Das Naturrecht der Gegenwart und die Unverfügbarkeit des Rechts: Eine Analyse über den Stellenwert des Naturrechtsdenkens in der aktuellen Rechtswissenschaft [1 ed.] 9783428585601, 9783428185603

Die Naturrechtstheorie vertritt die Auffassung, es ließen sich Grundsätze, Prinzipien oder ganze überpositive Rechtsordn

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German Pages 284 [285] Year 2022

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Das Naturrecht der Gegenwart und die Unverfügbarkeit des Rechts: Eine Analyse über den Stellenwert des Naturrechtsdenkens in der aktuellen Rechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428585601, 9783428185603

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Schriften zur Rechtstheorie Band 301

Das Naturrecht der Gegenwart und die Unverfügbarkeit des Rechts Eine Analyse über den Stellenwert des Naturrechtsdenkens in der aktuellen Rechtswissenschaft

Von

Fabian von Rabenau

Duncker & Humblot · Berlin

FABIAN VON RABENAU

Das Naturrecht der Gegenwart und die Unverfügbarkeit des Rechts

Schriften zur Rechtstheorie Band 301

Das Naturrecht der Gegenwart und die Unverfügbarkeit des Rechts Eine Analyse über den Stellenwert des Naturrechtsdenkens in der aktuellen Rechtswissenschaft

Von

Fabian von Rabenau

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-18560-3 (Print) ISBN 978-3-428-58560-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand im Oktober 2021 statt. Mein besonderer Dank gilt zuvorderst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. ­Fabian Wittreck, für die hervorragende Unterstützung bei der Durchführung der Arbeit und die Gewährung wissenschaftlicher Freiheit. Weiter danke ich Prof. Dr. Stefan Arnold für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. In ganz besonderer Weise möchte ich mich bei meinen Eltern, Jutta und Dr. Wittigo v. Rabenau, bedanken, die mich bereits mein ganzes Leben und meine ganze berufliche Ausbildung enorm unterstützt und gefördert haben. Aufgrund ihrer Hilfestellung und Anregungen während der Dissertation soll ihnen diese Arbeit gewidmet sein. Ebenso möchte ich mich auch bei all denjenigen Bedanken, die sich die Zeit für einen direkten Austausch genommen haben und mich durch Anmerkungen zum Nachdenken gebracht haben. Hierbei möchte ich insbesondere Herrn Dr. Marcus Funke und Prof. Dr. Walter Doralt bedanken. Ein genauso großer Dank gebührt Markus Schmidt und meinem Bruder Yorck v. Rabenau für die hilfreiche Unterstützung (Durchsicht) in der Endphase der Fertigstellung. Zuletzt gilt der Dank auch meinen Freunden, die mich während meiner Arbeit begleitet und durch Gespräche und Teilhabe an meiner Arbeit moralisch unterstützt haben. Nicht genügend würdigen kann ich die Hilfestellungen, den Zuspruch und die Ermutigung durch meine Lebensgefährtin Carlotta v. Ulm-Erbach, Dr. Johannes Gottwald und Moritz v. Hantelmann, die die Zeit der Anfertigung der Arbeit in besonderer Weise und Intensität begleitet haben. Frankfurt, im Dezember 2021

Fabian von Rabenau

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.

Das methodische Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

II.

Die Unverfügbarkeit als Element des modernen Naturrechtsbegriffes . . . . . . . 27 1. Der Naturrechtsbegriff in der historischen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Frühe Kirche und Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Frühe Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 c) Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Verwendung des Naturrechtsbegriffes in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Moderne Naturrechtsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

III. Der Rechtspositivismus: Die Trennung von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Herbert Lionel Adolphus Hart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Norbert Hoerster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 IV. Die defizitäre Darstellung des Naturrechts in den deutschsprachigen Veröffent­ lichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 B. Das christliche Naturrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 I.

Die römisch-katholische Naturrechtstradition  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Das römisch-katholische Kirchenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 a) Codex Iuris Canonici . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 aa) Ius divinum positivum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 bb) Ius divinum naturale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Der Katechismus der römisch-katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . 58 c) Auf der Suche nach einer universalen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 d) Papst Benedikt XVI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

II.

Das römisch-katholische Naturrechtsverständnis als gegenwärtige Lehre . . . . 64 1. Martin Rhonheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

10

Inhaltsverzeichnis 2. Franz-Josef Bormann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Johannes Messner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Wolfgang Waldstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5. Eberhard Schockenhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 6. Papst Johannes Paul II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 7. Robert Spaemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 8. Norbert Brieskorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 9. Berthold Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 10. Streit über das richtige Verständnis: Die Reformbedürftigkeit des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Elke Mack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Die römisch-katholische Sexualmoral als aktuelle innerkirchliche Naturrechtsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) Die römisch-katholische Lehrmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 bb) Kritik an dieser Lehrmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 III. Die protestantische Naturrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Das Naturrecht als Stiefkind im Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Die Menschenwürde als Anerkennung des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Wolfgang Huber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Hubers Naturrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Exkurs zum rechtsethischen Normativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5. Klaus Tanner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft . . 99 I.

Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Gustav Radbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Die Radbruchsche Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Die Diskussion um die Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 c) Kein „Damaskuserlebnis“ Radbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Exkurs: „Naturrecht im Nationalsozialismus“  – Die Gefahren der Naturrechtsargumentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Die Naturrechtsrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Weitere Naturrechtsvertreter der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Inhaltsverzeichnis

11

a) Helmut Coing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Hans Welzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 c) Werner Maihofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II.

Die Naturrechtslehre in der deutschen Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Die Grenzen der positivistischen Rechtslehre in der Rechtsprechung . . . . 114 a) Die Entscheidung des Amtsgerichts Wiesbaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Naturrechtliche Bindung des Verfassunggebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 c) Die „Soraya“-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 d) Das Standgerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 e) Die „Monströse Gerichtsentscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 f) Die Ausbürgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 g) Der Mauerschützenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Der notwendige Rückgriff auf das Naturrecht zur Einordnung fremder Rechts­ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Das Naturrecht als existierende Auffassung in den Landesverfassungen und dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Landesverfassungen und ihr naturrechtlicher Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Der vorpositive Inhalt des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) „Antastbare Menschenwürde“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4. Rechtsbeugung als strafbedrohte Naturrechtsverpflichtung . . . . . . . . . . . . 129

III. Deutschsprachige Naturrechtsströmungen der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Das dynamische Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Arthur Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Martin Kriele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Johann Braun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Das Naturrecht als kritischer Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Dietmar Willoweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Joachim Hruschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 c) Florian Rödl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Die Prinzipientheorien im Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Robert Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Ralf Dreier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Christian Thies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 d) Christiane Freund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 e) Offen naturrechtliche Argumentation der Prinzipientheorie . . . . . . . . . 157 4. Naturrechtliche Grenzen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Lutz Eidam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

12

Inhaltsverzeichnis b) Kristian Kühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5. Der Naturrechtsgedanke im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Alexander Hellgardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Matthias Wendland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Universalismus als Gegensatz zum Partikularismus . . . . . . . . . . . . . . . 167 b) Fehlerhafte Subsumtion unter „Dritter Weg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Ein weiter Naturrechtsbegriff als Oberbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 I.

Die Gütertheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. John Finnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Germain Grisez, Joseph Boyle und John Finnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Robert P. George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Patrick Lee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5. Christopher Tollefsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6. Jonathan Crowe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 7. Gary Chartier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 8. Das Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Christopher Wolfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Mark C. Murphy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 c) George Duke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 d) Gerard V. Bradley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 e) Owen Anderson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

II.

Die Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. John Rawls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Robert Nozick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. David Gauthier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

III. Der Fähigkeitsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. Amartya Sen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2. Martha Nussbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3. Jacqueline Laing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 IV. Der Kommunitarismus bei Alasdair MacIntyre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 V.

Die Prinzipientheorie nach Ronald Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

Inhaltsverzeichnis

13

VI. Naturrecht als Auslegungsmethode bei Michael Moore . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 VII. Die Begründungsversuche möglicher Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. These der „zwei Säkularisierungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Ein Blick auf die unterschiedlichen Rechtssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 VIII. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 I.

Begriffserklärung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

II.

Die Menschenrechtsdeklarationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

III. Säkulare Menschenrechte als Gegensatz zur theologischen Naturrechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Theologische Begründungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 2. Gütertheorie und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Vertragstheoretische Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Die Menschenrechte aus dem Blick des Fähigkeitsansatzes . . . . . . . . . . . . 227 5. Die Würde des Menschen als Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . 228 a) Würde als Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 b) Würde als angeborene Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 c) Abgrenzung zum Personenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 d) Definitionsverbot als Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 V.

Menschenwürde und Menschenrechte als Naturrechtsersatz . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. Menschenrechte als Naturrechtsersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Naturrechtsfunktion der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

VI. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 F. Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 I.

Zusammenfassung gegenwärtiger Naturrechtstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

II.

Der moderne Naturrechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

III. Die fehlerhafte Verwendung des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 IV. Das Naturrecht als notwendige Hilfestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Die Positivierung des Naturrechts als Totengräber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Das Naturrecht als Förderung der inneren Überzeugung der Bürger . . . . . 256 3. Der Streit über das „Gerechte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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Inhaltsverzeichnis 4. Das Naturrecht in einer pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . . . . . . . 259 b) Der Wahrheitsanspruch der Mehrheitsmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 V.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Abkürzungsverzeichnis Die Arbeit enthält allgemein gültige Abkürzungen, wie sie auch in Kirchner, Hildebert / Böttcher, Eike: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auflage, Berlin 2018; oder Schwertner, Siegfried Manfred: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2014; oder Duden – die deutsche Rechtschreibung – auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Rechtschreibregeln, 28. Auflage, Berlin 2020, zu finden sind. Im Folgenden werden nur die wichtigsten Abkürzungen dieses Werkes der Abhandlung vorangestellt: a. A. andere Ansicht a. F. alte Fassung AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte AG Amtsgericht Aufl. Auflage Bd. Band BGH Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen BGHSt BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVR Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht CIC Codex Iuris Canonici ders. / dies. derselbe / dieselbe / dieselben Drs. Drucksache Ebda. Ebenda Erw. Erweiterte EV Evangelium vitae GG Grundgesetz h. M. herrschende Meinung Herv. Hervorhebung Herv. i.O. Hervorhebung im Originaltext Hrsg. Herausgeber HV Humanae vitae i. S. d. im Sinne der / des Inst. Institutiones Iustiniani JCSW Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften Kap. Kapitel KKK Katechismus der Katholischen Kirche

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Abkürzungsverzeichnis

KSG Klimaschutzgesetz LPartG Lebenspartnerschaftsgesetz nach Christus n. Chr. Nachdruck / Neudruck Ndr. Neuausgb. Neuausgabe PStG Personenstandsgesetz sogenannte / sogenanntes sog. StGB Strafgesetzbuch Summa Theologica S.Th. Teilbd. Teilband und andere u. a. vor Christus v. Chr. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL Weimarer Ausgabe WA

A. Einführung „In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber daß in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig“1.

Die normative Ethik untersucht die Frage nach der gerechten Handlung des Menschen. Die Rechtsetzung und Gesetzgebung sind menschliche Handlungen, weshalb die Rechtsethik nach ihrer Grundfrage, welches Recht gerecht sei, eine auf das Recht übertragene Umsetzung der normativen Ethik darstellt2. Die rechtsphilosophische Suche nach dem richtigen Recht und seiner Rechtsquelle greift dabei auf die Ethik bzw. die praktische Philosophie und auf die Rechtswissenschaft zurück. Dietmar von der Pfordten stellt in diesem Zusammenhang eine „Zwitterstellung“ der Rechtsethik fest3. Die Naturrechtstheorie vertritt die Auffassung, es ließen sich Grundsätze, Prinzipien oder ganze überpositive Rechtsordnungen ableiten oder erkennen, die einen Maßstab für gerechtes Recht darstellen. Unter dem Naturrecht versteht man zunächst Normen, „die menschlicher Entscheidung vorausliegen und sie so als willkürfreier Maßstab anleiten sollen.“4 Es gibt unterschiedliche Definitions- und Interpretationsversuche des Naturrechtsbegriffs, denen diese Arbeit im Laufe der Untersuchung Rechnung tragen wird. Alle Theorien des Naturrechts forschen nach der Begründung des Rechts und suchen daher nach Rechtsquellen, die nicht einzig auf der Mehrheitsmeinung basieren. Gibt es Rechte, die dem Menschen aufgrund seiner Natur zukommen? Was ist richtiges Recht? Gibt es so etwas wie richtiges Recht? Dabei scheint die heutige Relevanz des Naturrechts für die gegenwärtige deutschsprachige Rechtswissenschaft schwindend bis gering: Nimmt man diverse Lehrbücher über die Rechtsphilosophie oder Rechtsgrundlagen zur Hand, wird das Naturrecht häufig nur in einem rechtshistorischen Kontext dargestellt, sodass der Eindruck erweckt wird, es gehöre der Vergangenheit an. Inhaltlicher Art werden dem Naturrechtsgedanken dabei mehr oder weniger bekannte Einwände entgegengebracht. In der pluralistischen Gesellschaft habe das 1

Benedikt XVI., Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, 2011, S. 30 (32). 2 D. v. d. Pfordten, Rechtsethik, 2. Aufl. 2011, S. 7. 3 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 21. 4 S. Kirste, Naturrecht und Positives Recht, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 15 (18).

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A. Einführung

Naturrecht keinen Platz mehr, da der Pluralismus mit einem Naturrechtsverständnis nicht mehr in Einklang gebracht werden könne. Die Idee eines universalen, sich aus dem Menschen heraus ergebenden Rechts, sieht sich einem „Fundamentalismus- und Intoleranzverdacht ausgesetzt“5. Absolute Standpunkte widersprächen, so der Vorwurf, dem offenen Meinungsaustausch mit dem Ziel einer Konsensfindung. Es wird zudem eingewandt, das Thema habe aufgrund der „Normierung“ einzelner naturrechtlicher Ideen schlicht an Bedeutung verloren6. Das Völkerrecht habe als „Ausdruck des universell anerkannten Kerns elementarer Gerechtigkeit den Rekurs auf überpositives Recht verdrängt“7. Vom Zusammenbruch der Naturrechtstheorie ist die Rede8. Dass das Naturrecht gegenwärtig wenig Beachtung findet, wird nicht nur durch inhaltliche Kritik begründet. Für Christian Hillgruber scheint das Naturrecht unter den Verfassungsjuristen zurzeit keine Rolle mehr zu spielen, wofür er allerdings weniger einen starken Rechtspositivismus verantwortlich macht: „Es ist vielmehr ein verbreiteter Pragmatismus im alltäglichen Umgang mit dem geltenden Verfassungsrecht, der Fragen nach seinem Ursprung, seiner geistesgeschichtlichen Herkunft und seinem philosophischen Fundament an die Grundlagendisziplinen verweist und sich darum bei seiner Auslegung und Anwendung nicht weiter scheren zu müssen glaubt.“9 Auch aus den oben skizzierten Punkten wird dem Naturrecht keine große Relevanz mehr für die Rechtswissenschaften zugestanden. Vielmehr sei das Naturrecht gegenwärtig nur noch eine „katholische Sonderlehre“10. Der inzwischen emeritierte 5

C. Müller / M. Sendker, Narration oder Naturrecht? MacIntyres Sozialethik als alternative Begründung in der Moderne, in: C. Müller / E. Nass / J. Zabel (Hrsg.), Naturrecht und Moral in pluralistischer Gesellschaft, 2017, S. 122 (122). 6 Vgl. S. Kirste, Rechtsphilosophie. Einführung, 2. Aufl. 2020, S. 142; A. Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist (1991), in: ders., Über Gerechtigkeit. Dreißig Kapitel praxisorientierter Rechtsphilosophie, 1993, S. 221 (221 ff.). Berthold Wald beobachtet einen Rückgang des Naturrechtsverständnisses im Verfassungsrecht: B. Wald, Menschenwürde und Menschenrechte. Unverzichtbarkeit und Tragweite naturrechtlicher Begründungen, in: H.-G. Nissing (Hrsg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, 2016, S. 53 (54): „Die Positivierung der Menschenrechte in den Grundrechtskatalogen nationaler Verfassungen ist nun in der Tat unaufhaltsam fortgeschritten. Zur selben Zeit hat freilich das Bewusstsein für ihre Begründungsbedürftigkeit ebenso unaufhaltsam abgenommen. – Das zeigt sich gegenwärtig etwa im Bereich des deutschen Verfassungsrechts.“ Ebenso auch Johann Braun; J. Braun, Rechtsrelativismus und Rechtsabsolutismus. Oder: Was ist eigentlich aus dem Naturrecht geworden?, in: JZ 2013, S. 265 (268): „Mit seiner Positivierung aber war die historische Mission des systematischen Naturrechts erfüllt. Fortan konnte man sich scheinbar auf die Erforschung des positiven Rechts beschränken.“ 7 M. Herdegen, in: T. Maunz / G. Dürig u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Präambel (2019), Rn. 43. 8 Vgl. K. Tanner, Die Rechtswissenschaft aus der Sicht eines evangelischen Theologen, in: ZVglRWiss 112 (2013), S. 470 (476). 9 C. Hillgruber, Grundgesetz und Naturrecht, in: IkaZ 39 (2010), S. 167 (167). 10 Vgl. R. Spaemann, Warum gibt es kein Recht ohne Naturrecht?, in: H.-G. Nissing (Hrsg.), Naturrecht (Fn. 6), S. 27 (29).

A. Einführung

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deutsche Papst wollte in seiner Bundestagsrede ebenfalls verdeutlichen, dass die naturrechtliche Debatte, mit Ausnahme der katholischen Naturrechtslehre, stark an Bedeutung verloren habe11. Doch die als Gedankenanstoß gedachte Rede fand wenig positives Echo, sondern wurde gerade aus dem juristischen Bereich teilweise stark kritisiert12. Die gegenwärtige Debatte hierzu im deutschsprachigen Raum verstellt allerdings teilweise den Blick. So lautet zumindest die These dieser Arbeit. Der gegenwärtige Diskurs findet vor allem im angelsächsischen Raum statt, wo sich das Thema durchaus großer Aktualität erfreut. Wie die Arbeit weiter zeigen wird, konnte die angelsächsische die deutschsprachige Rechtsphilosophie in ihrer Bedeutung in weiten Teilen ersetzen13. Doch auch im deutschen Sprachraum scheint sich der Naturrechtsgedanke wieder zunehmender Beliebtheit zu erfreuen, ohne darin gleich eine Naturrechts-Renaissance vermuten zu wollen. Der Untersuchungsgegenstand dieser Schrift ist die These, dass das Naturrecht in den meisten Debatten zu Unrecht vernachlässigt wird. Dies ist der Fall, wenn sie sowohl inhaltlich weiterhin einen Mehrwert für die traditionelle Frage nach der Quelle des Rechts liefern kann als auch quantitativ noch nicht zu einer Randerscheinung gehört. Das Verständnis, das Naturrecht sei „überkommen“14, kann mit Blick auf die Summe der gegenwärtigen Veröffentlichungen in diesem Themenbereich weder so bezeichnet noch aufgrund seiner inhaltlichen Leistungen als überflüssig behandelt werden. Hintergrund dieser aufgestellten These sind aktuelle Gegebenheiten, die daran zweifeln lassen, dass dem Naturrecht keinen Platz in der wissenschaftlichen Diskussion zukommt. Es gibt gesellschaftlich geführte Debatten in der Öffentlichkeit, die auch ohne Nennung des Begriffs nicht ohne das Naturrechtsverständnis auskommen und deren Argumentationsmuster breit in der Gesellschaft verwendet werden. Die sog. Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes ist schließlich nur Ausdruck eines Gedankens: Es gibt ein Mindestmaß an Gerechtigkeit, einen Standpunkt der Moral, welchen der Staat seinen Bürger gegenüber verpflichtet ist, einzuhalten. Diese in Gesetzesform gegossene Regelung muss gegen missbräuchliche Änderung des Gesetzes geschützt werden, da es sonst einer gerechten Ordnung widerstreben 11 So auch zusammengefasst Fabian Wittreck über die gegenwärtige Rechtsphilosophie des 21. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum: F. Wittreck, Naturrecht und die Begründung der Menschenrechte, in: M. Wasmaier-Sailer / M. Hoesch (Hrsg.), Die Begründung der Menschenrechte. Kontroversen im Spannungsfeld von positivem Recht, Naturrecht und Vernunftrecht, 2017, S. 43 (43 ff.). 12 Siehe beispielsweise S. Rixen, Homosexualität? Natürlich unnatürlich, in: FAZ v. 30. 11. 2011, S. 33 (33). Rixen geht insbesondere auf die Naturrechtsansichten von Waldstein ein, auf die sich Papst Benedikt XVI. teilweise bezog. Darin erkennt Rixen in dem Naturrecht höchstens eine „philosophisch-politische Position unter vielen“ an, denn die Grundrechte ließen die „Vereinnahmung durch ein einziges ethisches Vorverständnis“ nicht zu. 13 E. Hilgendorf, Rechtsphilosophie der Gegenwart, in: ders. / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 170 (175). 14 R. Zippelius, Rechtsphilosophie. Ein Studienbuch, 6. Aufl. 2011, S. 71 ff.

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A. Einführung

würde. Wieso versuche denn sonst das Grundgesetz bestimmte Normen der Disposition zu entziehen15, wenn die Normierung ihren Höhepunkt erreicht und Moral und Recht wirklich strikt zu trennen sei?16 Johann Braun bringt das Problem stark zugespitzt auf den Punkt, wenn er ausführt: „Die Vorstellung, daß die Mehrheit automatisch im Recht sei, ist […] um keinen Deut besser als die, daß der Führer, das Zentralkomitee oder die Partei immer recht habe“17. Doch wenn, und wer will das ernsthaft bestreiten, auch die Mehrheit irrtumsanfällig ist, könnte dann das Naturrecht nicht immer noch seine Daseinsberechtigung haben? Zwar berufen sich die Akteure in den politischen Debatten nicht täglich auf die Ewigkeitsklausel. Aber wird nicht zumindest der ihr zugrunde liegende Gedanke, die zum Schutz der Gerechtigkeit entzogene Disposition des Rechts durch den Staat und den Wähler, immer wieder aufgegriffen? Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir in solchen Diskussionen rechtliche Grenzen der möglichen Änderung zementieren, wenn hier nicht ein naturrechtlicher Gedanke zum Ausdruck käme? Die Positivierung des Naturrechts, also das nach formellen Regelungen in Gesetzesform gegossene Naturrecht, übernimmt noch keine Begründung des rechtlichen Inhalts und dessen Aussagekraft. Die heutige Rechtsdogmatik verschließe daher nach Johann Braun den Blick auf die Geschichte und somit auf die Herkunft des positiven Rechts18. Die Ansicht, dass viele naturrechtliche Ideen bereits positiviert sind, führt keineswegs zu einer überflüssigen Diskussion über das Naturrecht an sich. Neben einer möglicherweise rein erkenntnistheoretischen Beschäftigung mit diesem Thema ist diese Fragestellung auch in der praktischen Anwendung weiterhin von Bedeutung. Tagespolitisch hoch aktuell zeigt sich, dass Institutionen zum Schutz der Menschenrechte an ihre Grenzen stoßen, wenn sogar Mitgliedstaaten der EU wie Ungarn oder Polen sich immer weiter von einem gemeinsamen Maßstab des Verständnisses der Menschenrechte entfernen. Zudem müsse man sich außerhalb dieser Rechtsordnung ohnehin mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen zurückhalten. Eine reine rechtspositivistische Begründung der Menschenrechte und ihres meist besonderen Ranges in einer hierarchischen Rechtsordnung dürfte die Menschenrechte vielmehr zur Geschmacksfrage degradieren19. Ohne inhaltliche, vor-positivistische Anforderungen an das Recht handle es sich nach Robert Spaemann bei „Unrechtsregimen“ nur um Vertreter anderer Werte, welche ohne einen naturrechtlichen Maßstab nicht schlechter oder besser als die eigenen bewertet werden können20. Diese Erkenntnis deckt sich weder mit dem Anspruch an 15

Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 33. So die Trennungsthese nach Hart; H. L.A. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: N. Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral: 3 Aufsätze, 1971, S. 14 (42). 17 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 271. 18 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 268. 19 F. Rödl, Zur Kritik rechtspositivistischer Menschenrechtskonzeption, in: M. WasmaierSailer / M. Hoesch (Hrsg.), Begründung (Fn. 11), S. 29 (36). 20 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 28. 16

A. Einführung

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die deutsche Politik noch mit dem vom Autor wahrgenommenen Gerechtigkeitsempfinden in der Gesellschaft. Man muss sich nur einmal die Berichterstattungen vergegenwärtigen, die bei hohen diplomatischen Treffen und politischen Besuchen deutscher Staatsvertreter regelmäßig eine Ansprache der humanitären Situation in den einzelnen Gastländern einfordern. Weiterhin hat das Naturrecht zu der sittlich-rechtlichen Überzeugung der Menschen beigetragen und diese Überzeugungskraft droht durch den Verlust der Naturrechtsdebatte gegenwärtig verloren zu gehen21. Eine lebendige Debatte kann somit auch gesellschaftlich von Nutzen sein, um wieder größere Akzeptanz in der Bevölkerung für Normen und Werte zu schaffen. In Zeiten, in denen gewählte Vertreter als „Establishment“ kritisiert und festzustehen geglaubte Verbindlichkeiten in Frage gestellt werden, kann von einem überflüssigen Naturrecht mit Blick auf eine sittlich-rechtliche Überzeugung der Menschen keine Rede sein. Die genannten Argumente werden in der folgenden Ausführung in der Arbeit detaillierter zur Sprache kommen. Es wird versucht, darzulegen, dass das Naturrecht in seiner Bedeutung an sich und in der Rechtswissenschaft deutlich weniger verloren hat als es auf den ersten Blick den Anschein hat und deshalb keinesfalls obsolet ist. Letztlich soll die Dissertation aufzeigen, dass die Darstellung des Naturrechts innerhalb der Rechtswissenschaften meist ein fehlerhaftes Bild vermittelt. Die Grundthese, die dieser Arbeit zugrunde liegt, setzt methodisch die Klärung folgender Prämissen voraus, welche es im Vorfeld zu untersuchen gilt: 1. Welchem Naturrechtsverständnis widerfährt möglicherweise nicht die genügende Aufmerksamkeit, die es womöglich verdient hätte? 2. Inwieweit ist der These zuzustimmen, dass eben jenes Naturrechtsverständnis ungenügend in der Rechtswissenschaft dargestellt wird? 3. Auch soll sich die Abhandlung mit den Gründen einer möglichen Verkennung der Aktualität des Naturrechts beschäftigen. Daraus ergibt sich für diese Schrift folgender Aufbau: Zunächst wird eine begriffliche Zusammenfassung des modernen Naturrechtsverständnisses präsentiert, von dem diese Arbeit ausgeht und die Theorien hieran überprüfen wird (A. II. 2). Der naturrechtliche Einschlag in die christliche Moraltheologie wird durch die Darstellung der klassischen katholischen Lehrmeinung und die Vertreter katholischer und evangelischer Theologie bis in die Gegenwart beleuchtet werden (B.). Danach wird auf den Gehalt des Naturrechts in der deutschen Rechtswissenschaft in Literatur und Rechtsprechung ab der Nachkriegszeit hingewiesen (C.). Neben verschiedenen deutschsprachigen Abhandlungen zur Disposition von Recht und Ansprüche an den Rechtsbegriff werden auch Urteile und 21 L. Eidam, Braucht unser heutiges Strafrecht (noch) den philosophischen Horizont eines Naturrechts? Zum Streit zwischen Positivismus und Nichtpositivismus am Beispiel der Radbruch-Hart-Kontroverse, in: M. Abraham / T. Zimmermann / S. Zucca-Soest (Hrsg.), Vorbedingungen des Rechts. Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2014 in Passau und im April 2015 in Hamburg, 2016, S. 13 (21).

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A. Einführung

Gesetze auf einen naturrechtlichen Inhalt überprüft. Hiernach folgen Darstellung und Untersuchung der angelsächsischen Theorien auf naturrechtliche Argumente hin (D.) Schließlich soll der moderne Begriff der Menschenrechte auf seine inhaltliche und funktionale Verwandtschaft zum Naturrecht untersucht werden (E.), bevor zusammenfassend mögliche Gründe für eine Verkennung des Naturrechts und der hypothetische Nutzen der Theorie benannt werden (F.).

I. Das methodische Vorgehen Die vorliegende Dissertation hat das Ziel, das rechtsphilosophische Thema des Naturrechts weitgehend hermeneutisch zu untersuchen. Dabei sollen vorwiegend Aufsätze, Schriften, Regelwerke, Kommentare, Urteile sowie Lehrbücher aus dem deutschen und englischen Sprachraum dahingehend analysiert werden, inwieweit die darin wiedergegebenen Ansichten und Theorien dem Naturrechtsbegriff zugerechnet werden können und sich somit Definitionsansätze ableiten lassen. Aus dem theologischen Bereich soll zum einen auf die katholische Naturrechtslehre und ihre innerkirchliche Debatte, zum anderen auf die evangelische Sozialethik eingegangen werden. Ausgehend von der katholischen Lehrmeinung sollen auch aktuelle Diskussionen in der Moraltheologie dargestellt werden. Wenngleich diese Arbeit methodisch notwendigerweise auch auf die rechtsphilosophischen Ansätze vergangener Epochen zurückgreift, wird sie sich jedoch im Schwerpunkt auf die neuere Entwicklung des wissenschaftlichen Diskurses ab Gustav Radbruch und der Nachkriegszeit vorwiegend auf das Naturrecht der Gegenwart konzentrieren. Der Schwerpunkt der Darstellung des Naturrechts ab der Nachkriegszeit bezieht sich auf Rechtsprechung, Gesetze und das Grundgesetz sowie theoretische Abhandlungen über den moralischen Gehalt innerhalb der Definition des Gesetzesbegriffes. Für den Nachweis des Naturrechtseinflusses auf die Rechtswissenschaft werden Urteile auf ihre naturrechtlichen Argumente, Grundrechte auf ihre Begründung und Theorien sowie Abhandlungen auf den Anspruch an den Rechtsund Gesetzesbegriff hin untersucht werden. Die Untersuchung soll darüber hinaus auch die angelsächsische Rechtsphilosophie näher in den Blick nehmen. Im Grunde werden hier eine vergleichende Darstellung und Betrachtung angestrebt, die auf mögliche unterschiedliche Handhabungen des Themas verweisen sollen. Wenn schließlich nach Gründen für eine mögliche Verkennung des Naturrechts in der deutschen Rechtswissenschaft gesucht wird, so kann eine vergleichende Darstellung der Naturrechtsbetrachtung eine hilfreiche Methode dabei sein. Die Frage nach universell geltenden Normen eignet sich für eine solche Darstellung, da sie unabhängig von Rechtssystemen gestellt werden kann. Die Frage bezieht sich teilweise auf die Begründung von Rechtsnormen unabhängig bereits vorhandener Rechtssysteme und könnte daher, zumindest theoretisch, einen Mehrwert auch für die heutige Rechtswissenschaft erbringen. Letztlich soll anhand der Menschenrechte untersucht werden, ob diese in ihrem

I. Das methodische Vorgehen 

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Begründungsversuch auf naturrechtliche Argumente zurückgreifen. Zur Unterstützung der These, das Naturrecht habe eine gegenwärtige Benutzung und einen Nutzen, werden aktuelles Kirchenrecht, Moraltheologie, Urteile, Gesetze und deutschund englischsprachige Abhandlungen zur Rechtsphilosophie sowie die Begründung der Menschenrechte auf ihren Naturrechtsgehalt hin untersucht werden. Inwieweit sich die Häufung von gegenwärtigen Naturrechts-Protagonisten als inhaltlich tragfähig darstellt, soll auch in einer dialektischen Herangehensweise an Argumente für das Naturrecht und für den Rechtspositivismus aufgezeigt werden. Die rechtswissenschaftlichen bzw. rechtshistorischen Auseinandersetzungen um das Naturrecht und ihre Erkenntnisrelevanz lassen sich nicht plausibel aufzeigen, ohne auch die scheinbar endlose Diskussion der beiden Rechtslager aufzunehmen. Aus diesem Aufbau ergibt sich für die Literaturarbeit folgendes: Die Literatur der verschiedenen Disziplinen und rechtsphilosophischen Strömungen wird auf gewisse Argumentationsmuster naturrechtlicher Prägung überprüft. Urteile und Gesetze lassen sich in rechtswissenschaftlicher Methodik nach ihrem Sinn und Zweck und ihren historischen Begründungsansatz auf naturrechtlichen Gehalt untersuchen. Soll der Frage nach einer nichtwissenschaftlichen Vernachlässigung einer Theorie nachgegangen werden, werden zunächst Werke und Begründungen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf das Vorhandensein dieser Theorie untersucht. Hierbei soll nach dem Naturrecht in gegenwärtigen Werken gefahndet werden. Die Rechtswissenschaft untersucht und reflektiert das Recht kritisch und steht dabei in enger Beziehung zur Rechtspraxis, zum Gesetzgeber und zu den Gerichten22. Daher wird neben dem Gewohnheitsrecht überwiegend das positive Recht hermeneutisch mithilfe der verschiedenen Auslegungsmethoden, wie die grammatikalischen, historischen, systematischen und teleologischen Ansätze, untersucht23. Diese Methode findet in dieser Arbeit dort Anwendung, wo sie sich mit den Entscheidungen im Gesetzgebungsprozess – auch im Prozess der Verfassunggebung des Parlamentarischen Rates – und in der Rechtsprechung auseinandersetzt. Dort wird die Intension des Gesetzgebers und die Systematik der Rechtsordnung nach ihrem vorpositiven Gehalt untersucht. Dort aber, wo die Rechtswissenschaft darüber hinaus die Frage nach der ethischen Rechtfertigung des Rechts stellt, bedient sie sich auch anderer Disziplinen, wie der Theologie, Geschichtswissenschaft, Kriminologie, Ökonomie, Philosophie, Politikwissenschaft, Psychologie oder Soziologie24. „Die Rechtswissenschaft kann deshalb auf interdisziplinäre Bezüge nicht verzichten.“25 Deshalb werden 22 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen, Drs. 2558–12, 2012, S. 27. 23 Wissenschaftsrat, Perspektiven (Fn. 22), S. 28. 24 Wissenschaftsrat, Perspektiven (Fn. 22), S. 27. 25 Wissenschaftsrat, Perspektiven (Fn. 22), S. 29.

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A. Einführung

theologische und rechtsphilosophische Überlegungen zum Naturrecht beschrieben, die einen empirischen Beleg – wenn auch nicht statistisch – für ihre andauernde Popularität liefern soll. Die Interpretation und Analyse der einzelnen moraltheologischen und rechtsphilosophischen Abhandlungen zur Idee eines vorpositiven Rechts steht zunächst im Vordergrund. Hierdurch lässt sich der Begründungsansatz der einzelnen Theorien nachvollziehen und sich ein Naturrechts- oder Positivismusgehalt herausarbeiten. Die Untersuchung der Wirkungsweise des Naturrechts schließt an die hermeneutische Analyse an, denn die reine Interpretation von Texten vermag die Relevanz einer Theorie nicht zu liefern. Diese bleibt in ihrer Auslegung immer auf den Wirkungskreis des einzelnen Protagonisten beschränkt. Für die Relevanz einer Idee gehört neben der Untersuchung nach der Repräsentativität – der Quantität – ihre Begründungs- und Wirkungsweise. Somit verfolgt diese Dissertation einen ideengeschichtlichen Ansatz. Ein solcher bemüht sich um die Wirkungsweisen und Begründungsansätze von Theorien und hier des Naturrechtsgedankens. „Ein ideengeschichtlicher Ansatz verfolgt die Aufgabe, die Gedankengebäude hinter den Begriffen freizulegen.“26 Eine deterministische Kausalität lässt sich dadurch nicht erheben27. Daraus folgt, dass die Untersuchung keine zwangsläufig reale Wirkung des Naturrechts auf das Recht und die Gesellschaft herausarbeiten will, sondern eine plausible Erklärung zur Wirkung und Funktionalität liefern möchte. Diese Methode ist nötig, um den möglichen Nutzen des Naturrechtsgedankens herauszuarbeiten und dadurch die defizitäre Vernachlässigung untermauern zu können. Einer Ideengeschichte lassen sich keine Naturgesetze und Kausalitäten entnehmen, sie lässt sich dadurch aber auch nicht im naturwissenschaftlichen Sinne widerlegen, wodurch ihr, nach der Herausarbeitung der inneren Logik und Stringenz durch die hermeneutische Analyse, eine Relevanz zugesprochen werden kann. Die Untersuchung möchte die gegenwärtige Relevanz des Naturrechts somit in deskriptiver und hermeneutischer Analyse und ihre ideengeschichtliche Wirkungs- und Begründungsweise bestimmen und legt dabei den Schwerpunkt auf die Literaturarbeit aus den Bereichen der Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie und Moraltheologie. Daher soll die Ideengeschichte der Menschenrechte und der Menschenwürde auf ihre Parallelen mit dem zuvor dargestellten Naturrecht überprüft werden. Dort wird die präsentierte Naturrechtsdefinition angewandt und die Menschenrechte aufgrund ihrer Begründung und Wirkungsweise mit der Naturrechtstheorie verglichen. Zugleich wird analysiert, inwieweit die Menschenrechte eine Spielart, ein Beispiel für die Naturrechtstheorie darstellen oder mit dieser identisch ist. Die Untersuchung beschäftigt sich demnach auch mit der Frage des aktuellen Wirkens des Naturrechtsgedankens. Dieser Betrachtung folgt eine hypothetische Wirkungs 26 A. Rieß, Eine Ideengeschichte der Freiheit. Die liberale Idee im Zeichen des theologischpolitischen Problems, München 2012, S. 16. 27 Vgl. Rieß, Ideengeschichte (Fn. 26), S. 16 ff.

I. Das methodische Vorgehen 

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kraft des Naturrechts, um die potentielle Nützlichkeit dieser Theorie aufzuzeigen, wobei auf die einzelnen Darstellungen über die ethische Rechtfertigung des Rechts zurückgegriffen wird. „Eine sichere Prognose über die Zukunft ist mangels einer solchen letzten Notwendigkeit der Geschichte nicht möglich, und ebenso erscheint es aus den angeführten Gründen kaum durchführbar, ex post eine eindeutig determinierte Kausalkette der historischen Begebenheiten zu rekonstruieren.“28 Das Potential einer Theorie kann durch einen Erklärungsversuch bzgl. ihrer Wirksamkeit und Nützlichkeit erarbeitet werden, was die Untersuchung durch Analyse einzelner Begründungsversuche leisten möchte. Demnach nutzt die Untersuchung die hermeneutische Analyse und Auslegung der einzelnen Veröffentlichungen, um die Begründungen einzelner Theorien und der rechtlichen Praxis herauszuarbeiten. Die getrennte und vergleichende Darstellung der deutsch- und englischsprachigen Rechtsphilosophie ermöglicht möglicherweise eine Erkenntnis über die unterschiedliche Nutzung und Herangehensweise dieses Themas. Letztlich soll anhand dieser Methode und einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Begründungen eine ideengeschichtliche Wirkung am Beispiel der Menschenrechte und einen Nutzen für die Rechtswissenschaft beschrieben werden. Bevor die Literatur nach solchen Inhalten untersucht werden kann, muss nach den Gesetzen der Logik die Klarstellung des Inhaltes vorangestellt werden. Welche Quellen werden genau wonach untersucht? Da die These dieser Arbeit von der Vernachlässigung des Naturrechts ausgeht, ist der Inhalt der Untersuchung zumindest begrifflich bestimmt. Aber was verbirgt sich hinter dem Begriff des Naturrechts? Welches Naturrechtsverständnis wird zur Untersuchung herangezogen? Da der Begriff des Naturrechts seit Jahrtausenden inhaltlichen Schwankungen unterliegt, kann es eine unstreitige Definition des Naturrechts nicht geben. Die Begriffs­bestimmung könnte Schwierigkeiten bereiten, da bereits über die Existenz eines sog. Naturrechts diskutiert und diese teilweise abgelehnt wird. Das Naturrecht wird nicht naturwissenschaftlich nachgewiesen oder folgt keiner naturwissenschaftlichen Formel, weshalb Franz Josef Bormann das Naturrecht als einen sehr weiten und unspezifischen Begriff bezeichnet29. Unter dem Naturrecht kann daher jeder verstehen, was er hierunter verstehen möchte. Wenn der Autor also eine Begriffsbestimmung vornimmt, nach deren Inhalt gewisse Veröffentlichungen untersucht werden sollen, muss darauf geachtet werden, den Begriff nicht zugunsten seiner These zu formulieren. Es besteht die Gefahr, den Begriff der später untersuchten Literatur anzupassen und weniger die Literatur an einem vorweggenommen und neutral erarbeiteten Naturrechtsbegriff zu mes 28

Rieß, Ideengeschichte (Fn. 26), S. 18; Herv. F.v.R. F.-J. Bormann, ‚Natur‘ als Prinzip ethischer Orientierung? Zu einigen zeitgenössischen Reformulierungsversuchen des naturrechtlichen Denkansatzes, in: C. Böttigheimer / N. Fischer /  M. Gerwing (Hrsg.), Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, 2009, S. 335 (337). 29

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A. Einführung

sen. Eine solche Herangehensweise unterliegt dem Problem des Zirkelschlusses: Erst könnte die Literatur gesammelt und hiernach der Naturrechtsbegriff erarbeitet werden. Wird die Literatur dann an diesem Begriff gemessen, müssen sich die Erzeugnisse zwangsläufig als naturrechtlich entpuppen. Jede dargestellte Literatur könnte so im Nachhinein unter einem Begriff zusammengefasst werden, welcher gegenwärtig nicht mehr existent zu sein scheint, wodurch sich die These später als bewiesen darstellt. Dieser Verdacht könnte verstärkt werden, weil sich die Annäherung an den Begriff des Naturrechts nicht durch die Begründung einer eigenen Naturrechtstheorie gestaltet. Vielmehr wird der Begriff aus verschiedenen Naturrechtsverständnissen extrahiert. Die Begründung einer Naturrechtstheorie könnte die Herleitung eines Naturrechtsbegriffes liefern. Die Theorie entwickelt dann eine eigene Definition dessen, was sie unter dem Begriff versteht. Sie wäre somit definitorisch und methodisch in sich kohärent. Innerhalb ihres Begründungsansatzes macht eine solche Theorie nebenbei deutlich, warum sie sich für unentbehrlich und notwendig hält. Die Begründung einer eigenen Theorie wäre allerdings einer nicht weniger subjektiven Ansicht unterworfen, weshalb sie die Kritik an der Literaturarbeit nicht beheben könnte. Sie könnte auch den empirischen Beleg für eine defizitäre Perzeption in der rechtsphilosophischen Wirksamkeit nicht leisten und wäre daher methodisch mangelhaft. Diese Untersuchung kann kritischen Einwände nicht gänzlich entkräften, man könne den Naturrechtsbegriff mit so viel subjektivem Gehalt aufladen, dass die spätere Untersuchung der Literatur mit dem vom Autor selbst zusammengestellten Begriff übereinstimmt. Dann aber könnte bereits die Behandlung des Themas ein Indiz für einen subjektiv aufgeladenen Naturrechtsbegriff sein. Aber in der Affinität zu einem Thema kann noch kein kritikwürdiges Verhalten liegen. Dass eine einheitliche Definition des Naturrechts nicht existiert, kann bereits vorweggenommen werden. Diese Vielschichtigkeit stellt eines der zentralen Probleme des Naturrechts dar30. So gesehen hat diese Schwachstelle des uneinheitlichen Naturrechtsbegriffs die Schwierigkeit der Begriffsbestimmung in dieser Arbeit zur Folge. Hierzu seien noch folgende Punkte angemerkt: Bei der Untersuchung und explizit bei der Herausarbeitung des Naturrechtsbegriffs wird größtenteils auf Veröffentlichungen und Definitionen von Vertretern des Naturrechts zurückgegriffen. Die Untersuchung von Veröffentlichungen ausgesprochener Rechtspositivisten nach einem naturrechtlichen Inhalt erübrigt sich. Es geht gerade darum aufzuzeigen, dass es eine nicht unerhebliche Anzahl von Naturrechtsvertretern gibt. Die Theorien werden dennoch nach ihrer inhaltlichen Übereinstimmung mit dem Naturrechtsbegriffs untersucht und möglicherweise auch bejaht, auch wenn sie gegebenenfalls von ihrem eigenen Vertreter nicht so bezeichnet werden sollten. Für die Einordnung ist die hier präsentierte Naturrechtsdefinition ausschlaggebend, da sonst wieder eine Vielzahl von Verständnissen in die Untersuchung einfließen würden. 30

Vgl. Bormann, Natur (Fn. 29), S. 336.

II. Die Unverfügbarkeit als Element des modernen Naturrechtsbegriffes 

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II. Die Unverfügbarkeit als Element des modernen Naturrechtsbegriffes Inwieweit der Begriff des Naturrechts gegenwärtig verwendet wird, was unter diesem Begriff heutzutage zu verstehen ist und ob der Naturrechtsbegriff vielleicht teilweise durch andere, inhaltlich gleichbedeutende Begriffe ersetzt worden ist, ist Teil der Untersuchung. Somit wird sich bei genauerer Betrachtung einzelner Theorien zeigen, ob und inwiefern die Naturrechtstheorien noch immer Einzug in aktuelle Diskussionen finden. Zunächst ist es allerdings notwendig darzustellen, welchen geschichtlichen Wandel der Begriff vollzogen und wo dieser seinen Ursprung hat, bevor etwas detaillierter darauf eingegangen werden soll, was unter dem Naturrecht heute verstanden werden kann und welches Verständnis dieser Arbeit zu Grunde liegt.

1. Der Naturrechtsbegriff in der historischen Betrachtung Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung wie diese, die sich mit der gegenwärtigen Naturrechtsdiskussion beschäftigt, kann sich nicht vorwiegend mit breit angelegten Abhandlungen über das Naturrecht im Allgemeinen der letzten Jahrtausende beschäftigen. Dennoch soll dieses Kapitel einen kurzen Einblick in die vergleichende Ideengeschichte der Terminologie vermitteln, die anschaulich macht, wie wandelbar der Terminus des Naturrechtsbegriffs ist und wie unterschiedlich er im Laufe der Jahrhunderte verwendet wurde. Es soll vor allem dafür sensibilisieren, dass es das Naturrecht nicht gibt. Als kleine Einführung kann in dieser Arbeit nur auf wenige Punkte der Historie hingewiesen werden, sie kann keine – und will es auch nicht – lehrbuchartige Darstellung vorweisen. Dennoch ist es auch für die gegenwärtige Diskussion unausweichlich, sich zumindest einen kleinen Überblick über das Naturrecht der Vergangenheit zu verschaffen. Was also versteht man klassischerweise, wenn man von Naturrecht spricht? a) Antike Die Idee des Naturrechts reicht bis in die Antike zurück. Bereits in der sog. vorsokratischen Zeit zeichnen sich erste Überlegungen ab, der Natur lasse sich allgemeine Normen des Handelns entnehmen31. Doch erst die Sophisten stellten Physis und Nomos, Natur und Gesetz, gegenüber32. Die Suche nach ethischen Maßstäben und der Frage der Richtigkeit von Regeln dürfte durch die „Erfahrungen unterschiedlicher Formen von Gesetzen und Sitten bei Griechen und Barbaren, sowie 31 Vgl. zusammenfassend A. Aichele, Geschichte der Rechtsphilosophie. Antike, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), 104–115. 32 M. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1996, S. 31.

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der Möglichkeit, bei der Neugründung von Kolonien unterschiedliche politische Organisationen zu installieren,“ aufgeworfen worden sein33. Einen grundlegenden Wandel vollzog dabei Protagoras, nach dem die Gesetze in der Natur des Menschen und nicht mehr, wie zuvor angenommen, in der Natur des Kosmos (Weltordnung) fundiert seien34. Nach seinem berühmten homo-mensura-Satz sei nämlich der Mensch das Maß aller Dinge35. Als weitere maßgeblich prägende Person kann Antiphon bezeichnet werden. Antiphon begreift die Gesetze als regional abhängige Erscheinung, welche aus Vereinbarungen entstehen: „Gerechtigkeit besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften des Staates, in dem man Bürger ist, nicht zu übertreten. Es wird also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der Anwendung der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hoch hält, allein und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur; denn die der Gesetze sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig; und die der Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart. Wer also die gesetzlichen Vorschriften übertritt, ist, wenn es ihren Vereinbarern verborgen bleibt, von Schande und Strafe verschont, bleibt es ihnen nicht verborgen, so nicht. Wer dagegen eins der von Natur mit uns verwachsenen Gesetze wider die Möglichkeit zu vergewaltigen sucht, für den ist, wenn es vor allen Menschen verborgen bleibt, das Unheil um nichts geringer und, wenn alle es bemerken, um nichts größer; denn der Schaden beruht nicht auf bloßer Meinung, sondern auf Wahrheit.“36 Er sieht, im Gegensatz zu konventionswidrigem Verhalten, widernatürliches Verhalten als immer schädlich an37. Antiphon beschreibt also eine Divergenz zwischen den „Rechtsfolgen“ des Zuwiderhandelns von Regeln der Polis und der „natürlichen Regeln“. Zum anderen kritisiert Antiphon das bestehende Rechtssystem aufgrund einer aus seiner Sicht natürlichen Gegebenheit, wenn er alle Menschen als „gleich geschaffen“ ansieht38. Antiphon stellt dem geschriebenen, dem „vereinbarten“ Recht, eine natürliche Regel gegenüber. 33

M. Kaufmann, Recht, 2016, S. 2. R. Brandt, Naturrecht (Antike), in: J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 563 (564). 35 Platon, Theaitetos, 152a (zitiert nach der Henricus-Ausgabe, herausgegeben von ­Theodor Borken, 2020, S. 19): „der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nicht seienden, wie sie nicht sind.“ 36 H. Diels / W. Kranz (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, 18. Aufl., unver. Ndr. der 6. Aufl., 2005, 87 B 44, Coll. 1 und 2. Und weiter: „Das Zuträgliche ist, soweit es durch die Gesetze festgesetzt ist, Fessel der Natur, soweit dagegen durch die Natur, frei.“ Ebda., Coll. 4. 37 Aichele, Geschichte (Fn. 31), S. 108. 38 Diels / K ranz (Hrsg.), Fragmente (Fn. 36), Coll. 1 und 2. So schreibt Antiphon ausführlich: „Die von vornehmen Vätern abstammen, achten und verehren wir, die dagegen nicht aus vornehmem Hause sind, achten und verehren wir nicht. Hierbei verhalten wir uns zueinander wie Barbaren, denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen. Das lässt eine Betrachtung der allen Menschen von Natur notwendigen Dingen erkennen […] in allen diesen Dingen ist weder ein Barbar von uns geschieden noch ein ­Hellene. Atmen wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus.“ 34

II. Die Unverfügbarkeit als Element des modernen Naturrechtsbegriffes 

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Aristoteles thematisiert in der Nikomachischen Ethik lediglich einmal den Gegensatz von „natürlichen Rechten“ und „gesetzlichen Rechten“39 und definiert dennoch erstmalig das natürliche Recht im Gegensatz zum positiven Recht40: „Das politische Recht zerfällt in das natürliche und das gesetzliche (positive). Natürlich ist jenes, das überall die nämliche Geltung hat, unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht; gesetzlich jenes, dessen Inhalt ursprünglich indifferent ist, das aber, einmal durch Gesetz festgelegt, seinen bestimmten Inhalt hat“41. Nach Aristoteles ist das Naturrecht auch ein Recht der Polis. Hier kommt sein Menschenbild stark zum Vorschein, der Mensch sei ein von Natur aus polisbildendes Wesen42. Dies ist also der erste zentrale Grund für die Bildung einer politischen Ordnung nach Aristoteles, dass es dem menschlichen Wesen entspreche, sich in eine Polis zu begeben43. Der zweite zentrale Grund für den Nutzen einer solchen Ordnung wird von Aristoteles daran festgemacht, dass ein tugendhaftes bzw. gutes Leben in einer Polis besser möglich sei44. Der Mensch könne sich in der Polis selbst erhalten und vervollkommnen und diese existiere, um das tugendhafte und gerechte Leben der Menschen zu ermöglichen45. Entsprechend seines teleologischen Weltbildes befindet sich der Mensch in einem System der verschiedenen Ziele / Güter. Diese Ziele befinden sich in einem wechselseitigen und z. T. untergeordneten Verhältnis, so dass gewissen Gütern eine größere Bedeutung zugeschrieben wird als anderen. Jedes menschliche Handeln erstrebt ein Ziel, welches um seiner selbst willen erstrebt wird46. Dies ist die Glückseligkeit, die sich durch Autarkie auszeichnet47. Die Glückseligkeit wird durch alle Güter hindurch erstrebt und ist selbst kein Mittel zum Zweck. Der politischen Ordnung kommen hier das Privileg und die Aufgabe zu, alle Wissenschaften, Künste und menschliche Handlungen so zu lenken, dass sie alle dem menschlichen Gut dienen. Die „Staatskunst“ ist den anderen Künsten und Wissenschaften übergeordnet, weil sie bestimmt, was wo zu welcher Zeit gebraucht und genutzt wird, denn sein Ziel ist das wichtigste48. Das Gut der Gemeinschaft steht für Aristoteles natürlicherweise über dem Gut des Individuums. Es ist erstrebenswerter, das Gut 39

O. Höffe, Art. Naturrecht (Grundgedanke), in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 4, 8. Aufl. 2020, Sp. 236 (237 f.). 40 Bezogen auf die besondere Bedeutung und Neuartigkeit seiner Ansicht: A. Kaufmann /  D. v. d. Pfordten, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: W. Hassemer / U. Neumann /  F. Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, S. 23 (38). 41 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b 20 (zitiert nach der Meiner-Ausgabe, herausgegeben von Günther Bien, 2017, S. 117). 42 Kaufmann / v. d. Pfordten, Problemgeschichte (Fn. 40), S. 32. 43 Vgl. M. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 5. Aufl. 2019, S. 46 ff. 44 Aristoteles, Politik, 1278b (zitiert nach der Meiner-Ausgabe, herausgegeben von Eugen Rolfes, 4. Aufl. 1981, S. 88 f.). 45 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 47. 46 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 41), 1094a. 47 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 41), 1095a. 48 Aristoteles, Nikomachische Ethik (Fn. 41), 1094b.

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Vieler zu fördern, als das Gut eines Einzelnen. Die Glückseligkeit wird jedoch durch unterschiedliche Dinge hervorgerufen. Hierbei werden beispielhaft Macht, Erfolg, Reichtum oder Gesundheit als hinreichende Bedingungen angeführt. Nur skizzenhaft sei hier bereits ein Satz zu einer generellen Naturrechtskritik angemerkt. Der Naturrechtstheorie wird gemeinhin der Vorwurf gemacht, sie versuche aus dem Sein das Sollen abzuleiten. Es gebe keine Veranlassung zu der Annahme, dass etwas „wie es ist“, den Weg für das „wie es sein sollte“, aufzeigen könne. Die Bewertung oder das Erstreben vom Guten oder Schlechten solle ja gerade nichts mit einer zufälligen Konstellation oder Gegebenheit zu tun haben. Diese Kritik wird auch teilweise an Aristoteles’ Theorie geäußert49. Für Aristoteles ist der Mensch, wie andere Tiere auch, ein politisches Lebewesen, welches zunächst auf seiner Artikulationsfähigkeit und seinem Schmerz- und Lustempfinden beruhe. Aufgrund seiner rationalen Fähigkeit könne der Mensch aber Nützliches und Schädliches unterscheiden, somit nach einem guten Leben streben und schließlich dadurch auch Recht und Unrecht in einer Gemeinschaft unterscheiden. Der Vorwurf hieran erstreckt sich also auf die Idee, dass sich aufgrund der Art des Menschseins oder der Beobachtung des Menschen etwas als gut und richtig bewerten und somit auch für Gesetz und Staatsgebilde abschauen ließe50. Aber das „Sein“ bedeutet bei Aristoteles keine rein statische Natur, sondern vielmehr eine Natur im Fluss: Als Natur bezeichnet Aristoteles daher „erstens den Anfang und zugleich internen Motor der Entwicklung, bei einem Baum den Keim. Sie meint, zweitens, ihr normatives Ziel, zugleich Wesen, die voll entfaltete, vorbildliche Gestalt etwa eines freistehenden, prachtvollen Parkbaums, einer Ulme, nicht eine Krüppelkiefer. Schließlich bezeichnet ‚Natur‘ den Ablauf, den Entwicklungsprozess vom Keim bis zur Vollendung.“51 Das „Sein“ wird hier also nicht als eine gegenständliche Existenz, als reines Vorhandensein, verstanden. Es ist nicht mit einem Bild vergleichbar, das von außen betrachtet die Wirklichkeit und damit einen möglichen Grund für das „Sollen“ widerspiegelt. Es schließt die innere, die menschliche Natur, die Bedürfnisse des Menschen, seine Psyche und seinen individuellen Charakter mit ein. Anders als die Philosophie der Sophisten, die bei dem Merkmal Natur eher auf die biologische Konstitution zu sprechen kommen, zielt die Philosophie der Stoa auf ein „kosmologisches Naturrecht“, eine vernünftige, strukturierte und geordnete äußere Welt ab52. Dieser Auffassung liegt die Annahme zu Grunde, „der Welt

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O. Höffe, Wofür braucht das positive Recht das Naturrecht?, in: Der Staat 58 (2019), S. 275 (282). 50 Höffe, Recht (Fn. 49), S. 282. 51 Höffe, Recht (Fn. 49), S. 283. 52 H. Dreier, Naturrecht und Rechtspositivismus. Pauschalurteile, Vorurteile, Fehlurteile, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, 2007, S. 127 (128).

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wohne eine innere, gestaltende Vernunft, der Logos, inne“53. Die Stoa bildet somit als erste den Kern der Diskussion um das Naturrecht heraus, in dem sie von der Existenz einer allumfassenden, unabdingbaren Ordnung ausgeht, die einen Maßstab für das positive Recht bildet54. b) Frühe Kirche und Mittelalter Die mittelalterliche Rechtsphilosophie fußt auf christlichem / k irchlichem Naturrecht. Hier ist die Naturrechtslehre der Scholastik hervorzuheben, die der Ethik / Moraltheologie zuzuordnen ist, da sie sich weniger mit einer irdischen als mit einer allwissenden göttlichen Instanz auseinandersetzt55. Der Gedanke eines Naturrechts wurde übernommen und von nun an durch einen erkennbaren Schöpfergott als Urheber begründet56. aa) Frühe Kirche Bereits in der Spätantike übernahm Augustinus als einer der ersten christlichen Philosophen und Theologen den Begriff lex aeterna aus der stoischen Philosophie57. Der sündige Mensch könne zwar das Naturgesetz (göttliches Gesetz) nicht direkt wahrnehmen, er habe aber die Fähigkeit, durch die Vernunft die Schattierungen dieses Gesetzes zu erkennen58. Augustinus vertritt jenes Naturrecht, was auch heute noch für viele Naturrechtsskeptiker gegenüber modernen Theorien einen Kernpunkt ihrer Kritik darstellt. Nämlich ein Naturrecht, welches an dem positivierten Recht gemessen, möglicherweise zu dessen Verwerfung führen kann. Das Naturrecht steht dabei hierarchisch über den gesetzten Normen und genießt bei gegensätzlichem Inhalt den Vorrang. „Ich glaube, du siehst zugleich auch ein, daß in dem zeitlichen Gesetz nichts gerecht und richtig ist, was sich die Menschen nicht aus dem ewigen Gesetz hergeleitet habe.“59 Dieses ewige Gesetz ist nach Augustinus zeitlos und unveränderlich60. So müsse positiviertes Recht, um verbindlich zu sein, das Naturgesetz der göttlichen Ordnung zeitgerecht ver-

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Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 58; Herv. F.v.R. Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 58. 55 R.  Specht, Naturrecht, in: J.  Ritter / K.  Gründer (Hrsg.), Wörterbuch (Fn. 34), Sp. 571 (571). 56 Vgl. Höffe, Naturrecht (Fn. 39), Sp. 238. 57 Vgl. zusammenfassend N. Brieskorn, Mittelalter: Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin, in: E.  Hilgendorf / J. C.  Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 116–120; B.  Rüthers /  C. Fischer / A . Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 10 Aufl. 2018, Rn. 421 ff. 58 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 423. 59 Augustinus, De libero arbitrio, 1, 15 (zitiert nach der Ferdinand Schöningh-Ausgabe, herausgegeben von Johannes Brachtendorf, 2006, S. 93). 60 Augustinus, De libero arbitrio (Fn. 59), 1, 15. 54

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wirklicht haben61. „Das ewige Gesetz ist das, wodurch es gerecht ist, daß alles zuhöchst geordnet ist.“62 bb) Mittelalter Auch Thomas von Aquin63 unterscheidet verschiedene Normsphären64. In der Hierarchie gilt zunächst eine lex aeterna, die vollkommene Regel des Universums durch die göttliche Vernunft65. Die Lex naturalis sei hingegen die Teilhabe des ewigen Gesetzes in einem vernünftigen Geschöpf66. Das Naturgesetz könnten Menschen durch ihr Urteilsvermögen, das Gewissen, erkennen, dessen oberste Maxime lautet: „Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Böse ist zu meiden.“67 Thomas von Aquin sieht die lex aeterna aus der göttlichen Vernunft hervorgehen, weshalb das Naturrechtssystem eine objektive Ordnung annehme, die in der Natur des Menschen und der Dinge vorgegeben sei und durch die menschliche Vernunft erkannt werden könne68. c) Aufklärung Der Naturrechtsbegriff der Neuzeit trennt sich von einer religiösen Begründung ab und entwickelt sich zunehmend von der Moraltheologie und Ethik zur Staatsund Rechtsphilosophie69. Die ausgereiftesten Formen, in denen wir naturrecht­ lichen Argumentationen wiederfinden, sind die der Vertragstheorien, die eine ideale Gesellschaftsform philosophisch begründen und bei der Frage nach der gerechten Ausgestaltung solcher Staatsformen weiterhin auf die Natur des Menschen abzielen. Nach Martha Nussbaum etwa, die selbst ihre gegenwärtige Theorie auf der Vertragstheorie aufbaut, gehöre die Theorie, „sich grundlegende politische Prinzipien als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages vorzustellen, […] zu den wichtigsten Beiträgen der liberalen politischen Philosophie westlicher Tradition“70.

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Augustinus, De libero arbitrio, (Fn. 59), 1, 15; vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 423. 62 Augustinus, De libero arbitrio (Fn. 59), 1, 15. 63 Ausführlichere Darstellung zu Thomas v. Aquin unter Kap. B. I. 64 Vgl. zusammenfassend Brieskorn, Mittelalter (Fn. 57), S. 120–128. 65 Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 32), S. 47. 66 Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 32), S. 47. 67 T. v. Aquin, Summa Theologica, I–II, q. 94, a. 2, c. (zitiert nach der Deutschen-ThomasAusgabe, Bd. 13, 1977, S. 74). Diese Arbeit wird richtigerweise die Bezeichnung Summa Theologiae verwenden. 68 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 424. 69 Vgl. Specht, Naturrecht (Fn. 55), Sp. 571. 70 M. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, 2014, S. 26.

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Hugo Grotius geht bei seiner Theorie hingegen noch von einer stark christlich geprägten Vorstellung aus, dass Gott als Schöpfer eine bestimmte Handlung geoder verbiete71. Dennoch sei das natürliche Recht ein Gebot der Vernunft, das so unveränderbar sei, dass selbst Gott es nicht zu ändern vermag72. Grotius unterscheidet zwischen Naturrecht und menschlichem Recht und stellt dem Naturrecht daher das positive Recht gegenüber73. Der Mensch sei in seinem ursprünglichen Zustand frei und besitze alles zusammen. Daher komme es dazu, dass der Mensch auch nach seinem eigenen Nutzen strebe. Der Mensch schließe sich zu einem Staat zusammen, um den Rechtsfrieden zu wahren und den Nutzen aller zu fördern74. In Thomas Hobbes hypothetisch gedachtem Naturzustand ohne staatliche Ordnung lebt der Mensch in einem Zustand des Krieges „alle gegen alle“ (bellum omnium contra omnes)75. Dies müsse der Mensch überwinden, denn nach Hobbes pessimistischem Menschenbild sei „jeder Mensch dem anderen ein Wolf“ (homo homini lupus) und kann alles tun, was er will76. Um diesen Zustand überwinden zu können, entwickelt Hobbes die Vertragstheorie. Hierbei geben die Menschen Rechte aus dem Naturzustand auf und unterwerfen sich aus Gründen der Vernunft Einschränkungen durch den Staat77. Der Staat schützt im Gegenzug den Menschen vor Verletzungen durch andere Personen. Es ist eine gedankliche Vertragskonstruktion, welche in der Natur des Menschen begründet wird. Weil der Mensch ist wie er ist und dadurch in anderer Menschen „Rechte“ eingreift, bildet er einen Staat, der ihm hierdurch ein friedliches und gutes (gerechtes) Leben ermöglicht. Hobbes geht im Grunde von einem Menschenbild aus, bei dem der Mensch vor sich selbst geschützt werden muss. Im Gegensatz hierzu geht John Locke von einer viel positiveren Natur des Menschen als ein freies und untereinander gleiches Subjekt aus. Der Naturzustand muss somit nicht überbrückt, sondern durch Abtretung von Macht an den Staat gesichert werden, da der Mensch sonst ein Leben in Furcht und Gefahr führen müsse78. Das Bestehen eines rechtlichen Rahmens zur Förderung des menschlichen Zusammenlebens, das Verlassen des Naturzustands, ist die erste Forderung des Naturrechts79. 71 Vgl. M.-E. Geis, Gesellschaftsverträge, in: E. Hilgendorf / C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 193 (194). 72 H. Grotius, De Jure Belli ac Pacis. Libri Tres, 1. Buch, 1. Kap. X (zitiert nach der MohrAusgabe; herausgegeben und übersetzt von Walter Schätzel, 1950, S. 50 f.). 73 Vgl. Grotius, De jure (Fn. 72), 1. Buch, 1. Kap. X. 74 Grotius, De jure (Fn. 72), 1. Buch, 1. Kap. XIV. 75 Vgl. ausführliche Darstellung bei Kurt Seelmann zu Hobbes: K. Seelmann / D. Demko, Rechtsphilosophie, 7. Aufl. 2019, S. 162. 76 Die Gründe für dieses Menschenbild liegen sicherlich auch in den Erfahrungen englischer Religionskriege; so auch Geis, Gesellschaftsverträge (Fn. 71), S. 195. 77 K.-L. Kunz / M. Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2015, S. 64 ff. 78 Vgl. zusammenfassend Kunz / Mona, Rechtsphilosophie (Fn. 77), S. 66 f. 79 So zumindest R. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1977), in: ders., Philosophische Essays, erw. Ausg. 1994, S. 60 (64).

