (verwickelte) Genealogie dieser Pose und ihre unterschiedlichen Herleitungen sind Gegenstand des nächsten Kapitels.
3. Genealogie der Arabeske Romantic ballet: arabesque little bit off balance. I mean, if it’s arabesque is go out like flying, give expression of fly. The poses – Giselle poses – is not, it’s has to be moment in stillness. Like one second and she go ‚ah‘.
NATALIA MAKAROVA1
Der Begriff Arabeske taucht im Ballett an der Wende zum 19. Jahrhundert auf. Sein Erscheinen ist dabei Indiz verschiedener Veränderungen in der Ballettästhetik: die Arabeske resultiert aus einer sich ständig ausdifferenzierenden Tanztechnik, ist Zeichen einer neuen Form von Virtuosität, ihre Gestalt drückt zentrale Motive der Ballette des frühen 19. Jahrhunderts aus und sie ist Vehikel einer Abstraktion des Tänzer*innenkörpers. Ihr relativ später Auftritt auf der Szene des Balletts unterscheidet sie dabei von den meisten anderen Termini des klassischen Ballettvokabulars. Die Grundlagen der klassischen Balletttechnik, unter ihnen die fünf Grundpositionen, wurden bereits 1700 von Raoul Auger Feuillet in seiner Chorégraphie ou l’art de décrire la dance, par caractères, figures et signes démonstratifs2 niedergeschrieben. Dort finden sich bereits die meisten Schritte, Sprünge und Drehungen, die das technische Ballettvokabular bis heute bestimmen: Pas de bourrée, Coupé,
1
Natalia Makarova: In a Class of Her Own (GB 1985, R: Derek Bailey),
2
Raoul Auger Feuillet: Chorégraphie ou l’art de décrire la dance par caractères, fi-
http://youtu.be/flzenCsT3jQ, zuletzt abgerufen am 02.03.2017. gures et signes démonstratifs, Paris 1700 [Reprint Hildesheim 1979]. Zum Vokabular des Klassischen Tanzes im 19. Jahrhundert vgl. August Bournonville: Études Chorégraphiques Dédiées aux artistes de la danse [1855], in: ders.: Études Chorégraphiques (1848, 1855, 1861), hg. von Knud Arne Jürgensen und Francesca Falcone, Lucca 2005, S. 149-154.
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Chassé, Jeté, Pirouette, Entrechat und Sissonne werden alle in Feuillets Traktat genannt. Nicht jedoch die Arabeske. Es ist nicht zu jeder Zeit klar, was genau der Begriff Arabeske im Tanz bezeichnet. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es zwei Definitionen: Arabeske meint zu dieser Zeit sowohl eine Gruppierung von Tänzer*innen wie auch eine einzelne Pose. Heute verweist dieser Begriff im Ballett auf eine Gruppe von Balanceposen mit einem nach hinten abgestreckten Bein. Dennoch bestimmt der Begriff Arabeske auch heute nicht eine einzige, streng abgrenzbare Form, sondern umfasst eine ganze Klasse von unzähligen Variationen einer Grundpose. Diese Unterdeterminiertheit begleitet die Arabeske seit ihrem ersten Auftritt auf der Ballettbühne. Sie wird zwar ab 1820 in Tanztraktaten (noch als Variation der Attitude) erwähnt, ihre theoretische Bestimmung bleibt im 19. Jahrhundert aber seltsam ungenau und vage. Die Ungreifbarkeit dieser Figur korreliert mit der im Eingangskapitel beschriebenen Situation der Tanznotation im frühen 19. Jahrhundert, die den Veränderungen der Balletttechnik und -ästhetik eklektisch und idiosynkratisch begegnet. Auch wenn seit dem 18. Jahrhundert das Interesse an theatralen Posen ansteigt, gibt es bis Mitte des 19. Jahrhunderts keine Tanznotation, die Haltungen des Oberkörpers darstellen kann. Seit der Beauchamp/ Feuillet-Notation, die hauptsächlich zur Darstellung von Bodenwegen und Fußbewegungen im höfischen Tanz entwickelt wurde und daher den Oberkörper weitestgehend vernachlässigte, hatte sich keine neue maßgebliche Tanzschrift herausgebildet. Erst die Strichfiguren-Notation, die 1852 von Arthur Saint-Léon vorgestellt wird, versucht den ganzen Körper aufzuzeichnen.3 Die (performative Pose) Arabeske besetzt zur Zeit ihres Auftauchens im frühen 19. Jahrhundert somit einem Bereich jenseits der Notation und entwickelt sich in dieser Offenheit im praktischen Gebrauch zu einer Figur mit großer Variabilität, die jedoch auf grafischen Prinzipien beruht. Die Arabeske ist eine schwer zu fassende Figur. Als Pose unterbricht sie die Bewegung, figuriert (oder zitiert) in dieser Stillstellung jedoch Bewegung – ein Paradox, das sich mit der Technik, Theorie und Notation des Tanzes bis weit ins 19. Jahrhundert nicht erfassen lässt. Sie ist aber auch deshalb schwer zu fassen, weil mit dem Begriff Arabeske keine eindeutig identifizierbare neue Form in den Tanz eingeführt wird. Posen, die wie (heutige) Arabesken
3
Vgl. dazu Ann Hutchinson Guest: Choreo-Graphics. A Comparison of Dance Notation Systems from the Fifteenth Century to the Present, New York 1989.
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aussehen, aber Atttituden genannt werden oder unbenannt bleiben, finden sich bereits im 18. Jahrhundert. Worin besteht nun der Mehrwert dieses neuen Namens? Es scheint, dass der Begriff Arabeske als Katalysator funktioniert, der eine alte Pose, die Attitude, in ein neues Licht rückt. Die charakteristische Unbestimmheit der Arabeske, die sie aus anderen Künsten in den Tanz überträgt, bietet vielfältige Anschlussmöglichkeiten und macht diese Form zu einer zentralen Figur des Balletts im 19. Jahrhundert. Die Zusammenführung der formalen Entwicklung einer Körperpose mit einem Begriff aus der Ornamentgeschichte führt zur ‚Erfindung‘ der Arabeske im Ballett. Erfindung meint hier jedoch weder einen (genialen oder sonstwie gearteten) Akt spontaner Formbildung, noch einen singulären, unwiederholbaren Moment, sondern die Szenen, in denen diese Stränge zusammengeführt werden. Für die Geschichte der Arabeske im Ballett gilt daher ebenfalls, was Michel Foucault als genealogische Methode beschrieben hat: „Wer […] einen Ursprung sucht, der will finden, ‚was bereits war‘, das ‚Eigentliche‘ eines mit sich selbst übereinstimmenden Bildes; er hält alle Wechselfälle, Listen und Verkleidungen für bloße Zufälle und will alle Masken lüften, um die eigentliche Identität zu enthüllen. Aber was erfährt der Genealoge, wenn er aufmerksam auf die Geschichte hört statt der Metaphysik zu glauben? Dass es hinter den Dingen ‚etwas ganz anderes‘ gibt: nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren. […] Am geschichtlichen Anfang der Dinge stößt man nicht auf die noch unversehrte Identität ihres Ursprungs, sondern auf Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit.“4
Für die Genealogie der Arabeske werden im Folgenden die unterschiedlichen Aspekte, die in dieser Figur zusammenlaufen, nachvollzogen; die Geschichte einer Figur des Gleichgewichts und ihrer unterschiedlichen (kunstgeschichtlichen) Modelle, wie auch die Übernahme des Ornament- und Stilbegriffs Arabeske aus der Bildenden Kunst werden dem Versuch, diese Pose in einer Körper-Zeichen-Schrift zu notieren, gegenübergestellt. Zunächst sollen jedoch einige posentheoretische Überlegungen voran gestellt werden.
4
Michel Foucault: „Nietzsche, die Geneaologie, die Historie“, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt/Main 2002, S. 166-191, 168 f. Herv. E.W.
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Das im Gegensatz zu den meisten Bewegungsbegriffen des Balletts relativ späte Erscheinen der Arabeske zu Beginn des 19. Jahrhunderts schließt an das wachsende Interesse am posierenden Körper in der Theater- und Tanztheorie im 18. Jahrhundert an. Noch Noverre äußert sich in seinen Lettres sur la Danse, et sur les Ballets von 1760 nur zaghaft zu Fragen der Pose. Attitudes erwähnt er an verschiedenen Stellen, er verwendet den Begriff aber mehr im Sinne von Haltung5 und nicht als technische Bezeichnung einer Figur, wie etwas später Gennaro Magri oder Carlo Blasis. In den zentralen Abschnitten, in denen Noverre die für ihn grundlegenden Elemente des Tanzes beschreibt und die konstitutiven Elemente seiner ‚Mechanik‘ (oder Maschine) aufzählt, kommen Posen und stillgestellte Körper nicht vor.6 Noverre konzentriert sich auf das bewegte Moment des Tanzens. Er nennt zwar die Malerei wiederholt als Ideal, stellt aber keine lebenden Bilder. Stephanie Schroedter hat in ihrer Studie zur Poetik der Tanzkunst im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben, wie der Bühnentanz dieser Zeit allgemein seinen künstlerischen Mehrwert gerade im In-Bewegung-setzen von Gemälden findet. Das Ballet en action, wie es Noverre und de Cahusac im 18. Jahrhundert entwickeln, emanzipiert sich dabei gerade von der episodenhaften Aneinanderreihung von Bildern, wie sie das Ballet de Cour strukturiert hat, und strebt eine Verbindung der zeitlich verlaufenden Poesie und der räumlichen Komposition der Malerei an.7 Parallel zu dieser Entwicklung im Tanz, der im 18. Jahrhundert als sprechendes, lebendes und dramatisches Gemälde neu erfunden wird, entstehen zur gleichen Zeit die Körperinszenierungspraktiken Tableau vivant und Attitüde, in denen statische Werke der Bildenden Kunst nachgestellt werden.
5
Jean-Georges Noverre: Lettres sur la Danse, et sur les Ballets, Lyon 1760, z.B. S.
6
Vgl. Noverres: Lettres sur la Danse, S. 64: „Le Ballet est une espece de machine,
38, 43, 68 in Anlehnung an Malerei, und S. 384, 395 im Abschnitt zur Notation. plus ou moins compliquée, dont les différents effets ne frappent & ne surprennent qu’autant qu’ils sont prompts & multipliés. Ces liaisons & ces suites de figures; ces mouvements qui se succédent avec rapidité; ces formes qui tournent dans des sens contraires; ce mêlange d’enchaînements; cet ensemble & cette harmonie qui régnent dans les temps, & dans les développements: tout ne vous peint-il pas l’image d’une machine ingénieusement construite?“ 7
Stephanie Schroedter: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action, Würzburg 2004, S. 191-195.
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Während sich der Bühnentanz im 18. Jahrhundert also von der Stasis zu befreien versucht, kultivieren diese Formen gerade eine theatrale Reflexion der Pose und des Innehaltens auf der Bühne, wie Bettina Brandl-Risi herausgearbeitet hat. In den Tableaux vivants wird das Anhalten der Bewegung zu einer prägnanten Stille, die den Moment zwischen „Augenblick und Bewegung, Verfestigung und Verflüssigung“8 festhält.9 Brandl-Risi beschreibt die eigentümliche Zeitlichkeit der Pose in diesen künstlerischen Praktiken, die einerseits durch Iteration und Zitat auf vergangene Werke zurückverweist, andererseits jedoch den zeitlichen Verlauf eines theatralen Kunstwerks unterbricht.10 Die doppelte, paradoxe Zeitlichkeit der Pose, den theatralen Verlauf anzuhalten und gleichzeitig darin eine andere Bewegung auszulösen – nämlich die der Reflexion der Betrachtenden und der Einholung vergangener Zeiten im Zitat – wird im 18. Jahrhundert in den Attitüden und im Tableau vivant just in jenem Moment (wieder-)entdeckt, als die Entwicklung im Ballett versucht – ebenfalls im Zitat – die (still gestellte) Pose auszulöschen. Mit der Aufmerksamkeit auf die Pose kehrt um 1800 so eine theoretische Reflexion über den stillgestellten Körper in der Bühnenpraxis wie auch in theoretischen Tanztraktaten wieder, die während der Reformversuche im Ballett des 17. und 18. Jahrhunderts in den Hintergrund getreten war. Domenico da Piacenza entwickelte bereits Mitte des 15. Jahrhunderts im Konzept der posa in dem Traktat De arte saltandi & choreas ducendi. Dela arte di ballare
8
Bettina Brandl-Risi: „Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose. Überlegungen zum Paradox des tableau vivant“, in: dies., Stefanie Diekmann, Gabriele Brandstetter (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 5267, S. 55. Vgl auch Bettina Brandl-Risi: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg 2013.
9
Die Tradition der Pygmalion-Ballette beschäftigt sich mit der Inversion dieses Vorgangs. Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: „Der Tanz der Statue. Zur Repräsentation der Bewegung im Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Mathias Mayer, Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg 1997, S. 393-422; sowie dies.: „Figura: Körper und Szene. Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert“, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 23-38.
10 Brandl-Risi: „Das Leben des Bildes und die Dauer der Pose“, S. 59 f.
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et Danzare11 theoretische Überlegungen zum Stillstand im Tanz. Piacenza formuliert damit das grundlegende Paradox der Bewegung, wie Gabriele Brandstetter zusammenfasst, „dass die posa, die ‚Pause‘, in der Bewegung immer schon zur Gesamtheit der Bewegung – zur Bewegungsfiguration – gehört; dass mithin das Anhalten bzw. das Stillstellen der Bewegung die Bedingung der Möglichkeit von Bewegungsausdruck sei […].“12 Die posa, wie sie Domenico beschreibt, kann dabei sowohl Abschluss einer Schrittfolge sein, wie auch innerhalb einer Bewegungssequenz als „choreographische Cäsur“ oder „Fermate“ 13 eingesetzt werden. Sie ist ein „intellectual and aesthetic comma”,14 ein „eingerücktes Einhalten“15 in der Bewegung, ohne dabei jedoch (wie z.B. die Attitude) über eine konkrete und definierte Form zu verfügen. Domenico formuliert seine Theorie der Pose in einem kurzen Absatz, der sich mit dem fantasmata16 beschäftigt, das Ingrid Brainard als synonym
11
Nicht-autographe Abschrift in der Bibliothèque Nationale, Paris von ca. 1455, zitiert nach Fifteenth-Century Dance and Music. Twelve Transcribed Italian Treatises and Collections in the Tradition of Domenico de Piacenza. Bd. 1. Treatises and Music, übersetzt und kommentiert von A. William Smith, Stuyvesant, NY 1995, S. 4-67. Domenicos Traktat ist das Modell für alle späteren Tanzlehren des 15. Jahrhunderts, seine Schüler Guglielmo Ebreo und Antonio Cornazano beziehen sich inhaltlich und formal darauf.
12
Gabriele Brandstetter: „Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung“, in: dies., Stefanie Diekmann, Bettina Brandl-Risi (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 41-67, hier S. 46.
13
Ingrid Brainard: Die Choreographie der Hoftänze in Burgund, Frankreich und Ita-
14
Ingrid Brainard: „Pattern, Imagery and Drama in the Choreographic Work of Do-
lien im 15. Jahrhundert, Dissertation, Typoskript, Göttingen 1956, S. 289. menico da Piacenza“, in: Maurizio Padovan (Hg.): Guglielmo Ebreo da Pesaro e la danza nelle corti italiane de XV secolo, Ospedaletto 1990, S. 85-96, hier S. 91. 15
Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen I. Körpererfahrung als Entfaltung von Sinnen und Beziehungen in der Ära des italienischen Kaufmannskapitals, Frankfurt/Main 1974, S. 167.
16
Die humanistischen Gelehrten im Umfeld von Padua rezipierten die antike Philosophie hauptsächlich durch lateinische Quellen und waren des Griechischen meist nicht mächtig. So erklärt sich Domenicos Verwendung von fantasmata im Singular, während das grch. phantasmata eigentlich eine Pluralform ist. Ich danke Sara Chiarini für diese Erläuterung.
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mit posa oder posata beschreibt.17 Der entsprechende Abschnitt lautet in der englischen Übersetzung von A. William Smith: „Note that one who wishes to learn the art needs to dance according to fantasmata. Note that fantasmata is a physical quickness which is controlled by the understanding of the misura first mentioned above. This necessitates that at each tempo one appears to have seen Medusa’s head, as the poet says, and be of stone in one instant, then, in another instant, take to flight like a falcon driven by hunger. Do this according to the prescription above, that is, using misura, memoria, maniera, misura di terreno, and aire.“18
Im fantasmata oder der posa, die Halte- oder Ruhepunkte der Bewegung darstellen, entdeckt Rudolf zur Lippe in seiner Lesart Domenicos eine Selbstreflexion des Tanzes (und der Tanzenden): „In dem Innehalten des Tanzenden als posa wird Tanz seiner selbst gewahr.“19 Nach Domenicos Theorie stellen sich die Tänzer*innen die getanzte Figur im Raum vor und vergegenwärtigen sich in einem Vorstellungsbild den zurückgelegten und zurückzulegenden Weg: „In dem Namen fantasmata, den Domencio dem [Anhalten und aus ihm entwickelten Gleiten in die neue Figur] gegeben hat, kommt die Vielheit der Objekte zum Ausdruck, denen das Einbildungsvermögen der Tanzenden begegnet, und die Fülle von Posen, in denen sie – wie allegorische Statuen zu Stein erstarrt – diesen Objekten entsprechen sollten.“20 In Domenicos Übertragung des aristotelischen Begriffs fantasmata (ital.) bzw. phantasmata (grch.), der Vorstellungsbilder oder Produkte der phantasia
17
„‚Posata‘ ist wörtlich übersetzt das Anhalten, die Pause; ‚Posa‘ bedeutet Ruhe,
18
„Oltra dico a ti del mestiero vole imparare bisogna danzare per fantasmata e no-
Haltung und Pose.“ Brainard: Die Choreographie der Hoftänze, S. 285. ta che fantasmata e una presteza corporalle la quale e mossa cum lo intelecto dela mexura dicta imprima disopra facendo requia acadauno tempo che pari haver veduto lo capo di meduxa como dice el poeta cioe che facto el motto sii tutto di piedra in quello instante et in instante mitti ale como falcone che per paica mosso sia segonda la riegola disopra cioe operando mexura memoria mainera cum mexura de terreno e d’aiare.“ Zitiert nach Fifteenth-Century Dance and Music, S. 12 f. 19
zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen I, S. 166. Herv. i.O.
20
Ebd., S. 171.
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meint, die Abwesendes vor Augen stellen, wird die reflexive Dimension der posa deutlich,21 die im 19. Jahrhundert in der Pose Arabeske aktualisiert wird.
D REI FRÜHE A UFTRITTE DER A RABESKE Die erste Arabeske auf einer Ballettbühne ist unwiederbringlich verloren. Wann immer in schriftlichen Dokumenten von dieser Figur die Rede ist, wird stets auch deutlich, dass diese Bezeichnung in der Praxis bereits gängig war und so die ‚Geburtsstunde‘ der Arabeske nicht rekonstruierbar ist. Exemplarisch sollen hier daher drei frühe schriftliche Erwähnungen der Arabeske betrachtet werden. 1797 Schriftlich fixiert findet sich der Terminus wohl zum ersten Mal 1797, im Vorwort des Librettos von Jean Daubervals Télémaque.22 Dauberval nimmt in diesem Ballett, das zuvor am Pantheon Theatre in London als Telemachus in the Island of Calypso aufgeführt wurde, die mythologische Erzählung von Telemachos aus Homers Odyssee zum Ausgangspunkt, um einen allegorischen Triumph der Wahrheit über die Leidenschaften zu inszenieren: „J’ai d’ailleurs eu pour objet de présenter la sagesse luttant contre les charmes de la volupté; son triomphe offre un but moral bien plus digne du sujet que j’ai osé peindre […].“23 Dauberval, ein Schüler Noverres, legt in diesem Vorwort auf kleinstem Raum ein tanzästhetisches Programm aus, das ganz im Ein-
21
Mark Franko differenziert posa und fantasmata stärker als zur Lippe und betont den mediatisierenden Charakter der fantasmata, die zwischen Bewegung und Stillstand vermittelt: „fantasmata designates the whole dialectical rapport between pose and movement.“ Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993, S. 27 ff, hier Fn. 44. Zur reflexiven Dimension der Einbildungskraft, vgl. Jochen Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 88-120, hier S. 104 ff.
22
Libretto der Wiederaufnahme in Bordeaux, diese Datierung entstammt Flavia Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, Lucca 2005, S. 316.
23
Jean Dauberval: Télémaque dans l’isle de Calypso, Marseille 1805, S. 4 f. Vgl. Ivor Guest: The Ballet of the Enlightenment. The Establishment of the Ballet d'Action in France 1770-1793, London 1996, S. 404.
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klang mit den Vorstellungen der Ballettreform die vermeintlich universale Sprache der Pantomime, die die ‚Bewegungen der Seele‘ so viel besser ausdrücke als Wortsprache, über tänzerische Virtuosität, szenische Effekte und gesprochenes Drama stellt. Im Rahmen dieser Überlegungen ermahnt Dauberval die nachfolgende Generation die Genre-Grenzen einzuhalten, die das Ballett aus der Literatur übernommen hat und die im 18. Jahrhundert die Ballettdramaturgie prägen. 24 Sich für die mangelnde Perfektion seiner Télémaque-Choreografie entschuldigend, erwähnt Dauberval wohl zum ersten Mal den Begriff Arabeske im Zusammenhang mit Tanz: „C’est dans le genre de l’ouvrage que je présente aujourd’hui au Public; c’est lorsque Vénus, les graces, l’amour, les nymphes sont acteurs ou danseurs, que vous ne sauriez trop vous livrer dans vos compositions à l’élégance des groupes, aux arabesques et aux poses voluptueuses; mais gardez-vous de confondre les genres; qu’un faux goût ne vous conduise pas à faire danser un Tartare comme un Sylphe, ni un Paysan comme Télémaque.“25
Dauberval definiert nicht, was eine Arabeske ist. Seine unkommentierte Erwähnung der Arabeske deutet vielmehr darauf hin, dass dieser Begriff in den 1790er Jahren bereits im Gebrauch ist. Zwei Aspekte lassen sich an dieser Stelle für eine Untersuchung der Arabeske und ihrer Position im System des akademischen Tanzes festhalten. (1.) Ihre syntaktische Position: In der Aufzählung steht die Arabeske zwischen ‚eleganten Gruppierungen‘ und ‚wollüstigen Posen‘, und erhält in diesem Satzgefüge eine Position, die der Doppeldeutigkeit der Arabeske im Tanz um 1800 als Einzelpose und Gruppenfigur entspricht. Wenn auch bei Dauberval unklar ist, auf welches tänzerische Element sich der Terminus Arabeske genau bezieht, so kann hier ihre Mittelstellung zwischen Gruppenfigur und Einzelpose, wie auch zwischen ‚Eleganz‘ und ‚Wollust‘ festgehalten werden. (2.) Ihre Verbindung mit einem Genre: Dauberval identifiziert die Arabesken mit Grazien und Nymphen, und weist sie so den Figuren des demi-caractère-Genres zu – der Hinweis auf die ‚poses voluptueuses‘ verstärkt diese Verbindung. Das demi-caractère-
24
Im Tanz des 18. Jahrhunderts wird zwischen drei oder vier Genres unterschieden: Genre grotesque und/oder comique, Genre demi-caractère, und Genre sérieux et héroique. Vgl. dazu Monika Woitas, Im Zeichen des Tanzes. Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830, Herbolzheim 2004, S. 50-85.
25
Dauberval, Télémaque, S. 6.
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Genre charakterisiert eine Mixtur der Stile26 und wird sich im Ballett des 19. Jahrhundert als allgemeiner Stil der Aufführung durchsetzen. 1800 Auch das zweite Beispiel verschweigt, wie die Arabeske, von der es spricht, aussieht. Pierre Ps Dansomanie ist eine „Folie-Pantomime“, die 1800, also im 8. Jahr des Republikanischen Kalenders, im Théatre de la République et des Arts in Paris uraufgeführt wurde. Im ersten Akt fordert der titelgebende Tanzsüchtige, der Schlossbesitzer Monsieur Duléger, den savoyischen Tanzmeister Flic-Flac auf, ihm die neuesten Tanzschritte vorzuführen. Er selbst scheitert an der Imitation, deren perfekte Ausführung er vom künftigen Bräutigam seiner Tochter erwartet.27 Das Libretto beschreibt die kleine Szene der Instruktion folgendermaßen: „Notre Dansomane demande à son maître s’il y a quelques pas nouveaux. S’il y en a, répond le savant maître! regardez, Monsieur… Alors il lui fait les nouveaux tems des cuisse doublés, triplés, quadruplés; les pas où l’on jette ses jambes en avant l’une après l’autre; les pirouettes sur le coude-pied, les walses, les arabesques, et enfin tous ces pas qui ridiculisent nos danses de ville, et qui ne déparent que trop souvent celles de nos théâtres.“28
Erneut lässt sich aus dem Kontext der Erwähnung die Funktion dieser Arabeske nur erahnen. Diesmal ist der Rahmen eine getanzte Komödie, die über die Figur eines „lächerlichen Tanzmeisters“ 29 die bürgerliche Übernahme des aristokratischen und höfischen Bewegungsideals im ausgehenden 18. Jahrhundert parodiert. Sozialer Tanz und Bühnentanz sind um 1800 noch eng verwandt. Erst im Laufe der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts differenziert sich Tanz als Profession – und damit der Tänzer*innen-Beruf – heraus, die sich durch technische Virtuosität auszeichnet.
26
Carlo Blasis, Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, Mailand 1820, S. 88-95.
27
Zu diesem Ballett vgl. auch Susan Leigh Foster: Choreography & Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire, Bloomington 1996, S. 184-186, hier S. 184.
28
Pierre G. Gardel: La Dansomanie, Folie-Pantomime en Deux Actes Du Cen Gardel, Membre de la Société Philotechnique; Représentée pour la première fois sur le Théatre de la République et des Arts, le 25 Prairial, an 8 [14. Juni 1800], S. 8.
29
Vgl. ebd., S. 24/25: „ce ridicule dansomane“.
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Die Arabeske – wie immer sie in diesem Beispiel auch aussieht – wird hier im Rahmen eines Schrittrepertoires vorgestellt, das auch der tanzbegeisterte Laie zu beherrschen vermag. Die kleine Szene aus Dansomanie unterstreicht den intermediären Status der Arabeske, die sich als Figur zwischen Genres entwickelt und von Unterhaltungsformen in das Schrittrepertoire des akademischen Tanzes übernommen wird. Die Arabeske ist so auch Indiz eines neuen Geschmacks am Spektakulären und Populären.30 1807 Die nächste schriftliche Erwähnung der Arabeske stammt aus der erweiterten Neuausgabe der Briefe über die Tanzkunst von Jean-Georges Noverre, den Lettres sur les arts imitateurs en général, et sur la danse en particulier von 1807. Noverre erwähnt dort die Arabeske in einer Reihe von Verfallserscheinungen der Tanzkunst, wie Seiltanz und anderen populären Unterhaltungsformen des Boulevards: „Les danseurs de corde, les tourneuses et les équilibristes qui font les délices des Boulevards, ne pourroient-ils pas revendiquer les tours de force, les gambades, les passecompagnes, les pirouettes en tourbillons, et les attitudes indécemment outrées qu’on leur a dérobées. On nomme ce nouveau genre Arabesques. On voit bien que les danseurs ignorent que le genre arabesque est trop fantastique et trop bizarre pour servir de modèle à leur art. Les peintres prétendent que l’arabesque doit sa naissance au délire; et ils le regardent comme un enfant trouvé de l’art.“31
In dieser Textstelle ist grammatikalisch nicht zu bestimmen, ob sich das genre arabesques nur auf die unerhört übertriebenen Attituden bezieht oder auch die wirbelnden Pirouetten und Luftsprünge einschließt. Noverres Wertung ist aber eindeutig: die Arabeske – was immer hier damit gemeint ist – ist zu fantastisch und zu bizarr, um sich als Genre für den Tanz zu eignen.32 Der
30 31
Vgl. den Zirkus-Abschnitt in Kap. 3. Jean-Georges Noverre: Lettres sur les Arts Imitateurs en général, et sur la Danse en particulier, Paris 1807, Bd. 2, S. 297.
32
Mit ähnlicher Begründung lehnt Noverre auch die Herculaneum-Mode in der Innenausstattung ab: „Les peintres qui se vouent au décor intérieur, donnent dans un travers et une extravagance d’autant plus dangereuse qu’elle annonce le radotage de l’artiste. Que veulent dire en effet huit ou dix figures placées isolément sur chaque panneau d’un salon, figures bizarres, qui ne reposent sur
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Traum, das Delirium und die Geisterreiche, die später zentrale Topoi des Balletts im 19. Jahrhundert werden, sind für Noverre aus dem Tanz ausgeschlossen. Diese frühen Erwähnungen der Arabeske zeichnen kein klares Bild. Weder wird ersichtlich, was jeweils mit diesem Begriff bezeichnet wird, noch macht die Arabeske dort eine gute Figur. Sie wird der Populärunterhaltung und dekadenten Großstadtvergnügen zugerechnet und erscheint keineswegs in einem ruhmvollen Licht, wie man es von der Pose erwarten würde, die (später) für ihre außerordentliche Schönheit gerühmt und zum Leitmotiv des Balletts im 19. Jahrhundert wird. Der flüchtige Eindruck der Arabeske in diesen frühen Szenen unterscheidet sich stark von dem Bild, das spätere Theorien und Herleitungen von der Arabeske zeichnen. Diese versuchen in der Regel die Verbindung mit populären Unterhaltungsformen zu unterdrücken. Carlo Blasis z.B. stellt diese Pose in einen ganz anderen Kontext, wie im Folgenden deutlich wird.
C ARLO B LASIS ’ T HEORIE DER A RABESKE Die erste umfassende Darstellung und technische Erläuterung der Arabeske als Tanzpose stammt von Carlo Blasis, einem französisch-italienischen Choreografen und Tänzer, der 1795 in Neapel geboren wird. 1817 debütiert er sowohl an der Pariser Oper wie an der Scala in Mailand. Im Anschluss bleibt er längere Zeit in Italien (im damaligen Königreich Sardinien bzw. Venetien) und pendelt zwischen Turin und Mailand, wo er 1837 Direktor der Ballettakademie wird. Neben seiner Tätigkeit als Tänzer und Choreograf verfasst Blasis eine Reihe von Traktaten zur Tanzästhetik und Pantomime sowie verschiedene kleinere Schriften, u.a. Biografien von David Garrick und Pergolesi.33
rien, qui n’ont aucune base solide, ou qui sont en l’air, sans avoir des ailes? On répond: Ce sont des figures antiques trouvées dans les fouilles d’Herculanum. Fort bien! mais ces figures étoient placées sur des bas-reliefs et pouvoient être supportables. D’ailleurs, ce qui convient à un art ne convient pas toujours à un autre.“ Ebd., S. 294. 33
Vgl. Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, S. 378 f. für eine Bibliografie der Schriften Blasis’.
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Blasis’ Wirken als Tänzer, Choreograf und Theoretiker fällt in eine Übergangszeit zwischen dem klassizistisch ausgerichteten 18. Jahrhundert und der Blütezeit des Balletts an der Pariser Oper zwischen 1830 und 1850, dem sogenannten Romantischen Ballett. Flavia Pappacena unterstreicht in ihrer grundlegenden Studie von Blasis’ Traktaten den Einfluss der neoklassizistischen Ästhetik und siedelt die Entwicklung seiner Theorie im spätnapoleonischen Umfeld an. Die rigiden Stil-Grenzen des 18. Jahrhunderts beginnen sich zu dieser Zeit zugunsten eines gemischten Stils, dem demi-caractére, aufzuweichen und der Fokus verschiebt sich vom männlichen Tänzer zur weiblichen Tänzerin.34 Blasis bereitet in seinen Schriften die Tanztechnik und -theorie des sogenannten Romantischen Balletts vor, er tut dies aber in einem klassizistischen Denkrahmen und im Dialog mit klassizistischer Kunstauffassung. Eine ähnliche Zwischenstellung nimmt auch die Arabeske ein, die klassizistische Aspekte mit romantischer Ästhetik verbindet. Arabeske Theorie Carlo Blasis’ Theorie der Arabeske ist über seine Schriften verstreut. Sein bekanntestes, umfassendstes und am häufigsten aufgelegtes Buch ist The Code of Terpsichore: A Practical and Historical Treatise on the Ballet, Dancing, and Pantomime; With a Complete Theory of the Art of Dancing: Intended as Well for the Instruction of Amateurs as the Use of Professional Persons (London 1828) [im Folgenden: Code].35 Der zweite von insgesamt sechs Teilen dieses Trak-
34
Vgl. ebd., S. 257-275, Abschnitt „Disrupting the genre system and emancipating female technique“.
35
Der Code of Terpsichore wurde von Richard Barton unter Aufsicht von Blasis ins Englische übersetzt. 1830 wird das Buch unter dem leicht veränderten Titel The Code of Terpsichore. The Art of Dancing: Comprising its Theory and Practice, and a History of its Rise and Progress, From the Earliest Times: Intended as well for the Instruction of Amateurs as the Use of Professional Persons neu aufgelegt. Ein Faksimile-Druck erscheint 1976 bei Dance Horizons, New York, und 2000 bei Dance Books, Hampshire. Ebenfalls 1830 erscheint in Paris das Manuel complet de la danse. Comprenant la théorie, la pratique et l’histoire de cet art depuis les temps les plus reculés jusqu’à nos jours; à l’usage des amateurs et des professeurs, eine Rückübersetzung des Code of Terpsichore durch Paul Vergnaud. Im selben Jahr erscheint außerdem eine weitere französische Übersetzung des Code bei Audin als Code complet de La Danse, die erneut vom Wortlaut abweicht. 1830 erscheinen außerdem Übersetzungen ins Deutsche
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tats, in dem sich u.a. Blasis’ Überlegungen zur Arabeske befinden, basiert jedoch auf einer früheren Arbeit, dem Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse [im Folgenden: Traité Élémentaire], der bereits 1820 in Mailand auf Französisch erscheint. Der Traité Élémentaire umfasst neun kurze Kapitel, die nach einer kurzen Einleitung mit historischem Abriss und einer Einführung in Blasis’ Unterrichts-Methode in einzelnen Studien („Études“) die Elemente des Körpers (Beine, Körperhaltung, Arme) und des Tanzes (Positionen, Schritte, Drehungen, Genres) beschreiben. Dem theoretischen Teil sind einige Übungen (Positionen, Battements, Rond de jambes) und ein Abbildungsteil angehängt.36 Die folgende Betrachtung und Rekonstruktion von Blasis’ Theorie der Arabeske bezieht sich in großen Teilen daher auf den Traité Élémentaire, da dieser die frühere und weitaus konzisere Textfassung enthält als der Code of Terpsichore, welcher in der englischen Übersetzung von Richard Barton – zumindest in Bezug auf die Abschnitte zu Arabeske – stark an Verständlichkeit verloren hat. Blasis zitiert im Traité Élémentaire in großem Stil Texte von anderen Autoren, oft in langen Fußnoten-Exkursen. Seine Hauptquellen sind Leonardo da Vincis Trattato della pittura, Jean Daubervals Libretto zu Télémaque dans l’isle de Calypso in der Ausgabe aus Bordeaux von 1797 sowie Artikel aus Panckouckes Encyclopédie méthodique. Arts académique. Équitation, escrime, danse, et art de nager von 1786.37 Gerade der digredierende Textverlauf zwischen Fließtext und Fußnotenexkursen, den Barton in seiner Übersetzung im Code eliminiert, scheint jedoch konstitutiv für Blasis’ Argumentation.
und Italienische, die hier aber nicht betrachtet werden. Flavia Pappacena listet weitere Details der Publikations- und Übersetzungsgeschichte des Traité Élémentaire auf. Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, S. 249-256. 36
Der Code ist ungleich länger als der Traité Élémentaire: er ist in sechs große Teile aufgebaut, dessen zweiter Teil „Theory of Theatrical Dancing“ weitestgehend dem Text und Aufbau des Traité Élémentaire entspricht. Der „Theory“ ist eine ausführliche Geschichte des Tanzes („Origin and Progress of Dancing“) vorangestellt, es folgen Teile zur Pantomime (Teil 3) und zur Dramaturgie (Teil 4: „The Composition of Ballets“), beispielhafte dramatische Vorlagen (Teil 5), Beschreibungen von Gesellschaftstänzen (Teil 6) und ein Fazit, das sich dem allgemeinen Verhältnis von Tanz und Kunst widmet.
37
Flavia Pappacena hat in ihrer grundlegenden Arbeit zur Blasis’ Traktaten diese Übernahmen philologisch rekonstruiert. Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830. Zu den Quellen vgl. S. 241 ff.
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Abbildung 7: Doppelseite aus Blasis’ Arabesken-Kapitel
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
So besteht das fünfte Kapitel der Theorie des Tanzes, in dem Blasis die Arabeske bespricht, zumindest in der Version des Traité Élémentaire, hauptsächlich aus Fußnoten, in denen Blasis in Exkursen die Geschichte und Ästhetik des Ornaments verhandelt. Blasis formuliert seine Theorie der Arabeske in einem verflochtenen Gedankengang und beschreibt diese Figur in sukzessiven Digressionen. Seine Argumentation nimmt so selbst eine arabeske Form an, die verschiedene Abschweifungen nebeneinanderstellt und somit die Arabeske als vielschichtige, uneindeutige Figur präsentiert. Um Blasis’ digressive Herleitung der Arabeske adäquat wiederzugeben, soll seine komplexe Erfindung dieser Pose in mehreren Schritten nachvollzogen werden, die als ‚Stelle‘ zwar in tanzwissenschaftlichen Studien kanonisch geworden ist, aber keine einfache oder eindeutige Lesart bietet. Dazu werden einzelne Stränge isoliert, die unterschiedlichen Vorbilder für Blasis’ Arabeske vorgestellt und verschiedene Figurationen der Arabeske aufgezeigt. Abschließend wird Blasis’ Balletttheorie, die gleichzeitig auch eine Ballett-Pädagogik ist, in eine Reihe mit zeitgenössischen Bildungs- und Zeichenreformen gestellt und die Arabeske als ‚eingebildete Linienzeichnung‘ charakterisiert.
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Die Regel des Gleichgewichts und ihr abandon in der arabesque penchée Anhaltspunkte für eine technische Definition der Arabeske lassen sich von einer Ausnahmeregel ableiten, die Blasis in seiner Theorie der Pose einführt. Für Blasis ist die Arabeske eine Sonderform der Attitude. Im Titel des fünften Kapitels, in dem Arabeske und die Attitude technisch und theoretisch beschrieben werden, verbirgt sich die erste theoretische Setzung. Es werden „Positions principales et leurs dérivés; préparations, terminaisons des pas et des temps; poses, attitudes, arabesques, groupes, attitudes de genre“ angekündigt, wo nur die Attitude, Arabeske und eine einzelne Figurengruppe erläutert werden. Blasis erläutert hier implizit sein System der Posen. Die Attituden sind die „positions principales“, die Arabesken ihre Ableitungen, deren Funktion im Vorbereiten und Abschließen von Schritten besteht. Blasis’ zweite theoretische Setzung ist eine Übertragung von Leonardo da Vincis Kunsttheorie, die er für den Tanz erweitert, in dem er physikalische Lehrsätze in stilistische Vorgaben übersetzt. Die grazile Ausführung der Attitude und ihres Sonderfalls Arabeske verlangen von den Tanzenden – so Blasis – eine äußerste Beherrschung der Mechanik des Äquilibriums, da in diesen Posen ständig das Gleichgewicht (aplomb) austarieren werden muss. Quelle seiner Theorie des aplomb ist Leonardos Trattato della pittura, aus dem er zwei Gleichgewichtsprinzipien übernimmt: (a) ein perpendikulares Gleichgewicht zwischen Nacken und Fuß, das in aufrechten Posen zu beachten sei, wie auch (b) ein horizontales Gleichgewicht, das in Balance-Figuren zum Tragen komme, die die Senkrechte verlassen. Blasis bezieht sich hierbei auf Passagen von Leonardo, die die Darstellung von Bewegung im statischen Medium Malerei beschreiben und überträgt diese auf das bewegte Medium Tanz. Dabei werden die bei Leonardo stets im theoretischen Bereich, buchstäblich auf dem Papier, verbleibenden Theoreme körperlich realisiert und praktisch erprobt. Von dieser generellen Gleichgewichtsregel für Attituden und Arabesken sind bei Blasis die arabesque penchée und Attituden, in denen der Tänzer zur Bewegung ansetzt, jedoch ausgenommen. Die Sonderstellung dieser Posen wird besonders im Abbildungsteil deutlich. Zur Visualisierung des aplomb hat Blasis in den Abbildungen sogenannte Perpendikularlinien eingezeichnet, die den imaginären Verlauf der Schwerkraft nachzeichnen.38
38
Im Begriff „ligne perpendiculaire“ ist das Prinzip des Lot- oder Senkrechten über das perpendiculum eingeschrieben. In der Zeichentheorie existiert seit dem
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Blasis demonstriert die Linie wie auch ihr äquivalentes Gleichgewichtsprinzip an verschiedenen Position: „Appliquez-vous à donner un parfait équilibre au corps; et pour arriver à ce point certain, ne vous écartez pas de la perpendiculaire, qui doit prendre du centre des deux clavicules, et qui s’abaisserait, en traversant les chevilles des deux pieds.“39 Dieses perpendiculaire ist sowohl das physikalische Gesetz wie auch eine gestrichelte Linie, die im Abbildungsteil des Traité in zahlreichen Figuren eingezeichnet ist: sie läuft durch den Körper im aufrechten Stand (in Fig. 1 und 2 der Pl. II) und markiert den Schwerpunkt in Posen auf einem Bein, wie in den Attitudes in Fig. 1 und 2 von Pl. VIII (Abb. 8).40 Der arabesque penchée fehlt hingegen die Perpendikularlinie (Abb. 9), denn diese Figur überschreitet das Gesetz des perpendikularen Äquilibriums, da sie nach vorne zu fallen droht und den Übergang in Bewegung beinhaltet. Eine strenge Unterscheidung zwischen Attitude und Arabeske, wie sie heute üblich ist, lässt sich mit Blasis’ Theorie nicht treffen. Nur im Extrem der Arabeske, der arabesque penchée, tritt eine Tendenz hervor, die andeutet, wo ihre verborgene Identität liegen könne. Blasis spricht im Zusammenhang der Arabeske immer wieder vom abandon, das mit „gänzliche Verlassenheit; Abtretung (der Güter etc.); fig. Dahingebung; Leichtigkeit im Ausdrucke; scheinbare Nachlässigkeit im Benehmen; Vernachlässigung“ 41 übersetzt werden kann. Bereits vor dem Posenkapitel weist er mehrfach auf diesen Aspekt hin. In der „Étude du corps“ heißt es gleich zu Beginn: „Il faut que le corps soit toujours droit, et d’aplomb sur les jambes, excepté dans quelques attitudes, et principalement dans les arabesques, où il faut le pencher, le jetter en avant ou en arrière, selon la position […].“42 Am Schluss dieses Abschnitts bekräftigt er erneut: „NB. Dans les arabesques, le corps s’éloigne de la perpendiculaire, et doit se pencher avec un agréable abandon.“43
16. Jahrhundert eine diagrammatische Linie, die den Schwerpunkt im Körper bezeichnet. Jean Cousins Livre de Pourtraicture erwähnt eine „ligne perpendiculaire ou à plomb“. Jean Cousin: Livre de Pourtraicture (1585), Paris 1676, o.S. 39 40
Blasis, Traité Élémentaire, S. 65. In den Abbildungen des Code ist die Schwerpunktlinie nicht mehr eingezeichnet, dafür heißt sie dort im Text explizit „perpendicular line“.
41
J. H. Kaltschmidt: Neues vollständiges Wörterbuch der Französischen und Deutschen Sprache, 2. Auflage, Leipzig 1837, S. 1.
42
Blasis: Traité Élémentaire, S. 52.
43
Ebd., S. 56.
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Abbildung 8: „L’attitude (vue de profil)“, Tafel 8, Fig. 2
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
Abandon, so Flavia Pappacena, bezeichnet im 18. Jahrhundert einen Stil in der Ausführung von Posen und „indicates the soft flexion of the head and chest to one side […].“44 Blasis’ Hinweis kann aber auch ganz buchstäblich als Aufforderung zum Verlassen des Ideals des Senkrechten, zum abandon des aplomb in der Arabeske, gelesen werden. Die arabesque penchée wird so zur Verkörperung des abandon, denn Blasis hat sie als Ausnahme-Figur konzipiert, mit und durch welche/r sich das akademische Ideal des Senkrechten verlassen lässt, das für Blasis sonst in der Ausführung von Posen und Bewegung maßgeblich ist. 45
44 45
Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, S. 314. Beispiele für das akademische Ideal des Senkrechten außerhalb von Blasis finden sich z.B. in Pierre Rameaus Le Maître à Danser, Paris 1725 [Reprint New
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Abbildung 9: „Arabesque à dos tourné“, Tafel 11, Fig. 3
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
Die Regel des Gleichgewichts gibt er jedoch nicht vollständig auf, sondern er ersetzt ein Gleichgewichtsideal durch ein anderes. Francesca Falcone hat diese Veränderung pointiert als Verschiebung „[from] the Perpendicular to Equiponderance“46 beschrieben. Diese Veränderung in der Konzeptualisierung des Gleichgewichts ist folgenreich für die Ballettästhetik. Während das Ideal des Senkrechten (aplomb) die aufrechte Stellung des Körpers anhand eines Lots oder Senkbleis, das durch die Körpermitte verläuft, versinnbild-
York 1967], S. 15, 20 und 60. Vgl. Francesca Falcone, „The Evolution of the Arabesque in Dance“, in: Dance Chronicle 22/1 (1999), S. 71-117, hier S. 74 Fn. 6. 46
Ebd., S. 73.
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licht, ist das Gleichgewicht der equiponderance47 als eine Waage mit der Hüfte als Achse vorzustellen, deren zwei Seiten beständig austariert werden müssen. Blasis’ Beispiel einer Arabeske, die die Senkrechte zugunsten der (waagerechten) Balance verlässt, beugt den Oberkörper weit nach vorne.48 In der arabesque penchée, diesem Grenzfall der arabesken Spezialform der Attitude, führt Blasis so eine Spaltung ein und differenziert das Gleichgewichtsideal. Das aplomb wird verlassen (abandonné), jedoch in einer anderen, waagerechten Balance wieder aufgefangen. Der Schwung des abandon gibt das senkrechte Gleichgewichtsprinzip auf, überlässt sich aber nicht vollkommen dem Fall. Die arabesque penchée hält im Sturz nach vorn kurz vor dem wirklichen Fall inne, indem sie diesen zwar antizipiert, aber in einem neuen, waagerechten Gleichgewicht – zumindest für einen Moment – aufhält. Die (senkrechte) Gleichgewichtsregel führt – ex negativo, indem sie verlassen wird (abandonné) – zum einzigen Indiz einer Bestimmung der Arabeske nach der Theorie von Blasis. Denn mit der Gleichgewichtsregel begründet Blasis nicht nur die Haltung (Position) des ganzen Körpers, sondern leitet aus ihr auch eine Führung der Arme in Opposition zu den Beinen ab, als Gegengewicht zu ihnen. 49 Die Arabeske ist die einzige Figur, für die Blasis ein Abweichen von dieser Regel zulässt, und die Führung der Arme
47
Der Unterschied zwischen ‚Equilibrium‘ und ‚Equiponderance‘ ließe sich mit senkrechtem und waagerechtem Gleichgewicht übersetzen.
48
Diese Unterscheidung ermöglicht die spätere Differenzierung von Attitude und Arabeske, die heute in der Beugung des Oberkörpers liegt, der in der Arabeske weit nach vorn geht, während er in der Atttitude aufrecht bleibt. Ein weiterer, wenig sichtbarer, aber bedeutender technischer Unterschied ist die Ausdrehung der Hüfte in der Arabeske.
49
„C’est ce que nous dit Noverre dans l’exemple qu’il apporte de la marche de l’homme: ainsi quand il ajoute que l’Opposition est, lorsque l’homme, ou le danseur, a le pied droit devant, c’est-à-dire qu’il le porte en avant, il veut indiquer, que le bras gauche doit, pour balancer la déclinaison de la ligne du centre de gravité, se porter en même-temps en avant; ce qui donne de plus au danseur infiniment de grace, parce qu’il doit toujours éviter l’uniformité des lignes, comme la peinture le recommande à ses élèves.“ Fn. in Blasis: Traité Élémentaire, S. 58.
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dem Tänzer nach Geschmack (‚so grazil wie möglich‘) frei stellt.50 Die Definition der Arabeske würde sich so auf die Freiheit der Armführung in einer Gleichgewichtsposition zurückführen.
Exkurs ins 18. Jahrhundert Carlo Blasis ist nicht der erste, der sich theoretisch und praktisch mit einer Pose beschäftigt, die auf einem Gleichgewicht (und dessen Überschreitung) basiert. Der italienische Choreograf und Grotesktänzer Gennaro Magri beschreibt eine solche bereits im späten 18. Jahrhundert. Sein Trattato teorico-prattico di ballo von 1779 hält den Stand der italienischen Tanztechnik Mitte des 18. Jahrhunderts fest und gilt als einer der bedeutendsten Tanztraktate dieser Zeit. Ein ganzes Kapitel seiner Theorie des Tanzens ist der auch für ihn fundamentalen Frage des Äquilibriums gewidmet: „The Equilibrium is one of the fundamental principles of the Dance. It keeps the body straight and upright. What matters most in equilibrium is that the line, which divides each body into two equal parts from top to bottom, falls in the centre of the base.“51 Magri deduziert das Perpendikularprinzip aus der architektonischen Statik und unterscheidet sechs verschiedene Arten, den Körper im Tanz zu balancieren. Darunter befinden sich auch zwei Gleichgewichtsfiguren, deren Beschreibung der Attitude und Arabeske sehr ähnlich ist: „IV. With one foot in the air, and the whole body supported on the sole of the other. V. On the ball of one foot, holding the other in the air.“52 Magri definiert den Begriff Attitude53 zuerst allgemein im Sinne einer affektiven Haltung als „union of several poses, being an accompaniment of the
50
Er räumt diese Ausnahme in einer Bemerkung in der Liste der Abbildungen, also äußerst versteckt, ein: „On doit remarquer que dans les arabesques la position des bras s’écarte de la règle commune, et c’est au goût du danseur à savoir les placer le plus gracieusement possible.“ Blasis: Traité Élémentaire, S. 63.
51
Gennaro Magri: Theoretical and Practical Treatise on Dancing [Neapel 1779], übers. von Mary Skeaping, hg. von Irmgard E. Berry und Annalisa Fox, London 1998, S. 56. Vgl. dazu auch Rebecca Harris-Warrick, Bruce Alan Brown (Hg.): The Grotesque Dancer on the Eighteenth-Century Stage. Gennaro Magri and His World, Madison 2005.
52 53
Magri: Theoretical and Practical Treatise on Dancing, S. 57. Vgl. zur Attitude bei Magri auch Sandra Noll Hammond: „International Elements of Dance Training“, in: Harris-Warrick, Brown (Hg.): The Grotesque Dancer on the Eighteenth-Century Stage, S. 132-134.
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arms, the legs, the head, the eyes, which must express in which emotional state the person is found.“54 Der ganze Körper soll einen emotionalen Status ausdrücken, die Pose funktioniert quasi physiognomisch.55 Seine detaillierte Beschreibung identifiziert diese Figur jedoch als veritable Attitude: „In order to do this Theatrical attitude sur la place, it is necessary to be placed in one of the positions, and you begin by bending the knees and, in stretching, rise only on that leg which remains on the ground and on which the whole body will be supported in equilibrium, and the other leg is lifted in the air, curving it at the knee, and the arm on the same side is lifted in a half circle with the palm of the hand facing towards the chest; the body is turned in an oblique line to the side opposite that leg, which is in the air, with the head turned to the corresponding side, where the eloquence of the eyes express the state of the Ballante.“56
Im 18. Jahrhundert ist also die Attitude bereits als Figur des Gleichgewichts identifiziert, und in der italienischen Tanztradition technisch als Figur mit abgewinkeltem Bein kodifiziert. Variationen der Attituden aus der GroteskTradition, die attitudine sforzate, können als strukturelle Vorläuferin der Arabeske betrachtet werden.57 Es handelt sich dabei um charakteristische Posen des Scaramuccia, einer Aufschneiderfigur der italienischen Commedia dell’Arte, die in einigen Zeichnungen aus dem frühen 18. Jahrhundert dargestellt ist. Marian Hannah Winter zeigt in The Pre-Romantic Ballett eine Abbildung des ‚Scaramouche‘ in Arabesken-ähnlicher Pose aus dem Theatermuseum München, „Monsieur Dubreil dansant le Scaramouche a l’Opera“,
54 55
Magri: Theoretical and Practical Treatise on Dancing, S. 148. Vgl. zur Übertragung der wissenschaftlichen Disziplin Physiognomik auf die Bühne die grundlegende Studie von Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995.
56
Magri: Theoretical and Practical Treatise on Dancing, S. 148 f.
57
Der Grotesktanz im Italien des 17. Jahrhunderts unterscheidet sich vom danse noble und dem genre demi-caractère durch virtuose Sprünge, Akrobatik und einen großen pantomimischen Anteil. Kathleen Kuzmick Hansell: „EighteenthCentury Italian Theatrical Ballet. The Triumph of the Grotteschi“, in: HarrisWarrick, Brown (Hg.): The Grotesque Dancer on the Eighteenth-Century Stage, S. 15-32, hier S. 21.
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die sie auf die Zeit vor 1711 datiert.58 Auch Gregorio Lambranzis Neue und curieuse theatralische Tantz-Schul von 1716 enthält eine Reihe von Abbildungen des „Scaramu(t)za“, der stets ein Bein nach hinten streckt.59 Moira Goff hat diese als „forced attitudes“ [„attitudine sforzate“ 60 ] identifiziert, 61 eine verstärkte Form der regulären Attitude: „Those forced [attitudes, E.W.] will have more exaggerated poses than usual, denoted by the term itself. These are beyond the [normal, Mary Skeaping] position, and belong to the furies, who go beyond the norm in everything. They are also used in dances characterising the Oltramontani as well as Coviello, or Scaramuccia, dances full of diverse kinds of forced attitudes.“62
Nicht nur die Ähnlichkeit in der Abbildung, auch ihre Verbindung mit der Frage des Gleichgewichts und ihrer Überschreitung machen die „forced attitudes“ so zu einer Frühform der arabesque penchée. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Scaramuccia-Figur in dieser Pose auf einem Sockel gezeigt wird (in anderen Abbildungen steht sie auf dem Boden). Der Darsteller zitiert in dieser Pose, wie die Bildunterschrift bestätigt, eine Skulptur.63 Hat man es in den attitudine sforzate mit einer Variante des Posenstellens, wie in den Attitüden, zu tun? Carlo Blasis spezifiziert in seiner technischen Beschreibung der Attitude diesen Bezug zur Skulptur.
58
Marian Hannah Winter: The Pre-Romantic Ballet, London 1974, S. 27. In Winters Buch finden sich eine Vielzahl von Posen aus anderen Tanztraditionen – neben der Groteske auch die Unterhaltungstheater auf dem Pariser Boulevard – in denen sich Posen des Balletts des 19. Jahrhundert präfigurieren.
59
Gregorio Lambranzi: Neue und curieuse theatralische Tantz-Schul, Nürnberg 1716 [Reprint Leipzig 1975], Teil 1, Nr. 24, 26, 27. Umfangreiche Informationen zur – möglicherweise fiktiven – Person Lambranzis und der Druckgeschichte dieses Traktats finden sich bei Schroedter: Vom „Affect“ zur „Action“, S. 67-74.
60
Gennaro Magri: Trattato teorico-prattico di ballo, Neapel 1779, in: Carmela
61
Moira Goff: „Steps, Gestures, and Expressive Dancing. Magri, Ferrère, and John
Lombardi (Hg.): Trattati di danza in italia nel settecento, Neapel 2001, S. 197. Weaver“, in: Rebecca Harris-Warrick, Bruce Alan Brown (Hg.): The Grotesque Dancer on the Eighteenth-Century Stage. Gennaro Magri and His World, Madison 2005, S. 199-230, hier S. 204 f. 62
Magri: Theoretical and Practical Treatise on Dancing, S. 149.
63
Vgl. Lambranzi: Neue und curieuse theatralische Tantz-Schul, Teil 1, Tafel 24.
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Merkur als Vorbild der Attitude Blasis’ kunsthistorisches Vorbild für die Attitudenvariationen, zu denen er auch die Arabeske zählt, differenziert das Gleichgewichtsprinzip weiter aus. Als Modell der Körperpose Attitude gibt er Giambolognas Merkur-Statue an, und beruft sich damit auf eine „Ikone der europäischen Kunst“,64 die eine ganz ähnliche Frage im Medium der Skulptur behandelt, wie sie Blasis im Tanz beschäftigt: „La position, que les danseurs appellent particulièrement l’attitude, est la plus belle de celles qui existent dans la danse, et la plus difficile dans son exécution; elle est, à mon avis, une espèce d’imitation de celle que l’on admire dans le célèbre Mercure de J. Bologne. Le danseur qui se composera bien dans l’attitude sera remarqué, et prouvera qu’il a acquis des connaissances nécessaires à son art.“65
Giambolognas Merkur ist, so Dirk Syndram, „eine für die Möglichkeiten der Skulptur unerhörte Überwindung der Schwerkraft, eine manieristische Skulptur ‚par excellence‘.“66 Die dargestellte Figur, der römische Gott Mercurius, ist nach traditioneller Sichtweise eine Übertragung des griechischen Hermes67 und führt somit neben seiner römischen Funktion als Händlergott als Überrest seiner griechischen Funktion als Gott der Hermen, Hirten und Boten die Konnotation von Übertragung und Vermittlung (somit auch der Bewegung über lange Distanzen), sowie gleichzeitig der Grenzziehung und des Grenzübergangs mit sich.68 Giambologna hat sich wiederholt mit dem Merkur-Motiv beschäftigt. Zwischen 1563 und 1587 stellt er vier verschiedene Versionen des Mercurio volante in unterschiedlichen Größen her. Blasis’ Abbildung dieser Skulptur
64
Dirk Syndram: „Merkur“, in: ders., Moritz Woelk, Martina Minning (Hg.): Giambologna in Dresden. Die Geschenke der Medici, München/Berlin 2006, S. 10-17, hier S. 11.
65
Blasis: Traité Élémentaire, S. 67 f.
66
Ebd.
67
Zu neueren Version der Genealogie dieser mythologischen Figur, vgl. C. Robert III. Phillips: „Mercurius“, in: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 8, Stuttgart/Weimar 2000, Sp. 1-4.
68
Vgl. Massimo Di Marco: „Hermes“, in: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 426-432.
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vereinigt Merkmale unterschiedlicher Versionen. Die Darstellung im Traité Élémentaire, von der die des Code leicht abweicht, verweist eindeutig auf die vierte Version des Merkur von 1580, die „‚ultima ratio‘ der lebensgroßen Versionen des fliegenden Merkur“,69 die Giambologna für einen Brunnen im Garten der Villa Medici entworfen hat. In dieser Version berührt Merkurs Fuß einen (bronzenen) Windhauch, der von einem Zephyrkopf geblasen wird.70 In der Fassung, auf die Blasis sich dagegen bezieht, ist der Körperschwerpunkt der Figur nach vorn gelagert, sodass der Eindruck des Schwebens oder Fliegens entsteht.71 Blasis’ Verweis auf diese Skulptur ist bemerkenswert, da er im Merkur ein Vorbild in der Bildenden Kunst gefunden hat, das wie seine Theorie der Pose die Schwerkraft und seine Überwindung zum zentralen Gegenstand hat: „Rather than a movement, Giambologna’s Mercury continues the exploration of balance that began with the bronze Bacchus of the early 1560s, creating a work that directs attention to the figure’s axiality, and thus, with Leonardo, to the conditions that allow movement to happen. With works like these, paradoxically, depicted flight offered the ultimate means of achieving sculptural stasis.“72
Michael W. Cole hat aufgezeigt, inwiefern bereits Giambolognas Figuren eine skulpturale Auseinandersetzung mit dem Problem des Gleichgewichts sind – übrigens ebenfalls in Anlehnung an Leonardos Trattato.73 Das Thema der Bewegung, so stellt Cole für Giambolognas Statuen heraus, findet jedoch
69 70
Syndram: „Merkur“, S. 16. Der Code of Terpsichore hingegen tauscht den Windhauch mit einer (Erd-)Kugel aus, wie in der ersten Version für die Säulenbekrönung der Universität von Bologna (55,5 cm, 1563) und der zweiten, schwedischen Version (187 cm, ca. 1565).
71
Syndram: „Merkur“, S. 16. Es scheint von Bedeutung, dass Blasis sich gerade auf diese Version bezieht, da andere, wie z.B. die kleine Figur für den Herzog von Parma (57 cm, 1575-79), einen zurückgelagerten Schwerpunkt haben und Merkurs Fuß dort auf einer Kugel steht, sodass eher der Eindruck einer Landung entsteht.
72
Michael W. Cole: Ambitious Form. Giambologna, Ammanati, and Danti in Florence, Princeton 2010, S. 148.
73
Ebd., S. 147-153. Ein späterer Kopist des Trattato illustriert die Passage „on the ponderations of bodies that do not move“ mit einer Figur, die Cole als Giambolognas Merkur identifiziert, ebd., S. 150 f.
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keine direkte Abbildung in den Merkur-Figuren, sondern wird vermittelt über eine Diskussion des Gleichgewichts behandelt, das Leonardos Theorie folgend die Grundlage jeder Bewegung bildet. Diese physikalische These wird von Giambologna im Merkur nicht nur motivisch illustriert, sondern auch in der Ausführung der Figur exemplifiziert: „Giambologna […] tended to use the real balance required to make the block stand to reinforce the balance of the depicted figure, as if the ‚architectural‘ or engineering problems that large objects presented simply extended the anatomical analytics Leonardo had introduced. A work like the Mercury gives the impression not of a sculptor balancing a piece of metal so much as of a deity balancing himself. This coincidence of the real and the virtual also helps account for the seemingly contradictory responses viewers have had to Giambologna’s figures, sometimes describing them as moving, sometimes as still, sometimes as both at the same time. In fact, the figures are unambiguously still, insistent in their equilibrium. By treating equilibrium, though, not just as an achievement of engineering, permanently distributing weights, but also as the control condition for human movement, Giambologna naturalizes it. Once we read a statue as a figure balancing itself rather than a balanced figure, it becomes all the easier to see that figure as one capable of motion, one that has just moved or that might move again. Sculptural equilibrium was unavoidable; yet just as Giambologna embraced the stillness that was a necessary condition of his representation, so did he employ equilibrium in a way that depended on a strong sense of its opposite and that ultimately encouraged viewers to think about a movement they couldn’t really see.“74
Ausgehend von einem mechanischen Prinzip gelangt Giambologna so in seinen Merkur-Figuren zu einer Reflexion über Bewegung und Stillstand, die in den Betrachtenden die Fantasie einer Bewegung erzeugt, die er nicht sehen kann. Diese Reflexion erarbeitet er im Medium der Skulptur, die sich in ihrer faktischen Stasis vom (bewegten, aufgeführten) Tanz unterscheidet. Im Merkur erschafft Giambologna die Illusion von Bewegung über einen künstlerischen Einsatz des Äquilibriums. In Blasis’ Übertragung des Modells Merkur auf Tanz verschiebt sich dieses Spiel von Bewegung und Stillstand leicht, erzeugt aber einen ähnlichen Eindruck der zwischen Stillstand und Bewegtheit changiert. In der Idee von Bewegung, die Giambologna von Leonardo übernimmt, steht das Äquilibrium als ‚control condition for human movement‘ im Zentrum. Überträgt man mit dem skulpturalen Vorbild des Merkurs auch ihr im-
74
Ebd., S. 153. Herv. E. W.
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plizites Bewegungskonzept auf die Tanz-Pose Attitude (und totum pro parte auch auf die Arabeske), wird sie nicht nur zu einer Figur der Bewegung, sondern zu einer Figur über und Fantasie von Bewegung. Die Übertragung des statischen Modells der Merkur-Figur in den Tanz führt zum Halt in der Bewegung (die Pose steht zu Beginn oder zum Abschluss einer Schrittfolge), gleichzeitig überträgt sie jedoch auch ein Bild von Bewegung – denn auch wenn sie gehalten ist, insistiert in ihr Bewegung. Dabei ist der Begriff Figur hier besonders aufschlussreich, denn mit ihm lässt sich die Übertragung und das Insistieren der Bewegung in der gehaltenen Pose fassen. Die eingangs eingeführte „doppelte Betrachtungsweise von Figur als Plastik und von Figur als Bewegungsgestalt“75 wird im konkreten Fall von Blasis’ Bezugnahme auf Giambolognas Merkur besonders deutlich: sowohl das ‚Urbild‘ von Giambologna wie auch das Abbild (Blasis’ Attitude) sind Figuren, die gleichzeitig statisch-plastisch wie auch bewegt sind. Die Figuration der Attitude bei Blasis behält diese Spannung und oszilliert beständig zwischen diesen beiden Polen. In der Pose, wie in der Skulptur, erfolgt die Reflexion der Bewegung in der Unterbrechung der (Raum-)Bewegung. Denn auch wenn die ‚stillness‘ der Pose (um mit Michael W. Cole zu sprechen) im Tanz keine notwendige Bedingung der Repräsentation mehr ist, wird die ‚stillness‘ der Skulptur als Pause der Bewegung in den Tanz eingeführt. Die Tanzpose ist (wie der Merkur) nie statisch, da in ihr konstant das Gleichgewicht austariert werden muss. Sie ist eine gehaltene Spannung, eine insistierende Verhandlung des Gleichgewichts, bestehend aus unzähligen MikroBewegungen. Im Gegensatz zur in Bronze gegossenen Merkur-Figur ist die Pose im Tanz jedoch ambiguously still. Die Attitude ist nach Blasis’ Herleitung somit eine ästhetische Übertragung wie auch praktische Anwendung des mechanischen Gleichgewichtsprinzips. In der mythologischen Figur des Merkur finden auch Tänzer*innen ein Vorbild, das in der hier vorgestellten künstlerischen Umsetzung von Giambologna ähnliche formale Fragestellungen behandelt und gleichzeitig das Prinzip der Übertragung ästhetischer Figuren allegorisch reflektiert.
75
Brandstetter: „Figura: Körper und Szene“, S. 27. Vgl. S. 14 ff. dieser Arbeit.
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Verzweigte Herkünfte Im letzten Abschnitt des fünften Kapitels seiner Theorie des Tanzes widmet sich Blasis nun explizit der Arabeske. Seine ‚Theoretisierung‘ dieser Pose besteht aus mehreren Teilen. Sie beginnt mit der Nacherzählung der tanzhistorischen Genese dieser Figur und ihren verschiedenen Varianten. Im Haupttext hebt Blasis zuerst zu einem Lob dieser Figur an, die für ihn die Attitude ‚le plus gracieux‘ darstellt und eine Übertragung der kunsthistorischen Arabeske sei, wie man sie bei den Griechen und in Raffaels Loggien im Vatikan – den zwei loci classici der Arabeske um 1800 – finde: „Rien n’est plus gracieux que ces attitudes charmantes que nous nommons arabesques; les bas-reliefs antiques, quelques fragments de peintures grecques, ainsi que celles à fresque, des loges du Vatican, d’après les délicieux dessins de Raphaël, nous en ont fourni l’idée.“76
Es sind wiederum zwei extensive Fußnoten, in denen Blasis der Herkunft der Arabeske weiter nachgeht. Die erste Fußnote, die Erläuterungen zum Begriff arabesque verspricht, ist eine Umleitung und verweist auf eine weitere Fußnote aus einem früheren Kapitel. Diese beginnt mit einer Erläuterung des kunsthistorischen Ornaments gleichen Namens: „Arabica ornamenta (latin), terme de peinture: ce sont ces ornemens composés de plantes, d’arbustes, de branches légères et de fleurs, dont l’artiste forme des tableaux, et décore des compartimens, des frises ou des panneaux. Terme d’architecture: rinceaux d’où sortent des feuillages de caprice.“77
Von dieser ersten Bestimmung der Arabeske als ornamentales Laubwerk geht Blasis zur Beschreibung einer früheren Bedeutung der Arabeske im Tanz über. Eine Generation vor Blasis, ungefähr um 1800, wurde der Begriff wie bereits erwähnt zur Bezeichnung von ‚pittoresken‘ Gruppen von Tänzern und Tänzerinnen verwendet. Diesen Namen erklärt Blasis über eine visuelle Ähnlichkeit mit gemalten Arabesken: „Nos maîtres d’école de danse auront aussi introduit dans l’art cette expression, à raison des tableaux ressemblans aux arabesques de la peinture, par les groupes qu’ils ont
76
Blasis: Traité Élémentaire, S. 68.
77
Ebd., S. 24 f.
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formé de danseurs et de danseuses, s’entrelaçant de mille manières, avec de guirlandes, des couronnes, des cerceaux ornés de fleurs, et mélangés quelquefois d’instrumens antiques propres à la pastorale […]“78
Blasis bezieht sich hier auf ein zu seiner Zeit gängiges Verständnis des Ornaments Arabeske als ein sich verzweigendes System floraler und vegetabiler Elemente. Der Vergleich zwischen Bildmotiv und tänzerischem Gruppenarrangement über die Blumengirlande betont die vegetabile Abstammung der Arabeske und aktualisiert so ihre quasi-organische Fähigkeit zum Ranken, Winden und Verbinden. Eine fundamentale Rolle in der Übertragung auf den Tanz scheinen dabei die Requisiten zu spielen, auf die Blasis äußerst detailliert eingeht. Die Girlanden, Kronen und Reifen aus Blumen mit denen die einzelnen Figuren in ‚mille manières‘ verschlungen sind, stellen erst die Ähnlichkeit her, auf Grund derer diese Gruppen als arabesk bezeichnet werden. Die Benennung als Arabeske integriert diese Gruppen in einen zeitgenössischen künstlerischen Diskurs und wertet sie als Form auf, wobei die Requisiten, das theatrale Dekor, eine zentrale Funktion übernehmen. Die floralen Bänder verweisen dabei auf den Kern von Schönheitslehren dieser Zeit: in der Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts wird die Blume zu einem Paradebeispiel der Schönheit. Sie ist nicht nur zentrales Exempel der freien Schönheit in Kants Kritik der Urteilskraft,79 auch Friedrich Schlegel weist der Blume eine zentrale Position in der Ästhetik zu: „[Die] Blume ist die Form der Pflanzen, welche als der Schmuck der Natur, das Urbild für alle Zierraten, auch der menschlichen Kunst geworden sind.“80 Eine Umwertung des Ornaments und eine Aufwertung von Objekten der Zierde, zu denen die floralen Requisiten zählen, hat zur Folge, dass auch im Tanz vormals randständige Formen ins Zentrum gerückt werden. Somit
78
Ebd., S. 25.
79
Vgl. Jacques Derrida: „Das Parergon“, in: ders.: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 56-176; sowie Kap. 4. Zur Verbindung von Ästhetik und Botanik vgl. Isabel Kranz, Alexander Schwan und Eike Wittrock (Hg.): Floriographie. Die Sprachen der Blumen, Paderborn 2016, bes. die Einleitung.
80
Friedrich Schlegel: „Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich“ (1806), in: ders.: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 4, hg. von Hans Eichner, München 1959, S. 153-204, hier S. 179.
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wird auch das Gruppenarrangement, das zu Beginn des 19. Jahrhundert im Tanz als arabesk bezeichnet wurde, ästhetisch aufgewertet. Im Namen der Arabeske ist aber nicht nur ihre vegetabile Abstammung vom Pflanzenrankenornament aufgehoben, sondern auch eine Referenz auf eine vermeintlich geografische oder kulturelle Herkunft. Blasis erklärt den Namen des Ornaments mit einer (orientalistischen) etymologischen Herleitung: „On croit que ce goût a été apporté par les Maures, ou Arabes, d’où ce genre d’ornement a pris son nom.“81 Auch wenn Blasis in seiner Erklärung den floralen Aspekt des Ornaments betont, ist es bemerkenswert, dass er eine Tanzfigur, die er aus antiken Tänzerinnen-Darstellungen ableitet, mit einem orientalistischen Begriff bezeichnet.82 Die Herleitung dieser Figur aus dem Orient weist auf die implizite Fremdheit dieser Figur hin, die so eine Ausnahme von der Regel darstellt.83 Wie die ‚Moreske‘ nimmt die Arabeske hier den Platz einer Imagination von Fremdheit ein. Es geht dabei jedoch weniger um eine konkrete Referenz, als um ihre fantasmatische Aufladung – die Imagination, die diese Figur auslöst. Die Referenz auf den Orient bleibt bei Blasis eine implizite Aufladung, ein zusätzlicher ‚goût‘, der einen Überschuss in der Vorstellung darstellt. In der technischen Anleitung und der kunsthistorischen Herleitung dieser Pose kommt der Orient bei Blasis nicht mehr vor.
81 82
Blasis: Traité Élémentaire, S. 24 f. Auch E. A. Théleur behauptet eine choreografische Verwandtschaft der Arabeske mit ‚orientalischen‘ Tänzen, vgl. E. A. Théleur: Letters on Dancing. Reducing this elegant and healthful exercise to easy scientific principles, London 1831, S. 50: „I have not suceeded in discovering the authentic origin of the arabesques attitudes, but am inclined to think that we borrow them from the Spaniards, who for the most part do their steps with the same arm and foot. They, I conjecture, copied them from the Moors, who, in the eleventh century infested this country: this leads me to suppose that they derive their origin from the Arabians, and are thence called arabesques.“
83
Vgl. Claudia Jeschke, Nicole Haitzinger, Gabi Vettermann: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010; sowie dies.: „Les Choses espagnoles“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 175-193.
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Das Heraustrennen der Arabeske aus einem herculanischen Bacchanal Der zweite Teil von Blasis’ Arabesken-Abschnitt im fünften Kapitel seiner Tanz-Theorie widmet sich dem Verständnis der Arabeske als Pose. Im Titel des Kapitels hatte Blasis die Arabeske als Untergattung der Attitude bestimmt, deren Vorbild wiederum Giambolognas Merkur-Figur war. Für die Spezialform Arabeske gibt Blasis jetzt ein anderes Modell an. In der Arabeske sollen sich Tanzende nach antiken Wandgemälden und Raffaels Wandzeichnungen für die vatikanischen Loggien richten. Diese stilistische Anweisung verdeutlicht er mit einem Beispiel aus seiner eigenen choreografischen Arbeit. Er erläutert zuerst, wie er eine Figurengruppe in herculanischen Stil geschaffen hat, die Arabesken enthält: „Dans cette Bacchanale […] j’introduisis avec succès, pour donner à mes tableaux plus de caractère, et pour la rendre plus vraie et plus piquante, des attitudes, des arabesques et des groupes que m’offrirent les peintures, les bronzes et les marbres qui nous sont parvenus des fouilles d’Herculanum.“84
Das Bacchanale, das Blasis in seiner Zeit an der Mailänder Scala choreografiert hat,85 ist im Anhang seines Buches als Zeichnung abgebildet (Abb. 10). Diese Groupe principal d’une Bacchanale besteht aus drei Tänzern auf der linken und vier Tänzerinnen auf der rechten Seite. Die beiden männlichen Tänzer stellen Satyrn dar, sie pressen Trauben und spielen Panflöte. Sie schauen auf einen Tänzer im Sprung (möglicherweise Blasis selbst), der durch einen Thyrsos-Stab als Bacchus gekennzeichnet ist. Auf der gegenüberliegenden Seite steht eine Gruppe tanzender Frauen, die Musikinstrumente wie Crotales, ein Tympanon und eine kleine Lyra in den Händen halten. Diese Gruppe ist eine weitere Variation der Tänzerinnen von Herculaneum, die im zweiten Kapitel beschrieben wurden. Auch wenn sie keine exakte Kopie der Wandmalereien aus der Villa des Cicero ist, besteht diese Gruppe aus Elementen der berühmten Serie. Vom Bewegungsschwung über die
84
Blasis: Traité Élémentaire, S. 68 f.
85
Il Finto feudatario ist die einzige Choreografie von Carlo Blasis an der Mailänder Scala aus der Liste, die Flavia Pappacena zusammengestellt hat, die in den hier möglichen Zeitraum vor 1820 fällt. Beschreibungen dieses Balletts sind mir nicht bekannt. Vgl. Pappacena, Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1820-1830, S. 364 f.
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Drehungen der Körper, den wallenden Kleidern und freigelegten Brüsten, bis zu den Instrumenten, die sie in den Händen halten, erinnern die Tänzerinnen an die Darstellungstradition der Tänzerinnen von Herculaneum. Nur das Leopardenfell, das in einige ihrer Kleider integriert ist, ist eine spätere Zutat.86 Aus dieser Gruppe isoliert Blasis dann eine einzelne Figur, die er als Arabeske bezeichnet.87 Blasis’ Übertragung der Bildtradition der Tänzerinnnen von Herculaneum ins Ballett ist eine Schlüsselszene der Erfindung der Figur Arabeske. Laut Blasis sind es nämlich genau diese antiken Bacchantinnen, aus deren Gruppe er diese Figur isoliert, die die Verwendung des Begriffs Arabeske im Tanz legitimieren.
Abbildung 10: „Groupe principal d’une Bacchanale de l’auteur“
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
Blasis sichert die Begriffsübertragung des Ornaments Arabeske auf eine singuläre Pose im Tanz mit einer doppelten Begründung ab. Zwischen den gemalten Arabesken der Kunst, wie sie Blasis und seine Zeitgenossen auch aus der Herculaneum-Überlieferung kennen, und den gestellten Gruppen des Balletts besteht eine Ähnlichkeit in den Blumengirlanden, die die jeweiligen Einzelelemente der Komposition miteinander verbinden88 – so kommt
86
Unter der Abbildungen des Tänzerinnenpaars sind in der ersten italienischen Veröffentlichung, in Pitture Antiche d’Ercolano e contorni incise con qualche spiegazione, Bd. 1, Nr. 95 (Neapel 1757), Leoparden abgebildet, die mit Crotales spielen. Vielleicht ist ihr Fell im Verlauf der Überlieferung auf die Tänzerinnenkostüme übergegangen.
87
Vgl. zum Prinzip der Isolierung, das bei den Tänzerinnen von Herculaneum angewandt wurde, S. 70 ff. dieser Arbeit.
88
Vgl. das Zitat von Blasis auf S. 124 f. dieser Arbeit.
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durch eine metaphorische Verschiebung die erste Bedeutung der Arabeske als Gruppenfigur im Tanz zustande. Zweitens besteht eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen der einzelnen Figuren in dieser Gruppe mit den Posen der Figuren auf den antiken Wandgemälden. Blasis schreibt, die Attituden seiner Gruppe hätten ihn an die Bacchantinnen erinnert, die man von antiken Darstellungen kennt. Diese haben dann „par leur légèreté presque aérienne, à laquelle se réunit en même-temps la vigueur et le contraste des oppositions, ont en quelque sorte rendu naturel à notre art le mot arabesque.“89 Eine stilistische Ähnlichkeit zwischen dieser speziellen Attitude und der Bildform Arabeske – die Leichtigkeit, mit der sie Kontraste vereint – legitimiert nun ebenfalls die metonymische Übertragung auf die einzelne Körperfigur, durch die Leichtigkeit mit der diese das Gleichgewicht hält.
Diese doppelte diskursive Absicherung, die nur aufgrund der begrifflichen Ambiguität des Ornamentbegriffs als Stilkategorie und konkretes BildMuster funktioniert, führt zur ‚Erfindung‘ der Arabeske im Ballett. Anhand antiker Vorbilder aus der Malerei hat Blasis eine Bühnenszene inszeniert, aus der er dann wiederum eine Einzelgestalt, eine einzelne Figur, isoliert. Blasis abschließende Bemerkung, dass die beinahe luftig-überirdische Leichtigkeit der Darstellung der antiken Tänzerinnen den Begriff Arabesque für den Tanz habe natürlich erscheinen lassen, schließt die zirkuläre diskursive Begründung seiner Erfindung der Arabeske ab. Der gedankliche Sprung zwischen dem Ornament Arabeske und der tänzerischen, ‚leichten‘ Pose Attitude wird über den Zwischenschritt der Bildtradition der Tänzerinnen von Herculaneum legitimiert. Die Ausführungen in Kapitel 2 dieser Arbeit zeigen dabei die notwendigen Vorstufen, die diese Übertragung ermöglicht haben. Diese kurze Textstelle aus Blasis’ Traité Élémentaire erweist sich somit als zentrales diskursives Scharnier in der Genealogie der Arabeske. Eine gleichzeitig metaphorische und metonymische Verschiebung hat bei Blasis zur ‚Erfindung‘ der Arabeske geführt – eine Erfindung, die keine wirkliche formale Neuerung ist, sondern größtenteils im Akt des Umbenennens besteht, der diese Pose mit stilistischen Referenzen auflädt, und die Fähigkeit der Arabeske, verschiedene Stränge zusammenzuführen, aktualisiert. Neben der
89
Blasis: Traité Élémentaire, S. 25. Zur Leichtigkeit vgl. ebenfalls die Charakterisierung der Tänzerinnen von Saint-Non wie auch von Winckelmann in Kap. 2 dieser Arbeit, sowie Christina Thurner: „Wie eine Taubenfeder in der Luft. Leichtigkeit als utopische Kategorie im Ballett“, in: figurationen. Gender, Literatur, Kultur 4/1 (2003), S. 107-116.
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Freiheit in der Armführung besteht somit der Unterschied zwischen der Attitude und der Arabeske vornehmlich im Namen und in den stilistischen Konnotationen, die dieser auf eine bereits existierende Pose (zitierend) überträgt. In dem Moment, in dem Blasis die Arabeske aus der Gruppenformation herauslöst und als singuläre Figur identifiziert, verliert die Arabeske (vorerst) ihre Rapportfähigkeit, die sie als Gruppenfigur noch besitzt. Sie wird nun als einzelne Figur einsetzbar und steht eher am Schluss von Schrittkombinationen, als dass sie ein wiederholbares Element in einer Abfolge wäre. Auch wenn die Arabeske keiner der gängigen Vorlagen des Lokalkolorits entstammt und auch Blasis der geografischen Spur im Namen nicht weiter folgt, hängt der Arabeske dennoch eine spezifische Fremdheit an. Über ihre Ableitung aus den antiken Tänzerinnen von Herculaneum besitzt sie einen „couleur des temps“, einen Zeitkolorit, der im Musiktheater des frühen 19. Jahrhunderts ein ebenso gängiges theatrales Stilmittel ist wie der Lokalkolorit.90 Das Bild der Antike hat sich im Übergang vom 18. Jahrhundert zum 19. Jahrhundert jedoch verschoben: von einer kunsthistorischen Referenzgröße zu einem Geschmack der Vergangenheit. Mehr als eine exakte kunsthistorische Referenz ist die Arabeske nun Mitte des 19. Jahrhunderts Träger einer nominellen Andersheit und Auslöser einer Fantasie von Bewegung. Carlo Blasis führt in seinem Traité Élémentaire die Arabeske als vielschichtige Figur ein. Sie ist einerseits Sonderfall der Attitude, in der das bestimmende Gleichgewichtsprinzip an die Grenze geführt und eine gewisse Freiheit der Ausführung gewahrt wird, die Bewegungsanmutung im Stillstand erzeugt, und andererseits vereint sie Motive des Pflanzenrankenwuchs, Orientalismus und aus der Antike. Seine Theorie bzw. Herleitung der Arabeske ist keine ‚saubere‘ Definition, stattdessen verwebt er – arabesk – diese verschiedenen Stränge zu einem dichten Bild.
90
Vgl. Anselm Gerhard: Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1992, S. 146. Dort auch der Hinweis, dass Walter Scotts historische Romane für ihren „couleur des temps et des lieux“ gelobt wurden.
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E INGEBILDETE L INIEN Blasis’ Instruktionsmethode Ein grundlegendes Merkmal, das Blasis’ Theorie des Tanzes auf mehreren Ebenen durchzieht, ist deren Anlage zwischen Text und Bild. Dieser Aspekt ist für den Gesamtzusammenhang des Ornamentalen im Ballett des 19. Jahrhunderts zentral: hierin zeigt sich, dass mit der Arabeske in den Tanz nicht nur ein Ornament aus der Bildenden Kunst übertragen wird, sondern mit dieser Übertragung auch eine Reflexion über den Schrift- und Zeichencharakter von Tanz. Die Genese der (tänzerischen) Arabeske fußt auf einem (zeichnerischen) Denken der Linie. Viele der in diesem Kapitel bereits aufgeführten Aspekte sind – implizit oder explizit – zwischen Schrift und Bild situiert. Blasis wechselt in seiner Argumentation, sowohl in den Ausführungen zum Gleichgewicht wie auch zu den ästhetischen Vorlagen der Posen, zwischen Text- und Abbildungsteil des Traité. Ihre Evidenz gewinnt seine Argumentation aus den Verweisen und Beziehungen zwischen schriftlicher Erläuterung, historischer Herleitung, ästhetischer Theorie und visueller Demonstration. Abbildungen und Text des Traité Élémentaire konstituieren so im medialen Verbund ein pädagogisches Programm, das auf der Kombination von diskursiver und grafischer Anweisung sowie von technischer Übung und projektiver Imagination beruht. Im Vorwort des Traité stellt Blasis dieses pädagogische Programm detailliert vor. Er grenzt sein Vorhaben von Noverre ab, dessen Lettres sur la Danse, et sur les Ballets sich vornehmlich an den „compositeur“ (also den Choreografen) richten, während Blasis die Schüler*innen selbst adressieren möchte. Seine pädagogische Methode beruht dabei auf einem Vor-Augen-Stellen der Posen mit Hilfe grafischer Medien, die die Übermittlung und Unterweisung ‚effizienter‘ und ‚sicherer‘ gestalten.91 Die Figuren, die Blasis jeweils am Ende der Traktate abdrucken lässt,92 haben dabei nicht nur illustrative Funkti-
91
„J’ai préféré ce nouveau moyen, certainement plus sur et plus efficace, à celui d’une longue et fatigante description des mouvemens de la danse, qui ne ferait souvent qu’embarasser et confondre l’esprit de l’élève.“ Blasis: Traité Élémentaire, S. 16.
92
Die Tafeln des Traité Élémentaire wurden laut Blasis von „Casartelli“ gezeichnet und von Giovanni Rados gestochen. Ebd., S. 16.
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on, sondern dienen ihm als Absicherung der instruktiven Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden. Die leibliche Anwesenheit des Lehrenden ist im Medium Buch suspendiert und Blasis lässt sich in effigie, durch die Abbildungen vertreten. Tatsächlich sind die Figuren, so schreibt er im Traité Élémentaire, nach seinem Vorbild gefertigt, sodass die Lernenden in ein mimetisches Verhältnis zum (abwesenden) Meister treten können. Sabine Huschka hat Blasis Traité Élémentaire so unter dem Gesichtspunkt einer „Instruktion zur Anmut“ betrachtet. Der Traité Élémentaire „medialisiert ausdrücklich ein bislang ausschließlich der Meisterhand in seiner praktischen Ausübung vorbehaltenes Wissen und kompiliert es zu einem instruktiven Elementarlehrbuch für Tänzer und Zuschauer. Ihrer beider Wissen über den Tanz als Kunstform soll gezielt eine technische, durch Wort und Bild medialisierte Grundlage erhalten, so daß sich ihnen beider Tanz […] in seinem Charme und seiner brillierenden Perfektion erschließen kann.“93
Huschka unterstreicht dabei die gewandelte Funktion der Lehrenden. Deren Meisterschaft liegt nun in der Erläuterung, worin sie Wissenschaftler*innen gleichen, und sie integrieren ihre Schüler*innen mit den Zeichnungen selbstverantwortlich in den Lernprozess. Wenn man das pädagogische Programm von Blasis’ nun in seinen Einzelschritten betrachet, tritt die spezifische Funktion der Zeichnung zum Vorschein. Zentral dabei ist die grafische Formalisierung des Tänzer*innenkörpers zum (abstrakten) Liniengeflecht der Arabeske. Blasis bedient sich in seiner Pädagogik verschiedener grafischer Medien. Sein erstes pädagogisches Medium ist das Buch; der Traité Élémentaire ist als Unterrichtsvorlage konzipiert. Dort greift Blasis mit seinen instruktiven Figuren und ihren eingezeichneten Perpendikular- und Strukturlinien auf eine Verbindung von Text und Zeichnung zurück. In einer Fußnote entwirft Blasis jedoch eine zweite – radikalere – Bildpraxis, die er einführen würde, falls er selbst eine Ballettschule leiten würde.94 Es handelt sich dabei um
93
Sabine Huschka: „Wissen vom Tanzen“, S. 118 f.
94
Ob er diese dann tatsächlich eingesetzt hat, als er 1837 Direktor der Akademie in Mailand wurde, ist nicht sicher. Andrei Levinsons Bericht sowie die Bemerkungen in Notes upon Dancing legen dies jedoch nahe. Dort heißt es, Blasis habe seine Pädagogik auf „lines and outlines“ begründet. Andrei Levinson: Meister
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seine Nouvelle méthode, für die er ein abécédaire von geraden Linien erfinden würde, die alle Positionen der Körperglieder repräsentieren. Diese können im Unterricht an der Tafel vorgezeichnet, wie auch von den Lernenden selbstständig auf kleinen Schiefertafeln nachgezeichnet und daheim studiert werden, „comme l’enfant qui commence à syllaber, étudie dans son ABÉCÉDAIRE, sans avoir près de lui le maître … et son fouet.“95 Abbildung 11: Blasis’ abécédaire des Körpers
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
Was diese beiden pädagogischen Medien – das Buch und die Nouvelle méthode – verbindet, ist der Einsatz von Linien. „Pour mieux parvenir au but que je me suis proposé de la formation d’un bon danseur, je joins aux préceptes que contient mon Traité, des figures que j’ai fait dessiner d’après moi-même; elles représentent les positions du corps, des bras, des jambes; les différentes poses, les attitudes et les arabesques. Les élèves ayant ces exemples sous les yeux, comprendront facilement les principes théoriques que je leur enseige: ‚Segnius irritant animos demissa per aurem quam quæ sunt oculis subjecta fidelibus…‘ et pour que leur exécution soit parfaite, je leur trace, sur les principales positi-
des Balletts, Potsdam 1923, S. 112 f.; Carlo Blasis: Notes upon Dancing, Historical and Practical, London 1847, S. 62. 95
Blasis: Traité Élémentaire, S. 16.
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ons de ces figures, des lignes, qui fixeront la véritable manière de se poser, et de se dessiner dans les diverses attitudes de la danse.“96
Blasis stellt (sich) im Traité Élémentaire eine Praxis der (grafischen) Einbildung von Linien vor, die grundlegende Veränderungen der Ästhetik des Balletts im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Bereits in die instruktiven Figuren im Anhang hat Blasis über die Körperformen technische Hilfslinien einzeichnen lassen.97 Diese Linien sind in zwei Funktionen und zwei (Im-)Materialitäten ausdifferenziert. Je nach Zusammenhang sind sie Perpendikularlinie oder abstrahiertes Körperschema. Sie indizieren, wie oben beschrieben, als Perpendikularlinie die Schwerkraft und bezeichnen den Mittelpunkt des Körpers in Balance-Figuren wie Attitude und der einfachen Arabeske. Sie können aber auch Strukturlinie sein, die mitten durch den Körper verläuft und die einzelnen Glieder auf Linien reduziert. All diese Linien haben einen ambivalenten materiellen Status. Einerseits bestehen sie aus Druckerschwärze, die im Papier getrocknet ist, andererseits sind sie in der Vorstellung eingebildete Linien, die auf den Körper zurückprojiziert werden. Blasis’ Methode setzt, so hat es Huschka formuliert, Tanzende in den Stand, „aus der vorstellenden Wahrnehmung [ihrer] körpereigenen Funktionskomplexe ein ästhetisches Handlungsmodell zu bilden, das ein Bildprogramm in die tänzerische Figuration senkt.“98 Blasis’ Methode der bildlichen Instruktion liegt ein phantasmatisches Vor-Augen-Stellen zu Grunde, das die Beziehung zwischen ‚Meister’ und Schüler*innen um ein Drittes, das externalisierte grafische Medium und sein Pendant in der Einbildungskraft, erweitert. Ihre Linien ersetzen den realen Körper in der Einbildung und zeigen die Kraft- und Strukturlinien an, die diesen durchlaufen.
96
Ebd,, S. 14 f. Das lateinische Zitat stammt von Horaz. Eckart Schäfer übersetzt: „Schwächer erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verläßlichen Augen gebracht wird.“ Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch, übers. und hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1972, S. 14 f.
97
Im Code of Terpsichore, in dem die Figuren angekleidet und geschlechtlich differenziert werden, sind diese Hilfslinien nur in Tafel III eingezeichnet. Im Traité Élémentaire gibt es sie auf fast jeder Tafel.
98
Huschka: „Wissen vom Tanzen“, S. 129.
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Abbildung 12: Perpendikular- und Strukturlinien
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
Blasis’ Bild-Programm im Traité Élémentaire ist ein Bildungs-Programm, er entwickelt seine Reformulierung der Tanzästhetik aus dem Geist des Zeichenunterrichts. Mehrfach appelliert Blasis im Traité Élémentaire an seine Schüler, sich dem Studium des Zeichnens (und der Musik) zu widmen: „Je terminerai mes instructions par recommander aux jeunes élèves l’étude indispensable du dessin et de la musique; rien ne sera plus utile à leur art. Dessinateurs, ils y gagneront des manières gracieuses et élégantes de se poser, de se développer avec aisance […].“99
Dass Blasis die Bildende Kunst – wie schon Noverre im 18. Jahrhundert – als Vorbild für den Tanz angibt, wurde schon mehrfach bemerkt. Sein Aufruf zum Zeichenstudium lässt sich jedoch auch in einem anderen Kontext seiner Zeit verorten, in der Reform des Zeichenunterrichts, die im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzt.100 In Blasis’ Reformidee der Ballettausbildung
99
Blasis: Traité Élémentaire, S. 35 f.
100 Flavia Pappacena hat bereits auf diesen Zusammenhang hingewiesen, ohne jedoch die damit einhergehende Formalisierung zu reflektieren, vgl. Pappacena: Carlo Blasis’ Treatise on Dance 1830-1830, S. 247.
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mithilfe eines Figuren-ABCs lassen sich grundlegende Elemente von Johann Heinrich Pestalozzis Verfahren des Linearzeichnens und seiner elementaren Zeichen- und Wahrnehmungsschule, dem „ABC der Anschauung“, wiederfinden. Grundgedanke dieser Zeichenlehre, die Pestalozzi zur Jahrhundertwende skizziert, ist, dass die Lernenden zuerst einen grundlegenden Zeichenschatz von geraden und krummen Linien erlernen, die sie dann zu geometrischen Figuren kombinieren und aus diesen Stück für Stück die Welt in der Wahrnehmung zusammensetzen. Pestalozzis Elementarpädagogik Bereits im 18. Jahrhundert werden solche elementar-genetischen Methoden in der Schreib-Pädagogik eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt besinnt sich, wie Wolfgang Kemp formuliert, „die allgemeine Pädagogik der Verwandtschaft [von Zeichnen und Schreiben] wieder und entwickelt, was im 16. Jahrhundert zumal im Zeichenunterricht nur Versuch blieb: eine elementargenetische Methode.“101 Die Überlegungen von Alberti, Dürer und Leonardo zur Elementarisierung von Zeichnung und Schrift werden dabei von verschiedenen Pädagogen wie Friedrich Hertzberg oder Karl Gottlieb Rüger wieder aufgenommen.102 Erst Pestalozzi entwickelt aus diesen Verfahren jedoch eine veritable Methode der Elementarbildung, die er mit einer Anschauungslehre kombiniert: „Aus den Hilfslinien zum Schreibunterricht wird das Fundament einer Anschauungslehre, einer elementaren Pädagogik, welche die einzelnen Fertigkeiten oder Fächer des Redens, Schreibens, Lesens, Zeichnens und Rechnens zur ‚Sache der Anschauung‘ macht, also aus diesem Fundament ableitet.“103 Anstelle des Einzelunterrichts, in dem Schüler*innen individuell nach Vorlagen des ‚Meisters‘ zuerst andere Zeichnungen und später reale Objekte kopieren, setzt Pestalozzi eine Methode, die vor einer Gruppe unterrichtet werden kann. Der Lehrende erläutert zunächst die einzelnen Elemente von Pestalozzis Zeichen-ABC an der Tafel und lässt sie dann von den Lernenden nachzeichnen, die anschließend diese geometrischen Formen bzw. „Figuren“ in der realen Welt wiederfinden sollen. Der Unterricht geht dabei von einfachen Punkten über gerade und gekrümmte
101 Wolfgang Kemp: „…einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen“. Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500-1870. Ein Handbuch, Frankfurt/Main 1979, S. 131. 102 Chronologie und Genealogie folgen der Studie von Kemp, ebd., S. 283-288. 103 Ebd., S. 289 f.
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Linien (als Verbindung zweier Punkte) zu immer komplizierter werdenden Kombinationen von Linien und geometrischen Figuren. Allgemeines Ziel der Methode ist dabei neben der Schulung des Anschauungs- und Darstellungsvermögens auch die Herausbildung des Schönheitsgefühls bei den Schüler*innen. Pestalozzis Zeichenpädagogik, die bereits ab 1802 von Schülern wie Herbart oder Josef Schmid erweitert und in Buchform publiziert wird, verbreitet sich bald auch in Frankreich in pädagogischen Zeitschriften und Übersetzungen. 104 Neben eigenständigen Entwürfen, wie von Louis-Benjamin Francœur, 105 wird 1819 unter der Leitung eines der wichtigsten PestalozziSchüler, Johannes Ramsauer, ein Cours élémentaire et pratique de dessin, d’après les principes de Pestalozzi in Frankreich veröffentlicht.106 Carlo Blasis’ Traité élémentaire, théorique et pratique de l’art de la danse verweist, wie die Zeichenprogramme des frühen 19. Jahrhunderts bereits im Titel, auf das Prinzip der Elementarisierung. Wie diese das Zeichnen in seine Elemente zerlegen, nimmt Blasis eine Elementarisierung des Tanzens vor. Blasis behandelt den Körper separiert in Beine, Arme und generelle Haltung, und das Bewegungsmaterial aufgeteilt in Schritte, Posen und Pirouetten. Diese theoretisch-pädagogische Separation des Traité Élémentaire findet seine Entsprechung im Aufbau des Balletttrainings im frühen 19. Jahrhundert, wie er u.a. in den Übungen am Ende des Traité Élémentaire niedergelegt ist. Dort werden zuerst die Bewegungen der Arme und Beine an der Ballett-
104 So zum Beispiel in Marc Antoine Jullien: Esprit de la méthode d’éducation de Pestalozzi, 2 Bd., Mailand 1812. Dort wird das Zeichnen bereits in den verschiedenen Schritten von den Handübungen, über die geometrischen Elementarformen bis zur Komposition und Schulung des Anschauungsvermögen als „instrument universel“ dargestellt. Ebd., Bd. 2, S. 187-198. Im Gegensatz zu den spezifischen Einführungen in die Zeichenlehre enthält diese allgemeine Einführung in Pestalozzis Pädagogik keine Abbildungen mit Beispielen für den Zeichenunterricht. 105 Louis-Benjamin Francœur: „Rapport fait par M. Francœur à la Société d’instruction élémentaire, sur l’enseignement du dessin“, in: Journal d’éducation, 6/10 (1818), S. 206-210. 106 Alexandre Boniface: Cours élémentaire et pratique de dessin, d’après les principes de Pestalozzi: suivi a Yverdun, sous la direction de M. Jn Ramsauer, publié avec de nombreuses modifications par A. Boniface, disciple de Pestalozzi. Orné de 48 Planches dessinées et gravées par Hocquart, Paris 1819.
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stange und in der Mitte des Raumes einzeln (elementarisiert) trainiert, um sie anschließend zu Schrittkombinationen zusammenzuführen.107 Diese Elementarisierung setzt sich im Zeichen-System von Blasis’ pädagogischer Methode fort. Er entwirft dort: „une espèce d’abécédaire composé de lignes droites, pour toutes les positions de leurs membres, donnant à ces lignes et à leurs combinaisons respectives, les dénominations adoptées par les géomètres, savoir de perpendiculaires, d’horizontales, d’obliques, d’angles droits, aigus, obtus, etc. Langage que je crois même indispensable dans nos leçons, en tracant sur l’ardoise ces figures par des lignes droites, comme dans l’exemple donné ici […].“108
Blasis’ Figurensystem, wie er es im Traité Élémentaire an zwei Figuren beispielhaft demonstriert (vgl. Abb. 11), ähnelt dabei stark dem elementaren Formenschatz der Linearzeichenmethoden (Abb. 13). Blasis übersetzt seine Elementarisierung des Körpers und des Bewegungsvokabulars in ein Zeichenvokabular, das er explizit als Sprache (langage) bezeichnet, um die Kommunikation im Ballettunterricht zu verbessern und die Verständigung zwischen Lernenden und Lehrenden zu vereinfachen, da es sie objektivierund überprüfbar macht. Darüber hinaus, und das ist im Zusammenhang dieser Arbeit von großer Bedeutung, entwickelt Blasis mit diesem Linienalphabet ein analytisches und ästhetisches Werkzeug.109 Ähnlich wie Pestalozzis „ABC der Anschauung“ es den Lernenden ermöglicht, die natürliche Welt als Kombination geometrischer Grundfiguren und Ensemble von Linien zu sehen, können Tänzer*innen mithilfe von Blasis’ abécédaire (seiner Körper-Figuren-Schrift) und den Struktur- und Perpendikularlinien ihre eigenen Körper als abstraktes Liniengeflecht begreifen. Wie die Methode des Pestalozzischen Linearzeichnens bildet auch Blasis’ Konzept einer Linearisierung der Gliedmaßen ein abstrahiertes Vorstellungsbild des Körpers, das sich operativ einsetzen lässt.110
107 Sandra Noll Hammond hat den Stand des Balletttrainings zu Beginn des 19. Jahrhundert aus verschiedenen Quellen rekonstruiert. Sandra Noll Hammond: „Clues to Ballet’s Technical History from the Early Nineteenth-Century Ballet Lesson“, in: Dance Research 3/1 (1984), S. 53-66. 108 Blasis: Traité Élémentaire, S. 15. 109 Blasis Zeichensystem stellt somit eher eine Schrift als eine Sprache dar. 110 Im Gegensatz zum höfischen Ballett werden aber keine Buchstaben gebildet, oder eine lesbare Schrift erzeugt. Vgl. Franko: Dance as Text, S. 16 ff.
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Abbildung 13: Übungen aus Pestalozzis Elementarmethode
J. F. Ladomus: Zeichnungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen, Leipzig 1805.
Einer der operationalen Effekte dieser Körperschrift ist die Formalisierung körperlicher Schönheit.111 Paul de Man hat anhand von Heinrich von Kleists
111 Die Instruktion zur Anmut hat dabei deutlich (körper-)disziplinierende Züge. Ästhetik ist so immer schon an Machttechniken gebunden. Dorion Weickmann hat die Geschichte des Balletts als fortschreitende Disziplinierung des Körpers beschrieben: „Der Akteur soll seinen Leib vergessen machen, im Bewußtsein des Zuschauers auslöschen und seine hart erkämpfte Kunstfertigkeit kaschieren. Das romantische Ballett dupliziert diese formale Auflösung auch in seinen Inhalten: Nicht umsonst sind seine Heldinnen häufig dem Tod geweiht. […] An die Stelle der frühneuzeitlichen posa, die dem Tanzenden einen Augenblick der Selbstbestimmung bescherte, ist im Lauf der Jahrhunderte eine Erstarrung getreten, ein atemloses Innehalten, das – einzig auf Wirkung bedacht – die virtuose Körperbeherrschung zur Schau stellt.“ Dorion Weickmann: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870), Frankfurt/Main 2002, S. 154 f. Vgl. für eine differenzierte Analyse Foster: Choreography & Narrative.
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Aufsatz Über das Marionettentheater die Verschränkung von Pädagogik und ästhetischer Formalisierung um 1800 aufgezeigt,112 die sich auch in Blasis’ ästhetischem und pädagogischen Entwurf des Traité wiederfindet.113 Ästhetische Kategorien wie Geschmack (goût) und Grazie (grâce) werden in seinem Liniensystem mess- und somit imitierbar gemacht: „Ce sera aux élèves à bien étudier ces lignes géométriques, en observant leur diversité. Lorsqu’ils seront parvenus à s’assujettir à ce travail, que j’oserai dire mathématique, à cause de sa rigueur, ils seront surs de se bien placer, et ils donneront des preuves qu’ils sortent d’une bonne école, dans laquelle ils ont acquis un goût pur.“114
Eine solche lineare „Instruktion zur Anmut“ kann im frühen 19. Jahrhundert auf ein theoretisches Repertoire von Schönheitslinien aus dem 18. Jahrhundert, wie die Bildformel der S-Linie,115 zurückgreifen. In seiner Methode der linearen Körpervorstellung verbindet Carlo Blasis Elemente von Hogarths Schönheitslinie und Pestalozzis Elementarlinien zu einer linearen Instruktion von Anmut. Hogarths Schönheitslinie William Hogarth hat Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner Analysis of Beauty Schönheit als Linie bestimmt, die sich in den Oberflächen und Formen der Welt wiederfinden lässt. Der Einbildungskraft kommt auch in diesem Prozess der Linearisierung eine zentrale Rolle zu. Man müsse sich, so Hogarth, Gegenstände als ausgehöhlt vorstellen und ihre Oberfläche als eine dünne Schale, die aus „dicht miteinander verknüpften Fäden besteht.“116 Die „Ein-
112 Paul de Man: „Ästhetische Formalisierung. Kleists Über das Marionettentheater“, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt/Main 1988, S. 205-233. 113 Vgl. Brandstetter: „The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik“, in: dies., Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg 2004, S. 49-72. 114 Blasis: Traité Élémentaire, S. 15 f. 115 Vgl. S. auch S. 77 ff. dieser Arbeit (Abschnitt„Das Bild der Grazie“). 116 William Hogarth: Analyse der Schönheit, Hamburg 2008, S. 40. Im Englischen: „very fine threads, closely connected together“, William Hogarth: The Analysis of Beauty. Written with a view of fixing the fluctuating Ideas of Taste, London 1753, S. 7.
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bildungskraft wird sich natürlicherweise in den leeren Raum innerhalb dieser Schale versetzen“ und diese Fäden als Linien wahrnehmen.117 Hogarths zentrales Analysewerkzeug sind (ästhetische) Figuren, für die er in zwei Bildtafeln Beispiele gibt, und die man betrachten soll, wie jene, die der Mathematiker aufzeichnet, „um der Vorstellungskraft bei seiner Beweisführung behilflich sein zu können, obwohl nicht eine Linie vollkommen gerade ist oder die bestimmte Krümmung aufweist, von der er gerade handelt.“118 Mithilfe der Linien, die zwar ausschließlich in der Vorstellung existieren, deren Evidenz jedoch erst über die (lineare) Abbildung hergestellt wird, macht Hogarth Schönheit und Grazie operationalisierbar und handhabbar. Carlo Blasis stützt sich auf ein analoges Verfahren und entwirft ebenfalls ein Liniensystem, in dem sich Mechanik und formalisierte Schönheitslinie zu einer „Matrix der Grazie“ verbinden.119 Blasis bezieht sich – im Code of Terpsichore – dabei explizit auf Hogarths Analysis of Beauty: „The first study of the pantomimic actor ought to be dancing; to acquire which, he must devote a few years of steady application, that he may know it well, and be thus enabled to profit by its advantages. Some notion of drawing would be also very useful to him. Here let us observe, with the celebrated Hogarth, ‚that all those actions which are continually employed in our ordinary and daily occupation, are performed nearly in right lines, or as nearly so as possible; but all graceful movements, which display cultivated manners, are performed in undulated lines.’ — Analysis of Beauty.“120
In der Analysis of Beauty konnte Blasis aber weit mehr finden, als die lineare Vorlage einer grazilen, ‚undulierenden‘ Bewegung in Form der S-Linie. Hogarth, dessen Methode grundsätzlich von Umrissen ausgeht, betrachtet in einem Kapitel einen Sonderfall, in dem – wie bei Blasis – der Körper zu Linien abstrahiert wird. Hogarth entwickelt ein formalisiertes Zeichensystem, mit dem sich Haltungen darstellen lassen: „Die allgemeine Vorstellung einer Handlung wie auch einer Haltung kann mit einem Pinsel in sehr wenigen Linien gegeben werden.“121 Im Kapitel zur „Attitude“ (Kap. XVI) der Analysis
117 Hogarth: Analyse der Schönheit, S. 40. 118 Ebd., S. 34. 119 In Erweiterung von Gabriele Brandstetters Formulierung in dies.: „The Code of Terpsichore“, S. 70. 120 Blasis: Code of Terpsichore, S. 122. 121 Hogarth: Analyse der Schönheit, S. 185.
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of Beauty gibt er konkrete Beispiele, wie diese aussehen könnten. Er übersetzt die komplette Tanzgesellschaft, die im Mittelteil der zweiten Tafel seines Buches dargestellt ist, in ein Zeichensystem, das er in der oberen linken Ecke unter Fig. 71 abdruckt.122 Die Ähnlichkeit dieser Zeichen mit einem Alphabet wird in Hogarths Beschreibung deutlich, denn er setzt diese größtenteils aus Buchstaben und Elementarlinien zusammen: „Die zwei Teile der krummen Linien nahe der Zahl 71 dienten für die Figur der alten Frau und ihres Tänzers am hinteren Ende des Saales. Die krumme Linie und die zwei geraden, rechtwinkligen Linien halfen mir, die aufgespreizte Positur des dicken Mannes zu veranschaulichen. Hierauf wollte ich eine Figur in die Grenzen eines Kreises bringen. So entstand das Oberteil der dicken Frau zwischen dem fetten und dem tölpelhaften Mann mit der Beutelperücke, für den ich eine Art X gezeichnet hatte. Die jugendliche Lady im Reitkleid, seine Partnerin, bildet durch ihre nach hinten pickenden Ellbogen, wie man es nennt, vom Kamisol aufwärts gleichsam ein D mit einer darunter gezogenen Linie, um auf die enge Steifheit ihres Rockes hinzuweisen. Und ein Z steht für die eckige Haltung, die der Körper des affektierten Kerls in der Knotenperücke mit den Schenkeln und Füßen einnimmt. Die oberen Teile seiner plumpen Tänzerin wurden in ein O eingeschlossen. In ein P verwandelt, diente es dazu, die hinteren geraden Linien anzudeuten. Das gleichförmige Karo einer Spielkarte bezeichnet das fliegende Kleid usw. der kleinen hüpfenden Figur mit der Haushofmeisterperücke. Das doppelte L entstand aus der parallelen Stellung der Hände und Arme seiner herumtappenden Partnerin; und schließlich wurden die zwei Wellenlinien für die artigen Wendungen der beiden Figuren im vorderen Teil des Saales gekennzeichnet.“123
Die abstrahierende Übertragung in ein Buchstaben-ähnliches Figurensystem dient Hogarth weniger zur Kommunikation oder Instruktion von Haltungen denn als notationelles Analysewerkzeug, um die Grazie dieser Figuren festzustellen (das ist das generelle Vorhaben der Analysis of Beauty). Mithilfe dieser Linien lässt sich ablesen, ob sie grazil sind oder nicht, wobei Hogarth sich einer exakten Feststellung entzieht. Blasis’ Linien dagegen verlaufen – wo Hogarth eine äußere Hülle nachzeichnet – in einem imaginären Innenraum. Sowohl die schwerkraft-
122 Die Tafeln von Hogarths Analysis of Beauty sind im Internet leicht einsehbar, vgl. z.B. http://images.library.wisc.edu/DLDecArts/EFacs/Hogarth/M/0032.jpg, zuletzt abgerufen am 24.07.2017. 123 Ebd., S. 186 f.
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indizierende Perpendikularlinie, die man als Kraft-Linie bezeichnen könnte, wie auch die Strukturlinie, die die Glieder abstrahiert, können nicht von materialen Körperformen deduziert werden, sondern entstehen zwischen dem Blatt und der Vorstellung. Diese Linien resultieren aus einem gleichsam mentalen wie zeichnerischen Prozess, der ermöglicht die Schönheitslinie auf Körperglieder (zurück) zu übertragen. Deutlich wird dies in Blasis’ Anweisungen zu den Armhaltungen und den entsprechenden Vorgaben im Abbildungsteil. In der Arabeske dürfen die Arme von der generellen Oppositionsregel abweichen und werden „au goût“ der Tanzenden „le plus gracieusement possible“124 gehalten (vgl. Abb. 12). Deutlich markiert hier die gestrichelte geschwungene Linie den Armverlauf. Das Gegenbeispiel ist ebenso deutlich: den falschen Armhaltungen liegt eine Zick-Zack-Linie zugrunde.125 Als geschwungene Linie bilden die Arme ein Ornament des Körpers. Blasis spricht explizit vom „bel ornement des bras“ und wiederholt einen Vergleich aus der Encyclopédie Méthodique: „Les bras qui accompagnent bien le corps en dansant, font comme la bordure fait à un tableau“126 – wobei hier offenbar weniger die schützende Funktion des Rahmens gemeint ist, als ihre begrenzende und gleichzeitig schmückende Funktion, die selbst ästhetisch organisiert ist.127 Die rahmende Funktion der Arme bestimmt Blasis in Bezug auf Bewegung, denn in den Schritten müssen alle Glieder harmonisch sein, um den Eindruck der Grazie zu erzielen. Wie erreichen sie diese Harmonie jedoch in der Pose, wenn die Glieder stillstehen? Die Skizze, mit der Blasis seine pädagogische Methode illustriert, gibt darauf einen Hinweis. Die beiden Strichfiguren sind eine Transkription von zwei anderen Positionen in sein Linienalphabet, eine „Position du danseur à la quatrième en avant-en l’air. Bras à la seconde“ sowie „Position à la quatrième derrière en l’air“ (Abb. 14).128 Auch wenn diese Beispiele keine Balancefiguren wie Arabeske und Attitude sind, zeigen diese Positionen und ihre abstrahierte Darstellung (und zwar erst in der Kombination!) wie auch die Beine, wenn sie in der Bewegungspause nicht mehr zur Fortbewegung dienen, zu schmückenden Glie-
124 Blasis: Traité Élémentaire, S. 65. 125 Vgl. ebd., Tafel 3, Fig. 13. 126 Ebd., S. 60. 127 Vgl. den Eintrag „bordure“ in der Encyclopédie méthodique. Beaux-arts, Bd. 1, Paris 1788, S. 80-81. 128 Vgl. die „Explication des planches“, Blasis: Traité Élémentaire, S. 105.
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dern werden. Wie die Arme wird das Spielbein vom Körper abgestreckt. Attituden und Arabesken stellen Grenzfälle dieses Abstraktionsprozesses dar, in denen der ganze Körper zum Beiwerk wird: stillgestellte Posen wie Attitude und Arabeske werden zum Ornament der Bewegung. Ein weiterer der vielfältigen Aspekte der Arabeske eröffnet so ein Assoziationsfeld, das die Sinnhaftigkeit dieser Namensgebung weiter bestärkt. Blasis kommt hier zugute, dass sich im 18. Jahrhundert ein Strang der Arabeske herausbildet, die Linie und Schrift zusammenführt.129 Nicht nur lassen sich so eine antike Bildformel und ein Stil der Ausführung in das Ballett überführen, die Benennung dieser Pose als Arabeske verstärkt auch rekursiv die Linearisierung des Körpers, für die Blasis mit der Elementarisierung seines Traité den Grundstein gelegt hat. Blasis hat sein Figuren-ABC für den Tanz nur als Projekt formuliert und nicht schriftlich ausgearbeitet. Es überrascht dennoch, dass Blasis trotz seiner ständigen Ermahnung an die Tänzer*innen grazil zu bleiben, für sein ABC nur gerade Linien vorsieht, da im 18. und 19. Jahrhundert die geschwungene Linie als Ideal der Grazie gilt.130 Ebenso fehlen in den Abbildungen der Arabeske, bis auf die oben erwähnten Beispiele der Armhaltungen, jegliche Strukturlinien. Die Arabeske – als Linienfigur par excellence – ist so in Blasis’ Traité Élémentaire die einzige Figur, die nicht linear dargstellt ist. Vielleicht enthält die Figur Arabeske selbst wiederum eine Tendenz, sich der Linienhaftigkeit zu entziehen, die sich in der arabesque penchée realisiert (weil sie eine Fluchtfigur ist) – vielleicht ist die imaginäre Aufladung der Arabeske so stark, dass sie nicht als Linienfigur darstellbar ist. Für Sabine Huschka bleibt die Arabeske eine „fiktive imaginäre Gestalt und wird gerade darin zum Phantasma des klassischen Tanzes.“ 131 Dank einer grafischen Formalisierung auf dem Papier kann die Tanzfigur (von den Zuschauenden gesehen oder von den Tanzenden imaginiert) als Linienfigur vorgestellt – eingebildet – werden, gleichzeitig verbleiben die Linien aber immateriell. Die Linien der Arabeske sind vollständig eingebildet. Die reale Figur auf der Bühne widersetzt sich jedoch der Abstraktion. Die Arabeske bleibt als Balancefigur immer auch eine Kippfigur ins Reale, die die Flucht aus der Bildlichkeit in die Bewegung als Möglichkeit bereit hält.
129 Vgl. den Abschnitt zum Begriff Arabeske in Kap. 1. 130 Vgl. den Abschnitt zur Grazie in Kap. 2. 131 Huschka: „Wissen vom Tanzen“, S. 135.
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Abbildung 14: Vorbilder der Strichfiguren
Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, 1820.
Auch ältere Notationsformen (wie Beauchamp/Feuillet) abstrahieren den Körper, dort steht aber stets die räumliche Bewegung, der verzierte Weg, im Vordergrund. Blasis’ Formalisierung schafft ein Bild des Körpers, das auch den statischen, posierenden Körper einbezieht – in der Arabesque penchée gleichsam aber ein Schlupfloch zurück in die Bewegung behält und sich der
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grafischen Formalisierung an ihrem Umschlagspunkt entzieht. Ab dem frühen 19. Jahrhundert ermöglicht diese phantasmatische Inkorporation der Linie, dessen Grundlage Blasis in seinem Traité Élémentaire für Theorie und Praxis des Tanzes gelegt hat, nicht nur den Weg der Tänzer*innen (die Bodenfigur), sondern auch den posierenden Tänzer*innenkörper als Lineament zu begreifen. Die Skulpturalität dieser Pose tut dem keinen Abbruch, sie kann ohne Schwierigkeit in die formalisierte Körper-Schrift übertragen werden, da diese (vorerst) selbst imaginär bleibt und nicht an die Zweidimensionalität des Papiers gebunden ist. Die Arabeske ist nur eine Möglichkeit dieses (neuen) Modus der Körperimagination, aber sie ist die Form, in der dieser am deutlichsten zu Tage tritt – gerade vielleicht weil Blasis diese Verknüpfung der Imagination überlässt. Über den Namen wird eine Körperform an eine Ornamenttradition angeschlossen. Gleichzeitig erweitert die Übertragung des Ornaments Arabeske in den Tanz, weil sie Assoziationen von Schrift und Zeichnung auf den dreidimensionalen Körper projiziert, das Verständnis von Choreografie. Sie ermöglicht diese als bewegte räumliche Schrift in vier Dimensionen zu denken und schafft so ein Figuren-ABC, das zwar nicht entzifferbar ist, aber unlesbare dreidimensionale Buchstaben (buchstäbliche Körper-Chiffren) entwickelt, deren (imaginäre) Striche in alle Raumrichtungen ragen.
O F THE FIGURE THAT MOVES AGAINST THE WIND Nacheinander wurden verschiedene Aspekte von Blasis’ Theorie des Tanzes und seiner Erfindung der Arabeske abgeschritten. Dabei hat sich herausgestellt, dass in Blasis’ Traité Élémentaire die Arabeske nicht als exakt abzugrenzende, klar bestimmte Figur eingeführt wird, sondern Resultat einer mehrfachen Begründung ist, die sich wesentlich aus der begrifflichen Vielfalt der Arabeske speist, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mindestens zwei Begriffsstränge vereint. Die Genealogie der Arabeske in Carlo Blasis’ Traité Élémentaire weist somit selbst eine arabeske Form auf, in der verschiedene Stränge zusammenlaufen (und wieder auseinanderdriften). Seine ‚Erfindung‘ der Figur besteht aus einem Re-Arrangement von Texten und Abbildungen. Eine formale Identität der Arabeske lässt sich bei Blasis also nicht bestimmen.132 Sie ist dort eine Variante der Attitude, die sich durch besonde-
132 Gerald Siegmund kommt mit einer anderen Herleitung zu einem ähnlichen Ergebnis: „Bereits an ihrem theoretischen Ursprung ist die Arabesque keine ein-
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re Grazie auszeichnet, aber keine klar abgrenzbare Form besitzt – einziger Anhaltspunkt ist ein besonderer Stil, eine Freiheit in der Bewegung der Arme. Die Arabeske nimmt so eine zentrale Stellung in einer Wandlung der Ballettästhetik ein, die eng mit der medialen Situierung dieser Figur zwischen Bild und Schrift – die sich in Blasis’ Traité Élémentaire sowohl in der dort ausgelegten Theorie wie auch in der von ihm entworfenen Pädagogik wiederfindet – verbunden ist. An der ‚Erfindung‘ der Figur Arabeske lässt sich ein gewandelter Bezug zur Antike zeigen. Die Entwicklung vom klassizistischen Ballett des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum Ballett im frühen 19. Jahrhundert ist kein harter Bruch, sondern ein Wandel innerhalb der Figur, wie man an den Tänzerinnen von Herculaneum nachvollziehen kann. Dienen diese im 18. Jahrhundert noch als Paradebeispiel klassizistischer Schönheit, bezieht sich das Ballett des frühen 19. Jahrhunderts (bzw. Blasis als dessen wichtigster Theoretiker) auf diese Figurengruppe, um aus ihr die Arabeske als einzelne Tanzfigur zu isolieren, die Grazie nicht als Akzidenz in Kleiderfalten sucht, sondern auf die Anordnung der (Körper-)Glieder überträgt. Die Pose namens Arabeske wird um 1800 Teil der Balletttechnik. Theoretische Manuale räumen ihr jedoch stets eine systematische Sonderstellung ein. Nicht nur birgt sie in sich die Abwendung vom Ideal des Senkrechten, sie ist im Gegensatz zu den pas, Drehungen und Sprüngen auch keine Bewegungsfigur, sondern hält, als Bild der Bewegung, den Fluss der Bewegung auf. Die Arabeske wird im 19. Jahrhundert zur Figur der Reflexion des Balletts par excellence, denn in ihrer Verhandlung und Ausstellung des Gleichgewichts als grundlegende Bedingung der Fortbewegung wird sie zu einer Figur über Bewegung. Dabei trägt sie in ihrer Sonderform als arabesque penchée bereits eine Tendenz zum Verlassen der Stillstands in sich (wie die Arabeske nie wirkliche Stille sein kann, da sie schon immer von Mikrobewegungen durchzogen ist). In Blasis’ Erfindung ist die Arabeske nicht nur eine mit Hilfe der Einbildungskraft verköperte Linearzeichnung, sondern eine Inkorporation verschiedener Vorbilder aus der Geschichte der Kunst (Wandgemälde, Ornamente, Merkur-Figur). In der phantasmatischen Übertragung der Merkur-Statue, wird die Imagination des Tänzer*innenkörpers auf der Bühne skulpturalisiert (und skriptualisiert) und selbstreflexiv als Vehikel der
heitliche Figur.“ Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 273.
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Übertragung begriffen. Die Klassifizierung dieser Pose als Ornament wiederum führt eine weitere Abstraktion des Körpers ein – als Unterbrechung der Bewegung und Registerwechsel ins Ornamental-Bildliche –, der sich nun als abstraktes Liniengeflecht begreifen lässt, das weniger selbst etwas bedeutet, als die Fähigkeit hat, divergierende Aspekte oder Bilder zu verbinden.
Blasis beschreibt die Figur der Arabeske selbst weniger als abstrakte Figur, wie sie hier charakterisiert wurde, denn als Figur des Ausdrucks. In der Darstellungsweise seiner Theorie und seinen pädagogischen Instruktionen, in denen er zwischen schriftlichen und visuellen Erläuterungen wechselt, tritt dagegen die Abstraktionstendenz dieser Figur deutlich hervor. Diese Tendenz ist jedoch auch in seiner Ausdruckstheorie bereits vorgeprägt. Francesca Falcone hat sich mit diesem Aspekt der Arabeske beschäftigt und sie in Verbindung mit der Schauspieltheorie von Johann Jakob Engel als „Geste“ bestimmt.133 Dabei lässt sich auch in dieser Dimension der Arabeske bereits eine Aushöhlung des Mimesisprinzips, das der Ausdrucksfunktion zu Grunde liegt, nachvollziehen. Falcone liest in der Mechanik der Arabeske eine „multiform expressive symbology“,134 die zum Ausdruck einer Vielzahl von emotionalen Zuständen eingesetzt werden kann: „There is the intense dramatic force of the arabesque à terre, the supporting leg bent and the arms in the third allongée position, with which Giselle tries to separate Myrtha and Albrecht. There are the arabesques expressing Odette’s deeply felt emotions in Swan Lake, where the arabesque alternates the most extended line of the body freed from imprisonment and expressing an attitude of confident optimism with poses having a downward movement that denotes Odette’s inevitable surrender to her fate.“135
Die Deutung der Arabeske als Ausdruckspose, wie sie bei Blasis zwar angelegt ist, führt jedoch zu einer Überladung der Arabeske mit Bedeutung. In der von Falcone dargestellten Vielfältigkeit wird deutlich, dass die Arabeske keinen spezifischen Affekt ausdrückt, sondern vielmehr ein (gehaltener) Bewegungsimpuls ist, der affektiv gelesen werden kann. Wenn die Arabeske mimetisch ist, so stellt sie eher einen Fall nach vorne oder eine Bewegungsformel der Flucht dar, wie Pappacena es vorgeschlagen hat. Sie ist, als ornamentale Figur, eher eine (bildliche) Weise der Anordnung oder Strukturie-
133 Falcone: „The Evolution of the Arabesque in Dance“, besonders S. 90-104. 134 Ebd., S. 82. 135 Ebd., S. 104.
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rung des Körpers, die jenseits der Bedeutung stattfindet bzw. dieser ‚als eine Art Matrix‘ zugrundeliegt. Man könnte sie, mit einer der Zwischenüberschriften, die Blasis aus Leonardos Trattato übernommen hat, als figure that moves against the wind beschreiben: als Figur, die das Überschreiten (abandon) der Regel verkörpert (in diesem Namen wäre das Bild der aufgehaltenen Bewegung enthalten). Dabei changiert diese, aufgrund der mechanischen Prinzipien, die in ihr wirksam sind, zwischen Darstellung (Bild) der Bewegung und Bewegung selbst, zwischen Linienzeichen und mythologischer Figur.
Diese Funktion übernimmt die Arabeske dann auch in der Narration von Balletten. Am Beispiel von Giselle ou Les Wilis soll zum Abschluss dieses Kapitels gezeigt werden, wie die Arabeske dort zwischen einer Figur der höchsten Intensität und reinem Ornament wechselt, wie sie einerseits als Figur der Emphase in affektiv höchst aufgeladenen Momenten eingesetzt wird und andererseits in ihrer Intensität die Handlung aufhält und die Darstellung suspendiert. Vorher soll jedoch kurz die weitere Entwicklung der Arabeske bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nachvollzogen und einer alternativen Genealogie dieser Figur aus den artistischen Unterhaltungsformen des Boulevard-Theaters nachgegangen werden.
F INALE A RABESKE /U NZÄHLIGE V ARIATIONEN Die hier vollzogene Beschreibung der Genealogie der Pose Arabeske hat sich bisher auf Carlo Blasis’ Theorie konzentriert. Dort wurde die Arabeske als Sonderform der Attitude dargestellt, deren Besonderheit sich in der Armhaltung abzeichnet und nicht – wie heute – als Differenz in der Beinhaltung. Die Frage, wann genau die Arabeske zu der Figur wird, die heute mit diesem Namen bezeichnen wird, ist dabei nicht genau zu beantworten. Entsprechend der Betrachtung der ersten Erscheinungsformen und der Öffnung dieses Begriffs soll hier seine Verengung auf die heutige Definition (so gut als möglich) verortet werden.
Eine Vielzahl von Bildmaterial aus der Zeit vor 1820, wie diese Lithografie eines Pas de deux von zwei männlichen Tänzern von 1804 (Abb. 15), weist darauf hin, dass die Pose, die man heute unter dem Namen Arabeske kennt, bereits vor ihrer Benennung in Gebrauch ist.
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Abbildung 15: Arabeske Position in einem Pas de deux
Villiers Huët: M. Deshayes et M. d'Egville, Lithografie, London 1804.
Die wenigen technischen Beschreibungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts definieren die Arabeske jedoch nicht eindeutig. Auch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlen Dokumente, um den technischen Entstehungsprozess dieser Figur zwischen ihrem Einsatz auf der Bühne, ihrer theoretischen Klassifizierung und der pädagogischen Instruktion weiter zu verfolgen. Daher soll im Folgenden nur schlaglichtartig die Entwicklung dieser Figur bis ins frühe 20. Jahrhundert skizziert und ihre mögliche Übertragung in Notationen kurz angerissen werden. Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Arabeske, wie dieses Kapitel gezeigt hat, weniger eine exakte Pose als ein Sammelbegriff für eine ‚unendliche‘ Varia-
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bilität einer ornamentalen Grundfigur, die einerseits über die lineare Komposition des Ornaments den Körper zum Zeichen bzw. zur (unlesbaren) Schrift macht, andererseits über den mit dem Ornament verbundenen Stil Leichtigkeit und Grazie indiziert. E. A. Théleur definiert z.B. die Arabeske in Letters on Dancing von 1831 ähnlich wie Blasis über den Kontrast der Arme: „There are likewise, attitudes made with the same arm and foot, and sometimes with both arms, but all partaking of the foregoing principles, these are called les attitudes arabesques and require judgment and taste in their execution.“136
Ab den 1850er Jahren finden sich in der Tanztheorie und technischen Instruktionen dann Hinweise für die noch heute gängige Unterscheidung zwischen Attitude und Arabeske als Differenz in der Position der Beine. August Bournonville nennt in seinen Études Chorégraphiques von 1855 die Arabeske – wie Blasis – eine Untergattung der Attitude. Er führt vier Variationen der Grundfigur Attitude auf, die sich in der Armhaltung unterscheiden. Darunter gibt es auch eine attitude à l’arabesque.137 Strichfiguren aus einem späteren Manuskript von Bournonville deuten für diese Figur ein gestrecktes Bein an.138 Auch in den Notationen von Henri Justamant, die zwischen 1850 und 1880 angefertigt wurden, deutet sich ein Unterschied zwischen Arabeske und Attitude in der Beinhaltung an. Seine Notationsweise, die weibliche wie männliche Figuren als kleine Strichmännchen darstellt, die Beine aber von einem großen Rock bedeckt zeichnet, lässt den Unterschied in der Beinhaltung nur erahnen: in Attituden sind die Beine als kleine Häkchen eingezeichnet, die eine Abwinklung des Beins nach oben indizieren, für Arabesken zeichnet Justamant dagegen einen waagerechten Strich ein.139 Die Unterscheidung zwischen Arabeske und Attitude wird von Justamant aber nicht in der Beinhaltung getroffen, sondern auch – vielleicht sogar primär – in der Armhaltung: in der Attitude werden die Arme eher rund oder nach oben ge-
136 E. A. Théleur: Letters on Dancing, London 1831, S. 50. 137 Bournonville: Études Chorégraphiques, S. 160/260. 138 Nomenclature/par/ordre alphabétique/à/mon éleve et digne collègue/Ferdinand Hoppe von 1861, vgl. Bournonville, Études Chorégraphiques, S. 327 f. 139 Vgl. z.B. seine Giselle-Notation; Frank-Manuel Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis. Ballet Fantastique en deux actes. Faksimile der Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren, Hildesheim 2008, S. 147. Die Unterschiede sind jedoch teilweise so gering, dass es sich auch um Schreibvarianten handeln könnte.
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halten (à la lyre oder à la couronne, wie es bei Bournonville heißt), bei der Arabeske dagegen durchgehend nach vorne. Diese Korrelation von nach vorn gestreckten Armen und nach hinten gestreckten Beinen setzt sich Mitte des 19. Jahrhunderts als praktische Definition der Arabeske durch. Bis zum Ende des Jahrhunderts wird sich das Definitionskriterium für diese Pose auf die Beine reduziert haben: George Desrat definiert sie 1895 in seinem Dictionnaire über die horizontale Streckung des Spielbeins, konzediert aber ebenfalls eine unendliche Variabilität dieser Pose.140 Die Arabeske stellt somit einen Grenzgänger der Ballett-Figur dar und entzieht sich für lange Zeit der theoretischen Klassifizierung. Ohne eine verbindliche Tanznotation musste Blasis in seinen Instruktionen zur Pose auf andere, allgemein bekannte Vorbilder zurückgreifen. Damit entstand jedoch Raum für individuelle Variationen der Pose auf der Bühne und im Training. Im 20. Jahrhundert wird der Arabeskenbegriff dann (relativ fest) definiert. Verschiedene (National-)Schulen nummerieren und klassifizieren die Variationen der Arabeske, aber mit jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. In der italienischen Cecchetti-Methode, die Cyril W. Beaumont und Stanislas Idzikowski in den 1920er Jahren verschriftlicht und veröffentlicht haben, gibt es fünf Arabesken, in denen der Oberkörper generell aufrecht gehalten wird.141 Sowohl im Aufbau der Theorie, wie auch in der aufrechten Haltung des Oberkörpers ähnelt Cecchettis Methode der Balletttheorie von Blasis. Die „essence of a good arabesque“ sieht diese Methode in einer gleichmäßigen Verteilung des Körpergewichts: „If the weight is correctly disposed, the body will remain in equilibrium, whereas, if the back is too arched or the chest thrown too far forwards, the body will fall backwards or forwards respectively.“142 Die russische Schule dagegen, in den 1930er Jahren von Agrippina Vaganova formalisiert, zählt nur vier Arabesken, in denen der Oberkörper stets weit nach vorn gebeugt ist, womit Vaganova den Fluchtcharakter der Arabeske, ihren „impulse forward“,143 betont. Im Laufe der Zeit werden im-
140 George Desrat: Dictionnaire de la danse historique, théorique, pratique et bibliographique, Paris 1895 [Reprint Hildesheim/New York 1977], S. 20 f. 141 Cyril W. Beaumont, Stanislas Idzikowski: The Cecchetti Method of Classical Ballet. Theory and Technique [1922/1932], New York 2003, S. 31 f. 142 Ebd., S. 31. 143 Agrippina Vaganova: Basic Principles of Classical Ballet. Russian Ballet Technique. New York 1969, S. 57.
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mer mehr Variationen der Arabeske in unterschiedlichen Systemen benannt. Ein kurzer Blick in Ballettterminologien aus dem 20. Jahrhundert genügt, um die Vielfalt – und somit auch die Schwierigkeit eines kohärenten Begriffs der Arabeske – zu begreifen. Es gibt die arabesque allongée, arabesque penchée, arabesque à terre, arabesque assise, arabesque à genou, arabesque plié bzw. arabesque fondue, arabesque voyagée, arabesque croisée, arabesque ouverte, arabesque inclinée, arabesque supportée, arabesque soulevée, arabesque sautée, arabesque piquée, die arabesque en promenade, en tournant und en soleil, arabesque à deux bras, à la demi-hauteur, à la hauteur, à la lyre, à terre, sowie pirouette en arabesque und piqué en arabesque.144 Die Benennung dieser Varianten betont dabei nur die Schwierigkeit der Klassifikation, denn die unterschiedlichen Schulen systematisieren uneinheitlich und benennen gleiche oder ähnliche Varianten unterschiedlich. Die Vielfalt der Bezeichnungen zeugt jedoch von der Anpassungsfähigkeit dieser Figur, die sich – auch wenn es je nach Schule vier oder fünf Grundpositionen gibt – immer weiter von einer klaren Definition als Pose entfernt und in Bewegung gesetzt wird (Bewegungen en arabesque) oder eigenwillige Varianten wie die arabesque à terre oder arabesque devant ausbildet, die einer klar umrissenen Pose widersprechen. Diese Öffnung der Arabeske zu einem Element der Bewegung oder einem stilistischen Modus der Ausführung ermöglicht dann wiederum in anderen Bewegungen Arabesken aufzufinden. So landet ein developpé fast zwangsläufig in einer Arabeske und, Serge Lifar zu Folge, die sissonne fermé en diagonale und grand jeté „le reproduisent ‚en mouvement‘“145 – sie setzen die Arabeske in Bewegung. Die Vielfältigkeit der Pose, die unter anderem der definitorischen Offenheit des Ornamentbegriffs Arabeske und einer Offenheit in der Notationsgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschuldet ist, verlangt ein Notationssystem, das mit der Variabilität dieser Figur umgehen kann. Notationsansätze wie die von Théleur oder Bournonville, die mit abstrakten Zeichen ganze Figuren wiedergeben, sind dafür nicht geeignet. Es braucht ein System, das – wie Blasis bereits vorgeschlagen hat – den Körper elementarisiert.