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Im Gegensatz zu Hobbes geht Locke bereits im Naturzustand von unveräußerlichen Rechten beim Menschen aus, wie das Recht auf Leben, Freiheit und die Resultate seiner eigenen Arbeit80. Jean-Jacques Rousseau sieht den Menschen im Naturzustand ebenfalls als gut und gleichwertig an. Hauptziel der individuellen Erhaltung sei es, den Schutz der Gesellschaft zu gewährleisten und die persönliche Freiheit weiter zu nutzen81. Immanuel Kant verfolgt in seiner Rechtslehre aus der Metaphysik der Sitten den Ansatz, positive Gesetze ließen sich aus den Grundlagen der „bloßen Vernunft“ ableiten und das vor-positive Recht solle dem positiven Recht als apriorischer Maßstab dienen82. Das Naturrecht wird bei Kant somit endgültig zu einem Vernunftrecht. Dieser beschäftigt sich mit der Legitimation und Limitation von staatlicher Macht und bezieht sich dabei eben nicht auf die Physis, sondern auf die metaphysische reine Vernunft des freien Menschen83. Ein naturrechtlich begründetes Recht kann sich nicht mehr auf eine Natur berufen, die sich aus der Erfahrung, der Empirie, ergibt84. Prinzipien prägen daher ein solches Naturrecht nach Kant a priori85. Aus der Einheit der praktischen Vernunft heraus muss auch die Rechtslehre auf dem Sittengesetz, dem obersten Prinzip, basieren86. Dadurch ist der kategorische Imperativ, „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde,“87 dem vernunftbegabten Wesen zugänglich. Der Vorwurf eines Sein-Sollens-Fehlschluss bei Kant und auch bei anderen Anhängern des Vernunftrechts läuft somit leer, da hier nicht auf eine „normgebende Natur […], sondern die davon streng geschiedene Welt der Freiheitsgesetze“ abgestellt wird88. Für Ottfried Höffe ist der Begriff des Naturrechts im Zusammenhang mit solchen Freiheitsrechten verwirrend, da das Naturrecht heutzutage anders verwendet werden würde, nämlich als „Inbegriff alles Seienden“89. Sicher ist, dass Kants Rechtsverständnis nicht von einer rechtspositivistischen Auffassung ausgeht, da er das Recht der Vernunft unterstellt und nicht formellen Bedingungen. Man könnte Kants Rechtslehre aus naturrechtlich wohlwollender Sicht auch als Naturrecht bezeichnen, „das auf Prinzipien der praktischen Vernunft beruht.“90

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Vgl. zusammenfassend Seelmann / Demko, Rechtsphilosophie (Fn. 75), S. 215. Vgl. Geis, Gesellschaftsverträge (Fn. 71), S. 196. 82 Vgl. zusammenfassend Kaufmann / v. d. Pfordten, Problemgeschichte (Fn. 40), S. 55 ff. 83 Vgl. Höffe, Recht (Fn. 49), S. 284 f. 84 R.  Ružička, Art. Naturrecht (Neuzeit), in: J.  Ritter / K.  Gründer (Hrsg.), Wörterbuch (Fn. 34), Sp. 594 (594). 85 Ružička, Naturrecht (Fn. 84), Sp. 594. 86 Ružička, Naturrecht (Fn. 84), Sp. 594. 87 Kant, AA IV, S. 421 (zitiert nach der Reclam-Ausgabe „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“; herausgegeben von Theodor Valentiner, 2019, S. 52). 88 Höffe, Recht (Fn. 49), S. 285. 89 Höffe, Recht (Fn. 49), S. 285. 90 H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1993, S. 36. 81

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2. Verwendung des Naturrechtsbegriffes in der Gegenwart Es ist somit hinreichend und methodisch nachvollziehbar dargelegt worden, dass es den Naturrechtsbegriff nicht gibt, weder historisch noch gegenwärtig betrachtet. Es ist daher auch methodisch unerlässlich, wenn zunächst einmal klargestellt wird, unter welchem Vorzeichen die Auswahl von Literatur, Theorien und Autoren steht, denn die Arbeit vermag es nicht, alle Theorien der letzten Jahre, welche sich mit Moral und Recht, Ethik und Gesetz, Menschenwürde und Menschenrechte beschäftigen, auf den Gehalt möglicher Naturrechtsprägungen zu untersuchen. Vielmehr konzentriert sie sich auf solche Literatur, die sowohl in der Sekundärliteratur bereits als naturrechtlich geprägt beschrieben wurde, in ihrem Titel offensichtlich auf das Naturrecht aufmerksam macht oder Theorien nahesteht, die traditionellerweise naturrechtliche Ansichten enthalten und als besonders prägend für die gegenwärtige Naturrechtsansicht angesehen werden können. Das bedeutet nicht, dass diese Literatur später auch wirklich naturrechtliche Aussagen oder Behauptungen enthalten muss. Hier wird die Arbeit sich damit beschäftigen, auseinandersetzen und bewerten müssen, inwieweit das Dargestellte tatsächlich einen Mehrwert für aktuelle Naturrechtstheorien ergibt und hieraus vielleicht der Schluss gezogen werden kann, das Thema sei somit aktueller als häufig vermutet. Gerade aber durch diese notwendige Vorauswahl muss geklärt werden, nach welchen Kriterien diese getroffen wurde. Dazu muss beschrieben werden, welcher Naturrechtsbegriff der Auswahl zugrunde liegt. Im Prinzip aber nimmt dieser vorangestellte Naturrechtsbegriff auch keine vermeintliche Leistung vorweg, sondern ist Teil der These und konkretisiert diese nur. Welche Theorien werden denn auf was genau untersucht? Dabei wird bereits auf das Naturrechts-Verständnis der aktuelleren Diskussion Bezug genommen, will man nicht jede Naturrechtstheorie der Gegenwart an alten Naturrechtsbegriffen messen. Es würde sich auch die Frage anschließen, welches der vielen Naturrechtsverständnisse der Vergangenheit als Messwert herangezogen werden sollten. Der Naturrechtsbegriff setzt heutzutage keine zwingende empirische und vor allem biologische Betrachtung des Menschen im Sinne natürlicher Gesetzmäßigkeiten voraus, aus dessen Natur sich etwas für das Recht als vorgegebener Maßstab ableiten ließe. Das heißt nicht, dass es nicht Naturrechtstheorien gäbe, die sich weiter auf die menschliche Natur im Sinne eines biologischen, anthropologischen und soziologischen Verständnisses berufen. Aber dies ist für die Einordnung eines Gedankens, einer Theorie oder These nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Einige lehnen eine solche Betrachtungsweise des Naturrechts kategorisch ab und stellen die Ratio in den Fokus des Naturrechts. Bei der Frage, was für den Menschen seiner eigenen Natur gemäß gerecht sei, könne „nicht an Tierbeobachtungen ermittelt, sondern nur in einem rationalen Diskurs sichtbar gemacht werden.“91 Das 91 R. Spaemann, Die Bedeutung des Natürlichen im Recht, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 322 (326).

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A. Einführung

meint Spaemann, wenn er das Naturrecht als Vernunftrecht bezeichnet92. Vernunft ist „die geistige Fähigkeit des Menschen […], seine Umwelt, Dinge und Geschehnisse in ihrem inneren und äußeren Zusammenhang zu begreifen.“93 Feststehende Rechte können aus der reinen Zugehörigkeit zu der Spezies als vernunftbegabtes Wesen, als Wesen nach Gottes Abbild, als Person mit besonderen Fähigkeiten hervorgehen, oder sich aus der Tatsache ergeben, dass der Mensch nach Gütern strebt oder zum Schutz seiner Rechte aus dem Naturzustand ausbricht. Dafür kann beim Naturrecht auf die äußere Welt oder die Natur des Menschen in ihrer biologischen Erscheinung, in ihrer „Bedürfnisnatur“ oder in ihrer „Vernunftnatur“ abgestellt werden94. Das Naturrecht muss demnach nicht zwangsläufig auf der biologisch, naturwissenschaftlichen Natur des Menschen basieren95. Ebenso muss das Naturrecht nicht über dem positiven Recht stehen. Das Naturrecht kann als notwendiger Bestandteil des Gesetzes verstanden werden, wenn das Recht als zwingender Inhalt naturrechtliche Vorgaben verinnerlicht haben muss, um der Natur des Rechts zu entsprechen. Es handelt sich aber um einen weitverbreiteten Irrglauben, das Naturrecht stünde zwangsläufig über dem positivierten Recht, welches generell seine Gültigkeit verliere, sobald es im Widerspruch zum Naturrecht stehe96. Das Naturrecht erhebt somit nicht zwingend den Anspruch eines geltenden Rechts und soll heutzutage vielmehr als Maßstab für richtiges Recht dienen97. Man kann das Naturrecht auch als externe ethische Anleitung des Rechts verstehen, welches das richtige Recht vorzugeben glaubt. Es ergeben sich daher verschiedene Möglichkeiten zum Verhältnis Naturrecht und gesetztem Recht: Es gibt ein Naturrecht, welches das Gesetz in seiner Wirkung nicht antastet, aber dennoch richtiges Recht vorgibt und auf seine Umsetzung drängt. Andere verstehen das Naturrecht als Ordnung, das über dem positivierten Gesetz steht, oder definieren den Rechtsbegriff als Recht, welches zwingend auf die Einhaltung naturrechtlicher Vorgaben gerichtet ist. Entfällt der Naturrechtsgehalt aus dem Recht, entfällt gleichzeitig die Rechtsnatur. In diesen beiden Fällen ist das Recht an das Naturrecht gebunden. Das Naturrecht dient somit entweder als Maßstab für Kritik am positiven Recht oder sogar als Grundlage dafür98. Allen naturrechtlichen Strömungen ist somit das zentrale Merkmal gemein, dass sie „inhaltliche Anforderungen an das Recht stellen“99. Es wird z. B. auf „vorposi 92

Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 326. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 597. 94 Dreier, Naturrecht (Fn. 52), S. 128. 95 Ebenfalls auch Kirste, Rechtsphilosophie (Fn. 6), S. 143: „Ihren Ursprung [die naturrechtlichen Normen, F.v.R.] können sie in einem Gott (seiner Vernunft oder seinem Willen) oder der menschlichen Vernunft oder seiner Natur haben.“ 96 Dreier, Naturrecht (Fn. 52), S. 130; G. Duke / R . P. George, Introduction, in: dies. (Hrsg.), The Cambridge Companion to Natural Law Jurisprudence, 2017, S. 1 (1). 97 Vgl. Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 34. 98 G. Ellscheid, Strukturen naturrechtlichen Denkens, in: W. Hassemer / U. Neumann / F. Saliger (Hrsg.), Einführung (Fn. 40), S. 143 (147). 99 F. Wittreck, Die Radbruchsche Rechtsformel als klassischer Text der Rechtsphilosophie – Teil 2, in: Ad Legendum 2008, S. 186 (186). 93

II. Die Unverfügbarkeit als Element des modernen Naturrechtsbegriffes 

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tive“ und „überempirische“ Vorgaben verwiesen, die der Disposition durch den Gesetzgeber entzogen sind100. Damit bleibt der gegenwärtige Naturrechtsbegriff elementar seinem Inhalt in alter Tradition treu, da sie den Gesetzgeber oder anderen Machthaber an die Unverfügbarkeit des Rechts in wichtigen Gebieten des menschlichen Zusammenlebens erinnert und sie daran misst101. Sie entzieht den politischen Institutionen und dem Souverän die Macht, allein aufgrund einer Mehrheitsmeinung über bestimmte Inhalte zu disponieren. Viele Theorien um das Naturrecht leugnen zudem nicht die Notwendigkeit äußerer Verbindlichkeiten im Zuge der Normierungen und Durchsetzung102. Nach Robert Alexy schließe keiner der ernstzunehmenden Nichtpositivisten „die Elemente der ordnungsmäßigen Gesetztheit und der sozialen Wirksamkeit aus dem Rechtsbegriff aus“, sondern definiere den Rechtsbegriff vielmehr so, dass dieser neben diesen Tatsachen auch moralische Elemente einschließe103. Für Andrzej Kuciński ist das Naturecht sogar streng auf positive Umsetzung angewiesen104. Naturrecht und Rechtspositivismus müssen sich demnach auch nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Arno Anzenbacher umschreibt den Kern aller Naturrechtstheorien daher wie folgt: „Für die Legitimation des positiven Rechts und die Entfaltung eines Begriffs der Gerechtigkeit stellt der ethische Rekurs auf das Wesen und die Bestimmung des Menschen eine notwendige Bedingung dar.“105 Daher sind die Begriffe Naturrecht und Nicht-Positivismus nicht identisch, da das 100

Dreier, Naturrecht (Fn. 52), S. 130. Zur Unverfügbarkeit als den zentralen Punkt des Naturrechts siehe Ellscheid, Strukturen (Fn. 98), S. 153: „Es geht dem Naturrecht nach seiner Renaissance mehr denn je darum, die Unverfügbarkeit von Recht zu behaupten und zu sichern. Im genauen Gegenzug zur Doktrin des Gesetzespositivismus, wonach der Staat die Verfügbarkeit über das Recht zusteht, wird Naturrecht als das verstanden, was die Manipulation von Recht durch Gesetzgebung durchkreuzt, sei es als Maßstab der Kritik am positiven Recht, sei es – weitergehend – als die Verneinung der Geltung positiv-rechtlicher Normen.“ Für Kurt Seelmann ist allen naturrechtlichen Lehren der kleinste gemeinsame Nenner gemein, dass sie von der Unverfügbarkeit des Rechts zumindest in den wichtigsten Grundzügen ausgingen; vgl. Seelmann / Demko, Rechtsphilosophie (Fn. 75), S. 160. Auch Stefan Grote sieht in der Unverfügbarkeit den zentralen Begriff des Naturrechts; S. Grote, Auf der Suche nach einem „dritten Weg“. Die Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns, 2. Aufl. 2008, S. 197: „Alle Theorien, die die universale Verfügungsgewalt des Staates über das Recht behaupten, können dem Sammelbegriff ‚Rechtspositivismus‘ zugerechnet werden, alle Theorien, die dem Gesetzgeber (irgendwelche) Schranken auferlegen, können dagegen als naturrechtliche Position klassifiziert werden.“ Ebenso W. Hassemer, Unverfügbares im Strafprozeß, in: A. Kaufmann / E.-J. Mestmäcker / H. F. Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihofer, 1988, S. 183–204; Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 43. Wittreck stuft alle Theorien als Naturrecht ein, „die davon ausgehen, daß dem menschlichen oder heute typischerweise von Staaten generierten Recht bestimmte Mindestinhalte unverfügbar vorgegeben sind.“ 102 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 289. 103 R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 5. Aufl. 2011, S. 17. 104 A. Kuciński, Naturrecht der Gegenwart. Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im Anschluss an Robert Spaemann, 2017, S. 163. 105 A. Anzenbacher, Sozialethik als Naturrechtsethik, in: JCSW 43 (2002), S. 4 (15). 101

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A. Einführung

Naturrecht durchaus positiviert sein kann106. Nicht-Positivismus aber kann andersherum demnach eine Spielart des Naturrechts sein. Gerichtet ist die Frage des Naturrechts in aktuellen Diskussionen häufig auf die Frage der Verwirklichung oder des Schutzes des Gemeinwohls107. Dadurch können Gesellschaften, Staatsformen und Aufbau von staatlichen Institutionen daran gemessen werden, ob sie für eine gerechte Gesellschaft, ein gerechtes Zusammenleben, ein gerechtes Leben für das Individuum und für das Gemeinwohl förderlich sind. Akzeptiert oder konstruiert man denknotwendige Tatsachen, ohne die ein gerechtes und erfüllendes Leben nicht ermöglicht werden kann und sieht gerade darin die Legitimation und Pflicht eines Staates, so können Normen auch am Naturrecht gemessen werden. Es geht um die Frage nach logisch und vernünftig abgeleiteten Voraussetzungen für das Recht, die eben nicht des Zuspruchs anderer bedürfen und daher nicht an die Mehrheitsmeinung irgendeines Gremiums, Verbunds oder irgendeiner Institution, Gesellschaft, eines Parlaments oder einer Regierung bzw. eines Machthabers geknüpft sind. Gibt es Rechte, die Teilnehmer an einer Gesellschaft logischerweise als Voraussetzung annehmen dürfen und sollten bzw. welche bedingungslogisch vorausgesetzt werden müssen?108 Wenn diese Arbeit also der Frage nach der Aktualität des Naturrechts nachgeht, dann wird nach der Aktualität von Theorien geforscht, die, in welchem Ausmaß auch immer, die Frage nach vorausgesetzten Handlungsnormen stellen. Diese können in unterschiedlichster Art und Weise begründet werden, sei es säkular oder theologisch, und können unterschiedlich zum Rechtspositivismus stehen, sei es als Forderung zur Umsetzung oder als Bewertungskriterium an das gesetzte Recht. Naturrecht bezeichnet in seiner Bedeutung schließlich Rechte, die im Gegensatz zu kulturellen Rechten stehen109.

3. Moderne Naturrechtsdefinition Allen Theorien und Verständnissen ist ein Punkt gemein: Dem Naturrecht geht es um die Unverfügbarkeit von Recht, ohne weiterhin zwangsläufig am Natur­ begriff festzuhalten110. Somit ist der Begriff der Natur in diesem Sinne weiter als 106 Für Kirste ist das Naturrecht keineswegs identisch mit nicht-positiven Normen; Kirste, Naturrecht (Fn. 4), S. 18. Das Naturrecht wird von Kirste aber wohl zumindest als Unterart des Nicht-Positivismus bezeichnet: „Naturrecht ist eine Form nicht-positiver Normen.“ Kirste, Rechtsphilosophie (Fn. 6), S. 160 ff. 107 M. Rhonheimer, Unverzichtbarkeit und Ungenügen des Naturrechts. Über Politische Philosophie in der Tradition des Naturrechts, in: H. Thomas / J. Hattler (Hrsg.), Der Appell des Humanen. Zum Streit um Naturrecht, 2010, S. 103 (107). 108 J.  Leichsenring, Ewiges Recht? Zur normativen Bedeutsamkeit gegenwärtiger Naturrechtsphilosophie, 2013, S. 52. 109 Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 52. 110 So auch Ellscheid, Strukturen (Fn. 98), S. 146; aufgrund des Wegfalls der Bindung an den Naturbegriff drohe eine immense Ausdehnung des Naturrechtsbegriffs.

II. Die Unverfügbarkeit als Element des modernen Naturrechtsbegriffes 

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ein naturwissenschaftlicher, da er als „Komplementärbegriff“ zu verstehen ist111. Bei Naturrecht handelt es sich um Rechte, „deren Geltung nicht vom faktischen Zusprechen durch jemanden abhängen soll und die deshalb natürlich als Gegensatz zu kultürlichen Normen genannt werden.“112 Daher bezeichnet das Naturrecht „Normen, die menschlicher Entscheidungen vorausliegen“113. Gegenwärtig werden viele Meinungen schon unter die Naturrechtslehre subsumiert, die einen ethischen Anspruch an positives Recht stellen114. Das aber verwischt die Grenzen zwischen den Theorien, denn damit könnte jede Theorie, die zu einer moralischen Handlungsanweisung gelangt, zur Naturrechtstheorie gezählt werden, da sie einen gesetzlichen Verstoß gegen diese moralische Erkenntnis nicht gutheißen würde115. Eine Naturrechtstheorie muss vielmehr auch die Unverfügbarkeit durch eine objektive Begründung liefern können. Nicht jede moralische Anforderung muss gesetzlich normiert werden oder hat den Rang des Unverfügbaren. Ich möchte hier die begriffliche Unterscheidung treffen, da die Unverfügbarkeit nicht mit einer Bitte oder einem Wunsch missverstanden werden soll. Das Naturrecht erhebt nicht nur irgendeinen ethischen Anspruch an das Recht, es erhebt den Anspruch auf Unverfügbarkeit. Die Unverfügbarkeit des Rechts und somit sein „Ewigkeitsanspruch“ kann als Kernpunkt des Naturrechts angesehen werden116. Zusammenfassend lässt sich aus alldem das Naturrecht wie folgt definieren: Naturrecht ist eine wie auch immer, nicht zwingend durch die menschliche Biologie begründete, universell geltende Norm, die nicht der freien Entscheidung der Menschen unterliegt, sondern bereits vor einer möglichen Positivierung durch einen Gesetzgeber existiert, also nicht erst in ihrer Regelung erschaffen wird und sich dabei sowohl auf einzelne Handlungen als auch auf die Förderung gesamt­ gesellschaftlicher Prinzipien beziehen kann, die nicht mehr zwangsläufig den Verlust der Rechtskraft widersprechender Gesetze zur Folge hat, sondern als Maßstab für Kritik am positiven Recht dienen kann. Diese Aussage lässt sich in fünf Punkte unterteilen, drei konkretisierende und zwei essentielle Merkmale. Ich bezeichne die Merkmale als konkretisierend, da sie keine Voraussetzungen begründen, sondern nur der Klarstellung dienen. (1.) Es gibt nicht die eine Begründung der Naturrechtstheorien, (2.) die Theorien erheben nicht zwingend den Anspruch eines exklusiv hierarchischen Charakters gegenüber dem positivem Recht und (3.) die Theorien können sich sowohl auf das Individuum als auch auf die Gesellschaft beziehen. Die essentiellen Merkmale, die echte Voraus 111

Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 51. Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 51 f. 113 Kirste, Naturrecht (Fn. 4), S. 15. 114 J. Leichsenring, Gegenwärtige Naturrechtstheorien und ihr Umgang mit Religion und Säkularität, in: D. Bogner / C. Mügge (Hrsg.), Natur des Menschen. Brauchen die Menschenrechte ein Menschenbild?, 2015, S. 67 (68). 115 Unter Moral sollen Normen richtigen Verhaltens verstanden werden; in Anschluss an Kirste, Rechtsphilosophie (Fn. 6), S. 160 ff. 116 Grote, Suche (Fn. 101), S. 198. 112

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A. Einführung

setzungen darstellen, bedingen sich größtenteils gegenseitig: (4.) Eine Theorie, die der Mehrheitsmeinung die Verfügung der Norm entzieht, (5.) wird zumeist auch auf eine universelle Geltung plädieren. Anders formuliert: Das Festhalten an der universellen Geltung einer Norm ist das Bindeglied zwischen den Merkmalen der Begründung und der Unverfügbarkeit der Norm. Weil ein Anspruch als universell geltend begründet wurde, sei es durch die Vernunft, die Offenbarung etc., sollte das Recht umgesetzt und dadurch nicht frei verfügbar geregelt werden. Nach diesem Naturrechtsbegriff, der in alter Tradition der Naturrechtstheorien im Gegensatz zum reinen formellen Anspruch an das Recht steht, wird die Arbeit Theorien nach diesen Merkmalen untersuchen. Nach dieser Naturrechtszusammenfassung kann bereits folgende Aussage bejaht werden: Das Naturrecht und der Rechtspositivismus müssen sich nicht zwangsläufig ausschließen, sie sind daher komplementär zu verstehen117. Wie übersichtsartig dargestellt wurde, sehen einige das Naturrecht als Maßstab für Kritik. Diese Ansicht setzt gerade den Rechtspositivismus voraus, denn was könnte sonst am Naturrecht gemessen werden? Erst das Vorhandensein gesetzten Rechts kann dem Naturrecht eine kritische Funktion zukommen lassen. Andersherum schließt allerdings jede Theorie das Naturrecht aus, die von der völligen Verfügbarkeit des Rechts ausgeht. Das Naturrecht kann neben der Unverfügbarkeit von Recht auch für seine Positivierung eintreten. Eine Theorie, die allerdings nur auf die Einhaltung rein formeller Punkte abzieht, schließt gerade die Unverfügbarkeit und somit die Naturrechtstheorien aus. Ihre Rechtsquelle ist die Mehrheitsmeinung, oder aber sie lehnt jegliche Rechtsquelle ab.

III. Der Rechtspositivismus: Die Trennung von Recht und Moral Der Rechtspositivismus wird mitunter in unzulässiger Verengung als Gegenposition zum Naturrecht aufgefasst118. Dies liegt in der historischen Auseinandersetzung und deren grundsätzlich unterschiedlichen Herangehensweisen und Begründungen des Rechts. Es sagt allerdings noch nichts über das Verhältnis des Ergebnisses beider Positionen zueinander aus. Auch der Begriff des Rechtspositivismus ist keinesfalls ein einheitlicher, fasst aber alle Theorien zusammen, die das vom Menschen „gesetzte“ Recht in den Mittelpunkt stellen119. 117 Von der inhaltlichen Anschlussfähigkeit an den Rechtspositvismus zu unterscheiden ist der Begründungsansatz des Naturrechts, der einer positivistischen Begründung grundsätzlich widerspricht. Nach Wittreck kann das Naturrecht daher in rechtstheoretischer Sicht als „Gegenpol“ zum Rechtspositivismus verstanden werden; F. Wittreck, Art. Naturrecht (Rechtswissenschaftlich), in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon (Fn. 39), Sp. 248 (248). 118 Vgl. Kaufmann, Naturrechtsrenaissance (Fn. 6), S. 221. Kaufmann sprach im Zusammenhang der Debatte um diese beiden Ansichten von einem fatalen Stellungskrieg. 119 Kaufmann, Recht (Fn. 33), S. 21.

III. Der Rechtspositivismus: Die Trennung von Recht und Moral 

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Dabei ist das Recht bis auf formelle Voraussetzungen „verfügbar, ohne an Mindestinhalte gebunden zu sein“120. Die Rechtswissenschaft und auch die rechtliche Praxis beschäftigen sich mit der Behandlung von Gesetzen und ihrer zugrundeliegenden formellen Voraussetzungen, dem Gesetzgebungsverfahren, ohne dabei auf Perspektiven neben oder außerhalb des Rechts abzustellen121. Das gesetzte Recht „meint im Zusammenhang mit dem Begriff des positiven Rechts die Vorstellung, dass man Recht machen, d. h. künstlich entweder durch längere und allgemeine Übung (consuetudo) herstellen oder durch ein zur Rechtsetzung befugtes Organ innerhalb einer Gemeinschaft, eines Gemeinwesens, absichtsvoll schaffen kann.“122 Hierzu zählt auch die verbreitete Ansicht, es müsse strikt zwischen Recht und Moral getrennt werden123. Neben dieser sog. Trennungsthese ist vielen Anhängern des Rechtspositivismus auch eine „Neutralitätsthese“ eigen, die auf die Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft nicht nur gegenüber der Philosophie, sondern auch gegenüber Theologie, Soziologie, Naturwissenschaften, etc. setzt124. Den verschiedenen Theorien des Rechtspositivismus ist gemein, dass sie „die Positivierung als maßgebendes Kriterium für die Unterscheidung von R[echt] und Nicht-R[echt]“ heranziehen125. Das bedeutet, dass erst oder bereits Recht vorliegt, wenn es nach formellen Maßstäben ordnungsgemäß erlassen wird oder in Kraft tritt und somit unter „Ausschluss metaphysischer Vorstellung aus der Erkenntnis ‚positiv‘ vorgegebener Sachverhalte hergeleitet wird“126. In der Konsequenz bedeutet das folgendes: Positives Recht wird durch seine Verabschiedung bestandskräftig. Es wird durch diesen Akt erst wahrhaftig und kann niemals nur deklaratorisch wirken. Es bezieht sich somit nicht auf eventuelle vorgegebene Tatsachen in ethischer Hinsicht, sondern erzeugt einen vorher nicht dagewesenen Umstand. Daher kann auch keine Bewertung von Recht vorgenommen werden, da es schlicht an einem Bewertungsmaßstab fehlt. Zumindest innerhalb der Rechtswissenschaft ließen sich solche Urteile nicht begründen und solche, die außerhalb der Jurisprudenz gefällt werden, wären damit unbeachtlich. Ganz entscheidenden Einfluss hierauf hat die bereits erwähnte Trennungsthese, welche besonders von Hans Kelsen vertreten wird.

120

Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 43. C. Thies, Moral und Recht – Zur Kritik am Rechtspositivismus, in: B. Beck / ders. (Hrsg.), Moral und Recht. Philosophische und juristische Beiträge, 2011, S. 9 (16). 122 T. Vesting, Rechtstheorie. Ein Studienbuch, 2. Aufl. 2015, S. 100. 123 Kaufmann, Recht (Fn. 33), S. 21. 124 Thies, Moral (Fn. 121), S. 16. 125 R. Grawert, Art. Recht (positives), Rechtspositivismus, in: J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 233 (235). 126 Grawert, Recht (Fn. 125), Sp. 235. 121

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A. Einführung

1. Hans Kelsen Nach Kelsen ist die Frage nach dem Inhalt des Rechts keine Frage der Rechtswissenschaft, sondern der Rechtspolitik127. Er kritisiert, dass der Anspruch an das Recht, moralische Werte enthalten zu müssen, von einer allein gültigen Moral ausgehen müsse128. Eine solche allein gültige Moral allerdings gebe es nicht. Es gebe nur relative moralische Werte, wie man an den unterschiedlichen und sich verändernden Moralvorstellungen zwischen Völkern, Klassen, Ständen und Berufen erkennen könne129. Bereits der Anspruch, dass das Recht moralisch sein solle, belege, dass in die „Definition des Rechts nicht das Element eines moralischen Inhalts aufgenommen wird“130. Ein Gesetz könne demnach eben unmoralisch sein, sonst bräuchte es jenen Anspruch an das Recht nicht, es wäre seiner Auffassung nach sonst immanent131. Eine Trennung von Moral und Recht bedeute für ihn, „dass die Geltung einer positiven Rechtsordnung von der Geltung dieser einen, allein gültigen, absoluten Moral ‚der‘ Moral, der Moral par excellence, unabhängig ist“132. So beschreibt Kelsen seine Rechtslehre als „Theorie des positiven Rechts“, welche eine strikte Abgrenzung zu anderen Gebieten unternimmt, wie etwa der Psychologie, Soziologie, Theologie und Ethik, welche sich seiner Meinung nach kritiklos mit der Jurisprudenz vermischt habe133. Die reine Rechtslehre wolle die Rechtswissenschaft von all ihren „fremden Elementen befreien“134. Kelsen geht in diesem Zusammenhang von zwei Prämissen aus: Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein: „Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“135 Des Weiteren ließe sich aus dem Sein kein Sollen herleiten, weshalb streng zwischen diesen beiden Ebenen unterschieden werden müsse136. Vielmehr beruhe der Geltungsgrund einer Rechtsnorm auf der Geltung höherrangigen Rechts137. Allerdings ende diese rechtliche Geltungskette bei einer Norm, „die als letzte und höchste vorausgesetzt wird“, nicht positiv gesetzt wird und von Kelsen als „Grundnorm“ bezeichnet wird138. Diese Grundnorm lässt sich nach Kelsen als „fiktive Geltungsgrundlage jeder Verfassung“ zusammenfassen139. 127

H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), Studienausgabe der 2. Aufl., 2017, S. 1. Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 65. 129 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 66. 130 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 68. 131 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 68. 132 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 68. 133 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 1. 134 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 1. 135 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 201. 136 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1923), 2. Ndr. der 2. Aufl., 1984, S. 7. 137 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 196. 138 Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 197. 139 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 478. 128

III. Der Rechtspositivismus: Die Trennung von Recht und Moral 

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Kelsen kommt in seiner reinen Rechtslehre dennoch nicht umhin, das Recht nach dem Wesen und der Funktion zu definieren: „Das Recht ist eine Ordnung des Zwangs, und als Zwangsordnung eine – seiner Entwicklung nach – Sicherheits-, und das heißt Friedensordnung.“140 Doch diese Sicht auf die Funktion des Rechts steht im Widerspruch zu seinen Ausführungen, das Recht müsse frei von fremden Elementen sein und sei nur an höherrangigen Normen zu messen141. Recht diene, seiner Funktion nach, dem Frieden und um als Recht klassifiziert werden zu können, müsste „Recht“ eben dieser Funktion und dem Wesen entsprechen. Dass ­Kelsen dennoch einen „transzendenten Wert“ des positiven Rechts verneint, stellt für Martin Rhonheimer einen „eklatanten Widerspruch“ dar142.

2. Herbert Lionel Adolphus Hart Neben Kelsen kann der britische Philosoph H. L.A. Hart als einer der wichtigsten Rechtspositivisten des 20. Jahrhunderts gelten. Hart unterscheidet zwischen primären und sekundären Regeln („primary and secondary rules“)143. Unter Primärnormen versteht Hart Normen, die bestimme Pflichten und bestimmte Handlungsanweisungen vorgeben. Sekundärnormen hingegen sind Ermächtigungsnormen, die erst zu bestimmten Regeln ermächtigen. Auch Hart leitet die Gültigkeit von Normen aus einer Geltungskette ab, der sog. letzten Regel („ultimate rule“), wie er sie nennt144. Diese ist anders als eine Fiktion, „eine in der jeweiligen Rechtsordnung real existierende, von der Staatsgewalt und den Bürgern anerkannte höchstrangige Rechtsnorm für die Bundesrepublik Deutschland, etwa die Art. 1, 20 und 79 Abs. 3 GG“145. Doch anders als Kelsen fordert Hart die Geltung der Normen durch Ihre soziale Anerkennung. Daher ist Harts Regel keine bloße Hypothese, wie die Kelsensche Grundnorm, sondern beruht auf einer überprüfbaren Tatsache146. Diese Anerkennungsregel zeige sich in der realen Praxis: „The rule of recognition exists only as a complex, but normally concordant, practice of the courts, officials, and private persons in identifying the law by reference to certain criteria. Its existence is a matter of fact.“147 Auch wenn Hart ein Verfechter strikter Trennung von Moral und Recht ist, fordert er dennoch einen Minimalgehalt des Naturrechts („minimum content of natural law“)148. Dieser Minimalgehalt beruht auf der Tatsache, dass die meisten 140

Kelsen, Rechtslehre (Fn. 127), S. 84. Vgl. Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 111. 142 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 111. 143 H. L.A. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 77 ff. 144 Hart, Concept (Fn. 143), S. 97. 145 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 480a. 146 M. Staake, Werte und Normen, 2018, S. 303. 147 Hart, Concept (Fn. 143), S. 107. 148 Hart, Concept (Fn. 143), S. 189. 141

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A. Einführung

Menschen einen Überlebenswunsch hätten149. Daher gebe es Regeln, welche die Voraussetzungen des sozialen Lebens seien, wie den Gebrauch von Gewalt zu verbieten oder die Zerstörung fremden Besitzes. Denn bei der Absenz von Regeln könne ein Gesellschaft nicht lange existieren150. So seien auch rechtliche Sanktionen eine natürliche Notwendigkeit, um das Zusammenleben zu gewährleisten151. Dass ein solcher Minimalgehalt nicht immer gewährleistet wird und gewisse Rechte nicht allen Bürgern zu Teil werden, kann man an vielen historischen Beispielen wie dem Apartheidssystem in Südafrika oder dem Nationalsozialismus sehen152. Rechtliche Konsequenzen aber haben solche Gesetze und ihre Befolgung keine. Für Hart stünde der Nulla-Poena-Grundsatz einer Bestrafung entgegen153. Auch sei man mit der Bewertung eines Gesetzes als ungültig keinen Schritt weiter­ gekommen, da es in Unrechtsregimen lebende Menschen nicht daran hindere, solche Gesetze zu befolgen. Die fehlende Konsequenz resultiert aus der Funktionalität und Legitimität des Rechts. Welchen Sinn verfolge eine Bestrafung, wenn sie nicht präventiv wirkt? Für Hart ergibt sich anhand der Funktionalität des Rechts keine Konsequenz im Fall ungerechter Normen, doch sein Minimalanspruch an das Recht ermöglicht zumindest Kritik an solchen Gesetzen154. Nach Braun verstehe es der Rechtspositivist Hart daher, „der Frage nach der Gerechtigkeit ebenso wie dem Gedanken des Naturrechts einen neuen, auch für den Positivismus akzeptablen Sinn abzugewinnen“155. „Die Analyse der Zusammenhänge von Recht und Moral wird so zur Eingangspforte für die Wiederkehr eines auf Erfahrung gestützten, historisch ausgebildeten Naturrechts entwickelter Zivilgesellschaften.“156

3. Norbert Hoerster Norbert Hoerster beschäftigt sich ähnlich wie Kelsen mit der Wirksamkeit von Normen und verzichtet dabei auf ethische Maßstäbe. Dennoch sieht er die Wirksamkeit von Normen nicht durch ihre reine Befolgung oder tatsächliche Anwendung gegeben157. Anders als Kelsen ist Hoerster der Ansicht, man könne von einem normkonformen Verhalten, unabhängig von der Motivationslage, nicht auf die Wirksamkeit der Normen schließen. Kenne die Person die Existenz der Norm nicht, die sie durch ihre Handlung nur zufällig nicht gebrochen habe, könne 149

Hart, Concept (Fn. 143), S. 181 ff. Hart, Concept (Fn. 143), S. 194. 151 Hart, Concept (Fn. 143), S. 194. 152 Hart, Concept (Fn. 143), S. 195 ff. 153 Hart, Concept (Fn. 143), S. 207. 154 Staake, Werte (Fn. 146), S. 303. 155 J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. Die Rückkehr der Gerechtigkeit, 2001, S. 109. 156 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 480b. 157 N. Hoerster, Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, 2006, S. 50. 150

III. Der Rechtspositivismus: Die Trennung von Recht und Moral 

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man nicht von der „Befolgung“ einer Norm sprechen158. Was die Norm zu einer Rechtsnorm mache, sei die Tatsache, dass diese durch die Verfassung autorisiert sei und ein bestimmtes Verhalten von ihren Adressaten verlange159. „Die Wirksamkeit einer bestimmen Norm ist keinesfalls eine Voraussetzung ihrer Existenz als Rechtsnorm. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Die Existenz der Norm als Rechtsnorm ist in beiderlei Hinsicht die faktische Voraussetzung ihrer Wirksamkeit: Wenn die betreffende Norm nicht bereits zur Rechtsordnung gehörte, hätte der Bürger ja weder einen Grund, sich nach der Norm aus Akzeptanz des Rechts noch aus Furcht vor den Sanktionen zu richten. In beiden Hinsichten hat er diesen Grund nur deshalb, weil die Norm bereits Teil der Rechtsordnung ist. Was eine Norm zur Rechtsordnung macht, muß also etwas anderes sein als ihre Wirksamkeit.“160 Erst wenn die Mehrzahl der Normen einer Rechtsordnung sich als unwirksam erweisen sollten, würden sie ihre Existenz als Rechtsnorm verlieren, weil das gesamte Rechtssystem im Großen und Ganzen nicht wirksam sei161. Eine Rechtsordnung müsse nämlich insgesamt auf ihrem Staatsgebiet Wirksamkeit besitzen und „ihre physischen Zwangsakte […] wirklich durchsetzen“162. Dass eine Norm von der Verfassung autorisiert wurde, bedeutet nach Hoerster, dass ein „Ableitungsverhältnis“ vorliegen muss163. Zur Kennzeichnung einer solchen autorisierten Norm verwendet Hoerster den Begriff „Gültigkeit“164. Als gültig definiert er eine Norm in diesem Sinne, wenn sie von einer anderen Norm logisch ableitbar ist165. Deshalb sind Normen innerhalb eines Rechtssystems gültig, wenn sie sich von der Verfassung innerhalb dieser Rechtsordnung ableiten lassen166. Dies könne nur auf die Verfassung selbst nicht zutreffen, da diese als höchste Norm sich nicht ableiten lasse. Hier bedürfe es der Akzeptanz der Amtsträger, welche Zwangsakte im Einklang mit dieser Rechtsnorm setzen167. Hoerster lehnt eine Verbindung des Rechtsbegriffs mit der Moral ab und vertritt somit die „Neutralitätstheorie“, d. h. einen neutral definierten Rechtsbegriff168. Dieser Rechtsbegriff besage gerade nicht, dass die Normen in jedem Fall zu befolgen seien („Befolgungsthese“), sondern lasse die Frage explizit offen169. Ein durch die Neutralitätstheorie definierter Rechtsbegriff habe keine moralisch / ethischen Maßstäbe hinzugezogen und überlasse es somit auch jedem einzelnen zu bewerten, 158

Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 51. Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 51. 160 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 51. 161 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 51. 162 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 28. 163 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 52. 164 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 52. 165 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 52. 166 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 52. 167 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 57. 168 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 65. 169 Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 77. 159

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A. Einführung

ob er die Rechtsnorm als moralisch legitim empfindet170. „Recht und Moral sind begrifflich getrennt; zwischen beiden Normenkomplexen besteht kein begrifflich notwendiger Zusammenhang.“171 Zudem sieht Hoerster keinen Vorteil darin, dem Rechtsbegriff eine moralische Verbindung oder einen moralischen Hintergrund zu geben. Es bestehe „keinerlei Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit dafür, daß jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine ‚aufgeklärte‘ Moral ist!“172 Er zweifelt zurecht daran, dass die moralische Vorstellung des Individuums oder der Gesellschaft gerechter seien als die dem entsprechenden Staat zugrunde gelegten positiven Normen173.

IV. Die defizitäre Darstellung des Naturrechts in den deutschsprachigen Veröffentlichungen Wie bereits eingangs erwähnt, steht wiederholt der Vorwurf im Raum, das Naturrecht würde ungenügend in der Forschung dargestellt174. Neutraler ließe sich formulieren, dass die Beobachtungen zunehmen, das Naturrecht würde nicht mehr als eine aktuelle Theorie dargestellt. Dahingehend werden nun einige rechtsphilosophische Lehrbücher, Kommentare und Aufsätze untersucht. Sicher ist die Brandbreite dessen, was alles unter einer Disziplin und einem Medium der Rechtswissenschaft gezählt werden kann, erheblich und deutlich größer als die reine Begrenzung auf den Lehrstoff der Universitäten und Lehrbücher. Dennoch scheint die herme 170

Hoerster, Recht (Fn. 157), S. 78. N. Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, in: NJW 1986, S. 2480 (2480). 172 Hoerster, Verteidigung (Fn. 171), S. 2482. 173 Hoerster, Verteidigung (Fn. 171), S. 2482. 174 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 265 ff. Nach Brauns Einschätzung „soll das Naturrecht nach heute gängiger Auffassung ausschließlich der Vergangenheit angehören“; ebenso J. Cornides, Naturrecht oder Menschenrechte? – Teil 2, in: UVK 43 (2013), S. 75 (85). Cornides beobachtet eine fehlende Behandlung des Naturrechts an den juristischen Fakultäten. Auch Jan Leichsenring und Franz-Josef Bormann beobachten, dass das Naturrecht als „obsolet“ betrachtet wird; Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 1; F.-J. Bormann, Naturrechtliche Begründung von Menschenrechten? Ein Blick in die aristotelische Tradition, in: M. Wasmaier-Sailer / M. Hoesch (Hrsg.), Begründung (Fn. 11), S. 135 (135). Elmar Nass bezeichnet den Rückgriff auf das Naturrecht in sozialethischen und theologischen Diskussionen als Tabubruch; E. Nass Implizites Naturrecht im Neuaristotelismus – Begründungslinien des Befähigungsansatzes von Amartya Sen, in: C. Müller / ders. / J. Zabel (Hrsg.), Naturrecht (Fn. 5), S. 109 (109). Joachim Hruschka befürchtet, mit dem Thema des Naturrechts in einer juristischen Fachzeitschrift nicht ernst genommen zu werden; J. Hruschka, Vorpositives Recht als Gegenstand und Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: JZ 1992, S. 429 (429). Kristian Kühl sieht das Naturrecht trotz immer wieder behaupteter Renaissancen weder bei Rechtswissenschaftlern noch bei den Philosophen hoch im Kurs: K. Kühl, Zwei Aufgaben für ein modernes Naturrecht (1983), in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 168 (168); Nach Gerhard Robbers sei das Naturrecht ein Thema, über das nicht mehr gerne gesprochen werde: G. Robbers, Woran das Recht gebunden ist. Eine Skizze, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 33 (38). 171

IV. Darstellung des Naturrechts in den deutschsprachigen Veröffentlichungen

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neutische Analyse der Lehrbücher, der Grundlagenliteratur also, im Bereich der Rechtsphilosophie, welche sich ja explizit mit diesem Thema auseinandersetzten, ein durchaus probates methodisches Mittel zu sein, eine Tendenz erkennen zu können. Ihre wissenschaftstheoretische Relevanz ergibt sich daraus, dass sie in erster Linie der Wissensvermittlung auf universitärem Niveau dienen und daher den Anspruch erheben, die notwendigen Inhalte für einen umfassenden Einblick in das jeweilige Rechtsgebiet zu vermitteln. Sollten sich die Hinweise auf ein gegenwärtig vernachlässigtes Naturrecht verdichten, lässt das auf die Ausbildung der Juristen schließen und daher auch den Stellenwert in der Rechtswissenschaft erkennen. In manchen Lehrbüchern erfolgt ein offener Hinweis zur Aktualität des Naturrechts175. Zum Teil wird das Naturrecht zwar als gegenwärtige Theorie bezeichnet, ohne aber eine aktuelle Theorie zu beschreiben, sondern diese größtenteils lediglich rechtshistorisch darzustellen176. Zunehmend wird in Bezug auf das Naturrecht auf die angelsächsischen Philosophen verwiesen177. Teilweise erfolgt eine Darstel 175

Vgl. Ellscheid, Strukturen (Fn. 98). Günter Ellscheid beschreibt das Naturrecht als durchaus aktuelle Rechtsphilosophie; ebda., S. 143. Das Naturrecht habe sich zwar von einem reinen Naturbegriff befreit, sei aber aufgrund seines Anspruchs an die Unverfügbarkeit des Rechts dennoch als Naturrecht zu deklarieren; ebda., S. 143 f. 176 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57). Es wird anhand der Aussage des ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs Hirsch, welcher sich offen zum Naturrecht bekennt, geschlossen, dass das Naturrecht noch immer ein aktuelles Thema für das Richteramt sei; ebda., Rn. 266. Dabei bezieht sich die Darstellung aber vor allem auf die Geschichte des Naturrechts in den Epochen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit und beschränkt sich größtenteils bis zum „Abklingen der Naturrechtsrenaissance“ nach dem 2. Weltkrieg und dem Vernunftrecht der Aufklärung; ebda., Rn. 423 ff. Einen aktuellen Bezug vermisst man ansonsten. Vgl. auch Seelmann / Demko, Rechtsphilosophie (Fn. 75). Dem Naturrecht wird hier zwar ein eigenes Kapitel gewidmet, allerdings nur historisch dargestellt; ebda., S. 158 ff. Auf das Bestehen moderner Naturrechtstheorien wird lediglich / zumindest hingewiesen. Solche Vertreter gingen von obersten Werten aus, die „jedem Vernünftigen einleuchten müssen, wenn er sich ihrer Kenntnis nicht verschließt.“ Ebda., S. 187. 177 Vgl. Vesting, Rechtstheorie (Fn. 122). Thomas Vesting stellt das Naturrecht dar und testiert ihm auch noch heutigen Einfluss auf die Rechtsphilosophie. Es wirke als Auslöser, nach der Rechtsgeltung in der Ethik zu suchen und „zu fragen, ob das geltende Recht einer normativen Begründung bedarf bzw. ob Gerechtigkeit […] eine unabdingbare Komponente positiver Rechtsgeltung sei.“ Ebda., S. 100. Zu den Philosophen, die sich dieser Frage annehmen, zählt Vesting beispielsweise John Rawls, Ronald Dworkin, Robert Alexy oder auch Ralf Dreier; ebda., S. 100. Vesting bezweifelt allerdings den Nutzen des Naturrechts in der Gegenwart: Das klassische Naturrecht stoße demnach nur noch Diskussionen an, ihm selbst sei durch die moderne Gesellschaft die Grundlage entzogen; ebda., S. 100. Norbert Horn geht zumindest nach der Darstellung der deutschen Naturrechtsrenaissance auch auf eine „angelsächsische Naturrechtsrenaissance“ ein, beschränkt sich dabei allerdings auf die Umschreibung von John Finnis; N. Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2016, S. 229. Auch Matthias Kaufmann beschränkt sich größtenteils bei der Darstellung gegenwärtiger Naturrechtstheorien auf John Finnis im Kapitel über „die Wiederbelebung des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg“; Kaufmann, Recht (Fn. 33), S. 19 ff. Erwähnung in der Naturrechtsdarstellung finden allerdings ebenfalls Martha Nussbaum, Amartya Sen und John Rawls; ebda., S. 11. Kaufmann bescheinigt Nussbaum dabei, „wesentliche Tradition naturrechtlichen Denkens“ fortzusetzen; ebda., S. 14. Die Darstellung der modernen Naturrechtstheorienbei bei

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A. Einführung

lung solcher angelsächsischen Naturrechtstheorien, ohne aber auf ihren möglichen Naturrechtsgehalt hinzuweisen178. Andere Werke verzichten schlicht auf jeglichen Hinweis eines aktuellen Naturrechtsdenkens179. Ein Hinweis auf deutschsprachige Vertreter des Naturrechts erfolgt allenfalls unter Bezugnahme der Theorien von Robert Alexy und Ralf Dreier180. Ein Beispiel für eine sich ändernde Darstellung der Naturrechtstheorien gibt Matthias Mahlmann in seinem Lehrbuch Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. In der 3. Auflage seines Lehrbuchs aus 2015 beschreibt er das Naturrecht, welches er auf zwei Seiten zu behandeln weiß, wie folgt: „Über viele Jahrhunderte fand die Annahme, dass Moral und Recht verbunden seien, im Rahmen der Naturrechtstradition verschiedenartigen Ausdruck. Diese Tradition setzt in der Antike ein, in der die rechtlichen Ordnungen mit dem Naturrecht identifiziert werden oder den gegebenen positiven Normen eine natürliche Ordnung entgegengesetzt wird. Derartige Vorstellungen werden in der frühen griechischen Poesie angedeutet und in der klassischen Zeit der griechischen Philosophie etwa bei den Sophisten oder Aristoteles weiter bedacht. In der hellenistischen und römischen Stoa werden sie in der Fassung formuliert, die im Christentum, der scholastischen Reflexion und dem Vernunftrecht der Neuzeit vor allem weiter Seelman / Demko erschöpft sich in dem Hinweis auf John Finnis, Seelmann / Demko, Rechtsphilosophie (Fn. 75), S. 187. Auch Hasso Hofmann erkennt die Rückkehr des Themas der sozialen Gerechtigkeit durch das Werk von John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“; H. Hofmann, Rechtsphilosophie nach 1945. Zur Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2012, S. 43. Die Darstellung der Naturrechtstheorie schließt allerdings mit der Beendigung der Naturrechtsrenaissance. Zur Präsenz anglo-amerikanischer Naturrechtstheorien siehe beispielhaft die Aufzählung zu gegenwärtigen Veröffentlichungen über das Naturrecht im anglo-amerikanischen Bereich bei Fabian Wittreck; Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 51. 178 Vgl. Horn, Einführung (Fn. 177). Horn stellt die Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit von Rawls und Nussbaum als Theorien des 21. Jahrhundert dar, ohne diese aber im Zusammenhang mit einer naturrechtlichen Theorie zu erwähnen; ebda., S. 236 f. Auch Stephan Kirste benennt John Rawls und Ronald Dworkin als gegenwärtig einflussreiche Vertreter von Gerechtigkeitstheorien, ohne eine Verbindung diesbezüglich zum Naturrecht herzustellen; Kirste, Rechtsphilosophie (Fn. 6), S. 160 ff. Zwar widmet sich Kirste selbst detaillierter dem Thema Naturrecht, aber auch in der historischen Darstellung verweist er nicht auf aktuelle Theorien, sondern bezieht sich letztlich nur auf Ralf Dreier, welcher Naturrecht als Teil der Moralnormen verstehe; ebda., S. 139 ff. 179 Reinhold Zippelius beschreibt das Naturrecht als eines von vielen überkommenen Lösungsansätzen; Zippelius, Rechtsphilosophie (Fn. 14), S. 71 ff. Für die Auslegung von Gesetzen, mit welchem sich das Werk Juristische Methodenlehre von Rolf Wank hauptsächlich auseinandersetzt, scheint das Naturrecht nach Ansicht des Autors keine Rolle zu spielen. Als unstreitig wird die Behauptung aufgestellt, das Naturrecht sei keine Rechtsquelle; R. Wank, Juristische Methodenlehre. Eine Anleitung für Wissenschaft und Praxis, 2020, S. 57. Aus der Natur könnten sich keine juristischen Verhaltensregeln ergeben; ebda., S. 300. Teilweise wird das Naturrecht nur noch als katholische Sonderlehre betrachtet, die außerhalb der katholischen Kirche „heute […] allgemein abgelehnt“ werde; Duden Recht A-Z. Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf. 3. Aufl. 2015. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 323. 180 So auch v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 113.

IV. Darstellung des Naturrechts in den deutschsprachigen Veröffentlichungen

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wirkte.“181 Als solches steht diese Formulierung im Einklang mit den vorhergehend beschriebenen Werken, welche das Naturrecht vorrangig historisch betrachten. Ganz anders aber formuliert Mahlmann in einer späteren Auflage vier Jahre später. „Einer der einflussreichsten Gedanken in der Ideengeschichte von Ethik und Recht besteht in der Annahme, dass es eine von Menschen unabhängige, objektive, von Menschen aber erkennbare normative Ordnung, ein System von Regeln gibt, die für Menschen unmittelbar verbindlich sind. Das ist die Idee des Naturrechts, die seit der Antike bis in die Gegenwart lebendig geblieben ist.“182 Will man sich mit dem Naturrecht wissenschaftlich auseinandersetzen, empfehlen sich logischerweise Lehr- und Handbücher zu Rechtstheorien und zur Rechtsphilosophie. Hier zeigt sich ein gemischtes Bild über die Darstellung des Naturrechts. Gerade in den aktuellen Werken wird auf die gegenwärtige Naturrechtsdiskussion hingewiesen. Das Werk Mahlmanns gibt einen Einblick in eine womöglich aufkommende wechselnde Darstellung über das Naturrecht. Zumindest er selbst hatte wohl den Bedarf gesehen, das Naturrecht wie beschrieben überarbeitet darzustellen. Hieran lässt sich noch kein Trend ablesen, doch kann sicherlich nicht die Rede davon sein, das Naturrecht würde nirgends mehr als eine gegenwärtige Rechtsposition dargestellt. Letztlich bleibt es aber häufig bei der reinen Erwähnung noch aktueller Vertreter, die sich im Allgemeinen aber auf John Finnis oder John Rawls beschränken183. Eine solche Darstellung erweckt fälschlicherweise den Eindruck, es gebe nur noch wenige Vertreter einer ansonsten überholten Theorie. Darüber hinaus wird das Naturrecht aber immer noch in weiten Teilen explizit als obsolet bezeichnet. Die meisten Werke, die sich im Kern nicht um eine reine Darstellung rechtsphilosophischer Theorien bemühen, sondern sich dem Völkerrecht, Strafrecht, Staatsrecht oder Privatrecht widmen, verzichten allerdings im Regelfall auf einen Verweis auf das Naturrecht. Sowohl in seiner Ausbildung als auch bei der Lektüre gängiger juristischer Kommentare muss ein Jurist nicht zwangsläufig mit dieser Theorie und seiner Ideengeschichte in Berührung kommen.

181

M. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 3. Aufl. 2015, S. 255. Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 73. 183 So auch Hilgendorf, Rechtsphilosophie (Fn. 13), S. 170 f. 182

B. Das christliche Naturrechtsverständnis Warum soll die Betrachtung der gegenwärtigen Naturrechtsdiskussion innerhalb der beiden großen in Deutschland vertretenen Konfessionen einen relevanten Mehrwert für die Frage bieten können, obwohl die Mehrheit der Vertreter der deutsche Rechtswissenschaft die Gegenwärtigkeit des Naturrechts missachtet? Die Rechtsphilosophie, besser die Rechtsethik als interdisziplinäre Wissenschaft, beschäftigt sich unter anderem mit der Frage des gerechten oder richtigen Rechts. Das Gesetz als Werkzeug der Rechtswissenschaft und die moralische Einordnung als ethische Disziplin ergänzen sich somit. Die Frage nach der richtigen Handlung oder des richtigen / gerechten Gesetzes stellt auch die Theologie und gibt hierauf unterschiedliche Antworten. Die Frage und die Suche nach der Gerechtigkeit sind somit der Theologie und der Rechtswissenschaft gemein184. Beschäftigt man sich mit der Frage nach der Existenz des Naturrechts, setzt man sich zwangsläufig mit der Frage nach der Existenz einer Wahrheit über Recht und Unrecht auseinander. Gäbe es ein Naturrecht, d. h. auch eine Antwort auf die Frage nach der richtigen Handlung, dann bestünde sie im theologischen Bereich wie im juristischen. Geht man von vorpositiven Rechtsstandards aus, so müsste dies sowohl für die theologische als auch für die rechtswissenschaftliche Argumentation hilfreich sein. Gibt es vorgegebene naturrechtliche Gebote, dann gelten sie für die Theologie wie auch für die Rechtswissenschaft185. Die Naturrechtsdiskussion „wandert“ nach Russell Hittinger zwischen den beiden Disziplinen hin und her186. Zudem ist die römisch-katholische Kirche ausgestattet mit detaillierten Gesetzes­ büchern und rechtlichen Vorgaben an die Gläubigen, die kirchliche Verwaltung und auch an Nicht- oder Andersgläubige. Wohl kaum eine andere Institution auf der Welt dürfte sich dogmatisch und geschichtlich so ausgiebig auf Konzilien oder Versammlungen mit den rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Mitglieder beschäftigt haben. Dabei erheben sie den Anspruch, nicht nur eine Richtlinie für das Leben als guter Christ zu sein, sondern auch ein ethischer Leitfaden für alle Menschen. Wie alle Institutionen auch, beschäftigen sich die Kirchen mit ihren Regelwerken, weshalb die Kirchenrechtswissenschaft ein unverzichtbares Betätigungsfeld für die katholische Theologie ist. Ebenso wie die Rechtswissenschaft 184

So auch Tanner, Rechtswissenschaften (Fn. 8), S. 473. Vgl. R. Hittinger, The first Grace. Rediscovering the Natural Law in a Post-Christian World, 2. Aufl. 2007, S. XV: „Unless we suppose that there is more than one natural law – one for magistrates and one for churchmen – there will be a strong supposition that what is good for the goose is good for the gander.“ 186 Hittinger, Grace (Fn. 185), S. XV. 185

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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beschäftigt sich die Theologie mit der Strukturierung und Begrenzung von Macht nach innen und nach außen187. Der entscheidende Punkt ist, dass sich die Kirchen eben nicht ausschließlich auf interne Diskussionen beschränken, sondern gerade von einem von der Vernunft geprägten Naturrecht ausgehen. Die Rechtswissenschaft bezieht sich auf die Wissenschaft des staatlichen oder privaten Vertragsrechts. Dennoch scheint die Theologie, welche sich bei ihrer Rechtsbegründung auf überpositive Merkmale beruft, ein wichtiger Zeuge bei der Frage nach dem gegenwärtigen Naturrecht zu sein. Dass sich die Rechtswissenschaft auch in einem säkularen Staat der Theologie, wie allen anderen Wissenschaften auch, als Hilfswissenschaft bedienen kann, ist offenkundig. Zweckmäßig ist es bereits deshalb, weil sich die Theologie, wie bereits angesprochen, ausgiebig mit den gleichen Fragen beschäftigt: Was ist Recht? Was kann oder sollte positiviertes Recht sein? Stellen wir also die Frage nach der Begründbarkeit von Recht und der Rechtmäßigkeit von Handlungen, dann kann für die Rechtswissenschaft die Theologie neben der Philosophie eine entscheidende Disziplin sein.

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  Der Wandel des Naturrechts zur christlichen Moraltheologie bewirkte auch in der römisch-katholischen Kirche eine lange Naturrechtstradition. Sie deshalb allein als historisch veraltete Theorie zu verorten, dürfte allerdings zu kurz greifen. Thomas von Aquin gilt heute noch Philosophen und Theologen als gedanklicher Vorbau ihrer Naturrechtstheorien und hat mit seinem Naturrechtsverständnis erheblichen Einfluss auch auf das heutige Kirchenrecht genommen. Hierbei beschäftigt sich die Kirche auch in aktuellen Schriften und Auseinandersetzungen mit dem Naturrecht, wie es die Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem deutschen Bundestag zeigt, oder auch die Internationale Katholische Kommission, die sich 2009 mit dem Thema Naturrecht befasste und das Dokument Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz veröffentlichte188. Es ist, wie in der gesamten Ausarbeitung, auch hier nicht möglich, einen allumfassenden und weltweit aktuellen Meinungsstand in der römisch-katholischen Kirche zu präsentieren und dadurch auf das rein quantitative Rezipieren des Natur­ rechts als Beweis der Aktualität desselben zu verweisen. Ein solcher Anspruch wäre bei der Menge der Veröffentlichungen unprofessionell, könnte er dem Thema doch auf keinen Fall gerecht werden.

187

Tanner, Rechtswissenschaften (Fn. 8), S. 473. Auch für Kuciński spiegelt das Dokument „seine zentrale Intention wider“ und öffne „sie für den wissenschaftlichen Diskurs“; Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 122. 188

52

B. Das christliche Naturrechtsverständnis

1. Thomas von Aquin Die Philosophie Thomas von Aquins gilt auch in der Gegenwart einigen Naturrechtstheorien noch als Begründungsgrundlage189. Auch für das Verständnis der Naturrechtstradition innerhalb der katholischen Kirche ist es unabdingbar, auf Thomas einzugehen und sich skizzenhaft mit seinen Ausführungen zu beschäftigen. Denn noch heute wird er in großer Regelmäßigkeit rezipiert und es werden auf seinen Überlegungen basierend Naturrechtstheorien fortgeführt und weitergedacht oder aber hiermit verglichen. Thomas von Aquin ist für das katholische Kirchenrecht nicht wegzudenken und damit auch für das gesamte Naturrechtsverständnis der katholischen Kirche von erheblicher Bedeutung. Nach Russell Hittinger ist das katholische Naturrechtsverständnis fast gleichbedeutend mit den Gedanken von Thomas von Aquin190. Der Dominikaner Thomas von Aquin baut seine Leges-Lehre insbesondere auf den Begriffen lex aeterna, lex naturalis und lex humana auf. Unter lex aeterna, dem „ewigen Gesetz“, versteht Thomas von Aquin den „Plan der göttlichen Weisheit, insofern sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt.“191 Zur Anschauung dessen beschreibt er zum Vergleich einen Künstler, der „zuerst einen Plan dessen hat, was durch die Kunst gestaltet wird“ oder eines Regenten, der einen Plan der Ordnung hat, was seine Unterstellten zu tun haben192. Das ewige Gesetz stellt somit aber kein Gesetz mit einzelnen Geboten und Verboten dar und muss somit von der lex divina, die von Gott im alten und neuen Testament aufgeschriebenen Gesetze, unterschieden werden193. Vielmehr leiten sich von der lex aeterna die lex naturalis und lex humana ab. Lex naturalis ist die „Teilnahme am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf“194. Die Unterscheidung, was gut und böse ist, ist durch eine „Einstrahlung göttlichen Lichtes in uns“ möglich195. So kann unter lex naturalis „die Kennzeichnung des auf den Teilhabegedanken gegründeten Erkenntnisprinzips der Vernunft“ verstanden werden, welche auf das Wissen nach dem natürlichen Guten gerichtet ist und somit als Grundlage für Urteile zum ethischen Handeln angesehen werden kann196. Thomas geht hier noch weiter als Augustinus, welcher die lex naturalis noch als Abbild eines Siegelrings verglich, das dem Wachs eingedrückt sei197. Auch 189 Leichsenring bezeichnet die thomanische Philosophie als „auch in der heutigen Naturrechtsdebatte präsente Strömung von nicht zu unterschätzendem Gewicht“; Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 178. 190 Hittinger, Grace (Fn. 185), S. 8. 191 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 93, a. 1, c. 192 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 93, a. 1, c. 193 Vgl. E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2006, S. 234. 194 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 91, a. 2, c. 195 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 91, a. 2, c. 196 Böckenförde, Geschichte (Fn. 193), S. 237. 197 Vgl. KKK. Vollständiger Text der Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina (Aktualisierter Nachdruck der Ausgabe von 2005), 2019, Abs. 1955; unter Bezugnahme auf Augustinus, Trin. 14, 15, 21.

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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wenn nach Thomas von Aquin alle Geschöpfe der göttlichen Vorsehung und damit der lex aeterna unterworfen sind, differenziert er zwischen aktiver und passiver Teilhabemöglichkeit198: So ist es vernunftlosen Wesen nur möglich, passiv am ewigen Gesetz zu partizipieren, wohingegen die Vernunftwesen an der aktiven Teilhabe hieran befähigt sind und dadurch in die Lage versetzt werden, „frei, bewußt und in eigener Verantwortung“ zu handeln199. Abzugrenzen hiervon ist die lex humana, das menschliche, geltende Gesetz. Dieses sei für den „Frieden unter den Menschen und der Tugend willen“ notwendig200. Die lex naturalis soll zwar nicht als übergeordnete Regelung einer Normhierarchie verstanden werden, sondern konkretisiert vielmehr die menschlichen Gesetze und „wirkt in die lex humana hinein“201. Dennoch verliert das menschliche Gesetz seine Gültigkeit und „ist nicht mehr Gesetz“, wenn es vom „natürlichen Gesetz abweicht“202. Thomas unterscheidet die lex humana in ihrer Zielrichtung. So sei das Ziel des menschlichen Gesetzes die „zeitliche Ruhe des bürgerlichen Gemeinwesens“ und fördere diese, in dem es Taten, die diesen Zustand stören können, in „Schranken hält“203. Das göttliche Gesetz fördere hingegen die „ewige Seligkeit“ und unterbinde somit nicht nur äußere Handlungen, sondern zur Vermeidung der Sünde auch „innere Akte“204. Durch die beiden verschiedenen Zielrichtungen ergeben sich unterschiedliche Ansprüche an das Gesetz, daher könne das, was dem menschlichen Gesetz genüge, „daß es nämlich das Böse verbietet und mit Strafe belegt“, nicht „zur Vollkommenheit des göttlichen Gesetzes“ ausreichen205. Das Naturrecht ist nach Thomas von Aquin aufgrund der Vernunftbegabung des Menschen für alle gleich und unveränderlich. Aber für ihn gibt es variable Regeln, die sich je nach Situation und Umständen ergeben. Dies wird dadurch ermöglicht, dass sich aus dem primären Naturrecht sekundäre Regeln ergeben206. Sekundäre Regeln des Naturrechts sind daher demnach solche, durch die primäre Regeln in und auf besondere Umstände Anwendung finden. Daher erklärt Thomas von Aquin auch kulturelle Unterschiede in der Ausgestaltung des Naturrechts. Das primäre Naturrecht bleibe für alle gleich, nur das sekundäre Naturrecht sei den gesellschaftlichen Schwankungen und Abweichungen unterschiedlicher Gesellschaften unterworfen207.

198

F.-J. Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, 1999, S. 198. 199 Bormann, Natur (Fn. 198), S. 199. 200 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 95, a. 1, c. 201 Böckenförde, Geschichte (Fn. 193), S. 242; Herv. F.v.R. 202 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 95, a. 2, c. 203 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 98, a. 1, c. 204 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 98, a. 1, c. 205 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 98, a. 1, c. 206 A. MacIntyre, Intractable Moral Disagreements, in: L. Cunningham (Hrsg.), Intractable Disputes about the Natural Law: Alasdair MacIntyre and Critics, 2009, S. 1 (6). 207 MacIntyre, Disagreements (Fn. 206), S. 6.

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Die Darstellung des Scholastikers Thomas von Aquin über die Handlungsgründe eines Menschen stellt heute die Grundlage der gegenwärtigen Gütertheorien da208. Die Handlung eines Menschen sei immer auf ein Ziel gerichtet und werde von der praktischen Vernunft, „die auf das Tun gerichtete Vernunft“, als gut erfasst209. Alles wozu der Mensch aufgrund seiner natürlichen Veranlagung neige, betrachte die Vernunft daher als erstrebenswert210. Der Mensch strebe aufgrund seiner natürlichen Neigung nach Leben (Streben nach der Selbsterhaltung), nach Fortpflanzung, Ehe und Kindererziehung sowie nach der Wahrheit über Gott und das Leben in der Gemeinschaft211. Das Naturgesetz enthält daher alles, was der Mensch aufgrund seiner natürlichen Neigung anstrebe, wie das Überwinden der Unwissenheit212. Auch die Gütertheorien greifen auf die menschlichen Neigungen zurück, die für das Gelingen ihres Lebens ebenfalls gewisse Güter wie Leben, Gemeinschaft oder Wissen anstreben213.

2. Das römisch-katholische Kirchenrecht Die römisch-katholische Kirche hat eine lang andauernde Tradition nach der Frage des göttlichen und natürlichen Rechts. Spätestens seit Francisco Suarez (16/17. Jahrhundert) hat das Naturrecht Einzug im Codex Iuris Canonici (CIC) erhalten214. Dem kanonischen Recht, also dem innerkirchlichen Recht, liegen ebenfalls einige naturrechtlich argumentierte Regeln zu Grunde215. Unter Kirchenrecht kann die Gesamtheit der durch die Kirche selbst gesetzten Rechtsnormen verstanden werden216. Der Codex Iuris Canonici, in der aktuellen Fassung verkündet am 25. Januar 1983 von Papst Johannes Paul II., zielt darauf ab, „der kirchlichen Gemeinschaft eine Ordnung zu geben“217. Sowohl der CIC von 1917 als auch der CIC von 1983 enthalten selbst keine Definition des Gesetzesbegriffes, sondern überlassen die Bestimmung der Wissen 208 C. Tollefsen, Natural Law, Basic Goods and Practical Reason, in: G. Duke / R. P. George (Hrsg.), Jurisprudence (Fn. 96), S. 133 (134). Zu Aktualität der Gütertheorien siehe Kap. D. I. 209 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 94, a. 2, c. 210 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 94, a. 2, c. 211 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 94, a. 2, c. 212 S.Th. I–II (Fn. 67), q. 94, a. 2, c. 213 Zu den aktuellen Gütertheorien siehe D. I. 214 R. Puza, Katholisches Kirchenrecht, 2. Aufl. 1993, S. 30. 215 Beispielhafte Aufzählung bei H. Costigane, Natural Law in the Roman Catholic Tradition, in: N. Doe (Hrsg.), Christianity and Natural Law, 2017, S. 17 (30); wie etwa die Pflicht der Gläubigen, Buße zu tun (Can. 1249), das Verbot zur Polygamie (Can. 1148), die auf Dauer angelegte Ehe (Can. 1134) und die Exkommunikation bei Schwangerschaftsabbrüchen (Can. 1329, 1398). 216 H. de Wall / S . Muckel, Kirchenrecht. Ein Studienbuch, 5. Aufl. 2017, S. 249. 217 Johannes-Paul II., Sacrae Disciplinae Leges, Zur Promulgation des Codex Iuris Canonici, http://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_constitutions/documents/hf_jp-ii_ apc_25011983_sacrae-disciplinae-leges.html (25. 3. 2018).

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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schaft218. Der Gesetzesbegriff der römisch-katholischen Kirche ist für das Verständnis der Naturrechtsdiskussion innerhalb der Kirche und des Kirchenrechts allerdings wesentlich. Ihr Gesetzesbegriff kennt, anders als der staatliche Begriff, kein „formelles Gesetz“, und die Gültigkeit ist somit nicht von einem bestimmten Verfahren oder Zustandekommen abhängig219. Es erklärt sich dadurch, warum die Diskussion zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus innerhalb der Rechtswissenschaft nicht einfach auf das innerkirchliche Recht zu übertragen ist. Der Rechtspositivismus, der auf das formelle Zustandekommen eines Gesetzes verweist, kann innerkirchlich nicht die gleiche Relevanz entfalten, wie er es in der staatsrechtlichen Diskussion tut. „Im Unterschied zur staatlichen Gewalt geht die Kirchengewalt nicht vom Volk aus; sie ist der Kirche von ihrem Herrn und Stifter Jesus Christus unmittelbar übertragen“ worden220. Der Rechtspositivismus baut zur Begründung des Rechts gerade auf die Einhaltung einer systematisch festgelegten Regelung der Gesetzesbegründung auf. Die Regelungen tragen zum fairen Interessensausgleich, dem Minderheitenschutz und dem Schutz schon gefasster Normen bei und geben daher auch eine Spielregel des Meinungsaustausches vor. Der Schutz zur Einhaltung dieser formellen Gesetzesvoraussetzung dient daher den Prinzipien der Mehrheitsentscheidung, die nicht dadurch umgangen werden soll, in dem ein allein zuständiges Gremium die Mitbestimmungsrechte anderer Institutionen unterlaufen kann. Für die Konsensbildung ist es unerlässlich, jedem Gehör zu verschaffen, sonst besteht die Gefahr, in der „Einigung“ die Beteiligung Berechtigter übergangen zu haben. Ein von Gott übertragenes Recht benötigt keine Einigung, keine Gesetzgebung, denn es existiert bereits. a) Codex Iuris Canonici Der CIC enthält keine Gesetzesdefinition, unterscheidet aber zwischen gött­ lichem Recht (ius divinum) und menschlichem Recht (ius humanum). Das göttliche Recht wiederum wird weiter nach positivem göttlichem Recht (ius divinum positivum) und Naturrecht (ius divinum naturale) unterschieden221. Beides nimmt als Recht sui generis eine zentrale Rolle innerhalb des Kirchenrechts ein222.