144 Nach Gail Grant: Technical Manual and Dictionary of Classical Ballet, 3. Ausgabe, Mineola 1982, S. 3-5; und Kurt Peters: Lexikon der klassischen Tanztechnik, Hamburg 1961, S. 65-70. Peters versucht ein schulenübergreifend einheitliches Vokabular zu etablieren, einige seiner Varianten wie arabesque assise sind äußerst unüblich und haben sich offenbar nicht durchgesetzt. 145 Serge Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, Paris 1942, S. 46.
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1852 veröffentlicht Arthur Saint-Léon unter dem Titel Sténochorégraphie solch ein Notationssystem, das im Gegensatz zu der Beauchamp/Feuillet-Notation den vertikalen Körper fokussiert, ihn in seine Einzelglieder aufteilt und in ein Raster ähnlich dem Fünfliniensystem der musikalischen Notation stellt.146 Saint-Léons Notation grammatikalisiert den Tanz und den menschlichen Körper durch Verschriftlichung. Beides zerlegt er in seine Einzelteile und stellt Regeln zur (Re-)Komposition auf. Die Schrift soll darüber hinaus ermöglichen, choreografische Autorschaft sicherzustellen. 147 Die Arabeske wird in der Sténochorégraphie nur ein einziges Mal namentlich erwähnt, auch wenn Saint-Léon unzählige Formen notiert, die dieser Pose ähneln. In einem einzigen Anwendungsbeispiel erwähnt er eine Figur, die das Bein nach hinten streckt und nennt sie Arabeske. Saint-Léon beschreibt sie als eine „de ces innombrables arabesques qui, en danse, n’ont pas un nom distinctif; elles ne peuvent s’expliquer qu’en démonstrant personnellement le mouvement; mais par sténochorégraphie, elles s’exécutent pour ainsi dire machinalement.”148 Saint-Léon unterstreicht an dieser Stelle den Vorteil seiner Tanzschrift, der Sténochorégraphie, mit der sich die Arabeske auch in ihrer Vielfalt schriftlich erfassen lasse (die Alternative sei, sie persönlich zu demonstrieren). Seine elementarisierte Schriftform, die wie Blasis den Körper als Liniendiagramm darstellt, ermöglicht dabei auch die unzähligen Details und Variationen der Grundform aufzuzeichnen und weiterzugeben, ohne dass sie im Einzelnen benannt werden müssen. Als Pose, deren Name aus einem schriftähnlichen Ornament stammt, ist auch die Arabeske im Tanz eine Figur der Schrift – oder zumindest schriftähnlich. Sie kann nicht sprachlich
146 Flavia Pappacena hat in ihrem Kommentar zur italienischen Neuausgabe von Saint-Léons Sténochorégraphie als Zwischenstufen dieser Entwicklung verschiedene (unveröffentlichte) Notationssyteme beschrieben, wie die choreografischen Gruppen von André Jean-Jacques Deshayes und Jean Aumer. Flavia Pappacena: „The Sténochorégraphie in the context of the experimentations of “ in: Arthur Saint-Léon: La Sténochorégraphie the 18th and 19th centuries“, (1852), hg. von Flavia Pappacena, Lucca 2006 S. 61-71, hier S. 65 ff. 147 „The structuring and conception of his system of rules and signs are strongly conditioned by an idea inherited from the Enlightenment, according to which the art or science of dance – like any ‚language‘ – requires rules (a grammar) and a system of writing for its communication and preservation. The rules cannot exist without writing, just as the writing cannot exist without the rules. “ Ebd., S. 67. 148 Arthur Saint-Léon: La Sténochorégraphie ou Art d’écrice proprement la Danse, Paris 1852, S. 44.
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vermittelt werden, sondern ist nur als Schrift, Bild oder Zeichen notier- und beschreibbar. Die Arabeske ist so gleichermaßen die Hieroglyphe des Tanzes. Und wie die ägyptischen Hieroglyphen gibt sie ebenfalls Rätsel auf. Während Champollion diese jedoch bereits 1820 entziffert, bleibt sowohl die ‚Bedeutung‘ der Tanzpose Arabeske noch lange unklar, wie auch die Schwierigkeit bestehen, sie in eine Notation zu übertragen. Die Schwierigkeit der Aufzeichnung der Arabeske wird besonders anhand eines Manuskripts aus dem Archiv der Pariser Opéra deutlich, auf das hier abschließend eingegangen werden soll. Zwischen 1868 und 1871 hat G. Léopold Adice, Tänzer und Lehrer an der Pariser Opéra, an einer Grammaire et Théorie chorégraphique/Composition de la gymnastique de la danse théâtrale149 gearbeitet, sowie an einem weiteren Projekt mit dem Titel Note sur l’arabesque,150 die beide unvollendet geblieben sind. Adice kritisiert in diesen Texten den Stand der Tanztheorie im Hinblick auf die Ballettausbildung. Insbesondere die Werke von Carlo Blasis seien unzureichend, Lernenden Schritte und Positionen zu vermitteln. Im Manuskript über die Arabeske kritisiert er insbesondere Blasis’ historische und ästhetische Herleitung dieser Figur, da bei ihm die technische Beschreibung fehle: „Il est pourtant bien vrai que nous lui devons le savant récit de l’origine arabique plus ou moins douteuse de cette pose – et non point position comme il veut bien l’appeler – de l’Arabesque. Mais comme toujours, dans tout son livre, tout s’arrète là: pas une base, pas un principe, pas un précèpte, pas une demonstration théôrique pour l’instruction, ni pour les artistes, ni pour les élèves. Qu’emporte, sur tout, à l’élève de danse, qui doit apprendre à danser, le récit de l’histoire de son art, son origine, l’étymologie de ses differantes dénominations; les vers plus ou moins insignifiant des poétes qui en parlent?“151
149 Das Manuskript umfasst 741 Seiten. Bibliothèque nationale de France, Bibliothèque-musée de l'opéra, Signatur B 61 (2). Vgl. dazu auch Sandra Noll Hammond: „Ballet’s Technical Heritage: The Grammaire of Léopold Adice“, in: Dance Research 13/1 (1995), S. 33-58. 150 Bibliothèque nationale de France, Bibliothèque-musée de l'opéra, Signatur B 61 (3). 151 G. Léopold Adice: Note sur l’arabesque, Bibliothèque-musée de l'opéra, Signatur B 61 (3), S. 3
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Adice stellt sich die Aufgabe, Blasis’ Versäumnisse zu beheben und eine umfassende Darstellung der Balletttechnik zu erstellen. Auch er stützt sich hierbei auf Zeichnungen. Adice geht davon aus, dass eine Nomenklatur und Grammatik des Tanzes erst mit einer visuellen Darstellung gelingen kann, in der die ‚Linien‘ des Körpers hervortreten. Wie Blasis betont er ebenfalls die Bedeutung des linearen Zeichnens als zentrale Fähigkeit für Ballettschüler*innen: „je répeterai toujours la même chose. Sans les connaissances assez étendues du dessin linéaire, vous n’attendrez jamais, et grand jamais à ce resultat tres important.“152 Seine Kritik an Blasis zielt dabei nicht nur auf die ‚Fehler‘ des Textes, sondern Adice moniert auch die Unzulänglichkeit seiner Abbildungen. Er selbst setzt dagegen ein radikales Konzept: in seiner Theorie versucht er nicht nur die elementaren Grundsätze der Balletttechnik mit Hilfe der Zeichnung aufzuzeigen (wie Blasis es mit einer Elementarmethode vorgeschlagen hat), sondern sein Ziel ist die vollständige Kombinatorik, einschließlich aller möglichen Kombinationen, zu erfassen. Sein Vorhaben scheitert jedoch daran, dass die Arabeske bereits linearisiert ist, und somit über eine implizite Notationalität verfügt, die nie vollständig ausgeführt werden kann. Die Linearität der Arabeske bleibt so auch bei Adice ein imaginäres Ziel. Adice definiert im Grammaire et Théorie chorégraphie die Arabeske als eine attitude allongée, in der das Bein abgestreckt und der Oberkörper vornüber gebeugt wird.153 Sie sei eine der kompliziertesten Posen überhaupt, habe daher Ausnahmestatus und verdiene eine gesonderte Betrachtung:
152 Ebd., S. 16. Vgl. Noll Hammond: „Ballet’s Technical Heritage“, S. 37. 153 „L’action de la jambe placée en attitude allongée en forme de cadran [wie eine Sonnenuhr], avec le corps penché en avant en quatrième position s’appelle arabesque.“ G. Léopold Adice: Grammaire et Théorie chorégraphique, S. 9 bis. Adice bezeichnet alle Positionen und Posen als mouvements, dass hier die Arabeske als action beschrieben wird, darf daher nicht verwundern. Noll Hammond erklärt dies als Versuch, den Tanz ‚lebendig‘ darzustellen. Vgl. Noll Hammond: „Ballet’s Technical Heritage“, S. 38. Im Gegensatz zu Noll Hammond betrachte ich Adices Manuskripte eher als Symptom einer Schwierigkeit, denn als gelungene Theoretisierung.
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„J’ai déja démontré dans la théorie, en tête de la partie demonstrative que cette position de l’Arabesque est la seule qui fait exception dans tout le nombreux mecanisme de la gymnastique dans arte théâtrale; consequament, par son absolu isolement, elle est, dans ses différants mouvements de combinaisons mécaniques d’études gymnastiques, plus compliquées que toutes les autres poses déjà marquées.“154
Adice setzt in seiner Erklärung der Arabeske, wie auch schon Blasis und Théleur, bei den Armen an. Die arabesques des bras klassifiziert er in fünf Grundpositionen, die mit allen (!) Beinpositionen kombinierbar seien. Den Großteil seines Manuskripts bestreitet Adice damit, jegliche Variante und Kombination dieser fünf arabesken Armhaltungen mit allen Bein- und Körperhaltungen zu katalogisieren. Da er mit den Armhaltungen beginnt, kommt er erst gegen Ende des Manuskripts auf die arabesques des jambes in der Grand position de l’Arabesque zu sprechen, der er dann nur zwanzig der insgesamt 319 Seiten seines Manuskripts widmet. Vor seiner selbst gestellten Aufgabe kapitulierend, überspringt Adice im Verlauf des Manuskripts, seiner urspründlichen Idee einer vollständigen grafischen Abbildung widersprechend, immer mehr Zeichnungen, sodass an vielen Stellen nur die (Adice zufolge unzureichende) schriftliche Beschreibung steht (Abb. 16). Auch wenn sich Adices Vorhaben der vollständigen Darstellung aller möglichen Varianten nicht nur auf die Arabeske erstreckt, sondern alle Elemente des Ballettvokabulars und ihre Kombinationen umfasst, untermauert gerade das Scheitern seines Vorhabens die immer wieder konstatierte Unendlichkeit der Variationen der Arabeske, die bis heute in Ballettlexika und technischen Manualen zu finden ist: „The forms of the arabesque are varied to infinity.“155 Mit seinem Versuch der vollständigen Erfassung verfehlt Adice den grundlegenden Vorteil der Elementarisierung des Ballettvokabulars, für den die Arabeske in ihrer Linienhaftigkeit exemplarisch einsteht. Die Operativität einer Zeichenschrift des Balletts liegt, wie es Saint-Léon und spätere Systeme wie Labanotation und Choreologie produktiv gemacht haben, in der Grammatikalisierung des Vokabulars und der Elementarisierung des Körpers, also einer (Re-)Konstruktion ihrer kleinsten Teile. Der Code muss dabei nie vollständig ausgeschrieben werden. Die Arabeske, in der unendlichen Variabilität, ist Symptom dieser Elementarisierung des Körpers, die ihre Potenz gerade aus ihrem imaginären bzw. fantastischen Status bezieht.
154 Adice: Note sur l’arabesque, S. 2. 155 Vaganova: Basic Principles of Classical Ballet, S. 56. Fast wörtlich zitiert in Gail Grant: Technical Manual and Dictionary of Classical Ballet, S. 2.
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Abbildung 16: Seite aus Adices Arabeskenmanuskript
Adice: Note sur l’Arabesque, undatiertes Manuskript, ca. 1870.
Die Attitude, als bereits existierende Pose des Ballettvokabulars, wird in der Umbenennung zur Arabeske mit einem Konzept der Linearität und Verzierung zusammengebracht, das den Blick auf den Körper verändert. Dennoch bleibt die Arabeske eine technisch und theoretisch unterdeterminierte (und unselbstständige) Figur, die erst in der Aufführung ihre Möglichkeiten ent-
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faltet. 156 Die Pose Arabeske, die über die theoretische Grundlegung von Blasis als köperliches Ornament begriffen werden kann, ist daher im Tanz weniger eine streng definierte Figur als ein (stilistischer) Modus von Posen, Attituden und Bewegungen, die en arabesque ausgeführt werden.
I M C IRQUE O LYMPIQUE Die Entwicklung der Tanzästhetik vollzieht sich im frühen 19. Jahrhundert auf vielerlei Bühnen. Auch wenn die Pariser Oper heute als maßgeblicher Ort der Erneuerung der Ballettästhetik wahrgenommen wird, gibt es in dieser Zeit einen regen Austausch zwischen den verschiedenen Theatern der Stadt und den mit ihnen verbundenen Genres. Den populären Theatern auf dem Pariser Boulevard kommt dabei eine besondere Vorreiterrolle zu. Viele der Theater-Innovationen, die für das Ballett im 19. Jahrhundert charakteristisch werden, sind auf diesen Bühnen bereits viel früher etabliert.157 Ende des 18. Jahrhunderts sammeln sich in Paris immer mehr Privattheater in einem kleinen Gebiet auf dem Boulevard du Temple an. Diese Theater differenzieren sich, aufgrund verschiedener Dekrete mit restriktiven Vorgaben zu Genre und Art der Darbietung, immer stärker aus.158 Nach dem napoleonischen Dekret von 1807 dürfen Ballette dabei offiziell nur vom Théâtre de l’Opéra (damals Académie impériale de Musique) und dem
156 Der theoretischen Unterdetermination der Arabeske entspricht ihre Behandlung im Balletttraining. In der Ballettstunde kommt sie im 19. Jahrhundert in der Regel als selbstständige Figur nicht vor. Blasis zum Beispiel erwähnt sie in der kurzen Beschreibung einer Übungseinheit am Ende seines Traité Élémentaire nicht und in Vaganovas Training ist sie Teil des developpé und von AdagioKombinationen, wird aber nicht als eigenständige Pose eingeführt. Die Arabeske gehört nicht zum Grundvokabular des Trainings, wie die Fußpositionen, die Armhaltung (das port de bras) oder die Arbeit mit den Füßen (battements, ronds de jambe), sondern ist eine Pose, die im Durchgang oder in der Übung anderer Bewegungen erscheint. 157 Vgl. Winter: The Pre-Romantic Ballet, S. 179. 158 Theater mussten sich auf Pantomime, Melodrama, Seiltanz, Pferdedarbietungen oder andere, bisweilen äußerst skurrile, Formate beschränken. Vgl. John McCormick: Popular Theatres of Nineteenth-Century France, London/New York 1993; wie auch Nicole Wild: Dictionnaire des théâtres parisiens au XIXe siècle. Les théâtres et la musique, Paris 1989.
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Théâtre de la Porte Saint-Martin gezeigt werden. Diese Regel weicht mit der Zeit auf und Theater finden Mittel diese zu umgehen, so dass gegen Mitte des Jahrhunderts eine Vielzahl kleinerer Theater eigene Orchester und Ballettensembles führen, darunter das Théâtre de l’Ambigu-Comique (20-26 Tänzer*innen), der Cirque-Olympique (22 Tänzer*innen) und das Théâtre de la Porte Saint-Martin (20-35 Tänzer*innen). 159 Mischgattungen wie die Feerie160 erzählen ‚fantastische‘ und ‚wunderbare‘ Geschichten in exotischen Settings mit spektakulären Bühnenbildern, Theatertricks, Musik- und Balletteinlagen. 161 Diese Elemente finden sich ab den 1830er Jahren, als die Opéra sich stärker auf das Bürgertum ausrichtet,162 zunehmend auch auf der Opernbühne wieder. Auch die Tanztechnik ist im 19. Jahrhundert nicht auf die akademische Ausbildung beschränkt. Ihrer Entwicklung in der Académie royale de Danse und der höfischen Tanzpraxis muss jene in den Unterhaltungsformen des Boulevards anbeigestellt werden. Eine alternative Genealogie des Balletts des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Populärtheaters hat seinen Ursprung in den 1940er Jahren. Dort entsteht in einer besonderen Konstellation von Archivar*innen, Künstler*innen und Historiker*innen um den Mäzen Lincoln Kirstein ein surrealistischer Blick auf die Tanzgeschichte. Diese andere Blick auf Tanzgeschichte wird in verschiedenen Ausgaben von Lincoln Kirsteins Magazin Dance Index (1942-1948), das eng mit den Dance Archives of the Museum of Modern Art163 zusammenarbeitete, deutlich. Der amerikanische Künstler Joseph Cornell, der für seine Collagen und Assemblagen bekannt ist und früh in den Kontext des Surrealismus gestellt wurde, hat für Dance Index insgesamt 14 Titelblätter und vier komplette Ausgaben entworfen. In
159 Vgl. Wild: Dictionnaire des théâtres parisiens au XIXe siècle. 160 Siehe Kap. 5 dieser Arbeit. 161 Marian Hannah Winter: Theatre of Marvels, (= Dance Index 7/1-2, 1948). Winter erweitert diesen Aufsatz später zu einem Buch: dies.: Le Théatre du Merveilleux, Paris 1962. 162 Dies beginnt mit der Direktion des ersten entrepreneur-directeur der Opéra, Louis-Désiré Véron. Vgl. auch Gerhard: Die Verstädterung der Oper, S. 22-42. 163 Diese Archive, die mittlerweile in der New York Public Library for the Performing Arts untergebracht sind, wurden ebenfalls von Kirstein gestiftet. Kirstein gründete außerdem gemeinsam mit George Balanchine die School of American Ballet und das New York City Ballet.
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seinem Heft zu Clowns, Elephants, and Ballerinas (5/6, 1946) collagiert er Bilder und Texte über Ballett und Zirkusunterhaltung zu einer historischen Fantasie aus dem Geist des 19. Jahrhundert.164 Bereits im Titel macht Cornell deutlich, dass es ihm um eine Kontextualisierung der Balletttänzerin als Element spektakulärer Zirkusunterhaltung geht. Er interessiert sich für die Equestrienne, die Tänzerin zu Pferd, die er eine „bareback cousin of Taglioni, Pavlova and Markova“165 nennt. Im Geiste Cornells soll nun die Betrachtung der Ballettpose Arabeske um ihr zirzensisches Äquivalent auf dem Pferd ergänzt werden.166 Der Wechsel von einem theoretischen und pädagogischen Diskurs zu einer Betrachtung der Pose in der Aufführung ermöglicht darüber hinaus die Kategorie der Virtuosität in die Genealogie der Arabeske miteinzubeziehen. „Der frühe Zirkus war Pferdezirkus.“167 Im England des 18. Jahrhunderts entwickelt sich die Unterhaltungsform Zirkus aus Reitdarbietungen, die zunehmend Artistik, Seiltanz und Tierdressur in ihre Vorstellungen integrieren. Pioniere wie Philip Astley bringen das Genre nach Frankreich. Ab 1782 unterhält Astley einen eigenen Zirkusbau auf der Rue du Faubourg du Temple in Paris, ihm folgt Antonio Franconi, der 1807 den Cirque Olympique eröffnet. Dort „standen verschiedene Posen und Attitüden zu Pferd, jeux de baguette, Sprünge durch einen leichten, biegsamen Reifen, der mit den Händen gehalten wurde, und unterschiedliche Tanzschritte auf dem Panneau. Dazu kamen ‚Grazieübungen‘ (exercises de grâce), die allein, zu zweit, zu dritt und auch zu viert auf nebeneinanderlaufenden Pferden vorgeführt wurden.“168
164 Vgl. dazu Eike Wittrock: „Clowns, Elephants, and Ballerinas. Joseph Cornell’s Vision of 19th Century Ballet in Dance Index (as collage)“, in: Conversations Across the Field of Dance Studies 31 (2011), S. 14-23. 165 Joseph Cornell, Clowns, Elephants, and Ballerinas (= Dance Index 5/6, 1946), S. 136. 166 Ebenfalls im Dance Index veröffentlicht Marian Hannah Winter 1948 eine Ausgabe zu Theatre of Marvels, in der sie die spektakulären Unterhaltungsformen des frühen 19. Jahrhunderts als Gegengeschichte zum Opernballett beschreibt. 167 Vgl. Günter Bose, Erich Brinkmann: Circus. Geschichte und Ästhetik einer niederen Kunst, Berlin 1978, S. 41. 168 Ebd., S. 48.
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Der Cirque Olympique ist zwar nur für Pferdedarbietungen lizensiert, weitet seine Darbietungen jedoch konstant aus. Der Direktor der Opéra, LouisBenoît Picard, beschwert sich 1813 in einem Brief an das Innenministerium über dieses Vorgehen: „les chevaux n’y paraissent que pour leur servir d’excuse, et les mélodrames à grand spectacle sont les seules pièces qu’on joue. Le chant et surtout la danse ornent tous les ouvrages.“169 Pferdedarbietungen werden Anfang des 19. Jahrhunderts im Gegenzug immer tänzerischer und gleichen sich dem Ballett an: „Die Kunstreiterin tritt im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts fast nur noch als Ballerina in die Manege […].“170 Als besondere Kunststücke präsentieren die Reiterinnen und Reiter Gleichgewichtsposen auf dem Pferderücken, die den Attituden und Arabesken des Balletts stark ähneln. Wie diese Pose im Zirkus wahrgenommen wurde, zeigt die Beschreibung in einem Kinderbuch aus dem frühen 19. Jahrhundert. In einem anonym erschienenen Buch von 1817 wird der gemeinsame Besuch eines Familienvaters mit seinen beiden Kindern im Cirque Olympique beschrieben, dessen Darbietungen zum Anlass verschiedener pädagogischer Einlassungen über die Physik bewegter Körper und das Verhalten von Tieren werden. Während der Vater seine Kinder zu Demut über ihren sozialen Stand ermahnt, führt Elisa Franconi, die Tante von Antonio, eine Kombination vor, die allgemeines Erstaunen hervorruft: „Pendant cette conversation, Mlle Elisa Franconi exécutoit des tours de souplesse et d’agilité qui ravissoient les spectateurs. Non-seulement elle galopoit debout sur la selle, mais la bride étoit un secours inutile pour l’y maintenir; elle la lâchoit, et sautoit à plusieurs pouces de la selle, en retombant sur ses genoux. Elle alla jusqu’à se tenir sur la pointe d’un seul pied, en jetant un de ses bras en avant, et dans l’attitude qu’on prête à la figure de la Renommée.“171
Die Schlusspose dieser Darbietung ist in einer Zeichnung von J. D. Dugourc festgehalten, die repräsentativ als Frontispiz des Buches abgedruckt ist. Die
169 Brief vom 10.02.1813. Zitiert nach Wild: Dictionnaire des théâtres parisiens au XIXe siècle, S. 84. 170 Bose, Brinkmann: Circus, S. 50 f. 171 Mme B**: Le Cirque Olympique ou Les Exercices des Chevaux de MM. Franconi, du Cerf Coco, du Cerf Azor, de l’Eléphant Baba, suivi du Cheval Aéronaute, de M. Testu Brissy, ou Petits Parallèles de l’instinct perfectionné des Animaux, et de la raison naissante des Enfans, Paris 1817, S. 25 f.
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Autorin des Buches vergleicht diese Pose mit der manieristischen Skulptur der Renommée von Pierre Biard aus dem 16. Jahrhundert, die in ihrer Drehung und ihrem „équilibre précaire sur la pointe du pied“172 Giambolognas Merkur-Statue ähnelt und im 19. Jahrhundert sogar diesem Künstler zugeschrieben wurde. In dieser kleinen pädagogischen Szene werden anders als bei Blasis zentrale Aspekte der arabesken Pose über ihre Rezeption verhandelt. Einerseits nimmt der Vater (und die Autorin des Buchs) die Zirkusdarbietung zum Anlass, die Kinder kunsthistorisch und naturwissenschaftlich zu bilden, andererseits ist die Pose auch Objekt einer Bewunderung, in der sich ästhetische und physikalische Faszination vermischen. Die equestrische Darbietung der Pose wird so zu einer „Szene des Virtuosen“,173 denn sie erfüllt mit der (protokollierten) Begeisterung des Publikums, dem zweifelhaften Status des künstlerischen Produkts und der unwahrscheinlichen Beherrschung des Technischen die wichtigsten Kriterien dieser performativen Kategorie. 174 Dabei ist das „Zirzensisch-Bravouröse“, das dem musikalischen Virtuosentum des frühen 19. Jahrhunderts immer wieder vorgeworfen wird, in dieser Szene, schon aufgrund seines Orts, evident.175
172 http://www.louvre.fr/oeuvre-notices/la-renommee, zuletzt abgerufen am 02.03. 2017. 173 Gabriele Brandstetter: „Die Szene des Virtuosen. Zu einem Topos von Theatralität“, in: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 10 (2002), S. 213243. 174 „In einer performativen Produktion ohne Produkt (im Sinn eines objekthaften Werks) entfaltet sich sein [des Virtuosen] Charisma. Die Aufführung ist die Szene für die alle Erwartungen übersteigende Brillanz der Darbietung des Virtuosen. Es ist ein Ereignis, das entscheidend durch das enthusiastische Publikum getragen wird, welches diese Performance, die Einzigartigkeit des technischen Könnens, das Spiel mit dem Medium und die Selbstdarstellung des Virtuosen würdigt.“ Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann: „Einleitung,“ in: dies. (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011, S. 9-11, hier S. 9. 175 Vgl. dazu Dana Gooley: „Franz Liszt, Popular Theater, and the Performance of Universality“, in: Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011, S. 151-170.
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Abbildung 17: Mme. Franconi als „La Renommée“
Mme B**: Le Cirque Olympique ou Les Exercises Des Chevaux […], Paris 1817.
In der Performance der Pose im Cirque Olympique, wie sie im anonymen Kinderbuch dargestellt wird, lässt sich die Steigerung des Risikos einer Performance, die das mechanische Prinzip des Gleichgewichts ausreizt, beobachten. Die Erklärungen des Vaters, der die Tricks naturwissenschaftlich einordnet, steigern dabei nur das Beeindruckende der Darbietung. Gerade im Licht der naturwissenschaftlichen Gesetze erscheint deren scheinbare Überschreitung wie auch deren faktische Beherrschung noch unwahrscheinlicher. Gemeinsam mit dem Zirkus schafft der aufgeklärte Vater eine „Erfahrung von Evidenz“, in der das Wunderbare und Staunenswürdige Erkenntnis schafft – diese Zirkus-Szene lässt sich so auch an den ‚alten‘ Begriff des Virtuosen aus dem 16. und 17. Jahrhundert anschließen.176 Die Einbettung der gehaltenen Balance-Pose auf dem galoppierenden Pferd in mechanisches und ästhetisches Wissen ist die performative Realisierung von Blasis’ theoretischer, mechanischer und ästhetischer Herleitung
176 Gabriele Brandstetter: „Die Szene des Virtuosen“, S. 219.
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der Pose und kehrt ihre Virtuosität hervor, die in dieser Szene vom – nicht nur kindlichen – Staunen bezeugt wird.177 Die Korrespondenz von Zirkus und Ballett, ihr gegenseitiger Austausch von Motiven und Techniken, weist auf eine grundlegende Veränderung im theatralen Schauen hin, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzieht. Beide haben Teil an einer generellen Spektakularisierung, die von Zeitgenossen bemerkt und kommentiert wird. „Les temps des spectacles purement oculaires est arrivé“ 178 schreibt Théophile Gautier mit durchaus kritischem Unterton in seiner Rezension einer Aufführung im Cirque Olympique, der zu diesem Zeitpunkt bereits in seinem dritten Gebäude residiert und dort hauptsächlich Feerien und Hippodramen zeigt. Mit einem ironischen Ton, bei dem schwer zwischen Anklage und Lob zu unterscheiden ist, konstatiert Gautier eine allgemeine Müdigkeit und Langeweile gegenüber der Sprache und dem Hören im Theater. Die moderne Zeit sei so voller Anstrengungen, voller „préoccupations ambitieuses ou politiques“, das jegliche Aufmerksamkeit am Abend zuviel Mühe sei.179 Der Zirkus dagegen sei „opéra de l’œil“,180 ein (vornehmlich) optisches Spektakel, das nicht diskursiv strukturiert ist, sondern vor Augen stellt. Gautier fantasiert in einer weiteren Kritik, was das Ballett vom Zirkus lernen könne und was ein Choreograf mit Zirkuskünstler*innen wie dem
177 Das Risiko, das Gefährliche dieser Situationen, vereinigt dabei das Publikum zu einer temporären Gemeinschaft im Angesicht des Spektakels, eine Gemeinschaft, die sich eben durch ihren Mangel von Öffentlichkeit auszeichnet. Vgl. Kai van Eikels: „Freie Bereicherung, raffinierte Glückseligkeit: Das Virtuose im ökonomischen und politischen Denken der Romantik“, in: Gabriele Brandstetter, Gerhard Neumann (Hg.): Genie – Virtuose – Dilettant. Konfigurationen romantischer Schöpfungsästhetik, Würzburg 2011, S. 67-98. Für eine historische Herleitung kollektiver Sympathie im Angesicht der Seiltänzerin vgl. Susan Leigh Foster: Choreographing Empathy. Kinesthesia in Performance, London/New York 2011, S. 126-153. 178 Théophile Gautier: „Cirque-Olympique. Murat“, in: La Presse, 8.11.1841, S. 1-2, hier S. 1. 179 Ebd. 180 Théophile Gautier: 9.02.1846, zit. nach ders.: Histoire de l’art dramatique en France depuis vingt-cinq ans [1858-59], Bd. 4, Genf 1968, S. 210.
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Kunstreiter Andrew Ducrow oder einer Tänzerin, die gleichzeitig Seiltänzerin sei,181 anstellen könne: „Que ne pourrait essayer un chorégraphe qui aurait l’imagination, avec de gaillards comme Auriol, Laurence et Redisha, Ducrow, Risley et ses fils? Une danseuse qui serait en même temps funambule produirait des effets merveilleux dans un ballet féerique. L’emploi du tremplin ferait obtenir des élévations prodigieuses, et l’équilibre donnerait des groupes et des renversemens d’un effet tout à fait neuf. […] [Il] serait facile d’inventer des choses d’une grâce encore plus effrayante et plus risquée […].“182
Die ‚wunderbaren‘ Effekte, die Gautier zur Verbesserung des Balletts vorschlägt, basieren auf akrobatischen Zirkuskunststücken. Mit Hilfe des Seiltanzes oder eines Trampolins ließe sich der Eindruck des Schwebens und Fliegens, die Illusion anderer Bewegungsformen, die im Ballett des 19. Jahrhunderts so zentral sind, viel leichter und effektvoller erzeugen. Die Pose Arabeske lässt sich so in eine Reihe mit diesen Zirkusattraktionen stellen, auch wenn der Effekt von Bewegung im Ballett schwächer und das Risiko ohne Pferd geringer ist. Der Blick auf den Zirkus zeigt, wie diese Balance-Pose auch als spektakuläres Element eingesetzt werden kann. Die Arabeske wird so selbst zu einem optischen Effekt: Ihre Abstraktionstendenz, die ihr durch Verschriftlichung und Linearisierung eingepflanzt wurde, verortet sich im Bereich des Optischen – die Arabeske als Schrift wird nicht gelesen, sondern gesehen.183 In der Reintegration der zirzensischen Schau-Effekte unterscheidet sich das Ballett des frühen 19. Jahrhunderts vom Bild-Begriff des Ballet en action im 18. Jahrhundert. In Jean-George Noverres Ästhetik, die er in seinen Lettres sur la danse ausführt, nimmt das Bild (als Gemälde und Tableau vivant) eine zentrale Rolle als Vor-Bild für den Affektausdruck ein: als Modell der (dra-
181 Jean-Pierre Aumers Ballett La Somnambule (1827) mit Musik von Hérold kulminiert in einem Balance-Akt der Protagonistin auf dem Dach einer Mühle und ist so das Paradestück einer Tänzerin, die gleichzeitig Seiltänzerin ist. Vgl. dazu Sarah Hibberd: „‚Dormez donc, mes chers amours‘: Hérold’s La Somnambule (1827) and dream phenomena on the Parisian lyric stage“, in: Cambridge Opera Journal 16/2 (2004), S. 107-132. 182 Théophile Gautier: „Porte-Saint-Martin“, in: La Presse, 24.06.1844, S. 1. 183 Vgl. das im Eingangskapitel vorgestellte Konzept der „wilden Semiose“ von Aleida Assmann.
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maturgischen) Komposition einer Ballettpantomime, wie auch als Link zur Physiognomik.184 Im 19. Jahrhundert entwickelt sich dagegen im Ballett eine andere Bildvorstellung, die Marian Hannah Winter als „choreographic image“ bezeichnet und auf eine strukturierte, bewegte Gesamtkomposition auf der Bühne bezieht. Winter verortet in der Integration von Akrobatik in den künstlerischen Tanz den Beginn eines modernen Choreografieverständnisses: „But it is in the development of choreography in its modern sense of invention and direction of ballets, that acrobatic staging had a decisive influence. Neither patterned court ballets nor social and folk dances provided a structural stage picture. This was determined by staged acrobatic numbers to which the literary element of plot and various dance forms could be added. The breathtaking second in which a ballet attitude is held was foreshadowed in the acrobats’ pyramid at its final moment, before dissolution. When acrobacy came to terms with art the choreographic image resulted.“185
Was bereits in Gautiers (halb scherzhafter) Forderung deutlich geworden ist, wird von Winter noch einmal unterstrichen: im Ballett des frühen 19. Jahrhunderts werden akrobatische Elemente in das Ballett eingeführt, die sich in fantastischen Narrationen besonders gut in die Handlung integrieren bzw. aus der Handlung heraus die akrobatischen Digressionen legitimieren. Das verändert das choreografische Bild: wo vorher der Affektausdruck im Vordergrund stand, ist das Bild nun nicht mehr (wie in der Tradition der Tableaux vivants) als augenfällige Konstellation der Beziehungen der einzelnen Figuren zueinander lesbar, sondern – als fantastische (An-)Ordnung von Figuren im Raum – ornamental geworden. Die alternative Genealogie der Pose Arabeske aus dem Zirkus, auch wenn sie hier nur kurz angerissen werden konnte, hat den gängigen Charakterisierungen der Arabeske als kunsthistorische Pose und Modell der Mechanik die Dimension des Spektakulären und Virtuosen hinzugefügt, die in der Rezeption des frühen 19. Jahrhunderts ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Daraus folgt, dass die Arabeske nicht ausschließlich technisch oder über
184 Vgl. Gabriele Brandstetter: „‚Die Bilderschrift der Empfindung‘. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde“, in: Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack (Hg.): Friedrich Schiller und die höfische Welt. Festschrift für Peter Michelsen zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 77-93, hier S. 81 ff. 185 Winter: The Pre-Romantic Ballet, S. 263.
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Vor-Bilder zu erfassen ist, sondern – wie im vorherigen Abschnitt bereits angekündigt – auch als Figur der Aufführung begriffen werden muss. Die Ballettpose Arabeske ist somit zweifach in eine optische Wahrnehmung eingebunden: als (imaginäre, fantastische) Linearisierung der Körpers in Blasis’ pädagogischer Elementarisierung, sowie durch das spektakuläre Display von Virtuosität aus der Zirkustradition. Der Austausch ästhetischer Formen zwischen Ballettbühne und Zirkus funktioniert beidseitig, sie teilen im frühen 19. Jahrhundert ein gemeinsames Repertoire von Bühneneffekten und Motiven. Die Bühne der Opéra importiert Tricks aus den Unterhaltungstheatern des Boulevards und der Zirkus richtet sein Spektakel am Ballett aus, indem populäre Motive (wie die Sylphide) zu Pferd nachgestellt werden.186 Trotz der Ähnlichkeiten im Zuschauen und in der Zurschaustellung gibt es jedoch – zumindest tendenziell – eine Differenz zwischen der Performance der Pose im Zirkus und in den Balletten der Pariser Opéra. In Werken wie La Somnambule oder Giselle ist die Virtuosität der Pose in ein Narrativ eingebunden, das deren Risiko – als Gefahr des Stürzens im Schlafwandeln oder als symbolische Gefahr des ungezügelten Begehrens – und deren immanente Überschreitung reflektiert. Nachdem nun die theoretische und technische Grundlegung der Arabeske betrachtet wurde, sollen zum Abschluss dieses Kapitels verschiedene Einsätze dieser virtuosen Pose in Giselle auf Grundlage der Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren untersucht werden.
A RABESKEN IN G ISELLE Giselle ou Les Wilis wurde am 28. Juni 1841 als „Ballet fantastique en deux Actes“ in der Pariser Opéra uraufgeführt.187 Arabesken spielen eine zentrale Rolle in diesem Werk, das als Höhepunkt des Balletts im frühen 19. Jahr-
186 Bose, Brinkmann: Circus, S. 51. 187 Wie zu dieser Zeit üblich, wurde das Ballett in Kombination mit einem Musiktheaterwerk präsentiert, vor der Premiere wurde der 3. Akt von Rossinis Moïse aufgeführt. Die Musik zu Giselle schrieb Adolphe Adam, die Geschichte haben Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges, Théophile Gautier und Jean Coralli gemeinsam entwickelt, das Bühnenbild stammt von Pierre-Luc-Charles Cicéri, einem der wichtigsten Bühnenbildner dieser Zeit, die Kostüme von Paul Lormier und die Choreografie wurde von Jules Perrot und Jean Coralli gestaltet. Die Titelrolle der Giselle tanzte Carlotta Grisi, die in der Folge mit dieser Rolle identifiziert wurde.
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hundert gilt. Der Tänzer und Choreograf Serge Lifar nennt sie „Leitmotiv“ und „Personifikation“188 der Willis, die den zweiten Akt von Giselle schwebend bevölkern. Arabesken werden in Giselle sowohl zur ‚Transformazion‘ des zentralen Liebesmotivs eingesetzt, als Signatur des Tanzwahns wie auch um in der ‚Andersheit‘ der Bewegung der geisterhaften Willis eine schauerhafte Atmosphäre zu schaffen. Die Arabeske ist ‚Zeichen‘ oder ‚Symbol‘ von Bewegung, in einem Ballett dessen zentrales Thema die Gefahr des Tanzens ist, und gleitet über in ein bewegtes Ornament. Die Arabeske vermittelt aber auch tanztechnisch die Atmosphäre dieses Balletts, die in der literarischen Vorlage angelegt ist. Die Handlung von Giselle sei hier kurz zusammengefasst: Giselle, ein thüringisches Dorfmädchen, liebt das Tanzen über alles. Trotz der Warnungen ihrer Mutter Berthe, dass ihr aufgrund einer schwachen Konstitution und unstillbaren Tanzlust das Schicksal der sagenhaften Willis drohe, lässt sie sich weder vom Tanzen mit ihrem Verlobten Loys noch von der Beteiligung am lokalen Winzerfest abbringen. Als ihr Nachbar Hilarion, der ebenfalls in sie verliebt ist, aufdeckt, dass Giselles Verlobter Loys in Wirklichkeit der schlesische Herzog Albrecht ist, der noch eine weitere Verlobte hat, wird sie wahnsinnig und stirbt tanzend vor der Dorfgemeinschaft und dem herzöglichen Gefolge. Im zweiten Akt besucht Albrecht zur Mitternachtsstunde das Grab von Giselle. Dort wird er Zeuge, wie eine Reihe von toten Mädchen, die sogenannten Willis, angeführt von ihrer Königin Myrtha aus ihren Gräbern steigen und zu tanzen beginnen. Giselle ist eine von ihnen. Die Willis zwingen Albrecht und Hilarion, mit ihnen bis zur Erschöpfung zu tanzen. Hilarion stirbt, Albrecht kann jedoch von Giselle und der anbrechenden Morgendämmerung vor dem Tod gerettet werden. Giselle kehrt in ihr Grab zurück und Albert vereinigt sich mit seiner anderen, standesgemäßen Verlobten. Um die Übertragung dieser Geschichte von einer mündlichen Erzählung über ihre literarische Niederschrift auf die Bühne zu verdeutlichen, ist ein kurzer Exkurs in die Entstehungsgeschichte dieses Balletts notwendig. Der literarische Ursprung von Giselle ist oft erzählt worden.189 Der französische
188 Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, S. 46. 189 Z.B. Cyril W. Beaumont: The Ballet Called Giselle, London 1948, S. 18-27, und den Kommentar in Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der
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Autor, Kritiker und Ballett-Liebhaber Théophile Gautier entwirft nach der Lektüre von Heinrich Heines De L’Allemagne ein zweiaktiges Ballett. Gautier hat die Schreibszene seines ersten Entwurfs in einem Brief an Heine, den er am 5. Juli 1841 in La Presse veröffentlicht, eindrücklich – und poetisch verkürzt – beschrieben. Noch während des Lesens von Heines Beschreibung schrie er ‚unwillkürlich‘ auf: „Quel joli ballet on ferait avec cela! Je pris même, dans un accès d’enthousiasme, une belle grande feuille de papier blanc, et j’écrivis en haut, d’une superbe écriture moulée: – Les Wilis, ballet […]“.190 Die Genese von Giselle beginnt mit einer großen Schreibgeste. Heines Text, der die literarische Vorlage für das Ballett abgibt, ist die Nacherzählung deutscher Volkssagen in De L’Allemagne, die das zentrale Motiv dieses Balletts vorgibt.191 Dieser Text erscheint zuerst 1835 auf Französisch, als Reaktion auf das gleichnamige Buch von Madame de Staël.192 Die Nacherzählung der Volkssage der Willis193 befindet sich im Abschnitt „Tradition Populaires“, in dem Heine auf das Weiterleben der antiken und heidnischen Götter im Volksglauben hinweist: „Nicht alles ist todt in Westphalen, was begraben ist.“ 194 Heine gibt dort die Geschichten der Luft-, Wasser-, Feuer- und Erdgeister wieder, die bereits von Paracelsus unter dem Namen Elementargeister zusammengefasst wurden; er sieht in ihnen eine „Trans-
Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 9 bearbeitet von Ariane Neuhaus-Koch, Hamburg 1987, S. 540-546. 190 Théophile Gautier: „À M. Henri Heine, à Cauteretz“, in: La Presse, 5.07.1841, S. 1-2, hier S. 1. 191 Markus Winkler betrachtet Heines Projekt einer poetischen Nacherzählung von Volkssagen als Auseinandersetzung mit dem Mythos als ‚fremdes Denken‘. Vgl. Markus Winkler: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus. Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines, Tübingen 1995. 192 Die deutsche Version dieses Teils erscheint unter dem Titel Elementargeister im dritten Band des Salon von 1837. 193 Heine greift dafür auf die Beschreibung einer slavischen Volkssage von Therese von Artner, die 1822 im Taschenbuch für vaterländische Geschichte erschien. Therese von Artner: „Der Willi-Tanz. Eine slavische Volkssage“, in: Taschenbuch für vaterländische Geschichte 3, Wien 1822, S. 230-248, Wiederabdruck in Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis. 194 Heinrich Heine: „Elementargeister“, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 9, S. 9-64, hier S. 11.
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formazion der altheidnischen [und antiken] Götter“,195 die vom Christentum in Teufel und Dämonen, Hexen und Kobolde verwandelt wurden. Im Libretto der Uraufführung des Balletts ist eine Passage von Heines Text abgedruckt, die die literarische Bearbeitung des Mythos als Vorlage des Balletts ausgibt und die „Tanzlust“ der Willis, die für das Verständnis des Balletts zentrale Eigenschaft dieser Figuren, beschreibt: „TRADITION ALLEMANDE. Dont est tiré le sujet du Ballet de Giselle ou les Wilis Il existe une tradition de la danse nocturne connue dans les pays slaves sous le nom de Wili. – Les Wilis sont des fiancées mortes avant le jour des noces; ces pauvres jeunes créatures ne peuvent demeurer tranquilles sous leur tombeau. Dans leurs cœurs éteints, dans leurs pieds morts, est resté cet amour de la danse qu’elles n’ont pu satisfaire pendant leur vie, et à minuit elles se lèvent, se rassemblent en troupes sur la grande route et malheur au jeune homme qui les rencontre, il faut qu’il danse avec elles jusqu’à ce qu’il tombe mort. Parées de leurs habits de noce, des couronnes de fleurs sur la tête, des anneaux brillants à leurs doigts, les Wilis dansent au clair de lune comme les Elfes; leur figure quoique d’un blanc de neige est belle de jeunesse. Elles rient avec une joie si perfide, elles vous appellent avec tant de séduction, leur air a de si douces promesses, que ces Bacchantes mortes sont irrésistibles. Henri HEINE (de l’Allemagne).“196
195 Ebd., S. 52. 196 Libretto der Giselle-Uraufführung von 1841: Henry Vernoy de Saint-Georges: Giselle ou Les Wilis. Ballet fantastique en 2 Actes par Mm. de Saint-Georges, Théophile Gautier et Coraly, Paris 1841; vgl. dazu auch Marian Smith: Ballet and Opera in the Age of Giselle, Princeton 2000, S. 215 f. Die entsprechende Stelle bei Heine lautet: „In einem Theile Oestreichs giebt es eine Sage, die mit den vorhergehenden [den Luftgeister-Sagen] eine gewisse Aehnlichkeit biethet, obgleich sie ursprünglich slavisch ist. Es ist die Sage von den gespenstischen Tänzerinnen, die dort unter dem Namen ‚die Willis‘ bekannt sind. Die Willis sind Bräute, die vor der Hochzeit gestorben sind. Die armen jungen Geschöpfe können nicht im Grabe ruhig liegen, in ihren todten Herzen, in ihren todten Füßen blieb noch jene Tanzlust, die sie im Leben nicht befriedigen konnten, und um Mitternacht steigen sie hervor, versammeln sich truppenweis an den Heerstraßen, und Wehe! dem jungen Menschen, der ihnen da begegnet. Er muß mit ihnen tanzen, sie umschlingen ihn mit ungezügelter Tobsucht, und er tanzt mit ihnen, ohne Ruh und Rast, bis er todt niederfällt. Geschmückt mit ihren Hoch-
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Die Inszenierung versucht, die Stimmung dieser Erzählung mit ihren Mitteln auf die Bühne zu übertragen. Während der erste Akt das volkstümliche Bild eines ländlichen, mittelalterlichen Deutschlands zeichnet,197 schafft der zweite Akt für den Tanzplatz der Willis eine fantastische Kombination aus ‚deutschen‘ und ‚orientalischen‘ Klängen, 198 in einem verwirrenden Bühnenbild, das lokale mit exotischer Fauna vermischt 199 und dessen dichter Pflanzenwuchs mithilfe der gedämpften Beleuchtung eine schauerhafte Atmosphäre kreiert haben muss. Serge Lifar imaginiert diese wie folgt: „[Le] décor est lourd, surchargé, étouffant, défavorable aux dispositions symétriques de groupes. Il n’y a pas une tombe, mais plusieurs tombes et tertres de gazon qui se perdent dans une végétation touffue. Le peintre a exigé, pour sa décoration, 200 roseaux et joncs marins, 40 mètres de liane, 120 branches de fleurs avec feuillage. Connaissant l’espace relativement réduit de la scène de la rue Lepelletier, on se rend compte aisément qu’il en résulte un certain fouillis. La lune, élément essentiel de la décoration, est découpée en transparent et éclairée par derrière ; des nuages se meuvent, obscurcissant l’astre et le découvrant, tour à tour, pendant que les acteurs, les arbres et les croix tombales portent leur ombre les uns sur les autres et sur le sol, procédé inauguré par Daguerre, à l’Ambigu-Comique. Le grand effet de Ciceri ce sera, entendons-nous dire, le lever du soleil, à la fin de l’acte, obtenu en éclairant la scène à contre-jour pour le spectateur, au moyen d’une lampe à gaz très forte dont on augmentera progressivement l’intensité.“200
zeitkleidern, Blumenkronen und flatternde Bänder auf den Häuptern, funkelnde Ringe an den Fingern, tanzen die Willis im Mondglanz, eben so wie die Elfen. Ihr Antlitz, obgleich schneeweiß, ist jugendlich schön, sie lachen so schauerlich heiter, so frevelhaft liebenswürdig, sie nicken so geheimnißvoll lüstern, so verheißend; diese todten Bacchantinnen sind unwiderstehlich.“ Heine: „Elementargeister“, S. 19. 197 Dass die Sage dabei ursprünglich slavisch ist, und das sowohl von Heine wie auch in der verkürzten Version des Librettos so angegeben wird, scheint dem ‚deutschen‘ Geschmack dieser Geschichte keinen Abbruch getan zu haben. 198 Zum Walzer als musikalisches Lokalkolorit des ersten Akts vgl. Smith: Ballet and the Opera in the Age of Giselle, S. 191-195. 199 Vgl. dazu die neueren Erkenntnisse über die Originalszenerie, die anhand des Bühnenbildmodells des 2. Akts rekonstruiert wurde, in Delphine Demont, Wilfride Piollet: „Du Palmier et de la Willi“, in: Bulletin de la société Théophile Gautier. Gautier et les arts de la danse 31 (2009), S. 143-158. 200 Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, S. 92 f.
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Die Choreografie unterstützt diese Atmosphäre nicht nur mit den zahlreichen Bühnentricks, mit denen der Eindruck fliegender, sich übernatürlich bewegender Willis erzeugt wird, sondern auch in den beinahe okkult anmutenden Formationen identisch gekleideter Tänzerinnen. Giselle ist auch der Versuch einen literarisch verarbeiteten Mythos in einen getanzten umzuwandeln, und die Arabeske stellt dabei ein zentrales Mittel dar.201 Die detaillierteste Untersuchung der Choreografie von Giselle ist Serge Lifars Studie von 1942, die zum hundertjährigen Jubiläum der Uraufführung erschienen ist.202 Das Fehlen formaler Untersuchungen der Choreografie unter ästhetischen Fragestellungen rührt größtenteils aus der schwierigen Forschungslage. Ballette des 19. Jahrhunderts sind fast ausschließlich über sekundäre Quellen wie Libretti und Lithografien zugänglich. Gabriele Brandstetter, die sich in einem Aufsatz dem Raum-Dualismus dieser Ballette auch über die Choreografie nähert, weist auf diese lückenhafte Übertragung hin.203 In den letzten Jahren sind jedoch zwei frühe annotierte RépétiteurPartituren von Giselle in St. Petersburg,204 und eine komplette Notation der
201 Vgl. dazu auch Eike Wittrock: „Transformazionen – Giselle“, in: Yilmaz Dziewior, Sebastian Egenhofer (Hg.): So machen wir es. Techniken und Ästhetik der Aneignung von Ei Arakawa bis Andy Warhol, Ausstellungskat. Kunsthaus, Bregenz 2011, S 254-259. 202 Die tanzwissenschaftliche Literatur zu Giselle hat sich in den letzten Jahren auf Fragen der Narration und ihre politischen Implikationen konzentriert. Dabei werden meist die Handlung und allgemeine Aspekte der Balletttechnik auf Klassenund Geschlechterdistinktionsmechanismen untersucht. So betrachtet Susan Foster unterschiedliche „stagings of desire“ in Giselle (Foster: Choreography & Narrative, S. 243-251). Felicia McCarren dagegen liest die weiblichen Hauptfiguren dieses Balletts als Prostituierte, Syphilliskranke, Hysterikerinnen oder als in prekären Beschäftigungsverhältnissen stehende Tänzerinnen. (Felicia McCarren: Dance Pathologies. Performance, Poetics, Medicine, Stanford 1998, S. 49-112). Beide Untersuchungen gehen dabei von der Ikonografie und der Handlung, wie sie im Libretto von Giselle beschrieben ist, aus, ohne die Effekte der Übertragung in andere Medien zu betrachten. 203 Gabriele Brandstetter: „‚Geisterreich‘. Räume des romantischen Balletts“, in: Inka Mülder-Bach, Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik, Freiburg 2007, S. 217-237, S. 219 f. 204 Marian Smith: „The Earliest Giselle? A Preliminary Report on a St. Petersburg Manuscript“, in: Dance Chronicle 23/1 (2000), S. 29-48. Die Répétiteure interessieren vornehmlich für eine Untersuchung der pantomimischen Szenen, da in
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Choreografie, ins Bewusstsein der Forschung (zurück)getreten, sodass nun zumindest für dieses Werk eine Analyse der Choreografie auf Basis einer Quelle möglich ist, die recht nah an der ‚originalen‘ Choreografie steht. Die folgende Betrachtung des Einsatzes der Arabeske in Giselle basiert auf der frühesten bekannten Notation dieses Balletts von Henri Justamant, 205 die von Frank-Manuel Peter auf die 1860er Jahre datiert wird, wird aber immer wieder von anderen (tanztheoretischen) Texten verschiedener Zeiten für einzelne Aspekte oder Fragestellungen ergänzt. Justamants Partitur stellt ein ideales Medium für die Untersuchung der Arabeske dar. Einerseits zeichnet Justamants Notationsweise Arabesken klar aus, andererseits eignet sich die implizite Bildhaftigkeit dieser Pose besser für diese Form der Aufzeichnung als Figuren der Bewegung, wie pas oder Pirouetten. Die Arabesken springen in dieser Partitur regelrecht ins Auge. Die Choreografie von Giselle, die auf Jules Perrot und Jean Coralli zurückgeht, verwendet – wie sowohl Cyril W. Beaumont als auch Serge Lifar feststellen – ein relativ kleines Repertoire von Schritten. Beaumont klassifiziert es in sieben Gruppen: „Movements: développé, grand rond de jambe. Poses: arabesque, attitude. Gliding steps: chassé, glissade, pas de basque, pas de bourrée. Hopping steps: balloné, temps levé. Leaping steps (vertical): ballotté, entrechat, rond de jambe en l’air sauté, sissonne. Leaping steps (horizontal): cabriole, jeté, grand jeté, soubresaut. Turning steps: pirouette, petit tour, tour en l’air.“206
ihnen Wort für Wort der stumme Dialog in die Noten eingezeichnet ist. (Smith: Ballet and Opera in the Age of Giselle, S. 180-186). Auf Grundlage dieser Quellen hat Doug Fullington gemeinsam mit Peter Boal und Marian Smith 2011 eine historische Rekonstruktion von Giselle für das Pacific Northwest Ballet einstudiert: Vgl. http://www.ustream.tv/recorded/11925622, zuletzt abgerufen am 02.03.2017. Peter Boal beschreibt in diesem Beitrag, welche Probleme eine ‚authentische‘ Produktion von Giselle mit sich bringt, da sich Tanztechnik und die Vorstellung von Virtuosität seit dem 19. Jahrhundert stark verändert haben. 205 Diese Notation befindet sich im Deutschen Tanzarchiv in Köln. Vgl. Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis. Zum Justamant-Konvolut vgl. Kap. 1. 206 Beaumont: The Ballet called Giselle, S. 85 f.
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Serge Lifars Liste ist ähnlich, auch er spricht von einem reduzierten Vokabular, das mit den Grundlagen der Balletttechnik arbeitet: „Le vocabulaire, employé par le choréauteur, est des plus simples; il repose entièrement sur les rudiments d’école; l’auteur l’enrichit, en lui amalgamant des éléments de pantomime, en procédant à une sorte de stylisation mimique. C’est ainsi que dans le pas d’amour, Giselle et Loys se dirigent vers le banc par glissades, au lieu de marcher normalement (comme l’eût réglé tout autre maître de ballet de l’époque), c’est ainsi qu’ils s’envoient des baisers sur arabesque, que Giselle jette des fleurs à Albert sur des grands jetés, arabesques piquées, etc. Les motifs chorégraphiques utilisés par le choréauteur sont le grand jeté, la cabriole, l’assemblée, le sissonne, les pirouettes, les ballonnés, les pas de bourrée, les pas de basque sautés, les pas de flèche, les entrechats, les ronds de jambe, les arabesques, les attitudes, – et voilà à peu près tout le vocabulaire de Giselle.“207
Lifar stellt den ökonomischen Umgang der Choreografen (er verwendet seinen eigenen Neologismus Choréauteur) mit dem Bewegungsmaterial heraus, das gleitend in die Pantomime übergeht. In dieser „stylisation mimique“ bekommen Figuren wie die Arabeske eine narrative Funktion und werden in die Handlung eingebunden. Es gibt in Giselle aber auch Beispiele für einen anderen Einsatz dieser Figur: Im „bal fantastique“208 bewegen sich die Willis in horizontalen Reihen von Arabesken linear, abstrakt und fast minimalistisch durch den Raum. In Giselle lassen sich so unterschiedliche Einsätze der Arabeske betrachten, die von narrativer Funktion über ihren „symbolischen“ Einsatz bis zur abstrakten Formbildung reichen. Einzelne Arabesken Auch wenn die Arabeske – wie z.B. von Lifar – als Figur der weiblichen und geisterhaften Willis wahrgenommen wird, ist sie streng genommen weder einem Geschlecht noch einer ‚Daseinsform‘ zugeordnet. Auch Albert posiert in Arabeske – jedoch nie allein, sondern nur im Duett mit Giselle – und Giselle sieht man sowohl vor wie auch nach ihrer Verwandlung zu einer unto-
207 Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, S. 43. 208 So das Libretto der Uraufführung, Giselle ou Les Wilis; vgl. den Wiederabdruck in Smith: Ballet and Opera in the Age of Giselle, S. 222.
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ten Willi in dieser Pose. Der Einsatz von Arabesken209 steigt im zweiten Akt, dem ‚ballet blanc‘, jedoch überproportional an. Man findet sie gehäuft in den Bewegungen von Myrtha, den Willis und der nun zu ihnen gehörenden Giselle. Die erste Arabeske in Justamants Notation von Giselle wird kurz nach ihrem ersten Auftritt in der vierten Szene des ersten Akts von Giselle ausgeführt.210 Diese Arabeske ist eine der ersten Tanzfiguren dieses Balletts überhaupt, denn vor Giselles Auftritt gibt es nur pantomimische Szenen. Damit wird der Unterschied zu den anderen Bewohnern der ‚Realwelt‘ des ersten Aktes, die gehen oder schreiten, deutlich markiert: Giselles primärer Bewegungsmodus ist das Tanzen. Von dem Moment an, wo sie ihren Kopf aus der Tür ihrer Hütte heraussteckt, bewegt sie ihre Füße in Tanzschritten. Justamant schreibt vor: „Elle sort en sautant naturellement avec grace et un peu de laisser aller.“211 Die Notation beschreibt ein Gehen, das beinahe schon kein Gehen mehr ist, sondern springend und schlendernd einen ‚natürlichen‘ Übergang ins Tanzen findet. Nach ihren ersten Schritten wechselt Giselle sofort ins Ballettvokabular: „partant du pied droit elle fait une glissade dessous, pas marché en avant en arabesque allongée / un tour en dedans dans cette position“.212 Diese erste Arabeske dient dazu, das Tanzen von Giselle als Gegensatz zur ‚normalen‘ Fortbewegung der anderen Dorfbewohner aufzustellen. Die Arabeske wird als Tanzfigur ausgestellt, als Element des Ballettvokabulars (und nicht, was auch möglich gewesen wäre, des Volkstanzvokabulars) eingesetzt, das ganz allgemein auf Tanzen verweist. (Den Einsatz der Arabeske in den Duetten von Loys/Albert und Giselle könnte man ebenso als Rückgriff auf konventionelles Vokabular begreifen.213) Giselle ist von Anfang an ein Ballett über das Tanzen. Der Bewegungsmodus Tanzen (im Ballettstil) ist nicht der unmarkierte Grundmodus, in dem sich alle Figuren bewegen,
209 Als Kriterium, welche choreografischen Formen hier als Arabesken gelten, wird hier Justamants Beschreibung in der Notation gefolgt. 210 Die Partitur von Justamant gibt keine Szenen an, sondern unterteilt grob die Akte und betitelt nur einzelne Szenen, wie die „Scène de folie“ oder das „Bacchanale“ im zweiten Akt. Die Nummerierung der Szenen ist dem Libretto der Uraufführung entnommen. Die Paginierung von Justamants Manuskript ist wahrscheinlich nachträglich eingefügt. 211 Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 12. 212 Ebd., S. 13. 213 Vgl. ebd., S. 22 und 77.
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sondern wird zu Beginn als Besonderheit eingeführt, die mit bestimmten Figuren – der Titelfigur Giselle und der Tanzfigur Arabeske – verbunden ist. Erst im zweiten Akt, wenn die Handlung in das fantastische Reich der Willis übergeht, wird das Tanzen als Bewegungsmodus normalisiert. Die nächste Gruppe von Arabesken zeichnet sich durch ihren ‚praktischen‘ Einsatz in der Narration aus, den Lifar als „stylisation mimique“ bezeichnet. Die Arabeske wird in eine Aktion eingebettet, bzw. eine Handlung mit einer Arabeske dekoriert. Dazu zählt sowohl der Handkuss, den Giselle Albert in der vierten Szene des ersten Akts gibt, wie auch das Blumenpflücken von Myrtha in der dritten Szene des zweiten Akts.214 In beiden Fällen wird eine (mehr oder weniger) alltägliche Handlung tänzerisch eingefärbt, was zu der Stilisierung des „Mimischen“ führt – das (Panto-)Mimische steht stets für den Handlungsaspekt des Balletts. Dabei werden diese Aktionen von jenen Figuren ausgeführt, die besonders mit dem Bewegungsmodus des Tanzens assoziiert sind: die ‚tanzverrückte’ Giselle wie auch die Königin der Willis, die nach dem Mythos ebenfalls der Tanzlust verfallen ist. Die ‚mimische Stilisierung‘ ist durch die Anlage des Balletts und ihre Personengestaltung konzeptionell abgesichert. Wie bestimmte Posen oder Schritte des Ballettvokabulars en arabesque ausgeführt werden können (Pirouette oder Piqué en arabesque), entstehen so auch Handlungen en arabesque: ein Kuss en arabesque stilisiert das Küssen, dekoriert es mit einer besonderen Qualität. Der Kuss wird tänzerisch, in einem spezifischen tänzerischen Stil – en arabesque – ausgeführt, der ihn leicht und grazil macht. Eine der zentralen Szenen von Giselle, sowohl von der Balletterzählung wie auch in der Verwendung der Arabeske, ist der Pas de deux von Giselle und Albert am Ende des zweiten Akts. Dieses Duett schließt an die Szene an, in der Myrtha und die Willis versuchen, Albert durch Tanzen zu töten. Giselle und das Kreuz auf ihrem Grab schützen ihn jedoch vor Myrthas Bann. Myrtha zwingt Giselle zum Tanzen, die „avec la plus gracieuse et la plus étrange ardeur, et comme emportée par un délire involontaire“ 215 Albert vom beschützenden Grab weglockt. Beide sind nun wieder unter dem Tanzbann von Myrtha und tanzen bis zur Erschöpfung. „Un pas rapide, aérien, frénétique, commence entr’eux. Ils semblent tous deux lutter de grâce et d’agilité: parfois ils s’arrêtent, pour tomber dans les bras l’un de l’autre, puis la musique fantastique leur rend de nouvelles forces et une nouvelle ar-
214 Ebd., S. 23 und 138. 215 Smith: Ballet and Opera in the Age of Giselle, S. 225.
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deur!!!…“216 Die ganze Szene spielt sich, darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen, gerahmt von im Halbkreis aufgestellten Willis ab, „en les encadrant dans des poses voluptueuses“.217 Marian Smith hat den ungefähren Ablauf dieser Szene und des anschließenden Pas de deux mit Hilfe des musikalischen Materials rekonstruiert. Dieser unterscheidet sich insofern von heutigen Produktionen, als im 19. Jahrhundert der pantomimische Anteil weitaus größer ist: „[Today’s] streamlining neatly expunges many details of the plot and narrows the spectators’ focus to the lead couple and their pas de deux, which has itself been altered in ways that detract from its narrative potency but boost its strength as an episode of abstract dancing.“218 Auch in Justamants Abschrift von Giselle nimmt der Kampf zwischen Albrecht und den Willis mehr Raum ein als in heutigen Produktionen.219 Die folgende Analyse dieser Szene beruht auf Justamants Notation von Giselle, deren Taktzahl der von Smith ermittelten Version in ihren Grundzügen entspricht.220 Dieser Pas de deux ist, sowohl in den Duo-Teilen wie auch in Giselles Solo-Variationen durchzogen von Arabesken. Sie symbolisieren dabei einerseits den Flug der Willis, dienen aber auch der Affektdarstellung und sind Sehnsuchtsfiguren. Deutlich wird diese Verschränkung an einer kurzen Sequenz aus dem Adagio des Pas de deux: Albert steht noch am Kreuz und Giselle hat zu tanzen begonnen. Ihre Phrase aus Entrechat Six, Pas de bourré
216 Ebd. 217 Ebd. 218 Ebd., S. 196 f. 219 Im Laufe der Zeit wurde der Pas de deux formal dem Grand pas de deux angeglichen, wie er im späten 19. Jahrhundert in den Tschaikowski-Balletten entwickelt wird, und um eine Solo-Variation für Giselle erweitert. Ebd., S. 197 f. 220 Justamant hat für das Adagio keine Taktzahlen angeben. Wenn man, wie in der Variation, den längeren Passagen vier und den kürzeren zwei Takte zuordnet, kommt man auf die von Smith angeführten 38 Takte. Marian Smith hat für die „old version“ des Pas de deux aus den Répétiteurs folgende Taktzahlen ermittelt: „Entrance – Andante, 5 mm. Adagio – Larghetto, 38 mm. Variations – Andantino, 63 mm. (feminine) – Andante, 26 mm. (masculine) Coda – Allegro moderato, 81 mm.“ Smith, Ballet and Opera in the Age of Giselle, S. 198. Die weibliche Variation ist in Justamants Notation noch einmal in sich differenziert: Giselle Seule (8 Takte), Le Danseur seul (19 Takte, nicht notiert), Ensemble (8 Takte) und Giselle seule (28 Takte) worauf eine weitere Variation von Albert folgt, für die weder Schritte noch Taktzahlen notiert sind.
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und einer Drehung, die in einer Attitude anhält, endet Giselle in einer Pose „vers albert en arabesque sur le pied droit les deux mains jointes vers lui“.221 Abbildung 18: Giselle in Arabeske am Kreuz
Giselle-Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren.
Albert glaubt, dass Giselle ihn mit dieser an ihn gerichteten Arabeske ruft und verlässt das Kreuz.222 Er liest die Arabeske als Ausdruck von Giselles Sehnsucht. Myrtha gewinnt ihren Zauber zurück und Giselle und Albert beginnen den Pas de deux. Dieser besteht hauptsächlich aus einer Reihe von skulpturalen Gleichgewichtsposen, in denen Giselle von Albert gehalten oder gestützt wird, unterbrochen von flehenden Bitten an die Königin der Willis. In diesen Kombinationen ist die Arabeske eine Figur der Bewegung. Diese Arabeske funktioniert, wie oben gezeigt, selbst bereits als Bild der Bewegung; das mechanische Schlagen der Flügel ihres Kostüms unterstreicht dies hier. Die Arabeske ist eine „traduction ‚statique‘ de l’envol des wilis“, 223 wie Serge Lifar schreibt. Darin ist sie den anderen Arabesken verwandt, die mit der Unterstützung von Theatertricks Flug simulieren. Der erste Auftritt der Willi-Königin Myrtha greift mehrfach auf solche zurück: Myrtha wird in einem Kulissenwagen in Arabeske über die Bühne gezogen oder kippt mithilfe einer Wippe
221 Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 197. 222 Ebd. 223 Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, S. 46.