218

J. Listl, Die Rechtsnormen, in: H. Schmitz / ders. (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. Aufl. 1999, S. 102 (103). 219 Listl, Rechtsnormen (Fn. 218), S. 103. 220 Listl, Rechtsnormen (Fn. 218), S. 106. 221 Puza, Kirchenrecht (Fn. 214), S. 30. 222 T. Meckel, Ius divinum – Befund und Begründungen einer Begründungsfigur kirchlichen Rechts, in: M. Graulich / R. Weimann (Hrsg.), Ewige Ordnung in sich verändernder Gesellschaft? Das göttliche Recht im theologischen Diskurs, 2018, S. 209 (210).

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

aa) Ius divinum positivum Unter dem göttlichen Recht versteht das römisch-katholische Kirchenrecht Recht, welches durch göttliche Autorität gesetzt wurde und unabhängig von menschlichem Zutun aus sich heraus Anspruch auf Gültigkeit innerhalb der Kirche erhebt223. Der Begriff ius divinum kommt ursprünglich aus der römischen Jurisprudenz aus der Zeit um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr.224 Göttliches Recht stellt unverfügbares Recht dar, welches auch vom Menschen nicht veränderbar ist225. So darf im CIC kein weltliches Gesetz und keine Gewohnheit dem göttlichen Gesetz zuwiderlaufen226. Die Unvereinbarkeit von kollidierenden Handlungen und Normen zum göttlichen Recht bezieht sich nicht nur auf Handlungen gläubiger Katholiken. Das ius divinum gilt somit nicht nur für Gläubige und Getaufte, sondern für alle Menschen227. Positives göttliches Recht leitet sich aus der christlichen Offenbarung und der Überlieferung ab, wie der Heiligen Schrift und der überlieferten Worte Gottes228. Positives Recht kann nicht aus der Vernunft abgeleitet werden, sondern bedarf der Anerkennung und muss in dem geschichtlichen, gesellschaftlichen Kontext gesehen und konkretisiert werden229. Dabei obliegt die Anerkennung des positiven Rechts den höchsten lehramtlichen Autoritäten, dem Papst und dem Bischofskollegium, weshalb das positive göttliche Recht praktisch erst durch lehramtliche Festlegung „sichtbar wird“, auch wenn es theoretisch schon immer Geltung hatte230. Das göttliche Recht baut demnach auf die Anerkennung eines theologisch ausgeformten und geprägten Herrschers auf. Ohne Gottesglauben und die Anerkennung eines Schöpfergottes, welchem auch der Mensch seine Existenz verdanke, verliere „eine jegliche Normbegründung mit dem Instrument des göttlichen Rechts seine Legitimität.“231 Im CIC finden sich Stellen des ius divinum, des göttlichen unveränderbaren Rechts, auch wenn nicht immer von dem Begriff ius divinum Gebrauch gemacht wird:

223

Puza, Kirchenrecht (Fn. 214), S. 30. N. Witsch, Ius divinum, in: A. Frhr. v. Campenhausen / I. Riedel-Spangenberger / R. Sebott (Hrsg.), Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 2, Paderborn 2002, S. 328 (329). 225 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 105. 226 CIC 1983 Can. 22: „Weltliche Gesetze, auf die das Recht der Kirche verweist, sind im kanonischen Recht mit denselben Wirkungen einzuhalten, soweit sie nicht dem göttlichen Recht zuwiderlaufen und wenn nicht etwas anderes im kanonischen Recht vorgesehen ist.“; Can. 24: „Keine Gewohnheit kann die Kraft eines Gesetzes erlangen, die dem göttlichen Recht zuwiderläuft.“ 227 Listl, Rechtsnormen (Fn. 218), S. 111. 228 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 106. 229 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 106. 230 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 106. 231 M. Pulte, Das Kirchenrecht im Spannungsfeld von ius divinum, Naturrecht und Autonomie, in: N. Kalbarczyk / T. Güzelmansur / T. Specker (Hrsg.), Gibt Gott Gesetze? Ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive, 2018, S. 135 (136). 224

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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Nach Can. 113 § 1 hat die römisch-katholische Kirche und der Apostolische Stuhl aufgrund göttlicher Anordnung den Charakter einer moralischen Person. Auch Kraft göttlicher Weisung werden durch das Sakrament der Weihe aus dem Kreis der Gläubigen einige Ausgewählte nach Can. 1008 zu geistlichen Amtsträgern bestellt. Die Zusammensetzung der Kirche durch die Gläubigen ist die erste Aussage des ius divinum positivum als jure divino232. Auch die Kirchenämter des Papsttums und der Bischöfe werden nach Can. 145 § 1 durch göttliche Anordnung geschaffen. Can. 330 bzw. 375 machen deutlich, dass diese Ämter auf das ius divinum positivum zurückgeführt werden233. Zusammen bilden sie nach Can. 336 das Bischofskollegium, dessen Oberhaupt der Papst ist, und stellen damit in der Kirchenverfassung einen von Gott vorgegebenen Kirchenaufbau dar234. Can. 204 § 1 bezeichnet als Gläubige all diejenigen, „die durch die Taufe Christus eingegliedert, zum Volke Gottes gemacht und dadurch auf ihre Weise des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaft geworden sind“ und geht von der göttlichen Berufung aller Getauften aus. In vielen anderen Fällen wiederum wird auf den Begriff des göttlichen Rechts Bezug genommen. Nach Can. 22 dürfen weltliche Gesetze, die auf das Kirchenrecht verweisen, nur eingehalten werden, wenn sie dem göttlichen Recht nicht zuwiderlaufen. Nach Can. 1249 sind weiterhin alle Gläubigen gehalten, aufgrund göttlichen Gesetzes Buße zu tun. Die Anerkennung des göttlichen Rechts durch die lehramtlichen Autoritäten muss nicht zwingend beständig sein, sondern kann Schwankungen in der Auslegung unterliegen. Daher kann auch das ius divinum positivum im CIC sich in seiner Bedeutung verändern. Im CIC von 1917 wurde das Recht der konfessionsverschiedenen Ehe noch durch das göttliche Recht untersagt235. Im Can. 1124 von 1983 ist die konfessionsverschiedene Ehe ohne Verweise auf göttliches Recht von der Genehmigung abhängig gemacht worden. Weiterhin aber gilt das ius divinum als unerlässlich, unumgänglich und unveränderlich236. Das göttliche Recht legitimiert und limitiert das kirchliche Recht und dient dem vor-positiven Recht als Grundlage237. Die Ehe richtet sich nach katholischem Verständnis ebenfalls nach dem göttlichen Recht238. 232

Meckel, Ius divinum (Fn. 222), S. 211. Meckel, Ius divinum (Fn. 222), S. 215. 234 Vgl. auch Meckel, Ius divinum (Fn. 222), S. 215. 235 T. Meckel, Das Naturrecht als Kategorie des katholischen Kirchenrechts, in: Ancilla ­Iuris 2017, S. 33 (34). Meckel übersetzt den lateinischen Can. 1060 mit: „Die Kirche verbietet überall strengstens, dass eine Ehe zwischen zwei Personen eingegangen wird, von der eine katholisch ist und die andere einer häretischen oder schismatischen Sekte zugeschrieben wird; wenn bei einer solchen Verbindung Gefahr für den Glauben oder die guten Sitten der katholischen Person oder der Nachkommen besteht, dann ist eine solche Verbindung sogar durch göttliches Gesetz verboten“. 236 Meckel, Naturrecht (Fn. 235), S. 40. 237 Meckel, Ius divinum (Fn. 222), S. 210. 238 In folgenden Fällen spricht der CIC explizit von einem göttlichen Recht in Bezug auf die Ehe: Can. 1059, Can. 1075 § 1, Can. 1163 § 2, Can. 1165 § 2. 233

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

So ist die Unauflöslichkeit der Ehe in den Vorschriften Can. 1056, 1085 § 1 und 1141 ein Schluss aus dem ius divinum positivum239. Es handelt sich allerdings nach Can. 1134 gleichzeitig auch um einen Satz des Naturrechts, da aus einer Ehe ein Band entstehe, dass seiner Natur nach lebenslang und ausschließlich sei. bb) Ius divinum naturale Das ius divinum naturale ist ebenfalls Bestandteil des ius divinum, es ist aber nicht von der Offenbarung Gottes abhängig oder setzt diese voraus. Anders als das ius divinum positivum kann der Mensch das ius divinum naturale „mithilfe seiner Vernunft in der Schöpfungsordnung erkennen.“240 Auch dieses Naturrecht soll objektive Gültigkeit besitzen, lässt sich für das weltliche Recht als Richtschnur nutzen und muss hiernach in Einklang gebracht werden241. Unter dem Naturrecht aus christlicher Sicht versteht man, anders als im säkularen Verständnis, sittlichnormative Prinzipien, welche „sich der menschlichen Vernunft im Lichte des Glaubens“ erschließen242. Das menschliche Recht, das ius humanum, soll „die unverfügbaren göttlichen Weisungen in der Welt wirksam und handhabbar machen“243. Da das von Menschen gesetzte Recht am ius divinum naturale gemessen werden muss, lässt sich bezweifeln, inwieweit es sich dann noch um ein ius humanum handelt244. Ius divinum naturale bezeichnet somit Rechte des Menschen, die ihm aufgrund seines Menschseins durch die Schöpfung unverlierbar anhaften245. „Dazu gehören das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Gewissensfreiheit.“246 b) Der Katechismus der römisch-katholischen Kirche Innerhalb der katholischen Lehrmeinung kommt dem Katechismus eine zentrale Bedeutung zu. Unter dem Begriff des Katechismus verstand man zunächst die mündliche Unterweisung247. Erst ab dem 16. Jahrhundert bezeichnet der Katechismus die christliche Glaubenslehre, welche in einem Werk zusammengefasst und daher als Lehrbuch verwendet wird248. 239

Meckel, Ius divinum (Fn. 222), S. 215. Meckel, Naturrecht (Fn. 235), S. 35. 241 U. Körtner, Theologie / Religion und Recht, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 355 (358). 242 Pulte, Kirchenrecht (Fn. 231), S. 137. 243 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 107. 244 Vgl. Körtner, Theologie / Religion (Fn. 241), S. 558. 245 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 105. 246 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 105. 247 I. Riedel-Spangenberger, Kath. Katechismus, in: A. Frhr. v. Campenhausen / dies. / R. Sebott (Hrsg.), Lexikon (Fn. 224), S. 393 (393). 248 Riedel-Spangenberger, Katechismus (Fn. 247), S. 393. 240

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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Artikel 12 „Das Sittliche Gesetz“ im 3. Teil des Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) beschäftigt sich mit dem natürlichen Sittengesetz (lex naturalis). Das sittliche Gesetz wird als „Werk der göttlichen Weisheit“ beschrieben, welches den Menschen Verhaltensregeln vorgebe und verbiete, den Weg des Bösen einzuschlagen und zu verfolgen (KKK Abs. 1950). Das sittliche Gesetz setzt die vernunftgemäße Ordnung unter den Geschöpfen voraus (KKK Abs. 1951). Auch im KKK sind die Gesetze an das ewige Gesetz gebunden, da für jedes Gesetz das Ewige seine „erste und letzte Wahrheit“ sei (KKK Abs. 1951). Im KKK existiert daher ebenfalls eine Leges-Hierarchie, in dem die verschiedenen Gesetze miteinander verbunden sind: Es wird zwischen dem ewigen Gesetz, welches seinen direkten Ursprung bei Gott hat, und dem natürlichen Sittengesetz unterschieden (KKK Abs. 1952). Absatz 1954 geht zunächst davon aus, dass der Mensch an der Weisheit und Güte des Schöpfers teilhat. Dies ermögliche dem Menschen, sich nach der Wahrheit und dem Guten zu richten. „Das natürliche Gesetz bringt das grundlegende sittliche Wissen zum Ausdruck, das dem Menschen ermöglicht durch die Vernunft zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden.“ (KKK Abs. 1954). Zudem sei das natürliche Sittengesetz im „Herz jedes Menschen zugegen“ und werde durch die Vernunft verkündet / festgesetzt (KKK Abs. 1955, 1956)249. Dieses natürliche Sittengesetz ist in seinen Vorschriften „allgemeingültig“, „unveränderlich“, für alle Menschen gültig, zeitlos und fordere eine Berücksichtigung der Vielfältigkeit in verschiedenen Lebens­lagen (KKK Abs. 1956–1958). Erst das natürliche Sittengesetz bringe der Person die Würde und bestimme die Grundlage ihrer Grundrechte (KKK Abs. 1956). Diese Ethik entspricht einer normativen Sicht der menschlichen Natur und legt damit ein theologisches Konzept für menschliches Verhalten fest250. c) Auf der Suche nach einer universalen Ethik Die Internationale Theologische Kommission beschäftigte sich mit dem Thema Auf der Suche nach einer universalen Ethik: ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz und veröffentlichte hierzu 2009 ein gemeinsames Dokument. Dieses Dokument beschreibt die Suche nach objektiven sittlichen Werten, welche das friedliche Zusammenleben der Menschen sichere, als wichtiger denn je251. Den Menschen sei zum einen stärker bewusst, dass sie Teil einer Weltgemeinschaft 249 In Abs. 1955 verweist der Katechismus bzgl. der Erkennbarkeit des natürlichen Sitten­ gesetzes durch die Vernunft des Menschen explizit auf Augustinus („so wie ein Siegel, das von einem Ring in das Wachs übergeht“) und Thomas v. Aquin. 250 Costigane, Natural Law (Fn. 215), S. 23. 251 Internationale Theologische Kommission, Auf der Suche nach einer universalen Ethik. Ein neuer Blick auf das natürliche Sittengesetz, Nr. 1, http://www.vatican.va/roman_curia/ congregations/cfaith/cti_documents/rc_con_cfaith_doc_20090520_legge-naturale_ge.html (24. 3. 2018); folgende Nummern beziehen sich auf dieses Dokument.

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

seien, in der sich die Globalisierung auf jedes Individuum auswirkt (Nr. 1). Zum anderen seien die Fragen und Ängste der Menschen größer geworden durch Terrorismus, ökologische Bedrohungen und wissenschaftliche Entwicklungen, etwa in der Biologie. In dem veröffentlichten Dokument wird unter anderem explizit auf die Unterscheidung von Naturrecht und Rechtspositivismus eingegangen und dem positiven Recht die Aufgabe zugeschrieben, es müsse sich bemühen, die „Anforderungen des Naturrechts umzusetzen“ (Nr. 91). Nach der Theorie des Rechtspositivismus seien Gesetze bereits als gerecht anzusehen, wenn diese den Willen des Gesetz­ gebers zum Ausdruck bringen und seien daher anfällig für politische Willkür (Einführung, Nr. 8)252. Ungerechtes, dem Naturrecht widersprechendes Recht, entfalte weiterhin keine Gültigkeit (Nr. 91). Das Dokument beabsichtige allerdings nicht das Sittengesetz auf die christliche Ethik zu begrenzen, denn das Christentum habe kein Monopol darauf (Einführung, Nr. 9). Vielmehr solle das Dokument alle einladen, „die sich nach den letzten Grundlagen der Ethik sowie der rechtlichen und politischen Ordnung fragen, über die Beiträge nachzudenken, die eine erneuerte Darstellung der Lehre vom natürlichen Sittengesetz birgt“ (Einführung, Nr. 9). Daneben beschäftigte sich die Internationale Theologische Kommission mit der Natur des Menschen, aus der sich für die Gemeinschaft bestimmte Prinzipien ergeben. So sei die Person ein von Natur aus soziales Wesen, welches im Mittelpunkt aller politischen und sozialen Ordnungen stünde (Nr. 8). Deshalb benötige sie Strukturen wie Familie, Gemeinschaft, Nation oder Arbeitsgemeinschaften und schöpfe hieraus die notwendigen Elemente zu ihrem Wachstum und trage gleichzeitig zu deren „Vervollkommnung“ bei (Nr. 84). Aufgrund dessen, dass Menschen in Gemeinschaft leben, hätten diese gleiche Werte und anzustrebende Güter, die das Gemeinwohl bilden (Nr. 84). In Übereinstimmung mit dem natürlichen Sitten­ gesetz, in der sich die politische Ordnung bewegen solle, gebe die kirchliche So 252 „Seit mehreren Jahrzehnten ist die Frage der ethischen Grundlagen des Rechts und der Politik in bestimmten Sektoren der gegenwärtigen Kultur ausgeklammert worden. Unter dem Vorwand, dass jeder Anspruch auf eine objektive und universale Wahrheit Quelle von Intoleranz und Gewalt sei und dass allein der Relativismus den Pluralismus der Werte und die Demokratie erhalten könne, rechtfertigt man den Rechtspositivismus, der es ablehnt, sich auf ein objektives, ontologisches Kriterium für das Gerechte zu beziehen. In dieser Perspektive ist der letzte Horizont des Rechts und der sittlichen Norm die geltende Gesetzgebung, die definitionsgemäß gerecht ist, weil sie den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt. Der Weg ist also offen für die Willkür der Macht, für die Diktatur der zahlenmäßigen Mehrheit und für die ideologische Manipulation, zum Schaden des Gemeinwohls. […] Doch der Rechtspositivismus ist offenkundig unzureichend, denn legitim handeln kann der Gesetzgeber nur innerhalb gewisser Grenzen, die aus der Würde der menschlichen Person hervorgehen, und im Dienst der Entwicklung des authentisch Menschlichen. Der Gesetzgeber kann also die Festlegung dessen, was menschlich ist, nicht äußerlichen und oberflächlichen Kriterien überlassen, wie es zum Beispiel geschähe, wenn er alles aus sich heraus legitimierte, was im Bereich der Biotechnologien realisierbar ist. Kurz, er muss auf ethisch verantwortliche Weise handeln. Weder kann die Politik von der Ethik absehen noch die zivilen Gesetze und die Rechtsordnung von einem höheren Moralgesetz.“ Internationale Theologische Kommission, Suche (Fn. 251), Nr. 1.

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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ziallehre vier Werte vor, welche sich aus den natürlichen Neigungen des Menschen herleiten und das Gemeinwohl skizzieren: Freiheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität (Nr. 86/87). Das Naturrecht sei Ausdruck des natürlichen Sittengesetzes und drücke sich in der Beziehung zwischen den Menschen aus (Nr. 88). „Das Naturrecht ist die Verankerung der menschlichen Gesetze im natürlichen Sittengesetz.“ (Nr. 89) Grundvorschrift des Naturrechts ist dabei die auf Thomas von Aquin zurückgehende Verhaltensformel, welche durch die praktische Vernunft erkannt werde: „Das Gute ist zu tun, und das Böse zu lassen.“ (Nr. 39) d) Papst Benedikt XVI. Papst Benedikt XVI. erstellte den gegenwärtigen Katechismus der Katholischen Kirche maßgeblich mit253, weshalb es sich lohnt, einen Blick auf seine Gedanken über das Naturrecht zu werfen. In seiner Rede vom 22. September 2011 vor dem Deutschen Bundestag thematisierte er das Naturrecht vor einem demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Selten zuvor gelangte das Naturrechtsthema, unterstützt durch TV-Übertragungen, in eine so breite Öffentlichkeit. Bereits als Kardinal drückt Ratzinger seine Ansicht aus, die Mehrheitsmeinung, also der demokratische Prozess der Gesetzfindung, könne nicht als einziger Maßstab herangezogen werden. Im „Münchner Gespräch“ mit Jürgen Habermas bekräftigt Ratzinger, das Mehrheitsprinzip lasse „immer noch die Frage nach den ethischen Grundlagen des Rechts übrig, die Frage, ob es nicht das gibt, was nie Recht werden kann, also das, was immer in sich Unrecht bleibt, oder umgekehrt auch das, was seinem Wesen nach unverrückbar Recht ist, das jeder Mehrheitsentscheidung vorausgeht und von ihr respektiert werden muss“254. Dabei äußerte sich der Papst Emeritus früher auch sehr kritisch über den eigenen Umgang der Kirche mit dem Naturrecht. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang seine damaligen Aussagen, wenn Ratzinger das Naturrecht als Argumentationsfigur der römisch-katholischen Kirche beschreibt, mit der die Kirche „in Gesprächen mit der säkularisierten Welt und mit anderen Glaubensgemeinschaften an die gemeinsame Vernunft appelliert und die Grundlage für eine Verständigung über die ethischen Prinzipien des Rechts in einer säkularen pluralistischen Gesellschaft sucht.“255 Allerdings sei dieses Instrument „stumpf“ geworden und er wolle sich hierauf nicht stützen256. Schuld sei der Durchbruch der Evolutionstheorie, die die 253 M. Hölscher, Das Naturrecht bei Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. Die Bedeutung des Naturrechts in Geschichte und Gegenwart, 2014, S. 116. 254 J. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: J. Habermas / ders., Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, 2005, S. 39 (39). 255 Ratzinger, Welt (Fn. 254), S. 50. 256 Ratzinger, Welt (Fn. 254), S. 50.

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Natur als solche nicht als vernünftig erachte257. Einzig die Menschenrechte seien als „letztes Element“ des Naturrechts erhalten geblieben258. 1967 soll er sogar von einer entstandenen Krise durch eines von der Kirche überzogenen Naturrechtsdenkens gesprochen haben259. Ratzinger schrieb, die Kirche habe „dann doch häufig die Naturrechtslehre mit so viel christlichen Gehalten aufgeladen, dass die nötige Kompromissfähigkeit verloren ging und der Staat in den ihm wesentlichen Grenzen seiner Profanität angenommen werden konnte. Man kämpfte um viel und verbaute sich somit den Weg zum Möglichen und Nötigen“260. So zählte Eberhard Schockenhoff Benedikt XVI. zu den „scharfsinnigen theologischen Kritikern des Naturrechts“261. Offensichtlich fand bei Ratzinger / Benedikt XVI. ein innerer Umbruch im Denken über das Naturrecht statt, sei es nun durch den politischen Einfluss und den gesellschaftlichen Wandel der 68er oder durch andere Gründe, da er sich später offener zum Naturrecht äußerte262. Auch wenn die Motive seiner Positionsänderung nicht ganz leicht zu ergründen sind, so hat Benedikt XVI. die Existenz des Naturrechts doch nie geleugnet263. Er kritisierte vielmehr den Umgang mit dem Naturrecht und daher das vorhandene Verständnis hierüber. Wenn Papst Benedikt XVI. in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag das Naturrecht als eine „katholische Sonderlehre“ bezeichnet, „über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so daß man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen“264, zeigt dies die noch immer starke Präsenz des Themas in der katholischen Kirche. Dass die Naturrechts­debatte über die katholische Lehre hinaus eine große Tradition hat, kann bereits an der allgemeinen, kurzen Skizzierung in den vorhergegangenen Kapiteln erkannt werden. Daher lässt diese Aussage eine weitere Interpretation zu, die von erheblicher Bedeutung für die Ansicht von Papst Benedikt XVI. sein könnte. Vielmehr könnte er auch „die katholische Vereinnahmung der Naturrechtslehre für eine universale Auszeichnung kirchlicher Lehrgehalte“ kritisieren265. Auch für Russell Hittinger war vor kurzem noch die Ansicht innerhalb der katholischen Moraltheologie unumstritten, es handele sich beim Naturrecht in erster Linie um eine theologische Frage266. 257

Ratzinger, Welt (Fn. 254), S. 51. Ratzinger, Welt (Fn. 254), S. 51. 259 Diese Aussage habe er auf Nachfrage aus dem Publikum aus dem Stand getätigt; H ­ ölscher, Naturrecht (Fn. 253), S. 25. 260 J. Ratzinger, Christliche Orientierung in der pluralistischen Demokratie? (1984), in: ders., Kirche, Ökumene und Politik. Neue Versuche zur Ekklesiologie, 1987, S. 183 (191). 261 E. Schockenhoff, Stärken und innere Grenzen. Wie leistungsfähig sind naturrechtliche Ansätze in der Ethik?, in: HerKorr 2008, S. 236 (236). 262 Vgl. Hölscher, Naturrecht (Fn. 253), S. 224 ff. 263 Hölscher, Naturrecht (Fn. 253), S. 229. 264 Benedikt XVI., Ansprache Bundestag (Fn. 1), S. 34. 265 C. Geyer, Die Gefahr der Hypertrophie, in: G. Essen (Hrsg.), Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag, 2012, S. 27 (27). 266 Hittinger, Grace (Fn. 185), S. 5. 258

I. Die römisch-katholische Naturrechtstradition  

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Papst Benedikt XVI. dürfte dann missverstanden werden, wenn er die „demokratisch-rechtsstaatlichen Entscheidungsprozesse“ kritisiert bzw. dass „demokratische Mehrheitsprinzip“ in Frage stellt267. Wenn er davon spricht, dass das Christentum „auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen“ habe268, soll das Naturrecht vielmehr als „kulturelles Gedächtnis“269 die politischen Prozesse führen270. Die Mehrheit könne kein ausreichendes Kriterium für die Grundsatzfragen der Gesellschaft sein, wenn es beispielweise um die Würde des Menschen ginge271. Der emeritierte Papst erklärt wiederholt zwei ethische Themen der zeitgenössischen Rechtspolitik mit dem Naturrecht, wie er es versteht, für unvereinbar. Auf Grundlage der Würde des Menschen und des Rechts auf Leben bleibt Benedikt XVI. selbstverständlich ein starker Gegner in der Frage der Abtreibung und der aktiven Sterbehilfe272. Das Recht auf Leben gelte „von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende.“273 „Ich appelliere dabei an die politisch Verantwortlichen, nicht zuzulassen, daß Kinder zu einem Krankheitsfall gemacht werden und daß die in Ihrer Rechtsordnung festgelegte Qualifizierung der Abtreibung als ein Unrecht faktisch aufgehoben wird. Ich sage das aus Sorge um die Humanität.“274 In diesem Zitat Benedikts aus seiner Rede vor politischen Vertretern in Wien wird seine Naturrechtsauffassung besonders deutlich. Dass der Gesetzgeber eine gewisse Handlung als legal positiviert, die im vermeintlichen Gegensatz zum Naturrecht steht, beispielweise das Recht auf Leben von der Empfängnis an, kann das Unrecht nicht aufheben. Diesen Widerspruch nutzt er, um die aktuelle Lage zu kritisieren, in dem er an die politischen Verantwortlichen „appelliert“. Mit dieser Ansicht steht Benedikt XVI. in katholischer Tradition. Auch sein Vorgänger Papst Johannes Paul II. sprach von der notwendigen Übereinstimmung des staatlichen Gesetzes mit dem Sittengesetz275. Unter Berufung auf die Lehre von Thomas von Aquin befänden sich Gesetze, „die in Form der Abtreibung und der Euthanasie die unmittelbare Tötung unschuldiger Menschen für rechtmäßig erklären, in totalem und unversöhnlichem Widerspruch zu dem allen Menschen eigenen unverletzlichen Recht auf Leben und leugnen somit die Gleichheit aller 267

Geyer, Gefahr (Fn. 265), S. 41 f. Benedikt XVI., Ansprache (Fn. 1), S. 33. 269 Benedikt XVI., Ansprache (Fn. 1), S. 38. 270 M. Rhonheimer, Säkularer Staat, Demokratie und Naturrecht. Rechtsethische und demokratietheoretische Aspekte der Bundestagsrede Benedikts XVI., in: G. Essen (Hrsg.), Verfassung (Fn. 265), S. 75 (75). 271 Benedikt XVI., Ansprache (Fn. 1), S. 32. 272 Vgl. beispielhaft Benedikt XVI., Ansprache von Benedikt XVI, Begegnungen mit führenden Vertretern des politischen und öffentlichen Lebens sowie dem Diplomatischen Korps, https://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2007/september/documents/hf_ben-x vi_spe_20070907_hofburg-wien.html (18. 11. 2018). 273 Benedikt XVI., Begegnungen (Fn. 272). 274 Benedikt XVI., Begegnungen (Fn. 272). 275 Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 6. Aufl. 2009, Nr. 72. 268

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

vor dem Gesetz.“276 Erst kürzlich schlugen die Aussagen von Papst Franziskus hohe Wellen, als er in einer Rede wiederholt das gleiche Thema aufgriff und die Abtreibung mit einem Auftragsmord verglich.

II. Das römisch-katholische Naturrechtsverständnis als gegenwärtige Lehre Im Zuge der Untersuchung zur Aktualität des Naturrechts in der römisch-­ katholischen Kirche sind im zurückliegenden Kapitel einzelne Gesichtspunkte einer Naturrechtsidee innerhalb der römisch-katholischen Lehrmeinung aufgezeigt worden. Die römisch-katholische Kirche als Weltkirche hat selbstverständlich weltweit Anhänger, Gläubige und Amtsträger, die sich offen zum Naturrecht bekennen. Aufgrund einer größeren Zahl von römisch-katholischen Vertretern des Naturrechts wird der Autor hier nur einzelne Verfechter exemplarisch behandeln277.

1. Martin Rhonheimer Martin Rhonheimer ist Schweizer Theologe und Philosoph und hat aktuell eine Professur für Ethik an der Päpstlichen Universität Santa Croce inne. Rhonheimer baut sein Naturrechtsverständnis auf den Theorien von Aristoteles und Thomas von Aquin auf und versteht die praktische Vernunft als unmittelbaren Zugang zu Sachverhalten, „in denen sich die Vorstellung eines guten Lebens konkretisiert.“278 Martin Rhonheimer beschäftigt sich mit neuen Deutungsmöglichkeiten des Begriffs des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin. Zunächst bezeichnet er das Naturgesetz als „Ausdruck personaler Autonomie“ und beschreibt die Natur in einem personalen Verständnis als Grundlage der Moral279. Dementsprechend sei das Naturgesetz weder als eine natürliche Ordnung im metaphysischen Sinne noch als eine Vernunftnatur des Menschen zu verstehen280. Es entspreche einer persönlichen Struktur und sei ein Gesetz der praktischen Vernunft im Sinne einer natürlichen Vernunft281. Die Vernunft ordne die Handlungen gemäß den natür­ 276

Johannes Paul II., Enzyklika EV (Fn. 275), Nr. 72. Wittreck geht davon aus, dass die Naturrechtstradition in „einiger Dichte“ von katholischen Autoren fortgeführt werde; Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 53. Wittreck zählt weiterhin Christian Kissling und Karl-Wilhelm Merks hinzu. 278 Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 180. 279 M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin. Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, 1987, S. 406 ff. 280 Rhonheimer, Natur (Fn. 279), S. 406. 281 Rhonheimer, Natur (Fn. 279), S. 406. Das Naturgesetz sei „vielmehr ein Gesetz der praktischen Vernunft, d. h. eine ordinatio der praktischen Vernunft als natürliche Vernunft, welche die den natürlichen Neigungen gemäßen Akte auf das dem Menschen als Person eigene Ziel hinordnet [Herv. i.O.].“ 277

II. Das römisch-katholische Naturrechtsverständnis als gegenwärtige Lehre  

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lichen Neigungen auf die eigenen Ziele hin282. Diese Neigungen sind als natürlich anzusehen, da sie von der Natur vorgegeben und nicht durch menschliches Handeln erworben wurden. Für Martin Rhonheimer ist die politische Philosophie inhaltlich weiter gefasst als das Naturrecht. Sie stelle immer auch auf die Konkretisierung ethischen Handels ab und gehe daher über die reine Frage des ethischen Handels hinaus283. Gegenstand der politischen Philosophie sind also konkrete verfassungsrecht­liche und rechtspolitische Ausgestaltungen, die vom Naturrecht geprägt sind, aber über die aus der Natur resultierenden individuellen Rechte hinausgehen: „Sie [die politische Konkretion des Naturrechtsdenkens; F.v.R.] besitzt eine eigene und spezifische Legitimität, die in neuzeitlichen, gesellschaftlichen Erfahrungen und Lernprozessen gründet.“284 Die Anerkennung des Naturrechts in der politischen Philosophie impliziere danach folgende Aussagen285: Es existiere ein bonum commune, ein unabhängiges gemeinsames Gutes der Gesellschaft und der Menschen (1.), welches von den politischen Institutionen gefördert werde müsse (2.). Erst durch die tatsächliche Ausrichtung auf dieses bonum commune bestünde eine Legitimität der politischen Gewalten (3.), weshalb die politische Gewalt der Idee des Rechts untergeordnet sei (4.) Daher stelle ein Verzicht der Anerkennung auf ein Naturrecht, egal welcher Ausprägung zunächst, die Gleichsetzung von Recht und Macht dar286. Auf die Anerkennung des Naturrechts könne allerdings nicht verzichten werden, da selbst der Rechtspositivismus nach einer Begründung verlange, sollte er sich nicht nur auf rein rechtstechnische Fragen beschränken und Recht und Macht eben nicht gleichsetzen wollen287. Wie bereits beschrieben, sind auch die Theorien des Rechtspositivismus auf den Sinn und Zweck, der Funktion und dem Wesen des Rechts gerichtet288. Eine rechtmäßige Gesetzgebungspraxis sei dann eine Praxis, die der Wesensart des Rechts, zum Beispiel der Friedenssicherung, entspreche und somit eine vorstaatliche Komponente habe289. Wenn das Naturrecht „konkret“ werden, d. h. in eine real existierende Welt ausstrahlen solle, müsse es sich immer der politischen Philosophie bedienen290. Diese versuche, die Ansprüche des Naturrechts mit den Mitteln der Rechtsgesetzgebung, der Rechtsinstitutionen und der Gewaltenteilung in der Praxis durchzusetzen291. Deshalb ist nach Rhonheimer das Naturrecht permanent unzureichend, da die 282

Rhonheimer, Natur (Fn. 279), S. 406. Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 104. 284 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 106. 285 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 107. 286 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 111. 287 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 111. 288 Siehe Hans Kelsen, Kap. A. I. 1. 289 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 110. 290 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 122. 291 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 114. 283

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

politische Philosophie nicht immer ihren eigenen Ansprüchen genügt. „Zugleich ist das Naturrecht auch ungenügend, will man nicht der Illusion verfallen, Recht und Gerechtigkeit könnten in einem gleichsam abstrakt-vorpolitischen Raum a priori bestimmt oder aber aus einer uns vorliegenden Natur eindeutig ‚abgelesen‘ werden, so dass dann positives Recht nur noch die Umsetzung eines verstandenen naturrechtlichen Normenkataloges wäre.“292 Für Rhonheimer ist das Naturrecht zwingend auf die Verwirklichung im jeweiligen Rechtssystem angewiesen, kann aber auch nicht Ungerechtigkeiten verhindern. Nach seinem Verständnis lassen sich Naturrecht und Rechtspositivismus nicht trennen, da die eine Theorie die inhaltliche Grundlage zu liefern versucht und die andere Theorie das Werkzeug ihrer Durchsetzung liefern kann. Die Transformationen kann eine genaue Umsetzung des Naturrechts aber nicht liefern, weshalb er das Naturrecht selbst als ungenügend bezeichnet. Es bleibt zudem eine kritische Funktion des Naturrechts dem Gesetzgeber gegenüber, der sich an dem unabhängigen gemeinsamen Gut bonum commune auszurichten habe.

2. Franz-Josef Bormann Bormann sieht in den Theorien von John Rawls, John Finnis und Germain ­ risez aktuelle und bedeutende Naturrechtstheorien, welche er allerdings als G übersteigert bzw. ausgehöhlt kritisiert293. Vielmehr habe das Naturrecht eine Zukunft, wenn sich die Theorien im Sinne der aristotelischen / thomanischen Tradition weiter­entwickeln. Bormann nennt vier essentielle Voraussetzungen für ein gelungenes und zeitgemäßes Naturrechtsverständnis: Das Naturrecht entspreche zunächst „den obersten Prinzipien der natürlichen und praktischen Vernunft des Menschen sowie den aus ihnen logisch stringent ableitbaren Folgerungen.“294 Somit enthalten naturrechtliche Begründungstheorien immer auch einen kognitivistischen Charakter und demnach den Gedanken, dass moralische / normative Sätze wahrheitsfähig und dadurch erkennbar seien295. Weiterhin wiesen naturrechtliche Argumentationen im Gegensatz zu dem häufig aufgeworfenen Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses eine „antinaturalistische Stoßrichtung“ auf, da diese in der Regel ein eindeutig normatives Element enthalten296. Zudem sei auf die Handlungsfähigkeit der Menschen abzuzielen, „i. S. der Befähigung zur eigenverantwortlich rationale[n] Praxis“297. Der handlungstheoretische Charakter des Naturrechts spiegele sich darin, dass die naturrechtlichen Einzelvorschriften der Sicherung des persönlichen Zugriffs auf die vielfältigen 292

Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 103; Herv. F.v.R. Bormann, Natur (Fn. 29), S. 388 ff. 294 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 352. 295 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 352. 296 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 353. 297 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 354. 293

II. Das römisch-katholische Naturrechtsverständnis als gegenwärtige Lehre  

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Grundgüter dienen, die überhaupt erst die Bedingung für freies Handeln darstellen298. Letztlich müsse eine Naturrechtstheorie einen mehrstufigen Charakter der praktischen Vernunft enthalten, einen stringenten Argumentationsweg vom obersten Prinzip der praktischen Vernunft bis zum konkreten Einzelfall299. „Die abstrakte Lehre vom natürlichen Sittengesetz auf der einen und von der situativen Klugheit auf der anderen Seite bilden folglich zwei gleichermaßen unverzichtbare Bestandteile einer umfassenden Moraltheologie, die wechselseitig aufeinander bezogen sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.“300 Bormann glaubt nicht nur daran, dass eine Naturrechtstheorie nützlich sein kann, er hält sie in Zeiten einer globalisierten Welt für unausweichlich und zwingend nötig301. Gegenstand des Naturrechts seien elementare Gerechtigkeitspflichten, die die Würde des Einzelnen schützen und daher einen inneren Bezug zu den Menschenrechten aufwiesen302.

3. Johannes Messner Der österreichische Theologe und Rechtswissenschaftler Johannes Messner gilt als Gründer der „Wiener Schule der Naturrechtsethik“303. Das Naturrecht ist nach Messner „die Ordnung der in der menschlichen Natur mit ihren Eigenverantwortlichkeiten begründeten einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Eigenzuständigkeiten.“304 Diese etwas sperrig formulierte Naturrechtsdefinition lässt sich erst verstehen, wenn die einzelnen Bedingungen verdeutlicht werden. Unter „Eigenzuständigkeiten“ versteht Messner die „Bevollmächtigungen zum Handeln in Selbstbestimmung, nämlich innerhalb der gesellschaftlichen Verbundenheit der Menschen, so daß die Bezogenheit allen Rechts auf das gesellschaftliche Leben mitinbegriffen ist.“305 „Eigenverantwortlichkeiten“ seien in der menschlichen Personen- und Sozialnatur vorgezeichnet und daher sittliche Verantwortlichkeiten306. Das Naturrecht ist daher nach Messner eine Rechtsordnung, in der der Mensch frei als selbst­ bestimmtes Wesen handelt, die Handlung aber auf der menschlichen Natur, der „sittlichen Verantwortlichkeit“ basiert. 298

Bormann, Natur (Fn. 29), S. 354. Bormann, Natur (Fn. 29), S. 354. 300 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 355. 301 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 355. 302 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 356. 303 R.  Weiler / H.  Schambeck, Naturrecht in Anwendung. Vorlesungen im Gedenken an ­Johannes Messner, Gründer der „Wiener Schule der Naturrechtsethik“, 2. Aufl. 2009. 304 J.  Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 8. Aufl. 2018, S. 304. 305 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 304. 306 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 304. 299

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Die menschliche Natur begründe daher die Eigenzuständigkeit, worunter Messner etwas Doppeltes versteht: Zum einen werde die Eigenzuständigkeit durch die der menschlichen Natur eigenen sittlichen Verantwortlichkeiten zugewiesen307. Zum anderen sei die Eigenzuständigkeit im Bewusstsein jedes Menschen verbürgt308. Die menschliche Natur begründe zwei verschiedene Ordnungen und trete naturrechtlich notwendig in doppelter Bedeutung auf: Die menschliche Natur trete zum einen als Seinsordnung auf, die die Eigenzuständigkeit begründe und zum anderen als Vernunftordnung, da die Eigenzuständigkeit im Bewusstsein jedes Menschen verbürgt sei309. Für das Naturrecht heißt das nach Messner, es werde einmal von der Seinsordnung, „der Natur der Sache“, und zum anderen von der Vernunftordnung gefordert, dem eigenen und ursprünglichen sittlichen Rechtsgewissen310. Man könne die Natur der Sache als objektive Seite und das sittliche Rechtsgewissen als subjektive Seite bezeichnen311. In der Rechtswissenschaft seien zwei Elemente mit dem Wesen des Rechts verbunden: Messner nennt diese die Rechtsbegründung (Rechtsquelle)  und die Rechtsverbürgung312. Die Rechtsbegründung gehe vom Willen des Gesetzgebers aus, der sich für die Wirksamkeit der Rechtsnorm verbürge313. Dasselbe gelte für das Naturrecht mit dem Unterschied, dass das Begründungsgesetz das sittliche Naturgesetz bilde und Rechtsverbürgung von der Gewissensnötigung übernommen werde314. Beide haben ihren Ursprung im ewigen Gesetz, „dem Willen des Schöpfers der Menschennatur.“315 „Als Gebot der Natur ist es auch Gebot des Schöpfers und seines sich in ihr offenbarenden Willens.“316 Lex aeterna sei die ewige Weisheit, die der Schöpfung Sein und Ordnung gebe317. Im vernunftbegabten Geschöpf wirke diese durch das sittliche Naturgesetz als Gewissenseinsicht318: Das Naturgesetz sei die Teilhabe des vernunftbegabten Geschöpfes am ewigen Gesetz319.

307

Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 304. Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 304. 309 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 304 f. 310 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 305. 311 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 305. 312 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 306. 313 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 306. 314 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 306. 315 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 306. 316 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 94. 317 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 97. 318 Unter dem sittlichen Naturgesetz versteht Messner „das Gesetz seiner in ihrem Glückstrieb als Grundtrieb zu ihrer wesenhaften Selbsterfüllung drängenden Natur.“ Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 85. 319 Messner, Naturrecht (Fn. 304), S. 97. 308

II. Das römisch-katholische Naturrechtsverständnis als gegenwärtige Lehre  

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4. Wolfgang Waldstein Wolfgang Waldsteins Buch Ins Herz geschrieben lehnt sich an die Worte Pauli an die Römer an, in denen Paulus davon schreibt, dass die richtigen Gesetze auch von Heiden erkannt werden können, da sie ihnen ins Herz geschrieben seien (Röm 2,14–15). Papst Benedikt XVI. geht in seiner Rede über das Naturrecht vor dem deutschen Bundestag mehrfach auf dieses Werk ein320. An Problemfeldern der Medizin (Organspende, Hirntod), des familiären Umfelds (Erziehung, Ehe) und gerechter Gesellschaften (Sozialstaat) zeigt Waldstein die römisch-katholische Naturrechtslehre auf. Das Naturrecht spielt für Waldstein dabei eine erhebliche Rolle für die aktuelle Rechtswissenschaft. So sei das Naturrecht die Grundlage der Menschenrechte, die jedoch erst wieder wirksam geschützt werden könnten, wenn die staatlichen Organe das Naturrecht auch wieder als Grundlage betrachten321. Diese Rechte, wie das Recht auf Leben, sieht Waldstein auch in demokratischen Staaten schwindend berücksichtigt, wenn bereits über ein Menschenrecht auf Abtreibung diskutiert wird322. Dabei kritisiert er die Ansicht, die auch unter römisch-katholischen Bischöfen auf Zustimmung stoße, demokratische Gesetze seien zu akzeptieren, auch wenn sie das Recht auf Leben missachten323. Ein Gesetz, welches gegen das Naturrecht verstoße, könne kein geltendes Recht sein324. Die Welt schrecke vor keiner „Niederträchtigkeit“ mehr zurück und erkenne „keine durch das Naturrecht gezogene Grenze des Handelns mehr“325. Die Legalisierungen von Abtreibung und Euthanasie seien daher in Wirklichkeit nur ein Schein von Legalität326. Die Demokratie verliere nach Waldstein ihre Legitimität dort, wo sie das grundlegendste Menschenrecht auf Leben nicht mehr uneingeschränkt beachte327. Dem Naturrecht käme zudem eine bedeutende Stelle in der Begründung der Soziallehre zu. Nur auf Grundlage des Naturrechts könne „eine menschenwürdige Ordnung des gesellschaftlichen Lebens“ begründet werden328. Weiterhin lehnt er den Vorwurf des sog. naturalistischen Fehlschlusses des Naturrechts ab. Von der reinen physischen Natur könne man zwar nicht auf die „Existenz geistiger Gegebenheiten schließen“329. Es sei aber unstrittig, dass es ein Sein mit normativem Gehalt gebe, weshalb daraus auch ein Sollen folgen könne330. Viel 320

Vgl. Benedikt XVI., Ansprache (Fn. 1), S. 30 ff. W. Waldstein, Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft, 2010, S. 65. 322 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 66. 323 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 79. 324 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 79. 325 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 104. 326 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 80. 327 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 104. 328 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 134. 329 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 15. 330 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 18. 321

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

mehr enthalte der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses bereits selbst einen solchen Fehlschluss, denn diese Ansicht schließe umgekehrt von der empirischen Natur auf die Nichtexistenz geistiger Gegebenheiten in der Natur331. Waldstein erkennt deshalb ohne jeden Zweifel die Existenz des Naturrechts an332. Waldstein „wendet“ die römisch-katholische Lehrmeinung über das Naturrecht an und versucht es an gesellschaftlichen Defiziten aufzuzeigen. Er bringt dabei die fehlende Anwendung oder Akzeptanz des Naturrechtsdenkens der verschiedenen Institutionen kausal mit den beschriebenen Defiziten in Verbindung. Ohne die Anwendung des Naturrechts habe sich die Praxis vieler Staaten dahin entwickelt, dass das Leben nicht mehr absolut geschützt würde. Waldstein widerspricht damit klar der These, die gegenwärtigen Rechtssysteme hätten die menschenwürdigen Behandlungen positiviert oder seien gar auf ihrem Höhepunkt angelangt. Die Tötung von weltweit 50–60 Millionen ungeborener Menschen habe bisher keine Tyrannei, sondern „Demokratien“ zustandegebracht333.

5. Eberhard Schockenhoff Eberhard Schockenhoff war Professor für Moraltheologie an der Albert-­ Ludwigs-Universität Freiburg und ehemaliges Mitglied des deutschen Ethik­ rates. Für ihn lassen sich Moral und Recht in einer Rechtsordnung nicht trennen, da diese auf Dauer auf den freiwilligen Rechtsgehorsam seiner Mitbürger angewiesen sei334. Schockenhoff warnt allerdings auch davor Moral und Recht gleichzusetzen, da dabei die Gefahr bestehen könnte, das jeweilige Gewissen „an den rechtlich erfassbaren Mindeststandards ihrer Gesellschaft auszurichten.“335 Für Schockenhoff sind die Mehrheitsmeinung und die Rechtsstaatlichkeit bzw. die Verfassungskonformität nicht die einzigen Merkmale, die eine Demokratie ausmachten. Vielmehr bestehe ihr Vorrang zu anderen Herrschaftsformen gerade dahin, dass der Staat die Menschenrechte anerkenne und diese dem staatlichen Handeln somit vorgegeben seien336. Die Staatsform der Demokratie zeichne sich gerade nicht einzig als politische Herrschaftsform der Mehrheit oder Verfassungskonformität aus, sondern auch aus der Achtung und Anerkennung der Menschen 331

Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 18. Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 157. 333 Waldstein, Herz (Fn. 321), S. 157. 334 E. Schockenhoff, Die ethischen Grundlagen des Rechts, 2008, S. 15. 335 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 15. 336 E. Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, 1996, S. 307; auch Wolfgang Ockenfels beschreibt den notwendigen Gehalt des Naturrechts für die Demokratie und beruft sich dabei auf die Rede von Papst Benedikt XVI. im Bundestag: „Wesentlich in der Demokratie ist nicht das formale Mehrheitsprinzip, sondern das Natur- und Menschenrecht. An dieser Frage hängt die Legitimation einer Demokratie, die immer stärker angezweifelt wird.“ W. Ockenfels, Entweltlichung und Naturrecht, in: Die neue Ordnung 65 (2011), S. 322 (323). 332

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rechte und Menschenwürde337. Die Menschenrechte beschränken die Macht des Staates und geben ihm gewisse Handlungen und Handlungsunterlassungen gegenüber dem Bürger vor. Dabei allerdings stellt Schockenhoff die Demokratie nicht nur anderen Staatsformen als besonders erstrebenswert gegenüber, wenn die demokratischen Staaten die Menschenrechte wahren. Er verbindet auch den Begriff der Demokratie mit den Menschenrechten und sieht diese Staatsform erst bei der Erfüllung und Anerkennung der Menschenrechte als gegeben an. So verliere eine Rechtsordnung nicht schon deshalb ihren rechtsstaatlichen Charakter, weil einzelne Gesetze im Widerspruch zur Moral stünden338. Dies sei aber dann der Fall, wenn der Widerspruch der Rechtsordnung zur Moral die zentralen Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens beträfe339. Daher kritisiert er auch vehement die strikte Trennung von Recht und Moral im Rechtspositivismus, da sie das „gemeinsame Fundament“ und die „inhaltliche Schnittmenge“ vernachlässige340. Zudem laufe der Rechtspositivismus Gefahr, zur Legitimation diktatorischer Macht missbraucht zu werden341. Auch habe die Rechtsordnung ohne das Naturrecht keine Handhabung, seine ethische Missbilligung zu äußern, wenn aufgrund der Mehrheitsmeinung selbst „elementare Grundrechte wie das Recht auf Leben (wie im Fall des gesellschaftlichen Einstellungswandels gegenüber Abtreibung) betroffen sind“342. Dagegen aber könne das naturrechtliche Denken an das rechtsethische Fundament erinnern343.

6. Papst Johannes Paul II. Gleiches meint Johannes Paul II. in seiner Enzyklika von 1991 Centesimus annus, wenn er schreibt: „Eine wahre Demokratie ist nur in einem Rechtsstaat und auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen möglich. […] Heute neigt man zu der Behauptung, der Agnostizismus und der skeptische Relativismus seien die Philosophie und die Grundhaltung, die den demokratischen politischen Formen entsprechen. […] In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß dann, wenn es keine letzte Wahrheit gibt, die das politische Handeln leitet und ihm Orientierung gibt, die Ideen und Überzeugungen leicht für Machtzwecke mißbraucht werden können. Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus.“344 Johannes Paul II. knüpft damit den Begriff der Demokratie nicht einzig an einen 337

Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 10. Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 307. 339 Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 307. 340 Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 303. 341 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 9. 342 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 9. 343 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 10. 344 Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, Nr. 46, http://w2.vatican.va/content/johnpaul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_01051991_centesimus-annus.html (7. 8. 2019). 338

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formellen Willensbildungsprozess der Mehrheit, sondern an Grundrechte und Werte, „die der Natur und Bestimmung des Menschen entsprechen.“345 Staatliche Gesetze müsse die Achtung der Grundrechte als positives Recht sicherstellen, die jedem Menschen als Person eigen seien (Evangelium vitae)346. Dabei sei das erste und grundlegendste Recht, das unverletzliche Recht auf Leben347.

7. Robert Spaemann Auch Robert Spaemann hat sich wiederholt zum Naturrecht geäußert und war dabei sogar der breiten Öffentlichkeit als Naturrechtsanhänger bekannt. Der Mensch kategorisiere nach Spaemann Handlungen grundsätzlich in gerecht und ungerecht, welches dem Gedanken des Naturrechts zu Grunde liege348. Spaemann geht davon aus, dass der Begriff der Normalität für jedes menschliche Zusammenleben, für jeden rechtlichen Umgang und für jedes rechtliche Verfahren unverzichtbar sei349. Die Ausgestaltung von Normen könne zwar bis zu einem gewissen Grad kulturspezifisch erfolgen, doch gebe es eine von der subjektiven Einschätzung unabhängige Ordnung350. So gehöre zum Existenzminimum aufgrund der herrschenden Normalität beispielweise ein Fernsehgerät, welches nicht gepfändet werden dürfe. Die sei eine kulturspezifische Ausgestaltung, begründe sich aber in der Sache aus der Natur des Menschen selbst351. Die Ausgestaltung könne kulturspezifisch sein, das Existenzminimum hingegen nicht, es gebe ein basales anthropologisches Minimum des Normalen352. Spaemann erwähnt ein Minimum an Zuwendung, die der Mensch brauche353. „Natur ist jene basale Normalität, die – im Unterschied zu der kulturspezifischen – nicht nur faktisch, sondern prinzipiell der diskursiven Problematisierung entzogen ist.“354 Diese Natur könne daneben auch Pflichten begründen, denn auch menschliches Handeln habe die Natur zur wesentlichen Voraussetzung355. Menschliches Handeln sei in der menschlichen Natur angelegt. Dabei zielt er auf die Intention einer Handlung, die in ihrem Ursprung nicht von der natürlichen Konstitution des Gegenübers getrennt betrachtet werden könne. So bezeichnet Spaemann die Handlung der Nahrungsaufnahme bei Hunger nicht als zwangsläufiges Ereignis, 345 K. v. Ballestrem, Katholische Kirche und Menschenrechte, in: IKaZ 35 (2006), S. 180 (193). 346 Johannes Paul II., Enzyklika EV (Fn. 275), Nr. 71. 347 Johannes Paul II., Enzyklika EV (Fn. 275), Nr. 71. 348 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 60. 349 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 327. 350 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 328. 351 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 328. 352 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 329. 353 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 329. 354 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 329. 355 Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 331.

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sondern vielmehr als einen hinreichenden Grund, eine bestimmte Handlung vorzunehmen356. Ein anderes Beispiel sei die Schmerzfähigkeit von Tieren, die einen Grund darstelle, ihnen keine unnötigen Schmerzen zuzufügen357. Diese Handlungen bestimmen sich nicht automatisch aus dem seienden, dem hungernden oder dem schmerzempfindlichen Tier. Sie stellen kein physikalisches Naturgesetz dar. Aber Handlungen können ohne diese natürlichen Grundlagen nicht bewertet oder betrachtet werden. Spaemann stellte die These auf, „dass die Ersetzung des Begriffs der Natur und des Natürlichen durch den der Vernunft und des Vernünftigen und die Reduktion des Begriffs der Natur auf den der ‚Natur der Sache‘ den Begriff des Vernünftigen leer werden lässt und dass der Verzicht auf einen Begriff der Natur des Menschen den Gedanken des Naturrechts gegenüber der Kritik des Rechtspositivismus wehrlos macht.“358 Wenn der vernünftige Wille das von Natur aus Rechte wolle, und das von Natur aus Rechte das ist, was die Vernunft sage, dann handele es sich um einen „Moment des Zirkelhaften“359. Spaemann entkräftet zudem die Aussage, das Naturrecht sei eine reine Leerformel, die man mit beliebigem Inhalt füllen könne360. Er sieht im Naturrecht objektive Normen gegeben, die gerade dem Belieben des Herrschers entzogen seien361. Erst durch die objektiven Maßstäbe könne ein Streit oder eine Diskussion entstehen, da es Streit nur über Sachen geben könne, die objektiv existieren362. Es handele sich also nicht um schlichte Meinungen und Geschmäcker, sonst könne man zu folgendem groteskem Ergebnis gelangen: „Für dich ist es gut, und für mich ist es böse. Für dich ist die Ermordung der Juden gut, ich finde sie schlecht – darüber wollen wir beide nicht streiten.“363 Der Rechtspositivismus vertrete daher die Meinung, dass Unrechtsregimen andere Werte vertreten, und ohne objektiven Maßstab könne nicht behauptet werden, diese seien besser oder schlechter364. Zudem entgegnet er der weitläufigen Kritik, vom Sein könne nicht auf Sollen geschlossen werden365. Spaemann sieht im „Sein“ die menschliche Existenz als Leben und nicht die bloße Existenz als Gegenstand366. Somit seien alle Tatsachen, die im Zusammenhang mit dem Leben auftauchen, Tatsachen mit einer Tendenz, mit einem Ziel367. Wenn jemand mehrere Tage nicht gegessen habe, folge aus der Tatsache dass er 356

Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 332. Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 332. 358 Hier meint Spaemann mit „Natur der Sache“ die „innere Logik“; Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 327. 359 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 69. 360 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 30 ff. 361 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 30. 362 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 31. 363 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 31. 364 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 28. 365 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 32. 366 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 32. 367 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 32. 357

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essen müsse, ein natürlicher Impuls, ihm zu helfen368. Trenne man Tatsachen und Werte, so könne man nicht verstehen, warum man einer hungerleidenden Person Nahrung geben sollte369. Ein Sollen folge unmittelbar aus Tatsachen, wenn sie mit dem Menschen in Berührung komme370.

8. Norbert Brieskorn Der Theologe und Rechtswissenschaftler Norbert Brieskorn sieht im Naturrecht eine „unverzichtbare Antwort auf den Umgang mit der Herrschaft des Menschen über den Menschen“371. Naturrecht sei seit jeher mit Freiheit als Antwort auf Machtmissbrauch verbunden372. Daher richte sich das Naturrecht an zwei Adressaten: Zum einen enthält die These die Auffassung, die Naturrechtstheorie richte die Botschaft an die Herrscher, „dass es gemessen an Gottes Willen gutes und schlechtes Regieren gebe, und dass das schlechte Regieren zu Widerstand berechtige“373. Es dient dadurch der Beurteilung vom Gesetzgeber erzeugten Rechts. Zum anderen richte sich das Naturrecht direkt an die Menschen und ihren Umgang untereinander. Es sei für das Verhalten der Menschen wichtig, da das Naturrecht darauf hinweise, dass der Umgang mit sich und anderen nicht beliebig sei374. Brieskorn ist sich bewusst, dass das Naturrecht missbraucht und zur Rechtfertigung ungerechter Gesetze genutzt werden kann. Zum Vorwurf, das Naturrecht stabilisiere bestehende Herrschaften, gesteht Brieskorn zwar die beispielhafte naturrechtliche Legitimierung von Privateigentum oder Monarchien ein375. „Andererseits diente der Ruf nach dem unzerstörbaren, aber vorenthaltenen Recht auf Würde und Wahrheit dazu, Regime zu stürzen, auf den Philippinen 1986 und in den Ländern des Ostblocks 1989.“376 Auch die Menschenrechte, losgelöst vom naturrechtlichen Hintergrund, seien nicht ausreichend, um Herrscher oder zumindest Privatpersonen an ihre Standards zu binden. Diese hätten ohne naturrechtliche Argumente als Grundlage der Menschenrechte ein Geltungsproblem. Die Frage danach, warum man die Menschenrechte respektieren solle, bliebe unbeantwortet377. 368

Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 32. Spaemann führt dazu aus: „Ach so, Sie haben Hunger? Aber warum soll ich Ihnen etwas zu essen geben? Dass Sie Hunger haben, ist eine Tatsache, aber was hat das mit Werten zu tun, dass ich irgend etwas soll?“; Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 32. 370 Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 32. 371 N. Brieskorn, Wofür benötigen wir überhaupt ein Naturrecht? Sinn und Notwendigkeit des Naturrechts aus philosophischer und theologischer Sicht, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 97 (114). 372 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 114. 373 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 115. 374 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 115. 375 N. Brieskorn, Rechtsphilosophie, 1990, S. 87. 376 Brieskorn, Rechtsphilosophie (Fn. 375), S. 87. 377 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 118. 369

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Die Menschenrechte allein könnten zumindest den Einzelnen ohne die Legitimation des Naturrechts nicht verpflichten378. Des Weiteren leugnet Brieskorn die Verzahnung von Naturrecht und Theologie nicht. Doch ein Teil der Notwendigkeit des Naturrechts beziehe sich darauf, dass die klassische Naturrechtslehre sich auf jeden Menschen als Rechtsträger beziehe, auch auf Nicht-Christen379. Auch ihnen sei die Erkenntnis des Guten und Bösen möglich nach Aussagen von Röm 2,14380. Zudem sei das Naturrecht spätestens seit Thomas von Aquin als Vernunftrecht ausgewiesen und nicht als Unterwerfung unter eine biologische Natur381. Und so hieße, auf das „Vernunftrecht“ verzichten zu wollen, auf die „Stimme der Vernunft zu verzichten“382. Aufgrund seiner theologischen Argumentationen wird Brieskorn zuweilen eine fehlende Trennschärfe zwischen Theologie und Rechtswissenschaft vorgeworfen383. In dem Anspruch der Allgemeingültigkeit des Naturrechts sieht Brieskorn keinen Schwachpunkt der naturrechtlichen Argumentation. So könne die Sollensforderung aus allgemeingehaltenen Normen einer konkreten Vorgabe zwar widersprechen, aber im Sinn und Zweck doch übereinstimmen und die konkrete Norm bestätigen384. Folglich kann die Polyandrie, die Verheiratung einer Frau mit mehreren Männern, welche lange Zeit in Tibet praktiziert wurde, mit der Monogamie ganz offensichtlich nicht übereinstimmen385. Aber zur Förderung der Fortpflanzung und dem Schutz der Mutter wäre die allgemeine Norm verwirklicht386.

9. Berthold Wald Für Berthold Wald ist der Mensch ein Wesen mit Wahl- und Handlungsfreiheit und daher auf einen Kompass angewiesen, der die richtige Handlung vorgebe387. Einen solchen Wegweiser sieht er sowohl in der Moral als auch im Recht gegeben. Moral und Recht unterscheiden sich vor allem in der Art, wie sie auf den Menschen wirken und Einfluss nehmen. Die Moral zwinge den Menschen zunächst zur richtigen Handlung von innen heraus als „Stimme des Gewissens“388. Recht hingegen, sobald die Auswirkungen des Handelns auch andere Menschen treffen, 378

Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 118. Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 115. 380 Röm 2,14: „Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz.“ 381 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 116. 382 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 116. 383 Vgl. Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 54. 384 Brieskorn, Rechtsphilosophie (Fn. 375), S. 86. 385 Brieskorn, Rechtsphilosophie (Fn. 375), S. 86. 386 Brieskorn, Rechtsphilosophie (Fn. 375), S. 86. 387 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 62. 388 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 62. 379

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sei auf die Gerechtigkeit gerichtet und zwinge die Menschen nicht nur von innen, sondern das Recht übe auch Zwang von außen aus389. Dazu könne die Vernunft als Quelle des Rechts in das Recht integriert werden, weil nach Wald die Gerechtigkeit und der Gemeinwohlbezug als Wesensmerkmal staatlichen Rechts definiert wird390. Wenn das Recht nach der Gerechtigkeit strebe, so könne die Erkenntnis, was recht ist, nicht vom Willen, sondern nur von der Einsicht abhängig sein. Was gerecht ist, kann aber nicht einzig von der Mehrheit entschieden werden, denn sonst wären jedes Gesetz aufgrund des gesetzgeberischen Willens gerecht und ungerechte Gesetze per Definition ausgeschlossen391. Für Wald ergibt sich das Wissen um das sittliche Gute daraus, dass der Mensch sich im Verhalten anderer Lebewesen wiedererkenne392. Der Mensch habe von Natur aus Ziele, die zu seiner natürlichen Beschaffenheit gehören393. In dem Verhalten des Trinkens eines durstigen Lebewesens erkenne der Mensch dieses Verhalten als gut an, da er durch eigene Erfahrung und seine Empathie die Bedürfnisse anderer nachvollziehen könne394. Werden Menschen elementare Grundbedürfnisse durch Gesetze verweigert, betrachte der Mensch dieses Gesetz sodann als willkürlich und ungerecht, da er aus Erfahrung um die natürlichen Bedürfnisse weiß, die dem Menschen verwehrt werden395. Wald leitet das „Sollen“, nicht von einem „Sein“ ab, welches die reine Existenz von Dingen annehme, sondern von der jeweils eigenen Existenz mit Zielen und Bedürfnissen. Menschen würden erkennen, dass sie sich untereinander etwas schulden, was Wald als natürliches Wissen bezeichnet, welches von kulturellem Kontext unabhängig und universell sei396. Was alles als elementare Bedürfnisse bezeichnet werden könne, könne der einzelne Mensch selbst an der Erhaltungsund Entfaltungsbedingungen seiner Existenz erkennen397. Der Mensch habe nach Wald ein „naturgegebenes und nicht erst vom Staat verliehenes Recht zu leben, zu heiraten und Nachkommen zu zeugen, die Wahrheit zu suchen und Gott zu verehren.“398

389

Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 62. Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 62. 391 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 62. 392 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 64. 393 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 65. 394 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 65. 395 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 65. 396 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 65. 397 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 66. 398 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 66. 390

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10. Streit über das richtige Verständnis: Die Reformbedürftigkeit des Naturrechts Die eindeutige Haltung der römisch-katholischen Lehrmeinung mit ihrem klassischen Naturrechtsverständnis bildet den Grundstein für viele Diskussionen in der Moraltheologie. Dieses Verständnis ist Grundlage und Ausgangspunkt vieler wissenschaftlicher Abhandlungen und auch Gegenstand von Kritik und Überarbeitungsvorschlägen. Inhaltlich greifen diese Abhandlungen eine vermeintlich falsche Umsetzung des Naturrechts auf. Als Kritikerin kann Elke Mack gelten. Sie betont den „Reformbedarf des Naturrechts“399 in der christlichen Gerechtigkeitsethik und plädiert für einen anderen Umgang mit dem Naturrecht, der sich pluralismus- und anschlussfähiger zeige400. Das christliche Naturrecht stünde der Kritik gegenüber, zu wenig auf zeitgeschichtliche Kultur und Sozialitäten einzugehen, wodurch die Gläubigen sich weiter von der kirchlichen Lehre entfernten401. a) Elke Mack Die römisch-katholische Ethik müsse für alle Menschen einsichtig sein, auch wenn diese „nicht von einem binnenkirchlichen Verständnis von Moral ausgehen“402. Zudem würde man sich wieder dem ursprünglichen Sinn des Naturrechts zuwenden, „nämlich eine rationale Verallgemeinerbarkeit jenseits offenbarungsund schriftbezogener Aussagen herzustellen“403. Mack sieht nur hierin die einzige Chance für die christliche Ethik, im säkularen Umfeld akzeptanzfähig zu werden404. Um einen Mehrwert für die gesellschaftlichen Moral- und Gerechtigkeitsdebatten liefern zu können, müsse sich die christliche Ethik beständig erneuern405. Dazu sei ein „Übersetzungsprozess“ für Gläubige notwendig, aber auch nach außen für Anders- oder Nichtgläubige406. Dieser Versuch steht in einem Spannungsverhältnis zu machen Traditionen, denn auf der anderen Seite stehe die Befürchtung, das Naturrecht gegen den Relativismus einzutauschen407. Es ist eine bekannte und nicht ganz unbegründete Angst, aufgrund der eigenen Wandelbarkeit belanglos zu werden. Der Anspruch, moralischer und seeli 399

Vgl. E. Mack, Eine christliche Theorie der Gerechtigkeit, 2015, S. 44 ff. Vgl. E. Mack, Naturrechtlicher Wandel zur Gerechtigkeitsethik. Ansatz einer pluralismusfähigen christlichen Ethik, in: K.  Hilpert (Hrsg.), Theologische Ethik im Pluralismus, 2012, S. 209 ff. 401 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 209. 402 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 210. 403 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 211. 404 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 211. 405 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 41. 406 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 41. 407 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 209. 400

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scher Ankerpunkt sein zu wollen, sei nicht nur in Zeiten der Pluralität besonders wichtig, sondern erhalte gerade durch die Pluralität seine Wichtigkeit. Häufig wird argumentiert, dass in Zeiten, in denen nichts mehr für immer zu gelten scheint oder in denen festgeschrieben geglaubte Handlungsformen sich zu schnell überholen, gerade eine moralische Instanz, welche den Vorteil einer nicht-staat­ lichen Unabhängigkeit genieße, gut daran tue, ihre Meinung beständig zu halten. Sie könne den Gläubigen ein Wegweiser in der komplizierten, säkularen und schnell verändernden Welt sein. Eine Meinung, die Beständigkeit ausstrahlt, kann ihren Wahrheitsanspruch noch mit einer gewissen Integrität und Autorität vortragen. Mack macht sich nach alledem für ein Naturrechtsverständnis stark, welches rational allgemein zu verstehen sein muss und sich an die soziale Umgebung anpassungsfähig zeigt. Ihr Naturrechtsverständnis erstreckt sich gerade nicht auf starre und überall gütige Regeln. Sie sieht in der Sexualethik der Moraltheologie eine Naturrechtsdebatte geführt, die als Reaktion auf die gegenwärtige Kritik am Naturrecht angesehen werden könne408. Angesichts dessen stellt sich für Mack die entscheidende Frage für die christliche Ethik: „Wie sollte eine christliche Ethik­ begründung aussehen, die die vielfältige moralphilosophische Kritik am Naturrecht ernst nimmt?“409 Mack sieht den richtigen Lösungsansatz in einer methodischen Erneuerung der christlichen Ethik, denn diese lasse sich nicht gegen die Ergebnisse europäischer Aufklärung, verfassungsrechtlich verankerte individuelle Rechtsansprüche sowie gesellschaftliche Liberalisierungs- und Individualisierungsprozesse entwickeln und erarbeiten410. Der ursprüngliche Sinn des Naturrechts, der auf eine rationale und verallgemeinerte Aussage gerichtet sei, müsse weiterhin angestrebt und beibehalten werden, um die christliche Ethik verständlich und für ein säkulares Umfeld akzeptabel zu machen411. Mack setzt sich daher für eine klare Trennung oder Abgrenzung der verschiedenen ethischen Theorieebenen ein. Moraltheologische Verbindlichkeit müsse den Nachweis der Berührung rechtsethischer Fragen führen412. Normen seien nämlich universal begründbar und dürften nicht mit Tugend- und Werttheorien vermischt oder vertauscht werden. Mack unterscheidet daher einmal zwischen der „Ethik als Norm“ und einmal der „Ethik als Angebot“413. Die Ethik als Norm stelle eine elementare normativ verbindliche Gerechtigkeitsforderung in Bezug auf menschliche Behandlung auf. Die „Ethik als Angebot“, dürfe einen gewissen weichen Verbindlichkeitscharakter innerhalb der gläubigen Gemeinschaft für sich in Anspruch nehmen414. Diese Ethik stünde der Ethik als Norm in der Wichtigkeit nicht 408

Mack, Wandel (Fn. 400), S. 209. Mack, Wandel (Fn. 400), S. 210. 410 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 216. 411 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 217. 412 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 212. 413 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 213. 414 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 213. 409

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nach und eröffne Freiheitsspielräume für die Menschen, die in einem säkularen Staat auch notwendig seien415. Die Moraltheologie müsse dabei auch gesellschaftlich und geschichtlich argumentieren und könne nicht mehr objektiver Beobachter sein und Normalitäten formulieren416. Mack sieht ein reformiertes christliches Naturrecht als anschlussfähig an die aktuellen Gerechtigkeitsdebatten nach John Rawls, Ronald Dworkin u. a. an417. Diesen Theorien sei gemein, dass sie die Würde des Menschen in den Vordergrund ihrer Ethik stellen und somit von den gleichen Grundsätzen ausgingen wie die christlich erarbeitete Ethik418. Besonders die Theorien von Martha Nussbaum und Amartya Sen stellen ihrer Auffassung nach ebenfalls auf eine vorausgesetzte, nicht von der Zustimmung anderer abhängige Würde ab und stünden dem christlichen Ansatz daher sehr nah419. Ganz in Anlehnung an Nussbaums Gesellschaftsvertrag über die nationalen Grenzen hinweg setzt sich Mack für einen globalen Gesellschaftsvertrag ein, da gerade das christliche Verständnis des Würdebegriffes von der Einheit der Menschheit ausginge420. Eine ebenso geprägte christliche Gerechtigkeitstheorie stelle einen „substantiellen Beitrag zu einer kosmopolitischen, pluralismusfähigen, aber normativen Universalmoral“ dar421.