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in Arabeske aus den Kulissen heraus:224 „Le vol transversal, la brache qui s’incline […] sont des effets originaux et neufs et qui font une illusion complète.“225 Die Pose als ein statisches Bild der Bewegung wird mit den Mitteln der Maschinerie zurück in Bewegung gesetzt. Dabei entsteht in diesen Arabesken ein Amalgam aus statischer Pose und mechanischer Bewegung des Theaterapparats, das eine Illusion des Schwebens oder Fliegens erzeugt, die nicht der menschlichen Fortbewegung ähnelt und ein Register fantastischer Bewegungen eröffnet.226 Diese Illusion des Schwebens, wie sie an anderer Stelle mit Hilfe der Theatermaschinerie erzeugt wird, wird im weiteren Verlauf des Pas de deux jedoch verkompliziert. Die dreifache Wiederholung der Hebung auf das demi pointe mit Hilfe des Partners suspendiert die Illusion und verrückt die Pose in eine Figur des Ausdrucks von Affekt und Geschlechterbeziehung. Die Wiederholung des kurzen Anhebens des Körpers im Griff des Partners unterbricht die Illusion der Bewegung und macht diese gehobene (und gehaltene) Pose zu einem Affektbild der aufgehaltenen Flucht. Das Bild des Schwebens und des Fliegens wird so zu einem Bild der aufgehaltenen Bewegung, des (gebremsten) Bewegungswunsches und somit auch zu einer Metapher der Sehnsucht. Dieses Affektbild ist dabei deutlich geschlechtlich markiert. Die Balletttechnik des frühen 19. Jahrhunderts ist grundsätzlich geschlechtlich differenziert (Justamants farbige Trennung der Figuren in männlich und weiblich ist ein Hinweis darauf). Die Aufteilung des Vokabulars spiegelt soziale Geschlechtervorstellungen dieser Zeit und vergrößert anatomische Differenzen: die Frau ist wendig und leicht in Drehungen und Posen, der Mann prä-
224 Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 138. Vgl. auch die Darstellung dieser Wippe in Albert Hopking: Magic. Stage Illusions and Scientific Diversions, New York 1897: „In ballets the dancers are frequently represented as floating in the air. This movement may be produced by means of a common sea-saw. In aërial ballets and in the appearances of angels, etc., special devices are provided in upto-date theatres, the mechanism usually being in the form of a trolley.“ (S. 321 f.) Susan Leigh Foster verwendet diese Darstellung aus der Kulissenperspektive in Choreography and Narrative als Auftakt für ihre Untersuchung des Balletts unter sozialhistorischen Kategorien. 225 Gautier: „À M. Henri Heine, à Cauteretz“, S. 2. 226 Vgl. Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 137.
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sentiert sich viril in großen Sprüngen und als stützender Partner.227 Somit wird die Flug-Illusion und das Fluchtmotiv wie auch die ‚Sehnsucht‘ dieser Stellung mit der weiblichen Figur assoziiert. Verschiedene Lesarten überblenden sich in dieser Arabeske, deren grundsätzliche Nicht-Feststellbarkeit mit einem technisch/mechanisch grundlegenden Aspekt dieser gehaltenen Pose korrespondiert, in der der Griff des (männlichen) Partners den Flug der Tänzerin stützt und gleichzeitig ihre Flucht aufhält. Die geschlechtliche Zuordnung der Arabeske geschieht im performativen Einsatz der Figur. Während die Arabeske in der Theorie geschlechtlich undifferenziert ist,228 wird die Arabeske in den Balletten des 19. Jahrhunderts zunehmend mit weiblichen Figuren identifiziert und zu einer weiblichen Pose im männlichen Blick gemacht. Die Konnotation des Fliegens und Schwebens, die bei Blasis noch jenseits von Geschlechterzuschreibungen steht, wird nun auf ein Geschlecht festgestellt. Diese Zuschreibung findet einerseits in der Narration der Ballette und den daraus resultierenden Figurenkonstellationen statt, hat andererseits jedoch auch Entsprechungen sowohl in der Technik229 als auch in der sozialen Rolle der Ballerina als (käufliches) Objekt des heterosexuellen männlichen Begehrens hinter der Bühne. In der Pose Arabeske wird die weibliche Tänzerin zum Objekt des männli-
227 „By the time of the Romantic ballets partnering included sections of sustained, slowly evolving shapes where male and female dancers constructed intricate designs, always with the male dancer supporting, guiding, and manipulating the female dancer as she balanced delicately and suspensefully in fully extended shapes. And the divergent vocabularies for male and female dancers symbolized a difference between the sexes far greater than the distinct styles of the eighteenth-century performers.“ Susan Leigh Foster: „The ballerina’s phallic pointe“, in: dies. (Hg.): Corporealities. Dancing Knowledge, Culture and Power, London 1996, S. 1-24, hier S. 4; sowie Foster: Choreography and Narrative, S. 202-209. 228 Blasis entwickelt die Attitude am männlichen Modell des Merkur und die Untergattung Arabeske aus weiblichen Bacchantinnen. Im Abbildungsteil des Code of Terpsichore, in dem im Gegensatz zu den ausschließlich männlichen Figuren des Traité Élémentaire sowohl männliche wie weibliche Figuren verwendet werden, wird die Arabeske hauptsächlich an männlichen Figuren gezeigt. 229 Auf die Verbesserung der Spitzentechnik als Voraussetzung für die Arabeske wie als ‚essence of femaleness‘ weist unter anderem Foster: Choreography and Narrative, S. 203 f. hin.
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chen Blicks, 230 besonders in den Partner-Sektionen eines Pas de deux: „During these phrases his admiring gaze directed viewers’ attention to her in the same way that his partnering displayed her body for their evaluation and appreciation.“231 Das am stärksten begehrteste Körperteil der Tänzerin, ihr Bein, wird in der Arabeske (buchstäblich) besonders hervorgehoben. In Susan Fosters Analyse der Fetischisierung des Körpers der Ballerina wird diese (in mehrfacher Hinsicht) zum Phallus, zum Objekt des Begehrens schlechthin: „she is a woman whose leg movements symbolize those of a penis.“232 Diese ‚Partituranalyse‘ des Adagio aus dem Pas de deux des zweiten Akts von Giselle zeigt sowohl, wie die Arabeske zwischen Bild der Bewegung und Metaphorisierung dieses Bildes zum Affektausdruck oszilliert, verweist aber auch auf die Anfälligkeit der affektiven Lesart der Pose für Fehler – Albert ‚liest‘ in ihr zu Beginn etwas, was Giselle ‚nicht meint‘ (vgl. Abb. 18). Hier scheint die Grenze der Hermeneutik dieser Form auf, die zwar mit Bedeutung aufgeladen werden kann und in zahlreiche Bild-, Geschlechter- und Stil-Regimes verflochten ist, sich aber auf keine Definition feststellen lässt und einen Hang zur (gegenstandsfreien) Abstraktion in sich trägt. Die Arabeske als Bild des Fluges und der Flucht, die Metaphorisierung dieser Bewegungen als Ausdruck von Sehnen und Flehen, sowie ihre Verortung als weibliche Figur der Flüchtigkeit bei gleichzeitiger Abstraktion in einer
230 Der „male gaze“ ist immer heterosexuell. Zu einer Kritik von tanzwissenschaftlichen Anwendungen der feminstischen „male gaze“-Theorie der Filmwissenschaft, vgl. Helen Thomas: „Do You Want to Join the Dance? Postmodernism/ Poststructuralism, the Body, and Dance“, in: Gay Morris (Hg.): Moving Words. Rewriting Dance, London/New York 1996, S. 63-87. Ihr Argument mit Phelan, dass sich Performance durch Ephemeralität der Austauschlogik des Kapitals entzieht, gilt für die Ballerina des frühen 19. Jahrhunderts nicht, da sich im Foyer de la Danse eine kaum verdeckte Prostitution entwickelt hat. Vgl. zu dieser Backstage-Ökonomie den Abschnitt „Dancing the object of desire“ in Foster: Choreography and Narrative, S. 219-228; sowie Romana Filzmoser: „Von visueller und körperlicher Verfügbarkeit. Eugène-Louis Lamis Foyer de la Danse als anrüchiger Raum“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 225-237. 231 Foster Choreography and Narrative, S. 205. 232 Foster: „The Ballerina’s Phallic Pointe”, S. 13.
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Chiffre, die anfällig ist für Lesefehler, machen die Arabeske zu einer zentralen ‚romantischen’ Figur. Sie ist dabei sowohl Symbol im romantischen Verständnis dieses Begriffs, wie auch eine spezifische Ausdrucksfigur. Diese beiden Deutungen – Symbol und Figur – sind zwei Ausformungen einer grundlegenden Potenz des linearen Gebildes Arabeske, die sich auf die so benannte Tanzpose übertragen haben. Sie aktualisieren diese Potenz in jeweils andere Richtungen und produzieren inkompatible Lesarten, zwischen denen die Betrachtung springt. Der Symbol-Begriff des frühen 19. Jahrhunderts trägt über seine Verwandtschaft mit den barocken Emblemata ein Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Bild (subscriptio und pictura) in sich. Seine Fähigkeit, in konkreten Gegenständen Übersinnliches und über den Verstandesbegriffen stehende Ideen darzustellen, bezieht das romantische Symbol aus dem Bildcharakter der Schrift. Es rekurriert dabei nicht nur auf die Fähigkeit der Schrift, Vorstellungsbilder zu erzeugen, sondern auch auf die ikonische Dimension der Schrift und Buchstaben selbst. 233 Die Arabeske gewinnt ihr symbolisches Potenzial ebenfalls aus ihrer Linearität und ihrem BildCharakter. Als Sehnsuchts- oder Seufzerfigur könnte man sie analog zur musikalischen Figurenlehre begreifen, wie Gabriele Brandstetter vorgeschlagen hat.234 Die Balletttheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat analog zu zeitgenössischen Schauspieltheorien wie Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik (1785-86) auf der Basis der antiken Pantomime ebenfalls versucht, eine Ausdruckslehre zu entwerfen. Der Körper wird in dieser Zeit zur
233 Vgl. Heinz Hamm: „Symbol“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, S. 805-840; sowie Bengt Algot Sørensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen 1963. 234 Brandstetter: „Geisterreich“, S. 232 f. Die musikalischen Figuren resultieren meist aus der kompositorischen Praxis, es existieren nur wenig instruktive Regelwerke. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehen die letzten Ausläufer der musikalischen Rhetorik, dort verbinden sich rhetorische Grundannahmen mit einem älteren Nachahmungsgebot und der neueren Gefühlsästhetik zu einem „mehrpoligen“ Konzept musikalischer Figuren zwischen Sub- und Objektivität. Seufzer (Suspiratio) sind meist kurze Pausen, die den musikalischen Fluss unterbrechen. Vgl. Hartmut Krones: „Musik und Rhetorik“, in: Friedrich Blume, Ludwig Finscher (Hg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Sachteil Bd. 6, Kassel 1997, Sp. 814-852.
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Chiffre anthropologischer Betrachtungen, wie in den Überlegungen zur psychophysischen Wechselwirkung, in der eine direkte Korrespondenz zwischen Seele und Körper gesucht wird. 235 Die Pantomime oder Gebärdensprache, die im Ballet en action zum Gefühlsausdruck eingesetzt wird, wird als Zeichensystem gedacht, ohne dass sich jedoch ein verbindliches Gestenrepertoire durchsetzt. Noverre wie auch Engel setzen auf die ‚Natürlichkeit‘ der Gesten und Posen und suchen einen „weder formalisierten noch stilisierten“236 Ausdruck, der ‚unmittelbar‘, ‚spontan‘ und ‚unwillkürlich‘ – so die Schlagworte dieser Zeit – die Affekte darstellt. Ihre offene Form ermöglicht der Arabeske (wie auch der Attitude) dem Natürlichkeits-Paradigma der Ausdruckstheorie zu folgen. Gleichzeitig ist sie in ihrer Virtuosität aber auch mit der steigenden Komplexität der Tanztechnik im frühen 19. Jahrhundert kompatibel. Die Arabeske ist die Figur, in der beide Interessen – an der Technik und am Ausdruck – konvergieren. So leitet Gabriele Brandstetter retrospektiv die arabesque allongée, über eine Beschreibung der ‚Mechanik‘ dieser Pose als Sehnsuchtsfigur her: „Das Imaginäre, die Sphäre des Spectre spinnt sich aus dem Körper heraus: indem dieser sich gleichsam entmaterialisiert und einen diffusen Strahl-Raum – einen kinesphärischen Körper-Raum – in und durch Bewegung öffnet. Eines der tanztechnischen Mittel, durch die dieser Effekt erreicht wird, besteht in der ‚Attitude‘ und ‚Arabeske allongée‘: in der Ausführung einer Attitude und Arabeske, die nicht in der (sowieso äußerst fragilen) Pose gehalten wird, sondern die sich – inmitten der Pose – in einer unmerklich fließenden Bewegung befindet, dadurch, dass die Arme sich aus der vorgeschobenen Figur lösen, sie überschreiten, weitertragen, verlängern und in einen imaginären und unendlichen Raum vermitteln. Die Dehnung, die in dieser minimalen Bewegung sichtbar wird, ist so etwas wie die Sehnsuchtsfigur als romantischer Körper- und Raumtopos.“237
Sowohl der romantische Symbolbegriff wie auch Brandstetters Konzeptualisierung als Sehnsuchtsfigur eröffnen der Pose Arabeske einen Bezug zum Immateriellen.
235 Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009, S. 98 f. Vgl. auch Woitas, Im Zeichen des Tanzes. 236 Ebd., S. 97. 237 Brandstetter: „Geisterreich“, S. 232 f.
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Im selben Moment jedoch, in dem die Arabeske zum Symbol oder zur Chiffre der romantischen Ästhetik wird und einen Immaterialisierungsprozess in Gang setzt, dessen Ziel ein geisterhafter, flüchtiger Körper auf der Bühne ist, widersetzt sich der reale Körper (der Tänzerin) der Immaterialisierung und Zeichenwerdung. Gabriele Brandstetter hat an gleicher Stelle diese andere Seite, den Widerstand gegen die Immaterialisierung in der Arabeske, über den Körperkult der Tänzerin und ihrer partiellen Fetischisierung im Fuß beschrieben.238 Die Arabeske ist somit gleichzeitig körperliches Objekt, wie auch eine Phantasmagorie des Körpers als Schrift. Dabei sind Objekt und Schriftfantasie intrinsisch verbunden. Die Immaterialität der Tanzpose Arabeske ist ein Effekt der Wahrnehmung. Dies lässt sich mit dem eingangs erläuterten Konzept der Schriftbildlichkeit fassen. So wie die Materialität der Buchstaben nicht verschwindet, sondern im Lesevorgang nur in den Hintergrund tritt,239 bleibt auch der Körper der Tänzerin auf der Bühne materiell und real, auch wenn die Arabeske ihn flüchtig und ephemer erscheinen lässt. Der „Körper der Graphie“240 bewirkt die Sichtbarkeit der Schrift und ermöglicht das Lesen, stört gleichzeitig jedoch auch die „Transivität der Dechiffrierung“. 241 Susanne Strätling und Georg Witte fassen die Sichtbarkeit der Schrift als „gepolt“ auf, die sich erst aus der Spannung zur Unsichtbarkeit entzündet.242 Aus dieser Spannung, aus der Konkurrenz von Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, entsteht die Imaginabilität der Schrift, die halluzino-
238 Ebd., S. 233 ff. 239 Susanne Strätling hat am Beispiel barocker russischer Lese-Fibeln darauf hingewiesen, wie man gerade an Medien der „Initiation der Schrift“ wie Fibeln und Abecedarien betrachten kann, dass Lesen lernen als „Sehen lernen vonstatten geht, wie eine pädagogische Konditionierung des lesenden Auges verläuft, um Lesen zu einem lesenden Sehen zu machen.“ Susanne Strätling: „Das alphabetische Auge und die Ordnung der Schrift im Bild“, in: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Hand und Auge, München 2006, S. 329-356, hier S. 330. 240 Susanne Strätling, Georg Witte: „Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung in diesen Band“, in: dies. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 7-18, hier S. 7. Zu den KörperMetaphern im Drucksatz siehe Mareike Giertler, Rea Köppel (Hg.): Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz, München 2012. 241 Strätling, Witte: „Die Sichtbarkeit der Schrift“, S. 7. 242 Ebd., S. 10.
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gene Optiken, simulierte Visualitäten und imaginäre Bildlichkeiten erzeugt: „Schrifttechniken sind in dieser Hinsicht hinterfragbar als Imaginationstechniken, als Operatoren von Phantasmen.“243 So ließe sich nun auch hinsichtlich der Arabeske im Ballett formulieren, dass erst durch die Linearisierung des Körpers und seiner Angleichung an die Schrift über die Elementarisierung des Körpers die imaginäre Immaterialität der Tänzerin ermöglicht wird. Die Arabeske ist somit die „Überschreitung der Figur in der Figur“244 – nicht nur weil der Körper sich über seine Grenzen hinaus in den Raum erstreckt, sondern auch weil der Idee einer Zeichen- oder Linienwerdung der Tänzerin sowohl eine Immaterialisierungstendenz als auch eine andere Materialisierung als Buchstabe und Ornamentfigur innewohnt. In der Notation von Henri Justamant tritt das Lineare der Arabeske, in der Abstraktion der Figur auf Striche und Punkte, wie auch in der Hybridität dieser Notationsform die problemlos von Bild zu Text zu Symbol wechselt, hervor. In der Choreografie von Giselle wird diese Gedoppeltheit besonders deutlich, denn die Verwendung der Arabeske changiert beständig zwischen einer Aufladung als Sehnsuchtsfigur (und Objekt des Begehrens), romantischem Symbol und ihrem Einsatz als Ornament. Willis zum Rapport Der Übergang von der Arabeske als singuläre Figur mit Ausdrucks- oder Symbolfunktion zum ornamentalen Einsatz in der Gruppe lässt sich an einer Szene in Giselle besonders gut nachvollziehen. Es handelt sich um die „Apparition de Giselle“, die Auferstehung der Protagonistin als geisterhafte Willi zu Beginn des zweiten Akts. Nachdem Myrtha alle Willis mit ihrem Zepter herbeigerufen hat und sie gemeinsam die ersten Tänze vollführt haben, ruft die Königin Giselle aus ihrem Grab und verwandelt sie in eine Willi. Die Aufstellung dieser Szene ist bemerkenswert. In dem Moment, in dem Giselle aus einer Versenkung vor ihrem Grabstein hochgefahren wird, posiert das weibliche corps de ballet in einer langen diagonalen Reihe, vor ihnen die beiden Solistinnen und Myrtha: alle en arabesque.
243 Ebd., S. 11. 244 Brandstetter: „Geisterreich“, S. 232.
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Abbildung 19: Arabesken-Reihe der Willis
Giselle-Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren.
Nachdem Myrtha sie mit ihrem Zauberzweig berührt hat, ihre Flügel auf dem Rücken sich entfaltet und in Bewegung gesetzt haben, zwingt sie Giselle zum ‚flattern‘ („La reine / vous allez voltiger“245). Die Willis stellen sich im Halbrund auf und Giselle beginnt zu tanzen. Auch hier ist die Arabeske wieder eine der ersten Figuren, die auftaucht: „Giselle / partant du pied droit fait une glissade dessus en allant au ¾ devant. tourne sur place en arabesque“.246 Giselle beginnt mit den gleichen Bewegungen, wie bei ihrem Auftritt im ersten Akt. Anstatt jedoch in einer einfachen Arabeske zu landen, dreht sie sich in dieser Pose auf der Stelle. Zieht man zur Betrachtung des
245 Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 163. Der Littré gibt an, dass voltiger über eine falsche Ableitung des Stamms von voler (fliegen) als „voler à petites et fréquentes reprises sans direction déterminée“ verstanden wird. Émile Littré: Dictionnaire de la langue française, [1863-77] Bd. 7, Paris 1958, S. 1875. Giselles mechanische Flug-Illusion ist mit dieser Fehl-Ableitung gut charakterisiert. 246 Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 164.
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performativen Effekts dieser Stelle eine der heutigen Inszenierungen heran, die sich in diesen Punkten sehr nah an Justamants Choreografie bewegen, wird der energetische Charakter deutlich: die Drehungen werden auf den Achtelnoten der Melodie getanzt, ihre Geschwindigkeit macht die Plötzlichkeit der Wiederbelebung Giselles (die musikalische Angabe im Klavierauszug nach der Fassung der Pariser Oper von 1924 schreibt an dieser Stelle „en animant“ vor247) und die Zwanghaftigkeit ihres Tanzes wird deutlich. Diese Übertragung der Pose, die hier erneut für ‚das Tanzen‘ einsteht, von der Gruppe auf die einzelne Person verdeutlicht Giselles Verwandlung zur Willi. Durch den Zwang zur Arabeske, ihre Einzwängung in diese Figur, wird sie in die Gruppe der untoten Mädchen eingereiht: „Enfin le premier pas de Giselle, ressuscitée dans l’au-delà, revenue à une autre vie, échappée à la rigidité du linceul, consiste à tourner sur arabesque, tandis que ses compagnes, qui, jusque-là, se trouvaient dans une position normale, se mettent également en arabesque, comme pour la saluer, comme pour reconnaître son appartenance à leur ronde enchantée.“248
Neben der narrativen Funktion hat dies auch einen technischen Effekt mit großer optischer Wirkung. Die einheitliche Kostümierung und parallelisierte Aufstellung in Arabeske gleicht die individuellen Figuren ornamental an, sodass ein homogener, indifferenter corps (ein Körper mit vielen Gliedern) entsteht, der die Solistinnen rahmt. Im ornamentalen Einsatz der Willis wird die bisher nur als einzelne Figur betrachtete Arabeske rapportfähig und lässt sich so zur Gestaltung von Gruppenchoreografien einsetzen. Besonders markant ist der ornamentale Einsatz der Arabeske in den Ensemblechoreografien der Willis im zweiten Akt. Zu Beginn dieses Akts, nachdem Myrtha die Willis herbeigerufen hat (en arabesque natürlich 249 ) formieren sie sich zum Tanzen. ‚Truppenweise‘ stehen sie laut Heine an den Heerstraßen, Arabesken durchsetzen ihre Manöver‘.250 Eines dieser Manöver ist besonders spektakulär. Der Moment, in dem die Mitglieder des corps de ballet sich als Willis in mehreren Reihen parallel zur Bühnenrampe in einer Serie von Temps levés en arabesques überkreuzen, ist eine der beeindru-
247 Adolphe Adam: Giselle ou Les Wilis, revidiert und arrangiert von Henri Busser, Paris 1992, S. 67. 248 Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, S. 46. 249 Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 143. 250 Zur Verwandtschaft dieser Formationen vgl. Kap. 5.
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ckendsten und einprägsamsten Momente von Giselle. Die Überwältigung durch das Ornamentale, das in der Überarbeitung von Marius Petipa im späten 19. Jahrhundert noch verstärkt wurde, führt noch heute in vielen Aufführungen zu spontanem Szenenapplaus, der sonst nur den virtuosen Glanzleistungen der Solist*innen vorenthalten ist.251 Auch Lifar hebt diesen Moment in seiner Betrachtung der Arabeske in Giselle hervor. Die Arabeske ist für ihn das wichtigste Motiv im Tanz des corps de ballet, was besonders hervortritt im „merveilleux glissement des wilis, par lignes parallèles à la rampe, progressant sur arabesque et se croisant, qui évoque, de manière frappante, le glissement aérien de tous les fantômes blancs dont les romantiques allemands ont peuplé les forêts, au clair de lune“.252 In Justamants Notation ist dieser Moment weniger monoton choreografiert, sondern das Ornament hierarchisch aufgefächert. Justamant verwendet in seiner Version ein kleines corps de ballet von zwanzig Tänzerinnen, die er in fünf Reihen in zwei Spalten von je zwei Tänzerinnen aufstellt. Im Gegensatz zu den Inszenierungen des 20. Jahrhunderts baut sich diese Gruppe nicht sukzessiv Reihe für Reihe auf, sondern beginnt bei dieser Anordnung. Justamants Gruppenanordnung stehen die Solisten vor: in der Mitte die Königin Myrtha, die auf der Stelle Entrechat six und Drehungen ausführt, hinter ihr die beiden Solistinnen, die die Arabesken-Bewegungen des corps de ballet spiegeln. Die überkreuzenden Linien treten zwar nur reduziert zwischen den ersten beiden Reihen auf, der uniformierende Effekt ist aber dennoch vorhanden. (Etwas später in der Choreografie gibt es eine parallele Stelle, in der die mehrmals wiederholten Arabesken-Gänge in ähnlicher Aufstellung in eine Richtung ausgeführt werden.253) Im Gegensatz zu der einzeln ausgeführten Arabeske verliert die Figur in der Wiederholung ihre Plastizität und jeglichen Ausdruckswert. Die lineare Bewegungsrichtung und stereotype Aneinanderreihung lässt die Arabeske flächig werden und betont die lang gestreckten Gliedmaßen und deren Anschlussfähigkeit. Die Tiefendimension, die ihr in den gehaltenen Posen innewohnt, und das mechanisch-erzeugte Bild des Fliegens treten in den Hintergrund, und der ornamentale Charakter der Arabeske wird deutlich.
251 Eine ähnliche Überwältigung durch das Ornament findet im „Königreich der Schatten“ von La Bayadère von 1877 (Musik von Léon Minkus, Choreografie von Marius Petipa) statt, wo in einer Rauschfantasie das gesamte corps de ballet nacheinander en arabesque auftritt. 252 Lifar: Giselle. Apothéose du Ballet Romantique, S. 46. 253 Vgl. Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis, S. 160.
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Abbildung 20: Arabesken-Gänge des corps de ballet
Giselle-Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren.
Die Wahrnehmung des corps de ballet schlägt um in ein ornamentales Sehen, das die Körper der Tänzerinnen als bewegtes Muster wahrnimmt, als geordnete, strukturierte Fläche. Justamants Notationsweise, der die Körper des corps als Punkte im Raum anordnet,254 ist Indikator – wenn nicht Katalysator – dieses Abstraktionsprozesses. In der grafischen Anordnung auf der Fläche, die Schrift und figürliche Darstellung, notationelle Abstraktion und Indikation von Wegen und Bewegungen zusammenführt, werden Körper, Anordnungen und Bewegungen in einem übergeordneten Ornament zusammengeführt. Von dieser Verwandlung des Körpers ins Ornament geht eine Bedrohung aus, die im Bacchanal der Willis deutlich wird. Mit diesem letzten Fall schließt die Betrachtung der Arabeske als Pose. Bereits Heine hat die Willis mit den antiken Figuren aus dem Gefolge des Dionysos verglichen, ein Vergleich, der auch in das Vorwort des Librettos übernommen wird: „diese
254 Der kleine Kreis, der vorher den Kopf der Figur markiert, wird isoliert und steht für den ganzen Körper ein.
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todten Bacchantinnen sind unwiderstehlich“. 255 Die Willis sind also nicht nur untote Mädchen, sondern auch Wiedergängerinnen aus der griechischen Mythologie. Der Einzug der Winzer, die im ersten Akt von Giselle eine Bacchus-Statue hereinfahren, kündigt diese Verbindung an. Bacchus bzw. Dionysos ist in der antiken Mythologie aber nicht nur der Gott des Weins und des Rausches, sondern er und seine Anhänger und Anhängerinnen (Mänaden und Bacchanten, Silenen, etc.) treten als ekstatisch Rasende und Tanzende auf.256 In ihrem Tanzwahn und der tödlichen Bedrohung, die sie für männliche Vorbeireisende darstellen, sind Giselle und die anderen toten Mädchen mit den rasenden Bacchantinnen der Antike, wie sie z.B. in Euripides Bakchen charakterisiert werden, verwandt. In Justamants GiselleNotation sind die Passagen, in denen die Willis Hilarion und Albrecht zum Tanzen zwingen, so auch als „Bacchanale“ markiert. In ihnen sticht wiederum eine Figur ins Auge, die von Justamant als N°1 bezeichnet wird und mehrfach wiederholt wird.257 Das corps der Willis steht im Halbkreis – Heine wie auch das Libretto verweisen auf die magische Kreisform des Tanzplatzes der Willis258 – vor dem die beiden Solistinnen und Myrtha Albert versuchen zum Tanzen zwingen (Abb. 21). Das komplette weibliche Willi-Personal übt dabei en arabesque, in insistierenden Sprüngen (jetés ordinaires und soubresauts) aus dieser Pose, einen Zwang aus. Diese Figur wird im weiteren Verlauf von Alberts Todestanz noch insgesamt drei Mal wiederholt. Die letzte Arabeske in Giselle fasst viele Aspekte zusammen, die in der Genealogie dieser Figur eine Rolle gespielt haben. Das von Arabesken durchsetzte Bacchanal führt die Pose in den Zusammenhang zurück, aus der Blasis sie in seiner ‚Erfindung‘ isoliert hat.259 Sie kehrt jedoch verwandelt zurück. Sie ist nicht mehr eine Variante in einer Gruppenanordnung, sondern nun das einzige Element. Die Szene hält – über den Namen und die Genealogie des
255 Vgl. Fn. 196 dieses Kap. 256 Vgl. Renate Schlesier: „Dionysos als Ekstasegott“, in: dies., Agnes Schwarzmaier (Hg.): Dionysos. Verwandlung und Ekstase, Regensburg 2008, S. 29-41. 257 Die Wiederholungen finden sich auf S. 184 unten, 187 unten und 217 oben. 258 „[C]’est la le cercle des danse de Wilis“, Smith: Opera and Ballet in the Age of Giselle, S. 221; Heine: „Elementargeister“, S. 19; Hugo Niebelings Filmversion von Giselle (1971) versetzt, ermöglicht durch die Flexibilität der Kamera, das ganze Ballett in einen kreisrunden Schauplatz. 259 Vgl. Kap. 3.
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Programmhefts – einen Bezug zur Antike aufrecht, setzt in das Bacchanal aber eine gewandelte Arabeske ein, die dort die dominante Figur geworden ist. Diese Arabesken-Reihe behält (bestärkt durch den Verweis auf das bacchantische Rasen) ihren Tanzcharakter und Affektausdruck. Die Arabeske ist hier aber nicht mehr Figur des Sehnens, sondern der (abstrakten) Bedrohung – eine Bedeutung, die sie gerade aus ihrer Verwendung als Ornament, als gereihte und reihende Figur gewinnt. So lässt sich in der unterschiedlichen Verwendung der Arabeske in Giselle ihr Abstraktionsprozess nachvollziehen, von einer einzelnen Figur des Ausdrucks zum wiederholbaren Element einer Gruppe, in der das Individuelle der Figur verschwindet. Abbildung 21: Halbkreis der Willis en arabesque
Giselle-Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren.
Das Auftauchen der Arabeske auf der Bühne des Balletts zu Beginn des 19. Jahrhunderts indiziert eine Reihe von Veränderungen in der Ballettästhetik, führt eine ältere Form (Attitude) mit einem neuen Namen (Arabeske) zusammen und katalysiert eine Abstraktionsbewegung und Elementarisierung des Körpers durch die Notationsentwürfe dieser Zeit. Dabei bleibt die Pose Arabeske eine schwer zu fassende Figur, da sie sich weder technisch eindeutig definieren lässt, noch als Symbol oder Ausdrucksfigur feststellbar ist – auch ihre Bedeutung ist flüchtig. Die Genealogie der Arabeske hat ihre Entwicklung von einer Figur des Ausdrucks zu einer virtuosen Figur und ei-
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nem (wiederholbaren) Körperornament gezeigt, die erlaubt in den Narrationen von Balletten innezuhalten und in der Form in ein bewegtes Ornament, eine dekorative Anordnung von Körpern im Raum, abzuschweifen. Sie transformiert antike Bewegung in ein romantisches Symbol und ermöglicht Reflexionen über den Schrift- und Bildcharakter des Tanzes. Die ‚unendliche‘ Variabilität der Arabeske entwickelt sich in einer Offenheit der Notation und resultiert in einer elementaren Körper-Schrift und einer Einbildung des Körpers als abstraktes Liniengeflecht, die wiederum eine Formalisierung von Grazie ermöglicht: die Schönheit ersetzt die Bedeutung.
Mit diesem Ornamentwerden des Körpers in der Pose Arabeske ist ein Aspekt des Verhältnisses von Ornament und Ballett im frühen 19. Jahrhundert bestimmt worden. Das Folgende ist einem weiteren Aspekt dieses Verhältnisses gewidment, den ornamentalen Körperanordnungen im Ballett des 19. Jahrhunderts.
4. Thea, oder: Die Blumenfee La Danse en action a sur la Danse simple, la supériorité qu’a un beau tableau d’histoire sur des découpures de fleurs. Un arrangement méchanique fait tout le mérite de la seconde. LOUIS DE CAHUSAC, 17541
1847 wird in London und Berlin Paul Taglionis Ballett Théa; ou, La Fée aux Fleurs (bzw. Thea, oder: Die Blumenfee) mit Musik von Cesare Pugni aufgeführt.2 Dieses Ballett soll einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden, da an diesem Werk paradigmatisch das Auflösen der Figur in einem ornamentalen Umraum nachvollzogen werden kann, bevor dann im nächsten Kapitel systematisch verschiedene Aspekte des Ornamentalen im Ballett des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff des Fantastischen untersucht werden. Thea, oder: Die Blumenfee verschlingt dabei das Orientalische mit dem Floralen, in einem geschlechtlich strukturierten Blickszenario, das als Rauscherfahrung inszeniert ist. Diese Motive prägen dabei einen ornamentalen Stil aus, und zwar als narrative wie auch als grafische Muster.
1
Louis de Cahusac: La Danse Ancienne et Moderne ou Traité Historique de la
2
vgl. zu diesem Ballett auch Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Die Blumenbouquets
Danse, Bd. 3, Den Haag 1754, S. 139. des Herrn Taglioni“, in: dies. (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2. „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 311-314; Eike Wittrock: „Choreographie als Florigraphie. Arabesken, Blumen und das Ornament im Romantischen Ballett.“, in: Sprache und Literatur 107 (2011), S. 71-80; sowie Alexander Schwan: „Tanzende Blumen. Florale Ephemeralität und choreographische Transaktualität“, in: Stefanie Heine, Sandro Zanetti (Hg.): Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, Paderborn 2017, S. 141-152.
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Orientalische Tänze Das erste Muster, das in der Synopsis von Thea auffällt, ist der Orientalismus dieses Balletts, der das Werk auf vielen Ebenen durchzieht: Das Ballett spielt in Bagdad und handelt von Prinz Hussein, der sich ausschließlich für Blumen interessiert. Von seinem Desinteresse an Frauen enttäuscht, wendet sich seine ‚Lieblingssklavin‘ Thea an eine Statue der Blumenfee, die zum Leben erwacht und den ganzen Raum in einen Palast voller Blumen verwandelt. Hussein ist entzückt. Als er jedoch eine Rose pflücken will, weist ihn die Blumenfee verärgert zurück und zwingt ihn diese zu heiraten. Bekrönt mit einem Mohnkranz schläft Hussein ein, woraufhin die Blumen zum Leben erwachen und zu tanzen beginnen. Die Rose entpuppt sich als Thea und vermählt sich mit Hussein; die Blumenfee segnet diese Verbindung in einem spektakulären Schlussbild.3 Der Schauplatz dieses Balletts lässt sich dabei als eine orientalistische Fantasie bestimmen, die sich sowohl aus Bewegungen wie auch aus architektonischen Ornamenten zusammensetzt. Das (Berliner) Libretto teilt das Ballett in drei Bilder, die sich nicht durch Orts- oder Bühnenbildwechsel unterscheiden, sondern narrative Einheiten bilden. Der Ort der Handlung verändert sich während des ganzen Balletts nicht, zu Beginn des zweiten Bildes belebt sich jedoch das Interieur. Das erste Bild besteht aus zwei Tänzen, der „Moreska“ und dem „Tanz der Almeen“, sowie einer ‚pantomimische Scene‘ der Verführung namens „Die Unempfindlichkeit“, in der Thea (vergeblich) versucht die Aufmerksamkeit des Prinzen Hussein von den Blumen auf sich zu lenken. Thea verfährt insofern orientalistisch, als dass dieses Ballett Tänze unterschiedlicher geografischer und historischer Herkunft zusammenstellt und so die Fantasie eines homogenen, undifferenzierten orientalischen Raums schafft.4 Die unterschiedlichen Kontexte der Tänze lassen sich kurz skizzieren. Die Moreska (frz. Mauresque) ist seit dem 12. Jahrhundert dokumentiert und ein beliebter Tanz der Renaissance, dessen Name – ähnlich wie der Begriff Arabeske – eine (europäische) Projektion ist. Die historische Moreska entwickelt sich aus mittelalterlichen Spektakeln, in denen mit falschen Schwertern, Kastagnetten, Stöcken oder Taschentüchern die Kämpfe zwi-
3
Vgl. das Programm des Her Majesty’s Theatre vom 27.03.1847, bzw. das deutsche Libretto: Paul Taglioni: Thea, oder: Die Blumenfee. Ballet in drei Bildern von Paul Taglioni. Musik von C. Pugni, Berlin 1847.
4
Zum Diskurs des Orientalismus vgl. S. 44 ff. dieser Arbeit.
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schen Christen und Mauren nachgespielt wurden. In der Folge löst sich die lokale Bindung und die Moreska wird zu einem „synonym for the unusual, the strange, the mysterious and the wild in dance spectacles of all kinds.“5 In Thea steht die Moreska synonym für ‚fremden‘ Tanz, die hier als spezifisch ‚orientalische‘ Fremdheit markiert ist. Der „Tanz der Almeen“ stellt im 19. Jahrhundert ein beliebtes Sujet der künstlerischen Darstellung besonders in Frankreich dar – sowohl in der Literatur (Flaubert erwähnt Alméen in seinen Reiseberichten aus dem Orient), in der Bildenden Kunst6 wie auch im Ballett. 7 Almeen, eigentlich Alimas (‚learned women‘), sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts weibliche ägyptische ‚singer-dancer‘, die in Harems und zu Festen eingeladen werden; ab 1850 werden mit diesem Begriff ‚dancer-prostitutes‘ bezeichnet. Europäische Reisende verwechseln sie oft mit den Tänzen der ghawazi, die meist auf der Straße singen, lasziv tanzen und Sexarbeit nachgehen.8 In Thea wird dieser Tanz laut Libretto von Bajaderen ausgeführt. Bajadere ist eine aus dem Portugiesischen stammende Bezeichnung für indische Tempeltänzerinnen, die dort Devadasis heißen und in Europa ebenfalls als Sexarbeiterinnen betrachtet wurden. Bei diesen beiden Tänzen, der „Moreska“ und dem „Tanz
5
Ingrid Brainard: „Moresca“, in: International Encyclopedia of Dance, hg. von Sel-
6
Jean-Léon Gérômes Almées jouant aux échecs (1870) zeigt die Almeen in orienta-
ma Jeanne Cohen, Bd. 4, New York/Oxford 1998, S. 460-463, hier S. 460. listischem Setting, während Henri de Toulouse-Lautrecs La Goulue dansant – la Danse Mauresque (Les Almées) (1895) sie bereits als europäische Theaterdarbietung darstellt. Zum Orientalismus bei Gérômes vgl. Linda Nochlin: „The Imaginary Orient“, in: dies.: The Politics of Vision. Essays on Nineteenth-Century Art and Society, London 1989, S. 33-59. 7
Zur Geschichte des sogenannten Türkenballetts im 17. und 18. Jahrhundert, vgl. Sibylle Dahms: „Die Turquérie im Ballett des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Krassimira Kruschkova, Nele Lipp (Hg.): Tanz anderswo: intra- und interkulturell, Münster 2004, S. 67-83.
8
Maxime Rodinson: „Alima“, in: Hamilton Alexander Rosskeen Gibb (Hg.): The Encyclopedia of Islam. New Edition, Bd. 1, Leiden/London 1960, S. 403 f. Zu den unterschiedlichen Bewertung der verschiedenen ägyptischen TänzerinnenKlassen awalim, ghawazi und alima, ihrem unterschiedlichen sozialen Status und den damit verbundenen Auftrittsmöglichkeiten und Regularien, vgl. Karin van Nieuwkerk: „Changing Images and Shifting Identities: Female Performers in Egypt“, in: Ann Dils, Ann Cooper Albrigt (Hg.): moving history/dancing cultures. A Dance History Reader, Wesleyan 2001, S. 136-143.
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der Almeen“, handelt es sich also um eine Zusammenführung historisch und geografisch entfernter Tanzpraktiken zu der Fantasie eines orientalischen Tanzstils, der sich durch bestimmte Bewegungsqualitäten auszeichnet. In Reisebeschreibungen und Traktakten wurde dieser Stil im 19. Jahrhundert in Europa popularisiert (und darin als einheitlicher konstruiert). Theodor Hentschke beschreibt in seiner Allgemeinen Tanzkunst (1836) persische, indische und ägyptische Tänze, die sich durch ‚geschmeidige Bewegungen‘, ‚überraschende Beweglichkeit‘ und ‚besondere Grazie‘ auszeichnen.9 Théophile Gautiers Reiseberichte aus Algerien präzisieren das Bild vom ‚orientalischen‘ Tanz für die europäische Imagination: „La chorégraphie orientale repose sur des principes tout à fait opposés à ceux qui régissent la nôtre. Les jambes doivent demeurer immobiles, et le torse seul a la permission de se trémousser […]. Des balancements de hanches, des torsion de reins, des renversements de tête et des développés de bras, une suite d’attitudes voluptueuses et pâmées composent le fond de la danse en Orient.“10
Bis in 20. Jahrhundert wird dieser orientalistische Tanz-Stil mit bestimmten Linien assoziiert: „flowing lines“ und „fluid boneless arm and shoulder motion“11 machen ihn aus. Diese kinetischen Arabesken werden ambivalent bewertet, wie Jules Lemaîtres Beschreibung deutlich macht, die Gaston Vuillier
9
Theodor Hentschke: Allgemeine Tanzkunst. Theorie und Geschichte, antike und moderne (gesellschaftliche und theatralische) Tanzkunst und Schilderung der meisten National- und Charaktertänze, Stralsund 1836, [Reprint Documenta Choreologica Bd. 12, hg. von Kurt Petermann, Leipzig 1986], S. 222 u. 229-248. Vgl. auch Claudia Jeschke, Gabi Vettermann, Nicole Haitzinger: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010, S. 85 ff.
10 Théophile Gautier: Voyage pittoresque en Algérie (1845), [1865] hg. von Madeleine Coltin, Genf 1973, S. 275 (= S. 117). Gautier beschreibt hier einen „Danse des djinns“, eine ekstatische Geistervertreibung durch Tanz, die Gautiers Reiseführer mit den französischen ‚revenants‘ vergleicht. 11 Joan L. Erdmann: „Rethinking the History of ‚Oriental Dance‘“, in: Gay Morris (Hg.): Moving Words. Re-writing Dance, London/New York 1996, S. 288-305, hier S. 289.
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in seiner Tanzgeschichte aus dem späten 19. Jahrhundert zitiert.12 Diese – obgleich harmonischen – Bewegungslinien stellten selbst noch keine Kunst dar, sondern böten sich zur erotischen Betrachtung, zum Sittenstudium und als künstlerische Vorlage an. „Within the narrow limits and the dim lights of a Moorish room it may interest an artist, a voluptuary [einen ‚Wollüstling‘], or a student of manners by the suppleness of its movements, the harmony of its lines and contours.“13 Eine direkte Verwandtschaft dieser tänzerischen Linien und ‚attitudes voluptueuses‘ mit der Ballettpose Arabeske ist unwahrscheinlich, da die Ballettfigur sich in ihrer Genealogie auf die kunsthistorische (europäische) Tradition der Arabeske bezieht. Vielmehr sind sie Zeugnis des orientalistischen Denkens, das einen universalen Stil im ‚Orient‘ vermutet, der sich durch alle (Kunst-)Äußerungen zieht. Die arabesken Bewegungen in Thea sind Teil dieser übergeordneten orientalistischen Fantasie: verschiedene geografisch und historisch entfernte Tanzreferenzen schaffen einen imaginären orientalischen Raum und einen homogenen arabesken Bewegungs-Stil – eine bestimmte Art, Bewegungen zu verzieren. Arabesker Raum Die ‚arabesken‘ Bewegungen dieser ‚orientalischen Tänze‘ werden in der europäischen Bühnenfantasie Thea in einem ‚arabesk‘ gestalteten Raum präsentiert. Eine solche architektonische Ästhetik wird ab den 1840er Jahren den mitteleuropäischen Betrachter*innen in großformatigen Bänden mit prachtvollen Chromolithografien (visuell) erfahrbar gemacht.14 Durch grafische Formalisierungsprozesse und Singularisierung von Motiven werden dort charakteristische Züge isoliert, die die Ornamentik dieser Architektur
12
Vuillier beschreibt historisch nur den europäischen Bühnentanz. ‚Folkloristische‘ Tänze werden geschichtslos beschrieben, darunter fallen die italienische Tarantella, wie auch „Bayadères and Almées“.
13
Gaston Vuillier: A History of Dancing. From the earliest ages to our own times, London 1898, S. 280. Zu einer ausführlichen Darstellung der ‚Fremdheit‘ des orientalistischen Bewegungsstils vgl. Jeschke, Vettermann, Haitzinger: Interaktion und Rhythmus.
14
Vgl. z.B. Girault de Prangey: Essai sur l’Architecture des Arabes et des Mores en Espangne, en Sicile, et en Barbarie, Paris 1841; Jules Goury, Owen Jones: Plans, Elevations, Sections and Details of the Alhambra: From Drawings taken on the spot in 1834, London 1842.
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ausmachen: eine Vermischung von Kalligrafie, arabeskem Laubwerk (als Weiterführung des antiken Pflanzenornaments) und geometrischen Verschlingungen.15 In seinem Alhambra Court des in den Londoner Stadtteil Sydenham versetzten Crystal Palace hat Owen Jones 1854 ein begehbares Beispiel dieser Architektur auf britischem Boden errichtet, und diese Bauform einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Bühnenbild von Thea, oder: Die Blumenfee scheint eine solche Ästhetik zu zitieren, folgt man der Beschreibung des Libretto: „Das Theater stellt eine mit Blumen geschmückte Gallerie in Bagdad vor. Im Hintergrunde dichtes Gebüsch und Baumgruppen, vor welchem man die Statue der Blumenfee auf einem Piedestal, umgeben von den mannichfachsten Blumen in zierlichen Vasen, erblickt. In der Mitte dieser Gallerie befindet sich ein reich geschmückter Kiosk mit vergoldeten Holzgittern bis zur gewölbten Decke, und von schlanken Säulen getragen. Zwischen den Säulen sind gleichfalls kostbar verzierte Gefäße, welche die seltensten und wunderbarsten Blumen enthalten.“16
Diese Beschreibung des Bühnenbilds betont dabei die vegetabile Dimension der ‚orientalistischen‘ Architektur und ergänzt die ‚reich verzierten‘ architektonischen Strukturen um ihre natürlichen Vorlagen: zahlreiche ‚seltene und wunderbarste‘ Blumen sowie dichtes Busch- und Laubwerk. Da sich aus den visuellen Quellen keine Rückschlüsse auf das Bühnenbild ziehen lassen,17
15
Vgl. Gülru Necipoğlu: The Topkapı Scroll. Geometry and Ornament in Islamic Ar-
16
Paul Taglioni: Thea, oder: Die Blumenfee, S. 5.
chitecture, Santa Monica 1995, S. 63 f. 17
Neben den Libretti haben sich nur wenige bildliche Darstellungen erhalten, die aber die Figuren fokussieren. Die Originale zu diesen Zeichnungen sind seit dem 2. Weltkrieg verschollen, es haben sich davon nur Reproduktionen erhalten: in einem Ausstellungskatalog des Musée des arts decoratifs in Paris von 1942 (Le ballet et la danse à l'époque romantique. 1800-1850, hg. von Serge Lifar) und in der letzten Ausgabe der deutschen Frauenzeitschrift Die Dame von 1943, die nach dieser Ausgabe kriegsbedingt eingestellt wurde. Anlass von Lifars Ausstellung war das hundertjährige Jubiläum der Premiere von Giselle. Wie diese Bilder in eine deutsche Frauenzeitschrift gelangt sind, umgeben von Anleitungen aus Uniformen eine Damengarderobe zu schneidern, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht nachgegangen werden. Diese seltsame Korrespondenz zwischen Berlin und Paris kann einerseits als Rückzug ins Fantastische inmitten des zweiten Weltkriegs gewertet werden, als modisches Überbleibsel des Surrealismus wie
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lässt sich aus der Beschreibung des Librettos nur eine spekulative Reflexion über das Ornamentale dieser Szenerie ableiten. In der Ergänzung der in sich bereits ornamental – wahrscheinlich mit Pflanzenranken, Schriftornamenten und geometrischen Bändern – strukturierten Architektur wird das dem Ornament innewohnende Spiel mit der Figur/Grund-Unterscheidung auf der Ebene des Materials weitergeführt. Organisches Vorbild des Ornaments und grafische Abstraktion treten so in ein enges Verhältnis, dessen Grenzen verwischen. Im Londoner Programmzettel wird diese Verwirrung bereits in der Zeichnung durchgespielt: die Vegetation auf der Zeichnung wird, je näher sie dem äußeren Bildrand kommt, immer abstrakter. Die realistische Wiedergabe von Blumen und Sträuchern im Inneren des Bildes tendiert am Rand zu einer abstrahierten Akanthusranke. In seiner Zusammenstellung, wie sie im Libretto beschrieben wird, verfährt das Bühnenbild ähnlich und enthält so in nuce eine Theorie der Genese des Ornaments aus der Pflanze (Abb. 22).18 Die räumliche Zusammenstellung im Bühnenbild nivelliert jedoch auch die Differenzen zwischen den Blumen und den architektonischen floralen Verzierungen, denn beide werden als Zier eingesetzt – und zwar im doppelten Sinn: sie dienen als Zier in dieser Palastszene, sind beide wiederum aber auch Teil eines übergeordneten theatralen décors und somit wahrscheinlich ‚nur‘ Attrappen.19
auch Dokument einer Kollaboration mit der nationalsozialistischen Besatzung von Paris. Rolf Badenhausen: „Die belebten Blumen“, in: Die Dame 70/3 (1943), S. 14-15. 18
Hier sei nur exemplarisch an die im vorherigen Kapitel zitierte Definition von Friedrich Schlegel erinnert. „[Die] Blume ist die Form der Pflanzen, welche als der Schmuck der Natur, das Urbild für alle Zierraten, auch der menschlichen Kunst geworden sind.“ Friedrich Schlegel: „Briefe auf einer Reise durch die Niederlande, Rheingegenden, die Schweiz und einen Teil von Frankreich“ (1806), in: ders.: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe Bd. 4, hg. von Hans Eichner, München 1959, S. 153-204, hier S. 179. Vgl. oben S. 107.
19
Vom Bühnenbild der Berliner Aufführung von Thea haben sich keine Bilddokumente erhalten, folgt man dem Katalog der Berliner Theatersammlungen (Ruth Freydank: Der Fall Berliner Theatermuseum, 2 Bd., Berlin 2011). Einen Eindruck von den orientalistischen Fantasien der Bühne im frühen 19. Jahrhundert und ihrem ornamentalen Einsatz gibt der Entwurf von Pierre-Luc-Charles Ciceri für eine „Galerie de palais exotique ornée de plantes“ für den ersten oder zweiten
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Abbildung 22: Illustration zu Thea, oder: Die Blumenfee
Programmzettel für Thea, oder: Die Blumenfee, Her Majesty’s Theatre, 1847.
Dieses fantastische Bühnenbild reflektiert – führt man diese spekulative Betrachtung quasi una fantasia fort – eine der Grundfragen der kunsthistorischen und architekturtheoretischen Ornamentdebatten des 19. Jahrhunderts. Dort wird diskutiert, ob das Ornament schmückende Zutat oder integraler Bestandteil von Architektur sei. Gegen Ende des Jahrhunderts spitzt sich in der Diskussion zwischen Semper und Riegl diese Debatte auf die Opposition zwischen Ornament als Zweckfunktion oder eigenständiger künstlerischer Leistung zu.20
Akt der Opéra-féerie Aladin ou La Lampe Merveilleuse von Charles-Guillaum Etienne und Nicolo Isouard (1822), abgedruckt in Nicole Wild: Décors et costumes du xixe siècle, Bd. 1, Opéra de Paris, Paris 1987, S. 17. Zu den „Fairy Scenes“ und exotischen Dekors im Viktorianischen Theater ab 1850, vgl. Alicia Finkel: Romantic Stages. Set and Costume Design in Victorian England, Jefferson/London 1996. 20
Vgl. Frank-Lothar Kroll, Gérard Raulet: „Ornament“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 656-683, hier S. 673 f., wie auch Frank-Lothar Kroll: Das Ornament in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, Olms 1987.
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Prinz Husseins Palast in Thea, oder: Die Blumenfee lässt diese Unterscheidung von Zier und Funktion kollabieren, denn als Bühnenbild ist es primär dekorativ, gibt als dekorativer Schauplatz aber auch den adäquaten Rahmen für diese Geschichte einer Liebe zum Dekor her. Darüber hinaus kollabiert innerhalb dieses illusionistischen Bühnenbilds die kategoriale Trennung zwischen natürlichem Wuchs und ornamentaler Illusion, die die Ornamentform Arabeske in ihrer kontinuierlichen Verwirrung stets unterläuft. Les fleurs animées Die ornamentale Verwirrung steigert sich im zweiten Bild von Thea, wenn die Blumen zum Leben erwachen und (florales) Muster und Gegenstand des Balletts zusammenfallen. Wie ist das Ornament zu bewerten, wenn die Zierde selbst zum Akteur wird? Das Berliner Libretto von Thea beschreibt die Szene der Verlebendigung wie folgt: „Nach und nach öffnen sich die Zweige der Pflanzen und Blumen, Blätter und Blumenkronen lösen sich los, und während einer sanften Musik fangen die Blumen an sich zu beleben. Ueberrascht durch dies Gefühl, welches sie durchdringt und erwärmt, wagen sie es, nur sich langsam zu bewegen. Doch bald werden diese Bewegungen lebhafter! Der Fuß, der Kopf wird lebendig! Sie versuchen zu gehen, betrachten sich lächelnd, sprechen einander Muth zu und ergreifen gegenseitig ihre Hände. Mit schüchternen Wesen wagen sie es endlich zu tanzen und schaffen so die verschiedenartigsten Gruppen und Bilder.“21
21
Paul Taglioni: Thea, oder: Die Blumenfee, S. 11. Diese Beschreibung ähnelt dem Pygmalion-Mythos und seiner Umsetzung im Ballett. Die Fleurs animée übertragen so einen zentrale Topos der Darstellungstheorie des 18. Jahrhunderts und verschieben die dort ausgestellte Natur/Kunst-Differenz in den Unterschied von menschlichem und pflanzlichem Leben. Gabriele Brandstetter beschreibt den Belebungsvorgang in Marie Sallés Pigmalion von 1734: „Staunen verkörpert sich als Bewegung und Bewegung produziert sich als Staunen. Bewegung erscheint hiermit als Modus der Erkenntnis, sowohl der Selbsterkenntnis als auch der Wahrnehmung der Umwelt.“ Gabriele Brandstetter: „Der Tanz der Statue. Zur Repräsentation der Bewegung im Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Mathias Mayer, Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg 1997, S. 393-422, hier S. 403.
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Das Motiv der belebten Blumen hat Paul Taglioni wahrscheinlich Les fleurs animées entlehnt.22 Dieses Buch mit Zeichnungen von J. J. Grandville und Texten von Taxile Delord und anderen handelt ebenfalls von einer Blumenfee. Im Buch ergreifen jedoch die Blumen selbst das Wort und fordern ihre Verwandlung in Menschengestalt. Auch wenn, nach den überlieferten Zeichnungen zu urteilen, die Kostüme des Balletts Thea einzelne Figuren der Fleurs animées kopieren, übernimmt Taglioni von Grandville nur die Grundidee der belebten Blumen und verpflanzt diese in ein orientalistisches Setting (zurück).23 Im Gegensatz zu den Re-Animationen der Tänzerinnen von Herculaneum und den Balletten der Pygmalion-Tradition bildet die Belebung der Statue der Blumenfee im zweiten Akt von Thea nur den Auftakt einer viel umfangreicheren Verwandlung: der vollständigen Belebung des (floralen) Interieurs. Sowohl in Thea wie auch in Grandvilles Fleurs animées handelt es sich dabei um eine besondere Form der Verlebendigung – wobei man hier streng genommen von Vermenschlichung sprechen müsste, denn Blumen stellen seit
22
Auf diese Möglichkeit weist schon eine Rezension aus dem Jahr der Uraufführung hin: „Das Ballett selbst ist das interessanteste, sinnreichste und eindrucksvollste, welches man hier je gesehen. Das herrliche Kupferwerk: ‚Les fleurs animées‘ hat die Idee zu diesem Ballett gegeben, und das zweite Bild, Scene und Tanz der belebten Blumen, ist in Gedanke und Ausführung ein geniales Meisterwerk des Hrn. Taglioni […].“ Herrmann Michaelson: „Berliner Bericht“, in: Wiener Allgemeine Theaterzeitung, Nr. 294, 9.12.1847, S. 1176. (Neben der Theaterkritik steht die Rubrik „Blumenzeitung“). Vgl. J. J. Grandville: Les fleurs animées, Text von Alphonse Karr, Taxile Delord und Louis-François Raban, 2 Bd., Paris 1847.
23
Damit führt er Grandvilles Geschichte an das Lokal eines Genres von Büchern zurück, die dieser eigentlich ironisiert: die seit den 1820er Jahren populären Blumensprachenbücher verorten den Ursprung ihres arbiträr zusammengestellten und kontingenten Vokabulars im orientalischen Harem. Vgl. zum Zusammenhang von Langage des fleurs und den Fleurs animées Isabel Kranz: „Blumenseelen. Botanik, Sprache und Weiblichkeit um 1850“, in: Ulrike Hanstein, Anika Höppner, Jana Mangold (Hg.): Re-Animationen. Szenen des Auf- und Ablebens in Kunst, Literatur und Geschichtsschreibung, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 91-112. Vgl. dazu ebenfalls Isabel Kranz, Alexander Schwan und Eike Wittrock (Hg.): Floriographie. Die Sprachen der Blumen, Paderborn 2016, bes. die Einleitung, und die Aufsätze von Gerhard F. Strasser und Isabel Kranz.
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der Antike eine Grundstufe des Lebens dar.24 Isabel Kranz leitet aus Pierre Larousses Grand dictionnaire universel du XIXe siècle Farbigkeit und Bewegung als Kriterien dieser Verlebendigung ab, und zeigt am Frontispiz der Fleurs animées, wie dort die vermenschlichte Blume über eine (beinahe arabeske) Bewegungsfiguration als belebt dargestellt wird.25 Im Schriftzug des Titels ist „animées“ mit einer Pflanzenranke geschrieben, den eine Figur in der Ballettpose Arabeske wie ein verzierendes Band in der Hand hält. Beleben heißt hier in Bewegung setzen, und die Tanzfigur Arabeske verkörpert in diesem Zusammenhang eine ideale Form von Lebendigkeit. Am Ende der Fleurs animées kommt es folglich im Tanz zur Krise der lebendigen Form. Die Blumen entscheiden sich während eines Balls, zu ihrer alten, floralen Form zurückzukehren. „Tous ces pas, disait le Lis, ne valent pas le doux balancement que m’imprime le Zéphire.“ 26 Entscheidungskriterium für die Wahl zwischen menschlicher oder floraler Form (anthropomorph versus anthomorph) ist in den Fleurs animées die tänzerische Bewegung. In der Erzählung entscheiden sich die Blumen gegen den (menschlichen) Tanz (Grandville zeichnet sie en pointe in Posen aus dem Ballettvokabular) und für ihre ‚natürlichen‘ Pflanzenbewegungen, ihr Wiegen im Wind. Thea, oder: Die Blumenfee kehrt diese Bewertung von tänzerischer Bewegung um. Die Blumen finden im Ballett, wie das Zitat oben zeigt, erst im Tanz zu sich. Da sich keine choreografische Notation erhalten hat, noch das Ballett im Repertoire oder durch andere korporeale Übertragungsprozesse tradiert wurde, bilden die einzigen Hinweise zum Tanz der belebten Blumen das Libretto und die wenigen Reproduktionen der verschollenen Zeichnungen Paul Taglionis.27 Diese sollen nun kurz beschrieben werden.
24
Seit Aristoteles stellen Pflanzen den Grundbegriff des Lebens dar. Im 18. und 19. Jahrhundert rückt dabei die Empfindungsfähigkeit von Pflanzen ins Zentrum. 1849, ein Jahr nach Thea, oder Die Blumenfee, erscheint Theodor Fechners Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen und gibt dieser Diskussion eine metaphysische und spirituelle Wendung. Vgl. Hans Werner Ingensiep: Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2001.
25
Kranz: „Blumenseelen. Botanik, Sprache und Weiblichkeit um 1850“, S. 101 f.
26
J. J. Grandville: Les fleurs animées, Bd. 2, S. 122. In früheren Blumenballetten, wie im „Ballet des fleurs“ aus Rameaus Les Indes Galantes von 1735 oder Didelots Flore et Zéphire von 1796 bewirkt ebenfalls der Wind, in seiner mythologischen Verkörperung als Zephir, die Belebung bzw. den Tanz der Blumen.
27
Vgl. Fn. 17 dieses Kapitels.
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So, wie sich in Grandvilles Fleurs Animées die Blumen gegen ihre poetische Metaphorisierung auflehnen,28 lässt sich auch Thea, oder: Die Blumenfee als Aufstand gegen die dekorative Verwendung von Blumen in der Innenausstattung lesen – der Prinz wird von der Blumenfee gerügt, als er die Rose pflücken will. Die „Szene der belebten Blumen“ in Thea, oder: Die Blumenfee lässt sich als Allegorie einer Emanzipation des (floralen) Dekors lesen – zumindest der heimischen bzw. domestizierten Zierpflanzen, denn die Flora in Thea ist kolonial organisiert, in der die heimischen Pflanzen die exotischen unterwerfen. Die Besetzungsliste des Librettos gibt die botanische Vielfalt der „Szene und Tanz der belebten Blumen“ aus dem zweiten Akt von Thea wieder. Neben der Fee tauchen dort eine Granate, zwei Fuchsia, vier Glockenblumen und eine (männliche!) Sonnenblumen-Gruppe auf, sowie „Kornblumen, Nachtschatten, Nelken, Lilien, Narzissen, Tulpen, Veilchen, Maslieb, Kaiserkrone, Rittersporn, Wolfsrachen, Kaffeebaum, Tabackspflanze, Zuckerrohr, Theestaude etc.“, die alle vom (weiblichen) corps de ballet dargestellt werden.29 Die Abbildungen aus Die Dame zeigen ausschließlich Gruppen von weiblichen Tänzerinnen, 30 die vom begleitenden Text als Kamelien 31 und Glockenblumen identifiziert werden. Sie halten lange Blumenstiele in der Hand, mit denen sie Blumen-Körper-Ornamente bilden: einen Kegel, verschiedene Reihen und kleine Gruppen (vgl. Abb. 25). Die Zeichnung aus dem Pariser Katalog stammt offenbar aus der gleichen Serie, zeigt aber eine Zusammenstellung, die sich auffallend von den anderen unterscheiden. Vier weibliche Tänzerinnen mit Glockenblumen-Hüten stehen neben sieben Männern im Sonnenblumen-Kostüm (Abb. 23). Während die Kostüme der weiblichen Tänzerinnen eine – wenngleich auch exaltierte – Variation eines Ballettkleids ist, das mit Blumen verziert wurde,32 sind die Sonnenblumen
28
Vgl. Kranz: „Blumenseelen. Botanik, Sprache und Weiblichkeit um 1850“.
29
Paul Taglioni: Thea, oder: Die Blumenfee, S. 4.
30
Ein 24-köpfiges corps de ballet, das je zur Hälfte mit roten und blauen Blüten geschmückt ist und auf einigen Zeichnungen von einer Solistin ergänzt wird.
31
Die Gattung Kamelie umfasst sowohl die weißblühende Teepflanze (Camellia sinensis) wie auch die rotblühende Kamelie (Camellia japonica) und gehört zu der Familie der Teestrauchgewächse (Theaceae).
32
Auch das Tutu ist in seiner ‚Urform‘, folgt man Judith Chazin-Bennahum, bereits mit Blumen verziert, da es sich um ein Kostüm für die Nymphe Flora handelt, vgl. Judith Chazin-Bennahum: The Lure of Perfection. Fashion and Ballet, 17801830, New York 2005, S. 214.
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als ‚Wilde‘ kostümiert – kurzer Rock, Reifen an Armen und Beinen, nackter, schwarzer/schwarz-geschminkter Oberkörper. 33 Ihre Aufstellung unterscheidet sich ebenfalls. Abbildung 23: Gruppe aus Thea, oder: Die Blumenfee
Serge Lifar: Le ballet et la danse à l'époque romantique. 1800-1850, Paris 1942.
Während die Frauen in Ballettposen symmetrisch angeordnet sind, fassen sich die sieben Sonnenblumen in einer Reihe an den Schultern und beugen ihren ganzen Körper so weit nach vorne, dass die erste Figur fast erdrückt wird. Den europäisch gekleideten Damen wird eine Gruppe von ‚Wilden‘ ge-
33
Diese Kostüme stehen in der rassistischen Darstellungstradition des ‚Wilden‘ im Ballett, wie man sie in den Darstellungen von Amerikanern und ‚Indianern‘ in Balletten des 16. und 17. Jahrhunderts, z.B. bei den ‚Wilden‘ in La Finta Pazza oder dem „Ballet des Indiens et des Perroquets“ aus dem Album Ballets d’invention von Jean-Baptiste Balbi, findet. Jean-Philippe van Aelbrouck: Dictionnaire des danseurs, chorégraphes et maîtres de danse à bruxelles de 1600 à 1830, Liège 1994, Tafel VI und VII. Vgl. auch Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993, Appendix 4 „The Amerindian in French humanist and burlesque court ballets“, S. 186-190. Dieses Kostüm erinnert außerdem an die Darstellung der Sonnenblume („Soleil“) in Grandvilles Les fleurs animées: die einzige männliche Figur in Grandvilles Buch ist eine exotistische Darstellung eines Schwarzen.
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genübergestellt, deren (nichtsymmetrische) Anordnung mit ihrer strengen Symmetrie kontrastiert, und somit diese florale Szene zu einem Bild des Kolonialismus macht, in der tänzerische Disziplin im Ornamentalen einer lockeren, ‚komischen’ Aufstellung gegenüberstehen. Ob die anderen ‚exotischen‘ Pflanzen des corps de ballet, wie ‚Kaffeebaum, Tabackspflanze und Zuckerrohr‘, mit einem ähnlich kolonialen Blick inszeniert wurden, lässt sich aus den verfügbaren Quellen nicht bestimmen. Art Botany In der britischen Design Reform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt das Studium von Pflanzen in der Kunstausbildung eine neue Rolle. Die Design Reform wendet sich gegen eine überbordende, naturalistische Verzierung und propagiert eine Dekorationspraxis mit abstrahierten Naturformen.34 In Kursen zur Art Botany werden anhand von Pflanzen – und besonders eben Blumen – vermeintlich natürliche Schönheitsgesetze aufgestellt.35 In einer Weiterführung von Goethes Metamorphosenlehre und seiner Idee der Urpflanze entwickeln Designtheoretiker wie Richard Redgrave, Owen Jones und Christopher Dresser eine transzendentale Formenlehre, die in einer idealisierten Naturform das metaphysische Prinzip von Einheit in Vielfalt sucht:
34
Vgl. Barbara Whitney Keyser: „Ornament as Idea: Indirect Imitation of Nature in the Design Reform Movement“, in: Journal of Design History 11/1 (1998), S. 127-144; sowie Stacey Sloboda: „The Grammar of Ornament: Cosmopolitanism and Reform in British Design”, in: Journal of Design History 21/3 (2008), S. 223-236, mit Beispielen eines ‚falschen‘ Einsatzes von Blumen in der Dekoration aus der Eröffnungsausstellung des Museum of Ornamental Art von 1852.