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Mack, Wandel (Fn. 400), S. 214: „Eine Reform des Naturrechtes ist deshalb in zweierlei Hinsicht gefordert: Aus Respekt vor der Freiheit der Einzelnen bedarf es einer Bescheidenheit bezüglich materialer Festlegungen von Seiten der theologischen Wissenschaft und es bedarf der substantiellen Einbeziehung dieser Freiheiten in die Begründung selbst. Aus Respekt vor den grundlegenden Ansprüchen und Rechten der einzelnen Personen muss allerdings eine personenorientierte universale Normativität beibehalten werden. Strikt verallgemeinerbare Normen werden, wie bereits angesprochen, auf die Ebene der Rechts- und Prinzipienfragen bezüglich menschlicher Personalität beschränkt und nur dort zustimmungsfähig sein. Gerade wenn die Eindeutigkeit der Personalität und ihres Beginns in Frage steht, so kann es im Sinne dieser Bescheidenheit nur bedeuten, wissenschaftlich- empirische Erkenntnisse der Medizin und Humanbiologie im Sinne eines kritischen Realismus ernst zu nehmen und den Schutz menschlicher Personalität zwar in Maßen tutioristisch (z. B. durch die PIK-Argumente), aber nicht fundamentalistisch zu schützen.“ 416 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 220. 417 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 49. 418 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 50. 419 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 50 f. 420 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 160. 421 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 176. Ähnlich kritisch forderte Matthias Pulte, die Kirche, als eine in die Welt hineinwirkende Institution, müsse bei der Begründung des Kirchenrechts wie bei jedem anderen Recht auch, „in die Gesellschaft hinein kommunikabel sein“. Die Kirche müsse transparente Gesetze haben, die es unabhängig von der Religionszugehörigkeit jedem Menschen erlaube die Gesetz nach zu vollziehen. Es genüge schon lange nicht mehr, die kirchlichen Normen allein mit der Berufung auf den göttlichen Stifterwillen oder den Glauben als zentralen Bezugspunkt zu begründen. Die inhaltliche Bestimmung von Kirchengesetzen obliege seit jeher der Kirchenrechtswissenschaft, welche die Kriterien der Gerechtigkeit und der Vernünftigkeit von Gesetzen säkular begründen müsste; Pulte, Kirchenrecht (Fn. 231), S. 137.

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b) Die römisch-katholische Sexualmoral als aktuelle innerkirchliche Naturrechtsdebatte Die Debatte um die katholische Sexualmoral, die aufgrund ihrer enormen Aktualität und ihrer Präsenz auch in der gesellschaftlichen Debatte um Missbrauchsfälle an Bedeutung gewonnen hat, ist auch eine Debatte um das Naturrecht422. Der offene Brief einiger namhafter deutschen Theologen und gläubigen Katholiken vom 3. Februar 2019 ist hierbei ein Beispiel für die Debatte bis in die Gesellschaft hinein423. Auch wenn sie sich in dem kurzen Brief an Kardinal Marx als Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz nicht explizit gegen ein falsch verstandenes Naturrecht aussprechen, sprechen Sie sich für einen „Neustart mit der Sexualmoral“ aus424. Sie ist deshalb keine von der Naturrechtsdiskussion unabhängige Debatte, sondern vielmehr nur ein sehr konkretes Beispiel, weshalb viele schon oben dargestellte Autoren auch einen Beitrag zu dieser expliziten Diskussion geleistet haben. aa) Die römisch-katholische Lehrmeinung Die römisch-katholische Kirche beschäftigt sich intensiv mit der Sexualmoral. In der Enzyklika vom 25. Juli 1968 Humanae vitae (Über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens) bestätigte Papst Paul VI. die bis dahin geltende Lehrmeinung. Darin heißt es, der Geschlechtsakt, welcher „eine intime und keusche Vereinigung der Gatten“ darstelle und „das menschliche Leben weitertrage“, sei, „zu achten und zu ehren“425. „Gott hat ja die natürlichen Gesetze und Zeiten der Fruchtbarkeit in seiner Weisheit so gefügt, dass diese schon von selbst Abstände in der Aufeinanderfolge der Geburten schaffen. Indem die Kirche die Menschen zur Beobachtung des von ihr in beständiger Lehre ausgelegten natürlichen Sittengesetzes anhält, lehrt sie nun, dass ‚jeder eheliche Akt‘ von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben muss.“426 „Diese vom kirchlichen Lehramt oft dargelegte Lehre gründet in einer von Gott bestimmten unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinn 422 Gründe hierfür sind sicherlich auch die Missbrauchsfälle, die mit der wissenschaftlichen Diskussion der naturrechtsgeprägten Sexualmoral nicht vermischt werden dürfen, aber erneut große Aufmerksamkeit auch in diesem Bereich nach sich zog; vgl. K. Arntz, Katholische Sexualmoral im Brennpunkt. Bekräftigung – Akzentverschiebung – Perspektiven, in: ThG 54 (2011), S. 265 (265). 423 Johannes zu Eltz, Gaby Hagmans, Bettina Jarasch, Claudia Lücking-Michel, Dagmar Mensink, Klaus Mertes SJ, Jörg und Ingrid Splett, Ansgar Wucherpfennig SJ. 424 A. Wucherpfennig, u. a., „Die Sonne der Gerechtigkeit kommt nicht mehr durch“. Offener Brief an Kardinal Marx; FAS, 3. 2. 2019, S. 2. 425 Paul VI., Enzyklika Humanae Vitae, Nr. 11, http://www.vatican.va/content/paul-vi/de/ encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_25071968_humanae-vitae.html (7. 6. 2020). 426 Paul VI., Enzyklika HV (Fn. 425), Nr. 11.

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gehalte – liebende Vereinigung und Fortpflanzung –, die beide dem ehelichen Akt innewohnen. Diese Verknüpfung darf der Mensch nicht eigenmächtig auflösen.“427 Johannes Paul II. hatte am 12. November 1988 vor einem Kongress in Rom die Sexualmoral seiner Kirche in der Art verteidigt, dass es sich hierbei „nicht um eine vom Menschen erfundene Lehre [handle]: Sie ist vielmehr von der Schöpferhand Gottes in die Natur der menschlichen Person eingeschrieben und von ihm in der Offenbarung bekräftigt worden.“428 Generell hatte Papst Johannes Paul II. die kirchliche Lehre zur Sexualität regelmäßig wiederholt und bekräftigt429. Als der Nachfolger von Johannes Paul II. im Amt des Papstes folgt Papst Benedikt XVI in diesem Thema auch inhaltlich. In seiner Ansprache vom 10. Mai 2008 anlässlich des 40. Jahrestages der Enzyklika Humanae Vitae hat Papst Benedikt XVI. die Weitergabe des Lebens ebenfalls als „in die Natur eingeschrieben“ bezeichnet und so die bestehende Sexualmoral bestärkt430. „Das Lehramt der Kirche kann sich nicht seiner Pflicht entziehen, auf immer neue und tiefere Weise über die Grundprinzipien nachzudenken, die Ehe und Fortpflanzung betreffen. Was gestern wahr gewesen ist, bleibt auch heute wahr. Die Wahrheit, die in der Enzyklika Humanae vitae zum Ausdruck gebracht wird, ändert sich nicht. Im Gegenteil, gerade im Licht der neuen wissenschaftlichen Errungenschaften wird ihre Lehre immer aktueller und fordert dazu heraus, über den ihr innewohnenden Wert nachzudenken.“431 Da der Geschlechtsakt nach der kirchlichen Lehrmeinung einzig auf die Fortpflanzung der Menschen gerichtet ist, können andere Formen der sexuellen Praxis, aus welcher schon biologisch kein Leben hervorgehen kann, gegen den von Gott eingesetzten Zweck dieses Aktes verstanden werden. Das betrifft den Geschlechtsverkehr mit Empfängnisverhütung ebenso wie die Selbstbefriedigung oder den gleichgeschlechtlichen Sex. Der Katechismus der Katholischen Kirche beschäftigt sich mit der Sexualität homosexuell orientierter Menschen unter den Punkten 2357–2359. Hiernach habe die kirchliche Überlieferung stets erklärt, „daß die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung“ seien. Sie verstoßen „gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen“. Sie seien in keinem Fall zu billigen. Wenn gewisse sexuelle Handlungen gegen das natürliche Gesetz verstoßen und der Sinn der Sexualität von der „Schöpferhand Gottes in die Natur der mensch­ 427

Paul VI., Enzyklika HV (Fn. 425), Nr. 12. E.  Schockenhoff, Vortrag auf dem Studientag „Die Frage nach der Zäsur. Studientag zu übergreifenden Fragen, die sich gegenwärtig stellen“ zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 13. März 2019 in Lingen, bezugnehmend auf Ansprache vom 12. 11. 1988 von Johannes Paul II., S. 2, https://www.domradio.de/sites/default/files/pdf/2019038d-fvv-lingen-studientag-vortrag-prof.-schockenhoff.pdf (24. 7. 2019). 429 Vgl. Arntz, Sexualmoral (Fn. 422), S. 265 ff. 430 Benedikt XVI., Ansprache von Benedikt XVI. an die Teilnehmer am Internationalen Kongress der Päpstlichen Lateranuniversität anlässlich des 40. Jahrestages der Enzyklika „Humanae Vitae“, vom 10. 5. 2008, http://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2008/may/ documents/hf_ben-xvi_spe_20080510_humanae-vitae.html (25. 7. 2019). 431 Benedikt XVI., Ansprache v. 10. 5. 2008 (Fn. 430). 428

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lichen Person eingeschrieben“ sei, dann kann eine Lehrmeinung kaum anders, als dies als normative Vorgabe zu verstehen. Die Handlungsvorgaben werden erneut von Gott abgeleitet, letztlich aber entspräche es der zwingenden menschlichen Natur, dass der Sexualakt der Fortpflanzung diene. bb) Kritik an dieser Lehrmeinung Eberhard Schockenhoff, der sich gerade mit Blick auf den staatlichen Gesetzgeber offen an der naturrechtlichen Diskussion beteiligt und hierbei eine strikte Trennung zwischen Moral und Recht ablehnt, sieht allerdings in der naturrechtlich begründeten Sexuallehre der katholischen Kirche eine „Immunisierungsstrategie“432. Aussagen wie solche von Papst Johannes Paul II. entzögen sich jeglicher Kritikmöglichkeit und verhinderten eine Einsicht in die Fehlentwicklung der Sexualmoral433. Grund der Kritik an der Lehrmeinung über den Geschlechtsakt sieht Schockenhoff darin, dass die Erkenntnisse unterschiedlicher Wissenschaften, welche sich mit der menschlichen Sexualität beschäftigen, nicht mehr als Rückhalt für diese Sexualmoral dienen434. Die theologische Forschung, welche wichtige Vorarbeit für die Überarbeitung der kirchlichen Sexualmoral geleistet habe, entspringe keiner „oberflächlichen Anpassung an den Zeitgeist, sondern einer Öffnung gegenüber den Erkenntnissen der gegenwärtigen Humanwissenschaften. Psychologischen, soziologischen und anthropologischen Aussagen über den Sinn der menschlichen Sexualität lassen sich nicht unmittelbar normative Postulate über ihre Gestaltung entnehmen. Doch diese Erkenntnisse verhelfen der theologischen Ethik dazu, die Einseitigkeiten der bisherigen Rede vom primären Naturzweck der Sexualität zu überwinden und die anthropologische Basis ihrer Aussagen zu erweitern.“435 Zu den Erkenntnissen der Sexualwissenschaft gehöre die verschiedenen Sinndimensionen der Sexualität, wie die Lustfunktion, die Beziehungsfunktion, die Identitätsfunktion und die Fortpflanzungsfunktion436. Die Erneuerung sei auch, dass zwar für die verantwortliche Gestaltung menschlicher Sexualität alle Sinndimensionen erfüllt sein sollten, aber dennoch einzelne menschliche sexuelle Handlungen bejaht werden könnten, wenn nicht alle Faktoren zugleich realisiert werden können437. Im Kern zielt Schockenhoffs Kritik auf ein eindimensionales Naturrechtsverständnis ab. Die biologische Wissenschaft und ihre Erkenntnis über die Natur des 432

Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 2. Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 2. 434 Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 2. 435 Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 4. 436 Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 5. 437 Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 6. 433

II. Das römisch-katholische Naturrechtsverständnis als gegenwärtige Lehre  

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Menschen werden als die auschlaggebende Wissenschaft für die Naturrechtstheorie verstanden und diese danach ausgerichtet. Für Elke Mack begründet sich das Naturrecht in der Sexualmoral ebenfalls zu eindimensional. Sie kritisiert ein Naturrecht, welches die „Normalität“ als einen festgeschriebenen Maßstab für die Moral sehe438. „So verstandene Normalität gilt für viele als Ausdruck einer Moral der Fremdbestimmung und paternalistischen Uniformität, die sie sich selbst nicht mehr zum Maßstab des Lebens machen wollen.“439 Dies führe letztlich zu einer Orientierungslosigkeit bei den Gläubigen, da diese von ihrer Lebenswirklichkeit eingeholt werden würden440. Nach den wissenschaftlichen Grundsätzen „Sehen, Urteilen, Handeln“, dürfe nach Mack ein reformiertes Naturrecht nicht in Widersprüchen zu den empirischen Forschungsergebnissen stehen („Sehen“). Hiernach könne der Versuch einer universalen Normbegründung einer pluralismusfähigen christlichen Ethik unternommen werden („Urteilen“)441. Für eine Moraltheorie sei es daher unerlässlich, einen Praxistest durchzuführen, da nur dadurch zu erkennen sei, ob die vorher erarbeitete Norm auch in der Lage ist, die anvisierte Gerechtigkeit zu erzielen („Handeln“)442. Allerdings sollte der Praxistest bereits bei der Erarbeitung der Normbegründung mitgedacht werden443. Mack sieht in der Sexuallehre traditionelle Normen, die einen solchen Test nicht mehr bestünden: „Wenn traditionelle Normen der sexuellen Enthaltsamkeit in der heutigen westlichen Gesellschaft dazu führen, dass ein Viertel der Bevölkerung zölibatär leben müsste, […] gibt es Anlass zur Frage, ob die klassischen Regeln theologischer Sexualmoral in der Moraltheorie die ungefragt hohen Güter der zwischenmenschlichen Liebe und der Leidvermeidung sowie die Ermöglichung menschlicher Fortpflanzung noch optimal schützen.“444 Normen könnten zwar auch ohne die Human-, Sozial-, Natur- und Kulturwissenschaften begründet werden, aber ohne die Berücksichtigung anderer Wissenschaften könne man nicht mehr mit ihrer Gültigkeit rechnen445. Mack nähert sich mit dem Vorschlag der Erneuerung des Naturrechts dem Vorschlag Schockenhoffs an, verschiedene Wissenschaftsgebiete zu nutzen. Beide plädieren auf unterschiedlichen Wegen für ein Naturrecht, welches sich auf eine breite Wissenschaftsbasis bezieht. Auf die Naturrechtsdiskussion in der Sexuallehre bezogen heißt das, dass die Biologie nicht mehr nur die einzige Wissenschaft sein kann, auf die sich das Naturrecht beruft.

438

Mack, Wandel (Fn. 400), S. 210. Mack, Wandel (Fn. 400), S. 210. 440 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 210. 441 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 60. 442 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 67. 443 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 68. 444 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 68. Eine zunehmende Entfernung der katholischen Sexuallehre zu den Gläubigen erkennt auch Klaus Arntz; Arntz, Sexualmoral (Fn. 422), S. 265. 445 Mack, Theorie (Fn. 399), S. 68. 439

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Auch im angelsächsischen Bereich finden sich diese naturrechtlichen Argumentationsketten446: Todd A. Salzman und Michael G. Lawler beispielsweise kritisieren ein Verständnis, welches die sexuelle Orientierung des Menschen auf die biologische und körperlich lustvolle Dimension beschränkt447. Dadurch würden andere Dimensionen wie Emotionen und Beziehungen zu Menschen vernachlässigt werden448. Daher definieren Salzman und Lawler die sexuelle Orientierung eines Menschen zwar immer noch als einen angeborenen Zustand, der sich aber aus biologischen, psychologischen und zwischenmenschlichen Dimensionen ergibt449. Eine homosexuelle Orientierung könne daher auch nicht als unmoralisch angesehen werden. Moral setze die freie Handlungsmöglichkeit voraus, die bei der sexuellen Orientierung als angeborener Zustand nicht existiert und daher nicht als unnatürlich oder irrational angesehen werden kann450. Salzman und Lawler argumentieren ebenfalls gegen ein falsch verstandenes Naturrecht, in dem sie der angeborenen sexuellen Orientierung weitere Dimensionen als nur die biologische zusprechen. Die Argumentation, eine Handlung, die ihren Ursprung in der Natur des Menschen als angeborene Orientierung hat, könne nicht als unmoralisch verurteilt werden, ist ebenso naturrechtlich geprägt.

III. Die protestantische Naturrechtslehre Im Vergleich zur römisch-katholischen Kirche stehen die protestantischen Kirchen dem Naturrecht generell eher zurückhaltend und in der Gegenwart daher eher skeptisch gegenüber451. Dass es die evangelische Lehrmeinung nicht gibt, liegt insbesondere an der Verfasstheit der evangelischen Kirchen in Deutschland und weltweit sowie an den verschiedenen Strömungen und deren zugehörigen Kirchenverständnissen innerhalb des „Protestantismus“. Dennoch lohnt auch ein Blick auf 446

Nach Costigane sehen einige Moraltheologen, welche sich unter dem Begriff „Revisionisten“ sammeln, die Naturrechtsverankerung in der Lehrmeinung als zu starr und unflexibel an („rigid and inflexible“). Zu diesem Kreis gehörten beispielweise Peter Knauer, Joseph Fuchs, Bruno Schuller, Louis Janssens und Richard McCormick. Explizit geht Costiage auf die Theologen Salzman und Lawler, (The Sexual Person: Toward a Renewed Catholic Anthropology, 2008, S. 214) ein; Costigane, Natural Law (Fn. 215), S. 24. 447 T. Salzman / M. Lawler, New Natural Law Theory and Foundational Sexual Ethical Principles: A Critique and a Proposal, in: Heythrop Journal 47 (2006), S. 182 (195). 448 Salzman / L awler, Natural Law (Fn. 447), S. 195. 449 Salzman / L awler, Natural Law (Fn. 447), S. 196: „We offer this definition of sexual orientation: an innate condition produced by a mix of genetic, hormonal, and psychological ‚loading‘ and characterized by a psychosexual, emotional, and intimate relational attraction to persons of the opposite or same sex, depending on whether the condition is heterosexual, homosexual, or bisexual.“ 450 Salzman / L awler, Natural Law (Fn. 447), S. 196. 451 Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 53. Wittreck erkennt eine „Skepsis“ des Protestantismus gegenüber dem Naturrecht.

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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die verschiedenen Akteure der aktuellen Diskussion und ihre sozialethischen Ansätze, denn auch aus evangelischer Sicht scheint sich ein „erneutes […] Interesse am Recht“ in den letzten Jahrzehnten abzuzeichnen452.

1. Das Naturrecht als Stiefkind im Protestantismus Der Protestantismus hat zum Naturrecht eine eher kritische Haltung453. Daraus folgt allerdings nicht, dass das Naturrecht gänzlich abgelehnt wird. Teilweise ist nur der Gebrauch des Naturrechts umstritten. Nach Klaus Tanner kennt der Protestantismus das Naturrecht als ein „kontrovers beurteiltes und ungelöstes Dauerproblem“454. Das Naturrecht erscheine in ethischen Diskussionen innerhalb der protestantischen Theologie immer wieder, „wie die Schatten, die in einem flackernden Licht geworfen werfen.“455 Ein Grund hierfür ist u. a. die „Zwei-Welten-Lehre“ nach Martin Luther, in der Luther davon ausgeht, der Sündenfall „verdunkle“ die Vernunft der Menschen, weshalb dieser keinen Zugriff auf das „Naturrecht in stoischem Sinne“ habe456. Im Unterschied hierzu sah Philipp Melanchthon das Naturrecht aus rational nachvollziehbaren äußeren Handlungen gegeben und somit als Grundlage für das soziale Leben und Gesetzgebung457. Diese hier enorm verkürzten unterschiedlichen Auffassungen über das Naturrecht haben zu einer gewissen Unklarheit über die Rolle des Naturrechts in der evangelischen Soziallehre geführt458. Doch auch wenn keine generelle Soziallehre aus dem Naturrecht entwickelt werden konnte, so würde es doch regelmäßig von Kirchenführern bei gegenwärtigen ethischen Fragen benutzt459. 452 W. Huber, Rechtsethik, in: ders. / T. Meireis / H.-R. Reuter (Hrsg.), Handbuch der evangelischen Ethik, 2015, S. 125 (132). 453 E. Gräb-Schmidt, Würde als Bestimmung der Natur des Menschen? Theologische Reflexion zu ihrem (nach-) metaphysischen Horizont, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechte, 2008, S. 134 (136). Elisabeth Gräb-Schmidt bezeichnet in diesem Zusammenhang das Naturrecht als „Stiefkind“ des Protestantismus. Auch Jürgen Henkel beschreibt die Haltung des Protestantismus gegenüber dem Naturrecht als eine „höchst reservierte, skeptische und ablehnende“; J. Henkel, Naturrecht aus Sicht von Reformation und Orthodoxie, in: C. Müller / E. Nass / J. Zabel (Hrsg.), Naturrecht (Fn. 5), S. 76 (78). Ingo Dalferth erkennt im Anstreben des Naturrechts auf katholischer Seite und in der Verwerfung der Naturrechtsidee auf protestantischer Seite ein vertrautes Bild; I. Dalferth, Naturrecht in protestantischer Perspektive, 2008, S. 7. 454 K. Tanner, Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, 1993, S. 16. 455 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 16. 456 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 136 f. 457 Für eine ausführliche Darstellung vgl. A. Raunio, Natural Law in the Lutheran Tradition, in: N. Doe (Hrsg.), Natural Law (Fn. 215), S. 77 (82). 458 Raunio, Natural Law (Fn. 457), S. 96. 459 Raunio, Natural Law (Fn. 457), S. 96.

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

So beobachtet beispielsweise Ingolf Dalferth eine wiederaufkommende Naturrechtsdebatte, die im Gegensatz zu katholischen Auseinandersetzungen in evangelischen Diskussionen häufig nur altbekannte Thesen beschreibt460. Dalferth selbst steht der Naturrechtsdebatte kritisch gegenüber, ohne das Grundproblem in Frage stellen zu wollen. Die Frage des Rechts müsse nicht in „universalverbindlichen moralischen Vernunfteinsichten“ oder in einem transpositiven Naturrecht fundiert sein, damit dieses gerechtfertigt sein könne461. Der evangelische Glaube erkenne als Ausdruck der Freiheit an, „dass jeder Mensch nach seinem Gewissen und in eigener Verantwortung vor Gott und seinen Menschen zu entscheiden hat“462. Dieser Überzeugung könne nach Dalferth nur der Rechtspositivismus, als vom Menschen selbst gesetztes Recht in eigener Verantwortung, gerecht werden463. Auch für Wilfried Härle weist das Naturrecht auf „die Notwendigkeit der kritischen ethischen Überprüfung aller moralischen Ansichten und legalen Rechtsordnungen“ hin464. Dennoch bleibt Härle skeptisch, da die Berufung auf das Naturrecht auch kirchengeschichtlich aufzeige, dass der Mensch die göttliche Ordnung nicht immer erkennen könne465. Härle vertritt hier eine klassische protestantische Ansicht, die aufgrund des Sündenfalls der Menschheit besagt, diese verdunkle die Erkenntnis der Menschen. Daher könne das Naturrecht keine normative Funktion übernehmen, da die Frage des Zugangs nicht beantwortet sei466. Für die Ablehnung des Naturrechts, sieht Tanner nicht zwingend inhaltliche Gründe als auschlaggebend an. So wecke der Terminus lex naturalis bereits allein aufgrund der katholischen Prägung bei protestantischen Ethikern ein Distanzierungsbedürfnis467. Für den Protestanten sei der Rückgriff auf die lex naturalis daher schwer akzeptabel, unabhängig von den sachlichen Argumenten468. Dass sich die evangelischen Kirchen verhalten zum Naturrecht bekennen, stößt allerdings auch innerkirchlich auf Kritik. Daraus, dass die „protestantische Ethik […] heute eine weitgehend metaphysik- und gebotsfreie Zone“ sei, ergeben sich nach Jürgen Henkel auch erhebliche Nachteile469. Wenn Ethik und Moral keinen Gottesbezug enthalten und sich nicht an der Schöpfung orientieren, sondern nach einem demokratischen Verfahren erhoben würden, würde einzig auf die Vernunft und das Gewissen in ethischen Fragen zurückgegriffen werden470. Hierdurch könn-

460

Dalferth, Naturrecht (Fn. 453), S. 13. Dalferth, Naturrecht (Fn. 453), S. 63. 462 Dalferth, Naturrecht (Fn. 453), S. 68. 463 Dalferth, Naturrecht (Fn. 453), S. 68. 464 W. Härle, Ethik, 2. Aufl. 2018, S. 127. 465 Härle, Ethik (Fn. 464), S. 126. 466 Härle, Ethik (Fn. 464), S. 126. 467 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 21 f. 468 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 22. 469 Henkel, Naturrecht (Fn. 453), S. 82. 470 Henkel, Naturrecht (Fn. 453), S. 82. 461

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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ten Menschen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Naturrechtliche Argumente und die Schöpfungsordnung würden ausgeblendet471.

2. Die „Zwei-Reiche-Lehre“ Die bereits angesprochene „Zwei-Reiche-Lehre“ geht auf Martin Luther aus dem Jahr 1523 zurück. Die Lehre geht von einer Trennung in ein Reich des Glaubens und ein weltliches Reich aus und daher auch von zwei verschiedenen Regimentern. Das Reich Gottes, dem die Gläubigen angehören, werde von Gottes Wort regiert472. Das Reich der Welt bedarf hingegen rechtlicher Ordnung und eine Obrigkeit, um das menschliche Zusammenleben zu organisieren und zu ordnen473. Die weltliche Ordnung bedient sich des notwendigen Rechts, um das Leben der Menschen zu sichern. Das geistliche Regiment führt den Christen in seinem Glauben. Luther trennt die Nützlichkeit des Rechts, zumindest des staatlichen Rechts, von der Frage der Gerechtigkeit des Naturrechts474. Somit vollzieht er prinzipiell „die Trennung von staatlichem Recht und religiöser Moral“475. Die Lehre nach ­Thomas von Aquin sah in lex aeterna und lex naturalis eine vorgegebene Ordnung, die von den vernunftbegabten Menschen erkannt werden könne. Für Luther stand diese Aussage allerdings im Widerspruch zur Erbsünde, weshalb der Mensch das göttliche Recht nicht erkennen könne476. Gerade weil der Mensch die Gesetze aus seiner sündigen Natur heraus nicht immer erkennen kann, erhält das Recht Gottes als Teil der Offenbarung verstärkt Vorrang477. Naturrecht wird nicht mehr mit göttlichem Recht gleichgesetzt478. Viele sehen hierin eine eher zurückhaltende Haltung der Reformation zum Naturrecht, welche sich bis zum heutigen Protestantismus durchgezogen habe479. Allerdings ist diese Trennung nicht stringent. Ius divinum und ius naturale werden von Luther nicht verworfen480. Das weltliche Regiment bleibt von Gott eingesetzt und führt dadurch auch erst zur freien Entfaltung des Glaubens durch die Möglichkeit des Predigens des Evangeliums481. Dem weltlichen Regiment sei die

471

Henkel, Naturrecht (Fn. 453), S. 85. Vgl. de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 253. 473 Vgl. de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 253. 474 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 144. 475 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 144. 476 M. Heckel, Rechtstheologie Luthers (1966), in: K. Schlaich (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Staat – Kirche – Recht – Geschichte, Bd. 1, 1989, S. 324 (338). 477 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 147. 478 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 148. 479 Zum verhaltenen Naturrechtsregress der Reformation vgl. H. Munsonius, Evangelisches Kirchenrecht. Grundlagen und Grundzüge, 2015, S. 17. 480 Heckel, Rechtstheologie (Fn. 476), S. 338. 481 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 254. 472

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

sog. äußerliche Ordnung Gottes anvertraut, in dem sich die weltliche Obrigkeit um zeitlichen Frieden und leibliches Wohl kümmert482. Eine strikte Trennung wäre vollzogen, wenn das Recht der Obrigkeit dem Zufall oder dem freien Willen des weltlichen Regiments unterworfen wäre. Doch Luther erhebt sehr wohl gewisse Anforderungen an das weltliche Recht und misst es letztlich am Naturrecht483. Die weltlichen Gesetze müssen trotzdem mit der Vernunft und dem natürlichen Recht übereinstimmen, welche in Gottes Rechtswillen liegen484. Die Menschen sollten das Gesetz allerdings nur insoweit befolgen, als das positive menschliche Recht dem Gesetz Gottes nicht widerspricht485. Das positive Recht erhält demnach nur so lange Gültigkeit, wie es mit dem Naturrecht übereinstimmt. Wenn Luther die Aufgabe der Obrigkeit beschreibt, Frieden zu schaffen, dann beschreibt er die Funktion der weltlichen Macht, nicht seine Legitimation486. Auch bei Luther bleibt der Gesetzgeber, die Obrigkeit, an höhere Normen des Naturrechts, an das Recht Gottes also gebunden487. Verstoßen die Gesetze der weltlichen Welt jedoch dagegen, so sei der Gehorsam der Bürger gegenüber Gott größer als gegen die Obrigkeit und sie dürften diese Gesetze nicht befolgen, ohne ein umfassendes Widerstandsrecht für sich zu reklamieren488. Martin Luther verstand das Naturrecht daher nicht in zweifacher Hinsicht, einmal weltlich und einmal geistlich, sondern als ein Naturrecht, welches den Menschen ins Herz geschrieben steht489. Für ihn besteht das Naturrecht maßgeblich aus der goldenen Regel: „Nun thust Du wider die Natur und ihr Gesetz, das da spricht: Was Du willst, dass man Dir thu, das thu Du auch dem andern.“490 Diese Unterscheidung Luthers zwischen den beiden Welten hat die evangelische Kirche in Diskussionen darüber verwickelt, welche jüngst in der Diskussion um die Ehe für homosexuelle Paare wieder aufkam. So beschrieb Luther die Ehe als ein „weltlich Ding“. Die Aussage kann dahingehend missverstanden werden, es gebe gar keine naturrechtliche, gottgesetzliche Begründung, sondern eine zivilrechtlich begründete Lebensform. Luther schreibt der Ehe in rechtlicher Ordnung einzig einen weltlichen Charakter zu. Allerdings sei die Ehe sehr wohl nicht „vom Menschen errichtet“, sondern sei ein göttlicher Stand491. Ehe gehört für Luther zur Schöpfungsordnung und nicht zur Erlösungsordnung und ist daher kein Sakrament. 482 Vgl. M. Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkungen auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“, 2016, S. 427. 483 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 255. 484 de Wall / Muckel, Kirchenrecht (Fn. 216), S. 255. 485 Vgl. Heckel, Martin Luther (Fn. 482), S. 428. 486 H. de Wall, Grundfragen des evangelischen Kirchenrechts; A. Grundbegriffe und rechtstheologische Grundlagen, in: H. Anke / ders. / H. M. Heinig (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, 2016, S. 5 (19). 487 de Wall, Grundfragen (Fn. 486), S. 19. 488 de Wall, Grundfragen (Fn. 486), S. 19. 489 Heckel, Martin Luther (Fn. 482), S. 536. 490 Luther, WA 2, S. 120. 491 Vgl. Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 132.

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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Das Verhältnis Reformation und Naturrecht gestaltet sich bereits deutlich komplexer als die lineare Traditionslinie des Naturrechts der katholischen Kirche und wird auch innerhalb der evangelischen Kirche nicht einheitlich bewertet.

3. Die Menschenwürde als Anerkennung des Naturrechts Die evangelische Kirche oder vielmehr ihre Vertreter haben das Naturrecht nicht zu ausgeformten und detaillierten Vorgaben herangezogen, wie es in der römischkatholischen Kirche noch immer der Fall ist. Einige Gründe hierfür wurden bereits ausformuliert. Dennoch ist das Fehlen konkreter Handlungsvorgaben wie etwa im CIC kein Beweis dafür, dass die evangelische Kirche dem Naturrecht generell keinen Platz in ihrer Theologie und christlichen Ethik einräumt. Die Diskussionen um die Menschenrechte bilden eine „entscheidende Schnittstelle zwischen innerund außerkirchlichen Bemühungen um die Gestaltung eines humanen Ethos als Grundlage politischen Handelns.“492 Die theologische Behandlung der Menschenrechte führt nach Klaus Tanner notwendigerweise zur Auseinandersetzung mit den naturrechtlichen Argumentationen493. Eilert Herms etwa widmet sich dem Naturrecht und stellt die Frage, ob „beliebige inhaltliche Bestimmtheit“ für die Selbstbindung des Gewaltmonopolisten ausreicht, wenn aus christlichem Verständnis die Rechtsordnung das Zusammenleben mehrerer Ethosgestalten nichttotalitär und gewaltfrei gewährleisten soll494. Einzig ein Kriterium sei aus den verschiedenen Ethosgestalten und dem Wesen des Menschen zu ziehen. Herms sieht dieses in der dem Menschen eigenen Würde. Hieran soll der Gewaltmonopolist durch eine Rechtsordnung gebunden werden, die die Würde als „inhaltliche Bestimmung ihrer Regeln anerkennt“495. Er selbst sieht diese Voraussetzung im Grundgesetz durch Art. 1 gegeben, da dieser die Gewalten daran bindet, die Würde „zu achten“ und ein Bekenntnis des Verfassunggebers zu dieser Ethostradition, „in welcher das Sittengesetz zusammenfällt mit der lex naturalis“, indem er „diese Grundnorm durch Aufnahme in die Verfassung positiviert“496. Durch die Beschreibung des Menschen als Freiheitswesen könnte Herms als Vertreter eines „personalen Naturrechts“ gelten497. Elisabeth Gräb-Schmidt steht ebenfalls für den Naturrechtsgedanken ein, wenn sie die These aufstellt, der Gedanke des Naturrechts sei für die Bestimmung der 492

Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 35. Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 35. 494 E.  Herms, Die Begründung des Naturrechts, in: W.  Härle / B.  Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 262 (282). 495 Herms, Begründung (Fn. 494), S. 288. 496 Herms, Begründung (Fn. 494), S. 298; Herv. F.v.R. 497 Folgt man der Einteilung der gegenwärtigen Naturrechtsdebatte von Leichsenring in „Personales Naturrecht“ und „Gütertheoretisches Naturrecht“; vgl. Leichsenring, Naturrechtstheorien (Fn. 114), S. 74 ff. 493

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Würde des Menschen nach wie vor unverzichtbar498. Dabei greift sie auf das naturrechtliche Verständnis von Samuel von Pufendorf zurück, wonach der Mensch von Natur aus ein freiheitliches Wesen sei499. Die Freiheit wird nicht durch die Natur begrenzt, sondern die Natur des Menschen als moralisches Wesen sei gerade Ausdruck der Freiheit500. Wenn der Mensch von Natur aus handlungsfrei ist, dann folge hieraus, dass der Mensch aufgrund seiner Natur Rechte habe501. Und diese Natur des Menschen kennzeichne die Würde des Menschen502. Die Würde ist nach Elisabeth Gräb-Schmidt kein Produkt einer Konsensentscheidung, sondern existiert bereits vor einer „Verrechtlichung“503. Erst durch die Anerkennung der Würde des Menschen wirke diese selbst in das positivistische Recht hinein, wenn sie dort zur Auslegungshilfe oder Kodifizierung von Recht genutzt werde504. Naturrecht sei somit „der Horizont, der die Achtung dieses Anspruchs aufrechterhält“505. Stephan Schaede kritisiert ein Verständnis der Menschenwürde, die säkular ohne Gott begründet wird. Schaede sieht in der Theologie keine Disziplin mehr, von der man eine Antwort auf die Frage nach der Begründung der Unantastbarkeit der menschlichen Würde verlangen könne506. Die Theologie übe sich in Zeiten der Bioethik in falscher Bescheidenheit, da in „gegenwärtigen ethischen Stellungnahmen von Theologen […] Gott einfach ausgewandert“ sei507. Man zeige sich gar erleichtert, wenn gewisse Argumentationen einer theologischen Argumentation nicht bedürfen, da diese dann konsensfähiger erscheinen508. „Wenn schon das Naturrecht nicht konsensfähig ist, wie wird man dann erst dastehen, wenn christliche Theologie die unantastbare Menschenwürde ausdrücklich mit Jesus Christus im Gepäck begründet.“509 Eine derartige Argumentation ließe sich aus der Tatsache ableiten, dass einige Verfassungsväter vor einer auf dem Naturrecht beruhenden Würde für den Fall gewarnt hatten, dass sie von Institutionen und Bürgern nicht akzeptiert würde. Die Theologie hingegen müsse bei der Begründung der Unantastbarkeit der Menschenwürde auf Gott in Jesus von Nazareth aufmerksam machen510.

498

Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 136. Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 152. 500 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 153 f. 501 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 154. 502 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 153. 503 Zum Naturrechtsgehalt der Menschenrechte und der Menschenwürde siehe Kap. E. 504 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 158. 505 Gräb-Schmidt, Würde (Fn. 453), S. 158. 506 S. Schaede, Würde – Eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive, in: P. Bahr / H. M. Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, 2006, S. 7 (9). 507 Schaede, Würde (Fn. 506), S. 9. 508 Schaede, Würde (Fn. 506), S. 9. 509 Schaede, Würde (Fn. 506), S. 9. 510 Schaede, Würde (Fn. 506), S. 69. 499

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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4. Wolfgang Huber Auch Wolfgang Huber, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), bedient sich bei der Begründung der Menschenwürde philosophischer Überlegungen. Die Würde des Menschen, wie wir sie in Verfassungen und Präambeln fänden, liegt dem kantischen Gedanken zu Grunde, es gebe Werte und Würde. Werte haben einen gewissen Gegenwert, ein „Äquivalent“511. Der Mensch sei jedoch schon aus sich heraus Selbstzweck, zu dem es kein Äquivalent gebe, was Kant als „Würde“ bezeichnet512. Gerade in einem säkularen Verfassungsstaat müsse die Menschenwürde sogar religionsoffen erklärt werden, da eine christliche Begründung aus der Gottesbeziehung des Menschen nicht für jeden Bürger zur Pflicht erhoben werden könne513. Diese Begründung kann allerdings zur Untermauerung des Menschenrechtsgedankens genutzt werden514. a) Hubers Naturrechtsverständnis Nach Huber versuche die Theologie heutzutage jedoch keineswegs mehr, weltliches Recht begründen zu wollen515. Wolfgang Huber achtet sehr darauf, dem Gesetzgeber den nötigen Respekt und Freiraum einzuräumen. Zumindest scheint es so, als müsse sich die Theologie explizit von einem Begründungsanspruch des theologischen Naturrechts distanzieren. Es bestehe allerdings neben dem „Ethos der Rechtsbefolgung“ die ethische Verantwortung zur Verbesserung des Rechts516. Eine Rückkehr zu einem Naturrechtsverständnis der Vergangenheit oder eine revidierte Naturrechtsform aufzugreifen sei für ihn dabei nicht möglich517. Eine Gleichsetzung nämlich von ethischen Prinzipien und rechtlichen Normen vertrage sich heutzutage nicht mehr mit dem Postulat der Gewissensfreiheit518. Aus Sicht Wolfgang Hubers ist das klassische Naturrechtsverständnis ebenso wenig erfolgversprechend wie eine harte rechtspositivistische Ansicht. Huber fordert in der Debatte um ein Naturrecht zumindest einen Rechtspositivismus, der „eine Brücke zu einem rechtsethischen Normativismus“ betritt, denn dieser lasse Raum für eine rechtsethische Überprüfung des Rechts519. Huber fordert somit zumindest eine minimale Anforderung an das Recht, die über die formellen Anfor-

511

Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 157. Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 157. 513 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 157. 514 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 158. 515 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 137. 516 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 138. 517 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 3. Aufl. 2006, S. 15. 518 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 115. 519 Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 132. 512

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

derungen hinausgeht. Recht brauche für seine Stabilität, seine Beständigkeit, einen inhaltlichen Bezug zu ethischen Prinzipien520. Huber sieht in Deutschland auf die Entwicklung der ewigen Rückkehr des Naturrechts eine Entwicklung der ewigen Rückkehr des Positivismus folgen521. Hier habe man die berechtigte Frage des Naturrechtsdenkens allerdings vergessen und hätte lieber einen Blick in Richtung USA geworfen, als sich dem Rechtspositivismus wieder uneingeschränkt zuzuwenden522. Die Theorien von Rawls und Dworkin wiesen einen neuen Zugang zu der Frage des richtigen Rechts und ihre ethischen Kriterien dafür, ohne eine naturrechtliche, allgemeingültige Theorie durchsetzen zu wollen523. Ein Prinzipienmodell, wie es Dworkin vertritt, verbinde Eigenschaften des Rechtspositivismus und des Naturrechts, ohne die Fehler vieler naturrechtlichen Positionen zu wiederholen524. Solche Grundsätze würden zumeist in den Verfassungen angesprochen und verwiesen auf überpositivierte Prinzipien, auch wenn ihr Charakter aus geschichtlicher Entwicklung und Weiterentwicklung bestünde525. Prinzipien stehen damit einer allgemeingültigen Rechtsnorm entgegen. „Sie sind Resultate von geschichtlichen Lern- und Anerkennungsprozessen, die niemals als definitiv abgeschlossen gelten können.“526 Auch die deutsche Rechtsauffassung basiere auf einem solchen Verhältnis, wenn bei der einzelnen Rechtsauslegung von Gesetzen auf den Sinn und Zweck des Gesetzgebers eingegangen werden würde527. Prinzipien besäßen „einen unverkennbaren und unmittelbaren sittlichen Gehalt“.528 Auch wenn sich diesen Prinzipien kein ausformuliertes Normensystem entnehmen lasse, durchbrechen sie auch für Huber den positivistischen Ansatz: „Denn mit dem Hinweis auf Prinzipien als Optimierungsangebot innerhalb der Rechtsordnung wird eine möglichst weitgehende Verwirklichung sittlich begründbarer Ziele zur Rechtspflicht erklärt.“529 Die Prinzipien ermöglichten spätestens durch die verfassungsrechtliche Verankerung daher eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Sittlichkeit530. Für Huber vereint das Prinzipienmodell daher die beiden positiven Eigenschaften des Naturrechts- und Positivismusgedankens, ohne ihre Fehler zu wiederholen: Ganz im rechtspositivistischen Sinne vertrete die Prinzipientheorie die Ansicht, dass legitimierte Verfahren und soziale Wirksamkeit für die Rechtsetzung elementar seien531. Ebenso verbinde das Prinzipien 520

Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 134. Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 117. 522 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 118. 523 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 118. 524 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 122 f. 525 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 121 f. 526 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 121. 527 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 120. 528 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 121. 529 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 121. 530 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 122. 531 Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 122. 521

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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modell die naturrechtliche Ansicht, „daß ein Rechtssystem ohne ein Minimum an materialer Richtigkeit keinen Bestand hat; fehlt ihm dieses Minimum, dann kann es auch keinen Anspruch auf Geltung erheben und verliert auf Dauer auch seine soziale Wirksamkeit.“532 Hier wird einmal mehr die Schwierigkeit des Naturrechtsbegriffs deutlich. Huber versteht unter dem Naturrecht eine allgemeingültige Theorie. Verstünde er unter dem Naturrecht, so wie man es nach der hier präsentierten Definition zumindest auch verstehen kann, ein überpositives unverfügbares Kriterium, an dem das Recht gemessen wird oder politisch als Umsetzung gefordert wird, so setzt sich Huber selbstverständlich für einen Naturrechtsgedanken ein. Huber scheint dem Naturrecht allerdings weiterhin die Eigenschaft der fehlenden Wandelbarkeit und so der fehlenden Möglichkeit zur Weiterentwicklung zuzuschreiben. Wie bereits beschrieben, erhebt der Gedanke eines naturrechtlich-begründeten Anspruch an das Recht nicht gleichzeitig einen Einwand gegen die Positivierung und steht auch nicht zwangsläufig über dem Gesetzesverfahren. Nicht alle naturrechtlichen Ansichten verneinen den Vorrang des geschriebenen Rechts, sondern erheben häufig einen Anspruch auf einen minimalen und unverfügbaren Mindestinhalt des Rechts und sind daher auf ihre Umsetzung in positiviertes Recht angewiesen. Aufgrund der verschiedenen Verständnisse des Naturrechts setzt sich Huber für eine andere begriffliche Unterscheidung ein, die das Verhältnis von Recht und Moral besser aufzeige als die Unterscheidung von Naturrecht und Rechtspositivismus533. Diese Unterscheidung könne in vier Gruppen vorgenommen werden, wie sie von Dietmar von der Pfordten entwickelt wurden. b) Exkurs zum rechtsethischen Normativismus Dietmar von der Pfordten verwendet den Begriff „rechtsethischen Normativismus“ zusammen mit dem Begriffen „rechtsethischer Nihilismus“, „rechtsethischer Reduktionismus“ und „rechtsethischer Essentialismus“ und setzt sich für ihre Verwendung als Alternative zu den Begriffen Naturrecht und Rechtspositivismus ein, da die Unterscheidung der Begriffe Naturrecht und Rechtspositivismus für ihn wenig hilfreich sei534. Der rechtsethische Normativismus dient dabei der Kritik am bestehenden Recht: „Eine rechtsethische Rechtfertigung des Rechts ist faktisch und normativ möglich und wirklich sowie rechtsethisch wirkungsvoll. Recht und Ethik sind danach normativ verbunden. […] Das Recht muss sich, um gerecht zu sein, zumindest teilweise und in seinen grundlegenden Regelungen auf rechtsethische Rechtfertigungen stützen oder darf ihnen zumindest nicht widersprechen.“535 532

Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 122. Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 94 f. 534 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 106. 535 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 117. 533

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Auch für Wolfgang Huber setzt der rechtsethische Normativismus „den positiven Charakter des Rechts und dessen damit verbundene Änderbarkeit des Rechts voraus.“536 Auf der anderen Seite benötige das Recht ebenso einen inhaltlichen Bezug auf ethische Prinzipien537. Von der Pfordten unterscheidet neben dem rechtsethischen Normativismus drei weitere Grundkategorien als Alternative zum Naturrechtsbegriff: Der rechtsethische Nihilismus halte eine normative Rechtfertigung oder Kritik des Rechts für unmöglich538. Der rechtsethische Reduktionismus hingegen halte eine rechtsethische Rechtfertigung des Rechts für möglich, lehnt sie aber im Ergebnis ab oder minimiert ihre Bedeutung539. Und der rechtsethische Essentialismus wiederum halte eine rechtsethische Rechtfertigung für zwingend notwendig und verbinde diese mit dem Rechtsbegriff: „Normen, denen eine solche notwendige ethische Komponente oder Verbindung fehlt, sind kein Recht.“540 Für die Unterscheidung, ob ein ethischer Anspruch an das Recht eine notwendige begriffliche Verbindung zum Recht voraussetzt oder nicht, ist dieser Ansatz hilfreich. Denn beim rechtsethischen Essentialismus verliert das Gesetz sodann seine Gültigkeit, wenn ihm die rechtsethische Rechtfertigung fehlt, da es mit einem ethischen Anspruch verbunden ist. Richtigerweise können aber beide Grundkategorien, die eine ethische Rechtfertigung für möglich bzw. notwendig halten, die Unverfügbarkeit von Recht postulieren. Mit dem Begriff „rechtsethischer Normativismus“ ist noch keine Abgrenzung zum Naturrecht vorgenommen worden. Nur weil diese Ansicht den Rechtsbegriff notwendigerweise nicht an eine rechtsethische Rechtfertigung anknüpft, lässt sich allein daraus keine Abgrenzung zum Naturrecht erkennen. Hier zeigt sich, dass dem Naturrecht weiterhin eine notwendige Verbindung zur Rechtsnatur nachgesagt wird, die zu einer möglichen Verwerfung führen kann541. Die Unterscheidung zwischen rechtsethischem Normativismus und Essentialismus sagt etwas über die unterschiedliche Auffassung zur Natur des Rechts aus, aber nicht über das Verhältnis zum Naturrecht, weshalb eine alternative Verwendung dieser Begriffe im Ergebnis abzulehnen ist. Den rechtsethischen Normativismus und den rechtsethischen Essentialismus verbindet der Anspruch auf eine rechtsethische Rechtfertigung des Rechts und beide schließen den Anspruch auf die Unverfügbarkeit des Rechts grundsätzlich nicht aus. Daher schließt in Wirklichkeit die Forderung nach einem rechtsethischem Normativismus auch die Forderung nach der Verwirklichung des Naturrechts nicht aus. Soll das Recht gerecht sein, müsse es sich in seinen grund­ 536

Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 98. Huber, Rechtsethik (Fn. 452), S. 98. 538 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 123. 539 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 149. 540 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 191. 541 v. d. Pfordten zählt das Naturrecht daher zum klassischen Beispiel eines rechtethischen Essentialismus; v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 192. 537

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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legendsten Regelungen auf eine rechtsethische Rechtfertigung berufen. Einzig die Notwendigkeit der Verwirklichung des Naturrechts wird für den Rechtsbegriff und die Rechtsnatur eines Gesetzes nicht in letzter Absolutheit gefordert. Aber das ist für die Verwendung des modernen Naturrechtsbegriffs auch nicht zwingend. Die Unterscheidung kann daher vielmehr innerhalb des Naturrechtsverständnisses zur Frage nach dem Verhältnis des Naturrechts zum Recht dienen. Diese Tatsache bestreitet von der Pfordten auch nicht, sondern lehnt die Termini Rechtspositivismus und Naturrecht aufgrund ihrer unscharfen Definition ab. So seien bereits die meisten Vertreter des Naturrechts des 18. Jahrhunderts ebenso Vertreter des rechtsethischen Normativismus gewesen542.

5. Klaus Tanner Die Abkopplung der evangelischen Ethikdiskussion von der naturrechtlichen Tradition habe gezeigt, dass die Gefahr bestehe, hinter schon erreichte Problembeschreibungen zurückzufallen543. Dabei sei das Naturrecht durch seine Universalisierbarkeit in zweierlei Hinsichten „von kirchenpraktischer Bedeutung“544: Zum einen könne das Naturrecht ein wichtiges Kommunikationsmittel im Gespräch mit den anderen christlichen Konfessionen sein. Zum anderen stelle das Naturrecht zudem „Argumentationspotentiale“ bereit, die es erlauben, ein Menschenrechtsethos auszugestalten, welches nicht nur von Christen als verbindlich anerkannt werden könne. Tanner setzt sich für eine Erweiterung der Perspektive ethischer Diskussion innerhalb der protestantischen Theologie ein. Es gebe ein Defizit an Hermeneutik ethischer Diskurse545. Die evangelische Theologie dürfe sich nicht mehr nur auf „dogmatische Grundlegungsprobleme“, sondern müsse sich auf die „Hermeneutik ethischer Urteilsbildung“ konzentrieren546. Tanner schreibt davon, dass die Distanz zum Naturrecht in der evangelischen Theologie die Tendenz verstärke, „sich gegenüber ethischen Begründungsproblemen dogmatisch zu immunisieren.“547 „Naturrechtliche Denkformen sind aber in allen ethischen Entwürfen protestantischer Theologie des 20. Jahrhunderts da präsent, wo das Wissen nicht ignoriert wird, daß in ethischen Urteilsbildungen mehr als nur die eigene dogmatische Überzeugung im Spiele sind.“548 Daher könne man auch nicht von einem Wunsch auf Wiederkehr des Naturrechts sprechen, da dieses nicht abwesend gewesen sei549. 542

v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 179. Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 21. 544 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 58. 545 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 231. 546 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 231. 547 K. Tanner, Ethik und Naturrecht – eine Problemanzeige, in: ZEE 35 (1990), S. 51 (59). 548 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 232. 549 Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 231. 543

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Das Naturrecht wirft Schatten in die ethische Diskussion der protestantischen Theologie550. Unter den Themen wie Schöpfungsordnung oder Gesetz und Evangelium würden äquivalente Probleme des Naturrechts diskutiert, bei denen es auch immer um eine „Gesamtverfassung der Wirklichkeit“ ginge, „die über jeden einzelnen Handlungsvollzug hinausreicht, ihm insofern nicht zur Disposition steht, ihn gleichwohl aber ‚immer schon‘ in einer erst aufzuklärenden Weise mit bestimmt.“551 Klaus Tanner bleibt zurückhaltend in seiner Forderung zum Naturrecht. Der Verzicht auf einen offenen Umgang mit diesem führe zu negativen Folgen in ethischen und konfessionsübergreifenden Debatten. Der Schatten des Naturrechts sei aber immer präsent gewesen, weshalb er den Gebrauch des Begriffes und weniger den Gebrauch naturrechtlicher Argumentationen in der evangelischen Ethik vermisst.

6. Zwischenfazit Die Debatte um das Naturrecht scheint mit Blick auf aktuelle Erzeugnisse in der römisch-katholischen Kirche und unter römisch-katholischen Theologen nicht abzunehmen oder zumindest wieder aufzukommen552. Vielen der beschriebenen Vertreter ist allerdings nicht nur ihr Bekenntnis zum Naturrecht gemein, sondern auch eine Betrachtung der gegenwärtigen Naturrechtsdiskussion. Obwohl alle diese Vertreter in enger Tradition zum Naturrecht stehen, sehen doch einige von Ihnen eine Vernachlässigung des Themas in der Literatur. So beobachtet Bormann „verbreitete Abgesänge auf ‚das Naturrecht‘“, die er allerdings für verfrüht hält553. Aus der reinen Beobachtung der Behandlung oder auch über die fehlende Behandlung des Naturrechtsthemas hinaus, könnte man den Eindruck gewinnen, die Autoren rechtfertigten sich für die Schwerpunktsetzung ihrer Erzeugnisse auf das Naturrecht554. Dabei wird gerade die Diskussion der Sexualmoral der katholischen 550

Vgl. Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 16. Tanner, Ethik (Fn. 547), S. 59. 552 So auch Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 119. 553 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 335. 554 So sprach Schockenhoff 1995 noch davon, es möge überraschen, wenn „nach langjähriger Unterbrechung im Raum der deutschsprachigen Moraltheologie wieder eine Monographie zur Problematik des Naturrechts“ erscheine. Auch sah er die Tendenz in der katholischen Moraltheologie, „das Wort ‚Naturrecht‘ geschichtlichen Hypotheken zu rechnen“ und sich deren „selbst am liebsten zu entledigen“ zu wollen; Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 9, 11. Auch für Andrzej Kuciński scheint dem Naturrecht nicht sonderlich viel Beachtung geschenkt zu werden. Er schrieb bei seinem jüngsten Versuch der Erneuerung des Naturrechtsdenkens in Anlehnung an Spaemanns Theorien in Naturrecht der Gegenwart davon, dass das Naturrecht möglicherweise „nach wie vor einen plausiblen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft“ leisten könne; Kuciński, Naturrecht (Fn. 104). S. 20. „Der Totgesagte könnte sich überraschenderweise als langlebiger als vielfach angenommen erweisen.“ Ebda., S. 20. 551

III. Die protestantische Naturrechtslehre 

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Kirche in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und teils auch außerkirchlich geführt. Die Diskussion wird dort nicht auf die gleichgeschlechtliche Ehe begrenzt, sondern auch um den Zölibat der Priester, das Frauenpriestertum und die Rechte der geschiedenen bzw. wiederverheirateten Ehepartner erweitert. Wie aufgezeigt, lässt sich in der römisch-katholischen Kirche allerdings nicht über die Sexualmoral streiten, ohne das Thema Naturrecht mit zu behandeln. Auch wenn sich nicht alle aktuellen Erzeugnisse über das Naturrecht mit der Sexualmoral befassen, dürfte dies ein sehr bekanntes und streitbares Thema sein, auch wenn nicht immer wortwörtlich auf ein Naturrecht Bezug genommen wird. Der Eindruck, welcher durch die Kritik an der Sexualmoral aufgrund eines anderen Naturrechtsverständnisses entsteht, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die klassische Sexualmoral auch gegenwärtig von Naturrechtsanhängern vertreten wird. Wie in der Herleitung der kirchlichen Lehrmeinung zu sehen war, ist über die Auslegung eines richtigen Naturrechts in Bezug auf die Sexualmoral ein Streit entfacht. Als Beispiel für eine verteidigende Auffassung der klassischen Verhütungslehre kann die Ansicht Martin Rhonheimers gesehen werden555. Mack kritisiert den normativen Gehalt der Normalität, da sie in der Normalität der Dinge keinen Maßstab für moralische Anforderungen sieht556. Eine unkritische Übernahme der Normalität als Handlungsempfehlung und Vorgabe begehe den Fehler des Sein-Sollens-Fehlschlusses. Die Normalität wird dabei als maßgebliches Sein betrachtet, aus der sich ein normativer Gehalt ablesen lasse. Eine biologische Betrachtung der „Majorität des Seins“ wird mit dem Hinweis auf andere wissenschaftliche Disziplinen kritisiert. Kritisiert wird daher ein eindimensionales Naturrechtsverständnis und nicht etwa das Naturrecht als solches. Eingangs wurde in der Arbeit eine Naturrechtsdefinition präsentiert, die das Naturrecht nicht mehr allein in einer biologischen Natur begründet sieht. Hierfür findet sich ein Beweis in der Kritik an der naturrechtlich geprägten Sexualmoral der katholischen Kirche. Das Naturrechtsverständnis kann also durch eine naturwissenschaftliche Beobachtung des Menschen und daher durch einen naturwissenschaftlichen Begriff der Natur begründet werden, wie es die klassischen Naturrechtstheorien tun. Sie kann aber auch begründet werden durch einen Naturbegriff des Menschen, der seine soziologische, psychologische oder vernunftbegabte Natur in den Vordergrund stellt. Das Sein wird nicht als bloße menschliche Existenz verstanden, wie es Spaemann ausdrückt, sondern als komplexere 555 So versucht Rhonheimer im Einklang mit der Enzyklika Humanae Vitae und der gängigen Lehrmeinung die Empfängnisverhütung unter der zu Hilfenahme der lex naturalis der thomanischen Lehre zu verteidigen; Rhonheimer, Natur (Fn. 279), S. 113 f. Hintergrund ist der Begriff der „verantwortlichen Elternschaft“; ebda., S. 115: „Der Mensch ist dazu berufen, die Aufgabe der Weitergabe des menschlichen Lebens, als Mitwirken an der göttlichen Schöpferliebe, auf vernünftige und verantwortliche Weise wahrzunehmen, […] also gemäß einer ‚ordinatio rationalis‘ der ‚lex naturalis‘ [Herv. F.v.R.].“ 556 Mack, Wandel (Fn. 400), S. 210.

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B. Das christliche Naturrechtsverständnis

Tatsache des menschlichen Wesens. Daher plädiert Mack für die Anschlussfähigkeit des katholischen Naturrechtsverständnis an die modernen angelsächsischen Naturrechtstheorien, wie solche von Rawls und Nussbaum557. Das Naturrecht kennt keine vergleichbare Stellung in der evangelischen Theologie, wie es in der römisch-katholischen Kirche traditionell vorzufinden ist. Hierin muss man aber keine zwingende inhaltliche Ablehnung erkennen. Dafür fehlt es an einer Institutionalisierung der Naturrechtstheorie, wie beispielweise im Kirchenrecht. Die Nutzung des Naturrechts ist generell eingeschränkt, da die protestantische Theologie, zumindest teilweise, die Ansicht vertritt, der sündige Mensch sei nicht in der Lage, Gottes Willen zu durchdringen und zu erkennen. Das erschwert die Anwendung des Naturrechts, denn selbst wenn man unter dieser Prämisse das Naturrecht akzeptiert, kann sich keine Erkenntnis über Recht und Gerechtigkeit gewinnen lassen.

557 Auch evangelische Theologen sehen in dem Fähigkeitsansatz eine anschlussfähige Gerechtigkeitstheorie. Für Alexander Dietz ist der Fähigkeitsansatz „im Rahmen des Konzepts der Teilhabegerechtigkeit […] besonders leistungsstark im Blick auf die Diskussion um die Ressourcenallokation im Gesundheitswesen.“ A. Dietz, Zum Begriff der Gerechtigkeit am Beispiel der Ressourcenallokation im Gesundheitswesen, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 42 (80 f.).

C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft Zur Erörterung der Naturrechtstheorie in der Gegenwart ist es ratsam, zunächst einen Blick auf das Verständnis des Naturrechts nach dem Zweiten Weltkrieg zu werfen. Hier kann allerdings weder eine allgemeine noch eine detaillierte historische Betrachtung der Naturrechtstheorien ab 1945 erfolgen. Die Periode des Nationalsozialismus gilt als „negative“ Folie für die Verfassunggebung der Nachkriegszeit und hat u. a. auch durch die Vergangenheitsbewältigung in Form der sog. Naturrechtsrenaissance großen Einfluss auf die Gestaltung des Grundgesetzes und die Rechtsprechung genommen558.

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit Zum Einstieg in die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit eignet sich die Betrachtung der Radbruchschen Formel. Nicht etwa nur, weil Gustav Radbruch als einer der wohl bekanntesten und erfolgreichsten Vertreter des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg gilt, sondern weil sein Einfluss auf die Rechtsprechung bis ins Ende des letzten Jahrhunderts merklich sichtbar ist.

1. Gustav Radbruch Die rechtswissenschaftliche Aufarbeitung in der Nachkriegszeit ist essentiell von der Radbruchschen Formel geprägt, die aufgrund ihrer Verwendung in der Rechtsprechung von besonderer Bedeutung ist559. Gustav Radbruch war Reichsjustiz­m inister in der Weimarer Republik und Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, zuletzt an der Universität Heidelberg, an der er nach seinem 558 Der Ausdruck „negative Folie“ wird in Anlehnung an Fabian Wittreck verwendet: vgl. F. Wittreck, Zur Bedeutung einzelstaatlicher Grundrechte für die deutsche Grundrechtsentwicklung – Vom Frühkonstitutionalismus bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VIII, Landesgrundrechte in Deutschland, 2017, § 231 Rn. 64. 559 So erklärte beispielsweise das Bundesverfassungsgericht die Ausbürgerung eines jüdischen Bürgers nach § 2 der 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes v. 25. 11. 1941 als ungültig; das BVerfG hatte die Möglichkeit bejaht, nationalsozialistischen Rechtsvorschiften „die Geltung abzuerkennen“, BVerfGE 23, 98 (106). Unter anderem kam die Radbruchsche Formel auch bei dem Mauerschützenurteil zur Anwendung, BVerfGE 95, 96 (135).

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

Lehrverbot in der nationalsozialistischen Zeit 1945 wieder eingesetzt wurde. Zu den Gründen des Erfolgs seiner späteren rechtsphilosophischen Formel gehörte sicher auch seine persönliche Rechtschaffenheit, die auch in der Zeit des Nationalsozialismus nicht gelitten hatte und deretwegen er bis zuletzt hohes moralisches Ansehen genoss560. a) Die Radbruchsche Formel Radbruch formuliert seine Formel 1946 wie folgt: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“561 Die Radbruchsche Formel kann somit in eine Unerträglichkeits- und in eine Verleumdungsformel aufgeteilt werden562. Recht, das im „unerträglichen Maß“ im Widerspruch zur Gerechtigkeit steht, wird weiterhin als Recht angesehen, verliert aber als „unrichtiges Recht“ seine Geltung (Unerträglichkeitsformel). Seine Rechtsnatur als Gesetz entfällt hiernach gerade nicht563. Es kommt zu einer Unterscheidung der juristischen und moralischen Rechtsfolge: Ein unrichtiges Recht bleibt juristisches Recht, es bleibt nunmehr aber nicht mehr moralisch verpflichtend564. Recht, welches hingegen subjektiv nicht einmal Gerechtigkeit anstrebt, ist nicht nur unrichtiges Recht, es entbehrt schon der Rechtsnatur des Rechts (Verleumdungsformel). „Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“565 Inhaltlich ungerechte Gesetze bleiben ansonsten auch bei Radbruch gültig566. 560

H. Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, in: JZ 1997, S. 421 (423). G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, S. 105 (107). 562 F. Wittreck, Die Radbruchsche Rechtsformel als klassischer Text der Rechtsphilosophie – Teil 1, in: Ad Legendum 2008, S. 128 (129). 563 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 197; U. Neumann, Rechtsphilosophie im Spiegel der Zeit: Gustav Radbruch (1878–1949), in: JZ 2020, S. 1 (8). 564 L. Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, 2013, S. 61. 565 Radbruch, Unrecht (Fn. 561), S. 107. 566 Radbruch, Unrecht (Fn. 561), S. 107. 561

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit 

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Schwierig dürfte die Erkennbarkeit der Intension des Gesetzgebers sein, welcher häufig aus mehreren Personen eines Parlaments oder einer Regierung mit teils unterschiedlichen Absichten besteht567. Auch stellt sich die Frage, ob Recht, welches möglicherweise subjektiv nicht einmal Gerechtigkeit anstrebt, aber sehr wohl objektiv ethische Maßstäbe enthält, seine Rechtsnatur und Pflicht zur Befolgung verlieren sollte. b) Die Diskussion um die Einordnung Einige sehen in dieser Formel einen „dritten Weg“ zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus568, doch enthält der Rechtsgedanke Radbruchs auf jeden Fall naturrechtliche Elemente. Der Radbruchschen Formel fehlt es an Bekundungen zu einer bestimmten Theorie und daher an einer detaillierten Begründung, die sich in ihrer Argumentation einer vorhandenen Naturrechtstheorie annähert569. Ein dritter Weg lässt sich darin allerdings nur erkennen, wenn man von einem klassischen Naturrechtsverständnis ausgeht. Wer durch den Rechtsbegriff Radbruchs die Verfügbarkeit des Rechts als eingeschränkt versteht, wenn auch durch den schwammigen Begriff der Gerechtigkeit, erkennt hier das Hauptaugenmerk aller Naturrechtstheorien wieder. Für Horst Dreier liegt der Formel Gustav Radbruchs die schlichte Schlussfolgerung zu Grunde, „Naturrecht bricht positives Recht“570. Durch die Beschränkung des Rechts auf die Vereinbarkeit mit der Gerechtigkeit kommt das Verständnis der Unverfügbarkeit des Rechts zum Ausdruck, die vielleicht gerade deshalb einen unvergleichlichen Erfolgsweg vorweisen kann, weil durch die fehlende Festlegung des Gerechtigkeitsbegriffs durch eine detaillierte Naturrechtstheorie die Formel für jeden nutzbar und interpretierbar ist. Weil die Radbruchsche Formel die Idee der Unverfügbarkeit des Rechts enthält, ist die Formel für Hubertus-Emmanuel Dieckmann Ausdruck des modernen Naturrechts571. Die Diskussion um die Einordnung der Radbruchschen Formel als naturrechtlich, rechtspositivistisch oder als dritten Weg dürfte dahingehend zu lösen sein, 567

v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 198. So beispielsweise bei Kaufmann / v. d. Pfordten, Problemgeschichte (Fn. 40), S. 81. Bereits die Begriffsbestimmung des Rechts bei Radbruch ginge einen Mittelweg, da sie das Recht nicht mit absoluten Rechtswerten der Gerechtigkeit gleichsetzt, wie es im klassischen Naturrecht der Fall wäre, aber dennoch an einem inhaltlichen Anspruch an das Gesetz festhält, wie es im Rechtspositivismus unüblich ist. 569 Neumann, Rechtsphilosophie (Fn. 563), S. 9: „Die Frage, ob die höchste Rechtsquelle Gott, die menschliche Vernunft oder die ‚Natur‘ sein soll, kann für einen ‚Naturrechtler‘ aber nicht offen bleiben.“ 570 Dreier, Gustav Radbruch (Fn. 560), S. 429. 571 H.-E.  Dieckmann, Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes? Eine kritische Würdigung der Rezeption der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung, 2006, S. 27 f. 568

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

dass es sich bei der Formel schlicht nicht um eine ausformulierte Theorie handelt. Vielmehr eröffnet der Rechtsbegriff die Möglichkeit, naturrechtliche Argumente einfließen zu lassen. Radbruch stellt ein Verständnis der Rechtsnatur vor, in dem die Gültigkeit des Rechts an der Gerechtigkeit bemessen wird. Er beschreibt keine Theorie, die eine richtige Handlung oder richtiges Recht vorgibt, sondern was Unrecht und falsches Recht ist. Aus diesem Grund hat Arthur Kaufmann auch den Begriff des „negativen Naturrechts“ für die Formel geprägt572. Durch die Anwendung der Formel verliert das Recht seine Geltung, sollte es im unerträglichen Maße der Gerechtigkeit widersprechen und entbehrt bereits der Natur des Rechts, sollte diese nicht einmal angestrebt werden. Der Inhalt des Rechts muss daher immer auf Gerechtigkeit angelegt sein. Das heißt, dass Radbruch die völlige Verfügbarkeit des Rechts innerhalb des Rechtsbegriffs ablehnt. Es fehlt allerdings an einer ausformulierten Gerechtigkeits- oder Naturrechtstheorie, die als Maßstab für das Recht herangezogen werden kann. c) Kein „Damaskuserlebnis“ Radbruchs Inhaltlich lässt sich bei Radbruch kein „Damaskuserlebnis“ erkennen, wohl aber Abweichungen zu seiner bisherigen Lehre573. Radbruch definiert das Recht bereits vor 1933 als „die Gegebenheit, die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen“574. Neben der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit umfasst diese Rechtsidee bei Radbruch auch die Gerechtigkeit. Als innerer Antrieb des Gesetzgebers greift Radbruch bei seinem definierten Gesetzesbegriffs auf die „Gerechtigkeitsintension“ des Gesetzes zurück und bleibt sich hierbei auch nach dem 2. Weltkrieg treu575. So unterscheidet er schon im Jahr 1932 bei der strikten Befolgung von Gesetzen zwischen Rechtanwendern und Bürgern. Das positive Recht habe gegenüber dem Bürger keine absolute Gültigkeit, wenn das Gewissen beispielsweise „Schandgesetzen“ den Gehorsam verweigere576. So kritisiert Radbruch den Satz von Johann Wolfgang von Goethe, es sei besser, es geschehe einem Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz, dahingehend, dass die Rechtssicherheit der Gerechtigkeit nicht zwingend vorrangig sei577. „Die drei Seiten der Rechtsidee 572 A. Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, in: NJW 1995, S. 81 (85). 573 So allerdings F. v. Hippel, Gustav Radbruch als rechtsphilosophischer Denker, 1951, S. 36. 574 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch. Gesamtausgabe, Bd. 2, 1993, S. 216. 575 Zum Begriff „Gerechtigkeitsintension“; v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 198. 576 Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 574), S. 315. 577 „Es ist besser, es geschehe dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze.“ J. W. v. Goethe, Aus dem Nachlaß. Über Literatur und Leben, in: ders., Maximen und Reflexionen, S. 605 (zitiert nach der Hofenberg-Ausgabe; herausgegeben von Karl-Maria Guth, 2. Aufl. 2016, S. 101 [104]).