35
Richard Redgrave hält 1848 Vorträge zu „The Importance of the Study of Botany to the Ornamentist“, Christopher Dresser unterrichtet in der School of Design ab 1854 einen Kurs „on the best mode of investigating the form and structure of plants with a view to the treatment in ornament“ und veröffentlicht zwischen 1857 und 1858 eine Reihe von elf Artikeln im Art Journal zu „Art Botany as Adapted to the Arts and Art Manufactures“. Vgl. dazu Widar Halén: Christopher Dresser. A Pioneer of Modern Design, Oxford 1990, Kap. 1 „In Pursuit of Truth, Beauty and Power“, S. 19-31. Für den Unterricht entwickelt Dresser eine Reihe von Diagrammen zur Visualierung von Form und Wachstum von Pflanzen, vgl. z.B. http://collections.vam.ac.uk/item/O1026814/, zuletzt abgerufen am 14.06.2017.
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„The transfer of the highest ideal of beauty from human subjects to stylized vegetable forms was based on two ideas: first, that the deep structure of plants united the ideal and the real by exhibiting the perfect balance of the aesthetic principles of unity and variety; secondly, that ornament using this indirect imitation of nature had principles of its own that were equal to but distinct from subject painting.“36
Der prominenteste Vertreter einer solchen botanischen Ästhetik ist Christopher Dresser, der 1859 in seiner Studie Unity in Variety aus dem Pflanzenwachstum symmetrische Formgesetze und Korrespondenzen zwischen dem Ganzen und seinen Teilen ableitet. Dazu betrachtet er Pflanzen unter ästhetischen Gesichtspunkten, findet seine Grundprinzipien der Symmetrie jedoch auch in ihren „poetic and artistic phases“ und leitet so eine Wahrnehmungslehre aus ihnen ab: „294. In an artistic point of view, we discover, amidst the vast number of plants which creation presents, an infinity of ornaments. […] 296. Thus, we have flowers which, by the exquisite forms and colours of their parts, and the beautiful arrangement of their members, create within us, upon beholding them, feelings of high joy. 297. We have also those which, by the eccentric disposition of their members, together with their quaint abnormal forms, strike us as grotesque.“37
Die Schönheit der Blumen wird mindestens seit Kant nicht nur über statische ästhetische Kriterien sondern (auch) über organische Bildungsgesetze formuliert,38 die Goethe in seiner Metamorphosenlehre und seinem Denk-
36
Keyser: „Ornament as Idea“, S. 128 f.
37
Christopher Dresser: Unity in Variety, as Deduced from the Vegetable Kingdom: Being an attempt at Developing that Oneness which is Discoverable in the Habits, Mode of Growth, and Principle of Construction of all Plants, London 1860, S. 158.
38
In seiner Kritik der Urteilskraft verwendet Immanuel Kant die Blume als Beispiel des Interesselosen der Schönheit, wie auch ihrer Zweckfreiheit, der Inkommensurabilität ihrer Empfindung, dem Fehlen objektiver Geschmacksregeln, dem Vorzug der Natur- vor der Kunstschönheit und der Subjektivität des ästhetischen Urteils. Die Blume exemplifiziert jedoch auch die „sich selbst organisierende“ organische Bildung, in der Ursache und Wirkung in Eins fallen. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 2001, S. 280 [= B 292]. Vgl. auch § 58 „Vom Idealismus der Zweckmäßigkeit der Natur so-
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und Bildmodell der Urpflanze prominent entwickelt. In Fortführung von Kants Kritik der Urteilskraft eröffnet Goethe ein ästhetisches Formpotenzial, das sich vom Vorbild der Natur ablöst, und entwirft ein Denken als Anschauung, in dem die ästhetische Form zum wissenschaftlichen Modell wird.39 Dabei spielt das Pflanzenwachstum eine zentrale Rolle. „Die Visualisierung der Bildungsgesetze ist es denn auch, die Goethe in seinen Studien zur Botanik zur Einschätzung veranlaßt, Zierrat und Struktur, Poesie und Wissenschaft nicht getrennt voneinander zu behandeln […]. Bildungsgesetze haben eine inhärente Ästhetik und mit dieser eine Logik, die man […] sehen kann.“40 Die bei Goethe noch implizite Ästhetik der Bildungsgesetze wird in der englischen Designtheorie zu einem expliziten Set von Regeln. Eines der ersten Gesetze, die Christopher Dresser in der Unity in Variety formuliert, ist das zentrifugale Wachstum, das sich sowohl in der radialsymmetrischen Anordnung von Blüten findet, wie auch in den sogenannten ‚fairy rings‘ (Hexenringen) von Pilzen. Obwohl das natürliche Pflanzenwachstum streng genommen nicht zu den Pflanzenbewegungen wie Nastien und Tropismen zählt, wird das kreisförmige Wachstum, wenn es von Dresser ästhetisch als Strukturprinzip der Pflanze erkannt wird, zu einer ästhetischen Trope, einer Floskel der Schönheit. Diese Trope taucht in Owen Jones Grammar of Ornament (1856) wieder auf, für das Dresser im Abschnitt „Leaves & Flowers of Nature“ die Zeichnungen ausgeführt hat. Owen Jones exemplifiziert an der Natur ganz ähnliche Regeln wir Dresser: „beauty arises naturally from the law of the growth of each plant“, das zu „symmetry and regularity“ führt.41
wohl als Kunst, als dem alleinigen Prinzip der ästhetischen Urteilskraft“ sowie § 65 „Dinge als Naturzwecke sind organisierte Wesen“. Jacques Derrida liest die „Paradigmatik der Blume“ nur unter dem Aspekt des Schnitts und schneidet dabei ihr Wachstum, die organische Bildung, ab. Jacques Derrida: „Das Parergon“, in: ders.: Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 56-176. 39
Stefan Rieger, „Apfelmännchen“, in: ders., Benjamin Bühler: Das Wissen der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt/Main 2009, S. 31-42; vgl. auch ders.: „Urpflanze“, ebd., S. 250-263; außerdem Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, München 2006; sowie Annika Waenerberg: Urpflanze und Ornament. Pflanzenmorphologische Anregungen in der Kunsttheorie und Kunst von Goethe bis zum Jugendstil (= Commentationes Humanarum Litterarum 98), Helsinki 1992.
40
Rieger: „Apfelmännchen“, S. 41.
41
Owen Jones: The Grammar of Ornament, [1856] London 1868, S. 157.
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Abbildung 24: Ästhetische Gesetze des Blumenwachstums (1860)
Christopher Dresser: Unity in Variety […], London 1860.
In den Zeichnungen werden diese Regeln an den schematischen Darstellungen von Blüten deutlich, die ihre Radiarsymmetrie hervorheben. So lassen sich auch die regelmäßigen und symmetrischen Anordnungen von Tänzerinnen in Thea, wie sie aus den verschollenen Zeichnungen überliefert sind, nicht nur als ballabile mit Blumenmotivik verstehen, sondern auch als ornamentales Divertissement, das nach organischen Formgesetzen gestaltet ist, die aus dem Pflanzenwachstum abgeleitet sind. Die Tänzerinnen sind somit nicht nur im Stile der Fleurs animées mit floralen Accessoires als Blumen gekennzeichnet, sondern ihr Arrangement ist in einer Selbstähnlichkeit von Darstellung und Dargestelltem nach floralen Vorlagen gestaltet – man könnte spekulieren, dass die Kreisfigur sich im Verlauf des Tanzes wie eine Blüte öffnet.42 Mit Blumen und Pflanzenbewegung als Vorlagen ornamentaler Form rückt so die zeitliche Dimension von Schönheit in den Blick – das
42
Vgl. für ein ähnliches Beispiel Abb. 29 und 30.
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Ornament der Dauer43 –, denn die Blume verändert sich mit der Zeit, sie entsteht, wächst und vergeht.44 Im Gegensatz zu den (verschollenen) Zeichnungen fokussieren die Lithografien, die von Thea erhalten sind, meist die einzelne Tänzerin und zeigen sie vor einem Rosenbusch oder in ähnlich floraler Umgebung.45 Die einzelne Tänzerin als Blume vorzustellen, ist – verglichen mit den Strategien des vorherigen Kapitels – eine andere Weise, sie zum Ornament zu machen. Als Blume wird sie zum ästhetischen Objekt, das darüber hinaus stets sexuell konnotiert ist.46 Die De-Humanisierung (ihr Anthomorphismus) mag dabei im Prozess ihrer Ornament-Werdung eine zentrale Rolle gespielt haben.47
43 44
siehe Kap. 5. Ornamentale Formen, die vom Pflanzenwachstum abgeleitet sind, werden in Owen Jones Grammar of Ornament, das die verschiedenen Muster nach Herkunftsländern sortiert, auch als ‚orientale‘ Formen vorgestellt und vertiefen den Orientalismus von Thea, in dem sie die Versenkung in florale Ornamentik als Bestandteil der ‚persischen‘ oder ‚arabischen‘ Kultur beschreiben. Jones folgt einem generellen orientalistischem Denkschema, das den Orient mit Natur assoziert. In seinen 37 Regeln (‚propositions‘), die er zu Beginn seiner Grammatik mit enzyklopädischem Anspruch aufstellt, heißt es dort zu „distribution, radiation, continuity“: „PROPOSITION 11. In surface decoration all lines should flow out of a parent stem. Every ornament, however distant, should be traced to its branch and root. Oriental practice. PROPOSITION 12. All junctions of curved lines with curved or of curved lines with straight should be tangential to each other. Natural law. Oriental practice in accordance with it.“ Jones: The Grammar of Ornament, S. 6. Owen Jones orientiert sich in seinem Grammar of Ornament an Abbildungskonventionen ethnografischer Werke. Vgl. dazu Isabelle Frank: „Das körperlose Ornament im Werk von Owen Jones und Alois Riegl“, in: dies., Freia Hartung (Hg.): Die Rhetorik des Ornaments, München 2001, S. 77-99, hier S. 80 ff.
45
Vgl. Cyril W. Beaumont, Sacheverell Sitwell: The Romantic Ballet in Lithographs of the Time, London 1938, Nr. 67 und 91-93.
46
Vgl. Alison Syme: A Touch of Blossom. John Singer Sargent and the Queer Flora of Fin-de-Siècle Art, University Park 2010, bes. Kap. 1 „La Vie en Rose“.
47
Friedrich Schiller hat den antihumanistischen Impuls einer Schönheitstheorie, die auf dem Ornament basiert, bereits bemerkt. In seinen Kallias-Briefen paraphrasiert er Kants Theorie der Schönheit, dessen Zentraltheorem der Zweckfreiheit er für ‚sonderbar‘ hält, da „also eine Arabeske und was ihr ähnlich ist, als
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Abbildung 25: Zeichnungen zu Taglionis Thea aus den 1840er Jahren
Nachdruck aus Die Dame (1943).
Rausch und Geschlecht Der letzte Aspekt von Thea, oder Die Blumenfee, der für die Musterbildung in diesem Ballett von Bedeutung ist, ist das Rausch- und Traum-Motiv. In Thea erscheint die ornamentale Vision sich geometrisch formierender, uniform gekleideter Frauen als Traum oder Halluzination des männlichen Protagonisten – und ist darin anderen orientalistischen Balletten wie La Péri und La Bayadère verwandt. Das Ballabile „Das Bouquet“ in Thea, das von Marie Taglioni als Rose „und den anderen Blumen“ 48 ausgeführt wird, ist ein Traumbild:
Schönheit betrachtet, reiner sei, als die höchste Schönheit des Menschen.“ Friedrich Schiller: [Brief-Traktate an Körner über den Begriff des Schönen], in: ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, Bd. 8, hg. v. HansGünther Thalheim u.a., Berlin 2005, S. 629-673, hier S. 632. Zu Schillers Gegenentwurf zu Kant vgl. Sabine Mainberger: „Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ‚Linienästhetik‘. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty“, in: DVjs 79/2 (2005), S. 196-252. 48
Paul Taglioni: Thea, oder: Die Blumenfee, S. 4.
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„Darauf führt ihn die Fee zu einer Rasenbank, bekränzt sein Haupt mit einem Kranz von Mohn und alsbald ist H u s s e i n in tiefem Schlaf versunken. Die belebten Blumen, mit ihnen T h e a , erscheinen auf’s Neue. T h e a , in der Gestalt einer Rose, führt liebliche und sinnverwirrende Tänze vor dem schlafenden Prinzen aus. Die anderen Blumen wirken teilnehmend mit.“49
Die Verbindung von Traum, Rausch und Ornament-Sehen erschlossen sich die französischen romantischen Künstlerkreise experimentell. Zwischen 1830 und 1850 probierten fast alle (männlichen) Dichter dieser Zeit Haschisch und Opium.50 Rauscherfahrungen mit Drogen, die von reisenden Orientalisten nach Europa gebracht wurden,51 ermöglichten Reisen ins Innere der Vorstellungswelt, und wurde sowohl von der frühen Psychologie, wie auch von der Literatur als Experimentalsystem der Wahrnehmung und Erfahrung begriffen. 52 Die visuelle Erfahrung wird dabei als bewegte Ornament-Architektur wahrgenommen.53 In seinem 1846 in der Revue de deux
49 50
Ebd., S. 13. Vgl. Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch, Stuttgart 2006, S. 38-46.
51
Sylvestre de Sacy gab 1809 den ersten umfassenderen Bericht vom Haschisch in Paris. Vgl. Katrin Solhdju: Selbstexperimente. Die Suche nach der Innenperspektive und ihre epistemologischen Folgen, München 2011, S. 119 ff.
52
Katrin Solhdju beschreibt die Selbstexperimente von Gautier und Moreau de Tours in wissenschaftshistorischer Perspektive auf die Bestimmung des Wahnsinns in der Psychologie, vgl. Solhdju: Selbstexperimente.
53
In den von den französischen Romantikern stark rezipierten Confessions of an opium eater vergleicht Thomas de Quincey die ‚Architektur seiner Träume‘ mit den gezeichneten Stadtvisionen Piranesis, die ans Ornamentale grenzen. Walter Benjamins „Haschisch-Impression“ vom 15. Januar 1928 belegt die Kontinuität dieser Wahrnehmungsweise, die sich so auch an die Experimente Purkinjes anschließen lässt: „Es ist bekannt, daß wenn man die Augen schließt und leicht auf sie drückt, ornamentale Figuren entstehen, auf deren Form man keinen Einfluß hat. Die Architekturen und Raumkonstellationen, die man im Haschisch vor sich sieht, haben im Ursprung etwas damit Verwandtes. Wann und als was sie auftreten, das ist zunächst unwillkürlich, so blitzartig und unangemeldet stellen sie sich ein. Dann, wenn sie einmal da [sind], kommt bewußter spielende Phantasie, um sich gewisse Freiheiten mit ihnen zu nehmen.“ Walter Benjamin: „Hauptzüge der zweiten Haschisch-Impression. Geschrieben 15 Januar 1928 nachmittags ½4“, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 6, hg. von Rolf Tiede-
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mondes erschienen Aufsatz Le Club des Hachichins beschreibt Théophile Gautier einen Haschischrausch, der in der Belebung eines (mit historischen Kunstgegenständen reich verzierten) Zimmers resuliert, aus dessen Decke – „un grand plafond mythologiques peint à fresques“54 – fantastische Gestalten tanzend heraustreten. 55 Seinem Kollegen Gérard Nerval berichtet Gautier darüber hinaus in einem Brief, dass er das Libretto zu La Péri, in dem ebenfalls eine Rausch-Szene das ornamentale Divertissement auslöst, unter Drogeneinfluss verfasst habe. 56 Thea, oder: Die Blumenfee verbindet ebenfalls Rausch und Ornament, bindet diese jedoch an das übergeordnete florale Motiv an, denn die Blumenhalluzination wird durch Blumen ausgelöst: die Fee setzt Prinz Hussein einen Mohnkranz auf, woraufhin er einschläft und die Blumen sich (in seinem Delirium?) beleben. Die Blume bildet erneut den mehrfachen Ursprungsort des Ornaments: sie ist sowohl Mustervorlage, als auch psychotropischer Auslöser. Der Blick, in dem sich dieses ‚schöne Spiel‘ der weiblichen Blumengestalten vollzieht, ist im Ballett wie in der Literatur vorwiegend männlich. Diese geschlechtliche Zuordnung des Blicks wird in Thea auf der Bühne wiederholt. Der passiv gestellte Körper des (männlichen) Zuschauers, der in der Blickbeziehung den aktiven Part einnimmt, wird auf der Bühne vom halluzinierenden Prinzen Hussein verdoppelt. In Thea, wie in La Péri oder La Bayadère, dienen Traum- und Rauscherfahrungen der männlichen Figuren als Anlass für den Aufzug (weiblicher) Tänzerinnen. Deren ornamentales Display entwickelt sich für den auf der Bühne gedoppelten männlichen Blick, bzw. erscheint als Produkt seiner Fantasie:
mann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1985, S. 560-565, hier S. 562 f. 54
Théophile Gautier: „Le Club des Hachichins“, in: Revue de deux mondes 1 (1846), S. 520-535, hier S. 521.
55
Zur „arabesken Verwebung von Interieur und Halluzination“ bei Edgar Allan Poe vgl. Günter Oesterle: „Das Faszinosum der Arabeske um 1800“, in: Walter Hinderer (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik, Würzburg 2002, S. 51-70, hier S. 65.
56
Vgl. den Brief an Nerval, den Gautier am 25.07.1843 in La Presse veröffentlicht hat. Gautier stilisiert sich dort selbst als Orientale und beschreibt, wie Opium und Haschisch ihm weit schönere und wunderbarere Fantasien eröffneten als sein Libretto zu Giselle. Zu Gautier, dem Orient und der Werkgenese von La Péri siehe auch Jeschke, Vettermann, Haitzinger: Interaktion und Rhythmus, S. 354 ff.
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„Kaum ist der Kranz vom Haupte des Prinzen hinweggenommen, als dieser erwacht. Bei dem Anblick des lieblichen Bildes, welches seine Blicke bezaubert, glaubt er unter Einwirkung eines Traumes zu sein. Er reibt die Augen, dann betrachtet er mit Bewunderung dies feenhafte Schauspiel. Endlich erhebt er sich voller Entzücken und läßt seine Blicke über die verschiedenen Gruppirungen dahingleiten. Er scheint vor Allem die liebliche Erscheinung aus seinem Traume, welche ihn in der Gestalt einer Rose bezaubert hat, zu suchen.“57
Die weibliche Tänzerin, als Solistin wie auch im entindividualisierten corps de ballet wird dabei zum Objekt des männlichen Blicks, das sich als Teil eines visuellen Spektakels darbietet und im Blick des Zuschauers zum Ornament wird.58 In Paul Taglionis Thea, oder: Die Blumenfee wird die Musterbildung über zentrale formale und motivische Referenzen des Ornaments vorangetrieben: das Orientalische, Florale und Rauschhafte verschlingen sich (arabesk) in einem Ballett, dessen zentrales Divertissement eine Verlebendigung bzw. ein In-Bewegung-Setzen des Dekors zum Gegenstand hat. Die Tänzerin verliert sich dabei im ornamentalen Umraum, der alle Aspekte des Werks beinhaltet. Dieser Zug der Auflösung der Figur soll im nächsten Kapitel unter dem Begriff des Fantastischen näher betrachtet werden.
57
Paul Taglioni: Thea, oder: Die Blumenfee, S. 13 f.
58
Susan Foster beschreibt die geschlechtlich-differenzierte Blickökonomie des Romantischen Balletts, wie aber auch die reale Ökonomie des Begehrens im Foyer de la Danse. Vgl. Fn. 230 von Kap. 3 dieser Arbeit.
5. Voyages dans les espaces imaginaires [Le] public exige avant tout dans un ballet une musique variée et saisissante, des costumes nouveaux et curieux, une grande variété, des contrastes de décorations, des surprises, des changements à vue, une action simple, facile à comprendre, mais où la danse soit le développement naturel des situations. Il faut encore ajouter à tout cela les séductions d’une artiste jeune et belle, qui danse mieux et autrement que celles qui l’ont précédée. Quand on ne parle ni à l’esprit ni au cœur, il faut parler aux sens et surtout aux yeux. DR. LOUIS VÉRON1
Im dritten Kapitel wurde das Ornament-Werden des Tänzer*innen-Körpers als lineare Imagination beschrieben, die durch instruktive Traktate vermittelt wurde und sich technisch in einer Spezialisierung der Attitude, die als Arabeske mit einem Ornament-Begriff bezeichnet wurde, vollzogen hat. Im Folgenden geht es um die Umkehrung dieses Prozesses. Dieser hat sich bereits am Ende von Giselle angedeutet, wenn sich der Ornament-gewordene Körper in das Gruppenornament des corps de ballet eingliedert. Wenn im dritten Kapitel die – nun meist weibliche – Tänzerin aus dem Rahmen entstiegen ist und sich das Bild belebt hat, geht es nun darum zu zeigen, wie sie, zum Ornament geworden, wieder in den Rahmen zurücktritt und dort mit dem ornamentalen Umraum eine (neue) Beziehung eingeht, in der sie zwischen Figürlichem und Ornament oszilliert. Im Folgenden soll dieser Übergang
1
Dr. Louis Véron: Mémoires d’un Bourgeois de Paris, Bd. 3, Paris 1857, S. 157 f. Herv. E.W.
218 | A RABESKEN
des Körpers ins Ornament, seine Dissimulation und sein Aufgehen in einer größeren Figur, verfolgt werden: wie der Körper der Tänzerin ein Element der bewegten Ornamente des corps de ballet und Teil der reich verzierten Bühnenbilder wird und sich schließlich in dekorativen Tand verwandelt. Das so entstandene ornamentale Bild wird zum Ausgangs- oder Zielpunkt von Reisen ins Imaginäre, zur Pforte in Traum- und Fantasiewelten, worunter hier auch die exotistischen Fantasien des Orientalismus fallen. Damit wird in einem weiteren Sinn die Beziehung des Tanzes zum Bild im 19. Jahrhundert deutlich. Während im dritten Kapitel der Einsatz von Zeichnung in der Tanzpädagogik und die daraus resultierende Zeichenwerdung des Tänzer*innenkörpers als Prozess der Verkörperung von Graphismen dargestellt wurde, soll im Folgenden nun die theatrale Einheit tableau unter dem Aspekt des Ornamentalen betrachtet werden. Die dabei entstehenden (ästhetischen) Rückkopplungen zwischen Inszenierung und Wahrnehmung der Zuschauer*innen lassen sich mit dem (vornehmlich literarischen) Begriff des Fantastischen erfassen, der die Produktivität der Einbildungskraft formalisiert. fantastique Mit dem Genre des Fantastischen baut die Literatur das halluzinatorische Potenzial des Schreibens und Lesens aus, das in der Umschaltung auf stilles Lesen (und dem damit einhergehenden Fokus auf die Materialität der Buchstaben) an die Oberfläche getreten ist.2 In Frankreich rückt der Begriff des Fantastischen, der sich von grch. phantastikos (auf Vorstellung beruhend) herleitet, in einer literarischen Debatte in den Mittelpunkt, die gegen Ende der 1820er Jahre von einzelnen Übersetzungen und Rezensionen der Werke von E. T. A. Hoffmann ausgelöst wurde.3 Den Beginn dieser Auseinander-
2
Friedrich Kittler schlägt als Metapher dieser Lektüre die laterna magica vor. Friedrich Kittler: „Die Laterna magica der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 4 (1994), S. 219-237. Vgl. auch ders.: Aufschreibesysteme 1800–1900, 4. vollständig überarbeitete Neuauflage, München 2003.
3
In Frankreich wurden Hoffmanns gesammelte Werke – nicht nur seine Fantasiestücke in Callots Manier – unter dem Titel contes fantastique veröffentlicht. Im Gegensatz zum deutschen Titel Fantasiestücke, der eine Genrebezeichnung aus der Musik und Malerei übernimmt und auf das Capriccio anspielt, betont die französische Übersetzung die Tradition der fantastischen Erzählung. Andrea Hübener:
V OYAGES DANS LES ESPACES IMAGINAIRES | 219
setzung bildet ein verkürzt ins Französische übersetzter Aufsatz von Walter Scott in der Revue de Paris, der eine anthropologische Erklärung des Wunderbaren (merveilleux) gibt, dessen Aufgabe es sei, die letztendlich unerklärbaren Zusammenhänge der Welt in eine Erzählung zu überführen. 4 Der Aufsatz endet mit einer polemischen Definition des Fantastischen bei E. T. A. Hoffmann als Unterkategorie des Wunderbaren: „C’est celui qu’on pourrait appeler le genre f a n t a s t i q u e , où l’imagination s’abandonne à toute l’irrégularité de ses caprices, et à toutes les combinaisons de scènes les plus bizarres et les plus burlesques.“5 Das Genre des Fantastischen entsteht für Scott im Bereich der Einbildungskraft, dessen ‚freies Spiel‘ bei Hoffmann ihm jedoch allzu bizarr und entfesselt ausfällt.6 Charles Nodier reagiert auf die Thesen von Scott mit einem Aufsatz in der gleichen Zeitschrift. Fantastische Literatur steht für ihn in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Krisen, für die sie sowohl Symptom wie auch Heilmittel darstellt. Nodier bindet den Modus des Fantastischen an die höchste Fakultät des menschlichen Denkens:
Kreisler in Frankreich. E. T. A. Hoffmann und die französischen Romantiker (Gautier, Nerval, Balzac, Delacroix, Berlioz), Heidelberg 2004, S. 74. 4
Walter Scott: „Du merveilleux dans le roman“, in: Revue de Paris 1 (1829) S. 2533. Günter Oesterle zufolge ersetzt das Fantastische, als „innerweltliches Vergnügen an der Verblüffung, am Überraschenden, Fremden, Kühnen, Außerordentlichen, Seltsamen, Neuen, Normenspregenden, den Erwartungshorizont des Gewöhnlichen Überschreitenden, Verwunderungswürdigen“, das gläubige Staunen über die Wunder Gottes. „Der Übergang vom Wunderbaren zum Phantastischen ist genau da anzusetzen, wo unentschieden bleibt, ob das dargestellte Ereignis der natürlichen oder der unnatürlichen Ordnung zugehört“, und markiert so die letzte Stufe der Emanzipation aus dem Glauben, also die Aufklärung. Günter Oesterle: „Der Streit um das Wunderbare und Phantastische in der Romantik“, in: Thomas Le Blanc, Wilhelm Solms (Hg.): Phantastische Welten. Märchen, Mythen, Fantasy, Regensburg 1994, S. 115-130, hier S. 115 und 119.
5
Walter Scott: „Du merveilleux dans le roman“, S. 33.
6
Scott bezeichnet die Hoffmann’sche Fantastik als „fancy“, als krankhafte, exzessive Abart der Einbildungskraft. Vgl. Renate Lachmann: „Schlüssiges – Unschlüssiges (Nach und mit Todorov)“, in: Clemens Ruthner, Ursula Reber, Markus May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, S. 87-97, hier S. 88.
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„De ces trois opérations successives, celle de l’intelligence inexplicable qui avait fondé le monde matérial, celle du génie divinement inspiré qui avait deviné le monde spirituel, celle de l’imagination qui avait créé le monde fantastique, se composa le vaste empire de la pensée humaine.“7
Die Imagination wird nach Nodier zu einer Zeit der Skepsis (wieder) in Anspruch genommen, in der die überlieferten Wahrheiten nicht mehr gelten.8 Seine moderne theoretische Reflexion erfährt der Begriff des Fantastischen in der Literaturtheorie der 1950er und 60er Jahre bei Pierre-Georges Castex, Roger Caillois und Louis Vax.9 Tzvetan Todorov erweitert diese thematischen Betrachtungen 1970 um eine strukturalistische Lesart, die bis heute die Grundlage der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Fantastischen bildet.10 Zentraltheorem der französischen Fantastik-Forschung ist dabei der Konflikt zweier vom Standpunkt der Rationalität aus unvereinbarer Ordnungen oder Logiken. Todorovs klassisch gewordene Definition lautet: „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“11 Die Struktur fantastischer Erzählung zeichnet sich nach Todorov durch einen Einbruch des Irrealen aus, der auf der narrativen Ebene nicht aufge-
7
Charles Nodier: „Du fantastique en Littérature“, in: Revue de Paris 2 (1830),
8
In den Vorworten seiner Romane, wie dem zu Fée aux miettes (1832, dt. Krümel-
S. 205-226, hier S. 206. fee) und dem zweiten Smarra-Vorwort (ebenfalls 1832), präzisiert Nodier seine Vorstellungen eines ‚fantastique vraisemblable‘ als Zeitreaktion. Vgl. dazu auch Norbert Miller: „Ansichten vom Wunderbaren. Über deutsche und europäische Romantik“, in: Kleist Jahrbuch 1980, Berlin 1982, S. 134-140. 9
Pierre-Georges Castex: Le Conte fantastique en France de Nodier à Maupassant, Paris 1951; Louis Vax: L’art et la littérature fantastique, Paris 1960; Roger Caillois: Au cœur du fantastique, Paris 1960.
10 Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970, auf deutsch erschienen als Einführung in die fantastische Literatur, München 1972. Vgl. zur Rezeption Clemens Ruthner, Ursula Reber, Markus May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006. 11 Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 26. Vgl. auch Dieter Penning: „Die Ordnung der Unordnungen. Eine Bilanz zur Theorie der Phantastik“, in: Christian W. Thomsen, Jens Malte Fischer (Hg.): Phantastik in der Literatur und Kunst, Darmstadt 1980, S. 34-51.
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löst wird. Nicht nur die Leser*innen, sondern auch die Figuren der Realebene der Erzählung sind von der fantastischen Erscheinung verunsichert: „Dem Phänomen selbst wird dabei zumindest indirekt und zeitweise ein Status der Ambivalenz, Unentscheidbarkeit und Unerklärlichkeit zugewiesen.“12 Der Einbruch des Irrealen wird dabei oft als Übergang zwischen verschiedenen (geistigen) Zuständen, wie zwischen Wachen und Traum, Wahnsinn und Realität oder Rausch und Nüchternheit dargestellt. Roger Caillois hat diesen Moment als „Riß im universellen Zusammenhang“13 charakterisiert. Das Fantastische offenbart sich so als Erscheinung, die nach den physikalischen Gesetzen der (repräsentierten) Welt unmöglich ist. Die fantastische Erscheinung bleibt zwischen sich widersprechenden Ordnungen in der Schwebe und verursacht eine Krise der Wahrnehmung, die stets Gefahr läuft, die Realität anzustecken und Zweifel an den Gesetzmäßigkeiten der nicht-literarischen oder nicht-künstlerischen Wirklichkeit zu erzeugen. Damit produziert die fantastische Literatur wiederum selbst jene Unsicherheiten der Wahrnehmung, auf die sie nach älteren Beschreibungen, wie z.B. bei Nodier nur kompensatorisch reagiere. Christian Wehr beschreibt in seiner Studie über das fantastische Erzählen bei Nodier diese Funktion der fantastischen Literatur in Folge der kantischen Wende als radikale Subjektivierung der Erkenntnis und Inszenierung epistemologischer Ambivalenzen: „Die gattungsspezifischen Ambiguitäten der fantastischen Literatur sollen als ästhetische Inszenierungen von Widersprüchen und Aporien begriffen werden, die der diskursiven Ordnung des 19. Jahrhunderts selbst schon implizit sind.“14 Fantastische Literatur artikuliert und produziert so einen epistemologischen Bruch im literarischen Erzählen.
12
Hans Krah, Marianne Wünsch: „Phantastisch/Phantastik“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 798-814, hier S. 802. Vgl. auch Gabriele Brandstetter: „Das Phantastische“, in: Lexikon der Ästhetik, hg. von Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter, 2. aktualisierte Auflage, München 2004, S. 288290.
13
Roger Caillois: „Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction“, in: Rein A. Zondergeld (Hg.): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt/Main 1974, S. 44-83, hier S. 46.
14
Christian Wehr: Imaginierte Wirklichkeiten. Untersuchungen zum ‚récit fantastique‘ von Nodier bis Maupassant, Tübingen 1997, S. 15.
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Eine Strategie, solche Unsicherheiten und Brüche in der Literatur zu erzeugen, ist die Poetik der Arabeske. Sie umfasst poetische Verfahren, die mit dem Realitätscharakter von Geschriebenem und Gezeichnetem spielen und Übergänge zwischen Bild und Text, wie auch zwischen (literarischer) Rahmung und fiktiver Darstellung, herstellen.15 Die Grundlage zu einer literarischen Poetik der Arabeske hat Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie gelegt. Er bezeichnet dort digressive und ironische Narrative, wie er sie bei Shakespeare, Sterne oder Cervantes findet, mit dem Ornamentbegriff Arabeske und überträgt so einen visuellen Modus der Darstellung und Verbindung auf literarische Narration. Er erhebt die Arabeske dabei zum Ideal fantastischer Form: „Arabesken sind die absolute (absolut Fantastische) Malerei“, 16 sie sind die „älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie“.17 Die französische Literatur bedient sich vereinzelt der Arabeske als poetischer Form.18 Charles Baudelaire spricht in seinem Prosagedicht Le Thyrse von der ‚ligne arabesque‘, die er als „promenade de votre fantaisie autour de votre volonté“ definiert.19 In seinen Notizen Raketen (Fusées) nennt er sie die ‚idealste‘ und ‚vergeistigste aller Zeichungen‘.20
15
Günter Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen ‚Der goldne Topf‘“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 1 (1991), S. 69107. Sowie Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, Paderborn 1966, S. 49.
16
Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801. Literary Notebooks, hg. von Hans Eichner, Frankfurt/Main 1980, S. 111, [= L.N. 977].
17
Friedrich Schlegel: „Gespräch über die Poesie“, in: ders.: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 2., hg. von Hans Eichner, München 1967, S. 284-362, hier S. 319.
18
Philarète Chasles erwähnt in seinem Beitrag zur Fantastik-Debatte die „arabesques poétiques de Gozzi“. Philarète Chasles: „Panurge, Falstaff et Sancho“, in: Revue de Paris 5 (1829), S. 237-246, hier S. 238. Vgl. auch Thomas Bremer, Günter Oesterle: „Arabeske und Schrift. Victor Hugos ‚Kritzeleien‘ als Vorschule des Surrealismus“, in: Susi Kotzinger, Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam 1994, S. 187-218.
19
Charles Baudelaire: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa, Sämtliche Werke/Briefe Bd. 8, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien 1985, S. 248.
20
Charles Baudelaire: Les Paradis artificiels/Die künstlichen Paradiese. Sämtliche Werke/Briefe Bd. 6, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München/Wien 1991, S. 197.
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Beispiele für den Einsatz dieser arabesken Poetik sind Szenarien der Belebung von Gemälden oder Texten, wie man sie in Théophile Gautiers fantastischer Novelle Omphale, Charles Nodiers Trilby oder E. T. A. Hoffmans Erzählung Der goldne Topf findet. Dort wird in Versenkung in oder Betrachtung von ornamentalen Gebilden (in Schrift oder Bild) die Einbildungskraft der Rezipierenden angeregt und das Fantastische, als Bereich jenseits der Wahrscheinlichkeit, eröffnet. Arabeske Poetik verfolgt die Digressionen dieser Ornamente und übernimmt deren groteske Bildkombinationen und Wendungen ins Unwahrscheinliche: „Die Gegen- oder Kryptogrammatik des Phantastischen erlaubt sich semiotische Exzesse, Hypertrophien, Extravaganzen und schließt an Traditionen des Ornamentalen, Arabesken und Grotesken an bzw. entwickelt sie eigentlich erst.“21
Das Fantastische spielt Wahrnehmungsmodelle gegeneinander aus – und zwar häufig auf einem ornamentalen Grund. Das Ornament verwischt Übergänge zwischen Schrift und Bild, Figürlichkeit und Abstraktion und suspendiert somit Lesbarkeit, Erzählbarkeit und Linearität.22
21
Renate Lachmann: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt/Main 2002, S. 9.
22
Trotz der Übertragungs- und Vermittlungsprozesse zwischen verschiedenen Medien und der Prominenz dieses Begriffs in verschiedenen Gattungen steht eine intermediale Theorie des Fantastischen aus. Clemens Ruthner: „Im Schlagschatten der ‚Vernunft‘“, in: ders., Ursula Reber, Markus May (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, S. 7-14, hier S. 9. Bildende Kunst ist eher selten Gegenstand fantastischer Theorie, als Beispiel musikalischer Fantastik wird stets Berlioz’ Symphonie fantastique (1830) herangezogen. Film dagegen wird häufiger unter der Kategorie des Fantastischen betrachtet, der Fantasy-Film hat als Gattung in den letzten Jahren (auch in der Theorie) stark an Popularität gewonnen. Vgl. dazu im Allgemeinen die beiden Sammelbände: Thomsen, Fischer (Hg.): Phantastik in der Literatur und Kunst; sowie Ruthner, Reber, May (Hg.): Nach Todorov. Zur musikalischen Fantastik vgl. Christian Berger: Phantastik als Konstruktion. Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“, Kassel 1983; sowie auch das Berlioz-Kapitel in Hübener: Kreisler in Frankreich, S. 271-379. Zu einer narratologischen Bestimmung des fantastischen Films vgl. Claudia Pinkas: Der phantastische Film. Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität, Berlin/New York 2010.
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Die epistemologischen Unsicherheiten der fantastischen Literatur korrelieren mit einer Entwicklung der Physiologie, die zu dieser Zeit die Sinneswahrnehmung auf eine neue Grundlage stellt.23 J. W. Goethes Experimente zum Farbsehen, Johann Purkinjes Beschreibungen von Nachbildern (auch Phantombilder genannt) und Johannes Müllers Studien Über die phantastischen Gesichtserscheinungen betonen die Selbsttätigkeit des Auges und lösen die Wahrnehmung so von real existierenden Phänomenen. Jonathan Crary beschreibt die epistemologischen Folgen dieser Entdeckungen: „The afterimage – the presence of sensation in the absence of a stimulus – and its subsequent modulations posed a theoretical and empirical demonstration of autonomous vision, of an optical experience that was produced by and within the subject. Second, and equally important, is the introduction of temporality as an inescapable component of observation.“24
23
Die Rolle der Literatur in dieser Entwicklung wurde unterschiedlich bewertet. Max Milner (La Fantasmagorie. Essai sur l’optique fantastique, Paris 1982) beschreibt die fantastische Literatur wie Nodier als Reaktion auf die Entdeckungen der Physiologie, während neuere medienhistorische und wissenspoetologische Ansätze eine Verflechtung von Literatur und Physiologie beobachten. Stefan Rieger hat das Fantastische im Rahmen einer (Früh-)Geschichte der Virtualität (einer ‚kybernetischen Anthropologie‘) als Bedingung moderner Informationstheorie bestimmt: „Das Rauschen, das in der Romantik zum Hort oder zum Ermöglichungsgrund dessen wird, was Theoretiker der phantastischen Literatur Ambiguität nennen und als Prinzip des Phantastischen überhaupt be- und anschreiben, wird nicht umsonst und schon gar nicht zufällig zu einem der zentralen Paradigmen eben auch der modernen Informationstheorie. Wo immer Rauschfilterung bisher stattfand, in romantischen Texten oder modernen Novellen, in der Wahrnehmungspsychologie oder in der Psychoanalyse, in der Kriminalistik oder im expressionistischen Film mit seiner technischen Visualisierung von erzählten Bildstrategien – künftig wird ihr im Namen von Information und Entropie eine neue Forschungsfront zuteil. An dieser Front stehen nicht Fremdund Selbsttäuschung, Normalität und Wahnsinn zur Disposition, sondern der statistische Ermöglichungsgrund von Information überhaupt.“ Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt/Main 2003, S. 206 f.
24
Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge/London 1991, S. 98. Vgl. auch Ralph Köhnen: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens,
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Instrumente wie Zootrop, Thaumatrop und Phenakistiskop machen diese wissenschaftlichen Entdeckungen augenfällig und weisen spielerisch auf die zeitliche Dimension der Wahrnehmung hin. Diese Instrumente dynamisieren statische Einzelbilder und erzeugen mit (und in) ihnen den Eindruck von Bewegung. Der Phenakistiskop z.B. ist eine einfache Scheibe mit Segmentbildern einer Bewegung. Betrachtet man die Bilder auf der sich drehenden Scheibe durch die Sehschlitze werden diese als kontinuierliche Bewegung wahrgenommen. Auf der Beispielscheibe, mit der Joseph Plateau 1832 das Prinzip seines Phenakistiskopen in der Correspondance mathématique et physique erläutert, beginnt ein gezeichneter Tänzer Pirouetten zu drehen.25 Die Bewegung wird dabei zum Eigenprodukt der Wahrnehmung, zu einem Effekt, der in der Betrachtung aufgrund physiologischer Eigenschaften des Sehens (dem Nachbildphänomen) entsteht. In seinen Beiträgen zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht untersucht, notiert und klassifiziert der tschechische Physiologe Johann Purkinje verschiedene solcher Nachbildphänomene des Auges. Seine Zeichnungen dieser okularen Eigenproduktionen sind eine „striking indication of the paradoxical objectivity of the phenomena of subjective vision,“26 und bilden eine Brücke zwischen Ästhetik und Physiologie (Abb. 26). Purnkinje konzipiert das Sehen dabei – nicht unähnlich William Hogarths Theorie des Schönen – als Nachvollzug von Konturen und Linien, der das Auge unterschiedlich stark beansprucht: am leichtesten fallen gerundete Linien, am schwierigsten sind (gerade) Bewegungen nach außen und oben. Das Ornament ist dabei für Purkinje, aufgrund seiner Linearität und immanenten
München 2009, S. 334-356. Zu einer Kritik von Crarys „übermäßigen Verallgemeinerungen und kategorischen Wahrheitsansprüchen“, die er mit seiner Beschreibung eines ‚dominanten‘ Modell des Sehen vornemmt, vgl. W. T. J. Mitchell, „Pictorial Turn“, in: ders.: Bildtheorie, hg. von Gustav Frank, Frankfurt/Main 2008, S. 101-135, besonders S. 112-120. 25
Joseph Plateau: „Sur un nouveau genre d’illusions d’optique“, in: Correspondance mathématique et physique de l’observatoire de Bruxelles, Bd. 7 (1832), S. 365-368. Es ist bemerkenswert, dass es sich beim ersten Beispiel des Phenakistiskopen um einen Tänzer handelt. Während die optischen Instrumente mit statischen Bildern versuchen Bewegung zu simulieren, zielt das fantastische Ballett auf das Gegenteil: seine paradigmatische Figur Arabeske lebt gerade von der Illusion der stillgestellten Bewegung.
26
Crary: Techniques of the Observer, S. 104.
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Symmetrie, ein privilegiertes Objekt des Sehens, da es der physiologischen Beschaffenheit des Auges entgegenkommt: „Beim Anschauen regelmäßiger geometrischer Linieen, Schnecken- Kreis- und Wellenlinieen, symmetrischer Gestalten, Zierrathen, Schnörkeln, wo überhaupt Gesetz und Nothwendigkeit herrscht, fühlt sich das Auge unwillkürlich von den Umrissen der Gegenstände fortgezogen, die Bewegungen sind erleichtert, ja halb automatisch, so daß sie auf die angeschauten Gegenstände übertragen werden in denen nun ein eigenes Leben und Bewegen erscheint, was einen eigenthümlichen Eindruck gewährt, und ebenfalls von leisen Spannungsgefühlen am Augapfel begleitet ist.“ 27
Auf der Grundlage seiner physiologischen Erkenntnisse über das Sehen entwirft Purkinje eine ornamentale Kunstpraxis. In einer bemerkenswerten Reihe von ornamentalen (wie auch künstlerisch randständigen) Gegenständen taucht dort auch Tanz als Beispiel einer ‚natürlichen‘ Augenmusik auf: „Es wäre der Mühe werth diese Art Augenmusik die uns allenthalben aus der Natur und Kunstwelt entgegenwinkt als einen eigenen Kunstgegenstand zu bearbeiten. Gewiß würde hier für das schaffende Genie eine neue Bahn gebrochen wenn die Ausführungen hinlänglich ins Große getrieben würden. Bis itzt scheint noch nicht für diese Kunst die Zeit gekommen zu seyn, sie muß als Sklavin zu Verzierungen von Kleidern, Gebäuden, Gärten etc. dienen. Nur im Feuerwerke, im Tanze so wie in gymnastischen Vorstellungen, Altären, Ziergärten, transparenten Kreisen mit Centralbewegungen und neuerlichst im Kaleidoscope hat sie bisher ein selbständiges Leben begonnen, wird aber noch immer, weil sie zum Theil mit Gauklern durch die Welt zieht vom vornehmen Geschmake verkannt und übersehen.“28
27
Johann Purkinje: Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne. Bd. 1, Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1823, S. 161 f.
28
Ebd., S. 162 f.
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Abbildung 26: Purkinjes Nachbildphänomene (1823)
Purkinje: Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1823.
Ab den 1820er Jahren entsteht auf Basis der oben beschriebenen physiologischen Erkenntnisse eine Reihe von optischen Instrumenten und Techniken, die nicht nur mit den neu entdeckten Fähigkeiten des Auges spielen, sondern ein eigenes Vokabular von ornamentalen Formen produzieren. David Brewster, schottischer Physiker und Erfinder des Kaleidoskops (ein grch. Neologismus für ‚schöne Formen sehen’), spekuliert darüber, wie sich seine Entdeckung als „of the highest service in all the ornamental arts“29 erweisen würde und Entwurfsprozesse in Architektur, ornamentaler Malerei, Teppichweberei, Buchgestaltung und Glasmalerei automatisieren könnte. Dieses Ornament ist jedoch nicht nur Gegenstand eines neuen ästhetischen Formenvokabulars, sondern auch Indiz einer radikal subjektivierten Wahrnehmung, die sich auch im Ballett des 19. Jahrhunderts wiederfinden wird. Die Effekte dieser neuen optischen Instrumente, die gängige Vorstellungen von Sinneswahrnehmung irritieren, lassen sich mit dem Begriff des
29
David Brewster: The Kaleidoscope. Its History, Theory, and Construction with its Application to the Fine and Useful Arts, London 1858, S. 6.
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Fantastischen, verstanden als Bruch mit der Realität, beschreiben. Diese Instrumente erzeugen fantastische Erscheinungen, worunter nicht nur die zahlreichen Geistererscheinungen fallen, die in Jahrmarktsattraktionen wie den Dissolving Views (eine Weiterentwicklung der laterna magica) erzeugt werden, sondern auch die Bewegungsillusionen oder abstrakten ornamentalen Muster im Auge. Das Fantastische umgreift somit sowohl künstlerische Phänomene wie Literatur und eben auch Tanz, wie auch neu entdeckte Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung. Folgt man Stefan Rieger, der in seiner Kybernetischen Anthropologie den Menschen mit Max Mikorey als „phantombildendes Wesen“ bestimmt, 30 stellt sich das Fantastische wie es sich in Künsten und Physiologie des 19. Jahrhunderts ausbildet somit keinesfalls als Realitätsflucht dar, sondern kann als realitätskonstituierend für den modernen Menschen angesehen werden. féerique Das Theater (als Schau-Raum) ist seit jeher privilegierter Ort der Hervorbringung von Geistern, Doubles und Feen. Als weitere Teilgattung der (fantastischen) Phantombilder und Virtualisierungstechniken, die immer auch Visualisierungstechniken sind, entsteht im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein fantastisches Ballett – ballet fantastique. Es geht im Folgenden nicht darum, mit dem Begriff des Fantastischen ein neues Genre oder eine Epoche im Ballett zu bestimmen, sondern eine Form von Bildproduktion (die bildliche Projektion der sinnlichen Welt im menschlichen Verstand) und eine charakteristische Wahrnehmungsweise zu beschreiben, die für das Ballett Mitte des 19. Jahrhunderts zentral ist. Giselle, das von Serge Lifar als ‚Höhepunkt des Romantischen Balletts‘ bezeichnet wurde, heißt, wie La Péri, im Untertitel Ballet fantastique. Die zentralen Ballettwerke im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts sind darüber hinaus oft choreografische Übertragungen fantastischer Literatur: La Sylphide ist eine Variation von Charles Nodiers Trilby, Giselle basiert auf Heines Elementargeistern, Ondine auf de la Motte Fouqués Undine und Le Diable Amoureux auf der gleichnamigen Geschichte von Jacques Cazotte, einem Vorläufer der fantastischen Literatur aus dem 18. Jahrhundert. 31 Diese Ballette verwenden Er-
30
Rieger: Kybernetische Anthropologie, S. 112 und S. 186 ff.
31
Joellen A. Meglin hat in einem „intertextual reading“ die motivischen Ähnlichkeiten vom Ballet fantastique und literarischer Fantastik untersucht. Meglin kon-
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zählmotive aus der fantastischen Literatur, übersetzen jedoch auch literarische Strategien der Narration in theatrale Dramaturgie und erzeugen den Einbruch des Fantastischen mit bühnen- und bewegungstechnischen Mitteln.32 Darüber hinaus lässt sich mit diesem Begriff erneut die Frage nach dem Ornamentalen des Balletts stellen, denn er beleuchtet, wie das Ornamentale und dessen Zwischenraum-Poetik auf die Bühne übertragen werden. Damit rücken Blickkonstellationen, Aspekte der ästhetischen Anordnung und Körperbilder in den Fokus. Im Ballett, wie auch in Oper, Sprechtheater und den zahlreichen theatralen Mischformen des 19. Jahrhunderts, ist die Kategorie des Fantastischen eng mit dem Genre Feerie verwandt. Die ballet-féerie ist neben dem balletfantastique die häufigste Genrebezeichnung der 1820er bis 1840er Jahre.33 Die Feerie, oder auch féerie, ist eines der populärsten Genres des französischen Theaters im 19. Jahrhundert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden, wird sie im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Genre,
zentriert sich dort auf Ballettlibretti und versucht ihnen „new meaning“ zu geben, wobei die ‚dunklen Seiten‘ der Ballettnarrative (die ‚schwarze‘ Romantik) zu Tage treten. Dabei beachtet sie jedoch die intermedialen Übertragungsprozesse zwischen Literatur und Tanz nicht, und entwickelt kein eigenes tanzwissenschaftliches Verständnis des Fantastischen. Joellen Meglin: „Behind the Veil of Translucence: An Intertextual Reading of the Ballet fantastique in France, 18311841“, Teil 1 „Ancestors of the Sylphide in the Conte Fantastique“, in: Dance Chronicle 27/1 (2004), S. 67-129; Teil 2 „The Body Dismembered, Diseased and Damned: The Conte Brun“, in: Dance Chronicle 27/3 (2004), S. 313-317; Teil 3 „Resurrection, Sensuality, and the Palpable Presence of the Past in Théophile Gautier’s Fantastic“, in: Dance Chronicle 28/1 (2005), S. 67-142. 32
Mit dem Begriff des Fantastischen lässt sich der „romantische Dualismus“, den Gabriele Brandstetter als Strukturmerkmal der Ballette der 1830er und 1840er Jahre identifiziert hat, auch als „fantastischer Bruch“ bezeichnen. Gabriele Brandstetter: „‚Geisterreich‘. Räume des romantischen Balletts“, in: Inka Mülder-Bach, Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik, Freiburg 2007, S. 217237, hier S. 217 ff.
33
1823 wird mit Cendrillon von Albert Decombe (Musik von Fernando Sor) die erste ballet-féerie in der Operá aufgeführt, 1824 folgt Zémire et Azor und 1829 La Belle au bois dormant (eine ballet-pantomime-féerie). 1832 trägt La Sylphide ebenfalls den Untertitel ballet-féerie.
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bzw. einer zentralen ästhetischen Kategorie des populären Theaters.34 Die Feerie entwickelt sich als eigenständiges Genre mit spezifischer Dramaturgie, taucht aber auch als ästhetischer Modus in Pantomimen, Opern und Balletten, wie in der Pantomime-féerie, Opéra-féerie oder Ballet-féerie, auf. In diesen féeries entwickelt sich der Begriff „mise en scéne“, der den Primat des Dramentextes anficht und die theatrale Inszenierung als Mischung von bzw. Wechsel zwischen Text, Musik, Tanz und szenischen Effekten ins Zentrum rückt: 35 eine mehrschichtige ‚écriture spectaculaire‘ löst die ‚écriture dramatique‘ ab. Die „pérégrinations transgénériques“36 [gattungsübergreifende Wanderungen] des Modus féerique lösen klassische Genre- und Gattungsunterschiede auf. Ihre Dramaturgie wird von einem Rhythmus bestimmt, der aus dem Wechsel von handlungsforttreibenden Szenen, tänzerischen Divertissements, changements à vue und Musikeinlagen entsteht. Die Feerie ist so wiederum eng mit dem Modus des Fantastischen verknüpft, dessen Narrative es ihr ermöglichen, eine Textdramaturgie um eine visuelle Dramaturgie des Spektakels zu erweitern. Die Bühnenbildeffekte, Musik- und Tanzeinlagen funktionieren so als Digression der dramatischen (Text-)Narration und sind den fantastischen Einbrüchen der Literatur äquivalent: sie sind Ornament der Handlung und – wie im Folgenden gezeigt werden soll – bereits selbst ornamental strukturiert. Das Fantastische und die Feerie funktionieren primär – wie bereits angedeutet – visuell. So zielt auch das französische Theater des 19. Jahrhunderts vornehmlich auf den optischen Sinn: „il faut parler aux yeux“,37 formuliert programmatisch Louis Véron, unter dessen Leitung sich grundlegende Veränderungen der Oper und des Balletts im frühen 19. Jahrhundert vollzogen ha-
34
Vgl. dazu die grundlegende Studie von Roxane Martin: La Féerie Romantique sur les scènes parisiennes. 1791-1864, Paris 2007, S. 13; sowie Paul Ginisty: La Féerie, Paris 1910; Katherine Singer Kovács: „A History of the Féerie in France“, in: Theatre Quarterly 8/29 (1978), S. 29–38; John McCormick: Popular Theatres of Nineteenth-Century France, London/New York 1993, bes. Kap. 10 „The Feerie“, S. 148-156; und Patrick Besnier: „L’Ancienne Féerie“, in: Histoires Littéraires 7 (2001), S. 47-54.
35
„La féerie […] accordes son primat à la mise en scène; ballets, musique, effets scéniques jouissent, dans sa dramaturgie, d’une importance capitale.“ Martin: La Féerie Romantique, S. 18.
36
Ebd., S. 130.
37
Véron: Mémoires d’un Bourgeois de Paris, S. 159.
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ben.38 Im 19. Jahrhundert verändert sich das theatrale Schauen: das Theater wird spektakulär und entwickelt eine ‚Piktoral-Dramaturgie‘.39 Die Ballette dieser Zeit mit ihren fantastischen Schauplätzen und Geschichten werden als voyages dans les espaces imaginaires und somit als primär visuelle Phänomene aufgefasst, die sich – ähnlich der Literatur – als Gegenreaktion wie auch als Resultat (natur-)wissenschaftlichen Fortschritts begreifen lassen. Eine Kritik von La Sylphide vom 13. März 1832 verbindet explizit den wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Realitätsdrang mit dem wachsenden Zweifel an der Wahrnehmung und der romantischen Fantastik: „Les sciences positives on fait aujourd’hui trop de chemin pour que l’on s’occupe encore de celles qui sont purement conjecturales. Si jamais on a voulu de la réalité, c’est assurément dans le siècle où nous sommes; on en veut même trop, car cela pousse les hommes vers le scepticisme général d’après lequel ils ne croient pas ce qu’ils voient et ne comptent que sur ce qu’ils tiennent. Au fond, cette philosophie en vaut bien une autre! Et malgré cela, il y a un goût, ou plutôt une mode de fantastique, qui, pour commencer à passer, n’en a pas moins eu son temps, grâce aux élucubrations romantiques, où, tout en cherchant la vérité, on a tout mis en question, où en courant après ce qui est, on n’a, par un guignon singulier, jamais rencontré que ce qui n’est pas. De là,
38
Vgl. Anselm Gerhard: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1992, S. 16-42. Théophile Gautier fasst diese Tendenzen unter dem Begriff opéra de l’œil zusammen. Vgl. S. 165 dieser Arbeit.
39
Nic Leonhardt fasst damit einen Terminus von Martin Meisel zusammen, um Entwicklungen im deutschen Theater zwischen den 1860er und 1890er Jahren als Teil der visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. „Meisels Begriff der pictorial dramaturgy wird in [Leonhardts] Untersuchung als ein Arbeitsbegriff verstanden, um die Relation von Theater und visueller Kultur des 19. Jahrhunderts zu beleuchten. Ausgehend von Meisels Beobachtung, dass sich Szenografie und Dramaturgie gleichermaßen an der Malerei orientieren und Analogien zu optischen Medien aufweisen, ist an konkreten Beispielen zu fragen, ob und auf welche Weise Phänomene der visuellen Kultur auf die Programme und Ästhetik von Theater einwirken.“ Nic Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899), Bielefeld 2007, S. 24. Vgl. auch Martin Meisel: Realizations. Narrative, Pictorial, and Theatrical arts in Nineteenth-Century England, Princeton 1983. Im Unterschied zu Leonhardts Studie nimmt diese Arbeit die mediale Verfasstheit der historischen Überlieferung, die selbst ornamentale Züge trägt, stärker in den Blick.
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ces voyages dans les espaces imaginaires, que le public a été obligé d’entreprendre pour suivre nos modernes genies, et dont il est toujours renvenu moins informé qu’à son départ, et plutôt inquiet que rassuré, plutôt étourdi qu’ému.“40
Das fantastische Ballett entwickelt jedoch Formen, die sich von der populären Fantastik, wie sie auf den Jahrmärkten inszeniert wird, unterscheiden. Dort erzeugen Formate wie das Diorama eine immersive Umgebung und eine vollständige Illusion auf neuen physiologischen Grundlagen. Das Theater dagegen bleibt auch im fantastischen Genre ein ‚klassischer‘ SchauRaum und bedient sich barocker theatraler Mittel um fantastische Effekte zu erzeugen.41 So rahmt z.B. der Zuschauerraum der Pariser Opéra, der Salle Le Peletier, die dargestellte Traumwelt der Bühne mit einem stark ornamentierten Portal, dessen Verzierungen in die Architektur des Zuschauerraums weiterführen. Dieser bleibt auch während der Aufführung beleuchtet und platziert Publikum und Bühne in einer gemeinsamen ornamentalen Anordnung, aus der die (fantastischen) Gestalten auf der Bühne heraustreten.42 Im 19. Jahrhundert wird das Bühnenportal explizit als Bilderrahmen begriffen, analog zur Auffassung des Bühnengeschehens als ‚Gemälde‘ (tableau), das es somit umschließt.43 Martin Meisel hat auf das gemeinsame In-
40
„Académie Royale de Musique. Première représentation. La Sylphide, balletpantomime en deux actes.“, in: Courrier des Théâtres, 13.03.1832. Zitiert nach Joellen A. Meglin: „Behind the Veil of Translucence: An Intertextual Reading of the Ballet Fantastique in France, 1831–1841”, Teil 1, S. 122.
41
Zu den Verwandlungen in barocken Intermedien und der „reinen optischen Turbulenz“ dieser Bühnenräume, vgl. Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 335-347.
42
Das architektonische Ornament der Oper schließt in seiner Funktion so an barocke Repräsentationsbauten an; Louis Véron wollte die Oper zum Versailles der Bürger machen: „La révolution de juillet est le triomphe de la bourgeoisie: cette bourgeoisie victorieuse tiendra à trôner, à s’amuser; l’Opéra deviendra son Versailles, elle y accourra en foule prendre la place des grands seigneurs de la cour exilés.“ Véron: Mémoires d’un Bourgeois de Paris, Bd. 3, S. 104 f.
43
„The idea of the stage as a picture and the proscenium as its frame had been in the air for many years. George Saunders declared in 1709 that ‚the scene is the picture, and the frontispiece, or in other words the frame, should contrast the picture, and thereby add to the illusion‘, and Benjamin Wyatt said of his 1812 Drury Lane that the proscenium ‚is to the Scene what the frame of a Picture is to the Picture itself‘.“ Michael R. Booth: Theatre in the Victorian Age, Cambridge
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teresse am Bildlichen (pictorial) in Malerei, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert hingewiesen und ausgehend von der Mode theatraler realizations44 eine Form der Dramaturgie beschrieben, die auf Bildern – tableaus – beruht: „In the new dramaturgy, the unit is intransitive; it is in fact an achieved moment of stasis, a picture. The play creates a series of such pictures, some of them offering a culminating symbolic summary of represented events, while others substitute an arrested situation for action and reaction. Each picture, dissolving, leads not into consequent activity, but to a new infusion and distribution of elements from which a new picture will be assembled or resolved.“45
In der Feerie wird das tableau zentrale Kategorie. Sie meint dort jedoch weniger eine mit Bedeutung aufgeladene Gruppierung, wie im Melodrama,46 sondern eine „unité dramatique“, 47 die mit einem „royaume imaginaire“ oder einem szenischen „clou“ korrespondiert. Bettina Brandl-Risi hat, in Bezug auf Melodrama und Oper, das tableau aus seinem rhetorischen Gebrauch als Hypotypose hergeleitet und dessen ausschmückendes und retartierendes Moment betont: „Das Tableau erweist sich somit als Teil des ornatus nicht nur rhetorisch gesehen, sondern auch in Hinblick auf seinen theaterästhetischen Ort, insofern es gleichermaßen das Bildhaft-Ornamentale (die Rolle der Dekoration) im Theater aufruft. Das De-
1991, S. 71. Vgl. dazu auch Bettina Brandl-Risi: BilderSzenen. Tableaux vivants zwischen Bildender Kunst, Theater und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg 2013, S. 61-70. 44
„‚Realization‘, which had a precise technical sense when applied to certain theatrical tableaux based on well-known pictures, was in itself the most fascinating of ‚effects‘ on the nineteenth-century stage, where it meant both literal recreation and translation into a more real, that is more vivid, visual, physically present medium. To move from mind’s eye to body’s eye was realization, and to add a third dimension to two was realization, as when words became picture, or when picture became dramatic tableau. Always in the theater the effect depended on the apparent literalness and faithfulness of the translation, as well as the material increment.“ Meisel: Realizations, S. 30.
45
Ebd., S. 38.
46
Vgl. Ebd., S. 39 ff.; Brandl-Risi: BilderSzenen, S. 128 ff.
47
Martin: La Féerie Romantique sur les scènes parisiennes, S. 235 ff.
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korative als Ergebnis von Visualisierungsstrategien erhält damit aber bezogen auf das Theater den Index des Spektakels, das auf einer Dominanz des Visuellen gegenüber dem diskursiv Vermittelten gründet.“48
Das fantastische tableau übernimmt die unterbrechende und retardierende Funktion dieser tableaus, richtet seine Anordnung jedoch an einer abstrakten Ornamentalität aus, ohne dabei eine ‚symbolic summary‘ der vorhergehenden Aktionen zu bieten, bzw. vereinfacht diese in ihren Apotheosen bis zur Parodie. Gerald Siegmund hat eine Möglichkeit skizziert, Jonathan Crarys Thesen auf das Ballett zu übertragen: „Das szenische Dispositiv des romantischen Balletts artikuliert Veränderungen in der Konzeption des Sehens, das sich auf dem Weg in die Moderne befindet.“49 Nach Siegmund kreieren theatrale Effekte wie Flugmaschinen, der Einsatz von Gaslicht und arabesque glissés in Werken wie Giselle eine „Illusion, die die Wirklichkeit nicht abbildet, sondern Effekte von Wirklichkeit erzeugt. […] Sowohl die Theatereffekte als auch die Bewegungen der Tänzerinnen zeigen einen Körper in permanenter Auflösung, der es dem Betrachter auferlegt, selbst ein Bild zu produzieren. […] Die Bühne des romantischen Balletts ist nicht mehr länger nur ein Dekor. Sie ist bereits ein modernes szenisches Dispositiv des Sehens.“50
Siegmunds These präzisierend, wird im Folgenden eine Argumentation entwickelt, die das moderne Sehen gerade im Dekor und Ornamentalen lokalisiert. Die Arabeske ist somit (in der gleichnamigen Pose) nicht nur ein Element der Balletttechnik, sondern ein Ornamentmuster, das sich in der Fantasie der Betrachtenden weiter verzweigt und auswächst.51 Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen metaphorischen Begriff der Arabeske, sondern der Wechsel zwischen konkreter Figur und ihrer Fortführung in der
48
Brandl-Risi: BilderSzenen, S. 70.
49
Gerald Siegmund: „Giselle, oder: Das Sehen auf dem Weg in die Moderne“, in:
50
Ebd., S. 127.
Tanz und Archiv: Forschungsreisen 3 (2010), S. 120-129, hier S. 123. 51
Die Poetisierung der Tanzkritik, wie sie Christina Thurner für das sogenannte Romantische Ballett beschrieben hat, ließe sich ebenfalls mit diesem Begriff des Arabesken beschreiben, da sich dort „das Wahrgenommene mit dem Imaginierten verbindet“, Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009, S. 144.
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Imagination ist – wie im dritten Kapitel gezeigt wurde – Charakteristikum der Ballettpose Arabeske. Das moderne (arabeske) Sehen ist eine medienkonditionierte Optik, die die Betrachtenden in das fantastische Szenario einbindet. Die arabeske Fantasie beschränkt sich nicht auf den Bereich der Schrift (oder des Bildes), sondern hat sich – in einer Einverleibung grafischer Formalisierung – auf Körper- und Bewegungswahrnehmung ausgeweitet. Im Ballett löst, wie das folgende Kapitel zeigt, die Arabeske die Körperkontur auf der individuellen Ebene über eine Ausdehnung der Figur in den Raum und eine Eingliederung in den ornamentalen Bühnenraum auf, wie auf der kollektiven Ebene im Aufgehen in ornamentalen Gruppenfiguren. Die ornamentalen Musterbildungen im Ballett können so nicht nur mit der narrativen Digression der Fantastik analogisiert, sondern ihre ästhetische Gestaltung auch mit einer modernen Optik zusammengedacht werden. Dies jedoch stets unter dem Vorbehalt, dass das Ballett die optischen Illusionen oder Eindrücke in einen ‚klassischen‘ Rahmen setzt und mit bühnen- und körpertechnischen Mitteln erzeugt. Das ballet fantastique inszeniert die moderne Seherfahrung (und die in der fantastischen Literatur entworfenen Hybridisierungen, Beseelungsvorgänge und Transformationen) als kaleidoskopisches Spektakel und erzeugt dafür neue Ornamente. Die Ornamentwerdung des Körpers über die (bzw. in der) Arabeske und die Bindung dieses Prozesses an die Wahrnehmung und Einbildung, wie sie im dritten Kapitel beschrieben wurden, bilden dazu die notwendige Grundlage. Die Wahrnehmung des Körpers als ornamentales Liniengeflecht ermöglicht, diesen in einem ebenfalls ornamentalen Rahmen zu verorten und Übergänge, Sprünge und Verbindungen zwischen diesen – sonst medial und material getrennten Bereichen – zu schaffen. Das Ornamentale – es lässt sich hier ebenso vom Arabesken sprechen – durchzieht die Ästhetik dieser Ballette auf mehreren Ebenen: als dramaturgische Digression der Narration, die TanzDivertissements ornamental einsetzt, als visuelle Verwirrung des Spektakels in reich verzierten Bühnenbildern (den décors) sowie im Zierrat des Balletts, den ornamental ausgeschmückten Souvenir-Lithografien und Devotionalien, wie den Porzellanstatuen von Tänzerinnen, die in Anlehnung an diese Werke produziert wurden. Das folgende Kapitel ist (wie die ganze Argumentation dieser gesamten Studie) vornehmlich über die Materialität und Medialität des Ornamentträgers strukturiert – Notationen, Musterbücher, Lithografien, Porzellanstatuen. Im
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historischen Material wird das Eintreten der Tänzerin (ihre verwandelte Rückkehr, ihre Dissimulation, ihr Aufgehen, aber auch ihr Verschwinden) ins Ornament – im Ornament dieser Medien – sichtbar. Zuerst werden dabei das divertissement und das tableau als dramaturgische Mittel, mit denen das Fantastische in Szene gesetzt wird, ausgehend vom überlieferten choreografischen Material betrachtet. Es handelt sich dabei um zentrale Aspekte der Feerie, die beide die Narration für ein spektakuläres Innehalten und Betrachten unterbrechen.