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit 

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sind gleichwertig, und in Fällen eines Widerstreits gibt es zwischen ihnen keine Entscheidung als die des Einzelgewissens.“578 Hier entscheidet das Gewissen über die Verbindlichkeit von Recht, ohne das bereits die Rechtsnatur des Gesetzes aberkannt wird579. Dennoch lässt sich bereits in diesen frühen Ausführungen keine strikt positivistische Haltung erkennen. Bei der Anwendung des Gesetzes durch die Richter hingegen sieht Radbruch eine „Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzgebers zur Geltung zu bringen“580. „Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lässt.“581 Der Richter ist der Rechtssicherheit verpflichtet und nicht der Gerechtigkeit. Diese Unterscheidung zwischen Bürger und Richter gibt Radbruch nach 1945 auf. Zum Zweck der Rechtssicherheit solle aber nicht jeder Richter „auf eigene Faust Gesetze entwerfen dürfen, diese Aufgabe sollte vielmehr einem höheren Gericht oder der Gesetzgebung vorbehalten bleiben“582. Hier vollzieht sich ein deutlicher Wandel in Radbruchs Ausführungen: Radbruch hatte nie die Verbindungen zwischen Gerechtigkeit und Recht geleugnet und den Bürgern sogar das Recht zugesprochen, bei ungerechten Gesetzen nach seinem Gewissen zu handeln. Eine solche Situation aber hatte er als tragischen Fall bezeichnet, da auch Überzeugungstäter zu verurteilen gewesen wären. „Pflicht fordere vom Täter das Verbrechen, Pflicht fordere vom Richter die Bestrafung“583. Erst unter dem Eindruck der menschenverachtenden Herrschaft des Nationalsozialismus entfällt in der Radbruchschen Formel die Rechtsnatur als Gesetz. Weniger Beachtung findet Radbruchs Aufsatz über Die Erneuerung des Rechts nur ein Jahr nach Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht584. Hier wird deutlich, dass von einem „Damaskuserlebnis“ nicht die Rede sein kann. „Heiligste Menschenrechte, Leben, Freiheit, Ehre, wurden ohne auch nur dem Vorwand der Gerechtigkeit tausendfach mit Füßen getreten. […] Jetzt gilt es, die Rechtssicherheit neu zu errichten, die Bindung des Staates an seine eigenen Gesetze zu erneuern, den Rechtsstaat wiederaufzubauen.“585 Radbruch erneuert seinen Gedanken, der Rechtspositivismus habe den Juristenstand wehrlos gemacht und das Naturrecht würde einem solchen Missbrauch entgegenwirken. „Die Rechtswissenschaft muss sich wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höhe 578

Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 574), S. 315. U. Neumann, Naturrecht und Positivismus im Denken Gustav Radbruchs. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 11 (15). 580 Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 574), S. 315. 581 Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 574), S. 315. 582 Radbruch, Unrecht (Fn. 561), S. 105 (107). 583 Radbruch, Rechtsphilosophie (Fn. 574), S. 316. 584 Vgl. G. Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 3. Aufl. 1981. 585 Radbruch, Erneuerung (Fn. 585), S. 1. 579

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

res Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist“586. Zur Erneuerung des Rechts gehört somit die Wiederfindung des Naturrechts und die Neuerrichtung der Rechtssicherheit. Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als Rechtsidee des Rechts waren bei Radbruch schon immer stark verankert und miteinander verzahnt. Dass Radbruch ein Vertreter der positivistischen Lehre gewesen sei, der nach der Erfahrung der Nazityrannei „bekehrt“ wurde, wie es H. L.A. Hart noch formulierte, lässt sich somit nicht eins zu eins übernehmen587. Hart wirft Radbruch vor, er unterliege dem Missverständnis, dass die Frage nach dem Gehorsam gegenüber einer Norm bereits durch das Anerkenntnis einer Norm als gültige Rechtsnorm entschieden sei588. Recht dürfe Moral nicht verdrängen589. Man kann diese Worte Harts als politische Aussage einstufen, und in der Tat zeigt sie die Schwierigkeiten der Radbruchschen Formel auf. Denn diese suggeriert mit der Verleumdungsformel, dass die Frage nach der Befolgung eines bestimmten Gesetzes auch die Fragestellung nach der ethisch richtigen Handlung löse. Radbruch aber bleibt die Antwort schuldig, was die Lücke des ungerechten Gebots / Verbots schließen soll. Was ist nach dem Verlust der Rechtsnatur des Gesetzes zu tun? Ein einfaches „Nicht-­ Befolgen“ der Norm kann wenig hilfreich sein. Geht man beispielsweise von einer Norm aus, die den Bürgern die Pflicht auferlege, kleinere Vergehen anderer Bürger auf offener Straße mit harten körperlichen Sanktionen zu bestrafen, und man wüsste, dass dieses Gebot subjektiv nur auf die reine Schikane der Bürger abziele und nicht etwa auf Verbrechensprävention, ist es nicht sonderlich hilfreich zu wissen, dass der Norm aufgrund ihrer fehlenden Gerechtigkeitsintension der Rechtsstatus abgesprochen wird. Wenn ein Bürger nun also einen 14-jährigen beim Diebstahl einer DVD in einem Supermarkt erwischt, dürfte klar sein, dass dieser Bürger den Jungen nicht auf dem nächstgelegenen Marktplatz auspeitschen sollte. Aber was ist stattdessen zu tun? Hier zeigt sich erneut, dass Radbruch im wahrsten Sinne des Wortes eine Formel und keine Theorie vorgelegt hat, die zur positiven Bestimmung des Rechts beitragen kann. Des Weiteren kritisiert Hart, dass es sich bei Verurteilungen solcher Personen, die sich zum Zeitpunkt ihrer Tat auf geltendes Recht berufen, dem Sinne nach um die Bestrafung nach einem „neuen, rückwirkenden Gesetz“ handelt und dies auch offen erklärt werden müsse590. In Radbruchs Ansätzen wurde ein Umbruch aufgrund der Erfahrungen des Weltkriegs gesehen. So ist in der Literatur darüber gestritten worden, ob aus dem 586

Radbruch, Erneuerung (Fn. 585), S. 2. Hart, Positivismus (Fn. 16), S. 40. 588 Hart, Positivismus (Fn. 16), S. 42. 589 Hart, Positivismus (Fn. 16), S. 43. 590 Hart, Positivismus (Fn. 16), S. 45. 587

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit 

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„einstmaligen ‚Positivisten‘ Radbruch unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Unrechtsstaat ein ‚Naturrechtler‘ geworden“ sei591. Die historische Einordnung der Gründe allein bezogen auf die Verbrechen der Nazidiktatur können in Bezug auf die Äußerungen Radbruchs dennoch nicht überzeugen. Es steht außer Frage, dass Radbruch seinen Aufsatz Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht auf die Schandtaten ab den 30er Jahren bezieht. So beginnt er mit den Worten, der Nationalsozialismus habe die Juristen mit dem Grundsatz „Gesetz ist Gesetz gefesselt“592. Und dieser Grundsatz kannte als Ausdruck des positivistischen Rechtsdenkens keine Einschränkungen und habe den „deutschen Juristenstand wehrlos“ gemacht593. Es zeigt sich, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten allerdings keineswegs einzig durch den „Rechtspositivismus“ ermöglicht wurde.

2. Exkurs: „Naturrecht im Nationalsozialismus“ – Die Gefahren der Naturrechtsargumentationen Der Streit um eine „Naturrechtsrenaissance“ und die Rolle des Naturrechts und Rechtspositivismus im Dritten Reich sollen hier nicht in epischer Breite diskutiert werden, sind sie nicht zentrales Thema dieser Arbeit. Aber schon einmal das Thema angerissen, eignet es sich an dieser Stelle gut, um auf die Möglichkeit des missbräuchlichen Gebrauchs von Naturrecht hinzuweisen. Die Ansicht, dass der Rechtspositivismus für das NS-Regime verantwortlich war, gilt heute als historisch überholt594. Das Dritte Reich kann selbstverständlich nicht als Gesetzesstaat bezeichnet werden und ohne jeden Zweifel wurde das positive Recht, das „Instrument des Gesetzes“, zur Verfolgung und Durchsetzung ihrer menschenverachtenden Ziele eingesetzt595. Allerdings wurde das Naturrecht in dieser Zeit ebenso für ideologische Ziele missbraucht, weshalb man die Einschätzung, das Naturrecht sei allein aus Gründen der Vorbeugung von Rechtsmissbrauch und somit zur Verhinderung einer solchen wiederholten Katastrophe wieder aufgekommen, als verfehlt erklären kann596.

591

A. Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie. Eine Einführung in das rechtsphilosophische Denken, 1994, S. 41. 592 Radbruch, Unrecht (Fn. 561), S. 105. 593 Radbruch, Unrecht (Fn. 561), S. 105. 594 So auch Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 184; M. Kaufmann, Rechtsphilosophie, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 79 (83). Wittreck bezeichnet dies als „Positivismuslegende“; F.  Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht. Affinität und Aversion, 2008, S. 2. 595 Ellscheid, Strukturen (Fn. 98), S. 147. 596 Vgl. Ellscheid, Strukturen (Fn. 98), S. 147. Vereinzelt wird der Rechtspositivismus von Naturrechtsanhängern weiterhin für den Bestand des nationalsozialistischen Unrechtsregimes verantwortlich gemacht. Robert Spaemann schreibt, nach den grauenhaften Tyranneien des 20. Jahrhunderts sei der Rechtspositivismus kaum zu retten. Spaemann bezieht sich ohne

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

In der nationalsozialistischen Zeit wurden „rechtliche Regelungen missachtet und im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie contra legem interpretiert“597. Sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR sind Normen vielfach nicht zur Anwendung gekommen598. „Führerprinzip und klassenkämpferische Diktatur binden sich schon ex definitione nicht an die eigene Norm, weil ihnen an Normativität ihrer Gebote nichts liegt, sondern Führung und Kampf die entscheidende Rolle zu spielen haben.“599 Solche politischen Systeme machen sich eine Entscheidungsfreiheit zunutze, die nicht mit dem Rechtsbegriff vereinbar ist600. Zudem vertrat der Nationalsozialismus keinen Rechtspositivismus, sondern bestimmte die Rechtspolitik aus der Perspektive des sog. völkischen Naturrechts601. Es zeigten sich gewisse Parallelen in Argumentation und „Rechtsfolge“ der nationalsozialistischen Rechtslehre und Argumentationsfiguren aus dem Naturrecht. Moral und Recht wurden nicht getrennt, sondern das Recht wurde mit nationalsozialistischer Ideologie verbunden602. So ließen sich aus den Termini wie „ewige Volksrechte“ oder „natürliche Gesetze der Rasse und des Volkstums“ objektive Regeln für den Gesetzgeber ablesen, die aus der Natur abgeleitet wurden603. Das Recht wurde auf seine Vereinbarkeit mit dem „Blut und Boden-Naturrecht“ und dem Führerwillen geprüft604. Auch das Naturrecht versucht objektiv gültige Regeln aus der Natur oder der Vernunft abzuleiten und Hilfestellungen für den Gesetzgeber zu geben, weshalb sich eben solche Terminologien als „strukturell naturrechtlich“ erwiesen haben und in der Rechtslehre des Dritten Reiches wieder zu erkennen sind605. Es gab zudem eine „antipositivistische Richtung“, da der Rechtspositivismus als „abstrakt“, „lebensfremd“ oder „jüdisch“ abgelehnt wurde606. Zweifel auf den Rechtspositivismus im Nationalsozialismus, steht dem hier genannten Zitat doch folgendes Zitat Kardinals von Galen in Münster voraus: „Was wir jetzt erlebt haben, die Tyrannei, die Unterdrückung, die Zerstörung, das alles war die Strafe Gottes für das, was die Deutschen 1919 an den Anfang ihrer Verfassung gestellt haben: ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.‘ Jetzt haben wir die Staatsgewalt kennen gelernt, die vom Volke ausgeht. Es wird Zeit, dass wir uns besinnen auf die wahre Quelle allen Rechtes“, Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 27; unter Bezugnahme auf v. Galen. 597 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 184; Herv. i.O. 598 D. Willoweit, Rechtsbegründung und Rechtsbegriff. Ein Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem, 2000, S. 315 (320). 599 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 320; Herv. F.v.R. 600 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 320. 601 Brieskorn, Rechtsphilosophie (Fn. 375), S. 82. Deshalb wirft Fabian Wittreck die Frage auf, ob es sich in der nationalsozialistischen Rechtslehre nicht eher um eine Form von „dunklem“ Naturrecht handle; Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 4. 602 Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 22. 603 Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 45. 604 F. Scholderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat. Zur Rekonstruktion des § 336 StGB für die Gegenwart, 1993, S. 451. 605 Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 45 ff. 606 Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 22.

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit 

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Aus der Sicht heutiger Forschung muss man konstatieren, dass aus rechtswissenschaftlicher Betrachtung wohl weniger der Rechtspositivismus zur Förderung des Unrechtsregimes beigetragen hat als vielmehr die „unbegrenzte Auslegung“ der Gesetze in der Justiz zur Anpassung an die Ideologie607. Man konnte auf einer überpositiven Grundlage das Recht bereits umdeuten, bevor es zu einer Umsetzung des Unrechts in das positive Recht kam608. „Ex ante betrachtet ergibt sich […], daß die Weimarer Justiz der Etablierung des Nationalsozialismus wesentlich mehr Widerstand hätte entgegenbringen können und viel weniger wehrlos hätte sein müssen, wenn sie sich konsequent positivistisch verhalten hätte.“609 Einen großen Unterschied zur Naturrechtslehre markiert der fehlende Versuch eines rationalen Erkenntnisgewinns. Vielmehr steht eine „pseudoreligiöse […] Bekenntnisformel“ hinter der nationalsozialistischen Rechtslehre; „das Blut tritt an die Stelle der Vernunft“610. Auch ist die Ableitung konkreterer Regeln eine „Neuerung“ dieser Rechtslehre, die der traditionellen Naturrechtslehre fehlt. „Dieser Konkretisierungsprozeß, so die einheitliche Meinung, könne weder erklärt noch verstanden werden, sondern nur im Blut gefühlt, in rassischer Verbundenheit gespürt oder eben ‚erlebt und gelebt‘ werden.“611 Und dennoch kann es nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Rechtslehre nicht als Maßstab für Kritik am positiven Recht gelten kann, wie es der Naturrechtslehre eigen ist. Spätestens das Führerprinzip lässt keine Kritik der völkisch, rassischen Rechtslehre an Hitlers Handeln zu612. Bereits bei der Erarbeitung der Grundrechte des Grundgesetzes waren nicht alle an der Schuld des Rechtspositivismus an dem Bestand des nationalsozialistischen Unrechtsregimes überzeugt. In der Diskussion des parlamentarischen Rates über einen Verweis auf die Natur des Menschen im Zusammenhang mit der Menschenwürde im Grundgesetz, äußerten vor allen Theodor Heuss und Carlo Schmid Bedenken. Schmid erinnerte an die Gefahren, die sich auch im Nationalsozialismus durch subjektive Wertung des Naturrechts ergeben hätten: „Nicht zu allen Zeiten hat man an Rechte, die einem vom Natur zustehen, so geglaubt, wie heute. […] Die große Begeisterung für das Naturrecht, die sich heutzutage überall manifestiert, ist eine Gegenbewegung gegen die absolute Abneigung des deutschen juristischen Positivismus gegen das Naturrecht, den man für die Rechtsverleugnung unter dem Naziregime überhaupt verantwortlich macht, wobei ich mir nicht versagen möchte, darauf hinzuweisen, daß die nazistische Rechtstheorie auch auf dem ‚Naturrechte‘ beruhte, allerdings auf einem, das nicht von dem Begriff des Menschen bei Lamettrie ausging, sondern von dem Darwins. Naturrecht absolut zu setzen ist eine gefährliche Sache.“613 607

Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 22. Scholderer, Rechtsbeugung (Fn. 604), S. 451. 609 Scholderer, Rechtsbeugung (Fn. 604), S. 454; Herv. F.v.R. 610 Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 52. 611 Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 51. 612 Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 51. 613 Deutscher Bundestag / Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat. 1948–1949. Akten und Protokolle. Ausschuß für Grundsatzfragen, Bd. 5, Teilbd. 1, 1993, S. 64 ff. 608

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

Es lassen sich enorme Ähnlichkeiten zur traditionellen Naturrechtslehre erkennen und aufzeigen, dass auch diese, ähnlich wie der Rechtspositivismus, der Gefahr des Missbrauchs unterliegt. Auch die Systemrelevanz und regimeunterstützende Rechtslehre von „Blut und Boden“ kann als Beispiel dafür genommen werden, wie eine „analoge Naturrechtslehre“ ein Unrechtsregime stabilisieren kann. Die Naturrechtslehre hat aber auch im Positiven gegen das Unrechtsregime gewirkt. So haben sich Widerstandskämpfer im Dritten Reich ebenfalls auf ein Naturrecht berufen614. Aus heutiger Sicht müsste man den Streit der Nachkriegszeit eher als einen aufkommenden Streit des „‚wahren‘ Naturrechts“ gegen das „‚falsche‘ des Dritten Reichs“ bezeichnen615.

3. Die Naturrechtsrenaissance Nach dem 2. Weltkrieg wurde der erneute Rückgriff auf das Naturrecht als „Naturrechtsrenaissance“ oder „Wiedergeburt“ bezeichnet616. Vom „totgesagten Rechtspositivismus“ war die Rede617. Die oben angeschnittene Diskussion über einen möglichen Wandel in Radbruchs Theorien sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Naturrecht seine „Renaissance“ selbstverständlich den Erfahrungen des Nationalsozialismus zu verdanken hatte. Dabei scheint das Naturrecht auch deshalb zunehmend beansprucht worden zu sein, um die Ablehnung der NS-Verbrechen zum Ausdruck zu bringen. Für Lena Foljanty stellt die „Erschütterungsbeurkundung über die ‚Pervertierung des Rechts‘ im Nationalsozialismus […] den Ausgangspunkt der Besinnung auf das Naturrecht in der Nachkriegszeit dar.“618 Der Erhöhung des Naturrechts als vermeintlicher Schutzwall vor Unrechts­ gesetzen kommt einer Schuldzuweisung an den Rechtspositivismus für die Ermöglichung eines solchen Regimes gleich. Dem Rechtspositivismus die Schuld an dem NS-System zuzuschreiben, klang einleuchtend und versöhnlich, nahm es doch die Verantwortung von menschlichen Schultern. Wenn man sogar, wie Radbruch for 614

Spaemann, Recht (Fn. 10), S. 28; Wittreck, Rechtslehre (Fn. 594), S. 56; Brieskorn, Rechtsphilosophie (Fn. 375), S. 87. 615 Ellscheid, Strukturen (Fn. 98), S. 147. 616 Der Begriff der „Naturrechtsrenaissance“ oder „Wiedergeburt des Naturrechts“ greift hier die historische Bewertung der Naturrechtsdebatte in der Nachkriegszeit auf. Für viele H. Rommen, Die Ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl. 1947; zur „Naturrechtsrenaissance“ siehe beispielhaft Hofmann, Rechtsphilosophie (Fn. 177), S. 10 f. 617 E. Riezler, Der totgesagte Rechtspositivismus (1951), in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht (Fn. 584), S. 239 (239 ff.). 618 Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 19. Auch für Arthur Kaufmann war die Naturrechtsrenaissance „nicht gerade eine Ausgeburt der Rationalität und der Vernünftigkeit“; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit. Abschiedsvorlesung, 2. Aufl.  1992, S. 8. Fabian ­Wittreck sieht für den Erfolg der Radbruchschen Formel verschiedene Gründe, welche alle die Rolle der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 betreffen; Wittreck, Rechtsformel (Fn. 562), S. 130. So beschreibt er die Radbruchsche Formel beispielsweise als eine Art „Ventil für moralische Empörung“ und Distanzierung zum Unrechtsstaat; ebda., S. 130.

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit 

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muliert hat, der Meinung ist, der Rechtspositivismus habe den Juristenstand wehrlos gemacht, so kann man auch noch diesen in Schutz nehmen619. Der Überhöhung des Naturrechts als Lösung und des Rechtspositivismus als Schuldigen, folgt ein schnelles Ende der Wiedergeburt620. Arthur Kaufmann beschreibt eine schnell einsetzende rückläufige Bewegung und erklärt dies unter anderem damit, dass der Rückgriff auf das Naturrecht unnötig geworden sei, da es inzwischen wieder integrierter Bestandteil unserer staatlichen Rechtsordnung als positives Recht sei621. Ohnehin aber sieht Kaufmann in dem bisher Gesagten keinen Grund, dem Naturrecht bzw. der Naturrechtsrenaissance keine positiven Nachwirkungen zuzuschreiben. Denn zu Recht habe diese erkannt, dass sich die Rechtsphilosophie aufgrund des „Sündenfalls der Unrechtsgesetze“ nicht mehr nur auf das Formale beschränken könne622.

4. Weitere Naturrechtsvertreter der Nachkriegszeit Wir wenden uns nachfolgend auszugsweise noch einigen Naturrechtsanhängern zu, die in die Ära der Nachkriegszeit gezählt werden können. Dies soll der Veranschaulichung dienen, um mit einem Vorurteil aufzuräumen, wie es nach Meinung des Autors in Vorlesungen und Lehrbüchern suggeriert wird, Radbruch sei quasi der einzige gewesen, der die sog. Naturrechtsrenaissance zu verantworten und zu vertreten habe. Die Naturrechtsrenaissance und ihre Anhänger sollen hier nur punktuell skizziert werden. Dabei wirkte sich die Naturrechtsrenaissance übergreifend auf verschiedene Disziplinen aus und fand auch in der katholischen und evangelischen Theologie Anklang. Die römisch-katholische Naturrechtsrenaissance fokussierte sich dabei verbreitet auf die Staatslehre des Neuthomismus623. In der evangelischen 619 Kriele sieht in der aufkommenden Naturrechtsdebatte der Nachkriegszeit daher eine anziehende Möglichkeit, „die politische Schuld an den Geschehnissen des ‚Dritten Reiches‘ auf die deutschen Juristen und die Theoretiker des Rechtspositivismus abzuladen.“ M. Kriele, Recht und Praktische Vernunft, 1979, S. 122. 620 Das Naturrecht habe im Schrifttum den „Nährboden und Resonanzraum“ verloren als es zur Stabilisierung der Verhältnisse nach dem Krieg kam; Hofmann, Rechtsphilosophie (Rn. 177), S. 21. 621 A. Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit (1957), in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 1 (1). Bereits 1953 beschreibt Welzel, es habe sich „verhältnismäßig rasch wieder starke Ernüchterung ausgebreitet“ und die Begeisterung des Naturrechts habe „einer erneuten Hinwendung zum positiven Recht“ Platz machen müssen; H. Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht (Fn. 584), S. 322 (325). 622 Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 619), S. 9. 623 U. a. Heinrich Rommen, Heinrich Kipp, Ernst v. Hippel; die knappe Übersicht der Naturrechtsrenaissance und ihrer Vertreter geht auf Foljanty zurück; L. Foljanty, Naturrechtsrenaissance, in: A. Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, 2. Aufl. 2016, Sp. 1868 (1869). Zu den weiteren Vertretern katholischer Naturrechtsdenker der Nachkriegszeit zählt sie die Juristen Valentin Tomberg, Günter Küchenhoff, Adolf Süsterhenn und Friedrich August v. d. Heydte; Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 98.

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

Theologie war der Rekurs auf das Naturrecht wesentlich zurückhaltender, obwohl auch hier die Möglichkeit des Naturrechts in Einzelfällen bejaht wurde624. Säkulare Naturrechtsargumentationen lassen sich nach Foljanty in vier grobe Begründungsmuster einteilen625: In ein „rechtsphänomenologisches“ Argumentationsmuster, als dessen Vertreter beispielsweise Helmut Coing zu nennen wäre. Einer „existenzphilosophischen“ Begründung bedienten sich unter anderem Erich Fechner und Werner Maihofer. Oder aber das Naturrecht wurde „metaphysisch“, wie etwa nach Karl Larenz, oder aber „sachlogisch“ nach Hans Welzel oder Günter Stratenwerth begründet. a) Helmut Coing Helmut Coing wirkte durch sein Engagement für das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, dessen Gründungsdirektor er war, und seinen Lehrstuhl an der Goethe-Universität Frankfurt am Main weit über die Naturrechtsdiskussion der Nachkriegszeit hinaus. Als sein hierfür wichtigster Beitrag dürfte sein Werk Die obersten Grundsätze des Rechts gelten, dessen Erstauflage 1947 erschien und sich dadurch schon zeitlich bestens in die Naturrechtsrenaissance eingliedert hat. Dass Coing 1993 eine fünfte Auflage veröffentlichte, zeigt die Schwierigkeit einer genauen Einordnung eines Werks oder eines Vertreters in die Epochen der Nachkriegszeit oder der Gegenwart626. Zunächst ist der Mensch für Coing auch Mittelpunkt der Rechtsbildung und spiele somit in dieser eine entscheidende Rolle auf allen Rechtsgebieten627. Menschliche Eigenschaften, wie etwa die Geburt, seine Entwicklung, Schutzbedürftigkeit der Kinder, seine Triebe und Leidenschaften, seien für das Recht von höchster Bedeutung628. Die Bedeutung der ethischen Werte des Rechts erörtert Coing unter dem Begriff des Naturrechts, wobei er diesen Begriff für missverständlich hält: „In Wirklichkeit würde es bei Ordnungsätzen dieser Art selbstverständlich um Sätze der Ethik, also nicht um Natur, sondern um Kulturrecht handeln.“629 Deshalb sei es vielleicht sogar besser, den Begriff ganz zu vermeiden630. Coing benutzt den Begriff dennoch, um ihn im Sinne der Grundsätze von Gerechtigkeit zu verwenden631. Für die Erkenntnis von konstant, überhistorisch gültigen Rechtssätzen, gebe es Erklärungsbedarf aufgrund der verschiedenen sozialen Ordnungen, die allesamt 624

Vgl. Foljanty, Naturrechtsrenaissance (Fn. 623), Sp. 1869. Foljanty, Naturrechtsrenaissance (Fn. 623), Sp. 1869. 626 Zu dieser Schwierigkeit wird bei der Darstellung der gegenwärtigen Naturrechtstheorien erneut Bezug genommen (C. III). 627 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 182. 628 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 182. 629 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 198. 630 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 198. 631 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 199. 625

I. Die Naturrechtslehre der Nachkriegszeit 

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situationsgebunden seien632. Coing lehnt vehement eine Lösung nach der Suche des richtigen Rechts nach reinen formalen Kriterien ebenso ab, wie eine geschichtliche Auffassung des Naturrechts633. Vielmehr gebe es typische menschliche Situationen, eine menschliche Typik über die Grenzen hinweg, die immer wiederkehrende Elemente aufwiesen634. Es gebe gewisse Grundstrukturen des Menschen und gewisse konstante Faktoren in der Umwelt des Menschen635. Aufgrund dieser typischen Situationen könne an Grundsätzen festgehalten werden, die als naturrechtliche Prinzipien der Situationsgebundenheit des Rechts nicht widersprechen636. Zur Erarbeitung solcher naturrechtlicher Prinzipien müsse neben einer a priori gegebenen Werteeinsicht, auch empirische Daten aufgenommen werden637. Coing verdeutlich seine These mit folgendem Beispiel: Dass die Macht über Menschen beschränkt werden müsse, ließe sich zunächst a priori mit der Menschenwürde begründen, nämlich dem Schutz der Freiheit des Menschen638. Dass hingegen die Menschen in der Machtstellung geneigt sein könnten, die Freiheit zu beschädigen, ließe sich nur an dem Erfahrungsschatz aufzeigen639. Das Naturrecht und der Rechtspositivismus widersprechen sich nach Coing auch nicht. „Das Naturrecht ist als eine Summe von Sätzen der Gerechtigkeit zu verstehen, welche die Grundlage des positiven Kulturrechts bilden.“640 Das Naturrecht lebe gerade im positiven Recht durch seine staatliche Durchsetzbarkeit641 und auch umgekehrt, da das Naturrecht die Rechtsquelle für das positive Recht darstelle642. Damit entfernt sich Coing von einem reinen Vernunftrecht, da er die Erfahrung in die Erkenntnis von Prinzipien miteinfließen lässt. Durch seinen Ansatz der Erkenntnis von naturrechtlichen Prinzipien durch die Vernunft und die Erfahrung verbindet Coing zwei typische Strömungen. Sein oben skizziertes Beispiel über den Missbrauch von Macht kann in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und der Naturrechtsrenaissance nicht überraschen. b) Hans Welzel Hans Welzel lobt zwar den „anerkennenswerten Mut“ Coings zum Versuch der Erneuerung des Naturrechts, kritisiert diesen allerdings als wenig hilfreich, da sich 632

Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 199. Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 200 f. 634 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 201. 635 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 201 f. 636 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 202. 637 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 203. 638 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 203. 639 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 203. 640 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 207. 641 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 205. 642 Coing, Grundzüge (Fn. 90), S. 208. 633

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

dadurch der Verdacht verstärkt habe, „daß die Naturrechtslehrer nur die rechtspolitischen Wünsche ihrer Zeit oder gar ihrer Person zu ewigen Naturrechtssätzen hypostasieren“643. Dies sei einer der großen Fehler des Naturrechts, weshalb ein Rückgriff auf das „alte Naturrecht“ oder ein „moderner Restaurationsversuch“ verfehlt wäre644. Welzel steht aber auch dem bereits sieben Jahre nach Kriegsende wiedererstarkten Rechtspositivismus kritisch gegenüber, da durch den Verlust des Naturrechts auch der Halt verloren gegangen sei, der die sittliche und rechtliche Überzeugung der Menschen getragen habe645. Der Rechtspositivismus habe sich zudem aufgrund fehlender Lehre und Theorien nicht mit seiner eigenen Begrenzung oder Berechtigung beschäftigt646. Dabei sei der Gesetzgeber sehr wohl an „bestimmte immanente Grenzen des positiven Rechts gebunden“647: Welzel geht von sachlogischen Strukturen aus, die den Positivismus beschränken würden648. „Die kategoriale Struktur der menschlichen Handlung“ müsse vorausgesetzt werden, um Handlungen normieren zu können649. Daher sei die Trennung von Naturrecht und Rechtspositivismus nicht möglich, sie sei nicht außerhalb des positiven Rechts, sondern das Naturrecht sei „immanente Grenze in ihm selbst“650. Ein Gesetz, welches gegen solche sachlogischen Strukturen verstoße, ändere zwar nichts an der Wirksamkeit und Gültigkeit dieses Gesetzes, es könne aber nie sein Ziel erreichen, da in diesem Fall eine sachlich unzutreffende Regel getroffen wurde651. Allerdings erkennt Welzel nicht nur ein relatives, sondern auch ein zwingendes Prinzip an, welches den Gesetzgeber beschränke652. Die „sittliche Autonomie des Mitmenschen“ bringe dem Menschen einen „Eigenwert“, den es zu respektieren gelte653. Das hieraus folgende Verbot, Menschen lediglich als Sache oder als Mittel zum Zweck zu behandeln, das Verbot der Verletzung der Menschenwürde, sei eine absolute Grenze der Natur654. Ein Befehl, der Menschen zur Sache degradiere, könnte nicht mehr verpflichten. Er sei viel mehr „Gewalt oder Terror, aber kein verpflichtendes, geltendes Recht.“655

643

Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 324. H. Welzel, Vom irrenden Gewissen. Eine rechtsphilosophische Studie, 1949, S. 18. 645 Welzel, Gewissen (Fn. 644), S. 18. 646 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 324. 647 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 334. 648 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 336. 649 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 336. 650 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 337. 651 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 336. 652 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 337. 653 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 338. 654 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 338. 655 Welzel, Naturrecht (Fn. 621), S. 338. 644

II. Die Naturrechtslehre in der deutschen Rechtspraxis 

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c) Werner Maihofer Für Werner Maihofer, ist das Naturrecht das „Recht auf bestimmungsmäßige Existenz des Menschen mit dem Menschen“, ein „Existenzrecht“, wie er es ausdrückt656. Die Frage nach dem Naturrecht sei nichts anderes, „als die öffentliche Frage nach eben diesem Sinn menschlichen Daseins und seiner sinnvollen Ordnung in einer im Grunde unheilen, unheimlichen und unmenschlichen Welt.“657 Zwar besitze der Rechtspositivismus aufgrund der einhergehenden Rechtssicherheit einen enorm hohen Stellenwert, könne aber keinen Mehrwert für den Versuch der Weiterentwicklung einer Gesellschaft haben658. Für die Frage, wie die Gesellschaft noch lebenswürdiger und lebenswerter gestaltet werden könne, könne nur das Naturrecht eine Hilfestellung sein659. Es kann beim Beantworten der Frage hilfreich sein, wie die Gesellschaft und die darin lebenden Menschen sein sollen. Ohne das Naturrecht liefe die Gesellschaft aus Selbstzufriedenheit mit dem bereits Erreichten Gefahr, die bloße Einhaltung des bestehenden Zustands anzustreben660. Das Naturrecht sei schon immer Ausdruck des Willens gewesen, die Welt „zu heilen, zu bessern, sie menschenwürdiger und lebenswerter zu machen.“661 Unter dem Naturrecht versteht der ehemalige Professor für Rechtsphilosophie in Saarbrücken und Bundesminister des Inneren somit folgendes: „Naturrecht: das ist für uns der Begriff für die ständig geforderte Evolution und Revolution der menschlichen Verhältnisse im Lebensalltag, hin zur Gestalt einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zwischen Menschen.“662

II. Die Naturrechtslehre in der deutschen Rechtspraxis Das Naturrecht als eine rechtsphilosophische Diskussion stellt in der Rechtswissenschaft häufig, aber nicht ausschließlich, eine wissenschaftliche Literaturdiskussion als Grundlagenforschung über das Recht und das Gesetz dar. Diesbezüglich wurde bereits auf die Erscheinung des Naturrechts als eine Art Wellenbewegung nach dem 2. Weltkrieg mit größtenteils theoretischen Abhandlungen hingewiesen. Es soll in diesem Abschnitt die deutsche Rechtspraxis, hierunter sind vor allem Gesetze, Rechtsprechungen und juristische Kommentare zu verstehen, nach ihrem Naturrechtsgehalt untersucht werden. Die Beobachtung, das Naturrechts habe wenige Zeit nach seiner Wiedergeburt in der Nachkriegszeit schnell an Bedeutung in der Wissenschaft verloren, kann nicht schablonenartig auf die Rechtsprechung 656

W. Maihofer, Naturrecht als Existenzecht, 1963, S. 48. Maihofer, Naturrecht (Fn. 656), S. 37. 658 Maihofer, Naturrecht (Fn. 656), S. 44. 659 Maihofer, Naturrecht (Fn. 656), S. 43. 660 Maihofer, Naturrecht (Fn. 656), S. 47. 661 Maihofer, Naturrecht (Fn. 656), S. 39. 662 Maihofer, Naturrecht (Fn. 656), S. 50. 657

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

übertragen werden. In der Rechtsprechung wurde das Naturrecht unbestritten nicht so schnell wieder aufgegeben und wurde bis in die Gegenwart nicht nur zur Auseinandersetzung mit Taten aus der NS-Zeit genutzt.

1. Die Grenzen der positivistischen Rechtslehre in der Rechtsprechung Bereits zu Beginn wurden die Naturrechtsrenaissance und ihr Bedeutungsverlust dargestellt. Es ist unausweichlich, die Rechtsprechung der noch jungen Bundesrepublik und die folgende Darstellung in eben diesem Kontext zu verstehen. Verglichen mit dem schnellen Rückgang naturrechtlicher Veröffentlichungen in der Nachkriegszeit hielten sich die Naturrechtsargumentationen in der deutschen Rechtsprechung durch die Aufarbeitung der Verstöße gegen die Gerechtigkeit der deutschen Unrechtsstaaten Drittes Reich und DDR deutlich länger. Um aufzuzeigen, dass dem Naturrecht kein ähnlicher Bedeutungsverlust in der Rechtsprechung widerfahren ist, sollen einige Urteil noch einmal ab der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart dargestellt werden, die naturrechtliche Argumentationen oder die Radbruchsche Formel selbst enthalten663. Für die Gründe des wieder aufkommenden Naturrechts in den Gerichten beschreibt der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff vorwiegend zwei Gründe: Zum einen das immer wieder angesprochene „vom nationalsozialistischen Machthaber gesetzte krasse Unrecht“664. Andererseits gehe das Grundgesetz ebenfalls von einer Bindung des Gesetzgebers an elementare Grundrechte aus und nehme einen naturrechtlichen Hintergrund an665. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Frage nach dem Bestehen eines Naturrechts nicht ausdrücklich bejaht: „Die verfassungsrechtliche Prüfung an diesen naturrechtlichen Vorstellungen zu orientieren, verbietet sich jedoch schon durch die Vielfalt der Naturrechtslehren, die zutage tritt, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen wird, und die sich vor allem bei der Erörterung der innerhalb der naturrechtlichen Diskussion selbst sehr umstrittenen Fragen des Verhältnisses von ‚Naturrecht und Geschichtlichkeit‘, ‚Naturrecht und positives Recht‘ zeigt. Für die hier vorzunehmende Prüfung kommt daher als Maßstab nur das Grundgesetz in Betracht“666. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage nach dem Naturrecht dadurch auch explizit offen gelassen667. Dennoch lassen sich in 663

Die Aufzählung enthält keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll nur beispielhaft aufzeigen, wie das Naturrecht auf die Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland Einfluss genommen hat. 664 H. Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (1960), in: W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht (Fn. 584), S. 554 (554). 665 Weinkauff, Naturrechtsgedanke (Fn. 664), S. 564. 666 BVerfGE 10, 59 (81). 667 Robbers, Recht (Fn. 174), S. 38.

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einigen Gerichtsentscheidungen, auch des Bundesverfassungsgerichts, naturrechtliche Argumentationsmuster finden. a) Die Entscheidung des Amtsgerichts Wiesbaden Bereits im November 1945 erklärt das AG Wiesbaden ein nationalsozialistisches Gesetz als nichtig, da es gegen das Naturrecht verstoßen habe668. Das Urteil wird in der Darstellung über naturrechtliche und Nachkriegsurteile häufig vermisst. Das mag vielleicht an einer amtsgerichtlichen Entscheidung liegen oder an dem zugrundeliegenden Sachverhalt in Bezug auf rechtliche Eigentumsfragen. Nicht uninteressant scheint das Urteil aber gerade deshalb, weil sich das Gericht noch nicht auf die erst ein Jahr später erscheinende Radbruchsche Formel berufen kann. Der Leitsatz des Urteils lässt keinen Zweifel daran, wie das Gericht das Verhältnis von Gesetzen bewertet, welche dem Naturrecht widersprechen: „Die Gesetze, die das Eigentum der Juden dem Staat für verfallen erklärten, stehen mit dem Naturrecht in Widerspruch und waren schon zur Zeit des Erlasses nichtig.“669 Hintergrund des Urteils war eine Klage einer Hinterbliebenen, die die Herausgabe von Möbeln von dem Beklagten verlangte. Diese standen im Eigentum ihrer in einem Konzentrationslager ermordeten jüdischen Eltern. Das Gericht erkannte die Klägerin weiterhin als Eigentümerin der Möbel an, da dieses nicht rechtmäßig vom Staat eingezogen wurde und konnte so die Schwierigkeiten des gutgläubigen Erwerbs jüdischen Eigentums umgehen670. Da das Eigentum somit als gestohlen oder abhanden gekommen anzusehen war, konnte nach § 935 BGB kein gutgläubiger Erwerb erfolgen. Das Gericht führt zum Naturrecht aus, dass es Rechte gebe, die auch der Staat durch seine Gesetzgebung nicht aufheben könne671. Sollte man diese Rechte eines Menschen dennoch beschneiden, verletze man den Menschen als solchen. „Es sind dies Rechte, die mit der Natur und dem Wesen des Menschen so im Innersten verbunden sind, daß mit ihrer Aufhebung die geistig sittliche Natur des Menschen zerstört würde.“672 Dieses Naturrechtsverständnis basiert auf einem sehr ähnlichen Menschenbild, wie es später dem Grundgesetz in Art. 1 zugrunde liegen sollte. Es gebe Rechte des Menschen, die ihm aufgrund seines Menschseins nicht wieder abgesprochen werden könnten und welche der Staat deshalb nicht aufheben und außer Kraft setzen dürfte. Tue er es aber doch, und hier liegt zunächst ein Widerspruch, zerstöre er die geistig sittliche Natur des Menschen. Wir würden dies heute wohl eher als Verletzung der Menschenwürde bezeichnen.

668

AG Wiesbaden, Urteil v. 13. 11. 1945, in: SJZ 1946, S. 36. AG Wiesbaden, Urteil v. 13. 11. 1945, in: SJZ 1946, S. 36. 670 Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 51. 671 AG Wiesbaden, Urteil v. 13. 11. 1945, in: SJZ 1946, S. 36. 672 AG Wiesbaden, Urteil v. 13. 11. 1945, in: SJZ 1946, S. 36. 669

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

In seiner vermeintlich paradoxen Beschreibung von Naturrecht und Menschenwürde liegt auch die Gemeinsamkeit des Art. 1 GG mit dem vorangestellten Satz des Gerichts über die geistig sittliche Natur des Menschen. Nach Art. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Paradox an der Darstellung des Gerichts ist, dass ein Recht, welches nicht vom Staat eingeschränkt werden könne, im Grunde auch die sittliche Natur des Menschen nicht zerstören kann, da ja gerade keine Einschränkung vorgenommen werden kann. Und doch geht das Gericht einen Satz später davon aus, dass ein Eingriff möglich sein muss, sonst könne der Mensch eben nicht in seiner Natur verletzt werden. Tauscht man die Begriffe des sittlichen Menschen gegen die Menschenwürde aus, ist das Paradoxon auch in Art. 1 GG deutlich wiederzuerkennen. „Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.“673 b) Naturrechtliche Bindung des Verfassunggebers In einer der ersten Entscheidungen des zweiten Senats vom 23. Oktober 1951 ging das Bundesverfassungsgericht mit deutlichen Worten auf überpositive Rechtsgrundsätze ein. Hintergrund des Urteils war ein Verfassungsrechtsstreit über ein Bundesgesetz vom 4. Mai 1951 über die Neuordnung der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern674. Bereits in einem der Leitsätze schreibt das Gericht: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositiven, auch den Verfassungsgesetzgeber bindenden Rechtes an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“675 Das Bundesverfassungsgericht bindet diesen Leitsatz in eine ganz konkrete Frage der Befugnisse einer verfassunggebenden Landesversammlung ein: „Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des ‚pouvoir constituant‘. Sie schafft die neue, für den werdenden Staat verbindliche, mit besonderer Kraft ausgestattete Verfassungsordnung. Mit dieser besonderen Stellung ist es unverträglich, daß ihr von außen Beschränkungen auferlegt werden. Sie ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze“676. Nicht geklärt ist dabei die Frage, ob dieser Maßstab, welcher an den Landesverfassunggeber angelegt wird, sich auch auf den Verfassunggeber des Bundes über 673 N. Kermani, Zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes; Berlin, Bundestag, 23. Mai 2014 (2014), in: ders., Morgen ist da. Reden, 2019, S. 159 (159). 674 BVerfGE 1, 14. 675 BVerfGE 1, 14 (18). 676 BVerfGE 1, 14 (61); Herv. F.v.R.

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tragen lassen677. Auch bleibt die Frage unbeantwortet, ob der verfassungsändernde Gesetzgeber ebenfalls an überpositive Rechtsgrundsätze gebunden ist678. c) Die „Soraya“-Entscheidung Auch in seiner „Soraya“-Entscheidung beschäftige sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Naturrecht679. Hier hatte der Verlag Die Welt, eine Tochter des Axel-Springer-Konzerns, Verfassungsbeschwerde gegen eine Schadensersatzzahlung gegenüber Prinzessin Soraya erhoben. Der Verlag hatte ein Interview eines freien Mitarbeiters mit Prinzessin Soraya von Persien abgedruckt, welches in Wahrheit nicht stattgefunden hatte. In dem abweisenden Urteil geht das Bundesverfassungsgericht auch auf die Formulierung „Gesetz und Recht“ aus Art. 20 Abs. 3 GG ein und sieht hierein zwei zu unterscheidende Begriffe: „Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz […], ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, daß die Rechtsprechung an ‚Gesetz und Recht‘ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. […] Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren“680. Das Bundesverfassungsgericht hält Art. 20 Abs. 3 GG in dieser Entscheidung demnach für eine vom Verfassunggeber vorgegebene „immanente Wertevorstellung“. Diese Wertevorstellung müsse herangezogen werden, auch wenn sie in positivierten Gesetzen nicht zum Ausdruck komme. Das Bundesverfassungsgericht geht in seinen Ausführungen zum Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit stark von naturrechtlichen Tendenzen aus, die durch Art. 20 Abs. 3 GG in der Verfassung nur immanent gesetzt wurden und dadurch die Einstellung und Intention des Gesetzgebers zu einem überpositiven Denken widerspiegeln681. 677 C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht an der Grenze des Grundgesetzes, 2015, S. 17. 678 Bäcker, Gerechtigkeit (Fn. 677), S. 17. 679 BVerfGE 34, 269. 680 BVerfGE 34, 269 (286). 681 Einen hohen Naturrechtsgehalt des Urteils sieht auch Staake, Werte (Fn. 146), S. 360.

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

d) Das Standgerichtsverfahren Auch in einem Urteil des Bundesgerichtshofs bereits Ende Januar 1952 ist der Einfluss des Naturrechts deutlich zu erkennen, als der Senat ein Urteil des Schwurgerichts Stuttgart aufhob682. Das Gericht musste sich mit einem Teil des dunkelsten Kapitels des Nationalsozialismus beschäftigen. Die Richter hatten die Verschleppung von 2462 jüdischen Personen aus Württemberg in elf Eisenbahntransporten nach Riga, Isbica, Theresienstadt und Auschwitz strafrechtlich zu beurteilen683. Bei der Verschleppung starben die meisten684. Die vier Angeklagten hatten sich hieran beteiligt, indem sie „die Listen der Opfer aufstellten, Eisenbahnwagen bestellten, das Gepäck der Opfer überprüften oder die Transporte bis zum Zielbahnhof als Transportführer oder Reisebegleiter begleiteten.“685 Nach dem Urteil verwirft der BGH die Möglichkeit, sich auf die Rechtmäßigkeit der Handlung aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 zu berufen: „Die Freiheit eines Staates, für seinen Bereich darüber zu bestimmen, was Recht und was Unrecht sein soll, mag noch so weit bemessen werden, sie ist doch nicht unbeschränkt. Im Bewußtsein aller zivilisierten Völker besteht bei allen Unterschieden, die die nationalen Rechtsordnungen im einzelnen aufweisen, ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner anderen obrigkeitlichen Maßnahme verletzt werden darf. Er umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der Zeit herausgebildet haben und die als rechtlich verbindlich gelten, gleichgültig, ob einzelne Vorschriften nationaler Rechtsordnungen es zu gestatten scheinen, sie zu mißachten.“686 Eine weitere Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem gleichen Jahr beschäftige sich mit der rechtlichen Beurteilung der Mitwirkung von Walter Huppen­ kothen als Vertreter der Anklage bei einem von Hitler im April 1945 befohlenen Standgerichtsverfahren687. Huppenkothen wurde 1949 vor dem Schwurgericht München I wegen Beihilfe zum sechsfachen Mord wegen der Beteiligung als Anklagevertreter bei sechs SS-Standgerichten angeklagt. Es handelte sich um die Ermordung der Widerstandskämpfer Hans v. Dohnanyi im KZ Sachsenhausen sowie Hans Oster, Wilhelm Canaris, Dietrich Bonhoeffer, Ludwig Gehre und Karl Sack im KZ Flossenbürg. Die namentliche Nennung oder Berufung auf Radbruch ist in beiden Urteilen nicht nötig, um gewisse Parallelen zwischen der Urteilbegründung und der Formel zu erkennen: „Obrigkeitliche Anordnungen, die die Gerechtigkeit 682

BGHSt 2, 234. BGHSt 2, 234 (234). 684 BGHSt 2, 234 (234). 685 BGHSt 2, 234 (234). 686 BGHSt 2, 234 (234 ff.). 687 BGHSt 2, 173. 683

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nicht einmal anstreben, den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und allen Kulturvölkern gemeinsame Rechtsüberzeugungen von Wert und Würde der menschlichen Persönlichkeit gröblich mißachten, schaffen – wie der Senat in dem zum Abdruck bestimmten Urteil vom 29. Januar 1952 – 1 StR 563/51 – näher ausgeführt hat – kein Recht, und ein ihnen entsprechendes Verhalten bleibt Unrecht“688. e) Die „Monströse Gerichtsentscheidung“ Eine Entscheidung, die auf ersten Blick nicht sofort unter eine gerichtliche Bezugnahme auf das Naturrecht fallen dürfte, ist das Urteil des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 17. Februar 1954689. Ein aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbares Urteil beschäftigt sich mit der Frage, ob „Geschlechtsverkehr zwischen Verlobten stets unzüchtig im Sinne der §§ 180, 181 StGB“ a. F. sei oder nur unter bestimmten Umständen. Unter der Berufung auf das Sittengesetz sei der Verkehr unter den Verlobten als unzüchtig einzustufen. „Normen des Sittengesetzes dagegen gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.“690 „Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe“691. Arthur Kaufmann stellt richtigerweise fest, dass das Sittengesetz bei dieser hier zitierten Verwendung mit dem Naturrecht gleichgesetzt werden kann. Es würde etwas „Substantielles, Zeitloses, Überpositives“ „ein Bestand, ein Zustand“ beschworen692. Weiter würden in dieser „monströsen Gerichtsentscheidung“ aus dem Sittengesetz oder Naturrecht konkrete Forderungen hergeleitet werden693. f) Die Ausbürgerung Weit bekannter dürften die Ausführungen der Gerichte bzgl. des Verlusts der Staatsangehörigkeit nach § 2 der Elften Verordnung des Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 sein. In dem Fall hatte das AG Wiesbaden die Erstellung eines Totenscheins mit der Begründung abgelehnt, der Verstorbene habe die deutsche 688

BGHSt, 2, 173 (177). BGH NJW 1954, S. 766 ff. 690 BGH NJW 1954, S. 766 (767). 691 BGH NJW 1954, S. 766 (767). 692 Kaufmann, Grundprobleme (Fn. 591), S. 32. 693 Kaufmann, Grundprobleme (Fn. 591), S. 32. 689

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Staatsangehörigkeit aufgrund dieses Gesetzes verloren und sei staatenlos. Das Bundesverfassungsgericht erachtet diese Verordnung als von Anfang an nichtig, weil in ihr „der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht“ wurde694. „Daher hat das BVerfG die Möglichkeit bejaht, nationalsozialistischen ‚Rechts‘-Vorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde“695. Auch wenn Radbruch nicht namentlich erwähnt wird, so stützt sich das Bundesverfassungsgericht doch offensichtlich auf seine Formel. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ausdrücklich klargestellt, ob sie der Verordnung nur die Rechtsgeltung oder ob es der Verordnung bereits den Rechtscharakter abgesprochen hat696. Interessant, aber von nachgelagerter Bedeutung für diese Arbeit ist die Frage nach der Notwendigkeit der Radbruchschen Formel in diesem Urteil und der rechtspolitischen Auffassung des Verfassunggebers zu dem oben benannten Ereignis einer möglichen Ausbürgerung nach dieser 11. Verordnung. So heißt es in Art. 116 Abs. 2 GG bis zum heutigen Tag: „Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben.“ Wenn der Verfassunggeber der Meinung gewesen wäre, ein solches Unrecht könne nicht als Recht beschrieben werden und sei von Anfang an nichtig gewesen, so bedürfe es keiner Fiktion über die Staatsbürgerschaft („gelten als nicht ausgebürgert“) und auch keiner Mitwirkungspflicht der Personen. Sie wären weiterhin deutsche Staatsbürger, nicht etwa „frühere“. Carsten Bäcker merkt hierzu völlig richtig an: „Ein nicht ausgebürgerter deutscher Staatsbürger kann nicht wiedereingebürgert werden, wie Art. 116 Abs. 2 GG es aber statuiert.“697 Folge man den Ausführungen des Gerichts zur Radbruchschen Formel, wäre ein solches Gesetz völlig obsolet. Und dennoch geht das Bundesverfassungsgericht auf Art. 116 Abs. 2 GG ein und interpretiert diesen wie beschrieben. „Der Verfassungsgeber ging bei der Formulierung dieses Artikels davon aus, daß die 11. Verordnung von Anfang an nichtig war. Die Verfolgten haben also auf Grund der Ausbürgerung niemals ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren. […] Insofern trägt Art. 116 Abs. 2 GG dem Gedanken Rechnung, daß keinem der Verfolgten gegen seinen Willen die deutsche Staatsangehörigkeit aufgedrängt werden soll.“698 Dies wiederholt das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung über die Ausbürgerung aus dem Jahr 1980 694

BVerfGE 23, 98 (106). BVerfGE 23, 98 (106). 696 Bäcker, Gerechtigkeit (Fn. 677), S. 97. 697 Bäcker, Gerechtigkeit (Fn. 677), S. 97; Herv. i.O. 698 BVerfGE 23, 98 (108). 695

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und stellt zu Art. 116 Abs. 2 GG klar: „Es ist der Sinn des Art 116 Abs 2 GG, die politisch, rassisch und religiös Verfolgten nicht gegen ihren Willen an der deutschen Staatsangehörigkeit festzuhalten (vgl. BVerfGE 23, 98 [108 ff.]). Sie sollen frei entscheiden können, ob sie nach dem ihnen zugefügten Unrecht noch deutsche Staatsangehörige sein wollen.“699 Die Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts kann zwar erklären, warum es selbst nicht auf die Rabruchsche Formel verzichten kann, obwohl der Verfassunggeber ebenfalls von einer Nichtigkeit von Ausbürgerungen jüdischer Mitbürger in der nationalsozialistischen Zeit ausging. Nicht zur Zufriedenheit erklären kann das Gericht, wie eine nichtige Ausbürgerung bis zu den Voraussetzungen des Art. 116 Abs. 2 GG von Ämtern als Ausbürgerung behandelt werden sollte700. g) Der Mauerschützenfall Im Zuge der Aufarbeitung von Handlungen in der DDR kam das Naturrecht im Zusammenhang mit der Radbruchschen Formel erneut zur Anwendung. Nach der Wiedervereinigung sahen sich die deutschen Gerichte abermals mit Taten aus einem Unrechtsregime konfrontiert. In den sogenannten Mauerschützenfällen wurden Grenzsoldaten und Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR (NVR) wegen Tötung bzw. Anstiftung zur Tötung von Flüchtlingen, welche an der innerdeutschen Grenze fliehen wollten, angeklagt und verurteilt. „Die von den […] Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrats auf Grund der Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrats verantwortete Befehlslage an der Grenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ging dahin, ‚Grenzdurchbrüche‘ durch Flüchtlinge aus der DDR in jedem Falle und unter Einsatz jeden Mittels zu verhindern.“701 Gesetzlich geregelt wurde der Schussbefehl mit dem Grenzgesetz vom 25. März 1982 gem. § 27702. In den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGHSt 93, 1 und 41, 101) bestätigte das Gericht die Verurteilung der Angeklagten Grenzsoldaten wegen Totschlags und bedient sich offen der Formel Radbruchs: „Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch SJZ 1946, 105, 107).“703 Im Urteil BGHSt 41, 101 formuliert der Bundesgerichtshof ähnlich mit Radbruch: „Der Verstoß wiegt hier so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt; in einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen (sogenannte ‚Radbruch’sche Formel‘).“704 699

BVerfGE 54, 53 (69). Vgl. Bäcker, Gerechtigkeit (Fn. 677), S. 95 ff. 701 BGHSt 40, 218, Rn. 14. 702 Vgl. BVerfGE 95, 96 Rn. 34 ff. 703 BGHSt 39, 1, Rn. 39. 704 BGHSt 41, 101, Rn. 19. 700

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In der Entscheidung BGHSt 40, 218 verurteilte der Bundesgerichtshof die angeklagten Mitglieder der NVR wegen Totschlags als mittelbare Täter. In der Vor­instanz wurden diese noch als Anstifter verurteilt. Eben jenes Urteil des Bundes­gerichtshofs wurde mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 95, 96) im Jahr 1996 unter den Gesichtspunkten des Rückwirkungsverbots nach Art. 103 Abs. 2 GG bestätigt. Da § 27 Abs. 2 des DDR-Grenzgesetzes aufgrund der Verleumdungsformel keine Geltung entfallen konnte, entfiel ein strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund, was die Frage nach einem Verstoß gegen das Rückwirkungsverbots aufwarf. Das Gericht führt bereits in den Leitsätzen 2 und 3 aus: „Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG findet seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muß dann zurücktreten.“705 Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103 Abs. 2 GG kann man durchaus besonders fragwürdig finden. Warum ein Bürger in einem geordneten Rechtsstaat besser durch den Nulla poena sine lege-Grundsatz geschützt werden sollte als ein Bürger in einem Unrechts- und Willkürstaat, bleibt wohl das Geheimnis des Bundesverfassungsgerichts. Horst Dreier bringt die Kritik wie folgt auf den Punkt: „Denn natürlich ist der Einzelne besonders schutzbedürftig, wenn die gesetzgebende Obrigkeit gerade nicht rechtsstaatlich diszipliniert und demokratisch ist.“706 Dass das Rückwirkungsverbot dennoch vom Gesetzgeber durch allgemeine Rechtsgrundsätze (somit auch naturrechtliche Ansätze) eingeschränkt werden kann, zeigt sich beispielhaft an Art. 7 Abs. 2 EMRK: „Dieser Artikel schließt nicht aus, daß jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ Kritisiert wurde demnach, dass Art. 103 Abs. 2 GG vorher im Zuge einer Verfassungsänderung hätte korrigiert werden müssen707. Entscheidend ist jedoch vielmehr, dass das Bundesverfassungsgericht auch am Ende des 20. Jahrhunderts letztlich noch naturrechtliche Überlegungen über das Rückwirkungsverbot anstellt und die Strafbarkeit mit naturrechtlichen Überlegun 705

BVerfGE 95, 96 (96). Dreier, Gustav Radbruch (Fn. 560), S. 432. 707 Dreier, Gustav Radbruch (Fn. 560), S. 433; B.  Pieroth, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit. Bericht von Professor Dr. Bodo Pieroth, in: VVDStRL 51 (1992), S. 91 (104). 706

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gen begründet. Kristian Kühl geht daher nicht zu Unrecht von einer „erstaunlichen Wirkungskraft des Naturrechts auf die Strafrechtsprechung“ aus708.

2. Der notwendige Rückgriff auf das Naturrecht zur Einordnung fremder Rechtsordnungen Als Teil der Untersuchung der Rechtsprechung auf einen Naturrechtsgehalt wurde in der Darstellung auch folgerichtig auf Urteile fokussiert, in welchen man überpositive Gedanken und Rechtsansichten finden kann. Für unbefangene Leser könnte dadurch der Eindruck erweckt werden, obergerichtliche Entscheidungen hätten sich nahezu ausschließlich für ein Naturrecht ausgesprochen, was aber mitnichten der Fall ist. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Inzest-Entscheidung von 2008 (2 BVR 392/07) ausgeführt, dass ein überpositiver Gedanke nicht berücksichtigt werden könne. Das Gericht erklärte § 173 Abs. 2 S. 2 StGB, welcher den Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren sanktioniert, als verfassungskonform. Es sei grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen709. „Er [der Gesetzgeber, F.v.R] ist bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei.“710 Diese Freiheit fände ihre Grenzen nur in der Verfassung selbst, wenn und soweit sie die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt711. Ein überpositiver Rechtsgutbegriff stünde daher im Widerspruch zur grundgesetzlichen Ordnung, die an der Legitimation des demokratischen Gesetzgebers festhält, mit den Mitteln des Strafrechts die schützenswerten Güter festzulegen und diese der gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen712. Volker Haas kommt daher nachvollziehbar zu dem Schluss, dass die überwiegende Auffassung, zumindest im strafrechtlichen Bereich, mit Blick auf die eigene Rechtsordnung einen rechtspositivistischen Standpunkt, im Hinblick auf fremde Rechtsordnungen einen naturrechtlichen Standpunkt vertrete713. Von der eigenen 708 Kristian Kühl attestiert dem Naturrecht eine aktuelle und praktische Bedeutung für das Strafrecht: K. Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 11 f. 709 BVerfGE 120, 224 (240). 710 BVerfGE 120, 224 (240). 711 BVerfGE 120, 224 (241 f.). 712 BVerfGE 120, 224 (238). 713 So sei es heute auch h. M., dass nach § 17 StGB beim Verbotsirrtum kein Gültigkeitsirrtum aufgrund überpositiver Rechtsansichten in Frage kommt; V. Haas, Das deutsche Strafrecht zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht, in: JRE 27 (2019), S. 557 (569). Inwieweit sich Gewissenstäter auf einen Verbotsirrtum berufen können, wird nicht einheitlich beantwortet. Glaube der Täter, die übertretene Norm sei wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht ungültig, käme ein Verbotsirrtum nach Ulfrid Neumann in Betracht. „Auch in diesen Fällen wird

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Rechtsordnung dürfte man überwiegend so überzeugt sein, dass der Rückgriff auf das Naturrecht im Widerspruch zum Grundgesetz stünde, denn sonst müsste man dieses nicht extra argumentativ bemühen. Dann wäre Haas insofern zuzustimmen, dass für die eigene Rechtsordnung nur die Relevanz des Naturrechts fehlt714. Diese Ansicht stimmt auch mit der These überein, dass die hiesige Rechtsordnung viele naturrechtliche Forderung bereits erfüllt habe.

3. Das Naturrecht als existierende Auffassung in den Landesverfassungen und dem Grundgesetz Aufgrund der Entstehungsgeschichten unserer Landesverfassungen und des Grundgesetzes nicht nur als historische Folge, sondern gerade als Antwortversuch auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs, sind die darin beschriebenen Naturrechtsverständnisse für die deutsche Rechtswissenschaft von nicht unerheblicher Bedeutung. Die Landesverfassungen und das Grundgesetz können im internationalen Kontext aufgrund ihres 75-jährigen Bestehens als noch jung gelten. Zu einer gegenwärtigen Naturrechtsdebatte, die gerade den Vorwurf an die Rechtswissenschaft untersuchen möchte, sie verkenne auch den gegenwärtigen Stand des Naturrechts in Deutschland, gehört zumindest ein Blick auf solche Stellen der Verfassungen, die sich ganz deutlich zu naturrechtlichen Argumentationsstrukturen bekennen. Dieser soll die Debatte der Nachkriegszeit rechtshistorisch einordnen. a) Landesverfassungen und ihr naturrechtlicher Inhalt In der Verfassung des Bundeslandes Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947 lässt sich zweifelsohne feststellen, dass der Staat, oder zumindest der Verfassunggeber dieses Bundeslandes, von naturrechtlich geprägten Normen ausgeht: „Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft, von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern, das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen, den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern und ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen, hat sich das Volk von Rheinland-Pfalz diese Verfassung gegeben.“715 man aber verlangen müssen, dass der Täter glaubt, die fragliche Norm sei nach den Regeln der Rechtsordnung wegen eines Verstoßes gegen die Verfassung oder gegen überpositives Recht nicht verbindlich. Ein privates Naturrechtsmodell vermag einen Verbotsirrtum des Täters ebenso wenig zu begründen wie eine eigenwillige Verfassungsinterpretation“; U. Neumann, in: U.  Kindhäuser / ders. / H.-U.  Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Bd. 1, 5. Aufl. 2017, § 17 StGB Rn. 40. 714 Haas, Strafrecht (Fn. 713), S. 569. 715 Vorspruch der Landesverfassung Rheinland-Pfalz.

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Gott als Ursprung des Rechts entzieht dem Gesetzgeber die Berechtigung, über das richtige Recht zu diskutieren und es zur Disposition zu stellen. Dieser Vorspruch stellt keine einklagbare Beschränkung des Gesetzgebers dar, sondern die Präambeln drücken vielmehr den „hinter dem Verfassungstext stehenden Leitgedanken der Verfassung authentisch“ aus und dienen als „originäre Interpretationshilfe“716. Die Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz wurde maßgeblich von Adolf Süsterhenn geprägt717. Als CDU-Politiker und gläubiger Katholik sah er die Chance, ein „Fundament für eine christliche Gesellschaft zu schaffen“ und berief sich dabei auf Thomas von Aquin, weshalb eine „christliche Idealverfassung“ zwingend den Bezug zum Naturrecht enthalten müsse718. Auch Art. 1 über die Freiheit des Menschen bedient sich zur Eingrenzung staatlicher Gewalt des Naturrechts. Nach Abs. 1 hat der Mensch ein natürliches Recht auf die Entwicklung seiner körperlichen und geistigen Anlagen und auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit innerhalb der durch das natürliche Sittengesetz gegebenen Schranken. Zudem werden die Rechte und Pflichten der öffentlichen Gewalt nach Abs. 3 durch die naturrechtlich bestimmten Erfordernisse des Gemeinwohls begründet und begrenzt. Insgesamt sieben Bundesländer bedienen sich in ihren Verfassungen eines eindeutigen Gottesbezugs: Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Neben dem Gottesbezug im Vorspruch findet sich in Baden-Württemberg ein Verweis in Art. 1 Abs. 1: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“ Dass es sich beim Gottesbezug nicht, wie weitverbreitet vermutet werden könnte, allein um ein rein historisches Überbleibsel handelt, zeigt sich bereits an der Debatte um eine Änderung der Landesverfassung Schleswig-Holsteins. Für die am 8. Oktober 2014 verabschiedete Präambel stimmte der Landtag im Juli 2016 über die Einführung eines Gottesbezug ab: „Die Verfassung schöpft aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas und aus den Werten, die sich aus dem Glauben an Gott oder aus anderen Quellen ergeben.“719 Für die nötige 2/3 Mehrheit fehlte nur eine Stimme720.

716

Herdegen (Fn. 7), Art. 1, Rn. 1. Vgl. ausführlich zur Geschichte der Verfassung des Bundeslandes Rheinland-Pfalz: ­ oljanty, Recht (Fn. 564), S. 116 ff. F 718 Vgl. Foljanty, Recht (Fn. 564), S. 119. 719 Gesetzesentwurf, Drs. 18/4408. 720 Vgl.: Keine Verfassungsänderung. Gottesbezug in Schleswig Holstein scheitert an einer Stimme; https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/keine-verfassungsaenderung-gottesbezugin-schleswig-holstein-scheitert-an-einer-stimme-14352573.html (24. 7. 2019). 717

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

b) Der vorpositive Inhalt des Grundgesetzes Auch das Grundgesetz enthält in seiner Präambel einen Gottesbezug. Das ist selbst im westlich und christlich geprägten Europa keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich vor Augen führt, dass sich in den Verfassungen der derzeitigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union neben Deutschland nur noch selten einen ausdrücklicher Gottesbezug finden lässt721. Der Gottesbezug muss ebenfalls als Einfluss der Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit auf das Grundgesetz gesehen werden. „Der Rückgriff auf das Naturrecht sollte dem noch ungesicherten Verfassungsbau ein tragfähiges, festes, unverrückbares Fundament bieten, wie es das positive Recht von sich aus nicht herzustellen vermag.“722 Die Menschenwürde als präpositives Prinzip wird durch das Grundgesetz ebenfalls geschützt. Die Formulierung des Art. 1 GG definiert und beschreibt den Würde­begriff nicht weiter. Daher hat das Bundesverfassungsgericht die Würde wie folgt beschrieben: „Dem Schutz der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistigsittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten (vgl. BVerfGE 45, 187 ; 123, 267 < 413>; 133, 168 ).“723 Die von dem Verfassunggeber als vor-staatliche Eigenschaft wahrgenommene Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit, wie sie in Art. 1 GG festgehalten wurde, ist das wohl auch in der Gesellschaft präsenteste Ausmaß eines naturrechtlichen Anspruchs. Art. 1 GG verpflichtet alle staatliche Gewalt, die unantastbare Menschenwürde zu achten und zu schützen. Der Gedanke eines „vorstaatlichen Geltungsgrundes“ der Menschenwürde fand im parlamentarischen Rat weitgehend Zustimmung724. Der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen und Grundrechte des Parlamentarischen Rats, Hermann von Mangoldt, stellt in der vierten Sitzung vom 23 September 1948 fest: „Wir wollen dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird.“725 Beraten wurde über einen Entwurf der ersten drei Artikel, welcher der Unterausschuss um Ludwig Bergsträsser, Hermann von Mangoldt und Georg August Zinn erarbeitet hatte. „Die Würde des Menschen

721

Vgl. Ausarbeitung des Wissenschaftlichen-Dienst; Reg.-Nr.: WFIII 240/03: „Der Gottesbezug in den Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, der EU-Beitrittskandidaten und in den Verfassungen der 16 Bundesländer“, https://www.bundestag.de/resource/blob/407418/06a2ec0 890e706cb0b2b3065990cabfc/wf-iii-240-03-pdf-data.pdf (24. 7. 2019). 722 A. Hopfauf, in: B. Schmidt-Bleibtreu / H. Hofmann / H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 14. Aufl. 2018, Präambel Rn. 31. 723 BVerfGE 140, 317 (Rn. 54). 724 Bundestag / Bundesarchiv, Rat (Fn. 613), S. 62 ff.; Herdegen (Fn. 7), Art. 1 Abs. 1 Rn. 19; T. Stein, Religiöse Begründungen der Menschenrechte: ein Spannungsverhältnis von Universalitätsanspruch und partikularen Traditionen, in: H. Bielefeld, u. a. (Hrsg.), Jahrbuch Menschenrechte 2009, 2008, S. 29 (36). 725 Bundestag / Bundesarchiv, Rat (Fn. 613), S. 64.

II. Die Naturrechtslehre in der deutschen Rechtspraxis 

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ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten.“726 Dass man sich gegen diese Formulierung entschied, hatte sicherlich mit der Befürchtung des Missbrauchs und eines falsch verstandenen Naturrechts zu tun. Der Verweis auf das Naturrecht verschwand aus Art. 1, steht aber dem Verständnis einer aus dem Naturrecht begründeten Menschenwürde nicht entgegen. Vielmehr gingen sie vor der Prämisse aus, die Menschenwürdeklausel würde nur deklaratorisch in die Verfassung aufgenommen werden, da hierbei nur ein „vorgeordneter Anspruch ins positive Recht“ überführt würde727. In der rechtshistorischen Übersicht von Bergsträßer zu Beginn der dritten Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen geht zudem hervor, dass auch die Vorstellung einzelner Grundrechte als vorstaatliche Rechte begriffen wurden. Als Quelle dieser vorstaatlichen Rechte könne man nur auf das Naturrecht des Mittelalters, welches von Aristoteles geprägt wurde, oder auf das Naturrecht der Aufklärung zurückgreifen728. Der Schutz der Menschenwürde als Verfassungsprinzip ist dabei kein Alleinstellungsmerkmal des Grundgesetzes verglichen mit anderen Verfassungen in Europa und durch die Verfassungen der Bundesländer auch nicht in Deutschland. c) „Antastbare Menschenwürde“?729 In einer Vorauflage des Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentars, in der Günter Dürig noch selbst den Beitrag zu der in Art. 1 garantierten Menschenwürde verfasste, beschreibt er: „Man sollte nicht um die Begriffe für diese Wertefundierung streiten. Man kann auch sagen daß Art. 1 I das ‚Naturrecht neuzeitlicher Prägung‘ rezipiert habe. […] Niemals sei es jedoch juristisch, wenn man zur Interpretation des von der Verfassung rezipierten, ihr vorausliegenden Rechts spezifisch christliche Lehren verwendet.“730 Der Stand dieser Kommentierung geht noch in das Jahr 1958 zurück und blieb dennoch bis 2003 im Grundgesetz-Kommentar enthalten731. An der veränderten Kommentierung durch Herdegen ist sichtlich, auch gesellschaftlich und nicht nur juristisch, Anstoß genommen worden732. Nach ­Herdegen sei die Menschenwürde für die staatsrechtliche Betrachtung „allein die 726

Bundestag / Bundesarchiv, Rat (Fn. 613), S. 62. Herdegen (Fn. 7), Art. 1 Abs. 1 Rn. 19. 728 Bundestag / Bundesarchiv, Rat (Fn. 613), S. 29. 729 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, in: FAZ, 3. 9. 2003, S. 33 (33). 730 G. Dürig, in: Maunz / ders. GG (Fn. 7), Art. 1 Abs. 1 (1958), Rn. 15. 731 Vgl. Böckenförde, Würde (Fn. 729), S. 33. 732 Robert Leich sprach von einem Stoff, der für einen „veritablen Juristenstreit“ geboten sei: „Wäre die deutsche Sondererfahrung nicht unter allen Umständen dringend zu bewahren, anstatt sie ungerührt zu verabschieden?“ R. Leich, Wahret die Anfänge!, in: Die Zeit, Nr. 38, 11. 9. 2003, S. 9 (9). 727

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

(unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Deutung der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich.“733 Man könnte diese Veränderung als logische „Anpassung“ nach dem Rückgang der Naturrechts-Renaissance verstehen und darin einen weiteren Schritt der Bekräftigung des Rechtspositivismus sehen734. Dass die Menschenwürde durch die Ewigkeitsklausel geschützt wird, sollte auf den Wunsch des Verfassunggebers dazu führen, auch die künftigen Generationen hieran zu binden735. Ernst-Wolfgang Böckenförde sieht in der Begründung der Menschenwürde durch naturrechtliche Begründungsmuster das Bewusstsein der Menschen hierfür gestärkt: „Fehlt oder verblaßt solches Bewußtsein, bricht sich dieser Druck Bahn, und auch eine Ewigkeitsgarantie vermag das dann nicht zu verhindern. Der Weg, auf dem dies sich vollzieht, heißt (Neu-) Interpretation. Die Neukommentierung von Artikel 1 Absatz 1 GG beschreitet diesen Weg“736. Dennoch formuliert Herdegen sehr zurückhaltend, wenn er schreibt, die Menschenwürde sei für die staatliche Betrachtung als rechtspositivistisch zu behandeln. Die Behauptung, Herdegen habe der Würde ihre vorstaatliche Begründung beraubt, lässt sich jedoch schon mit dem vorangehenden Satz in der Kommentierung zumindest hinterfragen. „Nicht die Menschenwürde, aber ihre Gewährleistung im und durch den Staat des Grundgesetzes ist eine Schöpfung des positiven Rechts.“737 Richtig ist dennoch, dass für die Auslegung und damit auch für rechtliche Argumentationen und Diskussionen ein Rückgriff auf überpositive Argumente für den Staat nach Herdegen unmöglich sei, da sich dieser immer denjenigen intolerant gegenüber zeige, die aufgrund ihrer religiösen oder politischen Überzeugung keinen Zugang zu Naturrecht hätten738. Für Böckenförde wird die Menschenwürde als rechtlicher Begriff „ganz auf sich gestellt, abgelöst (und abgeschnitten) von der Verknüpfung mit dem vorgelagerten geistig-ethischen Inhalt“739. „Die fundamentale Norm des Grundgesetzes geht der tragenden Achse verlustig.“ Andere verweisen wiederum ganz offen auf die Würde als überpositive Erscheinung: „Art. 1 Abs. 2 enthält ein Bekenntnis zur Vorstaatlichkeit und Überpositivität der Menschenrechte, die durch die Grundrechte des Grundgesetzes nicht erst geschaffen, sondern nur rezipiert, positiviert und konkretisiert werden.“740 So 733

Herdegen (Fn. 7), Art. 1 Abs. 1 Rn. 20. Nach Böckenförde könnte hier im Wechsel ein Generationenunterschied sichtbar werden; Böckenförde, Würde (Fn. 729), S. 33. 735 Böckenförde, Würde (Fn. 729), S. 35. 736 Böckenförde, Würde (Fn. 729), S. 35. 737 Herdegen (Fn. 7), Art. 1 Abs. 1 Rn. 20. 738 Herdegen (Fn. 7), Art. 1 Abs. 1 Rn. 20. 739 E.-W. Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, in: Blätter 2004, S. 1216 (1218). 740 C. Hillgruber, in: Epping / ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl. 2020, Art. 1 Rn. 54; auch H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / ders. / Henneke, GG (Fn. 722), Art. 1 Rn. 1; C. Starck, in: P. M. Huber / A. Voßkuhle (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 1 Rn. 3; W. Höfling, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 1, Rn. 2. 734

II. Die Naturrechtslehre in der deutschen Rechtspraxis 

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dürften sich die nachfolgenden Grundrechte „ungeachtet ihres positiv-rechtlichen Selbstandes von ihrer naturrechtlich menschenrechtlichen Grundlage nicht lösen, sich, auch in ihrer interpretativen Fortentwicklung nicht aus dem Begründungszusammenhang lösen, indem sie stehen“741.

4. Rechtsbeugung als strafbedrohte Naturrechtsverpflichtung Die Frage nach dem richtigen oder gerechten Recht manifestiert sich am stärksten an der Frage der Rechtsanwendung. Das Naturrecht, wie wir bereits gesehen haben, wird bereits bei Willensbildung und Gesetzgebungsverfahren herangezogen, wenn es um die Frage geht, welches Gesetz konsequenterweise umgesetzt oder geändert werden müsste. Es kann naturrechtlich / moralisch bewertet werden oder ein Gesetz als logische naturrechtliche Konsequenz fordern. In der Rechtswissenschaft entfaltet diese Frage aber gerade im Zuge der Anwendung oder Nichtanwendung von Gesetzen ihre wohl größte Relevanz, also im Zuge der Rechtsprechung. Dass das Naturrecht in der deutschen Rechtsgeschichte der jungen Bundes­ republik eine entscheidende Rolle gespielt hat und bis in die Gegenwart präsent ist, lässt sich an der sicher unvollständigen Rechtsprechungsübersicht ablesen. Aber was bedeutet die hier zu Grunde gelegte Radbruchsche Formel für die Rechts­ anwendung des Richters? Wenn ein „Gesetz“, welches nicht einmal die Gerechtigkeit anstrebt, in Wirklichkeit bereits der Rechtsnatur eines Gesetzes entbehrt, ist es dem Richter nicht möglich oder sogar verboten, dieses anzuwenden? Schwierigkeiten dürfte es bereiten, diese fehlende Rechtsnatur sicher zu erkennen, doch seine Anwendung wäre dennoch fehlerhaft. Es stellt sich dabei die Frage nach der Konsequenz für den Richter bei der Anwendung eines „Gesetzes“ unter gleichzeitigem Verstoß gegen überpositives Recht. Kann die Annahme von überpositivem Recht zu einer Strafbarkeit des Richters führen? Die Rechtssprechungsübersicht lässt erkennen, dass ein Richter mit dem Verweis auf Naturrecht in der Lage ist, ein Gesetz für nicht anwendbar zu erklären. Er kann unter den oben beschriebenen Umständen und Voraussetzungen einem Gesetz die Anwendung verweigern. Aber ist er hierzu auch verpflichtet? Hinter dieser Frage verbirgt sich eine größere Erwartungshaltung an die Erkenntnis des Naturrechts in der deutschen Jurisprudenz, als es zunächst den Anschein haben mag. Kann ein Staat konkrete Rechtspflichten aus ethischen Verhaltensnomen konstruieren, deren Nichtbefolgung strafrechtlich bedroht wer­ 741 Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 9), S. 171: „Gerade eine solche ‚Abkoppelung‘ könnte zu einer Fehldeutung der Grundrechte führen, der die Väter und Mütter des Grundgesetzes von Anfang an entgegentreten wollten. Die Menschenrechtsidee, die Grundvorstellung von dem Menschen als solchem zukommender Rechte soll daher – positiv-rechtlich verbindlich! – die dauerhaft gültige Leitidee bleiben, die bei der Auslegung der Grundrechte zu beachten ist. Eine Grundrechtsinterpretation, die gegen diese Menschenrechtsidee verstößt, kann damit auch verfassungsrechtlich falsifiziert werden.“

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

den742? Diese Fragestellung ermöglicht die Umsetzung einer theoretischen Diskussion in die konkrete Rechtsanwendung und erlangt dadurch Praxisrelevanz. So ist ein Richter beispielsweise an § 339 StGB gebunden. Die Rechtsbeugung soll gerade Richter daran hindern, eine „unvertretbare und objektiv willkürliche“ Entscheidung zu treffen743. Hierunter versteht man allgemein, eine „richterliche Entscheidungsbefugnis in bewusst rechtswidriger Weise.“744 Interessanter allerdings als die Kommentierung zum Begriff der Beugung ist die Kommentierung zum Rechtsbegriff selbst. Unter dem Begriff des Rechts i.S.d § 339 StGB fällt zunächst jede Vorschrift des positiven Rechts745. Die Beugung des Rechts nach § 339 StGB aber schließt nach überwiegender Meinung das Naturrecht oder überpositives Recht mit ein746. In den hier zitierten Kommentierungen zum überpositiven Recht wird auf die Rechtsprechung Bezug genommen, die das Naturrecht im Zuge der Radbruchschen Formel angewendet hatten747. In der Praxis dürfte sich das Thema auf die Situation begrenzen, in der sich die Verfolgung einer Straftat der Rechtsbeugung auf Gesetze vergangener Rechtssysteme beschränkt. Dass ein Richter innerhalb der gleichen Rechtsordnung für die Anwendungen eines in dieser Rechtsordnung erlassenen Gesetzes verurteilt wird, ist sicher unwahrscheinlich. Immerhin dürften der Legislative und der Judikative ein identisches Rechtsempfinden zu Grunde liegen. Da der Richter gerade als Vertreter des Staates auftritt, dürfte er zumindest nicht dafür bestraft werden 742

Vgl. C. Freund, Rechtsbeugung durch Verletzung übergesetzlichen Rechts, 2006, S. 16. Hierzu stellt der BGH deutlich höhere Anforderungen auf und stellt dabei auf den Rechtsbruch ab. Dies ist jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags und wird daher nicht weiter erörtert; vgl. M. Uebele, in: W. Joecks / K. Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 3. Aufl. 2019, § 339 Rn. 30. 744 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 21. 745 Uebele (Fn. 743), § 339 Rn. 24. 746 „Darüber hinaus kann die Rechtsbeugung aber auch durch den Bruch des überpositiven Rechts begangen werden.“ Uebele bezeichnet diese Feststellung heutzutage als h. M. Die hiergegen früher angebrachten Argumente würden heutzutage nicht mehr überzeugen; Uebele (Fn. 743), § 339 Rn. 25. Auch für Volker Haas sei es die h. M., dass auch überpositives Recht gebeugt werden könne; Haas, Strafrecht (Fn. 713), S. 566. Heine und Hecker formulieren zum Tatbestand der Rechtsbeugung den Rechtsbegriff noch deutlicher: „Außer dem positiven Recht kommen aber auch überpositive ungeschriebene Rechtsnormen in Betracht, sodass Rechtsbeugung auch durch Anwendung offensichtlich ungültiger Normen begangen werden kann.“ G. Heine / B. Hecker, in: A. Schönke / H. Schröder (Hrsg.), Strafgesetzbuch: Kommentar, § 339 Rn. 8. Markus Bange bezieht sich im Zuge des Rechtsbegriffs im Sinne des § 339 StGB vollumfänglich auf Radbruch und verweist deutlich auf die Rechtsprechung: „Rechtsbeugung kann auch durch Bruch überpositiven Rechts erfolgen, jedoch nur dann, wenn das geschriebene Recht in offenkundiger Weise und unter Missachtung der Menschenwürde gesetzliches Unrecht darstellt, das nicht einmal den Anspruch erhebt, Gerechtigkeit anzustreben.“ M. Bange, in: B. v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 3. Aufl. 2018, S. § 339 Rn. 15. 747 Die dargestellte Meinung soll nicht als unstreitig dargestellt werden. Die Diskussion über das Naturrecht / überpositive Recht wird hier nur fortgesetzt; a. A. L. Kuhlen, in: U. Kindhäuser /  U. Neumann / H.-U. Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Bd. 3, § 339 StGB Rn. 40. 743

II. Die Naturrechtslehre in der deutschen Rechtspraxis 

131

können, das Recht des Staates anzuwenden. Der Staat dürfte auch kein Interesse daran haben, Richter zu maßregeln, die sich durch die Anwendung des Rechts systemkonform verhalten. Im Verhältnis zum Bürger betrachtet Christiane Freund in dem strafbewerten Naturrechtsverstoß des Richters, im Unterschied zum Verhältnis zum Staat, zumindest denklogisch, die Möglichkeit einer Anwendung des Rechtsbeugungstatbestands, auch wenn die Verfolgung in der Praxis an der Bereitschaft der Strafverfolgungsbehörden scheitern würde. Für den Bürger käme es nämlich nicht darauf an, ob ihm Unrecht von Seiten des Gesetzgebers oder des Richters widerfahre748. Der Richter sei dem Bürger aus dem „überstaatlichen Ziel einer möglichst gerechten Rechtsordnung“ verpflichtet749. Die Rechtsprechung der Nachkriegszeit verurteilte keinen der NS-Richter wegen Rechtsbeugung nach § 366 StGB a. F. Das BVerwG hatte in einem Urteil u. a. über die Versorgungsansprüche eines ehrenamtlichen Richters der NS-Zeit zu entscheiden. Die Ablehnung der Verwirklichung des Rechtsbeugungstatbestands begründete das Gericht mit dem Hinweis, dass es den Betroffenen am Vorsatz in Bezug auf die objektiven Umstände der Rechtsbeugung aufgrund ihrer ideologischen Überzeugung fehle750. Diese Tatsache scheint allerdings weniger darauf zu beruhen, dass man naturrechtspflichtiges Handeln per se nicht als strafbare Handlung erklären könnte. Hier könnte eher der Verdacht naheliegen, dass bei der Strafverfolgung von ehemaligen Richtern des Nationalsozialismus eine kollegiale und für die Betroffenen günstige Rechtsauslegung und Anwendung praktiziert wurde751. An die Frage, was für Richter als Recht anzusehen ist, schließt sich die Frage an, wo die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung verlaufen. Hierzu formulierte der ehemalige Richter des Bundesgerichtshofs Günther Hirsch die sog. Pianisten­ theorie752: Aufgrund der Bindung des Richters an Art 20 Abs. 3 GG, müsse der Richter Recht und Gesetz berücksichtigen. Deshalb habe der Richter im Konfliktfall „seine Entscheidung am (überpositiven) Recht auszurichten“753. „Der Positivismus als bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Gesetz ist überwunden.“754 Der Richter interpretiere daher die rechtlichen Vorgaben und habe Spielräume, ohne das „Stück“ verfälschen zu dürfen, ganz wie ein Pianist im Verhältnis zum Komponisten stünde755. 748

Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 222. Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 201. 750 BVerwGE 26, 82 (87). 751 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 126. Günter Spendel spricht ebenfalls mit Bezug auf dieses Urteil davon, dass manche Richter die NS-Verbrechen unangemessen aufgearbeitet hätten, da sie „offenbar zu sehr befangen“ waren: G. Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung. Sechs strafrechtliche Studien, 1984, S. 11. 752 Vgl. G. Hirsch, Zwischenruf. Der Richter wird’s schon richten, ZRP 2006, S. 161 (161). 753 Hirsch, Zwischenruf (Fn. 752), S. 161. 754 Hirsch, Zwischenruf (Fn. 752), S. 161. 755 Hirsch, Zwischenruf (Fn. 752), S. 161. 749

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

Es kämen bei der Frage der fehlerhaften Anwendung von Recht durch einen Verstoß gegen das Naturrecht auch die Verletzung anderer Straftatbestände in Betracht, wie etwa bei der Verhängung einer Freiheitsstrafe756. Wenn das zugrundeliegende Strafgesetz aufgrund seines fehlenden Gerechtigkeitsanspruches gegen überpositives Recht verstößt, dürfte der Richter dieses nicht anwenden und würde sich bei einer Verurteilung zu einer Haftstrafe selbst der Freiheitsberaubung strafbar machen.

III. Deutschsprachige Naturrechtsströmungen der Gegenwart Im folgenden Kapitel sollen nun einige deutschsprachige Naturrechtsvertreter der Gegenwart beschrieben werden. Auch hier soll keineswegs der Eindruck einer vollständigen Darstellung vermittelt werden. Vielmehr versucht das Kapitel durch Behandlung unterschiedlicher Ansätze eine gewisse Dichte von Naturrechtstheorien innerhalb der Rechtswissenschaft im deutschen Sprachraum aufzuzeigen. Eine Abgrenzung oder Einordnung mancher Naturrechtslehrer als „gegenwärtig“ und nicht mehr zur Nachkriegszeit gehörig mag etwas wahllos erscheinen, sind beispielswiese manche Schriften von Werner Maihofer zur gleichen Zeit erschienen, wie solche von Arthur Kaufmann. Im Grunde lässt sich keine genaue Grenze ziehen, es handelt sich vielmehr um einen fließenden Übergang. Sicherlich lässt sich inhaltlich festmachen, dass das Naturrecht der Nachkriegszeit noch vermehrt von der Rechtswissenschaft in der nationalsozialistischen Zeit geprägt und den Rechtspositivismus hierfür in Anspruch genommen haben. Zwingend ist diese Ansicht für das Naturrechtsdenken der Nachkriegszeit selbstverständlich nicht. Diese Naturrechtsrenaissance nach dem nationalsozialistischen Unrechtsregime kann bereits ab 1950 aufgrund abnehmender Publikationsdichte als abklingend bezeichnet werden757. Dogmatisch oder obligatorisch jedoch ist diese Einteilung nicht. Letztlich trifft der Autor die Unterscheidung nach der Aktualität der folgenden Lehren, die Wirkung dieser Lehren auf weiterentwickelte Theorien und das Hineinwirken dieser in das 21. Jahrhundert. Statisch aber kann eine Abgrenzung nicht verlaufen, wenn man beispielsweise erkennt, dass die Radbruchsche Formel die gesamte Zeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik geprägt hat und noch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert gebraucht wurde. Der gegenwärtige Nutzen kann nicht bezweifelt werden, und doch ist die Formel von Gustav Radbruch so sehr von der Zeit zwischen 1933–1945 geprägt, dass sie ebenso in die Nachkriegszeit einzuordnen ist.

756 757

So auch Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 15. Foljanty, Naturrechtsrenaissance (Fn. 623), Sp. 1869.

III. Deutschsprachige Naturrechtsströmungen der Gegenwart 

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1. Das dynamische Naturrecht Kategorien und Oberbegriffe zum Naturrecht lassen sich einige bilden. Man könnte die Theorien danach einteilen, inwieweit sie bereits den Rechtsbegriff essentiell mit der Verwirklichung des Naturrechts verknüpfen oder aber dem Naturrecht eine externe Beurteilungsaufgabe zuschreiben. Das Naturrecht kann nach ihrem Begründungsansatz eingeteilt werden, wie etwa die Begriffe Gütertheorie oder Prinzipientheorie verdeutlichen. Die Theorien können in ihren Forderungen an ein bestimmtes Rechtsgebiet klassifiziert werden oder auch danach, ob sie das Naturrecht als starre oder flexible Vorgaben verstehen. Das heißt natürlich, dass eine Theorie, die als Prinzipientheorie bezeichnet wird, gleichzeitig Forderungen an das Strafrecht stellen oder von absoluten Naturrechtsvorgaben ausgehen kann. Nach der hier vorgenommenen Naturrechtsdefinition heißt das, alle diese Theorien müssen die positiven Merkmale Unverfügbarkeit des Rechts und Anspruch auf Universalität, erfüllen, damit sie als Naturrechtstheorie bezeichnet werden können. Die Eigenschaften, die der Klarstellung dienen und als konkretisierende Voraussetzungen bezeichnet wurden, lassen sich daher flexibel mit Oberbegriffen verknüpfen. Nach ihrem Begründungsmodell (1.), ihrem Verhältnis zum Rechtsbegriff und dadurch nach ihrem Verhältnis von Naturrecht zum gesetzten Recht (2.) oder nach ihrem Bezug oder Adressaten (3.). Die Einteilung als „dynamisches Naturrecht“ soll zunächst betonen, dass es nicht notwendig ist, das Naturrecht als nicht anpassungsfähig und unflexibel zu verstehen. a) Arthur Kaufmann Für den Münchner Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann ist das Recht „Realität“758. Realität bezeichnet etwas Wahres, welches nicht von der Ansicht oder der Meinung eines Menschen beeinflusst werden kann. Damit grenzt er das Recht vom Relativismus ab, der einen gültigen Maßstab der Wahrheit für alle Subjekte nicht anerkenne759. Da jede Existenzform einen körperhaften Träger benötige, bedürfte auch das Recht eines, wie Kaufmann sagt, „Seinskleid[s]“760. Der „Leib“, wie es Kaufmann etwas pathetisch formuliert, sei das, was wir Positivität nennen, d. h. „ein solches Maß der Aktualisierung und Konkretisierung […], daß wir es als Norm für unsere rechtlichen Handlungen […] anwenden können.“761 Für Kaufmann ist die Tatsache unbestritten, dass real existierendes Recht notwendigerweise positiviert sein müsse, da ein überpositives Prinzip alleine noch kein Recht sei762. Allerdings 758

Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 18. Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 8. 760 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 18. 761 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 18. 762 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 18 f. 759

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

meint Kaufmann, dass, wie der Mensch, der trotz seines menschlichen Körpers nur durch seine Seele existiere, auch das Recht von seiner inneren Ausgestaltung abhänge763. „Rechtsqualität besitzt eine positive Norm vielmehr nur dann, wenn sie auch – zumindest in einem gewissen Maße – Rechtswesenheit enthält, d. h. wenn Sie Ihrem Inhalt nach wenigstens in angenäherter Weise richtiges (wahres) Recht darstellt.“764 Kaufmann beschreibt das Recht als Symbiose, nämlich aus einer Verbindung von Rechtsexistenz, der Positivität, und der Richtigkeit des Rechtsinhalts, des Naturrechts765. Für Kaufmann besteht die „Rechtsrealität“ aus Positivität und Naturrechtlichkeit766. Kaufmann weiß allerdings, dass es sich um einen Idealzustand handelt, wenn richtiges Recht positiviert würde, denn die Erfahrung zeige, dass sogar bares Unrecht positiviert wurde767. Ähnlich wie beim Menschen nämlich besteht auch beim Recht die Möglichkeit des Auseinanderfallens von Wesen und Existenz768. Der Mensch könne als freies Wesen seine Wesensverwirklichung verfehlen, was auch für die Setzung des Rechts gelte769. Dieses Spannungsverhältnis im Recht bezeichnet Kaufmann als eine „ontologische Differenz“770. Das Recht müsse daher immer wieder neu verwirklicht werden und sei daher immer auf der Suche nach dem Naturrecht, d. h. das Recht sei geschichtlich und kein bloßes Faktum in der Zeit, ein zeitgerechtes Recht771. Damit verneint Kaufmann neben dem Relativismus auch ein absolutes Naturrecht. Ein ganzes System unveränderlicher und für alle Menschen verbindlicher Naturrechtsnormen vertrete nach Kaufmann heute niemand mehr772. Eine Natur, aus der sich ein Verhalten in einer konkreten Situation ableiten ließe, gebe es nicht773. So sieht er Radbruch und sich selbst eher einen dritten Weg einschlagen, jenseits von Naturrecht und Positivismus774. Geschichtlichkeit des Rechts bedeutet nach Kaufmann aber eben nicht Beliebigkeit des Rechts, weshalb Naturrecht und Geschichtlichkeit sich nicht gegenseitig ausschließen775. Auch wenn Kaufmann sich selbst auf einem dritten Weg sieht, lässt sich bei ihm dennoch die Unverfügbarkeit eines rechtlichen Mindestgehalts wiederfinden776. Trotz der Geschichtlichkeit der Menschenrechte gebe es festgeschriebene Rechte: „Was dem Menschen in seiner geschichtlichen Existenz zukommen muß, 763

Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 18 f. Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 19; Herv. i.O. 765 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 19. 766 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 19. 767 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 19. 768 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 20. 769 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 20. 770 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 19. 771 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 21. 772 Kaufmann, Naturrechtsrenaissance (Fn. 6), S. 229. 773 Kaufmann, Naturrechtsrenaissance (Fn. 6), S. 229. 774 Kaufmann, Naturrechtsrenaissance (Fn. 6), S. 233. 775 Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 21. 776 Vgl. Grote, Suche (Fn. 101), S. 174. 764

III. Deutschsprachige Naturrechtsströmungen der Gegenwart 

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um Person sein und Person werden zu können (und das ist allemal mehr als nur die ‚Menschenwürde‘), ist, bei aller Variationsbreite des Einzelfalls, letztlich nicht disponibel.“777 Die Unterscheidung von Wesen und Existent lässt sich bei Kaufmann in seiner Unterscheidung von Gesetz und Recht wiederfinden778: Das Gesetz wurzele in der Autorität des Gesetzgebers und entstamme nicht dem Sein, sondern dem Willen. Recht hingegen wurzele in der natürlichen Ordnung und sei mit dem Naturrecht identisch779. Auch aus dem Vorhergegangenen ergibt sich daher für Kaufmann folgende Konsequenz: Naturrecht ist nicht absolut und unveränderlich, sondern konkret und geschichtlich780. Vielmehr sei unter abstrakten und allgemeingültigen und gleichbleibenden Prinzipien der Gerechtigkeit und Sittlichkeit das „Natur­gesetz“ gemeint781. Den Entscheidungen des Gesetzgebers legen die Prinzipien der Gerechtigkeit, Sittlichkeit und des bonum commune zugrunde782. b) Martin Kriele Martin Kriele vertritt ebenfalls ein flexibles Naturrechtsverständnis, denn für ihn ließen sich Rechtspflichten nicht allein aus Gesetzen heraus begründen, sondern dazu bedürfe es vielmehr der Legitimation der gesamten Rechtsordnung783. Die Rechtspflicht bestehe nur, „wenn die Anerkennung der Verbindlichkeit des ‚Rechts im Ganzen‘ eine sittliche Pflicht ist.“784 Daher lasse sich eine Trennung von Rechts-und Moralpflichten, wie es Hart oder Kelsen für ihren Rechtspositivismus postulieren, nicht durchführen. Die Legitimation unserer Rechtsordnung beruhe auf der Einsicht, „daß sie allen bisher vorgeschlagenen Alternativen vorzuziehen ist, weil sie in verhältnismäßig höherem Maße als diese Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit gewährleistet.“785 Daher müsse man auch Ungerechtigkeiten in einer sittlichen Rechtsordnung hinnehmen, da sie im Ganzen den Frieden sichere786. Kriele beschreibt mit anderen Worten nichts anderes, als dass in einer sittlichen Rechtsordnung die Rechtssicherheit der Gerechtigkeit übergeordnet ist, um das gesamte und friedliche System nicht zu gefährden. 777 A. Kaufmann, Über den „Wesensgehalt“ der Grund- und Menschenrechte, in: ARSP 70 (1984), S. 384 (398). 778 A. Kaufmann, Gesetz und Recht (1961), in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl. 1984, S. 131 (152). 779 Kaufmann, Gesetz (Fn. 778), S. 154. 780 Kaufmann, Gesetz (Fn. 778), S. 154. 781 Kaufmann, Gesetz (Fn. 778), S. 154. 782 Kaufmann, Gesetz (Fn. 778), S. 154. 783 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 117. 784 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 117. 785 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 117. 786 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 118.

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Diese Priorität der Rechtssicherheit soll aber nicht bedingungslos gelten787. „Die Anerkennung des Rechts ist Revolution und Bürgerkrieg vorzuziehen. Sie entfällt jedoch, wenn das Recht so bedrückend ist, daß Bürgerkrieg und Revolution als kleinere Übel erscheinen.“788 In demokratischen Verfassungsstaaten lasse sich der Widerstand nicht rechtlich, sondern nur moralisch bei extremen Ungerechtigkeiten begründen. Dies endet allerdings dann, wenn „selbst der Bürgerkrieg noch ein kleineres Übel als die ‚Ordnung‘ sein kann.“789 Hier nähert sich Kriele im Ergebnis Radbruch an, erweitert die Formel aber auf das gesamte System790. Das Tauziehen um die Vormachtstellung der Prinzipien Gerechtigkeit und Rechtssicherheit findet immer unter einer Abwägung statt. Wie viel Ungerechtigkeit für den Einzelnen ist zum Vorteil der Gesellschaft, der sich aus der Rechtssicherheit ergibt, hinnehmbar? Utilitaristisch ist der Ansatz der „Krieleschen Formel“ insoweit, indem er auf den größtmöglichen Nutzen der Gesellschaft abstellt. Kleine Ungerechtigkeiten seien hinzunehmen und die Gesetze zu akzeptieren, sofern die Gesellschaft im Ganzen von dem System profitiert. Aber auch Gesetze aus totalitären Regimen können aufgrund ihrer „unmittelbaren Gesetzeslegitimität“ bestehen, weil sie an „aufkläre-rischen Maßstäben gemessen gerechtfertigt wären.“791 Gesetze zum Beispiel über die Vertragseinhaltung, Eheschließung und Mordverbot bestünden „dann nicht wegen, sondern trotz ihrer Herkunft aus dem totalitären System, mit dem sie nur im äußeren, aber nicht im inneren Zusammenhang stehen.“792 Es kommt im Gegensatz zu Radbruch nicht auf die Intension des Machthabers an, sondern alleine auf den sittlichen Gehalt des Gesetzes oder der Rechtsordnung, ganz im Sinne des größeren Nutzens. Als Kritik am Rechtspositivismus bezieht sich Kriele erneut auf die Zeit des Nationalsozialismus. Er beschreibt die Mitschuld des Rechtspositivismus am Nationalsozialismus allerdings weniger in dem programmierten Gesetzesgehorsam, sondern weil dieser die Bereitschaft der „Legitimitätsverteidigung“ der Verfassung der Weimarer Zeit gestört habe793. Ein abstraktes Naturrecht ohne die institutionelle Positivierung durch den Machthaber, lehnt Kriele somit ab. Für Kriele bedeute die „Versöhnung von Naturrecht und Rechtspositivismus im gewaltenteilenden Verfassungsstaat […] zugleich die Versöhnung von Subjektivität und staatlicher Souveränität.“794 Kriele bescheinigt dem Naturrecht eine „entscheidende dynamische Kraft zur politischen Gestaltung.“795 „Das aufgeklärte Naturrechtsdenken ist unausweichlich dynamisch: es kann nur entweder vordringen oder untergehen. Entfaltet es geistig 787

Kriele, Recht (Fn. 619), S. 118. Kriele, Recht (Fn. 619), S. 119. 789 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 118. 790 So auch R. Dreier, Der Begriff des Rechts, in: NJW 1986, S. 890 (892). 791 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 126. 792 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 126. 793 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 124. 794 Kriele, Recht (Fn. 619), S. 124. 795 Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 162. 788

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politische Initiative, dann führt es sowohl in die demokratische Wertrevolution als auch in eine friedliche Weltordnung. Weicht es zurück, dann sind die Alternativen Barbarei und möglicherweise Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde.“796 Es wachse die Überzeugung, „daß die Orientierung der Politik am Ziel der Verwirklichung der naturrechtlichen Prinzipien im Völkerrecht und innerstaatlichem Recht zu den wesentlichen Aufgaben der Politik gehört.“797 c) Johann Braun Johann Braun lehrte bis 2011 an der Universität Passau. Einige von Brauns Ansichten sind jedoch nicht unproblematisch. Bedenklich sind Brauns Aussagen beispielsweise aus dem Jahr 2002 im Hinblick auf das LPartG in seiner alten Fassung vor Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und den damit verbundenen Bestrebungen zur Stärkung der Rechte homosexueller Paare798. Dabei sind es weniger seine juristischen Ausführungen zu einer notwendigen Verfassungsänderung des Art. 6 GG im Hinblick auf die Aufwertung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, die auf Unverständnis stoßen. Vielmehr ist seine Verknüpfung von Homosexualität mit Pädophilie und die daraus folgende Behauptung fernliegend, dass es gleich­ geschlechtlichen Paaren letztlich um die Legalisierung pädophiler Handlungen gehe. Braun vermutet hinter den Bemühungen um das LPartG einen „Einstieg in die Normalität der Pädophilie“799. Der Hinweis auf ein groteskes Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1958 mit veralteten Ansichten ist hier nicht sachdienlich, zumal Braun durch die selektive Wiedergabe des Wortlauts einzelner Auszüge bewusst ein verzerrtes Bild vermittelt800. Dem Naturrecht bescheinigt Braun jedenfalls Aktualität und gegenwärtige Präsens. Er kritisiert daher die gängige Auffassung, das Thema des Naturrechts gehöre ausschließlich der Vergangenheit an, denn das Naturrecht sei nur dem Namen 796

M. Kriele, Das Naturrecht der Neuzeit, in: K. v. Ballestrem (Hrsg.), Naturrecht und Politik, 1993, S. 9 (23). 797 Kriele, Naturrecht (Fn. 796), S. 23. 798 Ebenfalls sehr kritisch: C.  Müller-Götzmann, Artifizielle Reproduktion und gleichgeschlechtliche Elternschaft. Eine arztrechtliche Untersuchung zur Zulässigkeit fortpflanzungsmedizinischer Maßnahmen bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, 2009, S. 120 ff.; M. Bruns, Erwiderung auf Johann Braun: „Ein neues familienrechtliches Institut“, in: JZ 2002, S. 291 (291 ff.). 799 J. Braun, Ein neues familienrechtliches Institut, in: JZ 2002, S. 23 (28). 800 Zum Beweis für einen vermeintlichen Zusammenhang von homosexueller Orientierung und pädophilen Handlungen zitiert er das BVerfG (hier BVerfGE 6, 389 [428]) wie folgt: „Demgegenüber liebt der typisch homosexuelle Mann den Jüngling und neigt dazu, ihn zu verführen…“ Braun, Institut (Fn. 799), S. 29. Dabei verschweigt Braun, dass das BVerfG unter „Jüngling“ keine Minderjährigen versteht, wie es noch im gleichen Satz klarstellt: „Demgegenüber liebt der typisch homosexuelle Mann den Jüngling und neigt dazu, ihn zu verführen […]; er sucht den 20-bis 27-jährigen ‚jünglinghaften‘ gleichwohl bereits reifen Mann […].“ BVerfGE 6, 389 (428).

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nach, nicht jedoch der Sache nach verschwunden801. Grund für diese fälschliche Annahme sei vor allen die Positivierung des Naturrechts802. Der Rechtsrelativismus leugne hingegen eine gemeinsame Idealvorstellung aufgrund des Absolutheitsanspruchs des Naturrechts und erkläre den Gesetzgeber als befähigt, jeden beliebigen Inhalt für Recht zu erklären803. Ein Naturrecht gebe es hiernach schlicht nicht und auf den Inhalt solle es für die Rechtsqualität nach dem Rechtsrelativismus nicht ankommen804. Diese Auffassung lehnt Braun vehement ab. Kulturelle Unterschiede in der Rechtsumsetzung würden den Gedanken des Naturrechts nicht ausschließen. Braun entgegnet, dass unterschiedliche Rechtsordnungen sich grundsätzlich alle an derselben Rechtsidee orientieren könnten805. Diese Rechtsidee könnte unterschiedlich interpretiert und ausgeführt werden, nämlich unvollständig, irrtumsbehaftet und je nach den Umständen durch zahllose Kompromisse verwässert806. Zudem verkenne der Rechtsrelativismus die Realität, wenn er meine, das Recht könne auf viele verschiedene Arten ausgestaltet werden807. In Wirklichkeit gehe man in der Politik und Rechtsprechung durchaus davon aus, die einzig richtige Entscheidung getroffen zu haben808. „Der in der Theorie vorherrschende Relativismus hat daher keinen Einfluß darauf, daß in der Praxis absolute Positionen dominieren.“809 Vielmehr, so Braun, gelte in der Praxis ein harter Absolutismus des jeweils richtigen Rechts810. Dieser Rechtsabsolutismus komme als eigene Theorie unter dem Naturrecht vor811. Denn wer eine Rechtsentscheidung zu treffen habe, versuche eine rechtlich überzeugende Antwort zu geben812. Wer aber der Frage nach einer sinnvollen Rechtsentscheidung nachginge, stoße „unweigerlich auf die vorpositiven Grundlagen des gängigen ‚halbherzigen‘ Positivismus, die diesen nach wie vor mit dem verbindet, was früher einmal unter den Begriffen ‚Natur‘- und ‚Vernunftrecht‘ thematisiert worden ist.“813 Bei der Auslegung der Gesetze solle man den gesetzgeberischen Willen erforschen, was über den richtigen Inhalt des Rechts allerdings noch nichts aussage, es sei denn, aus diesem Willen lasse sich eine gerechte Vorentscheidung ablesen und überprüfen, ob die Intention des Gesetzgebers auf eine richtige Ent-

801

Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 265. Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 268. 803 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 268. 804 J. Braun, Rechtsrelativismus und Rechtswahrheit, in: RT 49 (2018), S. 55 (58). 805 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266. 806 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266. 807 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266. 808 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266. 809 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266. 810 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266. 811 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 270. 812 Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 62. 813 Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 62. 802

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scheidung gerichtet war814. In Anlehnung an Theodor W. Adorno formuliert Braun: „Es gibt kein richtiges Recht im falschen.“815 Also selbst der Rechtspositivismus komme ohne einen nichtpositiven Hintergrund nicht aus, denn es gebe innerhalb des Rechtspositivismus einen rationalen Grund, sich auf den Gesetzgeber zu orientieren, was den reinen Machtanspruch des Staates übersteige: „Sicher wird hierzulande im Augenblick niemand mehr in Versuchung geraten, die Überlegenheit einer in Gesetzesform gefaßten Rechtserkenntnis auf die göttliche Eingebung eines Monarchen oder die überlegene Einsicht eines Diktators zu stützen, wie es in manchen Teilen der Welt nach wie vor der Fall ist. Das wären aus unserer Sicht keine überzeugenden Garantien einer verläßlichen Rechtserkenntnis. Wohl aber vertraut man in der Demokratie auf die Schwarmintelligenz der Mehrheit der Bürger und die regulative Kraft des bei der Gesetzgebung vorgeschriebenen Verfahrens. Das ist die moderne Variante rationaler Normfindung, auf die sich das Vertrauen in die inhaltliche Richtigkeit des Gesetzes gründet. […] Nicht die reale Macht des Gesetzgebers, sondern die bis zum Beweis des Gegenteils vermutete Rechtsrichtigkeit des in bestimmter Weise zustande gekommenen Gesetzes bildet die legitimatorische Basis des modernen Positivismuses.“816 Das Naturrecht verteidigt Braun gegen den Vorwurf des Sein-Sollens-Fehlschlusses, da er das Sein als alternativlose Quelle des Sollens begreift817. Zum anderen argumentiere seiner Auffassung nach doch gerade der Rechtspositivismus in der Art, dass das Recht des Machtdurchsetzenden zu gelten habe, also aufgrund der Tatsache seiner Machtstellung (dem „Sein“)818. Gleichzeitig lehnt Braun die ältere Vorstellung von einem zeitlosen und für alle Völker gleich geltenden Recht als grotesk ab819. Damit befürwortet auch er ein dynamisches bzw. flexibles Naturrecht. „Das Recht muß abgestimmt sein mit der Kultur der Gesellschaft, die dadurch geordnet werden soll.“820 Allein schon durch technischen Wandel sei bewiesen, dass jede sozialgeschichtliche Entwicklungsstufe ihr eigenes Recht verlange821. Nach Braun lebt das Naturrecht in der Rechtsanwendung fort, da die Möglichkeit, klare Regeln in einem Prozess der Abwägung und Verhältnismäßigkeit zu bewerten, einem Rechtsverständnis nach dem Rechtspositivismus widerspreche822. Bei der Auslegung von Gesetzen würde der Wille des Gesetzgebers „nur“ insoweit

814

Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 63. Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 63; unter Bezugnahme von T. W. Adorno, Minima Moralia, 20. Aufl. 1991, S. 42. 816 Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 64 f. 817 „Woraus, wenn nicht aus einem Sein, sollte das rechtliche Sollen sonst abgeleitet werden? Etwas anderes bleibt doch gar nicht!“; Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 68. 818 Braun, Rechtswahrheit (Fn. 804), S. 68. 819 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 270. 820 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 270. 821 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 270. 822 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 273. 815

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als Orientierung helfen, „soweit er im Gesetz Ausdruck gefunden hat“823. Dadurch würden der „politischen Instrumentalisierung der Auslegung eine Grenze gesetzt und Raum geschaffen für andere, letztlich nichtpositivistische Erwägungen“824. Ein dritter Weg zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht sei darin zu sehen, dass das positive Recht vernünftig zu handhaben sei825. Das Naturrecht sei daher nicht verschwunden, sondern vielmehr allgegenwärtig826.

2. Das Naturrecht als kritischer Maßstab In der Einführung wurde darauf hingewiesen, dass das Naturrecht nicht zwangsläufig als übergeordnetes Normensystem verstanden werden muss, welches die gesetzgeberischen Regelungen außer Kraft setzt. Unter einem übergeordneten Naturrechtssystem kann man Normen verstehen, die über dem positiven Recht stehen und diese „verwerfen“ können  – ähnlich wie das Verfassungsrecht über den einfachen Gesetzen steht. Die Rechtsnatur eines Gesetzes kann aber bereits begrifflich mit dem Naturrecht verbunden werden. Fehlt der Norm der naturrechtliche Inhalt, entbehrt diese Norm bereits der Rechtsnatur eines Gesetzes. In beiden Fällen kann die Norm nicht mehr verpflichten: Das Recht könnte daher aufgrund „äußerer“, aber auch aufgrund der Definition des Rechts bereits durch „innere“ Umstände verworfen werden. a) Dietmar Willoweit Nach Dietmar Willoweit ist das Rechtsdenken der Gegenwart durch eine doppelte Erfahrung geprägt827: Das Recht sei relativ, d. h. inhaltlich abhängig von seinen sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen und von der Moral zu trennen. Auf der anderen Seite wolle man in den Fällen staatlichen Unrechts nicht bei der Position des Rechtspositivismus stehen bleiben. So bliebe oft nur der Ausweg, den Begriff des Rechts als ein System von Normen zu verstehen828. Es stünde daher weniger der Rechtsbegriff als vielmehr der Begriff der Norm im Vordergrund rechtsphilosophischen Denkens829. Willoweit folgt einem anderen Ansatz, der auf Rudolf Stammlers Ausführungen aufbaut. Stammler verstand unter dem Naturrecht diejenige Rechtssatzung, die unter empirisch bedingten Verhältnissen das theoretisch richtige Recht ent 823

Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 271. Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 272. 825 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 272. 826 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 273. 827 D. Willoweit, Der richtige Kern der Lehre vom richtigen Recht, in: JZ 2010, S. 373 (373). 828 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 373. 829 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 374. 824

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hält830. Dieser Rechtssatzung komme als solcher allerdings noch keine positive Geltungskraft zu, sondern wende sich an die Erzeuger des positiven Rechts mit der Forderung, eine Änderung des geltenden Rechts herbeizuführen. Diese theoretische Rechtsvorstellung erkennt Willoweit in der Gegenwart an der Forderung an alle Welt, die Menschenrechte zu achten. Dies mag für die moderne Gesetzgebung charakteristisch sein, doch nach Willoweit gewinne der Rechtsbegriff dadurch nichts, was über den positivistischen Rechtsrelativismus hinausginge831. Stammler selbst verstünde sich zwar als Rechtspositivist, allerdings habe er immer daran festgehalten, dass der Rechtsbegriff sich nicht nach seiner Erscheinungsform, sondern vielmehr nach seinen Bedingungen bestimme832. Es gebe auch außerhalb einer organsierten Staatsgewalt Recht, wie beispielsweise in vorstaatlichen Gesellschaften oder in zwischenmenschlichen Beziehungen durch Verträge, in dem sich die Beteiligten freiwillig verpflichten ohne ausdrücklichen Rechtssetzungsakt833. Der Rechtsbegriff müsse von dem Normbegriff unterschieden werden. Daher bestimmt er das richtige Recht nach den „Grundsätzen des Achtens“ und den „Grundsätzen des Teilnehmens“834. „Hier begegnen wir ihm also, dem richtigen Kern der Lehre vom richtigen Recht. Denn hinter den Stichworten ‚Achtung‘ und ‚Teilnahme‘ verbirgt sich nichts anderes als der Schutz vor willkürlicher Gewalt und die Möglichkeit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen einer Gesellschaft oder, juristisch präziser ausgedrückt: die Pflicht, zu verantwortende Verletzungen auszugleichen und vertragliche Vereinbarungen als verbindlich anzuerkennen.“835 Willoweit arbeitet aus den vorher beschriebenen Ausführungen über Rudolf Stammler folgende These heraus: „Die Verbindlichkeit von Verträgen und der Anspruch des Verletzten auf Ausgleich erlittener Gewalt können nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Begriff des Rechts entfällt“836. So erlaube der Rechtsbegriff „gravierende Unterschiede“ in der Behandlung von Menschen und löse keine Gerechtigkeitsfrage, aber es vertrage sich nicht mit „willkürlicher Demütigung, Beraubung und Tötung“837. Ein positiv ausformuliertes Naturrecht gebe auch seine These nicht her, da im Unterschied zum vernunftrechtlichen oder neoscholastischen Naturrecht keine höchsten Prinzipien entwickelt werden, von denen nachher 830

Stammler befasst sich bei der Untersuchung des Rechtsbegriffs mit der Frage nach dem Recht in staatenlosen Gebieten, arbeitet die Grundsätze des „Achtens“ und des „Teilnehmens“ heraus und sieht bereits in „primitiven“ Gesellschaften die Verbindlichkeit von Vereinbarungen und Sanktionsmöglichkeit bei Zuwiderhandeln gegeben. Vgl. Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 373 ff.; unter Bezugnahme auf R. Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 1896, S. 185. 831 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 375. 832 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 375. 833 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 375. 834 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 375; unter Bezugnahme auf R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Recht, 2. Aufl. 1926, S. 148. 835 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 376. 836 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 377. 837 So verbiete es sich daher, die Anordnung in der nationalsozialistischen Zeit, Menschen auszugrenzen und zu töten, „als Recht zu etikettieren“; Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 377.

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die Normen abgeleitet würden. Sie gebe allein ein Minimum des Rechtsbegriffes durch die Vorstellung eines offenbar rechtlich nicht geordneten Zustandes vor838. Im Vordergrund steht daher zunächst die Bildung einer Rechtsordnung, die die Verletzung der Rechte im Naturzustand verhindere und selbst diese Rechte nicht willkürlich verletze. „Es ist das Recht, das erst Ordnung schaffen muss, irgendeine Ordnung, die nur besser sein muss, als der Krieg aller gegen aller.“839 Stammler unterscheide Recht und Willkür darin, ob der Gesetzgeber sich an seine eigene Regel gebunden fühle840. Willkürlich handele, wer objektiv bindende Regeln aufstelle, die nur der subjektiven Befriedung des Gewaltinhabers diene841. Stammlers Kriterien zur Unterscheidung zwischen Recht und Willkür im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber selbst durch den Rechtscharakter der Vorschrift an diese gebunden ist, können nach Willoweit auch innerhalb staatlich hoheitlicher Akte angewendet werden842. Willoweit kritisiert Stammler, er habe sich davor gedrückt, die Staatsgewalt unter Umständen als unrechtmäßig zu erklären843. Vielmehr handele der Despot ebenso willkürlich, wenn er Gebote erlasse, die seiner Befriedigung dienen844. Zusammengefasst fordert Willoweit für den Rechtsbegriff den „Ausschluss von Willkür“, ohne weitere Anforderung inhaltlicher Art an das Recht zu stellen845. Der Willkürausschluss ist für den Rechtsbegriff allerdings bedeutend und begründet die wesentlichen Ansprüche an das Recht. Soll ein Rechtssystem nicht allein auf dem Prinzip des Rechts des Stärkeren beruhen, so sei das Bestimmen einer Rechtsfolge durch Angriffe auf Leben, Leib und Eigentum eine evidente Verpflichtung846. Für Willoweit fehlt einer Norm ohne Rechtsfolgen für Verletzungen an solchen Rechtsgütern bereits der Rechtscharakter „weil Rechtsnormen inhaltlich zwar Vielerlei regeln können, nicht aber die pure Willkür zur Norm erheben“ und diese Norm das „mit dem Wort ‚Recht‘ verbundene inhaltliche Minimum nicht erfüllen“ könne847. „Denkt man jeglichen Ausgleich von Verletzungen einer Person oder ihrer Güter weg, so entfällt der Rechtsbegriff des Rechts. In einer solchen Welt würde die Willkür des Stärkeren herrschen, sodass wir sie als eine rechtlich geordnete nicht mehr wahrnehmen könnten.“848

838

Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 377, 379. D.  Willoweit, „Ungerechtes Recht“ oder „Grenzen des Rechts“?  – Ein Nachwort, in: U. Müssig (Hrsg.), Ungerechtes Recht, 2013, S. 183 (186). 840 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 316. 841 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 316. 842 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 320. 843 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 329. 844 Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 320. 845 Willoweit, Kern (Fn. 827), S. 377. 846 D. Willoweit, Gerechtigkeit und Recht. Zur Unterscheidung zweier Grundbegriffe der Jurisprudenz, 2018, S. 47. 847 Willoweit, Gerechtigkeit (Fn. 846), S. 47 f. 848 Willoweit, Gerechtigkeit (Fn. 846), S. 52. 839

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Diese Ausführungen können sicher nicht in der Tradition eines klassischen Naturrechtsansatzes gesehen werden, und dennoch entziehen sie dem Recht die völlige Disposition. Damit stellt die Ansicht Willoweits einen Mindestinhalt an den Rechtsbegriff849. Der Gesetzgeber ist bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nicht frei in seinem Handlungsspielraum, da das Rechtsverständnis nach Dietmar ­Willoweit diesem die Möglichkeit entzieht, willkürliche Gesetze zu erlassen. Recht und Willkür widersprechen sich nach Willoweit. Trotz der Kritik an Stammlers Willkürverständnis in seinem Rechtsbegriff habe dieser mehr geleistet als der moderne Rechtspositivismus, weil er den Rechtsbegriff überhaupt mit dem Ausschluss der Willkür verbindet850. Der Rechtspositivismus begreife die Norm dagegen nur im Verhältnis zu ihrer Verfassung. Für die Frage, wann ein Gesetz die Rechtswirksamkeit verliert, könne nicht auf ein „vorpositiv existierendes Naturrecht“ zurückgegriffen werden851. Willoweit aber leugnet weniger die Existenz des Naturrechts, sondern glaubt vielmehr, dass der Inhalt des Naturrechts niemals durch gesellschaftlichen Konsens feststellbar sein könne852. Willoweit bestärkt daher, dass auf die Sozialethik bei der Gesetzgebung nicht verzichtet werden könne: „Sie [die Rechtsfindung, F.v.R.] bedarf also eines metarechtlichen Maßstabes.“853 Es gebe keinen Grund, das Recht nicht nach seiner „humanitären Qualität zu hinterfragen“ und es an den Maßstäben des „Gesetzes der Menschlichkeit“ oder an der „Forderung des öffentlichen Gewissens“ zu messen, auch wenn der Verfassungstext hierzu keine Angabe mache854. „Auch Gesetzesrecht unterliegt so faktisch stets einer metarechtlichen Kontrolle. Es war die zeitgebundene Idee der Souveränität mit dem Vorrang des gesetzten Rechts, die diesen eigentlich selbstverständlichen Sachverhalt verdunkelt hat. Sich an ihn zu erinnern, heißt zugleich, auch in der Gesetzgebung Grenzen des Rechts zu erkennen.“855 Willoweit erkennt in den Maßstäben zeitlich und kulturspezifisch veränderbare Elemente, die zwar nicht zum Rechtsverlust eines Gesetzes führen, sehr wohl aber zum kritischen Maßstab herangezogen werden können. Hinter dem Ausgleichsanspruch zur Verhinderung eines willkürlichen Systems versteckt sich nach ­Willoweit ein zweiter Gedanke, der als Basis auszugleichender Rechtsgutverletzungen angesehen werden kann. Nur wenn dem Menschen die Qualität als Rechtssubjekt zukommt – die Personalität – ließen sich auch seine Schutzrechte begründen: „Die Tatbestände der Rechtsentstehung durch Delikt oder Vertrag setzen ferner die Existenz von Schutzrechten zur Bewahrung von Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum voraus.“856 849

Vgl. Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 43. Willoweit, Rechtsbegründung (Fn. 598), S. 321. 851 Willoweit, Recht (Fn. 839), S. 184. 852 Willoweit, Recht (Fn. 839), S. 185. 853 Willoweit, Recht (Fn. 839), S. 187. 854 Willoweit, Recht (Fn. 839), S. 187. 855 Willoweit, Recht (Fn. 839), S. 187. 856 Willoweit, Gerechtigkeit (Fn. 846), S. 60. 850

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Auch wenn Dietmar Willoweit ein von wenigen Prinzipien abgeleitetes naturrechtliches Normensystem ablehnt, erkennt er dennoch den Nutzen eines „naturrechtlichen Minimums“857. „Was aber ernst zu nehmen ist, sind die fundamentalen Aussagen, die das […] ‚naturrechtliche Minimum‘ dem Denken abverlangt. Dieses über den puren Rechtsgedanken hinausgehende Plus – also die Rechtssubjektivität und die dem Rechtssubjekt zugeordneten Elementarrechte – ist mit dem glücklich gewählten Begriff der Grundgerechtigkeit zutreffend charakterisiert. Denn es handelt sich aller rechtspositivistischen Skepsis zum Trotz eben doch um normative Aussagen inhaltlicher Art, deren herausragender Rang innerhalb der gesamten Rechtsordnung das Attribut ‚gerecht‘ – in einem weiten, traditionellen Sinne – in erster Linie verdient.“858 Begründet durch das Verständnis des Willkürverbotes bzw. des Gleichbehandlungsgrundsatzes als essentieller Bestandteil des Rechts – d. h. dass der Rechtscharakter einer Norm von der Erfüllung dieser Voraussetzung abhängt – kann in dieser Gerechtigkeitsvoraussetzung mehr als nur die Kritik am bestehenden Recht gesehen werden. Das Recht verliert per Definition seine uneingeschränkte Disposition.

b) Joachim Hruschka Joachim Hruschka beschäftigt sich nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung mit dem Begriff des Unrechtsstaates. Für ihn gibt es keinen Zweifel daran, dass so etwas wie Unrecht und Unrechtssysteme bestehen859. Um ein Regime aber als Unrechtsregime bezeichnen zu können, bräuchte es einen Maßstab, an dem die Handlungen gemessen werden müssten, den man als Naturrecht oder auch Vernunftrecht bezeichnen könne860. Hruschka selbst benutzt den Begriff des vorpositiven Rechts, um Zugeständnisse an den Rechtspositivismus zu vermeiden, da dieser noch unbefangener und neutraler sei861. Dieses vorpositive Recht sei nach Hruschka nötig, um den Rechtspositivismus kontrollieren zu können862.

857

Willoweit, Gerechtigkeit (Fn. 846), S. 62. Willoweit, Gerechtigkeit (Fn. 846), S. 62 f. 859 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 430. 860 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 430. 861 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 430. Auch für Volker Haas stellen sich die naturrechtlichen Ansätze Hruschkas, trotz der Wortwahl, als völlig unstreitig dar: „Hruschka […] kann man ohne Zweifel geradezu als leidenschaftlichen Anhänger natur- bzw. vernunftrechtlichen Denkens bezeichnen, wenngleich Hruschka den Begriff des vorpositiven Rechts favorisiert hat, um sachliche Zugeständnisse an den von ihm vehement abgelehnten Rechtspositivismus zu vermeiden.“ Haas, Strafrecht (Fn. 713), S. 557. 862 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 430. 858

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Der Mensch unterscheide zwischen Mittel und Zweck einer Handlung und somit auch nach der Zweckmäßigkeit eines eingesetzten Mittels863. Ebenso sehe der Mensch in der Frage nach einer gerechten und ungerechten Handlung keine Frage des Geschmacks, sondern viel eher eine diskussionsfähige Frage. Ob der Kaffee mit oder ohne Zucker schmecke, sei eine Frage des Geschmacks, da sich beide Antworten nicht widersprechen864. Es handelt sich bei der Frage nicht um eine der Wahrheit zugänglichen Tatsache, weshalb beide Antworten als subjektive Einschätzung nebeneinander stehen können. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, was nichts anderes heißt, als dass keine objektive Wahrheit hierüber existiert. Ob die Tötung eines Menschen gerecht oder ungerecht sei, widerspreche sich aber im Ergebnis865. Diskutieren lässt sich über Unrecht und Recht, da sie nicht der subjektiven Einschätzung unterliegen, sondern wahrheitsfähig ist. Für Hruschka ist das Naturrecht ein notwendiges Werkzeug, um (subjektive) Rechtsbrüche als Unrecht zu identifizieren. Anhand des begangenen Unrechts in der DDR beschreibt Hruschka zwei Beispiele subjektiven allgemeingültigen Rechts. Nämlich das subjektive Recht, ein Land zu verlassen, und das subjektive Recht zu leben866. Durch die Abschaffung der Ausreisefreiheit würde den Menschen die Möglichkeit entzogen, Herr über sich selbst zu sein, weshalb ihr Status als Person verletzt werde867. Das Ausreiseverbot, dass in seiner Durchsetzung vielen Menschen an den Grenzen das Leben kostete, behandle Menschen wie Staatseigentum868. „Die Tötung von Menschen, die von ihrem Recht auf Ausreise Gebrauch machen wollten, an der Mauer und anderswo war ein Unrecht, weil sie die vorpositiven Freiheitsrechte der Getöteten und damit auch ihre Menschenwürde in einer besonders groben Weise verletzt hat.“869 Jeder Staat sei im Stande, seine Unrechtshandlungen in positives Recht zu gießen, was aber keine Tötung unschuldiger Menschen rechtfertigen könne870. Der Rechtspositivismus vernachlässige die Aufgabe, die Grundsätze des Rechts zu hinterfragen und trage daher zur Selbstentmündigung der Rechtswissenschaft bei871. Das Naturrecht helfe zur Einordnung von Recht und Unrecht, führe aber auch zu einer ständigen reflektierten „Kontrolle“ des positiven Rechts872. Recht

863

Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 431. Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 431. 865 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 431. 866 J. Hruschka, Die Todesschüsse an der Berliner Mauer vor Gericht – Zu dem unten abgedruckten Urteil des LG Berlin vom 20. 1. 1991, in: JZ 1992, S. 665 (665). 867 Hruschka, Todesschüsse (Fn. 866), S. 666. 868 Hruschka, Todesschüsse (Fn. 866), S. 666. 869 Hruschka, Todesschüsse (Fn. 866), S. 667. 870 Hruschka, Todesschüsse (Fn. 866), S. 668. 871 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 437. 872 Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 430. 864

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unterliege unbestreitbar dem Wandel, stünde der dauernden Suche nach gerechtem Recht aber nicht entgegen873. c) Florian Rödl Florian Rödl wirft dem Rechtspositivismus vor, das Naturrecht häufig misszuverstehen, indem es dem Naturrecht unterstellt, Anspruch auf geltendes Recht von höchstem Rang zu stellen874. Aufgrund dieses positivistischen Missverständnisses weise der Rechtspositivismus das Naturrecht mit dem Argument der Trennungsthese zurück. Diese müsste sodann damit begründet werden, dass Rechtsnormen nur dann gelten, wenn diese in einem geltenden Verfahren durch einen zuständigen Gesetzgeber verabschiedet oder durch ein Gericht artikuliert würden875. Rödl würde der Kritik des Rechtspositivismus zustimmen, aber nur insofern, als dass der Rechtspositivismus das Naturrecht missversteht. In Wirklichkeit erhebe das Naturrecht aber keinen Anspruch auf geltendes Recht. Das Naturrecht liefere vielmehr den kritischen Maßstab an das geltende Recht und als kritischer Maßstab könne es selbst niemals geltendes Recht sein876. Das Naturrecht sei als Welt des Geistes konzipiert877. Dabei sei charakteristisch für das Naturrecht seine Behauptung als objektiver und eben nicht subjektiver Maßstab878. So wie man sich empirisch auf die Suche nach der Wahrheit über die Dinge begeben und daran scheitern könnte, so könnte man sich auch auf die Suche nach der Wahrheit des Geistes und des Guten und Naturrechts begeben und daran scheitern879. Diese hänge in beiden Fällen nicht von der Auffassung einzelner oder mehrerer ab, sondern von der Lage der Dinge bzw. vom Gehalt des Naturrechts880. Hier setzt die Kritik Rödls am Rechtspositivismus an: Wenn der Rechtspositivismus den objektiven Charakter der geltenden Norm bestreite, ginge er zwangsläufig von einem subjektiven Charakter aus881. Dies bedeute, dass nicht ein einziger Maßstab, sondern verschiedene Maßstäbe im Spiel sind. Der Rechtspositivismus spreche der Moral sodann vielmehr einen objektiven Charakter ab, als dass er diese wirklich vom Recht trenne882. Eine moralische Präferenzbildung könne sodann nach dem Muster schlichter Geschmackserfahrungen gebildet werden883. So 873

Hruschka, Recht (Fn. 174), S. 437. Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 32. 875 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 33. 876 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 34. 877 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 878 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 879 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 880 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 881 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 882 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 883 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 35. 874

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sei dies noch plausibel, wenn es um den Geschmack zivilrechtlicher Fragen ginge, ob jemand den deliktischen Schutz des Eigentums möge oder vertragliche Forderung nicht möge884. Dieser subjektive Charakter würde dennoch unplausibel, wo es um Menschenrechte ginge885. Bei der Verletzung eines Menschenrechts würde niemand die Frage nach dem Geschmack stellen886. „Der Preis für den Verzicht auf eine naturrechtliche Grundlegung der Menschenrechte liegt also augenscheinlich in ihrer Degradierung zur Geschmacksfrage.“887 Gerade bei richterlichen Entscheidungen über Menschenrechte müssten immer wieder Schutzbereiche des Grundgesetzes formuliert, gesetzliche Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit einem geschriebenen Menschenrecht kontrolliert und dabei Menschenrechtsgarantien ausgelegt werden888. Dabei muss sich der Richter an den Sinn des jeweiligen Menschenrechts richten, falls der Wortlaut der Norm nicht weiterhelfen kann889. Rödl plädiert daher für die Anerkennung von naturrechtlicher Gründung geltenden Rechts890. Die Rechtswissenschaft solle sich dringend aufs Neue an der naturrechtlichen Gründung versuchen, so Rödl891.