B ALLET FANTASTIQUE Das Divertissement ist eine zentrale Kategorie des Balletts, wie auch des Gesellschaftstanzes im 19. Jahrhundert. George Desrats Tanzlexikon von 1895 bestimmt den Begriff als nichtsolistische Tanzeinlage und legitimierte Unterbrechung und Abschweifung: „On entend par ce mot la partie dansante introduite dans les opéras ou opérascomiques; il s’étend aussi à la danse de ville pour les fêtes dans lesquelles la danse joue un rôle prépondérant. Dans les opéras, le divertissement doit être amené par le libretto et faire presque partie intégrante de l’œuvre. Il n’est pas d’usage de voir figurer les premiers sujets de la danse dans ces entrées qui sont généralement réservées aux quadrilles de danseuses ou danseurs.“52
Die (tänzerische) Unterbrechung des dramatischen Verlaufs eines Bühnenwerks kann so als Digression begriffen werden, als Verzierung einer Handlung, die auf anderer Ebene allegorisch gespiegelt, kontrastiert, zur Erhöhung der Spannung aufgehalten oder weitergesponnen wird. Solche Divertissements bleiben auch nach der Emanzipation des Balletts zu einer eigenständigen Gattung im 18. und 19. Jahrhundert fester Bestandteil der Dramaturgie.53 In Handlungsballetten dieser Zeit bieten Feste, höfische Aufzüge, Ver-
52
George Desrat: Dictionnaire de la danse historique, théorique, pratique et bibliographique, Paris 1895 [Reprint Hildesheim/New York 1977], S. 129 f.
53
Zu den Ballett-Entrées in den Comédie-Ballets von Molière, Lully und Beauchamp vgl. Nicole Haitzinger: Vergessene Traktate – Archive der Erinnerung. Zu Wirkungskonzepten im Tanz von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2009, S. 113 ff. Zur politischen Repräsentationsfunktion
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sammlungen von Fabelwesen oder theatrale Darbietungen Anlass zu abschweifenden Tanzeinlagen, die dennoch im Erzählverlauf verankert bleiben. Carlo Blasis hat in seinem Code of Terpsichore, im Abschnitt zur Komposition von Balletten, diese paradoxe Stellung des Tanzes im Ballett benannt und sie als ornamentales Verhältnis beschrieben: „In a Ballet the dance should partake of the plot and interest of the piece, at the same time that it becomes an ornament to it.“54 Das Divertissement wird so zu einem Synonym für eine bestimmte Form von (Bühnen- wie Gesellschafts-)Tanz als geordneter Gruppenbewegung, die die Narration unterbricht, die ‚reale‘ Zeit der Erzählung suspendiert und eine andere Zeit und einen anderen Raum eröffnet. Diese herausgehobene Zeitlichkeit ist im Gesellschaftstanz des Fests erfahrbar, wie auch auf der Bühne als fantastisches Geisterballett darstellbar: beides erzeugt in (Tanz-)Bewegungen eine Abweichung vom Gang des Alltäglichen, sowohl im Bewegungsvokabular, wie auch in der räumlichen Organisation, die einen beinahe magischen Zusammenhalt aufweist.55 Die folgende Bestimmung des Ornamentalen der Gruppen-Divertissements konzentriert sich auf zwei Notationsversuche: die Aufzeichnungen von Henri Justamant und die Tanz-Gruppen von Franz Opfermann. Die Genealogie dieser ornamentalen Gruppenchoreografien wird anhand von zwei Modellen erläutert: militärischen Manövern und ornamentalen Musterbüchern. Der ornamentale Charakter dieser Figuren lässt sich dabei nicht nur aus der Form ihrer Notation begreifen, sondern die Aufzeichnungsform nimmt selbst Einfluss auf die Wahrnehmung dieser Raumbewegungen als Ornament – die Notationen sind paper tools,56 um das Ornament im Raum
der barocken Entrées vgl. Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge 1993, bes. Kap. 1 und 2. 54 55
Carlo Blasis: The Code of Terpsichore, London 1830, S. 204 f. Friedrich Schiller vergleicht in seiner Elegie Der Tanz das Menuett nicht nur mit einem Elfenreigen im Mondlicht, sondern beschreibt die Organisation der Bewegungen im Raum als „wie durch magische Hand“ geführt.
56
Im Vergleich zur chemischen Formelschrift Jöns Jacob Berzelius, für die Ursula Klein den Begriff paper tool als epistemisches Werkzeug geprägt hat, sind die Ballettskizzen wenig formalisiert und ihr ästhetischer Erkenntnisgewinn gering. Ihre ‚graphic suggestiveness‘ und ihre (buchstäbliche) ‚manoeuvrability‘ ermöglichen jedoch eine externalisierte Komposition, in der sich die lineare Ornamentalität der Gruppen besser (be)greifen bzw. handhaben lässt. Zum Begriff paper
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der Bühne herzustellen (zu choreografieren), wie auch dessen Choreografie handhabbar (d.h. manövrierbar) zu machen. Evolutions Im Konvolut der Aufzeichnungen von Henri Justamant im Archiv der Pariser Opéra befindet sich ein schmaler Band von Ballettnotationen mit dem Titel Pas de genres,57 der eine kleine undatierte Choreografie mit dem Namen Evolutions / par 8 hommes et 16 dames / composer [sic] par Justamant enthält.58 Die Evolutions sind in einem kleinen, aus sechs Bögen bestehenden Heft notiert, das offenbar später in den Band eingefügt wurde. Die Evolutions nehmen in dieser Sammlung eine Sonderstellung ein, denn der Band enthält sonst nur National- und Charaktertänze, wie Tarantella, Mazurka, Anglaise und Cracovienne.59 Die Evolutions eröffnen ein anderes Register und vertreten als herausgehobenes Beispiel eine Klasse von choreografierten Gruppenbewegungen, zu denen auch Tanzformen wie Quadrille oder Cotillon gehören.60 Denn die Evolutions, die den Untertitel „Manœuvre Des Dames“
tools vgl. Ursula Klein: „Paper Tools in Experimental Cultures“, in: Studies in History of Philosophy and Science, 32/2 (2001), S. 265–302. 57
Bibliothèque-musée de l'opéra, Signatur B 217 (4).
58
Die Aufzeichnungen von Justamant stammen aus den 1840er bis 1870er Jahren.
59
Im Inhaltsverzeichnis werden die Evolutions ebenfalls nicht aufgeführt. Möglicherweise wurden diese Tänze erst für die Auktion 1893 zu einem Band zusammengefügt.
60
Zur Genealogie der Gruppe, wie im 19. Jahrhundert das corps de ballet genannt wurde, vgl. Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Die Gruppe als begleitendes Instrumentarium. Ensemblegestaltungen im Theatertanz des 19. Jahrhunderts“, in: Claudia Jeschke, Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin 2000, S. 274290. Die Quadrille ist ein beliebter Gesellschaftstanz des 19. Jahrhunderts, der auch im Ballett vorkommt. Der Begriff leitet sich ebenfalls aus dem Militär ab. Desmond F. Strobel: „Quadrille“, in: International Encyclopedia of Dance, hg. von Selma Jeanne Cohen, Bd. 5, New York/Oxford 1998, S. 285-287. Die vorliegende Untersuchung in diese Richtung zu erweitern würde den Rahmen sprengen. Als Material würden sich dazu verschiedene Notationen anbieten, wie das mehrfach aufgelegte Tanzlehrbuch The Quadrille and Cotillon von Thomas Wilson aus den 1830er Jahren oder die handschriftliche Notation von Freising aus
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tragen, sind nicht nur der Titel einer einzelnen Choreografie, sondern dieser Name bezeichnet bis ins frühe 20. Jahrhundert militärische Manöver, Truppenübungen und Stellungswechsel. Über die Etymologie dieser kleinen Choreografie erschließt sich so der Organisationscharakter und die Funktion dieser Bewegungsklasse. Justamants Evolutions haben keine narrative Funktion, sondern sind eine formale Bewegungsübung. Die sechzehn Tänzerinnen und acht Tänzer exerzieren eine Reihe von Positionswechseln. Sie bilden verschiedene Figuren wie Kreuz, Kleeblatt, Kreis und Stern und vollführen simple Bewegungsfiguren, wie eine Kettenschlingung, geschwungene Linien und einen kreuzförmigen Weg. Für das Schlussbild formieren sie sich in zwei Reihen und präsentieren Waffen. Justamant verwendet in dieser, wie auch in seinen anderen Notationen, eine eigene Tanz-Schrift, die ein Hybrid unterschiedlicher Notations- und Schreibformen ist und so unterschiedliche Ebenen der Choreografien erfasst. Seine Notationsform ist dabei nicht sonderlich eloquent und auch ohne Vorkenntnisse leicht entzifferbar. Er verwendet abwechselnd wort-schriftliche Beschreibungen, Ansichten aus der Frontalperspektive sowie abstrakte Aufsichten, die mit Strichfiguren, abstrakten Positionsmarken und Linien, die den Weg markieren, arbeiten. Die Notation springt zwischen verschiedenen Perspektiven und Aufschreibesystemen: sie wechselt zwischen gezeichneter Frontalansicht und Aufsicht, und verwendet Text um Übergänge oder pantomimische Dialoge zu notieren.61
der Lipperheideschen Kostümbibliothek, Berlin. Das Manuskript namens „Chorèographie / verschiedener / Tänze-Quadrillen und Corps de ballets / von / Berliner Componisten“ ist auf 1858 datiert und gehörte dem Berliner Tänzer und Tanzlehrer Amint Freising. Es enthält eine Vielzahl von Aufzeichnungsformen: Notationen von Quadrillen und corps de ballet Choreografien u.a. aus Gisela, der deutschen Version von Giselle, sowie Libretti und kleine Abhandlungen. Die Notationen probieren verschiedene Darstellungsformen aus, verwenden Strich- und Punkt-Darstellungen, Nummern, Symbole und Text, getrennt und in zahlreichen Mischformen. Vgl. dazu Gunhild Oberzaucher-Schüller: „Berliner Skizzen“, in: dies. (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2. „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 239-256. 61
Siehe die Beispiele im 3. Kap. zu Giselle, wie auch die Ausführungen zu Justamant im 1. Kap. dieser Arbeit. Claudia Jeschke hat auf diese Materialien hingewiesen, sie klassifiziert diese aber als Regiebücher. Claudia Jeschke: „Inszenierung und Verschriftung. Zu Aspekten der Choreographie und Choreo-
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Abbildung 27: Fig. 6 aus Justamants Evolutions
Justamant: Pas de Genres, Bibliothèque-Musée de l’Opéra Paris.
In Evolutions verwendet Justamant fast ausschließlich kleine Kreise, die den Standpunkt eines Tänzers oder einer Tänzerin markieren. Von diesen Positionsmarken führen strahlenartig Striche, die den Weg jedes einzelnen Tänzers andeuten und den Übergang zur nächsten Figur bereiten. Unter diesen mit Tinte geschriebenen Punkten und Strichen hat Justamant vereinzelt Bleistiftraster angelegt, die die Aufstellung der Tänzer*innen auf dem Papier vorordnen. Ebenfalls mit Bleistift sind die Zeilen für die schriftlichen Anweisungen gezogen, die die einzelnen Tanz-Figuren und ihre Übergänge erläutern. Die Fläche des Papiers wird so mehrfach vorstrukturiert, um schriftliche Anweisungen einzutragen, aber auch um ein imaginäres geometri-
Graphie im 19. Jahrhundert“, in: Katharina Keim, Peter M. Boenisch, Robert Braunmüller (Hg.): Theater ohne Grenzen. Festschrift für Hans-Peter Bayerdörfer zum 65. Geburtstag, München 2003, S. 256-265. Sowie Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke, Gabi Vettermann: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010, S. 496 f.
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sches Raster aufzustellen, aus dem die geometrischen Figuren in den Raum übertragen werden. Diese kleine, nebensächliche Choreografie Justamants, die weder einem größeren Ballett noch dem Kontext der anderen Pas de genres zugehört, führt über ihren Titel zu einer Entdeckung hinsichtlich der Notationsweise Justamants. Stellt man sie in den Kontext anderer Notationsexperimente, lässt ihr studienartiger Charakter bestimmte Merkmale dieser Aufzeichnungsform hervortreten.62 Auf eine sich verändernde Tanzästhetik reagiert die Tanznotation im frühen 19. Jahrhundert mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Entwürfen, von denen sich keiner als verbindliche Schrift durchsetzt. Mit der Beauchamp/Feuillet-Notation, die einen solchen Status erreicht hatte, lassen sich die aufrechten Posen, die ab dem späten 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnen, wie auch komplexe Bodenfiguren von größeren Gruppen, nur schwer erfassen. Justamants Notationsweise, die für diese neuen Erfordernisse eine Lösung vorschlägt, lässt sich in eine andere Tradition von Bewegungsaufzeichnungen stellen. Sucht man im Bildteil von Diderots und d’Alemberts Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, dem Recueil de Planches sur les Sciences, les Arts libéraux et les Arts méchaniques, nach einer formalen Vorlage für Justamants Notationen, so findet man diese nicht unter dem Begriff „Chorégrafie“, sondern unter dem Schlagwort „Evolutions“ in der Sektion „Art Militaire“.63 Im Ver-
62
Die Bewegungsabläufe, wie sie hier aufgezeichnet sind, finden sich ganz ähnlich in vielen Manuskripten von Justamant. Dort tauchen immer wieder pseudomilitärische Bewegungsformationen wie „Manœuvres“ oder „Danses Armées“ auf. In der Brüsseler Choreografie Les Nimphes Amazones (1864) gibt es ein Divertissement, das den Evolutions stark ähnelt. Möglicherweise sind die Evolutions eine choreografische Skizze oder Vorstudie, die Justamant für Nimphes Amazones ausgearbeitet hat.
63
Der folgende Vergleich zweier Aufschreibesysteme von räumlichen Körperbewegungen ist weniger historisch als systematisch ausgerichtet. Zwischen ihnen besteht kein direktes Abstammungsverhältnis. Vielmehr scheint die Verwandtschaft weiter in die Militär- und Tanzgeschichte zurückzuführen. Ähnliche Aufzeichnungssysteme existieren bereits für die Pferdeballette des 17. Jahrhunderts, wie z.B. in Il Mondo Festeggiante. Balletto a Cavallo, Florenz 1661 und Claude Menestrier: Des Ballets anciens et modernes, Paris 1682. Ein historisches Verbindungsglied zwischen Feuillet und Justamant bilden die Notationen des französischen Tanzmeisters Landrin von 1768-1785, in denen Kontretänze als eine Reihe von Figuren mit Hilfe von Weglinien und Positionsmarken notiert
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gleich der entsprechenden Artikel aus der Encyclopédie wird der Unterschied dieser beiden Weisen Bewegung zu notieren deutlich. Der Artikel Chorégraphie in der Encyclopédie64 widmet sich größtenteils der Erläuterung der Beauchamp/Feuillet-Notation.65 In dieser Notation repräsentiert das Blatt den Tanzraum, eine Linie gibt den (virtuellen) Weg vor. An diese Weglinie ordnen sich Zeichen für kodifizierte Schritte, Bein- und Armhaltungen, die gemeinsam die Choreografie ergeben: „J’appelle le Chemin la ligne sur laquelle on dance. Le Chemin sert à deux usages, premierement il sert pour écrire les Pas & les Positions, & secondement pour faire observer la Figure des Dances.“66
Der gezeichnete Weg hat in dieser Notation zwei Funktionen: er schreibt die Pas und Positions vor, dient jedoch auch als Analyseansicht, um die Raumfigur zu überprüfen und zu betrachten.67 Diese Form der Notation ist auf die
sind. Der wichtigste Unterschied besteht aber in der allegorischen Lesbarkeit dieser Figuren. Vgl. Ann Hutchinson Guest: Choreo-Graphics. A Comparison of Dance Notation Systems from the Fifteenth Century to the Present, New York u.a. 1989, S. 25-27. Bereits in Thoinot Arbeaus Orchesographie (1588) wird eine Nähe von Militär und Ballett auf der Bewegungsebene behauptet, ars militandi und ars saltandi werden dort nacheinander abgehandelt. 64
Louis-Jacques Gouisser: „Chorégraphie“, in: Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers Bd. 3, Paris 1753 [Reprint Stuttgart 1966], S. 367-373.
65
Diese Notationsform wurde 1700 zum ersten Mal von Raoul-Auger Feuillet in der Chorégraphie ou l’art de décrire la dance, par caractères, figures et signes démonstratifs niedergeschrieben und veröffentlicht. Derra de Moroda hat auf die Mitautorschaft von Pierre Beauchamp hingewiesen, man spricht daher in der Tanzforschung von Beauchamp/Feuillet-Notation. Vgl. Friderica Derra de Moroda: „Die Tanzschrift des 18. Jahrhunderts“, in: Maske und Kothurn 13/1 (1967), S. 21-29.
66
Raoul Auger Feuillet: Chorégraphie ou l’art de décrire la dance par caractères, figures et signes démonstratifs, Paris 1700 [Reprint Hildesheim 1979], S. 4. Ähnlich auch im Artikel der Encyclopédie: „Le chemin est la ligne qu’on suit“, Goussier: „Chorégraphie“, S. 368.
67
„La figure est le chemin que l’on suit en dansant“, Goussier: „Chorégraphie“, S. 367; „Figure, est de suivre un chemin tracé avec art.“, Feuillet: Chorégraphie, S. 2. Gabriele Brandstetter fächert den Figur-Begriff im Tanz als Körper-, Rede-
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Schrittfolgen und Wege einzelner Tänzer*innen ausgerichtet. Eine große Anzahl simultaner Wege kann sie nicht erfassen. Die Tänze, die mit der Beauchamp/Feuillet-Schrift notiert werden, sind meist für zwei Tanzende konzipiert, die spiegelsymmetrisch den Raum beschreiten und deren Wege sich kreuzen, aber nur äußerst selten übereinanderlaufen.68 Die eingeschränkten Möglichkeiten der Beauchamp/Feuillet-Notation werden gegen Ende des 18. Jahrhunderts, ungefähr zur Zeit der Veröffentlichung der Encyclopédie, offensichtlich. Dieses große Wissensprojekt der Aufklärung spiegelt in seinem Artikel Chorégraphie zwar den historischen Stand der Tanznotation wieder, diese fällt zu diesem Zeitpunkt aber bereits hinter die praktischen Entwicklungen der Tanzästhetik, die unter dem Begriff Ballettreform 69 zusammengefasst werden können, zurück. Jean Georges Noverre, neben Gasparo Angiolini wichtigster Vertreter dieser Reform, hat in seinen Lettres sur la Danse, et sur les Ballets von 176070 die veränderten Not-
und Bewegungs-Figur auf, in Gabriele Brandstetter: „Figura: Körper und Szene. Zur Theorie der Darstellung im 18. Jahrhundert“, in: Erika Fischer-Lichte, Jörg Schönert (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 23-38, hier S. 28 f. 68
Wird ein Wegabschnitt ausnahmsweise mehrfach verwendet, wird dieser an anderer Stelle abgebildet und mit einer gestrichelten Linie verbunden, wie in der Encyclopèdie z.B. in Fig. 2 der Tafel II. In Feuillets Chorégraphie von 1700/01 findet sich eine Choreografie für acht Tänzer, dort wird aber nur der generelle chemin ohne die einzelnen Schritte notiert.
69
„[Die Ballettreform] wird retrospektiv auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datiert und fand – abgesehen von verschiedenen antizipierenden Versuchen etwa von John Weaver, Marie Sallé und Franz Anton Christoph von Hilverding – zunächst vor allem in den Schriften einiger weniger Ballettmeister statt und wurde erst später in den Bühnenwerken realisiert.“ Sie „ist nicht als plötzlicher Akt zu verstehen, der von Einzelpersonen ausgegangen ist und einen jähen Umschlag bewirkte, vielmehr ist sie komplexes Zeugnis und gleichzeitig ein Ergebnis der allgemeinen ästhetischen und anthropologischen Paradigmenwechsel.“ Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen, S. 82 u. 86. Zu diesem Paradigmenwechsel vgl. ausführlich Monika Woitas: Im Zeichen des Tanzes. Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830, Herbolzheim 2004; sowie Marian Hannah Winter: The Pre-Romantic Ballet, London 1974.
70
Jean Georges Noverre: Lettres sur la Danse, et sur les Ballets, Lyon 1760. Die deutsche Übersetzung von G. E. Lessing und Joachim Christoph Bode erscheint
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wendigkeiten einer Aufzeichnung von Tanz beschrieben. Noverre kritisiert dabei jedoch nicht Schrift oder Notation generell, sondern bezieht sich explizit auf den „Chorégraphie“-Artikel der Encyclopédie.71 Seine strengen Worte – „la Chorégraphie amortit le génie“,72 sie sei „ombre imparfaite“ und „copie froide & muette“73 des Tanzes – meinen so nicht Tanz oder Notation im Allgemeinen, sondern markieren die Unzulänglichkeit der Chorégraphie ou L’Art de décrire la Dance, par caractères, figures et signes démonstratifs von Feuillet, um Tanz nach dem neuen Verständnis aufzuzeichnen. In seinen Lettres formuliert Noverre einen generellen Perspektivwechsel der Tanzkomposition, der sich folglich auch in der Notation wiederspiegeln müsse. Der bisher vorherrschende barocke vue d’oiseau 74 der Beauchamp/Feuillet-Notation ist für die neue Ästhetik des Tanzes, die die tableauWirkung ins Zentrum rückt, 75 unzureichend. Zur Figur als getanzter Raumweg stellt sich dort eine Idee von Figur als Ausdruckseinheit des ein-
1769 als Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette in Hamburg und Bremen. 71
vgl. Noverre: Lettres sur la Danse, S. 387. Der 3. Bd. der Encyclopédie, „ChaConsécration“, erscheint 1753. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Noverres Lettres waren erst 7 von 17 Bd. veröffentlicht, seit dem Entzug des königlichen Privilegs aufgrund eines kirchenkritischen Artikels im 7. Bd. wurde das Projekt der Encyclopédie im Geheimen weitergeführt. Der nächste, 8. Bd. erscheint 1765. Die Veröffentlichung der Bildbände beginnt 1762. Die Tafeln zu „Chorégraphie“ befinden sich im 3. Bd., der erst 1763, also drei Jahre nach Noverres Lettres sur la Danse et sur les Ballets, erscheint. Novere nimmt aber an, dass auch die Abbildungen den Artikel nicht wirklich verständlicher machen würden: „je crains fort que les planches ne répandent pas un jour plus clair sur les endroits obscurs de cette dissertation dansante“, ebd., S. 387.
72
Ebd., S. 393.
73
Ebd., S. 367 f.
74
Ebd., S. 388.
75
In den Lettres sur la Danse gibt es zahlreiche Belege dafür, als Beispiel sei hier nur eine Stellen aus dem 13. Brief angeführt: „Si les Balletts sont des tableaux vivants; s’ils doivent réunir tous les charmes de la Peinture […]“, Ebd., S. 371. Für weitere Belege vgl. z.B. Gabriele Brandstetter: „‚Die Bilderschrift der Empfindung‘. Jean-Georges Noverres Lettres sur la Danse und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde“, in: Achim Aurnhammer, Klaus Manger, Friedrich Strack (Hg.): Friedrich Schiller und die höfische Welt. Festschrift für Peter Michelsen zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 77-93, hier S. 81.
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zelnen Körpers in einer ‚Bilderschrift der Empfindungen‘, die von vorn – als Bild – betrachtet werden muss.76 Noverre schlägt im dreizehnten Brief seiner Lettres nun en passant ein neues Notationskonzept vor, das die Multiperspektivität der gewandelten Ballettästhetik erfassen kann. Er plädiert für eine Misch-Notation, die sowohl die tableaus wie auch die geometrischen Manöver darstellen könne. Er schlägt vor, „qu’un Académicien Chorégraphe eût été chargé du soin de tracer les chemins & de dessiner les pas; que celui qui étoit en état d’écrire avec le plus netteté eût expliqué tout ce que le plan géometral n’auroit pu présenter distinctement; qu’il eût rendu compte des effets que chaque tableau mouvant auroit produit, & de celui qui résultoit de telle ou telle situation; qu’enfin il eût analysé les pas, leurs enchaînements successifs; qu’il eût parlé des positions du corps, des attitudes, & qu’il n’eût rien omis de ce qui peut expliquer & faire entendre le jeu muet, l’expression pantomime & les sentiments variés de l’ame par les caracteres variés de la physionomie; alors Mr. Boucher d’une main habile eût dessiné tous les grouppes & toutes les situations vraiment intéressantes, & Mr. Cochin d’un burin hardi auroit multiplié les esquisses de Mr. Boucher. […] La Chorégraphie deviendroit alors intéressante.“77
Noverre entwirft, ohne auf Details der Ausführung einzugehen, ein arbeitsteiliges System, das sich gegenseitig ergänzt. Die schriftlichen Erläuterungen ergänzen den ‚geometrischen Plan‘ um die Verknüpfungen der Schritte und Körperhaltungen, physiognomische Skizzen erfassen den „Seelenausdruck“ (Mimik) und Zeichnungen geben Gruppen und ‚interessante Situationen‘ wieder, die den horizontalen Plan um eine Frontalansicht erweitern. Justamants multimediale und hybride Notationspraxis erscheint so als (verspätete) Antwort auf Noverres Forderungen, denn Justamants Schreibweise navigiert zwischen unterschiedlichen Ebenen. Justamant ökonomisiert jedoch Noverres Vorschlag und entwickelt eine Notation aus einer Hand, die mühelos zwischen den Ebenen wechseln kann. Für seine Notation bedient
76
„Das Bild stiftet in der Ordnung der Szene eine Beziehung der drei Dinge [Danse, Ballet, Pantomime] und konfiguriert in einem Raum von Sichtbarkeit das Theatrale der neuen Bühnengattung ballet en action.“ Sabine Huschka: „Szenisches Wissen im ballet en action. Der choreographierte Körper als Ensemble“, in: dies. (Hg.): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen, Bielefeld 2009, S. 35-53, hier S. 36.
77
Noverre: Lettres sur la Danse, S. 382 f.
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er sich dabei nicht der „Chorégraphie“ von Beauchamp/Feuillet als Modell. Seine Notationsform ähnelt stärker den militärischen „Evolutions“, wie sie im Bildteil der Encyclopèdie gezeigt werden. Der entsprechende Artikel78 von Guillaume Le Blond definiert: „[Evolutions] sont, dans l’Art militaire, les différens mouvemens qu’on fait exécuter aux troupes pour les former ou mettre en bataille, pour les faire marcher de différens côtés, les rompre ou partager en plusieurs parties, les réunir ensuite, & enfin pour leur donner la disposition la plus avantageuse pour combattre, suivant les circonstances dans lesquelles elles peuvent se trouver.“79
Die militärische Aufgabe der „Evolutions“ besteht darin, die Form des Bataillons in Länge oder Breite anzupassen, um Hindernisse passieren oder dem Feind entgegentreten zu können. Der Artikel beschreibt verschiedene Beispielmanöver, die dazu bestimmt sind, in mathematisch-geometrischer Exaktheit den optimalen Weg oder Ablauf zu finden, um eine Truppe (oder Gruppe) nach taktischen oder geografischen Notwendigkeiten umzuformen. Grundlegend, das wird in einer „observation préliminaire“ vorausgeschickt, ist dabei die Aufstellung in Reih und Glied („former des rangs & des files“). Aus der Leseanweisung dieser militärischen Notation wird der operative Vor-
78
Die Verweise zwischen Tafel- und Textband funktionieren beim Lemma „Evolutions“ im Gegensatz zur sonst recht chaotischen Anordnung der Tafeln und den oft fehlerhaften Verweisen (renvois) im Text sehr gut. Nicht jedem Artikel der Encyclopédie korrespondiert ein Stichwort im Abbildungsteil, sondern beide Teile sind nach unterschiedlichen Systemen organisiert: „the whole system is so arbitrary as to be virtually useless for research“. Richard N. Schwab: „Introduction“, in: Richard N. Schwab, Walter E. Rex (Hg.): Inventory of Diderot’s Encyclopédie VII. Inventory of the plates (= Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 223), Oxford 1984, S. 7. Die Tafeln zu „Art Militaire. Evolutions“ und „Chorégraphie“ sind unsigniert, Richard N. Schwab nimmt an, dass sie von Louis Jacques Goussier stammen, dem eine zentrale Rolle im visuellen Entwurf der Encyclopédie zukommt.
79
Guillaume Le Blond: „Evolutions“, in: Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné de Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. 6, Paris 1756 [Reprint Stuttgart 1966], S. 169-206, hier S. 169. Le Blond hat verschiedene militärtheoretische Werke mit mathematischem Einschlag veröffentlicht, darunter Élemens de Tactique (1758), in dem er den „Evolutions“-Artikel zu einem Buch erweitert.
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teil der Aufzeichnungsform deutlich, die die einzelnen Personen auf Punkte im Raum abstrahiert: „[Les] soldats sont marqués par de gros points noirs, qui désignent le centre de l’espace qu’ils occupent: comme on suppose qu’ils se touchent, il ne faudroit pas d’intervalle entr’eux; mais alors les figures seroient trop confuses. On a tiré sur chacun de ces points une petite ligne droite, pour exprimer les armes du soldat & le côté où il fait face, qu’on a supposé être le haut de la planche.“80
Die Abstraktion des Bataillons als Anordnung von grafischen Zeichen auf der Fläche (Punkte mit Richtungsindikator) macht die Manöver auf dem Papier plan- und handhabbar. Auf der Fläche des Blatts lassen sich diachrone Zustände der Truppe synchron visualisieren und so mit einem Blick die sukzessive Aufstellung und die Beziehung zwischen den einzelnen Zuständen als Wegstrecke begreifen. Diese Figurenverwandlungen81 sind (choreografische) Geometrieaufgaben, worauf auch die zahlreichen ausformulierten mathematischen Probleme im Text hindeuten. Die beiden choreografischen Notationsbeispiele aus der Encyclopédie gehören zwei unterschiedlichen Ordnungen von Raumbewegungen an. Die eine, der höfische Tanz, verfolgt den Weg eines einzelnen Körpers im Raum und verziert diesen Weg mit Schritten, Sprüngen und Armbewegungen. Die andere, zu der die militärischen Evolutionen gehören, ordnet eine Gruppe von Körpern im Raum an und interessiert sich für ihre Formwandlungen, um sie bewegungs- und raumökonomisch zu organisieren.
80 81
Ebd., S. 171 f. Diesen Begriff prägt Novalis im Allgemeinen Brouillon, in Aufzeichnung Nr. 1051 „Über die Krystall übergänge“, Novalis: Schriften, Bd. 3 „Das philosophische Werk II“, hg. von Richard Samuel, Stuttgart 1983, S. 463; vgl. Gabriele Brandstetter, Sibylle Peters: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002, S. 7-31, hier S. 11. Zum Kristallwachstum als Paradigma der Darstellung bei Novalis vgl. Barbara Thums: „Die ‚Stimmung des Krystallisirens‘: Novalis’ naturphilosophisch-ästhetische Theorie der Darstellung“, in: Claudia Albes, Christiane Frey (Hg.): Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800, Würzburg 2003, S. 71-96. Zu Kristallen als Ornamentvorlage vgl. Fn. 104 dieses Kap.
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Abbildung 28: Tafel zu „Evolutions“ aus der Encyclopédie
Diderot (Hg.): Recueil de Planches der Encyclopédie, Paris 1762.
Henri Justamants kleine Choreografie Evolutions gehört der zweiten Gattung an. Seine Figurenwechsel sind jedoch nicht zweckgerichtet wie die militärischen Übungen, sondern purer Überschuss und ästhetischer Exzess, abs-
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trakter Beweis der Möglichkeit, dass die Form gewechselt werden kann.82 Diese Gattung von Choreografien, wie sie hier von Justamants Evolutions exemplifiziert wird, verwendet einen anderen Figur-Begriff als die Beauchamp/Feuillet-Notation und die damit verbundene Tanzästhetik. Figur meint hier nicht den Weg einzelner Tänzer*innen, sondern ist virtueller Moment einer sich wandelnden Gestalt (ein ‚plastisches Gebilde‘, ließe sich mit Quintilian sagen): eine momentane Gruppierung mehrerer Tänzer*innen, die zwar auf einzelnen Bodenwegen basiert, in den endgültigen Formwandlungen aber verschwindet. Dieser Figur-Begriff entspricht der „allgemeinen Definition von ‚Figur‘ als Zeit- und Raum-Organisations-Formel.“83 Diese KonFigurationen sind keine stabilen Momente oder ein in den Raum geschriebener Zug, sondern momentane Eindrücke der Wahrnehmung, die bildhaft aufblitzen, aber in ständigem Wandel begriffen sind. Die Bewegung rastet in ihnen nicht (ein), sondern geht durch sie hindurch, ein virtuelles Ideal, das (buchstäblich) durchschritten wird. Ihren materialen Niederschlag finden diese Figuren, die auf der Bühne faktisch nicht greifbar sind, in der Notation. Dort – zumindest bei Justamant – meint der Begriff Figur eine operationale Einheit der Choreografie, die den Verlauf des Tanzes strukturiert. Die Figuren, die die Tänzer*innen zu durchlaufen haben, werden in der Randspalte nummeriert84 und so zu einer handbaren Einheit im choreografischen Entwurfsprozess, wie auch in der Analyse und Betrachtung. Dieser Figur-Begriff wurzelt im Barocktanz. Mark Franko hat dafür einen Figur-Begriff rekonstruiert, der sowohl tableau wie auch choreografischen Weg meint und „both to the static and mobile aspects of pattern making in choreography“85 verweist. In Dance as Text betrachtet Franko Barocktanz unter der Metapher der Schrift, wobei die Körper der barocken Tänzer*innen nicht nur „physical metaphors of written characters or symbolic designs“86,
82
Die gängige Zahl von Tänzerinnen im corps de ballet (24 oder 32) ermöglicht verhältnismäßig viele verschiedene Divisionen.
83 84
Gabriele Brandstetter: „Figura. Körper und Szene“, S. 26. In den „Conducteurs“, die vielen der Notationen von Justamant vorangestellt sind, heißt es dazu „la marge de droit indique le N° de la figure et le nombre de mesure du pas“. Neben der Nummer der Figur wird dort teilweise auch ihre zeitliche Dauer in Takten der Musik angezeigt.
85
Franko: Dance as Text, S. 15.
86
Ebd.
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sondern auf Lesbarkeit ausgerichtet sind. Die Figuren des Barocktanzes beinhalten kodierte Nachrichten oder allegorische Botschaften, wie Franko an verschiedenen Beispielen aufzeigt: „The actions performed before the eyes of an audience were those of constructing and dissolving hieroglyphs.“87 Justamants Evolutions fehlt dagegen der Schlüssel, die ‚Signatur‘, wie sie im Barock der König als idealer Leser darstellt.88 Die Figurenverwandlungen der Evolutions – von einer Aufstellung in Reih und Glied über kleine Gruppen zu einem Kreuz, das sich in ein Kleeblatt ein- und zu einem Kreis entfaltet, um schließlich wieder in Reihen zu enden – haben kein Ziel, keinen Nutzen und ihre Einzelglieder bedeuten nichts, sind keine Buchstaben oder lesbare Zeichen. Der Wechsel der Figuren gleicht einem geometrischen Rechenexempel, das durch projektive Transformation geometrische Grundfiguren spiegelt, verschiebt, variiert, verzerrt, umformt und einfaltet. 89 Die Geometrie kommt hier zum Einsatz, um die Figurenverwandlungen möglichst ökonomisch zu gestalten. Sie hilft, die Wechsel ohne Verluste auszuführen; wie eine Division, die ohne Rest aufgeht. Die Geometrie ist aber auch Vorbild einer ökonomischen Darstellungsweise, wenn Justamant aus dem Militär Aufzeichnungsformen entlehnt, in denen das Individuum zum Punkt und seine Bewegungsausrichtung auf einen Strich abstrahiert wird. Es wird somit auf dem Papier und in der Vorstellung des Choreografen diese Form von Gruppenbewegung rechnerisch handhabbar, in der eine Gruppe oder Truppe (ein corps) eine geometrischen Figur ist, dessen Elemente immer wieder reorganisiert, neu komponiert und verschoben werden.
87
Ebd., S. 30. Vgl. zur Lesbarkeit der Figuren bes. Kap. 1 „Writing Dancing, 1573“, S. 15-31. Franko bezieht sich hier ebenfalls auf Domenico da Piacenzas Begriff fantasmata, um den flüchtigen Aspekt der Figuren zu begreifen. „Fantasmata contains a physical description of pattern that is at once there and not there, by turns crystallizing and fading.“ (S. 29) Justamants Figuren sind ebenfalls flüchtig, in ihrer Flüchtigkeit erscheint dennoch keine Bedeutung.
88
Einen weiteren, fundamentalen Unterschied zum Barocktanz bildet das Körperkonzept, das sich auch in den Kostümen wiederspiegelt. Das barocke Tanzkostüm ist viel stärker ornamentiert. Weite ausladende Röcke, steife Jacken, Korsetts und aufwendiger Kopfschmuck schränken die Bewegungsfreiheit ein. Vom 17. zum 19. Jahrhundert verschiebt sich das Ornament im Tanz vom Kostüm auf den Körper, der in der Arabeske selbst ornamental wird.
89
Die Affinität der (militärischen) Manöver und Geometrie wird in Le Blonds Theorie offensichtlich, vgl. Fn. 79 dieses Kap.
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Die Figurenverwandlungen von Justamants Evolutions sind redundant und funktionieren anagrammatisch, sie stellen die Umstellungen als Spiel der Rekombination und Refiguration aus, das die Tanztruppe zu einem geometrischen Körper macht, dessen Elemente in freier Verbindung zueinander stehen und sinn- und zweckfreie Figuren im Raum bilden. Sie exponiert die Funktion der Figurenverwandlung. 90 Die Evolutions sind somit veritable Manöver im buchstäblichen Sinne (das frz. manœuvre stammt vom vulgärlateinischen manuoperare: mit der Hand bewerkstelligen), denn sie erlauben die Handhabbarkeit der Figuren auf dem Papier. Als Justamant gegen Ende des 19. Jahrhunderts diese Choreografie notiert, sind Manöver in der Kriegstheorie jedoch bereits veraltet. Der „Manœuvrist“ des 18. Jahrhunderts hat einem geschmeidigen, wendigen Soldaten Platz gemacht, der beinahe künstlerisch agiert und nicht exerziert, sondern tanzt.91 Carl von Clausewitz ordnet bereits in den 1820er Jahren die Geometrie der Bewegungen der Strategie unter und verabschiedet die Vorstellung, dass die Truppen-Bewegungen sich selbst genügen und ein eigenes Prinzip
90
Wenn man Mark Frankos Ableitung des barocken Figurbegriffs aus Quintilians Rhetorik mit Foucaults ternärem Zeichenbegriff der Renaissance auf den hier untersuchten Gegenstand übertrüge, würde Justamants Figurbegriff der Diskursordnung des 19. Jahrhunderts entsprechen, die laut Foucault die (grammatische) Funktion des Zeichens in den Vordergrund stellt. „Wenn das Wort in einer Rede auftreten kann und etwas bedeutet, dann nicht durch die Kraft einer unmittelbaren Diskursivität, die ihm schon von der Entstehung her eigen wäre, sondern weil in seiner Form selbst, in den bildenden Klängen, in den Veränderungen, denen es gemäß der grammatischen Funktion, die es innehat, unterliegt, in den Modifikationen schließlich, denen des durch die Zeit hindurch sich unterziehen muß, es einer bestimmten Zahl von strengen Gesetzen gehorcht, die auf ähnliche Weise alle anderen Elemente derselben Sprache regieren.“ Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1971, S. 343 f.
91
Heinrich von Bülow schreibt 1805: „ Ich halte Tanz- und Fechtmeister für nützlicher, als Exercier-Corporale.“ Vgl. zu dieser Veränderung in der Militärausbildung Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987, S. 345 ff., hier S. 354.
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der Wirksamkeit enthalten. 92 Wirksamkeit haben Figurenverwandlungen, wie das Damen-Manöver von Justamant, nur noch auf dem Theater. Sie wirken dort als Divertissement, für den ‚visual pleasure‘ des (implizit männlichen) Zuschauers. Siegfried Kracauer zieht in seinem Aufsatz Das Ornament der Masse von 1927 einen ähnlichen Vergleich zwischen tänzerischen Körperformationen und Militär, deren Beschreibung sich auf Justamants Manöver übertragen lässt. Kracauer beschreibt amerikanische „Girleinheiten“, linienhafte „Mädchenkomplexe, die mathematische Demonstrationen sind“, dessen Funktionslosigkeit den Damen-Manövern Justamants ähneln:93 „Das Ornament ist sich Selbstzweck. Auch das frühere Ballett ergab Ornamente, die kaleidoskopartig sich regten. […] So auch haben die lebendigen Sternbilder in den Stadions nicht die Bedeutung militärischer Evolutionen. Wie regelmäßig immer diese ausfielen, ihre Regelmäßigkeit ward als Mittel zum Zweck erachtet […]. Die Sternbilder meinen nichts außer sich selbst […]“94
Auch Justamants Evolutions sind sich Selbstzweck, sie verweisen ausschließlich auf das Funktionieren des Systems selbst. Das ist die paradoxe operationale Dimension des Ornaments, 95 dessen Funktion nur der Beweis der
92
Clausewitz mißt dem geometrischen Element in der Strategie keine große Rolle zu. Sie sei nur in der Taktik, der Bewegungslehre der Truppen, von Bedeutung, weil im Gefecht „Zeit und Raum schnell auf ihr absolut Kleinstes“ zurückkommen und „allen dahinzielenden Kombinationen“ große Wirksamkeit zukommt. „Von allem dem hat die Strategie wegen der großen Räume und Zeiten nur einen schwachen Reflex.“ Dort kommt es „mehr auf die Anzahl und den Umfang siegreicher Gefechte [an] als auf die Form der großen Lineamente, in welcher sie zusammenhängen.“ Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes werk des Generals Carl von Clausewitz, eingeleitet von Ernst Engelberg und Otto Korfes, Berlin (Ost) 1957 [Buch 3, Kap. 15], S. 205 f.
93
Die großen ornamentalen Girlarrangements in Busby Berkeley Filmen wurden ebenalls als militärischer Plan entworfen, vgl. das Foto von einer Probe für ein Wasserballett in Kenneth Anger: Hollywood Babylon II, München 1985, S. 84.
94
Siegfried Kracauer: „Das Ornament der Masse“, in: ders.: Aufsätze 1927-1931. Schriften Bd. 5.2, hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt/Main 1990, S. 57-67, hier S. 58.
95
Bei den Evolutions kann man genau genommen nicht von „Ornamenten der Masse“ sprechen, da das corps de ballet zählbar bleibt. Daher ist es keine Masse, sondern eine Gruppe oder Truppe.
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Funktion ist, eine Evidenz der Möglichkeit der Re-Organisation. Über die Analogie zur Geometrie wird jedoch auch deutlich, was diese Abstraktion für die einzelnen Tänzer*innen bedeutet: sie werden auf ein Element einer Rechenoperation reduziert, auf einen Punkt ohne Ausdehnung, dessen Bewegungsbahnen als Linie verzeichnet sind. In der Abstraktion dieser Figuren, der Grammatikalisierung ihrer Elemente, der formalen Symmetriebildung, den spielerischen Verwandlungen und dem „visual pleasure“, den sie bieten, gründet sich ihr ornamentaler Charakter, der in der Notation sichtbar wird.96 Diese Figuren sind mehrdimensional, sie sind sowohl Ornament der (räumlichen) Ausdehnung wie auch Ornament der Dauer, um der Klassifikation von Paul Valéry zu folgen, nach dessen Verständnis alle Tanzbewegungen nur sich selbst oder der „Schaffung eines Zustandes“ dienen (die streng ökonomischen Figurenverwandlungen sind in ihrer Zwecklosigkeit reine Verschwendung): „Des mêmes membres composant, décomposant et recomposant leurs figures, ou de mouvements se répondant à intervalles égaux ou harmoniques, se forme un ornement de la durée, comme de la répétition de motifs dans l’espace, ou bien de leurs symétries, se forme l’ornement de l’étendue. Ces deux modes, parfois, se changent l’un dans l’autre.“97
Die Bewegungsklasse der choreografischen Figurenverwandlungen ist Ornament der Dauer; sie strukturiert einen zeitlichen Verlauf durch einen rhythmischen Wechsel von Figuren und verziert die Dauer als Bewegungsfluss, in dem sie eine Reihe von Bildern durchschreitet.98 Die Figurenverwandlungen sind aber auch Ornament der (räumlichen) Ausdehnung, wenn
96
Ornament steht hier nicht im Gegensatz zur Schrift. In der Notation – als eine spezifische Form des Aufschreibens – wird eine ornamentale Bewegungsklasse operationalisierbar, d.h. sowohl choreografisch handhabbar wie auch analytisch greifbar. Vgl. auch die Abschnitte zur Notation in Kap. 1.
97
Paul Valéry: „Degas Danse Dessin“, in: ders: Œuvres, Bd. 2, hg. von Jean Hytier,
98
Valérys „Ornament der Dauer“ ist eine ‚organisierte Dauer‘ oder auch ‚Kristall-
Paris 1960, S. 1163-1240, hier S. 1172. Zeit‘, wie Karin Krauthausen in Analogie zu Valérys Rhythmus-Begriff formuliert. Karin Krauthausen: „Kunst als unendlicher Schaffensprozess und Ornament der Dauer. Aspekte der Zeitthematik bei Paul Valéry“, in: Karin Gludovatz, Martin Peschken (Hg.): Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, S. 75-90.
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sie die Fläche des Bühnenbodens mit flüchtigen geometrischen Figuren verzieren. Valerys theoretische Unterscheidung der Ornamentdimensionen im Tanz lässt sich dabei erweitern und das Ornament der (räumlichen) Ausdehnung analytisch in Ornament der Fläche und ornamentales Tableau teilen; mit Gabriele Brandstetter könnte man hier von einer „doppelten Betrachtungsweise von Figur als Plastik und Figur als Bewegungsgestalt“99 sprechen.100 Wie das Ornament der Dauer und des Raums in einen wechselseitigen Austausch eingehen, sind auch die beiden Dimensionen des Raums untrennbar. In Justamants Damen-Manöver dominieren in der Wahrnehmung jedoch die Flächenfiguren. Ornamentmuster Die Divertissements, die Justamant in seinen Notationen aufzeichnet, erzählen keine Geschichte sondern erhalten ihre Einheit durch ein Motiv oder ein bestimmtes Requisit.101 Dieses wird meist im Titel angekündigt: durch die „Pas de fleurs“ in Le Royaume des Fleurs und Le Sept Merveilles ziehen sich Unmengen von Blumengirlanden, in den „Groupes des Palmes et des Fleurs“ in La Fille du Ciel werden diese von Palmenfächern ergänzt, Schals strukturieren den „Pas de Echarpes“ in Le Dieu et la Bayadere und die „Groupes des Algues et des Coraux“ aus Lore-Ley ou La Fée du Rhin sind von Algen und Korallen bestimmt. In weiteren Tänzen kommen Regenschirme, Bänder, Paddel, Fächer, Schilf, Netze und Weinreben zum Einsatz. In der Feerie verschiebt sich, wie in der Einleitung dieses Kapitels ausgeführt, das Verhältnis von (narrativer) Handlung und (visuellem) Spektakel. Das einzelne tableau bildet dabei eine Mikrostruktur im Stück, dessen
99
Brandstetter: „Figura. Körper und Szene“, S. 27.
100 Eine ähnliche Differenzierung nimmt Franko für den Barocktanz vor: „The choreography of geometrical dance employs stable positioning, patterned movement, and patternless flux. It is pattern that alters the perception of the performance space, transforming it into a flat or two-dimensional environment. In contrast, the movement out of pattern allows the space to reassert its depth and volume.“ Franko: Dance as Text, S. 25. 101 Die opulent ausgestatteten Divertissements sind charakteristisch für die Feerie und tauchen besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehäuft auf. Justamants Notationen, die sowohl Ballettwerke wie auch Revuen und Tanzeinlagen umfassen, stammen aus dieser Zeit.
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Unabhängigkeit von der Handlung ab ca. 1830 zunehmend wächst: „L’émergence du tableau comme unité de découpage bouleverse totalement le rapport entre spectacle et discours.“102 Der Tanz markiert in der Feerie, wie das Divertissement im Ballett, eine Unterbrechung, die als optische Attraktion (bzw. Dispersion) die Aufmerksamkeit zerstreut. Roxane Martin hat die dramaturgische Funktion des Tanzes und des Balletts in der Feerie als Unterbrechung, szenische Spiegelung, Distanzierung oder Zerstörung beschrieben: „[Le] ballet marque, de la même manière que lorsqu’il est intégré à l’intérieur d’une scène, une rupture dans la progression de l’action. Il adopte aussi le statut de ‚clou scénique‘ puisqu’il est conçu de façon à fixer l’attention du public en s’édifiant comme le point le plus attendu de la mise en scène. De fait, si l’on s’attache à définir le rapport que la danse, dans la féerie, entretient avec la fiction, c’est-à-dire avec l’histoire ‚racontée‘ par le texte, on s’aperçoit qu’elle ne revendique aucune autre fonction que celle de divertir les spectateurs – et, a fortiori, les protagonistes puisqu’ils assistent parfois eux-mêmes […] à sa représentation. Il existe donc bien, dans la dramaturgie féerique, deux modes de fictionnalisation: le premier relève de l’histoire racontée par le texte, le deuxième procède de la scène et peut à tout moment contredire, déconstruire ou distancier la fiction textuelle.“103
Ein Ansatzpunkt der Zerstreuung ist das Ornament aus Requisiten. Ihr exorbitanter Einsatz in Divertissements erzeugt den Eindruck einer ornamental belebten Umwelt und markiert den Bruch mit der Wirklichkeit. In den geometrischen und pseudo-organischen Figuren dieser tableaus übernehmen die Requisiten aber auch eine choreografische Funktion und dienen zur Verbindung, Betonung, Extension oder Elevation von Körpern, sie verzieren Zwischenräume und wirken, die Körper verlängernd, in den Raum hinaus. Die Requisiten explizieren (und erweitern) so das implizite Ornament der choreografischen Gruppen, in dem sie deren grafische Linearität materialisieren. Schlingbare Materialien wie Bänder, Girlanden, Palmwedel oder Schals funktionieren dabei arabesk: sie stiften Zusammenhang und geben Ordnung. Eine Ordnung wiederum, die in der zweidimensionalen Abstraktion auf dem Papier in der Notation besonders stark hervortritt.
102 Martin: La Féerie Romantique sur les scènes parisiennes, S. 261. 103 Ebd., S. 336.
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Abbildung 29: Fig. 3 der „Groupes des Algues et des Coraux“
Justamant: Lore-Ley ou La Fée du Rhin [Lyon 1856], Schloss Wahn.
Abbildung 30: Fig. 4 der „Groupes des Algues et des Coraux“
Justamant: Lore-Ley ou La Fée du Rhin [Lyon 1856], Schloss Wahn.
Besonders auffällig ist die tableau-Wirkung in den Apotheosen der Divertissements. Dort wird das Personal hierarchisch angeordnet: die Protagonistin im Zentrum, weitere Solistinnen vereinzelt oder in kleinen Gruppen verteilt und gerahmt vom corps de ballet, die mit Requisiten zu einem ornamentalen Körper verbunden sind. Die Requisiten entwickeln aber auch innerhalb einer Choreografie eigenständige skulpturale Formen. So umschließt in den „Groupes des Algues et des Coraux“ aus Lore-Ley ou La Fée du Rhin eine kleine Gruppe von Tänzerinnen kreisförmig die Solistin und bildet aus ihren
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Algenwedeln ein Baldachin, das sich – wie eine Blüte – öffnet, um die Solistin in arabesker Pose zu präsentieren. In diesem Bild kreuzen sich zwei organische Ornamentvorlagen: Algen und Korallen schaffen als Requisiten die räumliche Struktur, die Form und (ornamentale) Bewegung imitiert jedoch Blumen.104 Der eigenständige Status dieser Divertissements, ihre Funktion für die Choreografie wird in einem weiteren spezifisch dem 19. Jahrhundert zugehörigen Korpus von Materialien, den sogenannten Musterbüchern,105 deutlich. Unter dem Begriff „Musterbuch“ lassen sich eine lose und unzusammenhängende Gruppe von Skizzensammlungen und Zeichnungen verschiedener Autoren oder unbekannter Herkunft zusammenfassen, die ein „Inventar tanztheatraler Schaueffekte“106 erstellen. Zu diesem Korpus gehören die Skizzen von Franz Opfermann aus den Derra de Moroda Dance Archives, Alfons Klass’ Alben aus dem Österreichischen Theatermuseum,107 die Zeichnungen von Julius Reisinger und Roma-
104 Vgl. auch oben, Kap. 4. Die Entdeckung formaler Ähnlichkeiten in Botanik, Kristallografie und vergleichender Anatomie hat im 19. Jahrhundert einen nachweisbaren Einfluss auf die Entwicklung abstrakter Ornamentalität: „The actual scientific discovery of laws of form in nature were a significant aspect of the development of abstract ornament. When the sciences of crystallography, botany and comparative anatomy discovered the principles of the deep structure of natural objects, these confirmed the Neaplatonists‘ belief in the ‚power of similitude‘.“ Barbara Whitney Keyser: „Ornament as Idea: Indirect Imitation of Nature in the Design Reform Movement“, in: Journal of Design History 11/1 (1998), S. 127-144S. 132 f. 105 Gunhild Oberzaucher-Schüller hat diesen Begriff vorgeschlagen, in: OberzaucherSchüller: „Die Gruppe als begleitendes Instrumentarium“, S. 286. 106 Claudia Jeschke: „‚Tanz-Gruppen‘ – das Musterbuch von Franz Opfermann“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 1 „TaglioniMaterialien der Derra de Moroda Dance-Archives,“ München 2007, S. 67-75, hier S. 75. 107 Bei den Musterbüchern von Alfons Klass handelt es sich um zwei gebundene Alben im Querformat (24x15 cm). Ein Druckstempel zeichnet Klass als „Wiener Hofopern-Solotänzer und Hrzgl. Sachsen-Coburg-Gothascher Ballettmeister und Tanzlehrer“ aus. Das kleinere Album „Gruppen zu XVI. Personen“ enthält Zeichnungen von (meist) 16 Tänzer*innen. Das umfangreichere Album (ca. 445 Seiten) trägt den Titel „Cürkus Maskerad. Album von grosen Tanz. Schaal. und En-
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no Constantin aus der George Chaffee Collection, die von der Harvard Theatre Collection aufbewahrt werden,108 das Berliner Skizzenbuch von Freising in der Lipperheideschen Kostümbibliothek,109 die Skizzen zum Adagio delle sciarpe und Adagio dei fiori von Giuseppe Cechetti,110 sowie einzelne Blätter aus der grafischen Sammlung in Mailand.111 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den Band TanzGruppen von Franz Opfermann,112 den Friderica Derra de Moroda 1965 für ihr Archiv erwarb und der zu den umfangreichsten dieses Korpus zählt. Auf
semble Gruppen. Aufzügen und Ensemble Tänzen“, der in einer ornamentalen Kartusche auf den Band aufgeklebt ist. Das Album enthält Handzeichnungen, z.T. mit Bleistift, z.T. mit Federtusche, meist nachträglich koloriert. Die Abbildungen wurden sowohl unmittelbar in das Album eingezeichnet, wie auch eingeklebt. Das Album enthält eine große Anzahl von Apotheosen, sowie ‚Schaal‘- und ‚Guirlanden‘-Gruppen für Theater und Zirkus. Viele Seiten sind ungeschickt gezeichnet und wirken wie durchgepaust. Einzelnen Seiten sind exakte Kopien aus dem Opfermann-Buch, andere ähneln im Zeichenstil den Zeichnungen von Julius Reisinger aus der George Chaffee Collection. Am Ende seines Buchs klebt Klass zwei Zeichnungen von rituellen Kreistänzen („Anrufung des großen Geistes vor dem Kampfe“ und „Allegorischer Tanz bei der Heimkehr vom Kriege“), wie um eine ethnologische Fundierung der ornamentalen Gruppen zu geben. 108 Die Skizzen sind beschrieben in Marian Hannah Winter: Theatre of Marvels, (= Dance Index, 7/1-2, 1948), S. 14 u. 36 f., vgl. auch die Abbildung in Francesca Falcone: „A New Discovery in the Field of Choreographic Notation. The Undated Albums Adagio delle Sciarpe (Scarves Adagio) and Adagio dei Fiori (Flowers Adagio) by an Unknown Artist“, in: Tanz und Archiv: Forschungsreisen 3 (2010), S. 100-115, hier S. 107. 109 Vgl. die Beschreibung in Fn. 60 dieses Kap. 110 Sie befinden sich im privaten Besitz von Francesca Falcone und Madison und Debra Sowell. Vgl. Falcone: „A New Discovery in the Field of Choreographic Notation“; sowie weitere Beispiele in Madison U. Sowell, Debra H. Sowell, Francesca Falcone, Patrizia Veroli (Hg.): Il Balletto Romantico. Tesori della Collezione Sowell, Palermo 2007, S. 172 f. 111 Civica Raccolta delle Stampe, Achille Bertarelli, Castello Sforzesco, Milan. Beispiele abgedruckt in Falcone: „A New Discovery in the Field of Choreographic Notation“, S. 109. 112 Zur Biografie Opfermanns, wie auch zur Diskussion ob das Buch von Franz Opfermann senior oder Franz Opfermann junior stammt, siehe Jeschke: „‚TanzGruppen‘ – das Musterbuch von Franz Opfermann“, S. 68 ff.
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fast 150 Seiten enthält dieser querformatige Band zahlreiche Skizzen, direkt ins Buch gezeichnet oder auf Blättern eingeklebt. Es zeigt Aufstellungen von Tänzerinnen 113 in meist wadenlangen Ballettkleidern, mit Requisiten wie Schals, Tüchern, Blumenvasen, Blumenpokalen und Blumenkränzen, Flaggen, Stäben, Girlanden und Ringen. Die Zeichnungen „behandeln“, so Claudia Jeschke, „insgesamt die dekorative, ornamentale Gestaltung des Bühnenraums durch die (bekleideten) Körper von Tänzerinnen“.114 In Opfermanns Sammlung lassen sich verschiedene Sektionen ausmachen, die sich in der Zahl der Tänzerinnen und Art der Requisiten ähneln und eine Abfolge von Positionen suggerieren. Die Requisiten nehmen bisweilen im Aufbau der Figuren eine so wichtige Rolle ein, dass in der Darstellung die sie haltenden Tänzerinnen in den Hintergrund treten oder ausgelassen werden. Am Ende des Musterbuchs verzichtet Opfermann vollständig auf die menschliche Figur und zeichnet abstrakte Verschlingungen und Laubkränze, deren Zusammenhang mit Tanz nicht erkennbar ist und die eher an Gartenarchitektur oder Grußkartenverzierung erinnern. Sie verweisen abschließend auf den ornamentalen Charakter des ganzen Buches. Anders als die meisten Notationen von Justamant funktionieren Opfermanns Tanz-Gruppen ohne konkreten Werkbezug. Opfermanns Musterbuch beschränkt sich auf die Darstellung des Ornaments der (räumlichen) Ausdehnung.115 Die Gesamtanordnung der Gruppe und die Ausgestaltung des einzelnen Körperumraums greifen dort ineinander, wie Claudia Jeschke bemerkt hat: „Die Verknüpfung von horizontalen Ebenen und Körperumraum ist offensichtlich, ebenso die Spannung, die Opfermann zwischen der schematischen Exploration von Gruppen – einem strukturellen Aspekt – und der Durchgestaltung von Körperoberflächen – einem dekorativen Ansatz – aufbaut.“116
113 Ob es sich bei den wenigen männlichen Tänzern teilweise um Tänzerinnen en travestie handelt, ist bei Opfermanns Zeichenstil nicht eindeutig auszumachen. Vgl. ebd., S. 70. 114 Ebd. 115 Darin unterscheidet sich Opfermanns Musterbuch von den Alben von Klass und dem Berliner Manuskript von Freising, die beide auch Wege notieren. 116 Jeschke: „‚Tanz-Gruppen‘ – das Musterbuch von Franz Opfermann“, S. 72.
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Abbildung 31: Skizze für eine Gruppe mit Girlanden
Franz Opfermann: Tanz-Gruppen, Derra de Moroda Dance Archives.
Bei der Gestaltung der Körperoberfläche spielen die Requisiten eine zentrale Rolle, da sie nicht nur die Linien des Körpers betonen, sondern diese auch in den Raum verlängern. So können z.B. Schals, Bänder und Girlanden die impliziten Linien weiterführen, die die Körperpose Arabeske ausmachen.117 Requisiten wie Schleier, Schals oder Blumengirlanden machen einerseits „Linien der Bewegung innerhalb des Körper-Umraums sichtbar“118, andererseits vervielfachen sie wie zusätzliche Glieder die vom Körper ausgehenden Fluchtlinien in den Raum. An Details der Zeichnung in Opfermanns Tanz-Gruppen lässt sich diese Linearisierung genauer aufzeigen. Zu Beginn dieses Buches häufen sich Seiten, auf denen locker angeordnet verschiedene, teils unfertige Gruppen versammelt sind. Diese Seiten haben gegenüber den farbig ausgeführten und serialisierten Zeichnungen, die den Band dominieren, einen skizzenhaften Charakter; davon zeugen auch die schriftlichen Bemerkungen, die von Opfermann flüchtig an den Rand geschrieben wurden.
117 Vgl. S. 131 ff. dieser Arbeit (Abschnitt „Eingebildete Linien“). 118 Claudia Jeschke: „Schals und Schleier als choreographische Verfahren im Tanztheater des 19. Jahrhunderts“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller, Daniel Brandenburg, Monika Woitas (Hg.): Prima la Danza! Festschrift für Sibylle Dahms, Würzburg 2004, S. 259-273, hier S. 263.
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Auf einem Blatt aus einer Serie von Gruppierungen mit Flaggen und Girlanden werden drei kleine Gruppen variiert (Abb. 31). Vor der Ausführung mit Tusche wurden diese Figuren mit Bleistift vorgezeichnet. In der Skizze in der rechten unteren Ecke des Blatts versucht Opfermann eine mögliche Erweiterung der Gruppe und stellt zu den sechs Figuren eine weitere Tänzerin als Verbindungsglied. Opfermann probiert dabei mit Bleistift verschiedene Möglichkeiten der Anbindung, man erkennt eine ausradierte Armhaltung en couronne sowie eine Weiterführung der Girlande, die ihren Bogen in einer S-Linie weiterführt. Dieses grafische Detail, diese angedeutete Linie, verweist dabei auf das Konstruktionsprinzip des Anschlusses, wenn nicht sogar der ganzen Gruppe. Primär ist hier nicht die menschliche Figur, sondern die Linie, die sich zwischen den Figuren erstreckt und die von den Girlanden markiert wird (zwei der drei Versionen abstrahieren die Girlande in der Skizze folglich auf einen einzelnen Strich). Ähnlich geht Opfermann auf einer anderen Seite vor, auf der er verschiedene Möglichkeiten probiert, Frauen auf Podesten mit Blumenvasen und Girlanden zu verbinden (Abb. 32). Zwei der vier Skizzen sind nummeriert und mit einem Pfeil als Abfolge markiert. Eine etwas rätselhafte Bemerkung unter der Nr. 2 verdeutlicht dabei erneut das Liniendenken dieses Ornamentaufbaus: „Die eine Hälfte: / Das Ganze ist in 2 Linien, / welche aus entweder gerade / oder in schiffen Linien gemacht werden kann“; wobei neben „gerade“ und „schiffen Linien“ von Opfermann jeweils zwei senkrechte und kursive Linien gezeichnet wurden. Es ist nicht klar, worauf diese Linien hinweisen. Deutlich wird hier jedoch, dass auch im Aufbau dieser Gruppe die Linie das grundlegende Organisationskriterium ist; ein grafisches Organisationskriterium, das sich imaginär als fantastische Fortführung der Körperlinie fassen lässt, aber nur in der Skizze auf dem Papier sichtbar wird. Tänzerinnen-Körper und Requisiten werden ohne Differenz von einer organisierenden Linie durchzogen, deren unterschiedliche Körperlichkeiten und Materialitäten von der grafischen Abstraktion in einem einzigen Strich nivelliert werden. Der Körper wird in den hier vorgestellten ornamentalen tableaus erneut zu einem austauschbaren Element, zu einem Muster in einer größeren Organisation, das von der Linie bestimmt wird: die verbindenden Requisiten sind im Aufbau ebenso wichtig wie die Tänzerinnen. Diese lineare Konnektivität lässt sich auf den ‚unverzierten‘ Körper zurückprojizieren, wie oben in der Analyse der Gruppen aus Giselle bereits angedeutet wurde.
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Abbildung 32: Verschiedene Verbindungen mit Girlanden
Franz Opfermann: Tanz-Gruppen, Derra de Moroda Dance Archives.
Die ornamentale ‚Rapportfähigkeit‘ des Körpers der Tänzerin, die auf dieser grafischen Abstraktion beruht, kommt so auch in Gruppen ohne Requisiten zu Tage. In einer Serie von schwarzweiß gezeichneten Gruppierungen von 16 Tänzerinnen (plus einer Solistin in der Mitte) wird die Rapportfähigkeit mustergültig in einer Aufreihung von Arabesken sichtbar (Abb. 33). Zu beiden Seiten der Solistin erstreckt sich eine Reihe von sieben Tänzerinnen (mit einer achten als Abschluss), die so identisch gezeichnet sind, als ob eine Schablone dafür verwendet worden wäre. Die Serialisierung und Idealisierung des Körpers kann nur auf dem Papier von individuellen Eigenheiten völlig absehen. Nur in der grafischen Skizze erfüllt sich das Ideal der vollständigen Identität jedes einzelnen Elements dieses Musters. Claudia Jeschke hat die Konsequenzen dieser ästhetischen Struktur in Bezug auf die Tanz-Gruppen von Franz Opfermann zusammengefasst: „Die Gleichschaltung von Körpern in Gruppen einerseits und die Extension der Physikalität durch Requisiten andererseits erscheint als neuer, bereits im Entwurf synthetischer Blick auf den Tanz. Die Tanzenden figurieren als Teile von architektonischen Ornamenten, sie selbst werden so zu skulpturalen Gebilden, die ein reges Abstraktionspotential für die Entwicklung des Performativen zwischen Schau und Verkörperung in sich bergen.“119
119 Jeschke, „‚Tanz-Gruppen‘ – das Musterbuch von Franz Opfermann“, S. 75.
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Abbildung 33: Arabeske Tänzerinnen-Reihe
Franz Opfermann: Tanz-Gruppen, Derra de Moroda Dance Archives.
Die Musterbücher, wie die Tanz-Gruppen von Opfermann, funktionieren jedoch nicht nur als Symptom einer autonomen ästhetischen Entwicklung, sondern sind als Medium in diese Entwicklung eingebunden. Sie prägen bereits im Entwurf einen ‚neuen Blick‘ auf den Tanz (und darin eine Zurichtung des Körpers), die ästhetische Entwicklung lässt sich nicht von der medialen Verfasstheit ihrer Träger trennen. Mit dem Begriff „Musterbuch“ lässt sich die Funktion von Opfermanns Tanz-Gruppen und den anderen, verwandten Skizzensammlungen gut erfassen. Anders als die Notationen von Justamant oder Systementwürfe, wie der von Arthur Saint-Léon, sind Opfermanns Zeichnungen weder Vorstudien zu bestimmten Werken, noch Verallgemeinerung einer tänzerischen Praxis. Sie ähneln in ihrer Funktion tatsächlich stärker ‚echten‘ Musterbüchern. Seit dem 16. Jahrhundert bezeichnet man mit diesem Namen Sammlungen von „Mustern“ und kunstgewerblichen Probestücken, sowie Ornamentvorlagenwerke für bildende Künstler und Kunsthandwerker wie Architekten, Schreiner, Maler und Weber.120 Das Wort ‚Muster‘ stammt von ital. mostre oder frz. monstre, und meint ‚etwas, das gezeigt wird‘ (und ist somit dem
120 Vgl. dazu Dietrich Schneider-Henn: Ornament und Dekoration. Vorlagenwerke und Motivsammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts, München/New York 1997; sowie Ottfried Dascher: „Musterbücher – Versuch einer Typologie und Grundzüge ihrer Entwicklung“, in: ders. (Hg.): „Mein Feld ist die Welt“. Musterbücher und Kataloge 1784-1914, Dortmund 1984, S. 31-38.