3. Die Prinzipientheorien im Naturrecht Die Prinzipientheorien, wie sie von Ralf Dreier, Alexy und auch Dworkin vertreten werden892, enthalten in ihrer Argumentationsstruktur naturrechtliche Aspekte. Prinzipien werden auch eingehalten, wenn sie nicht in einem Gesetz nieder­ geschrieben sind, weil sie in der Vernunft verankert sind und deshalb von „Regeln“ abgegrenzt werden können893. Prinzipientheorien beschäftigen sich sodann mit der Frage, welche Konsequenz die Annahme von Prinzipien für die Rechtsordnung hat894. Prinzipien sollen als moralische Argumente in das Recht miteinfließen, wodurch eine Trennung von Recht und Moral nicht aufrecht zu erhalten ist895. Neuere und gegenwärtige Lehren, welche eine minimale begriffliche Abhängigkeit des Rechts von der Moral bejahen, werden auch als „moderne Ver 884

Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 36. Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 36. 886 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 32. 887 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 36. 888 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 38. 889 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 39. 890 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 42. 891 Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 42. 892 Zur Ausprägung der Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin siehe Kap. D. V. 893 Heinold stellt fest, dass die Prinzipientheorien trotz ihrer teilweisen Normierung den Anspruch erheben, die Struktur hinter der Normsetzung auf der Metaebene zu erfassen; A. Heinold, Prinzipientheorie bei Ronald Dworkin und Robert Alexy, 2011, S. 45. 894 Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 21. 895 Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 21: „Die bloße Existenz von Prinzipien als moralische Bausteine des Rechts soll die Trennung von Recht und Moral widerlegen.“ 885

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bindungstheorie“896 oder „schwacher Rechtsmoralismus“897 bezeichnet898. In der deutschsprachigen Rechtsphilosophie haben sich allen voran Dreier und Alexy als bekannte Anhänger einer solchen Verbindungstheorie etabliert. a) Robert Alexy Robert Alexy vertritt die Auffassung, das Gesetz habe eine Doppelnatur und bestehe notwendigerweise aus zwei Elementen: Es bestehe aus einer faktischen Dimension, darunter zählt Alexy die Verkündung und soziale Wirksamkeit des Gesetzes, und einer moralischen Richtigkeit899. Alexy selbst bezeichnet diesen Rechtsbegriff aufgrund der moralischen Natur des Gesetzes als nicht-positivistisch900. Das Recht erhebe einen notwendigen Anspruch auf moralische Korrektheit und daher auf die notwendige Beziehung zwischen Moral und Recht901. Robert Alexy baut seine Theorie auf die durch Habermas wesentlich geprägte Diskurstheorie auf. Im Kern geht es Alexy um die Suche nach neuen Ansätzen der rechtlichen Argumentationslehre902. Warum die Diskursethik ein geeigneter philosophischer Lösungsansatz hierfür sein kann, erklärt Alexander Heinold903: Die Diskurstheorie mache die Richtigkeit und Wahrheit einer Antwort auf eine Frage davon abhängig, ob sie in einer bestimmten Prozedur erreicht wurde. Durch die getätigten Aussagen der Teilnehmer an einem Diskurs könne sich auf eine richtige Aussage geeinigt werden, es kann ein Konsens entwickelt werden. Damit versucht sie weitläufige Probleme sonstiger Erkenntnisprobleme zu umgehen. Alexy stellt 28 Regeln auf, die einen Diskurs und damit eine verwertbare Antwort möglich machen, wie etwa die Vernunftregel des Inhalts, die Pflicht der Teilnehmer, ihre Meinung rational begründen zu können. Durch die juristischen Besonderheiten, nämlich die speziellen Rechtfertigungsgrundsätze sowie die Beschränkung der Urteile auf die geltende Rechtsnorm und nicht auf eine rein vernünftige Begründung, bedarf nach Alexy daher die Diskurstheorie in der Rechtswissenschaft einer Konkreti-

896

Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 291. Staake, Werte (Fn. 146), S. 374; P. Koller, Der Begriff des Rechts und seine Konzeption, in: W. Brugger / U. Neumann / S. Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 157 (165): „Unter einem ‚schwachen Rechtsmoralismus‘ verstehe ich eine Konzeption des Rechts, die zwar auf einer notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral insistiert, aber diese Verbindung in dem schwachen Sinne interpretiert, dass der Rechtsbegriff neben anderen Elementen auch eine Bezugnahme auf gewisse Erfordernisse der Moral inkludiert, die eine rechtliche Ordnung erfüllen muss, um Geltung zu besitzen.“ 898 Aufgrund der notwendigen Verbindung des Rechtsbegriffs mit der Moral kann daher die Radbruchsche Formel bereits als eine solche Verbindungstheorie bezeichnet werden. 899 R. Alexy, The Dual Nature of Law, in: Ratio Juris 23 (2010), S. 167 (167). 900 Alexy, Nature (Fn. 899), S. 167. 901 Alexy, Nature (Fn. 899), S. 168. 902 Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 208. 903 Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 208 ff. 897

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sierung. In der Rechtsanwendung wird die Abwägung der Prinzipien in den Diskurs eingebettet904. „Es gibt sowohl begrifflich als auch normativ notwendige Zusammenhänge zwischen Recht und Moral.“905 Diese These versucht Alexy in einem begrifflichen Rahmen zu begründen, der aus fünf Unterscheidungen besteht906. Insbesondere die Unterscheidung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive kann als Kernpunkt seiner Begründung verstanden werden907. Die Teilnehmerperspektive nehme ein, wer in einem Rechtssystem an einer Argumentation darüber teilnimmt, was in diesem Rechtssystem geboten, verboten und erlaubt sei908. Dies sind hauptsächlich der Richter sowie andere Teilnehmer, etwa Rechtswissenschaftler, Rechtsanwälte oder andere Interessierte, die letztendlich die Richterposition damit einnehmen würden. Dagegen nehme eine Beobachterperspektive ein, wer nach der tatsächlichen Entscheidung in einem Rechtssystem frage und nicht nach der richtigen909. Alexy fragt zunächst aus der Beobachterperspektive betrachtet, ob die „Verbindungsthese“ im Zusammenhang mit dem „Unrechtsargument“, also die Frage nach dem „Verlust der Rechtsqualität beim Überschreiten einer wie auch immer zu bestimmenden Unrechtsschwelle“ zuträfe910. Dabei unterscheidet er zwischen einzelnen Rechtsnormen und dem Rechtssystem als Ganzes911. Die Verbindungsthese, aus der Beobachterperspektive betrachtet und bezogen auf einzelne Normen lehnt Alexy ab, zumindest eine begriffliche Notwendigkeit der Verbindung zwischen Recht und Moral912. Etwas anders sieht Alexy die Voraussetzungen der 904

Vgl. Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 216. Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 44. 906 Für Robert Alexy besteht die Definition des Rechtsbegriffs aus drei Elementen: Ordnungsgemäße Gesetztheit, soziale Wirksamkeit und inhaltliche Richtigkeit. Die Gewichtung dieser Elemente kann für den Rechtsbegriff unterschiedlich ausfallen; Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 29. Zum Nachweis der notwendigen Verbindung des Rechtsbegriffs von Recht und Moral trifft Alexy fünf Unterscheidungen innerhalb des begrifflichen Rahmens. (1.) Zunächst unterscheidet Robert Alexy zwischen „geltungsfreien“ und „nicht geltungsfreien Rechtsbegriffen“. Nicht geltungsfrei sei ein Rechtsbegriff, der den Begriff der Geltung miteinschließe; ebda., S. 44. (2.) Die zweite begriffliche Unterscheidung betrifft das Rechtssystem als ein System von Normen und als ein System von Prozeduren. (3.) Unterteilt werden kann weiterhin in eine Teilnehmer- und Beobachterperspektive. (4.) Des Weiteren kann zwischen den begrifflichen Zusammenhängen von Recht und Moral für den Rechtsbegriff unterschieden werden: Ein „klassifizierender Zusammenhang“ besage, dass die Rechtsnorm nur bei einem Zusammenhang von Recht und Moral als Norm oder Normensystem bezeichnet werden könne, während ein qualifizierender Zusammenhang behauptet, dass die Normen ohne einen rechtsethischen Zusammenhang weiterhin Rechtsnormen seien, aber als fehlerhaft einzustufen sind. (5.) Die fünfte Unterscheidung ist der begrifflich und normativ notwendige Zusammenhang von Recht und Moral; ebda., S. 44 ff. 907 So auch Staake, Werte (Fn. 146), S. 349. 908 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 47. 909 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 47. 910 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 52. 911 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 52. 912 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 56. 905

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Verbindungstheorie bezogen auf den Blick auf das gesamte Rechtssystem. Für den Fall beispielsweise, dass Banditen zu ihrer Legitimation eine Herrscherordnung entwickelten um die Beherrschten weiterhin auszubeuten und diese Praxis mit einem höheren Zweck rechtfertigten sowie bestimmte formelle Voraussetzungen an diese Akte stellten, könne man wohl von einem Rechtssystem sprechen, auch wenn es als zutiefst ungerecht anzusehen sei913. Denn in diesem System sei ein Anspruch auf Richtigkeit verankert und werde auch erhoben. Alexy bezeichnet diese Erkenntnis als „Richtigkeitsargument“, welches ein notwendiges Element des Rechtsbegriffs sei914. Da die Richtigkeit eines ganzen Normensystems gerade begrifflicher Bestandteil des Rechtsbegriffs sei, müsse die Trennungsthese in der Beobachterperspektive im Verhältnis zum ganzen Rechtssystem demnach eingeschränkt werden. Dass die positivistische Trennungsthese aus der Teilnehmerperspektive „inadäquat“ ist, will Alexy an drei Argumenten festmachen: dem Richtigkeitsargument, dem Unrechtsargument und dem Prinzipienargument915. Das Richtigkeitsargument bilde die Basis für die anderen beiden Argumente: Dadurch, dass das Normensysteme auf einem Richtigkeitsargument aufbaue und den Anspruch auf Richtigkeit auch erhebe, kommt dem Richtigkeitsargument eine „klassifizierende Bedeutung“ zu916. Denn erfülle ein solches Rechtssystem seinen Anspruch auf Richtigkeit nicht, handele es sich um rechtlich fehlerhafte Systeme917. Auch einzelne Normen seien rechtlich fehlerhaft, wenn sie den Anspruch auf Richtigkeit nicht erheben oder nicht erfüllen918. Das Unrechtsargument könne deshalb auf ein Rechtssystem als Ganzes oder auf einzelne Normen bezogen werden. So begegnet Alexy dem Argument, dass ein Rechtsbegriff mit moralischer Komponente zu Unklarheiten führen könne919. Auch sei die Rechtssicherheit nicht gefährdet, wie es häufig eingewandt werde. Der höchstens minimale Verlust der Rechtssicherheit sei hinnehmbar, da dies nicht das einzige Gut sei und gegen den Wert der materiellen Gerechtigkeit abgewogen werden müsse920. Außerdem werde die Erkenntnis über die Fehlerhaftigkeit des Rechts zunehmend sicherer, um so extremer die Ungerechtigkeit sei921. Wenn überhaupt, leide daher die Rechtssicherheit nur minimal, da die rationale Begründbarkeit von Gerechtigkeitsurteilen für jedermann nachvollziehbar und erkennbar sei. Das Prinzipienargument ist einer der spezifischen Kernaussagen. Grundlage dieses Arguments ist die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien. Regeln seien 913

Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 61. Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 62. 915 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 64. 916 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 64. 917 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 64. 918 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 64. 919 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 76. 920 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 91. 921 Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 91. 914

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Normen, die bei Erfüllung des Tatbestands zu einer obligatorischen Rechtsfolge führen922. Sie können erfüllt oder nicht erfüllt werden923. Prinzipien und Regeln seien aber beides normativ argumentierende Normen, indem sie einen Zustand beschreiben, wie er sein sollte924. Im Gegensatz zu Regeln seien Prinzipien allerdings Normen, die gebieten, „daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“925. Prinzipien seien somit vielmehr Optimierungsangebote926. Der Unterschied sei am Besten in einer Konfliktsituation aufzuzeigen: Im Fall eines Regelkonfliktes könne es nur die Möglichkeit einer Ausnahmeklausel geben oder mindestens eine der Regel müsse als ungültig erklärt werden927. Die Prinzipienkollision sei anders zu behandeln, denn eines der beiden Prinzipien müsse zurücktreten, ohne dass dieses als ungültig zu bezeichnen wäre928. Ein Beispiel für eine Lösung eines Prinzipienkonflikts sei die Güterabwägung929. Alexy betont daher stärker als Dworkin die Prinzipien mit ihrem besonderen Gebotscharakter930. Für den Erkenntnisgewinn, was die moralische Korrektheit im Einzelfall bedeute, bedient sich Alexy der Diskurstheorie. Diese käme aufgrund des vorgegebenen Verfahrens des Diskurses auf rationale Antworten und stünde als Erkenntnis­ element zwischen Beweisbarkeit und Willkür931. Die ideale Dimension des Rechts sei auf die positive Dimension (hier Positivität im Sinne der Verkündung und Befolgung des Gesetzes) angewiesen, da die Moral Bürgerkrieg und Anarchie zu vermeiden versuche932. Die Positivität, welche nicht mit Positivismus gleichgesetzt werden darf, sondern gerade die Veröffentlichung und das soziale Wirken eines Gesetzes meint, enthält das Prinzip der Rechtssicherheit933. Das Prinzip der Gerechtigkeit sei hingegen ein materielles Prinzip934. Aufgrund der Doppelnatur des Gesetzes lässt sich kein Prinzip vollständig verdrängen, auch wenn sie miteinander 922

Alexy, Begriff (Fn. 103), S. 120. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 76. 924 Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 72. 925 Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 75. 926 Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 75. 927 Alexy beschreibt diese Konfliktsituation an dem Beispiel der Klingelregel in Klassenzimmern. So dürfe bekannterweise ein Klassenzimmer von Schülern erst dann verlassen werden, wenn die Klingel das Ende der Stunde angezeigt habe. Diese Regel stünde im Konflikt mit der Regel, das Zimmer umgehend zu verlassen, sollte im Zimmer ein Feuer entstehen. Entweder müsse in der ersten Regel eine Ausnahme für solche Fälle eingearbeitet werden oder die Regel das Zimmer nicht vor dem Klingel verlassen zu dürfen, müsse für ungültig erklärt werden: Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 77. 928 Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 79. 929 Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 79. 930 J. Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberschreitenden Handel – mit Schlussfolgerungen für indirekte Steuern, 2008, S. 20. 931 Alexy, Nature (Fn. 899), S. 172. 932 Alexy, Nature (Fn. 899), S. 173. 933 Alexy, Nature (Fn. 899), S. 174. 934 Alexy, Nature (Fn. 899), S. 174. 923

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kollidieren935. Hierbei kommt es zu einer Abwägung, die nach Alexy in Anlehnung an Radbruch dahin zu lösen sein soll, dass die Rechtsgültigkeit bei extremem Unrecht der Gerechtigkeit weichen muss und unterhalb dieser Schwelle zwar defektes, aber gültiges Recht bleibt936. Die Prinzipientheorien im Allgemeinen aber vor allen Dingen bei Alexy und Dworkin enthalten naturrechtliche Komponenten. Prinzipien können dazu genutzt werden, in die Auslegung von Gesetzen normative Standards einfließen zu lassen, auch wenn diese vorher nicht explizit positiviert wurden937. Prinzipientheorien haben bei dem Versuch der nichtpositivistischen Rechtsbegriffs-Bestimmung den Vorteil, eine Alternative zu dem Begriff des Wertes gefunden zu haben bzw. zu nutzen938. b) Ralf Dreier Ralf Dreier stellt zunächst die These auf, dass die Kriterien der Adäquatheit des Rechtsbegriffs aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen herzuleiten ist939. Man könne unter dem Rechtsbegriff die Gesamtheit der Normen verstehen, die das äußere Verhalten von Menschen regeln940. Eine weitere Unterscheidung sei jedoch nicht möglich, da verschiedene Disziplinen den Begriff auf unterschiedliche Aspekte überprüfen. So müsse der Rechtsbegriff unter den folgenden Aspekten analysiert werden: Der Rechtsphilosophie, konkret der Rechtsethik, welche das Recht nach seiner moralischen Geltung untersuche, die Rechtssoziologie, die das Recht nach seiner sozialen Geltung überprüfe und die Rechtstheorie, die das Recht nach seiner rechtlichen Geltung untersuche941. Dreier, der sich der Betrachtung des Rechtsbegriffs von der Disziplin der Rechtstheorie aus nähert, glaubt, dass die Rechtsdogmatik eine primär richterorientierte 935

Alexy, Nature (Fn. 899), S. 174. Alexy, Nature (Fn. 899), S. 176. 937 Vgl. auch Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 47: „Trotz der gesetzlichen Regelung einzelner Prinzipien stellen sie die abschließende Positivierung von Recht in Frage. Sie erheben zum Teil den Anspruch, die Struktur hinter der Normsetzung selbst, also auf der Metaebene, zu erfassen. Die immer wieder auftretenden Gründe für die Existenz und die Anwendungsweise von Prinzipien im Recht deuten eine außergesetzliche Natur an. Damit ergibt sich prima facie ein Einwand gegen den Positivismus, der zugleich das zentrale Argument für Prinzipien darstellt [Herv. F.v.R.]. Dieser Prinzipieneinwand stellt im Kern auf die Vorstellung ab, der Rechtspositivismus könne durch seine Fixierung auf gesetzte Regeln nicht die Existenz von Rechtsprinzipien erklären. Diese würden vor allem der Moral entnommen und ließen sich in keiner Positivliste vollständig aufzählen. Die Prinzipien seien aber unentbehrlich für gerechte und praktische Entscheidungen und hätten in der gerichtlichen Praxis eine unverzichtbare Funktion.“ 938 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 195. 939 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 890. 940 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 894. 941 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 893 f. 936

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Disziplin sei und der Rechtsbegriff deshalb primär richterorientiert erarbeitet werden müsse942. Der Rechtsbegriff des Richters sei normativ, weil er die Kriterien festlege, nach denen der Richter eine Norm als rechtsverbindlich anzusehen habe943. „Der Rechtsbegriff des Richters ist der des rechtlich geltenden Rechts.“944 Die Rechtstheorie sei eine mehrdimensionale Disziplin, die die Untersuchungen empirisch, analytisch und normativ zu tätigen habe945. Die von Kelsen und Hart unterstützte Trennungstheorie sei insofern in sich unschlüssig, da sie ihre Theorien nur als deskriptiv beschrieben, dem Richter aber ebenso einen normativen Rechtsbegriff vorgäben, nämlich einen Rechtsbegriff mit Trennung zwischen Moral und Recht. Dreier hält dem Rechtspositivismus zwei entscheidende Argumente entgegen und lässt diese somit notwendigerweise in den Rechtsbegriff miteinfließen946. Das erste Argument sei das „Unrechtsargument“, welches in dem Rechtsbegriff in der Form widergespiegelt werde, als dass die Einzel-Normen nach der Radbruchschen Formel und das gesamte Normensystem nach der Krieleschen Formel zu behandeln sei947. Das andere überzeugende Argument gegen eine rechtspositivische Lehre sei das „Prinzipienargument“, wie es von Dworkin oder Alexy vertreten werde. Dieses besage, dass allen Rechtssystemen gewisse Prinzipien immanent seien, die aufgrund ihrer Struktur oder Geltungsbegründung den positivistischen Rechtsbegriff „sprengen“948. Basis dieser These stelle die strukturelle Differenz zwischen Regeln und Prinzipien dar949: Nach Dworkin seien Regeln auf eine alles oder nichts-Weise anwendbar, also Normen, welche aus Tatbestand und Rechtsfolge bestehen. Prinzipien seien nach Alexy hingegen Optimierungsangebote, weil sie auf die Realisierung bestimmter Rechtsfolgen gerichtet sind, wie etwa die positivierten Prinzipien der Staatszielbestimmungen im Grundgesetz, insbesondere das Rechtsstaats-, das Demokratie- und das Sozialstaatsprinzip950. Da das Prinzipienargument Antworten auf schwierige Fälle biete, sei dieses gegenüber dem Rechtspositivismus vorzuziehen. Daher definiert Dreier den Rechtsbegriff mit einem ethischen Minimalgehalt: „Recht ist die Gesamtheit der Normen, die zur Verfassung eines staatlich organisierten oder zwischenstaatlichen Normensystems gehören, sofern dieses im großen und ganzen sozial wirksam ist und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweist, und der Normen, die gemäß dieser Verfassung gesetzt sind, sofern sie, für sich genommen, ein Minimum an sozialer Wirksam 942

Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 894. Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 894. 944 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 894. 945 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 894. 946 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 891 ff. 947 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 891 f. 948 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 892. 949 Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 892 ff. 950 Alexy, Theorie (Fn. 923), S. 75. 943

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keit oder Wirksamkeitschance und ein Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit aufweisen.“951 c) Christian Thies Bei Christian Thies steht zunächst die Unterscheidung von objektiven und subjektiven Rechten im Vordergrund952. Objektive Rechte seien solche, die in einem bestimmten Verfahren in Kraft getreten, schriftlich festgehalten wurden, für jedermann einsehbar und staatlich durchsetzbar sind953. Subjektive Rechte hingegen seien individuelle Ansprüche der Menschen, die auch ohne ihre Normierung bestehen: Es gebe auch Rechte für Menschen, wenn sich diese nicht im Gesetz wiederfänden954. Es ginge hierbei um Rechte, die jedem Menschen zukommen sollten, da die Rechte eines Menschen ihre Grenzen an den Rechten eines anderen Menschen fänden955. Daher geht es im Grunde um die gegenseitige Anerkennung als Rechtsperson956. Recht und Moral verschwimmen hier, und aus diesem Ausgangspunkt zieht Christian Thies die These, dass die Rechtsordnung auf die Moral angewiesen sei957. Zunächst brauche die Rechtsordnung ein objektives Normensystem, das nicht festgeschrieben stünde, aber sich durch Tradition und Gewohnheit in einer Gesellschaft etabliere, wie etwa Brauchtum und soziale Konventionen958. Der Druck der eigenen Peergroup könne dabei meist mehr bewirken als Urteile959. Das soziale Umfeld und die darin befindlichen auch unausgesprochenen Regeln zeigen, dass sich eine Gesellschaft nicht nur nach niedergeschriebenen Gesetzestexten richtet. Solche moralischen Regeln könne man gar nicht alle in eine Gesetzesform gießen960. So sei das Verbot der Lüge nur in wenigen Gesetzen normiert, könne aber dieses moralische Gebot auch nicht allumfassend abdecken, ohne in der Konsequenz in eine Tugenddiktatur zu führen961. Auch zur Glaubwürdigkeit von Politikern und für eine gelungene Gemeinschaft bedürfe es der Überzeugung der Bürger von der Rechtsnorm und kein davon abgewendetes normkonformes Handeln962. Auch wenn diese beiden Aspekte mit dem Rechtspositivismus vereinbar seien, müsste ein weiterer entscheidender Punkt hinzutreten: So seien „moralische 951

Dreier, Begriff (Fn. 790), S. 986. Thies, Moral (Fn. 121), S. 10 ff. 953 Thies, Moral (Fn. 121), S. 9. 954 Thies, Moral (Fn. 121), S. 10. 955 Thies, Moral (Fn. 121), S. 12. 956 Thies, Moral (Fn. 121), S. 12. 957 Thies, Moral (Fn. 121), S. 12. 958 Thies, Moral (Fn. 121), S. 12 f. 959 Thies, Moral (Fn. 121), S. 13. 960 Thies, Moral (Fn. 121), S. 14. 961 Thies, Moral (Fn. 121), S. 14. 962 Thies, Moral (Fn. 121), S. 15. 952

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Grundsätze“ oder „normative Prinzipien“ Grundlage aller Normen, sowohl den geschriebenen als auch den moralischen Gesetzen, die das Fundament der Rechtsordnung bilden müssten963. Die Forderung Thies’, ein Rechtssystem müsse sich auf eine Art „Sittlichkeit“ stützen, ist ein überpositives Plus gegenüber dem Rechtspositivismus. Zu solchen Prinzipien zählt er beispielsweise neben der Goldenen Regel auch die christliche Nächstenliebe, die Menschenwürde nach Art. 1 GG oder Rawls Gerechtigkeitstheorien964. Diese Forderung sei dem Naturrecht zuzuordnen, auch wenn Thies diesen Begriff aufgrund des Naturbegriffes lieber meidet und den Begriff des Vernunftrechts nutzt965. Solche Prinzipien beschreibt Thies als universell auftretende Erscheinung. Die Regel, man dürfe nicht Richter in eigener Sache sein, scheint in der universellen Idee der Unparteilichkeit zu wurzeln966. Kauf und Tausch lägen dem Prinzip der Gegenseitigkeit zu Grunde, die ebenfalls universell vorhanden sei967. Solche Regeln bezeichnet Thies als prozedurale Prinzipien, an denen sich das eigene Rechtssystem messen lassen müsse968. Hinzu kämen materielle Grundprinzipien, wie etwa das Prinzip der Menschenwürde969. Nach Thies ist gegen den Rechtspositivismus als reine rechtswissenschaft­liche Betrachtung des bestehenden Rechtssystems nichts einzuwenden970. Aber der Rechtspositivismus habe dort einen entscheidenden Nachteil, wo er den Horizont nach außen weiten müsste. Genau dies aber müssten die rechtspositivistischen Theorien verstärkt tun, wenn sie beispielweise die Frage beantworten wollten, warum es überhaupt Recht geben sollte971. Thies kritisiert, der Rechtspositivismus habe Probleme, die eigene Existenz des Rechts ohne Rechtsethik zu begründen972. Hobbes habe die Pflicht des Staates in der Gesetzgebung gesehen, um den Menschen in seiner Individualität zu schützen und so den „Naturzustand“ zu verlassen, weshalb dieser nicht als Rechtspositivist bezeichnet werden könne973. Eine zweite Schwäche sei, dass der Rechtspositivismus nicht begründen könne, warum er besser als eine andere Rechtsordnung sei974. Der Rechtspositivismus könne weiter keine Rechtsbefolgung und kein Widerstandsrecht, wie etwa den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, begründen975.

963

Thies, Moral (Fn. 121), S. 13 ff. Thies, Moral (Fn. 121), S. 14. 965 Thies, Moral (Fn. 121), S. 16. 966 Thies, Moral (Fn. 121), S. 25. 967 Thies, Moral (Fn. 121), S. 26. 968 Thies, Moral (Fn. 121), S. 26. 969 Thies, Moral (Fn. 121), S. 27. 970 Thies, Moral (Fn. 121), S. 19. 971 Thies, Moral (Fn. 121), S. 20. 972 Thies, Moral (Fn. 121), S. 20. 973 Thies, Moral (Fn. 121), S. 20. 974 Thies, Moral (Fn. 121), S. 20. 975 Thies, Moral (Fn. 121), S. 22 f. 964

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Dabei würde sich Thies selbst nicht als Anhänger des Naturrechts bezeichnen. Er selbst sieht den Versuch zur Entwicklung von unanfechtbaren Prinzipen, welche der Kritik am positiven Recht dienen und in das Rechtssystem verankert werden sollen, als „modernes Äquivalent zum Naturrecht“976. d) Christiane Freund Christiane Freund erkennt zwar an, dass einzelne Normen keine zwingende ethische Überzeugung enthalten, aber doch begründe sich eine Rechtsordnung im Ganzen immer auf die Grundannahme, das richtige und gerechte Recht vorzuschreiben977. Deshalb könnten einzelnen Rechtsnormen zwar als ungerecht bezeichnet werden, ganze Rechtsordnungen allerdings erheben immer den Anspruch darauf, ein richtiges und gerechtes System zu sein978. Der Anspruch und der Wille einer gesamten Rechtsordnung, gerecht zu sein, sage freilich noch nichts darüber aus, ob eine solche Rechtsordnung an überstaatlichen Prinzipien gemessen so bezeichnet werden könne979. Das heißt für Freund im Umkehrschluss, die rechtsphilosophische Frage nach dem Rechtsbegriff stellt sich für die Gesetzesgewalt gar nicht, da sie durch die Rechtsordnung bereits für sich entschieden habe, dass die Normen gültig, richtig und gerecht seien980. Dies würde deutlich mit Blick auf die deutsche Rechtsordnung: Wenn Art. 20 Abs. 3 GG den Gesetzgeber an „Gesetz und Recht“ bindet, habe sich der Staat eben auch an die Idee der Gerechtigkeit gebunden981. Dadurch versuche das Grund­ gesetz die Gefahr eines ungerechten Gesetzes zu verbannen, indem das Prinzip der Gerechtigkeit als allgemeiner Gedanke neben einzelnen Gesetzen berücksichtigt werde und als Leitbild dienen solle982. Sobald ein Staat sich eine Rechtsordnung gebe, strebe dieser „eine mit den überstaatlichen Rechtsgrundsätzen übereinstimmende positive Rechtsordnung an“.983 Die Verpflichtung, auf das Ziel einer gerechten Rechtsordnung hinzuarbeiten, gelte zunächst auch für Richter984. Freund unterscheidet zwischen der Verpflichtung des Richters gegenüber dem Staat und gegenüber dem Bürger. Gegenüber dem Staat sei der Richter verpflichtet, die Gesetze nach dem Maßstab innerstaatlich anerkannter Rechtsgrundsätze anzuwenden985. Gegenüber dem Bürger, der 976

Thies, Moral (Fn. 121), S. 24. Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 199. 978 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 199. 979 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 199. 980 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 199. 981 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 199. 982 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 199. 983 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 200. 984 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 201. 985 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 201. 977

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dem Recht unterworfen sei, müsse der Richter seine Gewaltbefugnis so ausüben, dass es dem überstaatlichen Ziel der gerechten Rechtsordnung diene986. „Rechtspflichten des Richters aus übergesetzlichen Prinzipien des Rechts bestehen damit gegenüber dem einzelnen Bürger, nicht aber gegenüber dem Staat, der dem Richter die Rechtsprechungsgewalt verleiht.“987 e) Offen naturrechtliche Argumentation der Prinzipientheorie Die Diskurstheorie hat keine zwangsläufige inhaltliche Verbindung zur Naturrechtstheorie. Für Robert Alexy ist das einzige was die Diskurstheorie mit der Naturrechtstheorie verbindet, die Natur des Menschen als gemeinsames Element988. Aber seine Theorie über die Natur des Rechts erschöpft sich nicht in der Diskurstheorie, denn in der rechtswissenschaftlichen Diskussion müsse der Rechtsanwender sich zudem Prinzipien bedienen. Auch wenn manche Vertreter ihr Prinzipienmodell als dritten Weg bezeichnen, so lassen sich hierin naturrechtliche Argumentationen wiederfinden989. Robert Alexy betont die Doppelnatur des Gesetzes und setzt dem Recht neben einem faktischen Element auch das Element eines moralischen Anspruchs gegenüber. Rechtssicherheit und Gerechtigkeit müssten gegeneinander abgewogen werden, wodurch die Abwägung in extremen Fällen für die Gerechtigkeit ausfallen könne. Die Begründung, was gerecht ist, folgt keiner beweisbaren Theorie, sondern der Diskurstheorie, die jedoch wiederum von einer vernunftbegabten und freien Natur des Menschen ausgeht. Das moderne Naturrecht ist begründungsoffen, und doch wird der Naturrechtsbegriff von Alexy bewusst gemieden. Er beschreibt die 986

Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 201. Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 201. 988 R. Alexy, Diskurstheorie und Menschenrechte (1995), in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, 1995, S. 127 (141). 989 Für Alexander Heinold „könnte es sich in Wahrheit um eine Variante der Nicht-trennungs­ these handeln, also der mit dem Naturrecht verbundenen Vorstellung, dass die Sphären von Recht und Moral nicht auseinanderzuhalten sind.“ Nach Heinold beschäftigen sich diese Theorien, ebenso wie das Naturrecht, auch mit der objektiven Wahrheit und Richtigkeit von Recht und müssen dabei auf überpositives Recht zurückgreifen. „Die immer wieder auftretenden Gründe für die Existenz und die Anwendungsweise von Prinzipien im Recht deuten eine außergesetzliche Natur an; Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 46. Zudem enthalten die hieraus abgeleiteten Menschenrechte ebenfalls einen Anspruch auf Universalität und werden der Vernunft entnommen. Daher sieht Friedrich Lohmann den Grund für Alexys Aussage über das Naturrecht eher einer generellen Skepsis aktueller Menschenrechtstheoretiker gegenüber der Naturrechtstradition geschuldet: F. Lohmann, Zwischen Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte, 2002, S. 273. Der Stellenwert seines Ansatzes für die Naturrechts­vertreter wird deutlich, wenn Jonathan Crowe Robert Alexy zu den führenden zeitgenössischen Philosophen zählt, welche in der Tradition des Naturrechts arbeiten; J. Crowe, Natural Law Theories, in: Philosophy Compass 2016, S. 91 (92). 987

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Naturrechtstheorie als eine Theorie des Nichtpositivismus990. Falsch ist das nicht, doch verstärkt es den Eindruck, das Naturrecht begrifflich meiden zu wollen, es aber inhaltlich anzuwenden. Gerechtigkeit und Fairness werden häufig als Prinzipien angesehen, die nach der objektiven Wahrheit suchen und somit den objektiven kritischen Maßstab an geltendes positiviertes Recht darstellen991. Prinzipien, wie eben solche der Gerechtigkeit, sind eng mit der Frage der Moral verknüpft, die der Rechtspositivismus zwingend von der Frage des Rechts getrennt haben möchte. Man kann in den Prinzipientheorien eine wiedererstarkte naturrechtliche Rechtstheorie sehen, die aufgrund ihrer Unterscheidung von Regeln und Prinzipien eine neue Form der altbekannten Herangehensweise der Heranziehung von objektiven Maßstäben zur kritischen Auseinandersetzung bis hin zur prinzipienbasierten Auslegung von Normen darstellt992. Prinzipien können dadurch auch formell zustande gekommene, aber ungerechte Normen entkräften993.

4. Naturrechtliche Grenzen im Strafrecht Auch für das Strafrecht lässt sich ein Nutzen naturrechtlicher Argumentationen finden. Gerade im Hinblick auf die Untersuchung zur Befolgung von Gesetzen durch die Bürger als auch für die Frage der legitimen Gesetzgebung bzgl. strafbewährten Verhaltens den Bürgern gegenüber lässt sich das Naturrechtsdenken finden. Winfried Hassemer glaubt, dass besonders das Strafrecht naturrechtliche Überlegungen und Grundlagen benötige. Im Eingriffsrecht, wie dem Strafrecht oder Strafverfahrensrecht, seien Grundätze wie Abwägungen oder Funktionalisierung gefährlich994. Vielmehr dürfe die Idee der Unverfügbarkeit nicht verloren gehen995. a) Lutz Eidam Auch Lutz Eidam sieht, insbesondere für die Strafjustiz, im Naturrecht noch immer ein hilfreiches Mittel996. Zentraler und ein nicht zu vernachlässigender Punkt Eidams ist die „Verblassung“ der „sittlich-rechtlichen Überzeugung […] des positi 990

Vgl. Alexy, Nature (Fn. 899), S. 176. Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 45. 992 Ähnlich J.-R. Sieckmann, Regelmodell und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990, S. 13; Jan-Reinard Sieckmann erkennt philosophische Entwicklungen, die den naturrechtlichen Theorien wieder Aufschwung geben könnten. 993 Sieckmann, Regelmodell (Fn. 992), S. 256. 994 Hassemer, Strafprozeß (Fn. 101), S. 192. 995 Hassemer, Strafprozeß (Fn. 101), S. 192. 996 Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 21. 991

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ven Rechts“ heutzutage997. Die Überdehnung des positiven Rechts zu einer „allgemeinen Rechtsgläubigkeit“ könne zur Hemmung eigenverantwortlichen Handelns führen998. Nach Eidam bestehe die Gefahr der „ideellen Austrocknung“ des Bürgers und des Juristenstandes999. Vernachlässigt die rechtspositivistische Dogmatik die idealen Werte des Rechts, dann besteht die Gefahr, „dass ein Paragraphenwerk allzu leicht in formaler Begriffslogik erstarrt.“1000 Dem positiven Recht fehle ein ideeller Hintergrund und damit auch die Akzeptanz. Am Beispiel der strafrechtlichen Sanktionen bei der Verwendung der Babyklappe führt er aus, warum das Strafrecht seiner Meinung nach weiterhin zwingend auf Naturrechtsdenken angewiesen sei1001. Um die verzweifelte Lage zu verdeutlichen, beschreibt Eidam zunächst eine aus sozial schwachem Umfeld stammende schwangere junge Frau. Von ihren eigenen Problemen geplagt, verzweifelt die Frau nach der Geburt, die sie heimlich und ohne Hilfe durchgeführt hat. Um Schlimmeres in solchen Fällen zu verhindern, existieren zum Wohl des Babys sog. Baby­k lappen. Dieses Konzept soll es der Frau zum Schutz des Kindes ermöglichen, das Kind anonym und ohne Konsequenzen zu fürchten, abgeben zu können. Das Kind wird umsorgt und der Frau soll zunächst die Möglichkeit und Zeit gegeben werden, sich um sich selbst zu kümmern. Das Konzept sieht in erster Linie vor, beide getrennt zu betreuen und mit weiteren Hilfestellungen wieder zusammenzuführen. Sollte die Annäherung scheitern, wird ein Adoptionsprozess eingeleitet. Eidam führt aus, dass nach der h. M. die Personenstandsunterdrückung nach § 169 StGB verwirklicht sein soll, wenn eine Mutter ihr Kind zur Babyklappe gibt und es so nicht zu einer Meldung der Abstammungsverhältnisse kommt. § 169 StGB soll dazu dienen, die Abstammungsverhältnisses der neugeborenen Kinder zu ordnen. Eine Garantenpflicht der Mutter würde aus § 19 Nr. 1 PStG begründet, weshalb mehrheitlich die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 169 Abs. 1 Var. 3 StGB durch Unterlassen bejaht werden würden1002. Nicht Wenige würden zudem eine Strafbarkeit aus § 170 StGB (Verletzung der Unterhaltspflicht) herleiten, da sich die Täterin durch das Ablegen des Babys vor der Babyklappe der Unterhaltspflicht entziehe1003. Hier sei es notwendig, in die Diskussion naturrechtliche Überlegungen einfließen zu lassen, um die teilweise notwendige Hilfestellung dieser Institution nicht zu untergraben und groteske Rechtsergebnisse zu vermeiden. Selbst dann, so Eidam, wenn das Verfassungsrecht einige „Köcher“ für dieses Problem bereithalte, fehle es offensichtlich bei vielen schon an dem Problembewusstsein und so würde sich 997

Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 21. Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 21. 999 Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 22. 1000 Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 21 f. 1001 Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 23. 1002 W. Hassemer / L. Eidam, Babyklappen und Grundgesetz. Am Beispiel des Projekts „Findel­ baby“ in Hamburg, 2011, S. 31. 1003 Hassemer / Eidam, Babyklappen (Fn. 1002), S. 32. 998

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häufig auf das einfache, positive Recht gestützt. Letztlich bleibe unterhalb der Ebene der Verfassung eine ungewöhnlich unsichere Rechtslage, dass dieses Recht auf Kontrolle und nicht auf Lebensschutz konzentriert sei1004. Daher stellt Eidam die These auf, nichtpositivistische Erwägungen können zum Hinterfragen des positiven Rechts nützlich sein. b) Kristian Kühl Kristian Kühl beschäftigt sich mit den naturrechtlichen Grenzen strafwürdigen Verhaltens und unterscheidet hierbei die Frage nach der Strafbedürftigkeit und der Strafwürdigkeit1005. Für die Strafbedürftigkeit könne das Naturrecht keinen Mehrwert leisten, da hier empirisch arbeitende Sozialwissenschaften und praktische Urteilskraft gefragt seien1006. Es geht bei der Frage um die Strafbedürftigkeit um den Hintergrund rechtspolitischer Entscheidung, die sich mit der Notwendigkeit von Strafandrohung beschäftigt. Diese rechtspolitische Erwägung befasst sich nur mit der Angemessenheit und Notwendigkeit von Strafandrohung. Für die Frage nach der Strafwürdigkeit eines Verhaltens kann nach Kühl hingegen auf das Naturrecht zurückgegriffen werden. Die Frage nach der Legitimität von Strafvorschriften ginge über den Rechtspositivismus hinaus1007. Zum einen ließen sich überpositive Argumente den positiven Verfassungen „anhängen“ und so erheblichen Einfluss auf die einzelnen Rechtssysteme ausüben1008. Vor allem aber können sich aus dem Naturrecht kriminalpolitische Forderungen ergeben, die an den Gesetzgeber gerichtet seien1009. Für die Frage der staatlichen „Erzwingbarkeit“ bezieht sich Kühl auf die Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten nach Kant. Danach sind Rechtspflichten solche, die der Gesetzgeber im Gegensatz zu Tugendpflichten erlassen könne1010. Rechtspflichten könnten durch äußere Triebfedern und daher durch staatlichen Zwang erreicht werden, die Befolgung von Tugendpflichten könnten hingegen höchstens durch Selbstzwang erfüllt werden1011. Diese Trennung folgt bereits aus Kants Erkenntnis, dass Legalität nicht mit Moral gleichgesetzt werden kann. So können auch Vernunftrechtsgesetze von ihren Adressaten nur die 1004

Hassemer / Eidam, Babyklappen (Fn. 1002), S. 101. K. Kühl, Naturrechtliche Grenzen strafwürdigen Verhaltens (1995), in: ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 223 (223). 1006 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 223. 1007 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 223. 1008 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 224. 1009 Beispiele solcher kriminalpolitischen Forderungen seien die Diskussionen über die Abschaffung von § 216 StGB (Tötung auf Verlangen); Verschärfungen der Abtreibungsregelungen (§ 218 StGB) oder Einführung von Strafnormen bzgl. Genmanipulationen; Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 224. 1010 Vgl. Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 233. 1011 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 223. 1005

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äußere Befolgung verlangen und dies unabhängig davon, durch welche Triebfeder dies veranlasst wird1012. Eine Befolgung aus Pflicht aber kann nicht vorgeschrieben werden, da diese Möglichkeit nur der Moral vorbehalten sei1013. Des Weiteren könne mit Kant zwischen zwei Pflichtzwecken unterschieden werden: Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegenüber anderen1014. So zähle das sittliche Verbot der Selbsttötung nach Kant zur moralischen Pflicht gegen sich selbst, da die Erhaltung des eigenen Lebens keine Rechtspflicht sei1015. Hieraus folgert Kühl auch einen kritischen Umgang mit der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen. Diese übergehe das Selbstbestimmungsrecht des Todeswilligen, ohne dass der Schutz anderer erreicht werden könne1016. Wenn aber nur Rechtspflichten erzwungen werden können und Tugendpflichten nur moralisch verpflichtend seien und demnach nicht durch staatlichen Zwang erreicht werden können, dann kann man an das Befolgen solcher Tugendpflichten (wie das Unterlassen der Selbsttötung) nur appellieren, sie aber nicht gesetzlich einfordern. In diesem Sinne würde eine Trennung zwischen Recht und Moral einen normativen Anspruch an das Strafrecht erheben, gewisse Handlungen nicht erzwingen zu wollen1017. Die Existenz einer Werteordnung als naturrechtliche Form lehnt Kühl mit dem Hinweis auf die fehlende Allgemeingültigkeit von Werten ab1018. „Jeder Naturrechtsentwurf, der beansprucht, eine hinreichend konkrete, wesentliche Belange des Gemeinschaftslebens exakt regelnde Ordnung vorstellen zu können, ist notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Vielmehr muss sich das Naturrechtsdenken auf Grundsätze beschränken, die erst durch politische Geschichtlichkeit und Urteilskraft im Blick auf die sich ändernde soziale Wirklichkeit zu konkreten Rechtssätzen umgesetzt werden können. Naturrecht kann nur die rationale Wissenschaft der Prinzipien einer gerechten Ordnung sein und deshalb lediglich einen ‚Probierstein‘ für positives Recht einer Rechtsordnung zur Verfügung stellen.“1019 Kühl verdeutlicht, dass er ein überzeitliches und ungeschichtliches Naturrecht ablehnt. Ein modernes Verständnis des Naturrechts aber könne diese Aufgabe lösen, indem es sich zum Schutz und Ausgleich der Freiheit des Menschen des kantischen Rechtsprinzips bediene. Eine solches Prinzip achte die wechselseitige 1012

Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 229. Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 229. 1014 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 236. 1015 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 237. 1016 Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 237 f. 1017 Kühl unterlässt hier eine Verhältnisbestimmung zwischen Moral und Recht, sieht aber im Verhältnis von Sexualstrafrecht und Sexualmoral ein moralisierendes Strafrecht als ein legitimes Rechtssystem an; Kühl, Grenzen (Fn. 1005), S. 236. 1018 Durch Werte immunisiere man sich gegen Kritik und es bestehe zudem die Gefahr, die Freiheitsrechte des einzelnen stärker einzuschränken als dies zum Schutz der Freiheit anderer erforderlich sei; Kühl, Aufgaben (Fn. 174), S. 169 f. 1019 Kühl, Aufgaben (Fn. 174), S. 171 f. 1013

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Freiheit, welche „auf der nicht zu beweisenden Vernunftsidee der Verpflichtung“ beruhe1020. Aber aus einem auf das Rechtsprinzip beschränktes Naturrecht lassen sich auch soziale Forderungen begründen: Die Freiheit, privat über Sachen zu verfügen, verlange zum Schutz der Freiheit anderer die Positivierung eines gerechten Wettbewerbsrechts und Arbeitsrechts1021. Aufgrund der Freiheitssicherung der Menschen bedürfe das Rechtsprinzip einer Modifizierung: Zwischen den Generationen bestünde eine „solidarische Gemeinschaft“, die gerade im Hinblick auf Umweltschutz die Berücksichtigung der Interessen der zukünftigen Generation fordere1022.

5. Der Naturrechtsgedanke im Privatrecht Nachdem einige Rechtswissenschaftler naturrechtliche Einflüsse auf gegenwärtige Bereiche im Völkerrecht (Menschenrechte) und im Strafrecht befürwortet haben, setzt sich Alexander Hellgardt für eine normativ verstandene Privatrechtstheorie ein. a) Alexander Hellgardt Für die Frage nach der Motivation und Begründung staatlicher Regulierung des Privatrechts stünden sich zwei Privatrechtstheorien gegenüber, die sog. prinzipienorientierte Privatrechtstheorie, welche als überwiegende Meinung in Deutschland vertreten sei, und die sog. folgenorientierte Privatrechtstheorie, wie sie überwiegend in den USA vertreten werde1023. Die unterschiedlichen Verständnisse sind auf eine unterschiedliche Ansicht darüber zurückzuführen, welche Aufgabe dem Staat durch sein Gewaltmonopol bei der Regulierung des Privatrechts zukommt. Der prinzipienbasierende Ansatz beziehe sich immer auf Werte und Begriffe, wie etwa die Freiheit und die Privatautonomie und gehe von der „Einheit der Rechtsordnung“ aus1024. Die prinzipienorientierte Privatrechtstheorie versuche dabei die abstrakten Rechtsnormen konkret anzuwenden und die „richtige Lösung im Einzelfall“ zu finden, indem sie abstrakte Prinzipien anwende1025. „Prinzipienorientierte Privatrechtstheorie bewerteten das Recht regelmäßig anhand von Gerechtigkeitskriterien.“1026 Die folgenorientierte Privatrechtstheorie hingegen gehe von der Idee aus, das Verhalten der Menschen durch Hoheitsmittel zu beeinflus 1020

Kühl, Aufgaben (Fn. 174), S. 171. Kühl, Aufgaben (Fn. 174), S. 174. 1022 Kühl, Aufgaben (Fn. 174), S. 181. 1023 A. Hellgardt, Regulierung und Privatrecht. Staatliche Verhaltenssteuerung mittels Privatrecht und ihre Bedeutung für Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsanwendung, 2016, S. 365 f. 1024 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 366. 1025 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 367. 1026 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 367. 1021

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sen1027. Diese Theorie ginge zur Sicherung von Lebensumständen von erwarteten Auswirkungen und Reaktionen aus, die die Gesetze bei den Bürgern hervorrufen1028. Häufig werde diese Ansicht von einem Gesetzgeber bei der Überarbeitung privatrechtlicher Gesetzbücher zum Schutz der Menschen eingenommen. Für Hellgardt aber überzeugt keine der beiden Theorien allein. Die prinzipienorientierte Privatrechtstheorie könne den gesetzgeberischen Willen einer Norm vernachlässigen1029. Auf der anderen Seite vernachlässige die folgenorientierte Privatrechtstheorie die normative Dimension des Rechts: Eine solche Theorie könne den Unterschied zwischen Staat und Räuberbande nicht erklären1030. Daher müssten beide Theorien für einen privatrechtlichen Ansatz miteinander verbunden werden1031. Die Funktion des Privatrechts sei zwischen einer prinzipienbasierten und einer folgeorientierten Ansicht zu suchen und sei u. a. auf die Regulierung gerichtet1032. „Die Regulierungsfunktion des Privatrechts im Speziellen bezeichnet den instrumentellen Einsatz staatlichen Privatrechts mit einer über den Einzelfall hinausreichenden, politischen Steuerungsintension im Allgemeinwohlinteresse.“1033 Für Hellgardt enthält das Privatrecht neben der Interessensausgleichs- und der Infrastrukturfunktion auch die Regulierungsfunktion1034. Zwar werde die Regulierungsfunktion durch den politischen Willen gesteuert, dieser dürfe aber dabei zumindest nicht auf Prinzipien – wie beispielsweise das Gerechtigkeitsprinzip – verzichten. Der Gesetzgeber ist auch nach dieser vereinten Rechtstheorie über die Prinzipien bei der Regulierung als gesetzgeberischer Akt der Rechtsetzung nicht völlig frei in seinen Entscheidungen. Dieser Ansatz eröffnet ähnlich wie die Radbruchsche Formel die Möglichkeit, den Gesetzgeber an ganz bestimmte ethische Maßstäbe zu binden. Inwieweit der Gesetzgeber aber de facto in seiner Verfügbarkeit begrenzt ist, kann hier nicht herausgelesen werden. Immerhin wird die Funktion des Rechts auch in der Frage der Regulierung als prinzipienorientiert beschrieben, was einen Anspruch an den Rechtsbegriff formuliert. b) Matthias Wendland Matthias Wendland untersucht die rechtsphilosophische Grundlage des Mediationsverfahrens und versteht das Naturrecht als „Grundparadigma der objektiven Rechtsordnung“1035. Grundlage seiner Überlegungen zur naturrechtlichen Prägung 1027

Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 369. Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 369. 1029 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 380. 1030 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 381. 1031 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 379. 1032 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 387. 1033 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 387. 1034 Hellgardt, Regulierung (Fn. 1023), S. 387. 1035 M. Wendland, Mediation und Zivilprozess. Dogmatische Grundlagen einer allgemeinen Konfliktbehandlungslehre, 2017, S. 114. 1028

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der Rechtsordnungen bildet das Verständnis, dass das Recht auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit gerichtet sei1036. Die Legitimation des Rechts speise sich daher in dem Maße aus der materiellen Gerechtigkeit, als dass das Recht der materiellen Gerechtigkeit entspreche1037. Dieses Rechtsverständnis ergebe sich aus der aristotelischen-thomanischen Perspektive, in der nach Thomas von Aquin das gesetzte Recht am natürlichen Recht gemessen wird und präge das Grundverständnis des Rechts bis heute1038. Aufgrund der Rechtssicherheit aber würden sich im Zuge der Radbruchschen Formel Einschränkungen dieses Grundsatzes ergeben1039. Eine solche „Korrektur“ von Recht durch informale Billigkeit, wie sie besonders von der Rechtsprechung ausgeübt werde, bilde eine „immanente Grundstruktur“1040. Hierunter sind Wertvorstellungen zu verstehen, die sich möglicherweise nicht aus dem Wortlaut einer Norm entnehmen lassen, sich aber als bewertendes Element und als Erkenntnis dem Gesetz „immanent“ entnehmen lassen1041. Eine materielle Wertung und daher eine Durchbrechung eines strengen Formalrechts stellt beispielsweise die Einzelfallgerechtigkeit dar, die als modernes Verständnis einer immanenten Struktur des Privatrechts verstanden werden kann: Eine Korrektur sei immer dann notwendig, wenn ein Gesetz oder ein Vertrag dieser immanenten Grundstruktur entbehrt und demnach den Gerechtigkeitsansprüchen nicht gerecht wird. Beispiele für eine solche rechtliche Korrektur seitens des Gesetzgebers im Privatrecht sieht Wendland in der „Durchbrechung“ richterlicher Inhaltskontrollen, wie der AGB-Prüfung, in dem Wegfall der Geschäftsgrundlage oder der Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts als Wucher, wodurch das naturrechtlich geprägte Gerechtigkeitsverständnis in der Privatrechtsordnung deutlich werde1042. „Der deutschen Privatrechtsordnung liegt in seiner Genese, seinem Wesen und seiner praktischen Ausformung damit deutlich ein naturrechtliches Verständnis von Recht und Gerechtigkeit zugrunde, weil sie – wie bereits in der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gerechtigkeit gem. Art. 20 Abs. 3 GG deutlich wird – das Recht der Autorität der Gerechtigkeit als letzte Instanz und entscheidender Maßstab unterstellt. Recht ist immer auch Naturrecht, weil es das Prinzip der Billigkeit enthält.“1043 „Recht ist damit stets auf die Verwirklichung der – nur überpositiv zu denkender, der Verfügung des Staates wie des einzelnen entzogenen – Gerechtigkeit gerichtet.“1044 1036

Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 114. Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 115. 1038 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 115. 1039 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 116. 1040 Diese immanente Grundstruktur habe es „durch alle Zeiten und Kulturen hinweg“ gegeben; Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 116. 1041 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 116. 1042 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 117. 1043 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 117. 1044 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 117. 1037

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Dieses naturrechtliche Grundparadigma müsse notwendigerweise in anwendbares Recht umgesetzt werden1045. Für die Transformation in positives Recht unterscheidet Wendland zwei Gerechtigkeitskonzeptionen: Der formale Gerechtigkeitsanspruch sei verwirklicht, wenn das Recht oder der Vertrag frei zustande gekommen sei und die Verhandlung als gerecht angesehen werden könne. Eine inhaltliche Bewertung finde hier zunächst nicht statt, sondern würde subsidiär durch eine materielle Gerechtigkeitskonzeption vorgenommen. Dies erklärt sich für Wendland dadurch, dass den Parteien ein Vertrauensvorschuss durch die Rechtsordnung zugestanden werde, welche zunächst davon ausginge, dass die Parteien eine gerechte Regelung treffen würden1046. Auch diese Tatsache sieht er in der aristotelischen-thomanischen Gerechtigkeitstheorie begründet. Die Parteien könnten durch ihre praktische Vernunft die materiellen Gerechtigkeitsaspekte erkennen1047. Sollten die Parteien Verhandlungsergebnisse erzielen, die aufgrund mangelnder Information oder durch Wahrnehmungsverzerrung als unbillig einzustufen seien, so sei die Vermutung der Richtigkeit widerlegt1048. Das Mediationsverfahren füge sich hier mühelos in das naturrechtlich geprägte Verständnis der Privatrechtsordnung ein1049. „Im Rahmen des Mediationsverfahrens schöpfen die Parteien regelmäßig aus den der Rechtsordnung immanenten überpositiven Wertgrundsätzen, um ein dieser Wertordnung entsprechendes und damit materiell gerechtes Verhandlungsergebnis herbeizuführen.“1050 Matthias Wendland analysiert die Begründung objektiver Rechtsordnung und erkennt naturrechtliche Argumente als ihre Grundlage an. Seine Analyse bezieht sich dabei auf eine Betrachtungsweise des gegenwärtigen Verständnisses der Rechtsordnung. Dennoch setzt er überpositive Gerechtigkeitsaspekte sowie ein vernunftbegabtes Menschenbild voraus.

6. Zwischenfazit In der Darstellung der deutschsprachigen Vertreter eines zumindest minimalen Naturrechtsanspruchs an den Rechtsbegriff, die Funktionalität des Rechts oder die Aufgabe des Gesetzgebers wird deutlich, dass sich solche Annährungen nicht auf ein Rechtsgebiet beschränken. Die verschiedenen Ansätze beziehen sich zum Teil auf die Natur des Rechts und die Konstitution des Gesetzesbegriffes sowie ihre Anforderungen an ein willkürfreies Gesetz. Aber das Naturrecht fließt auch in rechtspolitische Erwägungen innerhalb des Strafrechts mit ein oder in theoretische Abhandlungen über den Erwägungsgrund gesetzgeberischer Gestaltung im 1045

Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 118. Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 119. 1047 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 119. 1048 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 120. 1049 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 123. 1050 Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 130. 1046

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

Privatrecht bis hin zum Mediationsverfahren. Ebenso ist auf die Notwendigkeit naturrechtlicher Argumentation abseits nationaler Normen wie den Menschenrechten hingewiesen worden. Hieraus lassen sich folgende Erkenntnisse für die gegenwärtigen Naturrechtstheorien festhalten: Wie aufgezeigt, unterliegt der Begriff des Naturrechts in seiner Bedeutung seit jeher einem Wandel. Daher versucht die vorliegende Arbeit einen kleinen gemeinsamen Nenner des Naturrechtsverständnisses zu formulieren. Die Zusammenfassung setzt die folgenden Eigenschaften als zwangsläufige Voraussetzung zur Klassifizierung einer Naturrechtstheorie voraus: (a)  universell geltend, (b)  vorstaatlich, (c) auf individuelle oder gemeinschaftliche Ordnung gerichtet, (d) nicht zwingender Rechtskraftverlust und (e) als Kritikmaßstab für das positive Recht. Vorstaatlich ist eine Ordnung, wenn sie nicht erst durch staatlich gebildete Gremien verabschiedet oder anerkannt wird, und meint daher die Entziehung der universellen Normen durch die Mehrheitsmeinung und Einigung. Als gemeinsamer Nenner der Grundvoraussetzung des Naturrechtsverständnis ist daher aber nicht ausgeschlossen, dass Theorien über diesen Inhalt hinaus sehr wohl den Verlust der Rechtskraft für naturrechtsverletzende Gesetze fordern. Wenn Christian Thies vorschlägt, unanfechtbare normative Prinzipien zu entwickeln, welche als Kritik am positiven Recht dienen und in das Rechtssystem verankert werden sollen, dann enthält sein Vorschlag alle wesentlichen Voraussetzungen des Naturrechts und kann nicht nur als „Äquivalent zum Naturrecht“ bezeichnet werden. Thies würde sich selbst nicht als Naturrechtler bezeichnen, was aber zeigt, dass Thies unter dem Naturrecht etwas anderes versteht, von dem er glaubt, dass sich seine Theorie nicht unwesentlich davon unterscheidet. Dazu gehört, dass dem Naturrecht heutzutage fälschlicherweise noch traditionelle Merkmale zugeschrieben werden. Ähnlich wie viele Theorien das Naturrecht in seiner Geltung nicht mehr zwangsläufig über das positive Gesetz stellen, vertreten auch viele die Zeitlosigkeit des Naturrechts als immer gleich geltende exakte Handlungsvorgabe nicht mehr1051. Hierin ist auch kein Widerspruch zu sehen: „Nicht die Idee eines überpositiven Rechts ist verschwunden, sondern nur die Erwartung von dessen überzeitlicher und überkultureller Geltung.“1052 Johann Braun sieht das Recht in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich interpretiert, da das Recht zwangsläufig auf die verschiedenen Gegebenheiten eingehen müsse. Eine gemeinsame Rechtsidee könne dadurch aber nicht bestritten werden1053.

1051

Llompart fordert sogar ein Naturrechtsverständnis, welches die Geschichtlichkeit nicht als Fremdkörper ansieht; J. Llompart, Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts, 1993, S. 50. 1052 Hassemer, Strafprozeß (Fn. 101), S. 192. 1053 Braun, Rechtsrelativismus (Fn. 6), S. 266.

III. Deutschsprachige Naturrechtsströmungen der Gegenwart 

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a) Universalismus als Gegensatz zum Partikularismus Auch für Arthur Kaufmann ist das Recht geschichtlich und kein bloßes Faktum in der Zeit1054. Durch Kaufmanns Naturrechtsdenken wird eine wichtige Tatsache über die Ansicht der Geschichtlichkeit des Naturrechts sichtbar. Das Naturrecht kann als ein wandelbares und sich veränderndes Recht verstanden werden. Auch wenn sich konkrete Handlungen nicht in jeder Zeit und in jeder Situation einfach am Naturrecht ablesen lassen, lässt sich das Gesetz an naturrechtlichen Prinzipien ausrichten. Der Anspruch an ein universales Recht geht hierbei aber nicht verloren! Dieser Hinweis ist wichtig, denn man könnte fälschlicherweise zu dem Schluss kommen, dass die Geschichtlichkeit des Rechts nicht mit einem Universalisierungsanspruch zusammenpasst. Wenn das Recht historischen Schwankungen unterliegt, dann müsste auch die Verneinung eines kulturellen Absolutismus zur Verneinung eines Universalismus führen. Zu dem Schluss kann derjenigen gelangen, welcher unter der Universalität die zeitliche und räumliche Unveränderbarkeit eines ganzen Rechtssystems verstehen sollte. Das würde dann dazu führen, dass das Naturrechtsdenken Kaufmanns und anderer Philosophen nicht unter die Definition des Naturrechts als kleinsten gemeinsamen Nenner subsumieren könnte. Dem wäre tatsächlich in dem Fall zuzustimmen, wenn der Gegensatz zum Universalismus die „Regionalität“ wäre1055. Wie Heiner Bielefeld richtig beschreibt, ist aber der Gegenbegriff zum rechtlichen Universalismus der „rechtliche Partikularismus“1056. Damit ist gemeint, Rechte stünden Menschen nur zu partikularen Bedingungen zu, wie Vorleistungen, persönliche Merkmale oder gesellschaftliche Statusposition, was gleichzusetzen wäre mit Diskriminierung und Exklusion1057. Die Ablehnung eines absoluten Naturrechts aufgrund seiner Geschichtlichkeit führt gerade auch bei Kaufmann nicht zum Relativismus. Der Anspruch, dass ein Recht, welches Veränderungen unterliegen mag, dennoch jedem Menschen zukommt, wird nicht angetastet. Die Universalität des Rechts meint den umfassenden Charakter des Anspruchs von Recht und nicht zwingend den umfassenden Charakter der Wirkung. Hier wird das Problem der verschiedenen Naturrechtsauffassungen sichtbar, die es tatsächlich unmöglich machen, von dem Naturrechtsverständnis zu sprechen. „Die Begriffe Naturrecht und Rechtspositivismus sind abstrakt, extrem weit und unbestimmt. Es verwundert deshalb kaum, daß es nicht gelungen ist, für beide Begriffe auch nur annähernd eingrenzbare Bedeutungen herauszuschälen, die von einer Mehrheit der Wissenschaft anerkannt werden.“1058 Diese Beobachtung kann 1054

Kaufmann, Naturrecht (Fn. 621), S. 21. Vgl. Bielefeld, der die globale Gewährleitung von Menschenrechte nicht als Universalität der Menschenrechte versteht; H. Bielefeld, Die Würde des Menschen – Fundament der Menschenrechte, in: H. Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, 2010, S. 105 (116). 1056 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 116. 1057 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 116. 1058 v. d. Pfordten, Rechtsethik (Fn. 2), S. 108. 1055

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

erklären, warum sich eine Einordnung teilweise schwer treffen lässt und einige Theorien trotz ihres deutlich überpositiven Ansatzes nicht als Naturrechtstheorie deklariert werden. Diese richtig beschriebene Tatsache steht m. E. aber nicht im Widerspruch zu einer Einordnung verschiedener Theorien, die sich mit der Frage nach „richtigem“ Recht auseinandersetzen. Für Stefan Grote werden die Ausdrücke Naturrecht und Rechtspositivismus nur als vage Oberbegriffe verwendet, die eine gewisse „Familienzugehörigkeit“ beschreiben sollen1059. b) Fehlerhafte Subsumtion unter „Dritter Weg“ Werden gewisse Merkmale als negative Eigenschaften des Naturrechtsverständnisses wahrgenommen, so scheint es nicht überraschend, dass sich viele Autoren hiervon unter Annahme dieser Tatsache bereits inhaltlich distanzieren wollen und zum anderen, oder vielleicht auch deshalb, den Begriff des Naturrechts lieber vermeiden1060. Stattdessen wird ein „Dritter Weg“ erklärt, um nicht Gefahr zu laufen, die Assoziierung der eigenen Theorie mit einigen negativ konnotierten Eigenschaften des Naturrechts hervorzurufen1061. Der Dritte Weg ist seit den 1950er Jahren als Abkehr von Naturrecht und Rechtspositivismus durch die Suche nach einer Alternative bezeichnet worden1062. Die Theorie des sog. Dritten Weges vermag es noch eher Zustimmung zu erhalten, sowohl bei den Gegnern des Naturrechts als auch bei ihren Befürwortern1063. Geht man allerdings von der Unverfügbarkeit des Rechts als Kernpunkt des Naturrechtsdenkens aus, so versperrt man einem „Dritten Weg“ die Chance. Eine Theorie, die von der Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit des Rechts ausgeht, lässt sich dadurch dem Naturrecht oder Rechtspositivismus zuordnen. Aus diesem Grunde wurde bereits mit dem Verweis auf Hubertus-Emmanuel Dieckmann die Radbruchsche Formel als modernes Naturrechtsverständnis bezeichnet. Für José Llompart ist ein „Dritter Weg“ aus dem bereits oben genannten Grund denklogisch ausgeschlossen. Wenn sich die verschiedenen Naturrechtstheorien in der Voraussetzung der Unverfügbarkeit des Rechts gleichen, dann kann man diese Ansicht und diesen Begründungsversuch bejahen oder verneinen. „‚Nicht alles positive Recht ist bedingungsloses geltendes Recht.‘ Wer dieser Behauptung (A) zustimmt, kann als Naturrechtsanhänger, wer ihr widerspricht (nicht A), als 1059

Zur Verwendung und Historie des Begriffs „Familienähnlichkeit“ als Sammelbegriffe des Naturrechts und des Rechtspositivismus, vgl. Grote, Suche (Fn. 101), S. 56. 1060 Thies, Moral (Fn. 121), S. 16. 1061 Vgl. Kaufmann, Naturrechtsrenaissance (Fn. 6), S. 233. Auch Huber sieht seine Theorie eine Art „dritten Weg“ einschlagen; Huber, Gerechtigkeit (Fn. 517), S. 88 f. Llompart sieht in dieser Tradition auch Werner Krawietz, Ota Weinberger u. a.; vgl. Llompart, Dichotomisierung (Fn. 1051), S. 51 ff. 1062 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 578. 1063 Llompart, Dichotomisierung (Fn. 1051), S. 51.

III. Deutschsprachige Naturrechtsströmungen der Gegenwart 

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Rechtspositivist betrachtet werden.“1064 In diesem Beispiel stehen die beiden Aussagen kontradiktorisch zueinander und schließen eine dritte Antwortmöglichkeit aus. Es kommt daher auf das Naturrechtsverständnis an, das selbstverständlich variieren und sich unterscheiden kann. Gehen wir von dem hier erarbeiteten Naturrechtsverständnis aus, stellt sich die Kernfrage, ob die Voraussetzungen akzeptiert werden können: (a) universell geltend, (b) vorstaatlich, (c) auf individuelle oder gemeinschaftliche Ordnung gerichtet, (d)  nicht zwingender Rechtskraftverlust und (e) Kritikmaßstab am positiven Recht. Wird der Kernpunkt der Unverfügbarkeit des Rechts bejaht und diese als Naturrechtsverständnis akzeptiert, enthält die Theorie naturrechtliche Argumentationen. Wird sie verneint, dann erklärt sie das Recht für verfügbar und enthält rechtspositivistische Ansätze. Dadurch kann in jeder Theorie, die dem Gesetzgeber keine vollumfängliche Verfügbarkeit des Gesetzes gewährt, eine Naturrechtstheorie gesehen werden. Deshalb kommt Grote zu dem Schluss, dass die Theorie Kaufmanns weniger ein „Dritter Weg“ zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus sei, als ein „naturrechtlicher Theorie­ entwurf.“1065 Aufgrund dessen, dass Kaufmann selbst von einem unverfügbaren Recht ausgehe, hätte er bereits selbst erkennen können, dass seine Theorie dem Naturrecht zuzurechnen sei1066. Kommt man zu einem anderen Verständnis über das Naturrecht oder den Rechtspositivismus, dann kann möglicherweise auch ein anderes Ergebnis über die Möglichkeit eines Dritten Weges erzielt werden1067. Die Darstellung soll aber weniger eine Lösung für die Frage präsentieren, ob ein „Dritter Weg“ möglich ist oder nicht, als zu zeigen, dass diesen Theorien eine naturrechtliche Begründung innewohnt und sie deshalb auch als Naturrechtstheorien klassifiziert werden können. c) Ein weiter Naturrechtsbegriff als Oberbegriff Die lang zurückliegende Tradition des Naturrechts in ihren unterschiedlichen Facetten macht eine enge Definition des Verständnisses unmöglich, will man gerade auch die gegenwärtigen Theorien in der Tradition der Theorien vorheriger Epochen aufzeigen. Hier erklärt sich auch die weitgefasste Zusammenfassung des Naturrechtsbegriffs. Die Unverfügbarkeit des Rechts ist ein solches sehr weit­ gefasstes Element des Naturrechts, was noch nichts über die Feinschattierungen der einzelnen Theorien aussagt. Nach einem weiten Naturrechtsbegriff kann jede Ansicht als Naturrechtstheorie bezeichnet werden, die den Anspruch auf Universalität und Unverfügbarkeit erhebt. Das Verständnis von Stephan Kirste wäre so 1064

Llompart, Dichotomisierung (Fn. 1051), S. 55. Grote, Suche (Fn. 101), S. 202. 1066 Grote, Suche (Fn. 101), S. 201. 1067 Dasselbe gesteht auch Llompart, wenn er von einer zwingenden Voraussetzung gleichen Verständnisses des Grundaxioms des Naturrechts ausgeht; Llompart, Dichotomisierung (Fn. 1051), S. 55. 1065

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C. Aktuelle Naturrechtsdiskussion 

dann ein Beispiel für einen weiten Naturrechtsbegriff, wenn er das Naturrecht wie folgt beschreibt: „Naturrecht bezeichnet Normen, die menschlicher Entscheidung vorausliegen und sie so als willkürfreier Maßstab anleiten sollen.“1068 Oberbegriffe innerhalb des Naturrechts zu bilden ist keineswegs eine Neuheit. Sie machen Abstufungen des Naturrechts deutlich und geben gewissermaßen die Pluralität innerhalb der Naturrechtstheorie wieder. Peter Koller beispielsweise teilt das Naturrecht in eine starke und schwache Version ein. „Die starke Version eines naturrechtlichen Rechtsbegriffs geht davon aus, dass das Naturrecht eine vollständige Grundlage des positiven Rechts bereitstellt, so dass die Normen des positiven Rechts unmittelbar aus dem Naturrecht abgeleitet werden können.“1069 Nach dem schwachen Naturrechtsbegriff genüge es, „dass die Normen des positiven Rechts mit den grundlegenden moralischen Normen in Einklang stehen, d. h. nicht in krasser Weise gegen sie verstoßen.“1070 Im Gegensatz aber zu einer Einteilung nach schwacher und starker Naturrechtsausprägung benutzt die Arbeit einen weit gefassten Naturrechtsbegriff. Während ein starkes und schwaches Naturrechtsverständnis sich bereits inhaltlich gegen­ seitig ausschließen, sind enger gefasste Naturrechtsverständnisse in einer weit gefassten Definition mit inbegriffen. Wenn sich eine Theorie für die Anpassungsfähigkeit des Naturrechts einsetzt, dann wird man sie nicht mehr als eine absolute Naturrechtstheorie bezeichnen können, aber ihr Naturrechtsgehalt entfällt nicht, wenn sie sich weiterhin für die, wenn auch nur minimale Unverfügbarkeit des Rechts einsetzt. Die Einteilung nach starken, schwachen, absoluten, relativen, essentialistischen, gütertheoretischen, vertragstheoretischen, fähigkeitsbasierten, säkular oder theologisch begründeten Naturrechtsverständnissen dient der Unterscheidung und der detaillierteren Auseinandersetzung. Aber keines dieser Elemente ist eine notwendige Eigenschaft des Naturrechts. Müsste man das Naturrecht tatsächlich als eine Theorie begreifen, die einen Ansatz von unveränderlichen, zeitlos gültigen Normen verfolgt und diesen immer den Vorzug vor gesetztem Recht einräumt, wären alle diese Unterscheidungen widersprüchlich. Der Terminus „absolutes Naturrecht“ wäre so dann nur eine Tautologie, weil das Naturrecht gar nichts anderes sein könnte als absolut. Die Bezeichnung „relatives Naturrecht“ beschriebe dann zwei sich gegenseitig ausschließende und widersprechende Begriffe (Oxymoron).

1068

Kirste, Naturrecht (Fn. 4), S. 18. P. Koller, Theorie des Rechts. Eine Einführung, 2. Aufl. 1997, S. 32. 1070 Koller, Theorie (Fn. 1069), S. 32. 1069

D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart George Duke und Robert P. George gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Begriffe Naturrecht und Rechtspositivismus jedem bekannt seien1071. Der Stellenwert der Naturrechtsdebatte im englischsprachigen Raum scheint bereits mit dem ersten Blick auf neuere Erzeugnisse sehr präsent zu sein. Auch für ­Vittorio Hösle nimmt das Naturrecht einen besonderen Platz in der Gesellschaft ein. Der Gedanke des Naturrechts sei zumindest in der amerikanischen Gesellschaft bzw. im amerikanischen Verfassungsstaat so stark verankert, dass dieser jeglichem Totalitarismus widerstanden habe1072. Der fortwährende Glaube an das Naturrecht sei ein weiterer Grund, warum sich die USA immer wieder uneingeschränkter demokratischer Verfahren bedient habe, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen1073.