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Monster verwandt). Der Begriff übertrug sich in der Folge auf die Zeichnung, die das fertige Stück nach der Vorlage aufweist, geht also vom exemplum zum dessin über.121 Im 19. Jahrhundert dienen Musterbücher im Zuge der aufkommenden Industrialisierung und dem Rückgang des Handwerks vornehmlich als Bestell- und Verkaufsbuch für Kaufleute und Fabrikanten. Die verschiedenen Zeichensammlungen, wie Opfermanns Tanz-Gruppen oder die Skizzen von Alfons Klass oder Reisinger/Constantin, funktionieren als Muster auf mehreren Ebenen: sie sind einerseits vom Werkkontext losgelöste Entwürfe von Divertissements, funktionieren aber auch als Probestück oder Ausweis der choreografischen Handwerklichkeit ihrer Schöpfer. Sie sind so einerseits Vorlagen, ideale Singularitäten, die in Bühnenwerken realisiert werden können, wirken andererseits aber auch mustergültig und musterprägend, indem sie eine ästhetische Maßgeblichkeit entwickeln und den Tänzer*innenkörper diesem Maß unterwerfen. An den Tanz-Gruppen von Opfermann und den anderen Musterbüchern lässt sich darüber hinaus eine Statusveränderung des Choreografen festmachen, denn sie dienen ihm als Katalog seines Könnens und vermitteln „eine Seite bühnenkompositorischer Handwerklichkeit – der qualifizierten wie routinierten Choreographie von Tanzgruppen“. 122 Ob die choreografischen Musterbücher auch aus einem urheberrechtlichen Interesse zur Sicherung von Autorschaft entstanden sind, wie es sich in den Notationen von Henri Justamant andeutet, ist aufgrund fehlender Information zu ihrer Verwendung nicht bestimmbar.123 Die choreografischen Musterbücher erreichen dabei jedoch nicht das analytische Niveau, das die grafischen Ornamentvorlagenwerke, die sich vom Aufbau ebenfalls an kunsthandwerklichen Musterbüchern orientieren,
121 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, bearbeitet von Moriz Heyne, Leipzig 1885 [Reprint München 1984], Sp. 2761-2764. 122 Jeschke: „‚Tanz-Gruppen‘ – das Musterbuch von Franz Opfermann“, S. 75. 123 Justamant hat sich in seinen Regiebüchern immer wieder selbst als Autor eingeschrieben und erhebt vereinzelt Plagiatsvorwürfe gegenüber anderen Künstler*innen. In seiner Notation des Ballets dans Les parisiens à Londres (Paris 1866) zeichnet er den „Pas des Almées“ nicht nur als „composé et reglé par Monsieur H. Justamant“ aus, sondern wirft einer Tänzerin (künstlerischen) Diebstahl vor: „Nota. Mme Mariquita qui a tenu la premiere place dans le pas (à la création) la fait représentée plus tard au folies bergère comme en etant l’auteur ce qui constitues non seulement un plagiat mais un vol. H. Justamant“. New York Public Library for the Performing Arts, Signatur MGRN-Res. 73-259 Bd. 1.
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im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickeln. Neben praktisch ausgerichtete Vorlagenwerke für Industrie und Handwerk tritt in dieser Zeit eine Beschäftigung mit historischen Ornamenten, den Ornamenten anderer Kulturen124 und Naturformen wie Blumen, Insekten und Kristallen.125 Werke wie Owen Jones’ The Grammar of Ornament und die Arbeiten von Christopher Dresser, die auch als Vorlagenwerke dienen, verfahren stärker analytisch und weniger entwerfend oder abbildend und versuchen allgemeine Regeln aus der vergleichenden Gegenüberstellung des Materials abzuleiten, wie der Titel Grammatik bereits impliziert.126 Franz Opfermanns Tanz-Gruppen stellen dagegen weniger eine Grammatik des Tanzornaments dar, als eine Sammlung von Exempeln, ein Musterbuch, das choreografische Möglichkeiten darlegt und die Operationalisierung des choreografischen Ornaments in der Zeichnung und Skizze in den Vordergrund stellt. Die choreografischen Musterbücher des 19. Jahrhunderts blieben als Manuskripte darüber hinaus auch Einzelstücke und erfuhren nicht die massenhafte Verbreitung und weite Rezeption, wie sie dank neuer Drucktechniken die Ornamentstudien von Owen Jones erlebten. Die choreografischen Musterbücher dienten als paper tool, als Entwicklungswerkzeug für raumzeitliche Ornamente in Ballettaufführungen. Auch wenn sich aus ihnen die Bewegungen und Tänze nicht oder nur unvollständig rekonstruieren lassen, gehören sie zu den wenigen choreografischen
124 Die Beschäftigung mit der Arabeske als Beispiel orientalischer Ornamentik nimmt hier den ersten Platz ein. Vgl. z.B. Girault de Prangey: Essai sur l’Architecture des Arabes et des Mores en Espagne, en Sicile, et en Barbarie, Paris 1841; oder Jules Goury, Owen Jones: Plans, Elevations, Sections and Details of the Alhambra, London 1842. 125 Dietrich Schneider-Henn: „Das schmückende Motiv. Bedarf und Tradition“, in: ders.: Ornament und Dekoration, S. 5-23, hier S. 8 ff., darin auch eine umfangreiche Bibliografie von Ornamentvorlagenwerken aus dem 19. Jahrhundert. 126 Vgl. Rémi Labrusse: „Face au chaos: grammaires de l’ornement“, in: Perspectives. La revue de l’INHA, Ornement/Ornamental 1 (2010/2011), S. 97-121. Die farblich brillanten Chromolithografien von Jones’ Grammar of Ornament überschatten in der Rezeption jedoch seinen analytischen Zugang. Vgl. Nicholas Frankel: „The Ecstasy of Decoration: The Grammar of Ornament as Embodied Experience“, in: Nineteenth Century Art Worldwide, Winter 2003, S. 1-32, http://www.19thc-artworldwide.org/winter03/246-the-ecstasy-of-decoration-thegrammar-of-ornament-as-embodied-experience, zuletzt abgerufen am 04.05. 2017.
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Dokumenten von Divertissements und stellen somit zentrale Fundstücke einer Archäologie des Ornaments dar.
U NTERWASSERWELTEN Das ornamentale tableau, wie es als Divertissement in den Musterbüchern und nach militärischen Manövern entworfen wird, dehnt sich vereinzelt von der choreografischen Gruppe auf das Bühnenbild aus und bildet mit diesem eine (ornamentale) Einheit. Um zur Integration der ornamentalen Tänzer*innen in die Architektur des Ornaments auf der Bühne zu gelangen, die hier am Beispiel des Schlussbilds eines Wassergeist-Balletts aufgezeigt wird, ist jedoch ein kurzer Umweg über die Geschichte eines spezifischen Bühnenbildtricks dieses Genres notwendig. Die Unterwasserwelt gibt den Betrachter*innen des 19. Jahrhunderts Anlass zum Erstaunen und Bewundern, sie stellt eine Abwechslung von Alltag dar und bietet Einblick in eine andere Welt. Das Verhalten und die Bewegungen ihrer Bewohner*innen, sowie die ungewohnten Formen, die in öffentlichen Aquarien beobachten werden kann, stellen ein völlig neuartiges Schauspiel der Natur dar, wie Théophile Gautier berichtet: „[L’]Aquarium! un spectacle merveilleux, un drame ichthyologique en quatorze tableaux! tout un monde inconnu! […] La vie mystérieuse qui fourmille sous les eaux semblait devoir rester impénétrable pour l’homme: vie immense, profonde, inépuisable, multiple, d’une étrangeté de formes, d’une bizarrerie d’habitudes qui étonnent l’imagination la plus hardie.“127
So wie Gautier das Unterwasserleben als Form eines ‚natürlichen‘ Theaters (‚drame ichthyologique‘ – Fischdrama) begreift, so fordert er auch vom ‚wirklichen‘ Theater, besonders von der Gattung Feerie, einen ähnlichen Perspek-
127 Théophile Gautier: „L’aquarium du jardin zoologique d’acclimatation“ [Le Moniteur Universel, 9.12.1861], in: ders.: Paris et les Parisiens, hg. von Claudine Lacoste-Veysseyre, Paris 1996, S. 295-300, hier S. 295 f. Zu den Aquarien im bürgerlichen Interieur, vgl. Isabel Kranz: „Zur Felsengrotte im Heimaquarium“, in: Butis Butis (Hg.): Stehende Gewässer. Medien der Stagnation, Zürich 2007, S. 247-258.
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tivwechsel in der Darstellung fremder und unbekannter Welten. Das Bühnenbild, bzw. der Bühnenbildwechsel, spielt dabei eine zentrale Rolle. Bühnenbildner dieser Zeit, wie z.B. Pierre-Luc-Charles Ciceri, bedienen sich archäologischer, exotischer und historischer Vorlagen, kultivieren dabei jedoch auch einen „goût très prononcé pour la fantaisie“128 und erweitern ihre Vorlagen frei nach eigenem Geschmack. 129 Die Szenenbilder schaffen dramatische Einheiten, die (zumindest in der Feerie) mit imaginären Welten korrespondieren.130 So macht z.B. Ciceris Bühnenbild für den zweiten Akts von Giselle, wie es Delphine Demont und Wilfride Piollet anhand von Materialien aus dem Archiv der Opéra rekonstruiert haben, deutlich, wie dieses als optisches Perzeptionserlebnis für die Zuschauer*innen konzipiert wurde. Der originale Wald der Willis besteht nicht, wie das Libretto suggeriert, aus lokaler, mitteleuropäischer Fauna, sondern enthält Palmen und andere exotische Pflanzen, die zu einem verwirrenden, undurchdringlichen Blätterwald arrangiert sind und eine botanische Fantasie erschaffen. In seiner Verwirrung von Figur und Grund lenkt das Bühnenbild die Zuschauenden auf ihre eigene Wahrnehmung zurück: „Le spectacle réel se double d’une construction imaginaire propre à chaque spectateur est guidée non pas par la rationalité, mais bien plutôt dans son inconscient, grâce à de multiples perceptions sensorielles. Le décor de Cicéri, par la construction parfaitement symbolique de son tableau, suffit seul à nourrir la rêverie du spectateur durant tout le deuxième acte de Giselle.“131
Emile Zola hat ebenfalls diese fantastische Funktion des Bühnenbilds erkannt und in einem Text über die Feerie und Operette, als Vehikel für Reisen in unbekannte Gebiete beschrieben. Die Handlung degradiert er dabei zum bloßen Anlass für Dekorationswechsel, die die Zuschauer*innen in
128 Catherine Join-Diéterle: „Evolution de la scénographie à l’Académie de musiqe à l’époque romantique“, in: Romantisme 38 (1982), S. 65-76, hier S. 74. 129 Vgl. dazu überblicksartig den Bestandskatalog der Sammlung der Bibliothèque de l’Opéra der Bibliothèque Nationale Paris, Nicole Wild: Décors et costumes du xixe siècle, 2 Bd., Paris 1987-1993. 130 Martin: La Féerie Romantique sur les scènes parisiennes, S. 257. 131 Delphine Demont, Wilfride Piollet: „Du Palmier et de la Willi“, in: Bulletin de la société Théophile Gautier. Gautier et les arts de la danse 31 (2009), S. 143158, hier S. 149.
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fremde, fantastische Welten, wie Wälder oder Unterwasserlandschaften, führen: „[Les] voyages les plus extravagants dans tous les pays imaginables […] sont la grande affaire, car ils permettent au décorateur de nous promener au fond de forêts enchantées, dans les grottes nacrées de la mer, à travers les royaumes inconnus et merveilleux des oiseaux, des poissons ou des reptiles. Quand les acteurs disent quelque chose, c’est uniquement pour donner le temps aux machinistes de poser un vaste décor, derrière la toile de fond.“132
Unterwasserwelten, als eines dieser Reiseziele der theatralen Imagination, bilden auch einen beliebten Topos für Ballettszenarien im 19. Jahrhundert, in dem sich ein regelrechtes submarines Subgenre herausbildet. Die Vorlagen für ihre Handlungen beziehen diese Ballette meist aus den Mythen der Elementargeister des Wassers (Undinen, Nymphen und Nixen), deren Liebe zum Tanzen Heinrich Heine, im Anschluss an seinen Bericht von den Willis, beschreibt: „Die Nixen haben die größte Aehnlichkeit mit den Elfen. Sie sind beide verlockend, anreitzend und lieben den Tanz. Die Elfen tanzen auf Moorgründen, grünen Wiesen, freyen Waldplätzen und am liebsten unter alten Eichen. Die Nixen tanzen bey Teichen und Flüssen; man sah sie auch wohl auf dem Wasser tanzen, den Vorabend wenn jemand dort ertrank. Auch kommen sie oft zu den Tanzplätzen der Menschen und tanzen mit ihnen ganz wie unser eins. Die weiblichen Nixen erkennt man an dem Saum ihrer weißen Kleider, der immer feucht ist. Auch wohl an dem feinen Gespinste ihrer Schleyer und an der vornehmen Zierlichkeit ihres geheimnißvollen Wesens.“133
132 Emile Zola: Le Naturalisme au Théâtre. Les théories et les exemples, Paris 1895, S. 354. 133 Heinrich Heine; „Elementargeister“, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 9 bearbeitet von Ariane NeuhausKoch, Hamburg 1987, S. 9-64, hier S. 20 f. Heine beschreibt anschließend auch die Gefahr und den Reiz, der von solchen Unterwasserfantasien ausgeht: „Es liegt etwas so geheimnißvolles in dem Treiben der Nixen. Der Mensch kann sich unter dieser Wasserdecke so viel Süßes und zugleich so viel Entsetzliches denken. Die Fische, die allein etwas davon wissen können, sind stumm. Oder schweigen sie etwa aus Klugheit? Fürchten sie grausame Ahndung, wenn sie die Heimlichkeiten des stillen Wasserreichs verriethen? So ein Wasserreich mit sei-
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Die Ballette, die sich auf diese Volkserzählungen gründen, handeln meist von der Verführung eines Menschen durch einen Wassergeist. Es sind dort stets Männer, die von Unterwasserfrauen angelockt werden, die ihre irdische Beziehung bedrohen und sie temporär oder endgültig in die Wasserwelt hinunterziehen.134 So wichtig wie die Bühnenbilder sind dabei die Verwandlungen zwischen ihnen, die – besonders in den féerie-Gattungen – zum festen Bestandteil der Dramaturgie gehören. Changements à vue ermöglichen den raschen Wechsel unterschiedlicher tableaus und inszenieren die Verwandlung zwischen möglichst konträren Orten (z.B. Hütte und Palast) als spektakulären Effekt: „Dans une féerie, un décor doit se transformer subitement, par exemple, une chaumière en palais, par l’intervention d’un pouvoir magique.“135
nen wollüstigen Heimlichkeiten und verborgenen Schrecknissen mahnt an Venedig. Oder war Venedig selbst ein solches Reich, das zufällig, aus der Tiefe des adriatischen Meers, zur Oberwelt heraufgetaucht mit seinen Marmorpalästen, mit seinen delphinäugigen Curtisanen, mit seinen Glasperlen- und Corallenfabriken, mit seinen Staatsinquisitoren, mit seinen geheimen Ersäufungsanstalten, mit seinem bunten Maskengelächter?“ Ebd., S. 22. 134 Das Undinen-Motiv hat in den 1980er und 1990er Jahren in der feministisch und gendertheoretisch orientierten Literaturwissenschaft ‚Kultstatus‘ erlangt, so Gabriele Brandstetter in „Der Gang der kleinen Seejungfrau. Hans Christian Andersen und August Bournonville“, in: Annegret Heitmann, Hanne Roswall Laursen (Hg.): Romantik im Norden, Würzburg 2010, S. 149-173. Eine weitverbreitete psychoanalytisch-anthropologische Deutung führt die Undine-Geschichten auf den Kult der „großen Mutter“ zurück. Vgl. Inge Stephan: „Weiblichkeit, Wasser und Tod. Undinen, Melusinen und Wasserfrauen bei Eichendorff und Fouqué“, in: Hartmut Böhme (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/Main 1988, S. 234-262. Die meisten Untersuchungen verbleiben aber in einer undifferenzierten Geschlechterkritik, wie z.B. Anna Maria Stuby: Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur, Wiesbaden 1992. Vgl. dazu die Kritik von Markus Winkler im Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1999, S. 159163. 135 Jules Moynet: L’envers du théâtre. Machines et décorations, Paris 1875, hier S. 88, sowie der ganze Abschnitt VI. „Changements à vue – Praticables“. Jules Moynet beschreibt mehrere Varianten schneller Verwandlungen, die in der Feerie zum Einsatz kommen, wie bemalte Stoffsegel oder Zink-Lamellen, die schnell zur Seite gezogen werden können.
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Eine der frühesten Bühnenumsetzungen des Wassernixenstoffes ist Ferdinand Kauers bis weit ins 19. Jahrhundert äußerst populäre Zauberoper Das Donauweibchen (Wien 1798).136 Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung Undine, die 1811 auf deutsch und ab 1817 in zahlreichen Auflagen auch auf Französisch erscheint, verhilft dem Nixen-Motiv jedoch zu einer so großen Beliebtheit, dass die meisten späteren Übertragungen auf die Bühne sich – zumindest nominell – auf diese Erzählung beziehen. Neben E. T. A. Hoffmanns gleichnamiger Zauberoper von 1816, für die Fouqué das Libretto verfasst hat, gibt es eine ganze Reihe von Übertragungen in das Ballettgenre.137 Die bekannteste und erfolgreichste ist Jules Perrots Ondine ou La Naïade mit Musik von Cesare Pugni, die 1843 in Her Majesty’s Theatre in London uraufgeführt wird. Dieses Ballett spielt im Titel zwar auf Fouqués Erzählung an, entfernt sich inhaltlich jedoch weit von der literarischen Vorlage.138
136 Mit einem Libretto von Karl Friedrich Hensler nach Christian August Vulpius’ Roman Saalnixe. „Henslers Donauweibchen steht am Beginn einer Entwicklung, in der aus dem Zusammenwirken heterogener theatralischer Elemente wie einer vordergründigen, auf Zauberwirkung abgestellten Romantik und einer handfesten Komik eine neue, gefällige Art der Bühnendramatik entstand.“ Jürgen Schläder: „Kauer: Das Donauweibchen (1798)“, in: Carl Dahlhaus (Hg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 3, München 1989, S. 263-267, hier S. 266. 137 Louis Henry bringt in Wien ein Zauberballett namens Undine auf die Bühne, und versucht sich später (erfolglos) mit einer weiteren Wassergeist-Umsetzung in Paris. Sein kurzes „Tableau Pantomime Nautique“ Les Ondines eröffnet 1834 dort das (kurzlebige) Théatre Nautique, mit einem in die Bühne integrierten Wasserbecken. Paul Taglioni zeigt 1836 in Berlin Undine, die Wassernymphe, sein Vater Filippo Taglioni im selben Jahr La Fille du Danube in Paris mit Musik von Adolphe Adam. René Charles Guilbert de Pixérécourts Feerie Ondine ou La Nymphe des eaux, die 1830 im Théâtre de la Gaîté gezeigt wird, enthält ebenfalls eine Ballettszene, die jedoch nicht unter Wasser spielt. August Bournonville choreografiert 1842 zu Musik von verschiedenen Komponisten Napoli, or the Fisherman and His Bride in Kopenhagen. 138 Ein Kritiker der Uraufführung von Perrots Ondine, dessen Libretto im Vorwort auf die deutsche Undine verweist, schreibt am 23.06.1843 in der Times: „The plot is no more like the romantic baron’s story than it is like that of Robinson Crusoe, excepting so far as a water-nymph is the heroine. Therefore, the readers of Undine have to unlearn all they know, if they would avoid mystification while witnessing the marvels of the new ballet.“ Zitiert nach Susan Au: „The Shadows of
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Alle diese Unterwasserballette und Undinenspektakel verwenden dabei stets ein ähnliches changement à vue. Der realistische Handlungsort (der entweder in einem romantisierten Deutschland oder Italien verortet ist) verwandelt sich plötzlich in eine mit Korallen, Muscheln und Perlen verzierte Unterwasser-Grotte, die meist den Palast eines Unterwasserherrschers darstellt. Grotten gibt es bereits auf der Bühne des barocken Theaters,139 die direkte Vorlage für dieses changement à vue stammt jedoch aus Fouqués Erzählung. Am Tag nach ihrer Hochzeit offenbart Undine dort dem Ritter Huldbrand ihre Herkunft und beschreibt, nach einem kurzen Referat der Elementargeisterlehre, die „Kristallpaläste“ ihres Vaters Kühleborn: „In klingenden Kristallgewölben, durch die der Himmel mit Sonn und Sternen hereinsieht, wohnt sich’s schön; hohe Korallenbäume mit blau und roten Früchten leuchten in den Gärten; über reinlichen Meeressand wandelt man und über schöne, bunte Muscheln, und was die alte Welt des also Schönen besaß, daß die heutige nicht mehr sich dran zu freuen würdig ist, das überzogen die Fluten mit ihren heimlichen Silberschleiern, und unten prangen nun die edlen Denkmale, hoch und ernst, und anmutig betaut vom liebenden Gewässer, das aus ihnen schöne Moosblumen und kränzende Schilfbüschel hervorlockt.“140
Herself: Some Sources of Jules Perrot’s Ondine“, in: Dance Chronicle 2/3 (1978), S. 159-171, hier S. 159. 139 Der architektonische Typus „Grotte“ entwickelt sich in der italienischen Gartenund Brunnengestaltung im 16. und 17. Jahrhundert, aus dem auch der Begriff ‚grotesk‘ abgeleitet wurde. Als Grotten bezeichnete man dort mit Muscheln, Steinen, Perlen, Korallen, falschen Blattwerk und Statuen verzierte künstliche Höhlen, die meist um eine Brunnenanlage angelegt wurden. Die selbst bereits äußerst theatralen Grottenentwürfe werden bald auf die Bühne übertragen: „Depuis la création d’Atys de Lully en 1676, ce type de décor [Palais orné de coquillages, de coraux, de congélations] n’est pas rare dans l’opéra français et sert à évoquer les demeures des Fleuves et des divinités marines.“ Jérôme de La Gorce: Féeries d’opéra. Décors, machines et costumes en France 1645-1765, Paris 1997, S. 81. Vgl. ebenfalls Barbara Rietzsch: Künstliche Grotten des 16. und 17. Jahrhunderts. Formen der Gestaltung vom Außenbau und Innenraum an Beispielen in Italien, Frankreich und Deutschland, München 1987; sowie Eberhard Groenewold: Garten- und Landschaftsgestaltung auf der Bühne im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1940. 140 Friedrich de la Motte Fouqué: Undine und andere Erzählungen, hg. von RalphRainer Wuthenow, Frankfurt/Main 1978, S. 57 f.
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Die Ornamentalität dieses Orts ist Produkt der Fantasie – die Paläste, die Undine beschreibt, werden in der Erzählung nie betreten, sondern müssen von den Lesenden, wie von Huldbrand, dem Undine von diesen Orten erzählt, vorgestellt werden. Aus Undines Ekphrasis entwickeln die Bühnenübertragungen dann einen changement à vue, der zum Versatzstück dieser Unterwasserballette wird. Bereits Kauers zweiteilige Mammut-Unterhaltung Das Donauweibchen endete mit einer Verwandlung der Bühne in eine transparente Nixengrotte am Ende des ersten Teils, die sich zu Beginn des zweiten Teils in einen Rittersaal zurückverwandelt. Spätestens mit E. T. A. Hoffmanns Zauberoper Undine, für die Karl Friedrich Schinkel das Bühnenbild entwirft, wird die Kristallpalast-Erscheinung zu einer Standardformel dieser Werke.141 Die zeitgenössische Kritik, die Hoffmanns Oper besonders für ihren „optischen Eindruck“ lobt, hebt das Schlussbild hervor. Die Anweisung für diese Szene lautet im Textbuch: „Es steigt ein graues Nebelgewölk aus der See, das sich immer mehr ausdehnt und man erblickt endlich in demselben, jedoch nur in schwankenden, halb verfließenden Umrissen ein aus Muscheln, Perlen, Korallen und seltsamen Seegewächsen fantastisch zusammengesetztes Portal; unter demselben Undine, die den wie in Ohnmacht liegenden Huldbrand in ihren Armen hält, und sich sanft über ihn hinwegbeugt. Es umgeben die Gruppe Wasser Geister aller Art; über alle ragt Kühleborns Gestalt empor. – Ein von neuem aufsteigendes Nebel Gewölk verdeckt nach und nach die Gruppe, so daß bis zum Schluß des Chors und dem Fallen des Vorhangs beynahe Alles wieder verschwunden ist. Die Erscheinung muß die ganze Breite des Theaters einnehmen und so duftig gehalten seyn, daß man noch durch des Nebels dünnere Stellen die hinter demselben befindlichen Gegenstände z.B. die Brücke, die Burg etc. erkennen kann.“142
141 Zu Schinkels Entwürfen für Hoffmanns Undine vgl. Ulrike Harten: Die Bühnenentwürfe, überarbeitet von Helmut Börsch-Supan und Gottfried Riemann, (= Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk, Bd. 17), München/Berlin 2000, S. 177-200. 142 Textbuch der Berliner Uraufführung von Undine (im Original verschollen, überliefert durch eine Publikation von 1903), zitiert nach Harten: Die Bühnenentwürfe, S. 198 f. Vgl. auch die Lesaarten der Regieanweisungen in E. T. A. Hoffmann: Ausgewählte musikalische Werke Bd. 3, Undine. Zauberoper in 3 Akten. Dritter Akt mit Anhang und Kritischem Bericht, hg. von Jürgen Kindermann, Mainz/London/New York 1972, S. 513.
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Schinkel entwirft für dieses Bild ein überdimensionales dreibogiges Portal, das mit Muschelbändern, Ketten von Perlen sowie Fisch- und Seesternmotiven verziert ist. Auf die Pfeiler sind Korallenbäume aufgesetzt und von den Bögen hängt, stalaktitenhaft, in fließender Bewegung gefrorenes Wasser. Undine und der leblose Huldbrand bilden in der Mitte des Triumphbogens ein Art Pietà-Gruppe. Kühleborn und der symmetrische Reigen von ‚Wasser Geistern aller Art‘ sind in Schinkels Dekoration jedoch nur gemalt. Das Schlussbild zeigt die Vereinigung der beiden Hauptfiguren, Undine und Huldbrand, als Fantasie (halbdurchsichtige Nebelschleier weisen darauf hin, dass diese Stelle als ‚Erscheinung‘ gedacht ist). Schinkel hat die Schauplätze dieser Oper als historische Fantasie entworfen: er imaginiert eine deutsche Gotik und romantische Waldpartien, doch erst das Schlussbild stellt eine fantastische (Unterwasser-)Welt dar, die in einem genuin fantastischen Modus, in einem effektvoll inszenierten changement à vue, auf dem Theater erscheint. In Schinkels Schlussbild findet Hoffmanns Opernfassung von Fouqués Undine, die schon Walter Scott als Paradebeispiel fantastischer Literatur galt,143 eine theatrale Umsetzung des Fantastischen als Bruch mit der Realität. Dieser Bühnenbildtypus findet sich in vielen Undine-Versionen des 19. Jahrhunderts: Henris Les Ondines (1834) spielt laut Libretto vollständig in einer Grotte, in Pixérécourts Ondine (1830) erscheinen gleich mehrfach Unterwasserwelten und in Taglionis Berliner Undine (1836), Perrots Londoner Ondine (1843), Justamants Lyoner Lore-Ley (1856) und seinen Néréides (1861) gibt es jeweils ein Unterwasser-Bild. Dort sind die Gruppen der WasserGeister wie in Schinkels Entwurf in das Dekor integriert, beginnen sich aber zu beleben. Die Szenenanweisungen dieser Stellen ähneln sich stark. Das Textbuch von Pixérécourts Ondine schreibt vor: „La cabane se transforme en un riche palais aquatique, orné de cristaux, de perles, de coquillages, de fleurs. Les portes et les fenêtres sont garnis d’Ondins et de Nayades qui se pressent; Fraisondin est au milieu. Ondine est couverte de riches vêtemens. Mathéo et Marthe changent également de costumes. Ondine et Edmond s’agenouillent. Une vive lumière éclaire ce tableau magique.“144
143 Scott: „Du merveilleux dans le roman“, S. 32 f. 144 R. C. Guilbert de Pixerécourt: Ondine, ou La Nymphe des Eaux. Féerie en quatre actes, Paris 1830, S. 39.
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Und auch in Paul Taglionis Berliner Undinen-Ballett von 1836 mit Musik von Hermann Schmidt heißt es: „Man hört das Rauschen eines Wasserfalls. Der Hintergrund der Hütte öffnet sich und zeigt das Innere eines prächtigen Wasserpalastes mit Korallen, Perlen und Muscheln geschmückt, in welchem Kühleborn, der Beherrscher der Wassergeister, von seinem Gefolge umgeben, sich befördert.“145
Allen diesen Szenen ist gemein, dass dort Nereiden, Undinen und andere Wassergeister als lebendes Dekor eingesetzt werden. In mehreren Notationen von Henri Justamant lässt sich der Aufbau solcher belebter Unterwasser-Gruppen en détail betrachten. Justamants Lore-Ley ou La Fée du Rhin (Lyon 1856) beschreibt folgendes changement à vue: „toute la décoration, en général s’éleve lentement, laissant voir peu à peu l’interieur de l’eau jusqu’a l’arrivée au fond au loin arrive dans une grotte immense pitoresque par la varieté des formes des rochers, les arbres de corail et les herbes marines.“146
Justamants Ballet-féerie Les Néréides ou Le Lac Enchanté (Lyon 1861) schließt ebenfalls mit einem Grotten-Tableau, das die bisher betrachteten in Anzahl der Tänzerinnen weit übersteigt. Der Student Rodolphe, männlicher Protagonist dieses Balletts, verlässt seine weltliche Verlobte und folgt einem (weiblichen) Wassergeist in dessen Element um am Ende des Balletts mit diesem unter Wasser vereint zu werden. Ein aufwendiges changement à vue inszeniert Rodolphes Fahrt in die Unterwelt mit Nebelwolken und Wasserwellen. Das Libretto schreibt: „Soudain les eaux s’agitent; elles montent et envahissent la terre. A travers l’eau transparente, on aperçoit, descendant au fond du lac, Rodolphe soutenu par Naïs; ils arrivent dans la grotte enchantée des Néréides toute brillante de cristal, de pierreries,
145 Paul Taglioni: Undine, die Wassernymphe. Feen-Ballet in drei Akten. Nach de la Motte Fouqué’s Roman. Musik von H. Schmidt, Berlin 1836, S. 5 146 Henri Justamant: Lore-Ley ou La Fée du Rhin [Lyon 1856], Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Universität zu Köln Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn, Inventar-Nummer 70 463, nicht paginiert.
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de corail, de coquillages, de fleurs marines, et de voûtes immenses soutenues par des piliers des stalactites.“147
Abbildung 34: Apotheose aus Justamants Les Néréides
Justamant: Les Néréides, ou Le Lac Enchanté [Lyon 1861], Schloss Wahn.
147 Les Néréides, ou Le Lac Enchanté. Ballet-féerie en deux actes et quatre tableaux, par M. Justamant. Musique de M. Jules Ward, Lyon 1861, S. 19, in: Henri Justamant: Les Néréides, ou Le Lac Enchanté Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Universität zu Köln Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn, Inventar-Nummer 70 468.
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Im Schlussbild verschmelzen Bühnenbild- und Gruppenornament der Tänzerinnen.148 Das tableau „Le Fond du Lac, la Grotte Enchantée“ besteht aus einem felsenhaft silhouettierten Rahmen, der die Bühne nach den Seiten und nach oben grottenartig abschließt. In der Mitte steht ein mehrstöckiger Thron, auf dem Ausia, Prinzessin der Néréiden, und weitere Néréiden positioniert sind. Von dort aus erstrecken sich zwei Reihen mit je vierzehn Tänzerinnen zur Bühnenrampe und rahmen so Rodolphe und das Meermädchen Naïs. In diesem Bild verschlingt sich das architektonische Ornament des Raums mit der räumlich-ornamentalen Anordnung der Tänzerinnen. Die Néréiden sind im portalhaften Thron wie architektonische Verzierungen eingesetzt und fungieren als lebende Karyatiden in der Korallengrotte. Die Tänzerinnen werden zu figurativen Details der Ornamentation, ihre Anordnung im Raum kann als Fortführung des architektonischen ornamentalen Lineaments betrachtet werden. Erneut wird erst in der Notation von Justamant die Integration der Figur in den Raum deutlich, da die Linie der Zeichnung unterschiedslos Körperform und ornamentalen Umraum verbindet. Das changement à vue ist somit auch ein Wechsel des Blicks vom Ornamentalen zum Figurativen. In diesem tableau oszilliert die Wahrnehmung zwischen skulpturaler Körperlichkeit und grafischer Abstraktion, zwischen bewegter Lebendigkeit und still gesteller Anordnung, die sich gegenseitig affizieren und so auch die Architektur des Bühnenraums belebt erscheinen lassen (der ‚lebendige‘ Eindruck wird von den glitzernden Elementen des Dekors unterstützt), wie auch die Tänzerinnen zu architektonischen Elementen machen. In dieser Unbestimmtheit, im Changieren (oder Glitzern) zwischen diesen beiden Modi, liegt der choreografische Reiz dieser tableaus. Dieser Bühnenbildtrick stellt nicht nur den fantastischen Umschlag vom Realen ins Imaginäre her, sondern inszeniert auch einen Blickwechsel vom körperlichen Sehen in einen ornamentalen Blick, vom flachen, gemalten Dekor ins plastisch-belebte Ornament, das Bühnenraumgestaltung und Tanz durchzieht.
148 Nic Leonhardt listet die Apotheose als eine Facette des Bild-Begriffs im Theater des 19. Jahrhunderts und gibt eine kurze überblicksartige Definition: „In der Apotheose verdichten sich Konventionen der Bildkomposition, ikonographische Muster, kontemporäre Themen und Bilder und Ausstattungstechnik des Theaters. Der Darstellerkörper wird zum Bestandteil des Gesamtbildes.“ Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie, S. 152.
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Das ornamentale Tableau, wie es oben in Erweiterung von Paul Valérys Unterscheidung der Ornamentdimensionen bestimmt wurde, funktioniert so nicht nur als Moment einer Gruppenchoreografie, idealer Ausschnitt einer Figurenverwandlung und Schlussbild von Tanzgruppen, sondern wird zu einer Kippfigur des Sehens.
T HE FADING FORM OF THE O NDINE Auch die ornamentale Körperpose Arabeske, wie sie im dritten Kapitel dieser Arbeit bestimmt wurde, kann zu einer optischen Kippfigur werden. Anhand einer der berühmtesten Szenen der fantastischen Unterwasserballette, die Gegenstand des letzten Abschnitts waren, soll nun dargestellt werden, wie auch der einzelne Körper der Tänzerin sich im Ornamentalen auflöst. Der Pas de l’Ombre aus Jules Perrots Ondine ou La Naïade ist die ikonisch gewordene choreografische Darstellung eines fantastischen Elementargeister-Körpers, der das Kippen zwischen Ornament und Figur als Tanz inszeniert.149 In Perrots Ballett versucht Ondine den jungen italienischen Fischer Matteo am Vorabend seiner Hochzeit zu gewinnen. Sie entführt seine (irdische) Verlobte und nimmt für kurze Zeit ihre Gestalt an. Zuerst erfreut über die neu gewonnene menschliche Gestalt, wird sie (und Matteo) sich bald ihrer Sterblichkeit und Schwäche bewußt. Das Libretto formuliert: „The ideal cannot exist amidst the real, and has already lost its youth and its freshness. Stung with anguish and grief, as he sees the fading form of the Ondine, Matteo divines that she is about to die.“150 Am Ende des Balletts erlangt Ondine ihre Unsterblichkeit wieder und geht im Austausch für Matteos Verlobte in ihre Wasserwelt zurück. Ondines Menschwerdung, ihre körperliche Metamorphose „is expressed purely in physical terms (the acquisition of corporeal form, and with it a shadow)“,151 wie Susan Au formuliert. Am Ende des vierten tableaus bemerkt Undine zum ersten Mal ihren Schatten im Mondschein. Anfangs verängstigt steigt sie mit diesem in ein Jagd- und Versteckspiel ein, das sich in einem
149 Susan Au hat die unterschiedlichen Quellen beschrieben, denen sich Perrot in seinem Ballet bedient hat. Der Pas de l’Ombre ist laut Au Perrots eigene Erfindung. Au: „The Shadow of Herself“. 150 Jules Perrot: Ondine; or, La Naiade. A New Grand Ballet, in six Tableaux, composed expressly for Her Majesty’s Theatre by M. Perrot, London 1843, S. 10. 151 Au: „The Shadow of Herself“, S. 165.
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Pas de deux mit dem Beleuchtungsapparat des Theaters auflöst: Ondine tanzt mit ihrem Schatten, der mithilfe eines Scheinwerfers auf den Boden projiziert wird: „Dans l’existence d’Ondine, idéale et surnaturelle, aucune ombre n’était projetée par le corps diaphane qui lui avait été donné. Elle a une ombre! elle est devenue une simple mortelle, elle sera la femme de Mattéo! Quelle joie! quelle ivresse! Elle joue avec son ombre, elle danse avec elle, elle la taquine, elle la harcèle, elle l’agace, elle la fuit et la poursuit tour à tour.“152
Der Schatten wird zum Zeichen ihrer menschlichen Form. Jules Perrot ergänzt mit diesem szenischen Trick die Elementargeistererzählungen von Heine und Paracelsus, die einen diaphanen oder schattenlosen Körper nicht erwähnen, um eine (weitere) Vorstellung aus dem Volksglauben, der Schatten als Anzeichen einer menschlichen Seele begreift.153 Der Pas de l’Ombre illustriert den Prozess von Ondines Menschwerdung und kann als Versuch der choreografischen Übersetzung eines fantastischen Körpers, wie ihn Roger Caillois definiert hat, betrachtet werden: „Ein Mensch, den man sieht und den man berühren kann und der ohne Schatten oder Spiegelbild wäre, widerspricht den Gesetzen der Physik und gebiert auf diese Art eine [weitere] Möglichkeit der phantastischen Geschichte.“154
Diese Art des Fantastischen trennt den physikalischen Zusammenhang von Erscheinung und materialer Beschaffenheit und erfindet so Wesen oder Figuren mit widersprüchlichen Eigenschaften, wie einen schattenlosen Menschen. In solchen Figuren zeigt sich, „wie das Phantastische aus einer na-
152 Philarète Chasles: „Notice sur Ondine“, in: ders., Théophile Gautier, Jules Janin: Les Beautés de l’Opéra, Paris 1845, S. 19 f. 153 Dieser Volksglaube wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in volkskundlichen Studien untersucht. F. Pradel beschreibt verschiedene mitteleuropäische Mythen, die Götter und Elfen schattenlos denken oder im Schatten die Seele des Verstorbenen sehen. Fritz Pradel: „Der Schatten im Volksglauben“, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Völkerkunde 6/12 (1904), S. 1-36; vgl. auch Ludwig Bieler, „Schatte(n)“, in: Hanns Bächtold-Stäubli, Eduard HoffmannKrayer (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 9, Berlin 1941 [Reprint ebd. 1987], Sp. 126-142. 154 Caillois: „Das Bild des Phantastischen“, S. 68.
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turwissenschaftlich bestimmten Welt geboren wird und wie es jedes Mal einen typischen Riß in ihren grundlegenden Gesetzen bildet.“155 Das Ballett des frühen 19. Jahrhunderts versucht den Eindruck des Fantastischen in verschiedenen Bewegungsweisen zu erzeugen, bedient sich dabei jedoch Metaphern, poetischer Bilder, der Tanz- und Bühnentechnik.156 Das Motiv des dinghaften Schattens (seines Auftauchens wie auch seines Verschwindens), das in der romantischen Literatur z.B. in Adelbert von Chamissos Peter Schlehmil vorkommt, lässt sich nicht nur mit zeitgenössischen modischen Schatten-Spielen, wie den ‚italiänischen Schatten‘ und ‚ombre chinoises‘ auf Jahrmärkten oder Schattenrissen in Verbindung setzen,157 sondern auch mit optischen und elektrischen Erfindungen, die neue Schatten erzeugen, wie Roberto Casati in seiner Geschichte des Schattens formuliert: „Das neunzehnte Jahrhundert hat nicht nur die Dunkelheit besiegt, sondern auch neue Schatten erzeugt. Es sind die reglosen Schatten, die durch ein zum Glühen gebrachtes Material erzeugt werden. Neu sind sie deshalb, weil sie bis zu dem Zeitpunkt in der Natur nicht existierten, ja weil es überhaupt noch nie einen statischen Schatten gegeben hatte.“158
So bedient sich auch der Pas de l’Ombre in Ondine einer neuen Beleuchtungstechnik. Londoner Theater nehmen im 19. Jahrhundert in der Entwicklung der Theaterbeleuchtung eine Vorreiterrrolle ein.159 Covent Garden ist das erste Theater, das in der Spielzeit 1815/16 mit Gaslicht – vorerst nur im Zuschauerbereich – arbeitet; andere Theater folgen diesem Beispiel bald. Die Einführung von Gaslicht, wie sie ab 1817 für die Bühnenbeleuchtung doku-
155 Ebd.: S. 69. 156 Der Pas de bourrée couru, der Spitzentanz oder die Figur der Arabeske sind balletttechnische Mittel, um Bewegung fantastisch werden zu lassen. 157 Vgl. dazu Peter Braun: Mediale Mimesis. Licht- und Schattenspiele bei Adelbert von Chamisso und Justinus Kerner, München 2007. Braun liest Chamisso und Kerner im Zusammenhang der visuellen Kultur ihrer Entstehungszeit. 158 Roberto Casati: Die Entdeckung des Schattens. Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung, Berlin 2003, S. 25. 159 Für die weitere Entwicklung des theatralen Einsatzes von Licht vgl. den Abschnitt „Farbe und Licht als Akteure auf der Bühne“, in Gabriele Brandstetter, Brygida Maria Ochaim: Loïe Fuller. Tanz – Licht-Spiel – Art Nouveau, Freiburg 1989, S. 113-119.
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mentiert ist,160 vermindert im Gegensatz zur bisherigen Kerzen- und Ölbeleuchtung die Schmutz- und Rauchentwicklung und ermöglicht eine zentrale Steuerung der Bühnenbeleuchtung. Das Gaslicht strahlt die Bühne flächig von der Rampe, den Seitengassen und der Galerie an, verhindert dabei aber die Entstehung von Schatten.161 Einer der beiden ‚leidenden Theater-Direktoren‘ von E. T. A. Hoffmann beschreibt, welchen unheimlichen Effekt diese Beleuchtung erzeugt: „Unsere Schauspieler werden, so wie die Einrichtung unserer Bühnen besteht, von allen Seiten gleich stark beleuchtet und erscheinen auf diese Weise wie durchsichtige Geister, die körperlos keinen Schlagschatten werfen.“162 Der geisterhafte Eindruck, für den das Nonnenballett in Meyerbeers Robert le diable berühmt ist,163 scheint eher eine generelle Wirkung des Gas-
160 Terence Rees: Theatre Lighting in the Age of Gas, London 1978, S. 9. 161 Zeitgenössische Quellen kommentieren das Fehlen von Schatten auf der Bühne: „The disposition of the lamps at present, is such that no shadow whatever can be presented to the audience, everything upon the stage and in the audience is a glare of undistinguished lights, painful to the eye… A more concentrated light would be truly refreshing to the spectator […].“ (Theatrical Observer, 15. September 1826), zitiert nach Booth: Theatre in the Victorian Age, S. 88. 162 E. T. A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke. Fantasiestücke in Callots Manier, Nachtstücke, Seltsame Leiden eines Theater-Direktors, hg. von Walter MüllerSeidel, München 1960, S. 611-707, hier S. 676. Der Erstdruck der Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors ist auf 1819 datiert, das Werk wurde jedoch bereits im Spätherbst 1818 ausgegeben, frühere Fassungen erschienen 1817 im Dramaturgischen Wochenblatt in nächster Beziehung auf die königlichen Schauspiele zu Berlin. Ob sich Hoffmann daher an dieser Stelle auf das Gaslicht bezieht, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht nachgegangen werden. 163 Diese Balletteinlage gilt gerade aufgrund ihrer Beleuchtung als Urszene des „Romantischen Balletts“ und präfiguriert den zweiten Akt von La Sylphide mit seiner fantastischen Atmosphäre, Choreografie und seinen Figuren. Diese meist unhinterfragt übernommene Ursprungserzählung stammt von Ivor Guest: „Here, in its eerie, spectral atmosphere, was all the mystery of Romanticism distilled with an artistry never before achieved on the ballet stage. Everything was subordinated to the general illusion – music, dance, stage design, lighting: the footlights and the auditorium chandelier were extinguished, and moonlight was simulated by gas-jets suspended in boxes from the flies, an effect employed for the first time. This magical scene caught the imagination of all who saw it. It was to open up new vistas of inspiration to choreographers and scenarists, and to be
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lichts als ein spezifischer Effekt dieses Balletts zu sein. Gaslicht erzeugt, folgt man Hoffmann und anderen Berichten dieser Zeit, immer einen körperlosen und unheimlichen Effekt. 164 Erst die Einführung von Kalklicht (auch Drummond’sches Licht oder engl. lime-light), das 1837 im Londoner Drury Lane Theatre zum ersten Mal zum Einsatz kommt, ermöglicht Schatten auf die Bühne zu projizieren, da es genügend Intensität besitzt, um das streuende Gaslicht zu überstrahlen.165 Dieses Licht wird hauptsächlich für besondere Effekte – Mondlicht oder durch ein Fenster fallendes Licht – verwendet, zur Zeit der Uraufführung von Ondine aber nur selten eingesetzt:166 „Für die Bühnenbeleuchtung stellte Kalklicht die erste Lichtquelle dar, die aufgrund ihrer Intensität für besondere Lichteffekte verwendet werden konnte. […] Mit der Kalklichtlampe ließ sich […] eine einzelne Person stärker als alles andere auf der Bühne anleuchten, ohne daß man die Allgemeinbeleuchtung hätte verringern müssen. Eine Erscheinung, ein Geist oder eine Traumgestalt konnte ‚herausgestellt‘ werden […].“167
Besonders im vierten tableau von Ondine spielt die Lichtinszenierung eine zentrale Rolle, wie eine Kritik der Uraufführung belegt. Den beschriebenen
developed in a long series of ballets on supernatural themes, of which the greatest were La Sylphide and Giselle. The Ballet of the Nuns carried the message of Romanticism […].“ Ivor Guest, The Romantic Ballet in Paris, London 1966, S. 112. Roxane Martin, wie schon vor ihr Marian Hannah Winter, weist auf Vorläufer des „Romantischen Balletts“ im populären Theater hin, wie das „ballet des ombres“ in Barbe bleue, einer Folie-féerie von Frédéric und Brazier, die 1823 im Théâtre de la Gaîté aufgeführt wurde. Martin: La Féerie Romantique sur les scènes parisiennes, S. 141 f. 164 Zur Einführung der Gasbeleuchtung auf der Bühne und ihrer Kritik, vgl. CarlFriedrich Baumann: Licht im Theater. Von der Argand-Lampe bis zum Glühlampen-Scheinwerfer, Stuttgart 1988, S. 81-114. 165 „On the stage the glare of gas is equable – coming from above, below, and from the sides; and such shadows as there are, are the coarse shadows of limelight.“ Percy Fitzgerald: Principles of Comedy and Dramatic Effect, London 1870, S. 30, zitiert nach Booth: Theatre in the Victorian Age, S. 88. 166 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird Kalklicht häufiger eingesetzt, z.B. für Traumerscheinung wie 1853 in Shakespeares Heinrich VIII im Princess’s Theatre. Vgl. Abb. 60 in Baumann: Licht im Theater. 167 Baumann: Licht im Theater, S. 133.
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Eigenschaften des Lichts nach, muss es sich dabei um Kalklicht gehandelt haben: „A fine dioramic effect is introduced. The mountains in the background, which shone with the light of day, become red with the tints of sunset, and at last the moon rises, and a full blue light is thrown upon the stage. This is strong enough to show the shadow of Cerito, who having assumed a substantial form for the first time, views the outline of herself with wonder. The pas de l’ombre, in which she wildly dances to the shadow, and tries to catch at it, is one of those things which none but Cerito could do.“168
Der starke Eindruck dieser Schatten-Szene, den das Zusammenspiel von Scheinwerfer und Tänzerin erzeugt, ist in zahlreichen Lithografien und Gemälden festgehalten: vor einem See, der von Felsen und Pflanzen gerahmt ist, balanciert Ondine en pointe und streckt das andere Bein über ihrem Schatten balancierend arabesk en arrière.169 Neben diesen ikonografischen Dokumenten hat sich im Nachlass von Henri Justamant eine unvollständige choreografische Notation von Perrots Ondine erhalten, die Justamant 1863 in Brüssel einstudiert hat und die „Scene et pas de l’Ombre“ beschreibt.170 Dem Versteckspiel mit dem Schatten schließen sich 24 Takte einer tänzerischen Reflexion an. Sie beginnt mit der Pose, die wahrscheinlich den populären grafischen Darstellungen entspricht: „elle se pose le pied gauche à la 4e croisé derriere et tourne sur place en regardant l’ombre et arrive en fuite“.171
168 „Her Majesty’s Theatre“, in: The Times (London), 23.06.1843, S. 6. Ivor Guest paraphrasiert diese Kritik und erweitert sie, ohne seine Quellen dafür auszuweisen, wenn er auf den Einsatz von Kalklicht in Ondine hinweist. Ivor Guest: Fanny Cerrito. The Life of a Romantic Ballerina, London 1974, S. 62. 169 Vgl. z.B. den Druck von Courrier, Fanny Ellsler in the Shadow Dance, von 1846 aus New York, oder das Gemälde von G. A. Turner, Fanny Cerrito as Ondine, 1843; beide aus der Sammlung des Victoria and Albert Museum, London. https://collections.vam.ac.uk/item/O106082/fanny-ellsler-sic-in-the-printcurrier-n/, https://collections.vam.ac.uk/item/O60542/fanny-cerrito-as-ondinein-painting-turner-g-a/, beide zuletzt abgerufen am 28.07.2017. 170 Das dritte Tableau, in dem Matteo in einer Traumvision die Unterwasserwelt und ein „Pas des Ondes“ des corps de ballet erscheint, fehlt komplett. 171 Jules Perrot: Ondine, inszeniert und notiert von Henri Justamant, Brüssel 1863, Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Universität zu Köln
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Abbildung 35: Ondines „Pas de l’ombre“ in der Notation von Justamant
Jules Perrot: Ondine, Brüssel 1863, Schloss Wahn.
Es folgen Drehungen en arabesque. Zuerst eine einzelne, die vom Versuch den Schatten zu fangen unterbrochen wird, und anschließend eine, die sich über sechs Takte beschleunigt: „elle tourne en arabesque de plus vite en plus vite.“172 Am Ende dieser tours erkennt Ondine sich in ihrem Schatten. In Justamants Notat ist dieser Moment der Erkenntnis angegeben: „elle se baisse en pliant sur le genoux droit le pied gauche à la 4e derriere, a terre, regarde son ombre, tourne la tête a gauche regardant la lune et lui dit ~ c’est moi“173
Im jubilatorischen Moment der Selbst-Erkenntnis erkennt Ondine ihre körperliche Verwandlung und begreift, dass sie Mensch geworden ist. Die Hinführung zu dieser Erkenntnis ist eine Folge von immer schneller werdenden Drehungen, deren Pose sich ebenfalls technisch verkompliziert. Die Gliedmaßen strecken sich liniengleich in den Raum, wie Justamants Strichzeichnungen verdeutlichen: die Arme und Beine laufen vektorenartig vom voluminösen Körperzentrum weg. Die Arabeske, als zwischen Raumplastik und abstraktem Liniengeflecht oszillierende Form, wird in dieser Drehung dynamisiert. Dabei wird aber
Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn, Inventar-Nummer 70 471, S. 114. 172 Ebd., S. 115. 173 Ebd.
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nicht die in dieser Form gehaltene Bewegungsenergie gelöst, sondern in einer anderen Dimension zum Rotieren gebracht. In diesem ornamentalen Delirium bereitet sich die Erkenntnis der körperlichen Metamorphose vor, es ist zugleich auch eine Reminiszenz an den fantastischen Körper, den Ondine eigentlich schon hinter sich gelassen hat. Die Idee des Übernatürlichen, die hier angestrebt wird, ist ein (doppelter) Effekt der Technik und entsteht aus dem Spiel von Beleuchtung und Bewegung. Das fantastische Ereignis der körperlichen Verwandlung eines Elementargeists in ein menschliches Wesen mit Seele und Schatten, welches den Riß in der Ordnung des Realen markiert, wird als Kippen zwischen Figur und Fläche, zwischen Pose und Ornament inszeniert. Paradigmatisch für alle Geistererscheinungen, die das Gaslicht produziert hat, gewinnt Ondine (als Mensch) im Scheinwerferlicht des Kalklichts das Plastische der Form zurück. Tanztechnisch wird die körperliche Verwandlung mit einer sich drehenden arabesken Pose illustriert – einer Pose, die zwischen plastischer Form und linearem Ornament oszilliert. Der Pas de l’Ombre in Perrots Ondine stellt choreografisch einen fantastischen Körper dar und inszeniert dessen Bruch mit dem Realen als Kippmoment der Wahrnehmung zwischen körperlicher Figur und linearem Ornament: als Arabeske.
V ON EINER S CHÖNHEIT , DIE IM R AHMEN WOHNT Die Verwandlung der Tänzerin zum Ornament, deren Einsatz als lebendes Dekor im tableau im Abschnitt über die Unterwasserballette beschrieben wurde, wird in Souveniralben und Druckgrafiken von Balletttänzerinnen im 19. Jahrhundert weitergeführt. Dort zieht sie sich in den gezeichneten Rand der Seite zurück. Die Arabeske (nicht als Tanzfigur, sondern als generelle ästhetische Figur) ist dort erneut zentrales Prinzip. Lithografien von Tänzerinnen 174 in charakteristischer Pose, Kostüm und Szene ihrer großen Balletterfolge sind im 19. Jahrhundert beliebte Sammel-
174 Abbildungen männlicher Tänzer bilden im 19. Jahrhundert die Ausnahme. Zur niedrigen Wertschätzung des männlichen Tänzers zu dieser Zeit vgl. z.B. Josef Christoph Fuchs: „Das verkannte Talent. Der tanzende Mann und seine Sonderposition innerhalb des romantischen Balletts“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2 „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 293-310.
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objekte. Sie erscheinen als einzelne Blätter, in Serie, zu Alben gebunden oder als Titelblatt von Notendrucken.175 Die größte Vielfalt an druckgrafischen Darstellungen von Tänzerinnen findet sich in Kostümgalerien, Portfolios und Alben wie Les Danseuses de l’Opéra (Paris, 1860), Album de l’Opéra (Paris, 1832, erneut 1844), Les Annales de la Danse et du Théâtre (Paris, 1843), Les Annales de l’Opéra (Paris, 1844), Les Gloires de l’Opéra (Paris, 1845/46) oder Souvenirs de l’Opéra (Paris, 1840er Jahre).176 Das Album Les Beautés de l’Opéra von 1845 fällt aus dieser Reihe heraus, da es neben Drucken auch einen umfangreichen Textteil beinhaltet.177 Es
175 Die meisten Studien zu diesem Subgenre der Grafik sind kurze Darstellungen aus der Perspektive von Sammelnden. Vgl. Sacheverell Sitwell: The Romantic Ballet from Contemporary Prints, London 1948; wie auch ders., Cyril W. Beaumont: The Romantic Ballet in Lithographs of the Time. Die stark auf England fokussierte Darstellung dieser beiden Bände kritisiert George Chaffee: Three or Four Graces, (= Dance Index 3/9-11, 1944). In der Zeitschrift Dance Index erschienen von Chaffee außerdem American Souvenir Lithographs of the Romantic Ballet 1825-1870 (1/2, Februar 1942); American Romantic Ballet Music Prints (1/12, Dezember 1942) und The Romantic Ballet in London (2/9-12, September-Dezember 1943). Vgl. außerdem Susan Au: „Prints and Drawings“, in: International Encyclopedia of Dance, hg. von Selma Jeanne Cohen, Bd. 5, New York/Oxford 1998, S. 257-263; und dies.: „Chalon, Alfred“, ebd.: Bd. 2, S. 103104; sowie Barbara Romankiewicz: „Zur Ikonographie Marie Taglionis und deren Bedeutung für die Druckgraphik des 19. Jahrhunderts“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 1 „Taglioni Materialien der Derra de Moroda Dance Archives“, München 2007, S. 137-161. Eine große Sammlung von Lithografien besitzen die Bibliothèque Nationale de France, die Derra de Moroda Dance Archives, aber auch das Österreichische Theatermuseum Wien, die New York Public Library und die Allison Delarue Collection der Princeton University. Einen Einblick in eine private Sammlung gibt Sowell, Sowell, Falcone, Veroli (Hg.): Il Balletto Romantico. 176 Vgl. den Katalog von Chaffee: Three or Four Graces, S. 193-210. 177 Zu diesem Album vgl. ebd., S. 141-144; Bénédicte Jarrasse: „Les Beautés de l’Opéra: de la féerie chorégraphique au merveilleux littéraire“, in: Bulletin de la société Théophile Gautier. Gautier et les arts de la danse 31 (2009), S. 209224; sowie Siegmund: „Giselle, oder: Das Sehen auf dem Weg in die Moderne“. Die meisten tanzwissenschaftlichen Studien verweisen auf die Beautés de l’Opéra nur als Quelle von Abbildungen, eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Bénédicte Jarasse. George Chaffee erwähnt eine englische Ausgabe von 1845
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gehört somit eher dem Genre der Keepsakes, Gift Books oder Livres de Beauté an. Im 19. Jahrhundert bezeichnet man mit diesen Begriffen Bücher, die vom Kleinstformat bis zum Quarto- oder Folio-Band unterschiedlichste Inhalte in aufwendiger Gestaltung als Geschenk oder Souvenirband präsentieren.178 Diese Bücher behandeln Poesie, Literatur, Mode, aber auch Geschichte, Religion, Kunst oder die Sprache der Blumen. 179 Sie heißen Livres de Beauté, weil sie sich einem schönen Inhalt in schöner Form widmen: Texte von mehr oder weniger bekannten Autor*innen wechseln mit (mehr oder weniger aufwendigen) Stahlstichen oder Lithografien. Die Bücher sind oft gebunden, in Moiré oder anderer Seide eingeschlagen und mit graviertem Titel und ornamentalen Frontispiz verziert. Das Keepsake Les Beautés de l’Opéra, das bereits ab 1844 in Einzellieferungen bezogen werden konnte, widmet sich in zehn Abschnitten den wichtigsten Opern- und Ballettwerken, die zwischen 1832 und 1843 an der Pariser Oper entstanden oder neu inszeniert wurden. Die Artikel sind stets gleich aufgebaut. Einem Titelblatt folgt ein Stahlstich der Sängerin oder Tänzerin, deren Interpretation einer Rolle aus dem jeweiligen Werk mustergültig ist – wie z.B. Marie Taglioni als Sylphide, Carlotta Grisi als Giselle oder Giulia Grisi als Norma in den jeweils gleichnamigen Werken. Die anschließenden Texte, verfasst von den drei wichtigsten französischen Feuilleton-Kritikern dieser Zeit (Jules Janin, Philarète Chasles und Théophile Gautier), verbinden Inhaltsangabe, Kommentar, Entstehungsgeschichte, Aufführungsbeschreibung und Kritik. Das Besondere dieses Buches ist seine grafische Ausstattung. Die werkbeschreibenden Texte sind mit Szenenbildern illustriert und von schmückenden Rahmen eingefasst, die sich motivisch auf den Text beziehen.180 Rahmung spielt in diesem Keepsake-Album eine zentrale Rolle, und Rahmen gibt es in der Beautés de l’Opéra in großer Vielfalt. Sie reichen von komplexen, narrativen Titeleinfassungen über einfache rechtwinklige Linienrahmen und abstrakte Zierleisten bis zu bühnenbildhaften Einfassun-
(Beauties of the Opera and Ballet), dessen Text für die englische Leserschaft angepasst wurde. Vgl. Chaffee: Three or Four graces, S. 142 f. 178 Bernard-Henri Gausseron: Les Keepsakes et Les Annuaires Illustrés de l’Époque Romantique, Paris 1896. 179 Vgl. Fn. 23 des vorherigen Kap. 180 Verschiedene Künstler waren an der grafischen Ausführung beteiligt, die meisten Rahmen stammen von V. Beaucé, viele der Szenenbilder von F. Jules Collignon.
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gen und ornamental gestalteten Illustrationen ganzer Szenen. In den jeweils zwanzig bis dreißig Seiten eines Abschnitts gibt es bis zu sechzehn verschiedene Rahmen,181 die verschiedene Bild/Text-Kombinationen durchspielen. Die Arabeske nimmt in diesem Album unterschiedliche Funktionen ein, wie im Folgenden an verschiedenen Details der Gestaltung der Abschnitte zu La Sylphide und Ondine erläutert wird. Sie ist abstraktes Prinzip des (fantastischen) Übergangs, konkrete Bildformel wie auch Rahmen. Die Arabeske stiftet narrative Übergänge zwischen Text und Bild, wie in Philarète Chasles Beitrag zu Jules Perrots Ondine. Ein changement à vue ins Unterwasserbild gibt dort erneut Anlass, einen stark verzierten Ort zu beschreiben: „C’est ici que s’ouvrent les portes du monde enchanté habité par les Ondines, le royaume de la reine Hydrola […]. Toutes les richesses de ces grottes de corail, de nacre et de porphyre, se déploient en songe devant le jeune berger sicilien. Voici les cavernes profondes où germe la perle diaprée; voici les forêts sous-marines, tapissées de plantes extraordinaires, inconnues à l’œil des mortels; cette douce et murmurante harmonie, c’est le bruit des eaux qui tombent en cascade, et le frémissement des sources sans nombre qui se répandent au loin dans les veines de la terre. Tout cela c’est un songe; et, s’il est permis de joindre une critique à notre analyse, nous ne savons vraiment pas pourquoi le jeune Sicilien n’est pas descendu en personne dans ces grottes de féerie, que le décorateur anglais a parées de tant d’opulence. Quoi qu’il en soit, il a plu à l’auteur du ballet que ce fût un rêve, et le rêve est charmant.“182
Der Wechsel ins Ornamentale, als den diese changements à vue bestimmt wurden, wird jedoch in den Beautés de l’Opéra nicht mit einem Szenenbild illustriert, sondern in die arabeske Rahmung des Textes versetzt (Abb. 36). Diese verwebt grafisch Korallen, Algen und Muscheln, in die die Figur der Ondine in charakteristischer Pose eingefügt ist. Dieser Rahmen macht Gebrauch vom grotesken Potenzial der Arabeske, unterschiedlichste Gegenstände zusammenzuführen und zu verbinden.
181 Es gibt offenbar keine strenge Farbkodierung, oder Zuordnung von Rahmenfarbe und Text. Die Exemplare der Beautés de l’Opéra in den Derra de Moroda Dance Archives und in der Humboldt Universität Berlin unterscheiden sich in der Farbgebung zumindest auf einigen Seiten. 182 Chasles, „Notice sur Ondine“, S. 16.
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Abbildung 36: Arabesker Buch-Rahmen
Chasles, Gautier, Janin: Les Beautés de l’Opéra, Paris 1845.
Nicht nur werden in diesen (Wasser-)Pflanzenranken Figuren dieses Balletts mit Elementen der Verzierung des fantastischen Unterwasserpalastes (Muscheln, Algen, Korallen) in einen Zusammenhang gebracht, dieser Zusammenhang ist selbst ornamental strukturiert und wiederholt im Rahmen strukturelle Aspekte des Balletts, das beschrieben wird. Eine solche Kombination von Text, Bild und Ornament, wie sie das Album in verschiedenen Variationen durchspielt, bildet Pforten ins Fantastische, die die Lesenden oder Betrachtenden einladen. Sowohl Chasles wie auch Janin beschreiben das Verführerische dieser Einladung. In seinem Es-
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say zur Ondine warnt Chasles vor der mythologischen Undine: „Craignez de fixer un regard sur elle, vous serez liés par une chaine invincible; vous la suivrez dans ses palais humides et merveilleux […].“183 Eine ähnliche Verführungskraft schreibt Janin der fantastischen Erzählung der Sylphide zu, wobei er offen lässt, ob es sich hier um das Ballett oder dessen Nacherzählung handelt: „Telle est la première partie de ce récit fantastique; l’imagination peut en revendiquer sa bonne part; mais cependant cela ne dépasse pas les limites convenues. – Laissezvous conduire, suivez la fille de l’air dans ses demeures que couvre un vert feuillage.“184
Die Verlockung der Sylphide (ins Blätterreich des Buches oder ins Blätterreich des Bühnenbilds im zweiten Akt) zu folgen bedeutet – für den männlichen Protagonisten wie für den (männlichen) Zuschauer, den er vertritt – die gewohnten Bereiche der Vorstellungskraft zu verlassen. Gemeinsam mit der Sylphide das grüne Blattwerk zu betreten, bedeutet nicht nur, mit ihr in die Wald-Szene des zweiten Akts (oder mit der Ondine in die Korallengrotte) einzusteigen,185 sondern auch einen Medienwechsel vom Tanz in die Literatur (bzw. in die literarische Tanzbeschreibung) und einen Wahrnehmungs-
183 Chasles: „Notice sur Ondine“, S. 4 f. 184 Janin: „Notice sur La Sylphide“, in: ders., Théophile Gautier, Philarète Chasles: Les Beautés de l’Opéra, Paris 1845, S. 10. 185 Das Bühnenbild des zweiten Aktes ist ähnlich atmosphärisch beschrieben wie die Korallengrotte in Ondine. Janin bedient sich hier wieder der literarischen Vorlage von Charles Nodiers und paraphrasiert eine Passage aus Trilby: „Peu à peu, à mesure que vient le jour (c’est toujours Nodier qui parle), les vapeurs du lac élargissent les losanges flottantes de leurs réseaux de brouillard; celles que le brouillard n’a pas encore dissipées se bercent sur l’occident, comme un trame d’or tissée par les fées du lac pour l’ornement de leures fêtes. C’étaient de petits nuages humides, où l’orangé, le jonquille, le vert pâle, luttaient, suivant les accidents d’un rayon ou le caprice de l’air, contre l’azur, le pourpre et le violet. Tout se confondait dans une nuance indéfinissable et sans nom… Alors arrive la reine majestueuse de ces rivages; elle sort de ces grottes enchantées où l’on marche sur des tapis de fleurs marines, à la clarté des perles et des escarboucles de l’Océan.“ Janin: „Notice sur la Sylphide“, S. 12 f. Bei Nodier ist die Stelle etwas ausführlicher, vgl. Charles Nodier: „Trilby“, in: ders.: La Fée aux Miettes. Smarra. Trilby, Paris 1982, S. 98 f.
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wechsel vom Sehen zur Imagination mitzuvollziehen. Der Leser/Betrachter wird eingeladen, der Sylphide in die arabesken Blatt- und Rankenornamente am Rand der Buchseite, wie auch in das Blätterwerk des Buches überhaupt zu folgen. Denn dort, im arabesken Rahmen der Seite, schaut die Sylphide aus dem ornamentalen Blattwerk heraus (Abb. 37).186 Der Fantasiebereich, den die Sylphide bewohnt, ist somit nicht nur der fantastische Bereich des zweiten Akts, sondern auch die Grenzregion des Textes, in die der (in diesem Fall implizit männliche) Leser/Betrachter eingeladen wird, zu folgen und sich dort fantasierend zu verlieren. Die Arabeske bereitet bzw. ermöglicht dabei als (abstraktes) poetisches Prinzip den Übergang zwischen diesen Genres und Welten, wie ihr Fortspinnen in der Vorstellung. Sie exemplifiziert diese Prinzipien darüber hinaus als konkrete Bildformel in der Illustration. Arabesken verbinden Text und Bild und laden den Betrachter und Leser ein, den Geisterfiguren in den Text und dessen ornamentalen Umraum folgen und das dort Beschriebene und Dargestellte in der Fantasie weiterzuführen. Es ist dabei bemerkenswert, wie wenig die Beschreibungen der Ballettwerke in den Beautés auf die Choreografie eingehen. Jules Janin, Théophile Gautier und Philarète Chasles konzentrieren sich eher auf einen generellen Eindruck der Bewegungen, ihre Beschreibungen bleiben dabei metaphorisch und poetisch. In seiner Darstellung der Bewegungen der Sylphide verzichtet Janin weitestgehend auf technisches Vokabular und skizziert stattdessen seinen Eindruck mit einer Reihe von Adjektiven und Vergleichen: „[La Sylphide] marche comme l’oiseau vole, elle est tremblante; elle arrive, dansant à la fois comme les Grâces, sautant comme les nymphes, d’un pas doux et léger. Étaitelle, en effet, assez charmante et gracieuse et naïve? Elle arrivait sur la pointe du pied, elle se balançait gracieuse, jetant son corps tantôt à droite, tantôt à gauche. Vous la voyez, elle vous échappe, coquette, malicieuse, naïve, nymphe et lutin, tout l’esprit du rôle; le récit et l’analyse n’ont que faire en tout ceci; Charles Nodier lui-même, l’écrivain charmant et railleur, n’est plus rien, comme poëte, à côté de mademoiselle Taglioni; il n’a plus qu’à admirer, à applaudir.“187
186 Zur Darstellungstradition von Sylphen im Blattwerk vgl. die entsprechenden Beispiele in Beaumont, Sitwell: The Romantic Ballet in Lithographs of the Time, Abb. 6, S. 155 und Abb. 11, S. 164. 187 Janin: „Notice sur La Sylphide“, S. 7
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Abbildung 37: Die Sylphide im Blattwerk
Chasles, Gautier, Janin: Les Beautés de l’Opéra, Paris 1845.
Weder Kritiker noch Dichter können dem Vergleich mit der Tänzerin Taglioni standhalten, denn sie – so Chasles – sei die wahre Poetin.188 Ihre (tänzerische) Poesie ist jedoch flüchtig und kann daher weder im Text noch in ein-
188 Die Balletterzählung wie dessen literarische Vorlage geben nur den Rahmen für Taglioni: „Trilby et la Sylphide, c’est la même ballade; qui dit l’un, dit l’autre. Trilby, c’est la chant du poëte; la Sylphide, c’est le cadre du tableau; mademoiselle Taglioni, c’est la poésie, c’est l’image, c’est l’idéal.“ Janin: „Notice sur La Sylphide“, S. 4.
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zelnen Bildern wiedergegeben werden, sondern erscheint nur als Abwesendes in Metaphern und Hyperbolen. Christina Thurner hat diese Stilmittel der literarischen Ballettkritik des 19. Jahrhunderts als Poetisierung und Idealisierung beschrieben. Romantische Ballettkritik, zu dessen wichtigsten Vertretern Janin und Gautier gehören, fokussiert die Wahrnehmung der Zuschauenden und den Effekt des Tanzes und vernachlässigt die Bewegung. Mithilfe „dynamischer Emphase“, die Thurner als „performativen Akt des Sichtbarmachens, des ZurAnschauung-Bringens“189 definiert, wird der Tanz in den Text übertragen: „Gemalt wird mit Metaphern der Bewegung, die den Eindruck des leichten Schwebens sowie des Irisierens vermitteln sollen.“190 Die Übertragung zielt darauf, den poetischen Effekt, den die Aufführung beim Zuschauer und Kritiker erzeugt, im Text wiederzugeben und in der Fantasie der Lesenden zu wiederholen. Hinsichtlich der Beautés de l’Opéra lässt sich Thurners Beschreibung um die Ebene der Bildlichkeit erweitern, die hier als Drittes zu Text und Tanz hinzutritt. Dieses erweiterte Verhältnis lässt sich nicht als metaphorische Übertragung fassen, sondern ist eine arabeske Übertragung – eine Übertragung, die ihren Gegenstand im Wechsel zwischen den Medien verwandelt und sich in den Lücken und Zwischenräumen ausbreitet. Da er selbst ornamental ist, ist der Tanz in der Fantasie, zwischen den einzelnen Elementen auf der Seite, wie zwischen den Seiten dieses Albums, im Ornament bewahrt. Diese mediale (speichernde, aufbewahrende) Funktion des Ornaments beschreiben die beteiligten Autoren der Beautés de l’Opéra in einer Art Bibliotheksfantastik.191 Im Prospectus dieses Keepsake-Albums beklagt sich Théophile Gautier, dass die féerien der Oper und des Balletts, im Gegensatz zu
189 Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen, S. 163. 190 Ebd., S. 164. 191 Michel Foucault hat diesen Begriff geprägt: „Das 19. Jahrhundert hat eine Region der Einbildungskraft entdeckt, deren Kraft frühere Zeitalter sicher nicht einmal geahnt haben. Diese Phantasmen haben ihren Sitz nicht mehr in der Nacht, dem Schlaf der Vernunft, der ungewissen Leere, die sich vor der Sehnsucht auftut, sondern im Wachzustand, in der unermüdlichen Aufmerksamkeit, im gelehrten Fleiß, im wachsamen Ausspähen. Das Chimärische entsteht jetzt auf der schwarzen und weißen Oberfläche der gedruckten Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band, der, geöffnet, einen Schwarm vergessener Wörter entläßt […].“ Michel Foucault: „Nachwort“, in: Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius, Frankfurt/Main 1996, S. 217-251, hier S. 221 f.
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den Werken des Malers, Dichters oder Komponisten, ohne Spur blieben – ihre Dekorationen, Kostüme, und Festzüge „disparaissent sans laisser de trace.“ 192 Ihr ganzer Luxus würde im Staub der (Kulissen- und Kostüm-)Magazine begraben, wie auch die performance des Sängers und der Tänzerin (sic!) auf ewig verloren sei: „L’œuvre du chanteur et de la danseuse s’évanouit tout entière avec eux […].“193 Um diesem Verlust entgegenzuwirken, haben die Autoren und Herausgeber dieses Buch konzipiert, als „livre qui serait à la fois un libretto, un feuilleton et un album, où la gravure viendrait en aide au texte et le texte à la gravure; où l’on verrait, à l’angle d’une page, dans une tête de lettre, le long d’une justification, se dessiner une décoration, une marche, un costume, quelque détail curieux et caractéristique de l’ouvrage.“194
Die Souvenir-Funktion dieses Buches verorten die Autoren in der Anordnung unterschiedlicher Medien auf einer Seite. In den Übergängen zwischen ihren einzelnen Elementen wird ein Aspekt, der den Herausgebern besonders wichtig ist, betont: der Luxus (‚luxe‘) und die verschwenderischen Reichtümer (‚richesses prodiguées‘) dieser Werke. Bénédicte Jarrasse beschreibt, wie in den Beautés de l’Opéra die „féerie inhérente au spectacle romantique est recréée et se transforme en un poétique du merveilleux et de la fantaisie.“195 Diese Transformation ist insofern eine fantastische Operation, da die Materialität (bzw. Medialität) dieses Buches und seine Form (bzw. Anordnung) wiederum die Fantasie der Lesenden/Betrachtenden anregen, die „fantaisies de la plume et du crayon“196 der Beautés, wie auch die Auslassungen und Lücken zwischen Illustration und Beschreibungen zu vervollständigen, zu ergänzen und imaginär weiterzuführen. Jarrasse bezeichnet diesen Modus als palimpsestartig: „L’imaginaire du ballet se construit alors, à la manière d’un palimpseste, à partir d’une poétique du cliché et du souvenir artistique. Matériel, le décor se fait idéal. On
192 Théophile Gautier: „Les Beautés de l’Opéra“, in: ders.: Souvenirs de théâtre, d’art et de critique, Paris 1903, S. 69-71, hier S. 69. 193 Ebd., S. 70. 194 Ebd., S. 70. 195 Jarrasse: „Les Beautés de l’Opéra“, S. 210. 196 Théophile Gautier: „Reprise de la Sylphide. Rentrée de Mlle. Taglioni“, in: La Presse, 3.06.1844, S. 1.
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entre là dans une dimension qui n’est plus celle de la recomposition archéologique du ballet, mais bien celle du fantasme littéraire autour du ballet.“197
Das décor, in seiner Mehrdeutigkeit als Bühnenbild, Schmuck und Zierrat, ist dabei das ideale Material, um die literarische (und optische) Fantasie in Gang zu setzen, auf der das Souvenir der Beautés beruht – und das Ornament ist ideales Medium dafür. Es ist zentrales Mittel der Anordnung und Komposition; Janin beschreibt das Buch als „enguirlandées“.198 Die Erinnerung, das souvenir dieser Ballettwerke und dessen fantastische Weiterführung geht von den Ornamenten aus und siedelt sich im Übergang zwischen Text, Illustration und Rahmung an, denn dort findet es seinen Ort, seine adäquate Aufzeichnungsform. Das Ornamentale dieser Ballette kann nur im Ornament des Buches aufgezeichnet werden. Diese Aufzeichnung notiert jedoch nicht nur das Fantastische dieser Werke, sondern ihr Palimpsestcharakter lädt zur fantastischen Weiterführung in der Fantasie der Lesenden/Betrachtenden ein.
L ETZTE A RABESKEN (F ANNY E LßLER ) In den Beautés de l’Opéra dient das Ornamentale des Buches nicht nur zur Erinnerung oder als Souvenir ästhetischer Qualitäten des Werks, sondern funktioniert selbst fantastisch und regt die Betrachtenden an, das Ballett in ihren Köpfen wiederauf- und weiterzuführen. Neben solchen Keepsakes gibt es eine ganze Reihe von Sammelobjekten, die weniger die Werke als die Tänzerinnen selbst in den Vordergrund stellen.199 Der Star-Kult dieser Zeit vollzieht sich in einer großen Medienöffentlichkeit, findet aber seine private Entsprechung in (mehr oder weniger) seltsamen Sammelobjekten und Devotionalien. Die Zigarettenspitzen, Seifen-
197 Jarrasse: „Les Beautés de l’Opéra“, S. 211. 198 Jules Janin: „La Semaine Dramatique“, in: Journal des débats, 9.12.1844, S. 3. 199 Zur Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert, in der das Andenken im dinglichen Erinnerungsmedium als „eigenständige Gedächtnisform, als intime Innenseite von Denkmal und Museum, diskursfähig wird“, vgl. Anna Ananieva, Christiane Holm: „Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit“, in: Andreas Beyer, Helmut Gold, Günter Oesterle, Ulrich Schneider (Hg.): Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Ausstellungskat., Frankfurt/Main 2006, S. 156-172, hier S. 159.
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dosen, Schreibtischgarnituren, Kerzenständer, Tassen oder Porzellanfiguren, die nach berühmten Tänzerinnen (oder ihren Füßen) gestaltet sind, entstammen Grenzregionen der Ästhetik, wie Kitsch oder Fetischismus.200 Gabriele Brandstetter hat auf die Verdinglichung des Körpers der Ballerina hingewiesen, dessen Flüchtigkeit im fetischisierten Fuß aufbewahrt wird.201 In den Sammelobjekten wird jedoch nicht nur die choreografische Ästhetik des frühen 19. Jahrhunderts metonymisch bewahrt, in ihm sind auch biografische Verweise arabesk eingeflochten. Im Folgenden sollen daher einige solcher Souvenir-Objekte von Fanny Elßler, die wie ihre Zeitgenossin Marie Taglioni Gegenstand einer obsessiven Verehrung war, unter dem Aspekt des Ornamentalen betrachtet werden. Wie die Figuren, die sie verkörpert, ist auch die Tänzerin Elßler selbst Objekt einer Fantasie. Memorabilia sind die Spekulationsobjekte in dieser Ökonomie der Bewunderung, die wiederum in Karikaturen kommentiert wird. Ihren größten Erfolg feiert Fanny Elßler mit der Cachucha, einem spanischen Tanz, den sie zum ersten Mal 1836 in der Rolle der Florinde in Le Diable Boiteux tanzt. Die Handlung dieses Balletts ist verwirrend: der junge Student Cléophas befreit den Teufel aus einer Flasche und zum Dank beschwört dieser für ihn auf einem Maskenball in der Oper die reiche Witwe Dorotea, die Tänzerin Florinde und das Arbeitermädchen Paquita. Der zweite Akt ist ganz dem Ballett gewidmet. Mit Hilfe des Teufels schaut Cléophas der Tänzerin Florinde bei ihren Proben, einer (abgebrochenen) Aufführung und einem privaten Auftritt, bei dem sie die berühmte Cachucha präsentiert, zu. Der dritte Akt schürt neue Verwirrungen und führt am Ende verschiedene Paare zusammen.202
200 Eine Reihe dieser Objekte sind aufgelistet in Janina Weißenböck: Fanny Elßler Materialien, Wien/Köln/Weimar 1984; sowie in Sowell, Sowell, Falcone, Veroli (Hg.): Il Balletto Romantico. 201 Brandstetter: „Geisterreich“, S. 234. 202 Ingrid Brainard: „Le Diable Boiteux“, in: Carl Dahlhaus (Hg.): Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 1, München/Zürich 1986, S. 613-614; für einen Vergleich mit der lit. Vorlage und einer Einbettung in den historischen Kontext vgl. Joellen Meglin: „Le Diable Boiteux. French Society behind a Spanish Facade“, in: Dance Chronicle 17/3 (1994), S. 263-302. Dieses Ballett ist auf szenische Effekte angelegt, die (verwirrende) Handlung ist mit zahlreichen Zeitanspielungen versehen und bietet den nötigen Anlass zu häufigen Szenenwechsel.
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Fanny Elßlers Rolle in Le Diable Boiteux lässt sich ebenso unter biografischen, wie unter choreografischen Gesichtspunkten betrachten, denn das Ballett von Jean Coralli mit Musik von Casimir Gide nach dem fantastischen Roman von Alain-René Lésage handelt zum großen Teil vom Privat- und Arbeitsleben einer Tänzerin. Der gesamte zweite Akt zeigt das Theater aus der Perspektive der Bühnenschaffenden und ihrer Bewunderer. 203 Das zweite Bild mit der großen corps de ballet-Nummer spielt während einer Vorstellung, das Publikum blickt jedoch aus den Kulissen auf den Tanz und wird so mit seiner eigenen Perspektive konfrontiert.204 Joellen Meglin vergleicht diesen umgekehrten Blick auf den Tanz mit den sogenannten weißen Akten, die sonst diese Stelle in der Dramaturgie einnehmen: „In Act II the devil and his powers unveil that bizarre ‚other‘ realm of fantasy that was typical of the second act in so many ballets of the period. In this ballet, however, the other realm is backstage at the Madrid (read Paris) Opera. Now it is the physical contortions of ballerinas that create the aura of the exotic, the unnatural, the strange. The second act of the ballet allows the spectator to peek into closed spaces, places where the general public was not admitted, and to observe the ballet from privileged vantage points.”205
Die Szene der Cachucha206 in Le Diable Boiteux spielt in den Privaträumen der Tänzerinnen, in denen sie ihren (männlichen) Bewunderern eine private
203 Die Probe im ersten Bild des zweiten Akts ist im Foyer de la Danse verortet, das Louis Véron in seinem Direktoriat einer ausgewählten, zahlenden Öffentlichkeit zugänglich machte und damit eine Form der persönlichen Bewunderung institutionalisierte. Zum Foyer de la Danse vgl. Fn. 230 von Kap. 3. 204 Wie das Bühnenbild diese Aufgabe konkret gelöst hat ist unklar, da nur Zeichnungen anderer Szenen überliefert sind. Das Libretto sieht für diese Szene ein gefülltes Auditorium vor. Meglin: „Le Diable Boiteux. French Society behind a Spanish Facade“, S. 272. 205 Ebd., S. 270. Auch wenn Le Diable Boiteux eigentlich in Spanien spielt wurde der zweite Akt als Selbstporträt der Pariser Opéra wahrgenommen. Zur Rezeption von Le Diable Boiteux vgl. die Analyse der Kritiken in Nicole Haitzinger, Claudia Jeschke, Gabi Vettermann: Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts, München 2010, S. 429-452. 206 Zum Kontext der ‚Hispomania‘ vgl. Lisa C. Arkin: „The Context of Exoticism in Fanny Elssler’s ‚Cachucha‘“, in: Dance Chronicle 17/3 (1994), S. 303-325; Jeschke, Vettermann, Haitzinger: Interaktion und Rhythmus, S. 200 ff. und S. 341-
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Vorstellung gibt. Die Cachucha ist in diesem Ballett eine vom Handlungszusammenhang frei konzipierte Bravournummer, die der Tänzerin Florinde dient, ihr Können vor Publikum auszustellen.207 Eine persönliche Bravournummer wird die Cachucha auch für Fanny Elßler, die in der Rolle der Florinde ihren größten Erfolg feiert. Im 19. Jahrhundert entwickelt sich eine regelrechte Souvenir-Industrie. Das verbreiteste Medium zum Andenken an berühmte Tänzerinnen und ihre Erfolge ist dabei die Lithografie, die sowohl zur Verehrung dient, wie diese auch ironisch kommentiert. Dieses Druckverfahren löst zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen rasanten Anstieg in der technischen Reproduktion von Bildern aus, ist somit Kernbestandteil der visuellen Kultur dieser Zeit und befriedigt das Bedürfnis nach Abbildungen in kurzer Zeit und großer Auflage:208 „Mit der Lithographie erreicht die Reproduktionstechnik eine grundsätzlich neue Stufe. Das sehr viel bündigere Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheidet, gab der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem) sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Graphik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten.“209
352; sowie dies.: Les Choses Espagnoles. Research into the Hispanomania of 19th Century Dance, München 2009. 207 Ein narratives Detail aus dem zweiten Akt unterstreicht dies. Florinde bricht die Vorstellung in der Vorstellung unter dem Vorwand eines angeblich verstauchten Fusses ab, da das Solo ihres Partners vom (intradiegetischen) Publikum mit mehr Applaus bedacht wird, als ihr eigenes. Das reale Publikum der Pariser Oper identifiziert sich sodann mit der kleinen Gruppe der Conaisseurs, vor dem Florinde ihr Solo im Privaten zeigt. 208 Zur Geschichte des Verfahrens Lithografie vgl. Hans-Jürgen Imiela: Stein- und Offsetdruck. Geschichte der Druckverfahren Teil IV, Stuttgart 1993. Für einen Überblick der Publikationskultur des 19. Jahrhunderts und der Rolle der Bilder, vgl. Werner Faulstich: Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (18301900), Göttingen 2005, bes. S. 108-144. 209 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Zweite Fassung), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1,2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1974, S. 471-508,
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Das Medium Lithografie eignet sich – neben zeitnaher Wiedergabe des Tagesgeschehens – daüber hinaus um freie Übergänge zwischen Text- und Bildelementen zu gestalten und mit ihrem feinen Strich die ästhetischen Qualitäten des Balletts im 19. Jahrhundert, wie Leichtigkeit, Grazie, Zartheit und Durchsichtigkeit, zu reproduzieren. Barbara Romankiewicz nennt die Lithografie daher das „perfekte Ausdrucksmedium“ der „romantischen“ Ballettästhetik: „Das romantische Ballett und seine zartgliedrigen, überirdischen Wesen in schwebenden Posen […] ließen sich am überzeugendsten mit den der Lithographie eigenen weichen Linien und Farbnuancen darstellen.“210 In der gängigen tanzhistorischen Forschung werden Lithografien von Tänzerinnen meist in eine künstlerische (oder auch private) Biografie eingeordnet, um diese zu illustrieren oder „anschaulich zu machen“,211 ohne dabei die ästhetischen Eigenheiten des Mediums Lithografie selbst in den Blick zu nehmen. Viele Lithografien stellen Tänzerinnen schwebend oder fliegend dar, und streben somit keine wahrheitsgetreue Wiedergabe der Szene an, sondern geben den Effekt, den diese erzielt, wieder.212 In diesem Sinne lassen sich nun auch ornamentale Kompositionen dieser Lithografien nicht nur als Akzidenz wahrnehmen, sondern als ‚Ausdruck‘ oder Übersetzung der Ballettästhetik im frühen 19. Jahrhundert verstehen. Die Souvenirlithografie ist darüber hinaus Grundelement jener Ökonomie der Verehrung, die den Ruhm von Tänzerinnen wie Elßler im 19. Jahrhundert erzeugt, sie ist Teil
hier S. 474. Der Verlust der Aura, den Walter Benjamin mit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks assoziiert, berührt diese Form der Gebrauchsgrafik jedoch nicht, da sie – wie Ikonen – für die private Kontemplation vorgesehen sind und ihre Funktion gerade in der massenhaften Vervielfältigung besteht. 210 Romankiewicz: „Zur Ikonographie Marie Taglionis und deren Bedeutung für die Druckgraphik des 19. Jahrhunderts“, S. 137. 211 Ebd., S. 138. Fragen der Autorzuschreibung und Datierung beschäftigen George Chaffee: Three or four Graces, für weitere Literatur vgl. Fn. 175 dieses Kap. 212 In einem der ersten Texte zu Ballettdrucken weist Cyril W. Beaumont bereits auf so eine poetische Verfälschung hin, ohne dieser jedoch nachzugehen. „Most artists represent the dancer as possessed of an abnormally small and beautifully shaped foot, a statement not altogether in agreement with fact; again, the feet are sharpened like a lead pencil and actually would provide a quite impracticable base for a ‚point position.‘ Yet perhaps such little falsifications in the interests of the ideal are something to be grateful for, since the dancer’s foot is rarely beautiful.“ Cyril W. Beaumont: „Some Prints of the Romantic Ballet“, in: The Print Collector’s Quarterly 18/3 (Juli 1931), S. 220-243, hier S. 223.
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einer Dingkultur und verstärkt in ihrer massenhaften Verbreitung die Nachfrage nach dem Original und lässt die Auftritte von Fanny Elßler so zu einem spektakulären, erhabenen Ereignis in der Wahrnehmung der Zuschauer werden. Die meisten Rollenporträts zeigen Fanny Elßler als Florinde, mit Kastagnetten in der Hand und im charakteristischen rosafarbenen Kostüm mit goldenen Borten und schwarzem Spitzentüllbesatz. Ihre Pose variiert dabei in der Dynamik von großer Bewegtheit bis zu statischer Ruhe. Ornamente sind in diesen Lithografien omnipräsent. Dagegen ist die ornamentale Pose des Balletts, die Arabeske, nur selten Gegenstand der Darstellung. Das Ornament findet sich dafür in vielen anderen Bereichen: in Kleidern, Möbeln oder auch bildinternen Rahmungen. Das Stahlstich-Porträt von Elßler zu Beginn des Diable Boiteux-Abschnitts in den Beautés de l’Opéra verdient eine genauere Betrachtung. Der Bildrahmen, der das knielange Porträt umfasst (die sonst stark fetischisierten Füße sind hier ausgespart), erinnert besonders in der oberen Kartusche und in einigen Verschlingungen in der unteren Leiste an ‚maureske‘ Verzierungen.213 In der unteren linken Ecke des Bildes lassen sich feine Übergänge zwischen Rahmen und Figur im Ornamentalen studieren. Auf engem Raum sind dort drei verschiedene Materialisationen des Ornaments nebeneinandergestellt: der Bilderrahmen, das florale Muster des Spitzenvolants am Rock214 und Elßlers grazil gespreizte Finger. Auch wenn der Bilderrahmen und der Spitzenbesatz unterschiedlichen Ornamentstilen entstammen, treffen sich diese drei Ornamente in der geteilten Darstellungsebene der Zeichnung in einem abstrakten Konzept des Ornamentalen, das einerseits ein Verschlingen (entrelacer) ist, wie auch ein Sprießen oder Abspreizen.
213 Damit wird durch das paradigmatische Beispiel dieser Verzierung – die Alhambra – auch auf den andalusischen Ursprung der Cachucha, die aus Cadiz stammt, verwiesen. Owen Jones bezieht im Grammar of the Ornament alle Beispiele für das ‚maurische‘ Ornament aus der Alhambra. 214 Es handelt sich dabei um die in Spanien beliebte schwarze Chantilly-Spitze und nicht um ‚echte spanische Spitze‘, vgl. „Spanische Spitze“, in: Gisela GraffHöfgen: Die Spitze. Ein Lexikon zur Spitzenkunde, München 1983, S. 206. Das Cachucha-Kostüm des Österreichischen Theatermuseums, das einzig mir bekannte erhaltene Originalkostüm der Fanny Elßler, ist mit Seidenmaschinentüllspitze besetzt.
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Abbildung 38: Stahlstich von Fanny Elßler im Cachucha-Kostüm
Chasles, Gautier, Janin: Les Beautés de l’Opéra, Paris 1845.
Wie im dritten Kapitel erörtert, lässt sich das Ornament als Liniengeflecht in den Körper übertragen und erscheint dort als stilistische Feinheit oder graziles Detail.215 Die gespreizten Finger von Fanny Elßler sind eine solche Verkörperung des Ornaments, die für eine große Öffentlichkeit im StahlstichPorträt von Fanny Elßler festgehalten ist. Die Grazie hat sich – mithilfe des
215 Vgl. dazu auch die Feuilletonkritiken, in denen Elßler mit den Tänzerinnen von Herculaneum verglichen wird, siehe S. 86 ff. dieser Arbeit.
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Ornaments, das sie umgibt – von ihrem Tanz auf die Person Elßler übertragen: jede Blumenspitze zeugt von ihrer Anmut. Tänzerinnenporträts, als Einzeldrucke, in Serien oder Alben, stellen jedoch nur einen Anwendungsbereich der Lithografie im größeren Feld der Ballettkultur dar. Auch Musiktitel, besonders solche, die Melodien aus beliebten Balletten für den Ballgebrauch adaptieren, werden im 19. Jahrhundert mit Motiven aus Ballettwerken verziert: „Once and once only have music title illustrations played a major role in the history of ballet prints – during the era of the handdrawn art lithographs and of the Romantic Ballet, in the half-century that lies between 1820-1870.“216 Solche Titelblattkonstruktionen sind Variationen einer populären Form. Werner Busch hat das Kunstprinzip der Arabeske als eine für das 19. Jahrhundert typische Reflexionsform beschrieben, die in der Darstellungsweise das Dargestellte kommentiert.217 In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ist, wie Busch ausführt, dieses Ornamentmotiv zur häufigsten Form der Gebrauchsgrafik aufgestiegen und findet auf Meisterbriefen, Urkunden, Firmensignets, Firmenbriefpapieren, Warenwerbung, Plakaten und Aktienbriefen Verwendung.218 Die Titelblattgestaltung des 19. Jahrhunderts aktiviert dabei ein reflexives Potenzial der Arabeske, das in barocken Titelblättern und der RenaissanceArabeske vorgeprägt wurde. Busch zeigt an verschiedenen Titelblättern von Eugen Napoleon Neureuther und Adolph Menzel, wie die Arabeske auf-
216 Chaffee: American Romantic Ballet Music Prints, S. 195. In Chaffees Katalog amerikanischer Titel ist Fanny Elßler mit über 40 Lithografien das häufigste Motiv. Im Musikalienhandel fand die Lithografie einen ihrer größten Anwendungsbereiche, da das Verfahren den Notendruck beschleunigt, den Wechsel zwischen Noten und Text erleichtert und eine werbewirksame Gestaltung des Titelblatts ermöglicht. Michael Twyman beschreibt sowohl die Geschichte dieses Verfahrens, wie auch dessen Anwendung im Notendruck und geht kurz auf die Titelgestaltung ein. Michael Twyman: Early lithographed music. A Study based on the H. Baron collection, London 1996. Vgl. außerdem Richard Schaal: Musiktitel aus fünf Jahrhunderten. Eine Dokumentation zur typographischen und künstlerischen Gestaltung und Entwicklung der Musikalien, Wilhelmshaven 1972. 217 Werner Busch: Die Notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985; Werner Busch: „Umrißzeichnung und Arabeske als Kunstprinzipien des 19. Jahrhunderts“, in: Regine Timm (Hg.): Buchillustration im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1988, S. 117-148. 218 Busch: Die Notwendige Arabeske, S. 128.
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grund ihrer Struktur „geradezu prädestiniert [ist], die verschiedensten Formen der Reflexion zu entwickeln“.219 Arabesken können dabei komplexe historische Situationen schildern220 wie auch die „Relativität jeweiliger Positionen kritisch […] reflektieren“.221 In verschiedenen Ballett-Lithografien findet sich dieses Potenzial der Arabeske, eine Geschichte zu erzählen und diese gleichzeitig zu ironisieren oder zu kommentieren, verwirklicht. Bereits die Titelblätter, die in den Beautés de l’Opéra die einzelnen Sektionen einleiten, können als arabeske Kompositionen aufgefasst werden, die die Geschichte des jeweiligen Balletts verschlungen im Rahmen wiedergeben. Aber auch einzelne Blätter bedienen sich dieser Möglichkeit, u.a. um Fanny Elßlers Biografie zu kommentieren. Ein Blatt, das bei „Meyer’s Kunstverlagshandlung“ in Berlin erschienen ist, 222 erzeugt mithilfe einer arabesken Bildkomposition eine Satire auf Elßlers Karriere. Das Blatt hebt den ökonomischen Aspekt ihrer Kunst hervor, die laut Bildunterschrift auch darin bestehe „jeden Abend 60 L’dor’s zu verdienen“ (Abb. 39). Das Blatt, das mit Fanny. La Fée du siècle überschrieben ist, zeigt Elßler in échappé sur les pointes, mit je einer Fußspitze in New York und Paris, wie sie den Atlantischen Ozean überbrückt und in jeder Hand einen Sack mit Geld hält.223 Die Arabeskenfelder, die das ganze Bild rahmen, stellen – unterlegt mit karikierenden Untertiteln – ihre Karriere als Geschäftsunternehmen dar.
219 Busch: „Umrißzeichnung und Arabeske als Kunstprinzipien des 19. Jahrhunderts“, S. 147. 220 Wie in Neureuthers ‚szenischen Arabesken‘ um drei französische patriotische Liedtexte von 1831. Busch: Die notwendige Arabeske, S. 66-75. 221 Ebd., S. 75. Busch zeigt diesen Aspekt an Adolph Menzels Titelblattentwurf zum dritten Band von Athanasius Graf Racynskis Geschichte der neueren deutschen Kunst auf. Ebd., S. 75-89. 222 Das Blatt ist undatiert, das Österreichische Theatermuseum schätzt es auf 1845. 223 Auf beiden Seiten des Ozeans wurde Elßler nicht nur verehrt, sondern auch verspottet. Zur amerikanischen Rezeption vgl. die Sammlung von Faksimile von Allison Delarue: Fanny Elssler in America. Comprising seven Facsimiles of rare Americana, New York 1976.
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Abbildung 39: Karikatur von Fanny Elßler
Anon. Lithografie, ca. 1845, Österreichisches Theatermuseum Wien.
Die Bilder spielen auf die verschiedenen Affairen an, die Elßler angedichtet wurden, stellen sie als „danseuse des hommes“224 dar und zeigen ihren Tanz als spektakuläres Schaustück mit geringem künstlerischen Gehalt: der ‚Ursprung der Cracovienne‘ wird als Tanzbärendressur dargestellt, die ‚Recensenten‘ als ‚geschmiert‘ und ihr Publikum als gaffende Männer. Ein Medaillon in der oberen rechten Ecke stellt Elßler in eine Reihe mit George Washington und Napoleon und analogisiert ihre europäischen und amerikanischen Tourneen so mit imperialistischen Eroberungszügen.
224 Théophile Gautier: „Reprise de La Sylphide“, in: La Presse, 24.09.1838, S. 1.
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Dieses Blatt reflektiert und ironisiert die Gattung der Tänzerinnen-Lithografie, die – wie die Musiktitel – in der Regel sonst Huldigungsblätter sind.225 Die Arabeskenfelder zeigen verschiedene Szenen der ‚Huldigung‘. Die Lithografie als Genre, das die Verehrung von Elßler (maßgeblich) mit antreibt, kritisiert so selbst diese Popularitätsmaschine, mit einem Reflexionspotenzial, das eben nur die Arabeske besitzt. „Du sublime au ridicule / il n’y a qu’un pas“226 heißt es im Motto des ersten Arabeskenfeldes dieser Karikatur. Zwischen Verehrung und Verachtung liegt nur ein kleiner Schritt, eine Nuance in der Arabeske. Ihre vollständige Objektifizierung als Starpersona erfährt Fanny Elßler schließlich in den kleinen Statuetten, die von ihr angefertigt wurden.227 Die bekannteste von ihnen ist die Figur von Jean-Auguste Barre. Sie wurde zuerst in Gips modelliert, in Bronze gegossen, und anschließend als Porzellanfigur vervielfältigt.228 Elßler trägt ihr Cachucha Kostüm, eine Blume hinter
225 Das österreichische Theatermuseum besitzt verschiedene solcher Huldigungsblätter, wie z.B. ein italienisches Gedicht aus den 1840er Jahren, das mit feinem Golddruck verziert ist, wie auch eine Sondernummer der Wiener Zeitung zu Elßlers Bühnenabschied, die auf Seide gedruckt und mit Goldborte verziert ist. 226 Herv. i.O. 227 Solche oft an der Grenze zum Kitsch und Kunstgewerblichen stehenden Tänzerinnenfiguren bilden ein bisher noch wenig beachtetes Untersuchungsgebiet. Allison Delarue hat begonnen, die Geschichte von Ballettfiguren aus Porzellan zu schreiben: Allison Delarue: „Ballet Figurines in Porcelain“, in: Dancing Times (November 1973), S. 89-93. Ein Katalog aus dem Berliner Bröhan-Museum ergänzt dies um Beispiele aus dem 20. Jahrhundert, Jan Stanisław Witkiewicz, Ingeborg Becker: Tanzende Figuren aus den Sammlungen Alain Bernard und Vladimir Malakhov, Berlin 2009. 228 Die Porzellanfiguren sind meist koloriert: schwarze Spitze auf hellrosa Kleid, nur Elßlers Bein bleibt weiß. Die Staatliche Porzellan-Manufaktur Meissen produziert diese Figur noch heute in einer limitierten Auflage. Laut Sylvia Braun, wissenschaftlicher Mitarbeiterin der historischen Sammlungen der Porzellan-Manufaktur, wurden ab 1836 sowohl Tänzerinnen-Figuren von Fanny Elßler (als Florinde) wie von Marie Taglioni (als Sylphide) ausgeformt (Mail an den Verfasser vom 3.05.2012). Die Schwarzweiß-Abbildungen aus dem historischen Katalog von 1910 indizieren eine andere Farbgebung als die heutige. Karl Berling: Festschrift zur 200jährigen Jubelfeier der ältesten europäischen Porzellanmanufaktur Meissen, Leipzig 1910, S. 91 (Fig. 218). Das Burgenländische Landesmuse-
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dem linken Ohr und hält Kastagnetten in den Händen. Sie steht leicht angewinkelt, der linke Fuß en pointe tendue, als ob sie in einer Drehung anhält. Noch in der Bronzefigur ist der Schwung in den Spitzenvolants ihres Kleids aufgefangen. Die Figur steht zwischen verstreuten Blumensträußen auf einem kleinen Sockel, in den „Fanny Elssler“ eingraviert ist; die Höhe der Figur variiert zwischen 30 und 45 cm.229 George Chaffee beschreibt die BarreStatuen von Fanny Elßler und Marie Taglioni aus der Perspektive des Sammlers: „The Barre statuettes were famous in their own right in their generation and have remained famous ever since, though relatively few people may ever then or today have seen actual examples of the original figurines. […] Any examples of the Barre works in the round (i.e., statuettes, for a number of versions soon appeared) are today rarities; examples of the original Barre figurines are rarissima. We know four sets in bronze – the medium favored survival. But these figurines were first completed and exhibited in plaster, as L’Artiste and various old prints affirm. Our own examples, happily, are in plaster. The two statuettes are both of the same height, a scant 18“. They are signed and dated in the plaster by the artist and carry the oval metal plaque of his atelier embedded in their socle: A BARRE A PARIS. Each still rests upon an inlaid fruitwood stand that swivels and beneath a glass dome, all of Romantic vintage.“230
Interessant ist nicht nur die Seltenheit (und Fragilität) dieser Figuren, sondern Chaffees Beschreibung ihrer ‚romantischen‘ Präsentationsform auf einem geschwungenen Holzstand unter einer Glashaube, denn sie weist auf einen (möglichen) Umgang mit diesen Objekten im 19. Jahrhundert hin. Der Sammler hat diese Figur nicht nur als privates Schaustück in die Wohnung gestellt und in sein Interieur integriert, sondern unter der Glashaube (wie in einem Aquarium) den bewegten Moment einer fantastischen Welt eingefangen.
um Eisenstadt besitzt eine Statue mit weißer Spitze auf grünem Kleid und einer aufgemalten Blumenborte, vgl. die Farbabbildung in Weißenböck: Fanny Elßler Materialien, Kat. Nr. 58, S. 68. 229 Die Fassung in Bronze des Victoria und Albert Museums misst 29 cm, die Porzellanfigur aus Meissen 34 cm, George Chaffee gibt die Höhe seiner Gipsversion mit 18 inch, also ca. 45 cm an. 230 Chaffee: Three or Four Graces, S. 157 f.
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Abbildung 40: Bronzestatue von Fanny Elßler in der Cachucha
Jean Auguste Barre: Fanny Elssler, 1837, Victoria and Albert Museum.
Hiermit ist jedoch das Ende der Beschreibung des Ornamentalen im Ballett des frühen 19. Jahrhunderts erreicht. Denn obwohl in diesen Figuren zentrale Aspekte des Ornamentalen, wie das Verhältnis von Bewegung und dessen Stillstellung, die Dreidimensionalität der Pose und ihre Ableitung aus Statuen, und die ornamentale Grundierung auf einem floralen Grund sichtbar
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werden, profaniert ihr ubiquitärer Einsatz in der Inneneinrichtung die ornamentale Reflexion: „This vogue for figurines of dancers […] was not even limited to the figurines as such. The Romantics went farther than just setting these works up in their houses as ornaments. They adapted them to purely decorative uses, as ‚mounts‘ for clocks, candlestick, and the like.“231
Der künstliche Unterschied, den Chaffee zwischen ornament und decorative use zieht, weist auf die Verschiebung hin, die sich hier vollzieht. Es handelt sich nicht mehr um eine künstlerische Darstellung von Tänzerinnen, die zur Verschönerung des Hauses aufgestellt wird, sondern sie wird zum ‚reinen‘ Dekor in Alltagsobjekten, wie Kerzenständern und Uhren. 232 In diesen Statuen und Objekten wird das ornamentale Potenzial, das im frühen 19. Jahrhundert der einzelnen Figur in einem komplexen Prozess eingelegt wurde, voll realisiert. Die Tänzerin nimmt als chimney ornament einen Warencharakter an, der in ihrer quasi-industriellen Vervielfältigung im corps de ballet und ihrem dekorativen Einsatz in der Architektur des Bühnenbilds bereits angelegt ist. Die Tänzerin wird so Teil einer ‚Phantasmagorie des Interieurs‘, das – folgt man Walter Benjamin – für den Privatmann im frühen 19. Jahrhundert das Universum darstellt: „Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.“233 Die Statuetten von Tänzerinnen wie Fanny Elßler überführen die Fantasien, die ihre Arabesken beim Theaterpublikum auslösen, ins private ‚Welttheater‘ des Salons. Dort ist die Tänzerin im Ornament vollständig habhaft geworden und für immer in ihrer (vormals) grazilen Bewegung eingefroren. Diese Objekte bilden so die abschließende Umkehrung des Verlebendigungsvorgangs, der eingangs an der aus dem Rahmen tretenden Fanny Elßler in Le Délire d’un peintre beschrieben wurde – eine Szene, die ebenfalls in Form eines Porzellanobjekts ins bürgerliche Interieur integriert werden konnte (siehe Umschlag-Abbildung).
231 Ebd., S. 161. 232 Vgl. zum Beispiel das Set von drei ornamentierten Fanny Elßler-Kerzenleuchtern, http://libweb5.princeton.edu/visual_materials/delarue/Htmls/objects.html, zuletzt abgerufen am 23.06.2017. 233 Walter Benjamin: „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ (Exposé), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5,1 hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1982, S. 45-59, hier S. 52.
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Im Privatbesitz des Sammlers, dem „wahren Insassen des Interieurs“,234 erfahren diese Ornamente eine (letzte) Wendung. Die Sammler sind die Archonten der Tanzarchive (ihre Hüter und Begründer), die Souvenirobjekte, wie diese Lithografien oder Porzellanfiguren, aus einem Liebhaberinteresse ansammeln, sie katalogisieren und beschreiben und so die Grundlage zu ihrer Historisierung legen. Neben den (weitaus selteneren) institutionellen Archiven wie dem der Pariser Opéra sind es vornehmlich private Sammler*innen – Lincoln Kirstein, Allison Delarue, Norman Crider, Joseph Cornell, Sacheverell Sitwell, Cyril Beaumont, Derra de Moroda, Debra Sowell – die mit ihren (ornamentalen) Sammlungen den Grundstein für die spätere wissenschaftliche Nutzung der Archive des Tanzes gelegt haben. Die Souvenirobjekte, die einst als Ornament eine private Sammlung geschmückt haben, bilden so nicht nur den Schlusspunkt für diese am Studium (ornamentaler) Quellen ausgerichtete tanzhistorische Untersuchung, sondern ihren trivialen Ursprung.
234 Ebd., S. 53.
6. Schluss
Mit den ornamentalen Dekorationsobjekten, in die sich Fanny Elßler verwandelt hat, ist das Ende einer Übertragung des Ornaments in den Tanz erreicht, die im 18. Jahrhundert mit den Funden der Tänzerinnen von Herculaneum und den antiken arabesken Wandverzierungen ihren Ausgang genommen hat. Im Übergang vom rhetorischen zum ästhetischen Paradigma der Kunst wurde das Ornament, stimuliert von archäologischen Funden, einer Revision unterzogen, die mit etwas Verzögerung im frühen 19. Jahrhundert auch das Ballett erreicht. Die Arabeske bereitet im Tanz, als Bildmodus, der unterschiedliche Elemente integriert und kombiniert, den historischen Übergang von der Naturnachahmung zur Abstraktion, indem sie das Feld der Darstellung gleichsam von innen heraus de-figuriert. Sie ist dabei nicht nur Indiz dieser Veränderung, sondern auch Vehikel (bzw. Motiv oder Muster), mit dem dieser Wechsel gestaltet wird. Carlo Blasis’ ‚Erfindung‘ der Pose Arabeske als Herauslösung einer einzelnen Figur aus einem herculanischen Bacchanal zeigt, dass es ein gewandelter Umgang mit der Antike ist und nicht etwa ein Wechsel der Vorbilder, der diese Veränderung ausgelöst hat. Es ist ein neuer, fantastischer Blick auf die Antike und ihre Aufzeichnungen, der Stilkategorien als grafisch-formalisierte Muster begreift und diese in einem ornamentalen Delirium überall wiederfindet. Der Tänzer*innenkörper wird über Ornament-, Schrift- und Zeichenanalogien zu einem Liniengeflecht abstrahiert, wie die Analyse verschiedener Aufzeichnungsformen gezeigt hat. Mit dem Begriff des Fantastischen lässt sich dabei fassen, wie dieses Delirium gerade in der grafischen Formalisierung des Körpers gründet: der Körper musste Schriftbild werden, um zum Objekt dieser Ornamenthalluzination zu werden. Das Fantastische der Arabeske im Tanz resultiert aus der Verflechtung vegetabiler, ‚orientalischer‘ und antiker Figuren. Ludger Schwarte verbindet
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diese Aspekte in seiner Definition des ästhetischen Begriffs Arabeske als „Fremder, der sich von der Imagination derjenigen nährt, die ihn betrachten“.1 Die Arabeske entwickelt sich zu einem Muster, das wie kein anderes die produktive Fähigkeit der Einbildungskraft abbildet und gleichzeitig anregt, und so auch im Tanz eine „Defiguration im Innern des [ästhetischen] Regimes“2 darstellt, die in ihrer imaginären Aufladung die Figur entgrenzt. Die Pose Arabeske führt das Ballett an die Grenzen der Narration und überschreitet diese von innen. Carlo Blasis’ Definition des Tanzens im Ballett verdeutlicht dieses Paradox: „In a Ballet the dance should partake of the plot and interest of the piece, at the same time that it becomes an ornament to it.“3 Die Arabeske ist – als Symbol des Schwebens und Fliegens, des Begehrens und der Sehnsucht, wie auch als Bild der Bewegung – in der Erzählung dieser Ballette verortet und weist gleichzeitig über diese hinaus. Die Perspektive des Ornamentalen lenkt dabei den Blick auf die Struktur der Darstellung, auf die (fantastische) Materialität des körperlichen Zeichens als Liniengeflecht im Raum, das gleichzeitig Bewegung (im Bild) darstellt und die Bewegung in die Fantasie des Betrachters überführt. In der Ballettpose Arabeske werden so zwei von der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts als Gegensatz betrachtete Aspekte – Ornament und Figur – zusammengeführt: sie ist ein Kippbild, das zwischen symbolischer Aufladung und abstrakter, struktureller Funktion für die Choreografie springt.4 Darin entgrenzt die Pose Arabeske auch die Körperform. Besonders in ihrem Extrem, der arabesque allongée, dehnt sie sich gleichsam in den Raum hinaus. Der Körper wird als abstraktes Liniengeflecht wahrgenommen, das ihn defiguriert und immaterialisiert, und löst sich in der ornamentalen Wahrnehmung des Balletts im 19. Jahrhundert auf: im Zeichenhaften und
1
Ludger Schwarte: „Die Kunst, das Unvernehmen anzuerkennen. Bemerkungen über die Arabeske“, in: Christoph Wulf, Jacques Poulain, Fathi Triki (Hg.): Die Künste im Dialog der Kulturen, Berlin 2007, S. 116-128, hier S. 124.
2
Ebd., S. 126.
3
Carlo Blasis: The Code of Terpsichore. A Practical and Historical Treatise on the
4
Sie erfüllt somit paradigmatisch Gabriele Brandstetters Figur-Definition, die Inver-
Ballet, Dancing and Pantomime, London 1828 [Reprint New York 1976], S. 204 f. sion als zentrales Moment der Figuration beschreibt. Gabriele Brandstetter: „Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung“, in: dies., Sybille Peters (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002, S. 247-264, hier S. 250.
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Imaginären oder in einer größeren Figur, wie dem corps de ballet und dem ornamentalen Umraum. In den tableaus dieser Ballette werden – wie in verschiedenen Skizzen und Aufzeichnungen deutlich geworden ist – der menschliche Körper, (ornamentale) Requisiten und das Bühnenbild in einer ornamentalen Linie nivelliert. Die Ballettpose Arabeske verschränkt Bild und Bewegung. Sie ist zwar einerseits eine Unterbrechung des Bewegungsflusses und Haltepunkt in einer Reihe von Schritten, andererseits ist sie auch Bild bzw. Figur der Bewegung und definiert sich, zumindest bei Blasis, aus dem Ausweg aus der Pose, dem abandon des Stillstands. Über den Begriff des Ornamentalen lässt sich ihr Verhältnis zu Schrift und Aufzeichnung genauer bestimmen. Die Arabeske ist eine schriftähnliche Pose, die – nach einem ornamentalen Muster – in einer grafischen Abstraktion des Körpers in Blasis’ Elementarmethode und einem Trainingssystem entworfen wird. Das Ornamentale, und besonders die Ornament-Werdung des menschlichen Körpers in der Arabeske, formalisiert Schönheit, Grazie und Anmut. Indem der menschliche Körper elementarisiert und als Liniengeflecht konzeptionalisiert wird, wird dieser ästhetisch operationalisierbar, wie aber auch ökonomisierbar. Insofern hat die Balletttechnik des 19. Jahrhunderts Teil an der „apparativen Durchdringung des Menschen“,5 die diesen zu einem steigerungsfähigen und optimierbaren Wesen macht. Dies ist in der Genealogie der Aufzeichnungen ornamentaler Choreografien aus militärischen Übungen deutlich geworden, in der der menschliche Körper zu einem berechenbaren geometrischen Element abstrahiert wird. Dieses Ornament ist auch Bild einer optimierten Bewegung. Zentrale Kategorien des Balletts im 19. Jahrhundert – die einzelne Pose wie auch gruppierte Bewegungen (Divertissements) und die dramaturgische Einheit tableau – als ornamental zu beschreiben heißt einerseits, sie als „Ornamente“ des Balletts (Dekorationen, Verzierungen, Digressionen) zu begreifen, andererseits ihre Struktur als eine visuelle Anordnung aufzufassen, deren formale Prinzipien sich von grafischen Vorbildern (Pflanzenranke, Schriftverzierung, Flechtornament) ableiten. Mit der Etablierung der Kategorie des Ornamentalen zur Beschreibung von Tanz geht dabei eine (historische wie analytische) Aufwertung des Bildlichen im Tanz (und in der Tanzhistoriografie) einher.
5
Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/Main 2001, S. 462.
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Im Ornamentalen des Balletts im frühen 19. Jahrhundert verschränken sich Bild und Bewegung. Das Bildliche – als Form der (visuellen) Anordnung, (grafischer) Strukturierung der Darstellung, ‚choreographic image‘ – ist eine fundamentale Kategorie in Divertissements und Tanz-Gruppen. Sowohl das Ornament der (räumlichen) Ausdehnung wie auch das ornamentale Tableau sind vornehmlich bildlich organisiert, durchzogen von Mustern. Dennoch sind diese Gruppen auch bewegt, und das Bild ist dort analytisches und kompositorisches tool, eine ideelle Einheit der Choreografie, die durchschritten wird und flüchtig ist. In der Analyse der Anordnungsweise des Ornamentalen lässt sich dabei das „Bildschöne“6 des Ballets im frühen 19. Jahrhundert über dessen Mustervorlagen spezifizieren. Es bezieht seine Muster, Ornamente oder Bilder vornehmlich aus dem ‚Orientalischen‘, dem Floralen, dem Submarinen und Kristallinen, wobei diese Bereiche sich, wie an verschiedenen Beispielen deutlich geworden ist, überschneiden. Das Ornament ist somit stets in einem Geflecht von (politischen, biologischen und physiologischen) Wissensordnungen eingebettet. Die ornamentale Schönheit basiert auf Formalisierungen, Zurichtungen und Ausschließungen. Das Ornamentale im Ballett des frühen 19. Jahrhunderts ist dabei nicht nur eine Mode-Erscheinung oder ein allgemeines Epochenphänomen, das das Ballett von anderen Künsten übernimmt, sondern besetzt – als Schrift-/BildPhänomen – eine offene Stelle in der Geschichte der Tanznotation, in der sich nach der Beauchamp/Feuillet-Notation keine neue, allgemeingültige Notationsform durchgesetzt hat, die auf die Notwendigkeiten der neuen Ballettästhetik reagiert. Das Ornamentale, und insbesondere die Arabeske, (kon)notiert Bewegung im Tanz und springt (oder posiert) an die Stelle der notationellen Übertragung. Die Arabeske ist somit Überlieferndes und Überliefertes zugleich. Sie überträgt in den Tanz über verschiedene kunsthistorische Zitate ein Bild von Bewegung und Leichtigkeit, das sie als Pose verwirklicht – (kon)notiert.
6
Sabine Huschka beschreibt den Paradigmenwechsel im Ballett vom 18. zum 19. Jahrhundert als „Wandel vom Naturschönen des Ballet d’Action zum Bildschönen des romantischen Balletts“, Sabine Huschka: „Wissen vom Tanzen: Carlo Blasis’ Instruktionen zur Anmut“, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Souvenirs de Taglioni, Bd. 2. „Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, München 2007, S. 113-136.
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Somit wird Tanz nicht nur an Schrift und Zeichnung herangerückt, sondern zeichnet in der Pose Arabeske das Flüchtige selbst auf. Der Tänzer*innenkörper im Ballett des 19. Jahrhunderts entzieht sich nicht als ‚realer‘ der Schrift oder Aufzeichnung, sondern ähnelt sich der Schrift an, um seine fehlende Notation zu substituieren, und entwirft sich als imaginäres Schriftbild. Im 19. Jahrhundert entfernt sich Choreografie so von einem Verständnis von Notation als sichernder, feststellender Aufzeichnung und entwickelt eine (fantastische) Aufzeichnungspraxis mit einem weiten Notationsbegriff. Dieser umfasst sowohl die handschriftlichen Aufzeichnungen von Henri Justamant, die Musterbücher von Franz Opfermann, Keepsake-Alben wie Les Beautés de l’Opéra und Traktate wie Carlo Blasis’ Traité Élémentaire, die alle Bewegung bevorzugt im Bild festhalten. Aus diesen Aufzeichnungsformen lässt sich auch die ornamentale Ästhetik des Balletts im 19. Jahrhundert rekonstruieren: Die Flüchtigkeit, die bis heute als konstitutive Eigenschaft des Tanzes begriffen wird,7 wurde dort als Bild, in einer Zeichnung entworfen. Die Arabeske ist als Pose nicht nur die bildliche Wiedergabe von Bewegung im Tanz, sie verkörpert auch das Paradox, dass die Flüchtigkeit des Tanzes aus einer Zeichenpraxis resultiert. Das Bild des ephemeren Tanzes, der sich präsentisch im Augenblick in der Wahrnehmung des Zuschauers ereignet, wird er-schrieben und gezeichnet.8 Die Flüchtigkeit des Tanzes ist ein Effekt von Aufzeichnungstechniken. Der fantastische Leseprozess einer flüchtigen Schrift, als der die Wahrnehmung von Tanz beschrieben werden kann,9 basiert so auch auf einer Linearisie-
7
Laurence Louppe beschreibt das Verhältnis des zeitgenössischen Tanzes zur Schrift als eines des hinter sich gelassenen Gesetzes, Laurence Louppe: „Imperfections in the paper“, in: dies. (Hg.): Traces of Dance. Drawings and Notations of Choreographers, Paris 1994, S. 9-33.
8
Christina Thurner argumentiert ähnlich in ihrer Untersuchung der romantischen Tanzkritik, sie beschreibt die Verklärung des Tanzes in seiner poetisierenden Beschreibung. Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld 2009, besonders Kp. 4.
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Walter Benjamin mag hierzu mit Hoffmannsthal das Motto abgeben: „‚Was nie geschrieben wurde, lesen.‘ Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen.“ Walter Benjamin: „Über das mimetische Vermögen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2,1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1977, S. 210-213, hier S. 213.
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rung des Körpers, wie sie hier für das Ballett des 19. Jahrhunderts dargestellt wurde. Dieser ornamentalisierende und abstrahierende Blick bereitet im Tanz den Übergang in die Moderne. In der linearen Abstraktion des Körpers liegt die Grundlage für eine Vielzahl von Entwicklungen der Tanzästhetik des 20. Jahrhunderts. Stéphane Mallarmé hat in seinen Texten zum Ballett, in denen er unter anderem die Tänze von Loïe Fuller beschreibt, die theoretisch-poetische Fundierung für eine auf Bewegung fokussierte, moderne Tanzästhetik gelegt. Er beschreibt die Tänzerin als Metapher, in der sich elementare Formen (u.a. die Blume) verdichten, und die mit ihrer KörperSchrift (écriture corporelle) andeutet, was schriftlich nur schwer zu fassen sei. Der Tanz ist für Mallarmé ein „poème dégagé de tout appareil du scribe“,10 ein vom Stift losgelöstes Gedicht, eine imaginäre Schrift, oder, wie Gabriele Brandstetter formuliert, die „absolute Arabeske, die sich aus sich selbst, ohne referentiellen Bezug zu einem Bezeichneten fortrankt“.11 Wenn der Tanz sich in Mallarmés Theorie vom Schreibapparat löst, dann nur, weil der Körper der Tanzenden wie auch der Tanz selbst im Ornamentalen zu einem Graphismus geworden ist: „For dance only became a poem without a scribe through the absorption of the Graph into itself“,12 wie Laurence Louppe programmatisch formuliert. Die ‚absolute‘ Arabeske entwickelt sich dabei aus der ‚konkreten‘ Arabeske, die Bezüge zur Kunstgeschichte, zum Pflanzenwachstum und zur Schrift aufweist, indem sie bestimmte Prinzipien, wie das Ranken, die abstrakte Verzierung wie auch ihre Integrationsfähigkeit unterschiedlicher Formen in einen gegenstandslosen Bereich überführt. Die ornamentalen Figuren, die im Ballett des 19. Jahrhunderts entwickelt werden, rücken in den Weiterentwicklungen dieser Tanzform im 20. Jahrhundert in den Vordergrund. Choreografen wie George Balanchine oder William Forsythe, deren Arbeiten vom System des Balletts ausgehen, wenden sich den formalen Aspekten zu, die man unter dem Begriff des Ornamentalen zusammenfassen kann. Der Arabeske, als herausgehobene Position des Balletts seit dem frühen 19. Jahrhundert, wird dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt. George Balanchine entwickelt für seine neoklassizisti-
10
Stéphane Mallarmé: „Ballets“, in: ders.: Divagations. Œuvres complètes II, hg. von Bertrand Marchal, Paris 2003, S. 170-174, hier S. 171.
11
Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, 2. erweiterte Auflage, Freiburg 2013, S. 375.
12
Louppe: „Imperfections in the paper“, S. 11.
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sche Ballettästhetik eine extrem überdehnte Arabeske, die auf artistische Leistung ausgerichtet ist.13 In seiner Dekonstruktion des Klassischen Balletts arbeitet William Forsythe mit dem Phantasma der Arabeske und betont ihr defiguratives Potenzial, so dass die ‚Ideologie‘ des Systems Ballett zu Tage tritt.14 Merce Cunningham re-animiert dagegen in Arbeiten wie den Beach Birds das mimetische Potenzial dieser Balancefigur und macht eine Variation der Arabeske zum Bild der fliegend-flatternden Fortbewegung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Arabesken noch im Ornamentalen zu verorten sind, oder ob sich andere Register des Graphismus besser zu ihrer Beschreibung eignen. Mit dem Begriff des Diagrammatischen ließen sich z.B. nicht nur diese Variationen der Arabeske, sondern auch Cunninghams und Forsythes Experimente mit technologischer Darstellung von Bewegung (LifeForms wie auch Improvisation Technologies) erfassen. Ebenso schließen Rudolf von Labans Kinesphäre wie auch Oskar Schlemmers Experimente am Bauhaus an Blasis’ Elementarmethode, den Körper als Liniengeflecht zu begreifen, an, ohne diesen notwendigerweise als Ornament zu begreifen. Die ornamentalen Gruppenbewegungen der tableaus und Divertissements des 19. Jahrhunderts dagegen finden ihr Erbe im 20. Jahrhundert im Menschenornament der Revue und Tanzfilmen, wie denen von Busby Berkeley. Die Tänzerin wird dort regelrecht ans Ornament gefesselt und der Drill zur Schönheit, der in den Tanz-Figuren des 19. Jahrhunderts angelegt ist, ins Extreme getrieben. In dieser Hinsicht könnte auch die in dieser Arbeit beschriebene Ornamentalisierung des Tänzer*innenkörpers über ihre Verbindung von Schönheit und Disziplinierung in die Körpergeschichte des 19. Jahrhunderts eingeordnet werden. Daran anschließend ließe sich der Verflechtung von Gouvernementalität und Ästhetik in dieser Zeit nachgehen, die im 20. Jahrhundert in den Massenchoreografien von Mary Wigman und Rudolf von Laban totalitäre Züge annimmt.
13
In der Video-Reihe The Balanchine Essays berichten die Tänzerinnen in der Ausgabe zu Arabesken aus dem Training mit Balanchine: „If we were in class looking on arabesques, he might come up to a dancer and say ‚What do you like: ice cream, diamonds or money?‘“ Balanchine modelliert die Arabeske nicht mehr nach kunsthistorischen Vorbildern oder begreift sie als überdehntes Gleichgewicht, sondern sie wird bei ihm zum Bild des (materiellen) Begehrens. The Balanchine Essays: Arabesque (USA 1995, George Balanchine Foundation).
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In der Arabeske macht der „Sinn des Balletts sich selbst transparent“. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 275.
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Die vorliegende Untersuchung versucht mit einem weiten Notationsbegriff eine Vielzahl von bisher wenig beachteten grafischen Dokumenten des 19. Jahrhunderts, wie Keepsakes, Musterbücher und den Aufzeichnungen von Henri Justamant, einer tanzhistoriografischen Diskussion zuzuführen und an ihnen die Frage aufzuwerfen, wie Bewegung im Bild notiert und aufgezeichnet werden kann. Mit dem Begriff des Ornamentalen lassen sich dabei zentrale Kategorien des Bühnentanzes dieser Zeit, wie die Pose Arabeske, die gruppierten Bewegungen in Divertissements wie auch die dramaturgische Einheit tableau, über ihren impliziten Graphismus beschreiben. Das Ornamentale zeigt sich dabei im Entwurfsprozess wie auch in der Wahrnehmung von Ballett im 19. Jahrhundert als zentraler modus operandi, der die Anordnung von Körpern in Raum und Zeit in unterschiedlichen Mustern strukturiert.
Dank
Die vorliegende Arbeit wurde 2012 als Dissertation im Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht. Mein Dank gilt in erster Linie Gabriele Brandstetter, ohne deren langjährige Unterstützung und Förderung diese Arbeit nie zu Stande gekommen wäre. Darüber hinaus danke ich allen Lehrer*innen, Förder*innen finanzieller wie auch ideeller Art, Freund*innen, Kolleg*innen, Archivar*innen, Künstler*innen und Arbeitgeber*innen, die mein Arbeiten und mein Leben begleitet haben, mit mir Pausen gemacht, Korrektur gelesen, Arbeits- und Wohnorte geteilt, Bücher herausgegeben, Tagungen mitorganisiert und Räume geschaffen haben, um in den unterschiedlichsten Formen zu forschen und meine Gedanken zu präsentieren: Bettina Brandl-Risi, Marvin Moses Almaraz Dosal, Natascha Bohnert, Franziska Bork Petersen, Cosima von Bonin, Irene Brandenburg, Daniel Cremer, Susan Leigh Foster, HeikeKarin Föll, Sebastian Matthias Gehrke, Luise Gerlach, Novina Göhlsdorf, Nils Güttler, Christian Himmelspach, Pirkko Husemann, Tessa Jahn, Lena Kahle, Gunnar Klack, Lena Kollender, Rea Köppel, Sybille Krämer, Isabel Kranz, Adam Linder, Emily Martin, Benjamin Meyer-Krahmer, Johannes Müller, Toni Pape, Christodoulos Panayiotou, Silvia Philipp, Philine Rinnert, Alexander Schwan, András Siebold, Margarita Tsomou, Jeremy Wade, Anna Wagner, Nils Wittrock, Isa Wortelkamp, sowie meiner Mutter, die leider von alledem nichts mehr erlebt hat. Ihr ist dieses Buch gewidmet.
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Abbildung 1: Cajetan: [Fanny Elßler in „Des Malers Traumbild“], CostumeBild zur Theaterzeitung 99, 23.5.1844, kolorierte Lithografie, 30,3x23,4 cm, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main, Signatur S 36_G13821, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/ manskopf/urn/urn:nbn:de:hebis:30:2-213017. Abbildung 2: „Peinture antique découverte à Herculanum et conservée dans le Museeum de Portici“, in: Jean Claude Richard de Saint-Non: Voyage Pittoresque Ou Description Des Royaumes De Naples Et De Sicile, Bd. 1,2, Paris 1782, S. 22a, CC-BY-SA 3.0 Universitätsbibliothek Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/saintnon1782/0065. Abbildung 3: „Tänzerinnen Neapel. Aus Pompeji, sog. ‚Villa des Cicero‘, Paul Herrmann: Denkmäler der Kunst des Altertums, München 1904-1931, Serie I Tafel 90. Abbildung 4: Vignette zu Beginn des 8. Kapitels „Antiquités d’Herculanum“, Jean Claude Richard de Saint-Non: Voyage Pittoresque Ou Description Des Royaumes De Naples Et De Sicile, Bd. 1,2, Paris 1782, S. 31, CC-BY-SA 3.0 Universitätsbibliothek Heidelberg, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/saintnon1782/0078. Abbildung 5: Johann Gottfried Schadow: „Das Tänzerpaar Viganò“, in: Hans Mackowsky: Schadows Graphik (= Forschungen zur Deutschen Kunstgeschichte 19) Jahresgabe 1936, Potsdam/Berlin 1936, Katalognr. 33. Abbildung 6: Henri Justamant: Grand Pas, Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Bibliothèque-Musée de l’Opéra Paris, Sign. B 217 (24), S. 32. Abbildung 7-12/14: Carlo Blasis: Traité Élémentaire, Théorique et Pratique de l’Art de la Danse, Mailand 1820, SLUB Dresden, 36.8.8497. Abbildung 13: Johann Friedrich Ladomus: Zeichnungslehre nach Pestalozzischen Grundsätzen, Heft 1, Leipzig 1805. Anhang.
354 | Arabesken
Abbildung 15: Villiers Huët: „M. Deshayes et M. d’Egville, dans le Ballet Pantomime d’Achille et Deidamie“, handkolorierte Lithografie, 54,8x41,2 cm London bei Anthony Cardon, 1804, © Victoria and Albert Museum, London. Abbildung 16: G. Léopold Adice: Note sur l’arabesque, Bibliothèque-musée de l'opéra, Signatur B 61 (3), S. 319. Abbildung 17: Mme B**: Le Cirque Olympique ou Les Exercises Des Chevaux de MM. Franconi, du Cerf Coco, du Cerf Azor, de l’Eléphant Baba, suivi du Cheval Aéronaute, de M. Testu Brissy, ou Petits Parallèles de l’instinct perfectionné des Animaux, et de la raison naissante des Enfans, Paris 1817, Titel. Abbildung 18-21: Frank-Manuel Peter (Hg.): Giselle ou Les Wilis. Ballet Fantastique en deux actes. Faksimile der Notation von Henri Justamant aus den 1860er Jahren, Hildesheim 2008. Abbildung 22: Programmzettel des Her Majesty’s Theatre für den 17. Juli 1847, Holzstich, 29x20cm, London 1847, Harvard University, Houghton Library, htc_ts_319_99_5_p5. Abbildung 23: Serge Lifar (Hg): Le ballet et la danse à l'époque romantique. 1800-1850, Austellungskat. Musée des arts decoratifs, Paris 1942. Abbildung 24: Christopher Dresser: Unity in Variety, as Deduced from the Vegetable Kingdom: Being an attempt at Developing that Oneness which is Discoverable in the Habits, Mode of Growth, and Principle of Construction of all Plants, London 1860, S. 14-15. Abbildung 25: Rolf Badenhausen: „Die belebten Blumen“, in: Die Dame 70/3 (1943), S. 14-15. Abbildung 26: Johann Purkinje: Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne. 1. Bd., Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1823, Anhang. Abbildung 27: Henri Justamant: Pas de Genres, Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Bibliothèque-Musée de l’Opéra Paris, Sign. B 217 (4), Fig. 6, S. 184. Abbildung 28: Denis Diderot (Hg.): Recueil de Planches sur les Sciences, les Arts libéraux et les Arts méchaniques, Bd. 1, Paris 1762. „Art Militaire“ Tafel 7. Abbildung 29/30: Henri Justamant: Lore-Ley ou La Fée du Rhin [Lyon 1856], Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Universität zu Köln Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn, InventarNummer 70 463, Fig. 3 und 4, nicht paginiert. Abbildung 31-33: Franz Opfermann: Tanz-Gruppen, gebundene Sammlung von gezeichneten Ballettgruppen, Bleistift und farbige Tinte, 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Derra de Moroda Dance Archives, S. 17, 21 und 96.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 355
Abbildung 34: Henri Justamant: Les Neréides, ou Le Lac Enchanté [Lyon 1861], Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Universität zu Köln Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn, InventarNummer 70 468, S. 194. Abbildung 35: Jules Perrot: Ondine, inszeniert und notiert von Henri Justamant, Brüssel 1863, Ballett-Notationen, Autograf in roter und schwarzer Tinte, Universität zu Köln Theaterwissenschaftliche Sammlung Schloss Wahn, Inventar-Nummer 70 471, S. 115. Abbildung 36-38: Philarète Chasles, Théophile Gautier, Jules Janin: Les Beautés de l’Opéra, Paris 1845. Abbildung 39: Anonym: „Fanny. La Fée du siècle“ [um 1845], kolorierte Lithografie, 42,1x29cm, gedruckt von H. Delius, verlegt von E. Meyer's Kunstverlagshandlung Berlin, Österreichisches Theatermuseum Wien, Inv.-Nr. GS_GPU5648. Abbildung 40: „Figurine of the Austrian dancer Fanny Elssler (1810-1884) dancing the cachucha“, Bronzestatue von Jean Auguste Barre, 29cm, 1837 © Victoria and Albert Museum, London.
Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3
Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)
Tanzpraxis in der Forschung — Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8
Marion Leuthner
Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 2016, 384 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3742-7 E-Book PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3742-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.)
Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3603-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5
Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)
Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3420-4 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8
Tania Meyer
Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3520-1 E-Book PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5
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