I. Die Gütertheorien Im angelsächsischen Bereich gibt bereits seit den sechziger Jahren eine Strömung, welche sich unter der Bezeichnung New Natural Law Theory (NNLT) zusammenfassen lässt und von grundlegenden menschlichen Gütern ausgeht1074. Zu den bekanntesten Vertretern dieser Theorie dürften Germain Grisez, John Finnis, Joseph Boyle Jr., Gerard Bradley, Robert George und Patrick Lee gehören1075. Die NNLT wird auch als Finnis-Grisez-Theorie bezeichnet und teilweise als „die zeitgenössische Version eines Aristoteles und Thomas von Aquin anschließenden Naturrechtsdenkens betrachtet.“1076 Wir werden sehen, dass sich die Anhänger der NNLT in der Beschreibung der Grundgüter sehr ähneln und in ihrer Begründung im Grunde einig sind1077. Als Grundlage der NNLT kann der Text in Summa Theologiae I–II, q. 94, a. 2, c. gelten. Wenn Thomas von Aquin davon ausgeht, dass es gewisse Güter gebe, 1071

Duke / George, Introduction (Fn. 96), S. 1: „The phrases ‚natural law‘ and ‚legal positivism‘ are surely familiar to anyone moderately versed in Anglo-American jurisprudence“. 1072 V. Hösle, The European Union and the U. S.A.: Two Complementary Versions of Western ‚Empires‘?, in: Symposium: Canadian Journal of Continental Philosophy 14 (2010), S. 22 (34). 1073 Hösle, European Union (Fn. 1072), S. 34. 1074 R. P. George, Das gottgleiche Tier. Naturrechtsdenken und Menschenrechte, in: HerKorr 2019, S. 29 (31). 1075 Vgl. J. Goldstein, New Natural Law Theory and the Grounds of Marriage: Friendship and Self-Constitution, in: Social Theory and Practice 37 (2011), S. 461 (461). 1076 Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 192. 1077 G. Chartier, Natural Law, Same-Sex Marriage, and the Politics of Virtue, in: UCLA Law Review 48 (2001), S. 1593 (1600).

172

D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

die den natürlichen Neigungen der Menschen entsprechen, wie die Erhaltung des Lebens, die Ehe, die Familie oder das Wissen über Gott, dann sei diese Liste nicht abschließend1078. Vertreter der NNLT interpretieren dies so, dass sich der praktischen Vernunft selbstverständliche Prinzipien entnehmen lassen, weshalb der Mensch diesen Gütern nachgehen müsse1079. Die Gütertheorie geht daher von der Idee aus, es gebe gewisse Grundgüter, die zur Erfüllung des menschlichen Lebens notwendigerweise angestrebt oder erfüllt werden müssten. Die Verwirk­ lichung solcher Grundgüter stellt dabei ein natürliches Streben dar, weil es zu den natürlichen Bedürfnissen des Menschen gehöre. Aus der Erkenntnis des individuellen Wohlbefindens durch die Verwirklichung der Güter lasse sich sodann auch gesellschaftliche Strukturen konzipieren, die die Verwirklichung der Güter durch die Allgemeinheit zumindest nicht erschweren darf. Das hieraus entwickelte Gemeinwohl stellt daher nichts anderes dar als die Unterstützung anderer Menschen bei der Verwirklichung und dem Schutz dieser Grundgüter1080. Diese sind häufig nicht wandelbar und somit auch nicht von einem Menschen verzichtbar, was wiederum ihren naturrechtlichen Gehalt begründet.

1. John Finnis John Finnis kann als Anhänger und Gründer des gütertheoretischen Naturrechts angesehen werden1081. Koller bezeichnet Finnis’ Position daher auch als eine Theorie der Gegenwart, die dem „starken Rechtsmoralismus“ relativ nahekomme1082. Obwohl Finnis bereits 1980 das Werk Natural Law and Natural Rights veröffentlicht hatte und damit nicht nur starken Einfluss auf die gegenwärtige Naturrechtsdebatte nahm, genießt er nach Jan Leichsenring in Deutschland noch immer wenig Aufmerksamkeit1083. Finnis dürfte dennoch auch in Deutschland als der bekannteste Anhänger der gegenwärtigen Naturrechtstheorie gelten, weshalb Alexander Aichele in John Finnis richtigerweise einen Naturrechtsrückkehrer erkennt1084. John Finnis bezeichnet das Naturrecht als die Anwendung vorausgesetzter Standards, welche von jeder Rechtstheorie eingesetzt und berücksichtigt werden 1078 P. Lee, The New Natural Law Theory, in: T. Angier (Hrsg.), The Cambridge Companion to Natural Law Ethics, 2019, S. 73 (76). 1079 Lee, Natural Law (Fn. 1078), S. 76: „Life is a good to be pursued, marriage and family is a good to be pursued, knowledge (presumably not just about God) is a good to be pursued, life in society is a good to be pursued, and so on.“ 1080 Vgl. Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 205 ff. 1081 Leichsenring, Naturrechtstheorien (Fn. 114), S. 70. 1082 Koller, Begriff (Fn. 897), S. 163: „Ein ‚starker Rechtsmoralismus‘ ist eine Rechtstheorie, deren Konzeption des Rechtsbegriffs einen begrifflich notwendigen Zusammenhang zwischen Recht und Moral postuliert und diesen Zusammenhang in einem starken Sinne interpretiert, indem sie das Recht als direkte Konsequenz oder sogar als einen Teil der Moral versteht [Herv. i. O.].“ 1083 Leichsenring, Naturrechtstheorien (Fn. 114), S. 70 f. 1084 A. Aichele, Rechtsgeschichte, 2017, S. 135.

I. Die Gütertheorien 

173

müsse, um ihren Zweck erfüllen zu können1085. Nach Finnis können die Naturrechtstheorien als kritischer Maßstab für praktische Gesichtspunkte angesehen werden1086. Für die Untersuchung der Funktion und Art des Gesetzes betrachtet er zunächst vier Kategorien („Gattungen“), in denen sich Gesetze wiederfänden. Der erste Bereich, aus dem sich allgemeingültige Gesetze untersuchen und reproduzieren ließen, seien die Naturwissenschaften1087. Die Schwerkraft ist ein Naturgesetz, welches unabhängig von unseren Gedanken existiert und sich auch nicht dadurch ändern würde, dass sie von manchen abgelehnt oder anders verstanden werden würde. Sie folgt unbestritten einem wissenschaftlich nachvollziehbaren Naturgesetz. Weitere Bereiche, in denen sich die Natur des Rechts aufzeige, sei die Logik als Muster oder System der Gedanken, die Gattung der Artefakte als eine Art der „Zweck-Mittel-Rationalität“ aus dem Handwerk sowie die Technologien, die Sprache und die Moralität, welche nach menschlichem Wohlergehen streben1088. Für Finnis ist der Bereich der Moralität der wichtigste, in dem die Natur des Rechts zu finden ist, denn dieser Bereich greife in die anderen Bereiche ein. Wenn mensch­ liches Handeln, die Gattung der Artefakte, auf den Versuch der Förderung menschlichen Wohlergehens, die Gattung der Moralität, stößt, dann setzten diese beiden Gattungen das positive Recht1089. Der Gesetzgeber erschafft durch seine Organe als Produkt des gegenseitigen Austauschs und der Diskussion das Recht als Artefakt und bedient sich dabei der Überlegungen zur Stärkung des Allgemeinwohls. Alle diese vier Kategorien sind für Finnis notwendig, Recht zu konstituieren. Fehle eine dieser Kategorien bei der Umsetzung ins Recht, so sei das Gesetz fehlerhaft, auch wenn dies nicht unbedingt bedeutet, dass das Gesetz nicht mehr angewendet werden dürfe1090. Daraus ergibt sich nach Finnis für die Natur des Rechts folgendes: Das Recht muss die Gesetze der Naturwissenschaften beachten und kann diesen zumindest nicht zuwiderlaufen. Ein Recht, welches von seinen Bürgern ein Verhalten verlangen würde, das gegen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten verstößt, ergibt schlicht keinen Sinn. Ebenso können Gesetze nicht befolgt werden, deren Inhalt nicht schlüssig oder unlogisch sind. Finnis erklärt die Natur des Gesetzes durch den Bereich der Moralität über den formellen Anspruch hinaus. Sie begründet den Sinn des Gesetzes, während die Logik und die Naturwissenschaften die formellen Voraussetzungen eines Gesetzes bilden. „Die Gerechtigkeit als fundamentaler Gesichtspunkt der Förderung des Gemeinwohls meiner politischen Gemeinschaft verlangt mutmaßlich und innerhalb

1085 Vgl. zusammenfassend Kaufmann, Recht (Fn. 33), S. 19 ff.; J. Finnis, Natural Law & Natural Rights, 2. Aufl. 2011, S. 18. 1086 Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 18. 1087 J.  Finnis, Zur Natur des Rechts, in: M.  Borowski / P.  Stanley / J.-R.  Sieckmann (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Grundrechtstheorie. Robert Alexys System, 2017, S. 31 (32). 1088 Finnis, Natur (Fn. 1087), S. 32. 1089 Finnis, Natur (Fn. 1087), S. 40. 1090 Finnis, Natur (Fn. 1087), S. 32.

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

von Grenzen von mir, die in diesen Regeln und in den Institutionen unseres Rechts ausgesprochenen Festsetzungen zu respektieren.“1091 Das gemeinsame Gute bzw. das Gemeinwohl sei hierbei nicht dem zeitlichen und historisch-kulturellen Wandeln unterzogen, sondern stellten vielmehr die individuellen, menschlichen Bedürfnisse dar1092. Finnis sieht insgesamt sieben Grundgüter gegeben (Leben, Wissen, Spiel, ästhetische Erfahrungen, Freundschaft, praktische Vernunft und Religion), die als naturrechtliche Voraussetzungen für das Gelingen eines guten Lebens benötigt würden1093. Es handelt sich bei diesen Grundgütern weniger um ein Mindestmaß, was zum Überleben benötigt werde. Vielmehr stellen sie im Unterschied zu anderen Gütern des täglichen Lebens Grundgüter dar, weil sie für die ganzheitliche menschliche Erfüllung notwendig sind1094. Hier wird klar, warum Finnis in Tradition von Aristoteles steht. Beide verfolgen den Ansatz, der Mensch strebe nach einem guten Leben, welches der Staat zu fördern habe. Finnis ist sich bewusst, dass diese Rechtsgüter nicht von jedem Menschen gleich hoch oder wichtig bewertet werden. Daraus ergebe sich, dass keine konkreten Handlungsvorgaben entnommen werden können, weil die Gewichtung bei jedem Individuum läge1095. Für die Frage nach den konkreten Handlungsvorgaben ließen sich dennoch neun Prinzipien des Naturrechts herleiten1096. Eben diese Prinzipien sind evident, wie Finnis sagt. Sie seien nicht empirisch nachweisbar und müssten vorausgesetzt werden, dürften allerdings nicht als Gefühl missverstanden werden, da diese objektiv und offensichtlich gültig für jeden seien1097. Nur die Frage, welche Gewichtung die einzelnen Güter für das Wohlbefinden des einzelnen Individuums haben, müsse jeder durch seine Vernunft selbst beantworten1098. Finnis stellt eine inhaltliche Mindestanforderung an das Recht, entzieht es der völligen Verfügbarkeit und nutzt diese als kritischen Maßstab zu praktischen Gesichtspunkten, weshalb er als Anhänger eines Naturrechtsmodels in traditioneller 1091

Finnis, Natur (Fn. 1087), S. 41. Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 82. 1093 Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 86 ff. 1094 Vgl. M. Schmidt, Griff nach dem Ich? Ethische Kriterien für die medizinische Intervention in das menschliche Gehirn, 2018, S. 217. 1095 So auch Aichele, Rechtsgeschichte (Fn. 1084), S. 136. 1096 Die neun Prinzipien, die Finnis dafür aufstellt sind: 1. Ein kohärenter Lebensplan, 2. Keine voreingenommene oder parteiliche Haltung gegenüber den Grundwerten, 3. Keine unwillkürliche Bevorteilung oder Diskriminierung anderer, 4. Eine gewisse Losgelöstheit von allen spezifischen und begrenzten Projekten, die man unternimmt, 5. Loyalität den eigenen gesteckten Zielen und Verpflichtungen gegenüber und diese nicht leichtfertig aufgeben, sonst laufe man Gefahr, nicht an den Grundwerten teilnehmen zu können, 6. Die Gelegenheiten nutzen, um die Ziele zu fördern ohne Schaden anzurichten, 7. Handlungen unterlassen, die den Zugang zu den Grundwerten begrenzen, 8. Das Gemeinwohl fördern und 9. Immer nach dem eigenen Gewissen handeln; Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 23. 1097 Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 69. 1098 Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 82. 1092

I. Die Gütertheorien 

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Weise angesehen werden kann1099. In der Tradition von Aristoteles’ Idee des guten Lebens und seiner „Reformierung der Thomistischen Naturrechtslehre“, kann Finnis als einer der einflussreichsten und bekanntesten Naturrechtsanhänger im klassischen Sinne bezeichnet werden1100.

2. Germain Grisez, Joseph Boyle und John Finnis Eng mit dem Namen John Finnis sind Germain Grisez und Joseph Boyle verbunden, weshalb man auch von der Finnis-Grisez-Theorie spricht1101. Germain Grisez gilt ebenfalls als Vertreter der Gütertheorie und wird, falls Grisez im deutschsprachigen Raum überhaupt Erwähnung findet, häufig zusammen mit John ­Finnis dargestellt1102. Überwiegend allerdings entfällt eine Behandlung Grisez’ in der Darstellung der Güterrechtstheorie in Deutschland. Gleiches gilt für Joseph Boyle. Finnis, Boyle und Grisez veröffentlichten einen gemeinsamen Artikel unter dem Titel Practical Principles, Moral Truth, and Ultimate Ends, indem sie auf ihre Werke der vorausgegangenen 25 Jahre Bezug nehmen. Für Finnis, Boyle und Grisez rückt die freie Entscheidungsfähigkeit jedes Menschen in den Vordergrund ihrer Theorie1103. Das hat Auswirkungen auf die Bewertung menschlichen Handels als gute und richtige Handlung. Eine Handlung ist hiernach nicht intrinsisch gut oder schlecht, lässt sich auch nicht bloß von außen betrachten und bewerten. Vielmehr komme es auf die innere Motivation, die Wünsche des Menschen an1104. Gute und richtige Handlungen würden durch die Befriedigung natürlicher Wünsche gelenkt1105. Solche, die menschliche Handlung beeinflussenden Motive, werden Prinzipien genannt1106. Dabei soll instinktives Verhalten, welches durch Gefühle veranlasst würde, ausgeklammert werden, da sie nicht spezifisch menschlich seien1107. Teil der Untersuchung seien daher nur freie Handlungen, welche auf ein Ziel gerichtet sind und daher in ihrer Entstehung rational begründet werden können1108. Solche Zwecke der Handlungen richten sich auf die Förderung von Gütern: Diese Güter, wie etwa das Wissen oder die Gesundheit, seien die Gründe für menschliches Handeln1109, wie bereits zu John Finnis ausgeführt wurde. 1099

Vgl. Hilgendorf, Rechtsphilosophie (Fn. 13), S. 171 ff. Finnis habe eine einflussreiche Reformulierung der thomanischen Naturrechtslehre mit seinem Werk vorgelegt; Hilgendorf, Rechtsphilosophie (Fn. 13), S. 172. 1101 Vgl. Leichsenring, Recht (Fn. 108), S. 192. 1102 Vgl. Schmidt, Griff (Fn. 1094), S. 216 ff. 1103 J. Finnis / G. Grisez / J. Boyle, Practical Principles, Moral Truth, and Ultimate Ends, in: The American Journal of Jurisprudence 32 (1987), S. 99 (100). 1104 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 101. 1105 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 101. 1106 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 101. 1107 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 102. 1108 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 102. 1109 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 103. 1100

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Dabei kann zwischen sog. Instrumentalgütern und Grundgütern unterschieden werden. Als „Instrumentalgüter“ werden Güter bezeichnet, die weitere Gründe für ihr Handeln benötigen, um das Interesse der Menschen zu erklären: Der Gewinn eines Preises alleine könne noch keine ausreichende Handlungsbegründung liefern, sondern bräuchte noch einen Grund, der zum Gewinnen motiviere1110. Durch die Instrumentalgüter entstehen Begründungsketten für die einzelne Handlung. Aber es können keine unendlichen Ketten an Instrumentalgütern geben, sondern es gebe Gründe für menschliches Handeln, die keine weiteren Gründe erfordern: Diese Grundgüter seien spezifische menschliche Handlungsmotivationen1111. Solche Grundgüter ergeben sich nicht zufällig, sondern dienen der Erfüllung des Menschen, ihrer menschlichen Natur und sind im Individuum oder auch in der Gemeinschaft verankert: „Rather, being aspects of the fulfillment of persons, these goods correspond to the inherent complexities of human nature, as it is manifested both in individuals and in various forms of community.“1112

3. Robert P. George Die Bezeichnung New Natural Law Theory zielt darauf ab, sich als moderne kodifizierte Naturrechtstheorie darzustellen, als eine erneuerte Theorie, welche in alter Naturrechtstradition steht. George hinterfragt deshalb auch den Ausdruck New Natural Law Theory, da der Kern ihrer Aussagen in den Schriften von ­A ristoteles, Thomas von Aquin und anderen bereits enthalten sei und somit keinen neuen Ansatz verfolge1113. Dennoch sieht Robert P. George sich selbst mit den Theorien von Grisez und Finnis verbunden und verteidigt das Naturrecht1114. Für George befassen sich Naturrechtstheorien mit fundamentalen Gütern der menschlichen Natur und mit der Achtung der Rechte der Menschen, die sie aufgrund ihres Menschseins besitzen1115. Wenn dem Menschen Rechte aufgrund seines Menschseins zukommen, lassen sich hieraus auch die weiteren Grundsätze der Menschenrechte ableiten. Dabei schützten die Menschenrechte die menschliche Würde, die auf der Tatsache aufbaue, dass der Mensch in Freiheit lebe und 1110 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 103: „For example, as a reason for acting, winning a prize needs a further reason which motivates one to win.“ 1111 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 103. 1112 Finnis / Grisez / Boyle, Principles (Fn. 1103), S. 107. 1113 R. P.  George, Natural Law, God and Human Dignity, in: ders. (Hrsg.), Jurisprudence (Fn. 96), S. 57 (70): „I have in various writings associated myself with what is sometimes called the ‚new natural law theory‘ of Germain Grisez and John Finnis. But whether there is anything much that is really new in our approach is questionable. The core of what Grisez, Finnis and I say at the level of fundamental moral theory is present, at least implicitly, in the writings of Aristotle, Thomas Aquinas and other ancient, medieval and early modern thinkers.“ 1114 Vgl. R. P. George, In Defense of Natural Law, 2001. 1115 George, Tier (Fn. 1074), S. 29.

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vernunftbegabt sei1116. Eine Eigenschaft, die sich aus dem freiheitlichen und vernunftbegabten Wesen des Menschen ergebe, sei die Fähigkeit, Handlungen aus sich heraus vorzunehmen, die keinen Anstoß von außen bräuchten. Der Mensch habe eine „Macht“, etwas aus sich heraus zu versuchen, wie George diese Fähigkeit bezeichnet, ohne dass er durch äußerliche Einflüsse außerhalb seiner Natur angestoßen werden müsse1117. So könne der Mensch Dinge erschaffen, wie die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten, Kunstwerke oder die Ehe1118. Er habe die Eigenschaft, aus sich heraus durch Überlegungen und Entscheidungen ein Produkt seines Willens und seiner Freiheit zu erzeugen1119. Für einen Rechtswissenschaftler scheint seine Schlussfolgerung ungewöhnlich, wenn Robert P. George darauf hinweist, dass es sich dabei um gottähnliche Fähigkeiten handele und er darin ein Argument für die Existenz Gottes sieht1120. Der Rechtswissenschaftler George schweift aber dennoch nicht in eine moraltheologische Diskussion ab. Vielmehr greift er die Erkenntnismöglichkeit aller Menschen auf. Das Naturrecht könne auch ohne Offenbarung, allein durch ethische Reflexion erkannt werden1121. Denn auch wenn man nicht an Gott glaube, so müsse man doch feststellen, dass der Mensch typische Eigenschaften besitze, die sonst Gott zugeschrieben würden1122. George vertritt keine neue Ansicht, wenn er das Naturrecht für alle Menschen als zugänglich hält. Bereits nach Paulus, auf den sich George ebenfalls bezieht, stünden dem Menschen die Gesetze in das Herz geschrieben1123. Es ist auch in der modernen angelsächsischen Naturrechtstheorie gängige Praxis, wie später noch gezeigt werden soll, dass das Naturrecht mit einem Schöpfergott in Verbindung gebracht werden kann, ohne aber einen Exklusiv­ zugang zum Naturrecht durch die Offenbarung zu vertreten. George sieht im Menschen ein komplexes Wesen, da er sein eigenes Wohlergehen aus verschiedenen Elementen generiert. Was für den Menschen gut sei, umfasse das körperliche, intellektuelle, moralische und spirituelle Wohlergehen1124. Es gebe daher fundamentale Güter, die für das menschliche Gedeihen notwendig seien1125. Für George ist die Naturrechtstheorie eine kritische Darstellung der grundlegenden Elemente des menschlichen Wohlergehens und des Gemeinwohls1126. Die Stärke dieser „neuen Theorie“ sei, dass sie die Prinzipien der prak 1116

George, Tier (Fn. 1074), S. 30. George, Tier (Fn. 1074), S. 30. 1118 George, Tier (Fn. 1074), S. 30. 1119 George, Tier (Fn. 1074), S. 30. 1120 George, Tier (Fn. 1074), S. 30. 1121 George, Tier (Fn. 1074), S. 32. 1122 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 63. 1123 George, Tier (Fn. 1074), S. 32. 1124 George, Tier (Fn. 1074), S. 29. 1125 George, Tier (Fn. 1074), S. 29. 1126 George, Tier (Fn. 1074), S. 31; vgl. auch ders., Natural Law (Fn. 1113), S. 59: „A natural law theory is a critical reflective account of the constitutive aspects of the well-being and fulfillment of human persons and the communities they form.“ 1117

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tischen Vernunft des menschlichen Handelns auf die grundlegenden menschlichen Güter bezogen habe1127. Es gebe Handlungen, die zwar rational nachvollziehbar seien, wie etwa das Geldverdienen, dennoch aber nur als Mittel zum Zweck dienen1128. Im Gegensatz zu solchen instrumentellen Werten hätten die Grundgüter einen intrinsischen Selbstzweck1129. Diese bildeten die Grundlage der moralischen Urteile und seien nicht gänzlich zu erklären, da sie nicht auf Empfindungen und Gefühle reduziert werden könnten1130. Aber nicht immer gelingt es dem Menschen, seine Handlung allein an Gütern auszurichten und die Gefühle und Empfindungen danach auszurichten. Menschen würden hin und wieder menschenrechtswidrig und menschenunwürdig handeln, weil sie teilweise dazu neigen, unvernünftig und eigennützig zu agieren, da sie von Emotionen abgelenkt werden oder das Gewissen sich irren könne1131.

4. Patrick Lee Die NNLT geht, wie bereits beschrieben, von grundlegenden moralischen Prinzipien aus, um solche Güter verwirklichen zu können, an denen sich der Mensch aufgrund seiner Natur orientiert1132. Da Gott der Schöpfer unserer Natur und Intelligenz sei, sind solche Prinzipien nach Patrick Lee Teil seines Schöpfungsplans1133. Auch für Lee gibt es aber eine Einsichtsmöglichkeit, deren Zugang nicht allein auf der Offenbarung beruht. Die Prinzipien könnten vielmehr jedem bekannt sein, auch ohne das Wissen um die Existenz Gottes1134. In Tradition von Thomas von Aquin teilen die Anhänger der NNLT die Ansicht, intrinsische Grundgüter, wie Leben, Gesundheit, Arbeit, Freundschaft u. a., seien Gebote des Naturrechts, auf die jede menschliche Handlung und Entscheidung gerichtet ist1135. Das erste Prinzip der praktischen Vernunft besage, dass der Mensch die Aspekte des menschlichen Gedeihens verfolgen solle. Daraus folgt das grundlegende moralische Kriterium, seine Handlung an der praktischen Vernunft zu orientieren und mit dieser in Übereinstimmung Entscheidungen zu treffen1136. Jede Handlung, die den menschlichen Gütern zuwiderlaufe oder anderen Menschen das Streben danach erschwere, sei unmoralisch1137. Trotz der offensichtlich theo 1127

George, Natural Law (Fn. 1113), S. 70. George, Tier (Fn. 1074), S. 30. 1129 George, Tier (Fn. 1074), S. 31. 1130 George, Tier (Fn. 1074), S. 31. 1131 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 68 ff. 1132 P. Lee, God and New Natural Law Theory, in: National Catholic Bioethics Quarterly 19 (2019), S. 279 (279). 1133 Lee, God (Fn. 1132), S. 279. 1134 Lee, God (Fn. 1132), S. 279. 1135 Lee, God (Fn. 1132), S. 279. 1136 Lee, God (Fn. 1132), S. 281. 1137 Lee, God (Fn. 1132), S. 281. 1128

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logischen Prägung seiner Ansicht verzichtet Patrick Lee zusammen mit anderen Vertretern der NNLT darauf, eine exklusiv moraltheologische Ansprache nur an Christen oder insbesondere an Katholiken zu richten. Die rechte Vernunft leite den Menschen an, in Übereinstimmung mit den Grundgütern zu leben, auch ohne an Gottes Plan oder Gott selbst zu glauben1138. Vielmehr sei die Möglichkeit, in Einklang mit Gott zu leben, eine zusätzliche Motivation für Gläubige1139. Gott dient der Begründung der moralischen Prinzipien, wird aber nicht für deren Erkenntnis herangezogen. Auch ohne die Erkenntnis über die Existenz Gottes könnten die Menschen die moralische Wahrheit erkennen1140.

5. Christopher Tollefsen Nach Christopher Tollefsens Naturrechtsverständnis läuft die Kritik eines SeinSollen-Fehlschlusses der Naturrechtstheorie ins Leere. Für ihn ist die NNLT eine in der thomanischen Tradition stehende Naturrechtslehre, welche das „Sollen“ nicht vom „Ist-Zustand“ ableite, sondern vielmehr vom Zustand, wie er sein sollte1141. Die Naturrechtstheorie versuche die grundlegenden Merkmale eines guten Lebens zu erkennen, die auf der Erfüllung grundlegender menschlicher Güter beruhe1142. Diese Erwartungshaltung an das Naturrecht bzw. das Naturrechtsverständnis ­Tollefsens selbst steht damit unmittelbar in einer Reihe mit den Gütertheorien. Die Grundlage und Motivation menschlichen Handels sei im Wohlbefinden und in der Erfüllung von Menschen und Gemeinschaften zu finden1143. Die grund­ legendsten Aspekte des Wohlbefindens bezeichnet auch Tollefsen als Grundgüter, die für die Erfüllung menschlichen Lebens notwendig seien und aus sich heraus angestrebt werden1144. Diese Güter müssten von der Bioethik respektiert werden. Hierzu zählt Tollefsen unter anderem die Ehe als Grundgut des Menschen, einschließlich die Reproduktion und das Familienleben, was von der Bioethik geschützt werden müsse1145. Die verschiedenen Ausprägungen der moderne Gütertheorie unterschieden sich in den einzelnen Darstellungen bei der Benennung der Grundgüter, stimmten aber darin überein, dass die Güter Leben, Gesundheit, Wissen, Arbeit und Spiel, Freundschaft, Religion und persönliche Integrität enthalten sein sollten1146. 1138

Lee, God (Fn. 1132), S. 281 f. Lee, God (Fn. 1132), S. 282. 1140 Lee, God (Fn. 1132), S. 288. 1141 C. Tollefsen, The Contribution of Natural Law Theory to Bioethics, in: Christian Bio­ethics: Non-Ecumenical Studies in Medical Morality 22 (2016), S. 81 (82). 1142 Tollefsen, Contribution (Fn. 1141), S. 81. 1143 R. Anderson / C. Tollefsen, Biotech Enhancement and Natural Law, in: The New Atlantis: A Journal of Technology & Society 20 (2018), S. 79 (82). 1144 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 83. 1145 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 86. 1146 Tollefsen, Natural Law (Fn. 208), S. 136. 1139

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Anhänger von Thomas von Aquin setzten häufig die Religion an die oberste Stelle der Grundgüter, weshalb dadurch eine moralische Anforderung an die Handlung gestellt würde: Man müsse so handeln, wie es dem obersten Gut am förderlichsten sei1147. Innerhalb der Güter gebe es für Vertreter der NNLT allerdings keine Hierarchie, in der ein Gut höher gewichtet werde als andere Güter1148. Jedes Gut könnte um seiner selbst willen verfolgt werden, weshalb der Mensch frei entscheiden könne, welches dieser Güter er anstrebt1149. Keines der Güter sei erstrebenswerter, da alle gleichbedeutend nebeneinanderstünden. Wäre ein Gut allerdings wichtiger als ein anderes, so wäre das Nichtverfolgen dieses Gutes, verglichen mit anderen Gütern, irrational und würde die Wahl beeinflussen; die somit nicht mehr frei wäre1150. Die freie Wahl sei ein Akt des Willens, welcher als Veranlagung des Menschen das Gut anstreben werde, welches die Vernunft als gut vorschlägt1151. Tollefsen hat die Gütertheorie auch dazu benutzt, den freien Markt mit dem Naturrecht zu rechtfertigen. Freiheit und Gleichheit seien wichtige Voraussetzungen für die naturrechtliche Begründung des freien Marktes1152. Nach Thomas von Aquin sei das Privateigentum aus einer pessimistischen Sicht gerechtfertigt worden: Das Gemeinschaftseigentum führe zu Streitigkeiten darüber, was mit den Gütern passieren solle, obwohl die Güter der Erde zunächst einmal für das Wohl aller Menschen gedacht waren1153. John Finnis hingegen glaube, dass das Privateigentum zur Freiheit und Autonomie des Einzelnen beitrage1154. Diese Ansicht des Privateigentums ist optimistischer formuliert und begründet das Privateigentum nicht als Notlösung, sondern als Freiheit des Individuums. Es ermögliche dem Menschen, sein eigenes Leben aktiv zu gestalten1155. Durch die Teilhabe der praktischen Vernunft am ewigen Gesetz, habe sich Gott dazu entschieden, dem Menschen die Handlung nicht vorzugeben, sondern erlaube dem Menschen selbst, sein Handeln auf seine Erfüllung hin auszurichten1156. So sei das Privateigentum ein wichtiges Element zur Selbstverwirklichung und daher naturrechtlich vorausgesetzt: „private property is instrumentally necessary for our active self-constitution because it enables certain crucial forms of vocation-­ enabling freedom.“1157 Die Autorität, die mit dem Privateigentum einherginge, löse die Möglichkeit aus, darüber zu verfügen1158. Der Austausch und die Beschaffung 1147

Tollefsen, Natural Law (Fn. 208), S. 144. Tollefsen, Natural Law (Fn. 208), S. 144. 1149 Tollefsen, Natural Law (Fn. 208), S. 145. 1150 Tollefsen, Natural Law (Fn. 208), S. 146. 1151 Tollefsen, Natural Law (Fn. 208), S. 149. 1152 Tollefsen, Freedom and Equality in Market Exchange, in: Harvard Journal of Law & Public Policy 33 (2010), S. 487 (487). 1153 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 488. 1154 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 488. 1155 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 488. 1156 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 488. 1157 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 489. 1158 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 489. 1148

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von Gütern schaffe ein soziales System der vertraglichen Versprechen, in denen die Menschen aufblühen sollen1159. Dabei kann der Markt aber nicht unreguliert nur den Austausch der Güter zulassen. Der Markt müsse auch nach dem Prinzip der Fairness verlaufen1160. Ein Tausch sei nach Tollefsen dann als fair anzusehen, wenn weder der Käufer noch der Verkäufer schlechter dasteht als zuvor1161. Beide Akteure müssten daher etwas von gleichem Wert erhalten, welcher wiederum nach dem Kriterium des Bedarfs festgelegt werden würde1162.

6. Jonathan Crowe Auch Jonathan Crowe lehnt seine Überlegungen an die thomanischen Gedanken zur normativen Neigung des Menschen an1163. Dieser habe bereits in den normativen Neigungen des Menschen eine Grundform des Guten gesehen1164. Die Dinge, zu denen der Mensch von Natur aus geneigt sei, sei mit den Dingen identisch, die die menschliche Vernunft als gut anerkenne und identifiziere1165. Die menschlichen Neigungen widerspiegeln nach Thomas von Aquin die menschliche Natur als Subjekt, wie der Neigung zur Selbstverhaltung, der Neigung zur Fortpflanzung und als rationales Wesen sowie der Neigung zum Leben in Gemeinschaft1166. Jonathan Crowe unterscheidet drei Varianten der menschlichen Disposition: Alle Tiere, die Menschen inbegriffen, verfügten über Reflexe, welche als automatische physiologische Reaktionen auf Reize verstanden werden könnten1167. Als eine zweite Ebene sind Instinkte zu verstehen, die ebenso wenig als reflektierte Reaktionen verstanden werden könnten1168. Diese Instinkte seien angeboren, wie etwa der Trieb nach Essen, müssten aber in der konkreten Form erlernt werden1169. Erst die dritte Veranlagung menschlichen Handels bezeichnet Crowe als Neigung. Diese seien nicht angeboren, weshalb man sich auch darüber hinwegsetzen könne1170. Hiervon unterscheidet er die sog. normative Neigung, die zwar ebenfalls die Neigung nach einer bestimmten Art und Weise zu handeln enthalte1171. Es käme aber zudem auch die Neigung, eine Handlung als lohnend und erforderlich zu halten, zur normativen Neigung hinzu1172. Diese Handlungsveranlagungen gebe es sowohl 1159

Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 489. Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 489. 1161 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 489. 1162 Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 490. 1163 Vgl. J. Crowe, Natural Law and the Nature of Law, 2019, S. 17. 1164 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 17. 1165 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 17. 1166 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 17. 1167 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 19. 1168 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 19. 1169 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 19. 1170 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 19. 1171 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 20. 1172 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 20. 1160

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bei den menschlichen Individuen als auch bei sozialen Gruppen1173. Solche normativen Neigungen („normative inclinations“) ließen sich durch die gemeinsame Biologie des Menschen und die gleiche soziale Lage erklären1174. Auch für Crowe nehmen die Grundgüter eine zentrale Rolle für die Naturrechtstheorien (hier für die normativen Neigungen) ein, da die Ziele der menschlichen Handlung auf die Verfolgung und Erreichung von Grundgütern gerichtet seien1175. Grundgüter spiegeln nach Crowe komplexe menschliche Veranlagungen wider, die sowohl erlernt als auch widerstandsfähig seien1176. Er teilt die Güter, die zum Gelingen menschlichen Lebens vorausgesetzt werden, in neun Kategorien ein: Leben, Gesundheit, Vergnügen, Freundschaft, Spiel, Wertschätzung, Verständnis, Sinn und Vernunft1177. Diese Güter lieferten zwei Gründe für menschliches Handeln, nämlich die Möglichkeit eigener Partizipation hieran sowie die Partizipationsmöglichkeit anderer Menschen an den Gütern nicht zu stören1178. Dadurch sei es die Pflicht des einzelnen Menschen, das Gemeinwohl der Gesellschaft zu fördern: „We have a duty, in other words, to do our share for the common good.“1179 Einzelne Menschen und freiwillige Vereinigungen könnten das Gemeinwohl fördern, weshalb der Staat hingegen nicht für das Gemeinwohl notwendig, in manchen Teilen sogar schädlich für das Gemeinwohl sein könne1180. Diese Grundgüter sind von Finnis und Griez als „pre-moralisch“ bezeichnet worden (The Pre-Moral Thesis), was bedeute, dass Grundgüter nicht Produkt moralischer Überlegungen seien. Vielmehr seien sie bereits vor jeder reflektierenden Überlegung bereits vorhanden und bildeten den unausweichlichen Kontext, indem die Fähigkeit zur moralischen Reflexion ausgeübt werde1181. Die grundlegenden Güter an sich geben daher noch keinen Aufschluss darüber, ob bestimmte Handlungen moralisch richtig oder falsch einzustufen seien1182. Sie machen menschliches Handeln allerdings verständlich. Handlungen, welche nicht auf die Verwirklichung eines Grundguts gerichtet seien, seien nicht unbedingt moralisch verwerflich, sondern irrational. Crowe erklärt die „vormoralische-These“ mit den normativen Neigungen, die als Ziel der menschlichen Handlung die Erreichung der Grundgüter vorgeben1183. Für Crowe unterlägen die Güter ihrem Inhalt nach einem bestimmten Wandel, aber die Grundgüter als solches blieben immer gleich. So hätten neuere Gesell 1173

Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 241. Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 241. 1175 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 241. 1176 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 20. 1177 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 35. 1178 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 242. 1179 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 242. 1180 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 242 f. 1181 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 22. 1182 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 23. 1183 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 24. 1174

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schaften ein Verhältnis zu Staaten aufgebaut, indem früher einzig die Familie und der Stamm im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens standen1184. Im Grunde habe sich hier aber kein neues Grundgut entwickelt, welches den Staat als wichtigen Teil des menschlichen Lebens darstelle. Vielmehr hat das bekannte Gut der Freundschaft nur eine komplexere Form angenommen1185. Das Naturrecht ist daher im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen1186. Nach dieser Auffassung reflektieren die Grundgüter die natürlichen Antriebe des Menschen und die sozialen Bedingungen, in denen er sich befindet1187. Diese erklären sich aus dem guten Gelingen des menschlichen Lebens, können aber nicht einfach vom Menschen abgeleitet werden1188. Crowe setzt sich für ein Naturrechtsverständnis ein, welches er als sog. Hybrid Natural Law Theory bezeichnet1189. Unter einer hybriden Naturrechtstheorie verstehe man eine Ansicht, welche die starke und die schwache Naturrechtstheorie verbinde. Die starke Naturrechtsthese vertritt die Ansicht, das Recht sei notwendigerweise ein rationaler Maßstab für das Verhalten und somit die Begründung für das Recht1190. Liege ein rationaler Fehler vor, sei das Gesetz ungültig1191. Die schwache Naturrechtsansicht vertrete hingegen die Ansicht, das Gesetz sei nur fehlerhaft. Verlange ein Gesetz eine Handlung, die gegen die Vernunft verstoße, stellt dies ein Hindernis bei der Befolgung dar1192. Crowe bezeichnet ein Gesetz als unvernünftig, wenn nach einer Abwägung die Gründe für die Nichteinhaltung überwiegen: „Some laws, on the other hand, present their subjects with positive reasons not to comply with them.“1193 Sollte ein vermeintliches Gesetz nicht in der Lage sein, ein Pflichtgefühl bei den Bürgern zu schaffen, so könne das Gesetz nach Crowe die typische Funktion eines Gesetzes nicht erfüllen1194. Das treffe für Normen zu, die nicht einzuhalten seien, weil sie zum Beispiel unverständlich oder widersprüchlich seien1195. Normen, die so ungerecht und unangemessen seien, dass sie nicht von allen als verbindlich anerkannt werden können, erfüllten ebenfalls nicht die Funktion des Rechts: „It also covers norms that are so unjust or unreasonable as to be incapable of engaging human motivations to the extent needed to be generally accepted as binding.“1196 Gesetze, die zwar noch die Funktion erfüllen, aber 1184

Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 29 f. Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 30. 1186 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 244. 1187 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 33. 1188 Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 33. 1189 Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 98. 1190 Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 92. 1191 Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 92. 1192 J. Crowe, Metaphysical Foundations of Natural Law Theories, in: G. Duke / R. P. George (Hrsg.), Jurisprudence (Fn. 96), S. 103 (126). 1193 Crowe, Foundations (Fn. 1192), S. 126. 1194 Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 99. 1195 Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 99. 1196 Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 99. 1185

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

schwer zu befolgen sind, weil sie beispielsweise schlecht formuliert wurden, seien im Unterschied dazu nur als rechtlich mangelhaft anzusehen: „Laws of this kind are properly regarded as legally defective.“1197 Gesetze könnten je nach Umfang ihrer rationalen Fehlerhaftigkeit entweder rechtsunwirksam oder fehlerhaft sein1198. Dadurch zeigt sich die Nähe dieser Theorie zur Radbruchschen Formel.

7. Gary Chartier Gary Chartier beschäftigt sich mit der ökonomischen Gerechtigkeit und erarbeitet eine Beschreibung, welche auf dem Naturrecht beruht. Chartier befasst sich dabei mit dem Eigentum, der Verteilungsgerechtigkeit und der Arbeit1199. Zudem setzt sich Gary Chartier mit den, wie er sagt, New Classical Natural Law Theorists (NCNLTs) auseinander, zu denen er hauptsächlich Germain Grisez, John Finnis, Joseph Boyle und Robert P. George zählt1200. Das Naturrecht beschäftige sich nach Chartier mit der Suche nach der richtigen Handlung und des Wohlbefindens („well being“)1201. Für das Naturrechtsverständnis sei ein gutes Leben eines, welches in Übereinstimmung mit der praktischen Vernunft geführt werde1202. Daher lasse sich das menschliche Verhalten als geeignet für die verschiedenen Aspekte des Wohlbefindens bezeichnen, wenn sie mit der praktischen Vernunft auch übereinstimmen1203. Eine Handlung könne demnach als moralisch angebracht bezeichnet werden, wenn diese durch die Achtung aller realen Aspekte des Wohlbefindens gekennzeichnet ist: „A morally appropriate act is one that is characterized by respect for all real aspects of well being, as realized in our own lives or those of others.“1204 Der Zweck einer Handlung richte sich auf die Teilhabe der verschiedenen menschlichen Güter, wie Wissen, Freundschaft körperliches Wohlbefinden1205. Auch für Chartier stellt das körperliche Wohlbefinden nur eines von mehreren Gütern dar. Für die Aufstellung dieser Güter wie Leben, Wissen, Leistung, praktische Vernunft, Erfahrung, Freundschaft, Selbstintegration und Religion beruft er sich weitestgehend auf die NCNLT. Er zählt sich offensichtlich nicht selbst zu

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Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 99. Crowe, Natural Law Theories (Fn. 989), S. 99. 1199 Vgl. G. Chartier, Economic Justice and Natural Law, 2009. 1200 G. Chartier, Toward a Consistent Natural-Law Ethics of False Assertion, in: American Journal of Jurisprudence 51 (2006), S. 43 (43). 1201 Chartier, Justice (Fn. 1199), S. 6. 1202 Chartier, Justice (Fn. 1199), S. 7. 1203 Chartier, Justice (Fn. 1199), S. 7. 1204 Chartier, Justice (Fn. 1199), S. 7. 1205 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1600. 1198

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dieser Strömung, obwohl er die naturrechtliche Argumentation der Güter aufgreift. Das mag auch daran liegen, dass er teilweise andere Schlüsse aus den aufgezählten Gütern zieht: Chartier äußert sich, losgetreten von der sog. Knight-Initiative im Jahr 2000 in Kalifornien, auch zur gleichgeschlechtlichen Ehe1206. Diese Initiative hatte sich gegen die staatliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe ausgesprochen und sich zur Begründung auf die göttliche Schöpfung und auf ein hawaiianisches Urteil von 1998 berufen1207. Grund hierfür sei die Einstellung, die Politik müsse die Tugendhaftigkeit vorgeben, die der gleichgeschlechtlichen Ehe aus ihrer Sicht widerspreche1208. Chartier setzt sich nicht für die Abschaffung einer Tugendpolitik ein, sondern für eine Tugendpolitik, die sich für die gleichgeschlechtliche Ehe stark mache1209. In der neuen Naturrechtsbewegung sieht er eine einheitliche Ablehnung der Ehe unter gleichgeschlechtlichen Paaren als moralisch verwerfliche Handlung1210. Nach der Meinung der Vertreter der New (Classical) Natural Law Theory ruft die Teilhabe an den essentiellen Gütern positive Gefühle hervor. Für Chartier aber seien die Gefühle nicht das ausschlaggebende Kriterium: „But feelings themselves cannot tell us whether our subjective satisfactions evince our participation in real goods.“1211 Dennoch sei der Theorie zuzustimmen, dass das körperliche Vergnügen nicht als Selbstzweck angestrebt werden dürfe: „It depends, first, on the premise that bodily pleasure may not be sought as an end in itself.“1212 Aber die Suche danach könnte als Teil des Guts des eigenen Wohlbefindens, rational erklärbar sein1213. Die Freude am Essen sei hiermit vergleichbar, denn diese sei nicht plausibel mit den Grundgütern des Lebens vereinbar. Es sei denn, man müsste die emotionale Komponente der Nahrungsaufnahme mit in das Grundgut des körperlichen Wohlbefindens integrieren, worunter so dann auch das sexuelle Vergnügen fallen müsste1214. Emotionen seien eine Erscheinung, die eine Wahrnehmung von Sinn oder Wert überwacht: „An emotion is epiphenomenal, as it were, supervening on a perception of meaning or value.“1215 Zudem ließe sich das körperliche Wohlergehen nicht vom geistlichen Wohlergehen trennen1216. Chartier spricht vom intrinsischen Wert des Vergnügens („The Intrinsic Value of Pleasure“)1217.

1206

Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1594. Vgl. Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1595. 1208 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1596. 1209 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1597. 1210 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1599. 1211 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1601. 1212 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1605. 1213 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1605. 1214 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1606. 1215 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1605. 1216 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1607. 1217 Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1605. 1207

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Die rechtliche Anerkennung homosexueller Beziehungen könnte dennoch die öffentliche Tugend fördern1218. Es könne Aufgabe des Gesetzes sein, die Tugend durch das Gesetz zu fördern. Eine Anerkennung dieser Lebensform kann wie die geschlechtsverschiedene Ehe einen Teil zur Integration in die Gesellschaft beitragen und somit gesellschaftliche Förderung als Ganzes bewirken1219. Chartier interpretiert auch die Güter im Vergleich zu vielen weiteren Vertretern anders und kommt zu dem Schluss, dass das bewusste Lügen unter allen Umständen verboten sei. So sehen die NCNLTs die Lüge zum Teil als Angriff auf die menschlichen Güter der Selbstintegration und Authentizität oder der Freundschaft und des Wissens. All diese Güter leiden unter der wissentlichen Falschaussage und seien daher moralisch zu verurteilen1220. Chartier stellt vielmehr auf die Intention des „Täters“ und die vergleichbare Lage der Tötung zum eigenen oder zum Schutz anderer ab1221. Töte man einen Menschen aufgrund der Verteidigung des eigenen Lebens, stünde die Verteidigung und nicht die Tötung im Vordergrund und sei somit nicht beabsichtigt. Diese Überlegungen müssten sich auf die Lüge übertragen lassen. Chartier behandelt hier die Rechtfertigung einer Tat, die zum Schutz eines menschlichen Guts, die Verletzung eines anderen Guts moralisch hinnehmen muss und daher nicht zu verbieten sei.

8. Das Gemeinwohl Die Vorstellung von Gütern, die dem Menschen zu einem erfüllten Leben verhelfen können, ist stark mit den Gedanken zur Förderung des Gemeinwohls der politischen Gemeinschaft verbunden1222. Daher beschäftigen sich die Gütertheorien der NNLT auch mit der Förderung des Gemeinwohls. Dabei ist die Förderung eines gemeinsamen Guts der Gesellschaft für alle gütertheoretischen Ansätze ein zentraler Punkt. Das Gemeinwohl ist für John Finnis die Gesamtheit der Voraussetzungen, die es jedem ermöglichen, sein eigenes Ziel zu verfolgen und die Verwirklichung der persönlichen Entwicklung des Einzelnen zu begünstigen1223. Durch dieses Verständnis versteht Finnis das Gemeinwohl nicht utilitaristisch nach dem Motto: „greatest good of the greatest number“1224. Insofern ist das Gemeinwohl als erstrebenswertes 1218

Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1631 f. Chartier, Natural Law (Fn. 1077), S. 1631 f. 1220 Chartier, False Assertion (Fn. 1200), S. 47 f. 1221 Chartier, False Assertion (Fn. 1200), S. 44. 1222 Vgl. D. Mark, New Natural Law Theory and the Common Good of the Political Community, in: National Catholic Bioethics Quarterly 19 (2019), S. 293 ff. 1223 Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 154. 1224 Finnis, Natural Law (Fn. 1085), S. 154. 1219

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Ziel der politischen Gemeinschaft nur konsequent, da es um die Verwirklichung der Güter des einzelnen Menschen geht. a) Christopher Wolfe Viele Theorien kommen ohne einen Rückgriff auf das Naturrechtsverständnis Thomas von Aquins nicht aus. Auch Christopher Wolfe greift auf seine Ausführungen zurück, betont aber explizit, er konzentriere sich mehr auf die philosophischen als auf die theologischen Überlegungen1225. Aufbauend auf Thomas von Aquins Ansicht über das Streben nach menschlichen Gütern sieht Wolfe den Menschen in einer Gesellschaft leben, damit er überleben und die menschlichen Güter verwirklichen kann1226. Der Mensch werde in eine Gesellschaft und in eine Familie hineingeboren, die ihm dabei helfe, seine Bedürfnisse befriedigen zu können1227. Es sei nicht möglich, dass der Mensch die Vielfalt der menschlichen Güter alleine verwirklichen könne, sondern er sei dabei immer auf die Gemeinschaft angewiesen: „It is not possible for one person to develop fully a comprehensive multiplicity of human goods.“1228 Daher lehnt Wolfe eine Theorie des Naturzustands der Vertragstheorien ab, da es keine völlig isolierten Individuen gäbe1229. Eine Gemeinschaft habe neben der Erfüllung einzelner Güter auch das Gemeinwohl zum Ziel1230. Dieses Ziel sei höher und wichtiger einzuordnen als die Verwirklichung einzelner menschlicher Güter, was allerdings nicht bedeute, dass das Individuum nur Teil des Ganzen wäre1231. Es gäbe häufig mehr als nur eine Möglichkeit, das Gemeinwohl zu fördern, weshalb es die Entscheidung einer politischen Autorität brauche, die für die Koordination und für die Sicherung des Gemeinwohles zuständig sei1232. Zu den elementaren Elementen des Gemeinwohls zählt Wolfe (1.) den Schutz des Lebens, die Sicherheit von Personen und Eigentum und den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern, (2.) ein stabiles und gesundes Familienleben, welches zu den wichtigsten Gütern des Menschen gehöre, (3.) die Möglichkeit, unter menschenwürdigen Bedingungen zu arbeiten und entlohnt zu werden, (4.) die Unterstützung, um in Übereinstimmung mit der Erkenntnis der Wahrheit leben zu können, (5.) die Unterstützung, sich mit anderen in einer Gemeinschaft zusammenschließen zu können und (6.) die Beteiligung an politischen Gemeinschaften als Bürger1233. 1225

C. Wolfe, Political Theory and Natural Law, in: T. Angier (Hrsg.), Ethics (Fn. 1078), S. 235 (235). 1226 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 240. 1227 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 240. 1228 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 240. 1229 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 240. 1230 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 240. 1231 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 241. 1232 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 241 f. 1233 Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 248 ff.

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Die verschiedenen Elemente des Gemeinwohls beschreibt Wolfe mit einem hohen Maß an Allgemeingültigkeit, auch wenn sie sich in ihrer detaillierten Ausgestaltung zwischen den einzelnen Gesellschaften stark unterscheiden könnten1234. b) Mark C. Murphy Mark C. Murphy sieht sich als Anhänger eines naturrechtlich geprägten, wie er sagt, „aggregierten“ Gemeinwohls1235. Hierunter versteht er ein Gemeinwohl, welches die Realisierung einzelner, intrinsischer Güter für jede einzelne Person dieser betreffenden und politischen Gesellschaft anstrebt1236. Als Naturrechtsanhänger verstehe man nach Murphy überwiegend Theoretiker, welche die Trennung von Moral und Recht ablehnen1237. Das Gemeinwohl setze sich begriffsnotwendig aus den Merkmalen Güter und Gemeinsamkeit zusammen1238. Das Allgemeinwohl stelle ein vorgegebenes Ziel und den Ausgangspunkt politischer Handlungen dar, welche von allen vernünftigen Menschen innerhalb dieser Gemeinschaft Unterstützung fände1239. Dabei sei das Gemeinsame nicht so einfach zu erkennen. So sei beispielweise das Hobbsche Verständnis über das Verlassen des Naturzustands, um eine politische Autorität einzurichten, die den Frieden bewahren solle, nicht mit einem gemeinsamen Ziel zu verwechseln1240. Der Beweggrund, warum sich der einzelne Mensch aus dem Naturzustand herauslösen möchte, sei nicht auf das gemeinsame Ziel ausgerichtet, dass alle Menschen in Frieden leben sollen, sondern sei darauf gerichtet, dass er persönlich ein friedliches Leben führen könne1241. Dabei soll der Zustand beobachtet werden, in dem ein Individuum A „aufblüht“1242. Diesen Zustand müsse der Gesetzgeber bei der Ausarbeitung von Gesetzen berücksichtigen1243. Noch stärker solle dann der Zustand berücksichtigt werden, in dem A und B „aufblühen“1244. Diese Prozedur solle soweit durchgeführt werden, bis alle Mitglieder der Gesellschaft in „voller Blüte stehen“1245. Eine solche Herangehensweise kann dazu führen, universelle Rechte abzuleiten, an die der Gesetzgeber gebunden ist. Universell sind die Rechte hier aber nur insofern, als dass sie jedem Menschen aufgrund des Nutzens der Gemeinschaft zustehen und nicht 1234

Wolfe, Political Theory (Fn. 1225), S. 250. M. Murphy, The Common Good, in: The Review of Metaphysics 59 (2005), S. 133 (136). 1236 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 136. 1237 M. Murphy, Natural Law Jurisprudence, in: Legal Theory 9 (2003), S. 241 (244). 1238 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 134. 1239 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 134. 1240 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 135. 1241 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 135. 1242 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 137. 1243 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 137. 1244 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 137. 1245 Murphy, Common Good (Fn. 1235), S. 137. 1235

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mehr aufgrund seiner einzelnen Persönlichkeit. Daher verbindet Murphy einen utilitaristischen Ansatz, welcher von einem aggregierten Gesamtnutzen ausgeht, mit einer naturrechtlichen Gütertheorie, welche die Realisierung einzelner Güter verwirklichen möchte, die in dem Menschen natürlich angelegt sind. Murphy beschäftigt sich auch mit der Frage der Gültigkeit des Gesetzes bei Abweichung zu einem entgegenstehend formulierten Naturrecht. Sollten die Anhänger der Theorie eine Norm nicht als Leitfaden ihres Verhaltens nehmen können, so handelt es sich nach Murphy um eine starke Lesart des Naturrechts1246. Eine solche Sichtweise sieht Murphy vorwiegend bei Michael Moore und lehnt diese in inhaltlicher Sicht nicht ab. c) George Duke George Duke beschäftigt sich mit dem naturrechtlich geprägten Begriff des Allgemeinwohls, welchem einmal mehr die Tradition von Aristoteles und Thomas zugrunde liegt1247. Das Gemeinwohl definiert Duke als einen Zustand, in dem jeder Einzelne innerhalb einer politischen Gemeinschaft und die politische Gemeinschaft als Ganzes erfolgreich seien1248. George Duke verteidigt die These, nach der der normative Inhalt einer Handlung der Hauptbegründungansatz für das Recht sei („normative priority thesis“)1249. Duke versteht unter dem normativen Punkt einer Handlung den Grund oder den Zweck, warum eine Handlung als gut bezeichnet werden kann oder die Handlungen eines Menschen leite1250. Den Vorrang der Bestimmung dieser normativen Rechtsfragen vor anderen zentralen Merkmalen des Rechts, bezeichnet er als Prioritäts­ these oder Begründungsvorrang („priority thesis“, „explanatory priority“)1251. Der „normative Punkt“ habe für das Recht nicht zur Folge, dass das Recht nur einem Gut dienen solle1252. Duke schreibt zwar im Singular vom „normativen Punkt“, bestreitet aber nicht die Pluralität von Werten und Gütern, die das Recht verfolgen solle, wie etwa menschliches Wohlergehen, Gerechtigkeit, Gemeinwohl1253. Der „normative Punkt“ gebe den Zweck eines Gesetzes vor, welches nicht zwingend erfüllt, sondern nur angestrebt werden müsste, weshalb der Rechtspositivismus auch der Theorie des „normativen Punkts“ des Rechts nicht 1246

Murphy, Natural Law (Fn. 1237), S. 244. G. Duke, The Common Good, in: ders. / R. P. George (Hrsg.), Jurisprudence (Fn. 96), S. 369 (370 ff.). 1248 Duke, Common Good (Fn. 1247), S. 376. 1249 G. Duke, Law’s Normative Point, in: Law and Philosophy: An International Journal for Jurisprudence and Legal 38 (2019), S. 1 (3). 1250 Duke, Normative Point (Fn. 1249), S. 3. 1251 Duke, Normative Point (Fn. 1249), S. 3. 1252 Duke, Normative Point (Fn. 1249), S. 6. 1253 Duke, Normative Point (Fn. 1249), S. 6. 1247

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

entgegen stünde1254. Daher würde die Zuschreibung eines „normativen Punktes“ des Rechts nicht dazu führen, die soziale Gültigkeit oder den Rechtsstatus des Gesetzes abzuerkennen1255. Duke sieht das Gemeinwohl als normativen Handlungsgrund in naturrecht­licher Tradition1256. Das Gemeinwohl müsse als normativer Grund in den Kern der naturrechtlichen Theorie übernommen werden1257. Der Begriff des Gemeinwohls ist nach Duke durch die thomanische Tradition geprägt und sei nicht auf die politische Gesellschaft beschränkt, sondern auf eine vorpolitische Gemeinschaft anwendbar1258. Doch selbst wenn sich der Begriff auf die politische Dimension beschränke, stelle sich doch noch die Frage, was innerhalb der Naturrechtstheorie unter dem Naturrecht zu verstehen sei1259: Man könne das Gemeinwohl instrumental verstehen, eine Gesamtheit von Bedingungen, die es dem Individuum ermögliche, Güter zu verwirklichen. Ein aggregiertes Gemeinwohl sei auf das Gedeihen aller Individuen innerhalb der politischen Gemeinschaft gerichtet. Das Gemeinwohl könnte naturrechtlich auch distinktiv ausgelegt und als Gedeihen der Gemeinschaft als Ganzes verstanden werden. Nach Duke schließen sich die verschiedenen Interpretationen des Gemeinwohls nicht aus, sondern seien in heutiger Zeit miteinander vereinbar1260. d) Gerard V. Bradley Gerard V. Bradley zeigt an bestehenden moralischen Problemfeldern auf, wie beispielsweise der Tötung von Zivilisten als „Kollateralschäden“ oder der Frage nach Gerechtigkeit in Abtreibungsfällen, dass auf naturrechtliche Theorien nicht verzichtet werden kann1261. Bezogen hierauf beschreibt er, dass es enorm wichtig für die Gerechtigkeit und das Allgemeinwohl sei, die „Persönlichkeit“ als Mensch weit zu definieren1262. Jeder, der nicht als „Persönlichkeit“ begriffen würde, könne daher als „entmenschlicht“ ohne Strafe getötet werden1263. Eine Gesellschaft, die dies nicht erkenne, sei nach Bradley barbarisch1264.

1254

Duke, Normative Point (Fn. 1249), S. 7. Duke, Normative Point (Fn. 1249), S. 7. 1256 G. Duke, The Weak Natural Law Thesis and the Common Good, in: Law and Philosophy: An International Journal for Jurisprudence and Legal Philosophy 35 (2016), S. 485 (492). 1257 Duke, Natural Law (Fn. 1256), S. 492. 1258 Duke, Natural Law (Fn. 1256), S. 492. 1259 Duke, Natural Law (Fn. 1256), S. 492. 1260 Duke, Natural Law (Fn. 1256), S. 492. 1261 G. Bradley, Natural Law Theory and Constitutionalism, in: G. Duke / R. P. George (Hrsg.), Jurisprudence (Fn. 96), S. 397 (425 ff.). 1262 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 426. 1263 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 426. 1264 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 427. 1255

I. Die Gütertheorien 

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Für Bradley sind es die Grundgüter, die das menschliche Handeln prägen und leiten und deshalb das Gerüst des Gemeinwohls einer Gemeinschaft darstellten1265. Das erfüllte Leben durch das Streben nach den Grundgütern bezieht sich auch bei Bradley nicht allein auf das Individuum, sondern geht auch von einer erfüllten Gesellschaft aus. Wenn die Grundgüter jedem Menschen ein erfülltes Leben ermöglichen können, darf der Zugang zu diesen Gütern nicht unnötig erschwert werden. Grundgüter wie Leben, Gesundheit, Wissen oder Religion zu schützen bedeute daher Autonomie für jeden Menschen, weshalb das Naturrecht nichts Geringeres liefere als die Grundlagen eines modernen Verfassungsstaates1266. Aber Bradley versteht das Naturrecht nicht als konkrete Handlungsvorgabe oder Verfassungsvorlage, weshalb die Frage der konkreten Ausgestaltung von verschiedenen Regierungsformen eine Aufgabe des positiven Rechts sei1267. Allerdings sei dem Verfassungsstaat eigen, dass der Verfassung bzw. den sich aus der Verfassung ergebenen Autoritäten das Streben nach dem Wohlergehen immanent sein müsse1268. Er sieht in den modernen Theorien des Konstitutionalismus, dass diese das Gemeinwohl „untergraben“, wenn diese nicht mehr an der Objektivität mancher Rechtsgüter festhielten und das private Leben der Menschen einengte1269. Für Bradley kann es kein Gemeinwohl ohne objektive, wahre Güter geben1270. Und eben dies werde durch die enorme Pluralität, der Vielfalt als Wert an sich gegenwärtig in Frage gestellt. Ein Grundgut wie das der Familie verliere seinen Wahrheitsanspruch in der Sekunde, in der sie nur noch eine Version des Zusammenlebens unter vielen sei1271. Nach Bradley könne eine ausufernde Überhöhung des Freiheitsbegriffs die Verfolgung gemeinsamer Güter unmöglich machen1272. Der Pluralismus kratze daher an Wahrheitsansprüchen, die auch das Naturrecht betreffen. Es könne im Grunde keine richtige oder falsche Lebensweise geben, da man gerade darauf abzielt, diese als gleichwertig nebeneinander zu stellen. Einzig die Mehrheitsmeinung, die „majoritäre Moral“1273, wird noch als Entscheidungsgremium zugelassen. Ein objektiver Rechtsgrund könne daraus aber gerade nicht erwachsen.

1265

Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 399. Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 400. 1267 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 401. 1268 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 403. 1269 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 404, 408. 1270 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 408. 1271 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 409. 1272 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 412: „If liberty detached from any account of the good is crowned as the supreme constitutional right, pursuit of common goods becomes, strictly speaking, impossible.“ 1273 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 409. 1266

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

e) Owen Anderson Auch Owen Anderson beschäftigt sich ausführlich mit der gegenwärtigen Naturrechtsdebatte1274. Anderson überprüft auf der Suche nach einer möglichen Alternative zum Naturrecht den ethischen Relativismus, den Rechtspositivismus, die Deontologie und den Konsequentialismus1275. Diese würden allerdings die Erkenntnisse über die menschliche Natur bestreiten und seien somit weniger attraktiv als die Naturrechtstheorien1276. Nach Anderson enthalten die zeitgenössischen Naturrechtstheorien einen Gedanken an universelles Recht, eine praktische Rationalität bezogen auf menschliche Güter und die empirische Erkenntnis, was für menschliches Leben wichtig sei1277. Er vertritt die Auffassung, dass das Gut etwas sein müsse, das sowohl die menschliche Existenz als auch die menschliche Natur zum Hauptziel haben müsse1278. Damit sieht er sein Naturrechtsverständnis zu vielen Naturrechtstheorien selbst im Gegensatz stehen. Er kritisiert die Ansicht, es gebe nicht das eine Gut des Allgemeinwohls, sondern viele Güter, welche zum menschlichen Gedeihen notwendig seien1279. Anderson sieht in der Wiederholung der Theorie von Aristoteles keine neue Theorie, die die Lücke zwischen Tugend und Glück füllen könne1280. Das Allgemeinwohl sei vielmehr ein Selbstzweck, was nicht durch die Erfüllung der einzelnen Güter erreicht werden könne1281. Daher könne das natürliche Moral­ gesetz die Menschheit lehren, ein gemeinsames Gut anzustreben, welches von jedem erkannt werden könne: „This stresses the themes of a common humanity with a shared good that can be known by all and what I have called a natural moral law that teaches us how to achieve the good“1282.

II. Die Vertragstheorien Die Vertragstheorie ist eine philosophisch fundierte Vorstellung davon, wie bestimmte Rechtssysteme und Staatsstrukturen aufgebaut sein sollten, um die Spannungen zwischen dem Herrscher und den Bürgern auszugleichen. Die Vorstellung einer legitimen Staatsordnung beruht auf der Annahme, dass sich in einem imaginären vorstaatlichen Naturzustand die Individuen bereit erklären, freiwillig Rechte 1274 Die aktuelle Naturrechtsdebatte sieht Owen Anderson stark von John Finnis und Martha Nussbaum geprägt; O. Anderson, The Natural Moral Law. The Good after Modernity, 2012, S. 204. 1275 Vgl. Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 209 ff. 1276 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 225. 1277 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 203. 1278 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 264. 1279 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 264. 1280 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 264. 1281 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 287. 1282 Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 287.

II. Die Vertragstheorien 

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an eine Autorität abzutreten, die für den Schutz dieser Rechte verantwortlich ist. Solche Theorien, welche unter dem Oberbegriff „Kontraktualismus“ zusammengefasst werden können1283, stellen dabei häufig auf die Natur des Menschen ab. Sie stehen auch heute noch ganz in der Tradition der Theorien der Aufklärung.

1. John Rawls Die Theorie des ehemaligen Harvard-Professors kann als eine, wenn nicht die wichtigste, politische Ethik des 20. Jahrhunderts angesehen werden1284. So entwirft Rawls in A Theory of Justice von 1971 ein Gesellschaftsmodell, was sich an dem Prinzip der „Fairness“ orientiert. Er selbst sieht seine Theorie in der Tradition der Vertragstheorien von Locke, Rousseau und Kant, die nicht so verstanden werden dürfe, als solle diese in eine bestimmte Gesellschaft eingeführt werden1285. Vielmehr sei der Leitgedanke, dass die ursprüngliche Einigung sich auf Gerechtigkeitsgrundsätze der gesellschaftlichen Grundstruktur beziehe1286. Unter der „Theorie der Gerechtigkeit als Fairness“ betrachtet Rawls diejenigen Grundsätze, „die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden“ und die Grundsätze der Gerechtigkeit somit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt würden1287. Dahinter steht die Idee, dass die Menschen in einem gemeinsamen Akt im Voraus die Grundlagen festlegen, nach denen später die Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der sozialen Güter bestimmt werden1288. Rawls geht von einer „ursprünglichen Situation der Gleichheit aus, als eine mit dem Naturzustand vergleichbaren Situation in den älteren Vertragstheorien und einer rein theoretischen Situation. In diesem „Urzustand“ wie Rawls diese Situation nennt, kennt kein Mensch seine Stellung oder Klasse, seine Talente oder seine Körperkraft1289. „Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt.“1290 Durch diese Ahnungslosigkeit seiner jeweiligen späteren Stellung seien die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung1291. Die Theorie vermag es, einen fairen Gesellschaftsvertrag aufzustellen, weil keiner der beteiligten Menschen in der Lage ist, sich selbst zu bevorzugen, sondern damit rechnen muss, jede Lebenssituation selbst einmal durchleben zu müssen. 1283

Geis, Gesellschaftsverträge (Fn. 71), S. 193. So auch O. Höffe, John Rawls, a Theory of Justice, 2013, S. 1. 1285 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 24 f. 1286 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 25. 1287 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 28. 1288 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 29. 1289 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 27 ff. 1290 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 29. 1291 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 29. 1284

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Daraus ergeben sich zwei Grundsätze, auf die man sich im Urzustand einigen würde: Zum einen müsse jeder das gleiche Recht auf das umfangreiche Gesamtsystem von gleichen Grundfreiheiten haben1292. Dieser Grundsatz der Grundfreiheit ist vor allem auf die politischen Freiheiten wie die der Grundrechte gerichtet, die für jeden gleich sein müssten1293. Zum anderen seien soziale und wirtschaftliche Ungleichheit nur dann erlaubt, wenn sie jedermann zum Vorteil dienen. Damit bezieht Rawls in seiner Theorie Stellung gegen den Utilitarismus, der den Nutzen einer Minderheit vernachlässigt, wenn dieser der Mehrheit nützt1294. Dieser utilitaristische Gedanke sei im Urzustand für die Etablierung eines Gesellschaftsvertrages nicht tragfähig. Vielmehr ginge es nach dem Differenzprinzip danach, dass die Gütermenge des besser Gestellten nur wachsen dürfe, wenn auch die Gütermenge der schlechter gestellten Person anwachse1295. Bei der Frage der Verteilungsgerechtigkeit hält Rawls Unterschiede somit für begründbar, in dem Bereich der Freiheit allerdings nicht, da sich die Menschen im „Urzustand“ auf die gleiche Grundfreiheit einigen würden1296. Der erste Grundsatz sei dem zweiten zudem immer vorzuziehen1297. Aufgrund seiner Vermutung von Gleichheit knüpft Rawls eher an Rousseau an und kann somit, wie bereits beschrieben, als klassischer Vertreter der Vertragstheorie gelten1298. Rawls stellt damit inhaltliche Anforderungen an das Recht und geht ausdrücklich von einem „rationalen Naturrecht“ aus1299. Braun bezeichnet die Theorien von Rawls und Dworkin gar als einen „Angriff gegen den Rechtspositivismus“1300. Die Theorie der Gerechtigkeit entzieht den politischen Verhandlungen die Entscheidung über ein auf Gerechtigkeit basierendes Recht1301. Sie lässt die Menschen unter dem „Schleier des Nichtwissens“ eine normative Wahl treffen und enthält daher die Unverfügbarkeit von Recht1302. Rawls selbst lässt keinen Zweifel offen, dass er seine Theorie als eine naturrechtsgeprägte Theorie verstanden wissen will: „Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß hat […] die kennzeichnenden Eigenschaften einer Naturrechtstheorie.“1303 1292

Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 82. Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 82. 1294 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 401. 1295 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 126. 1296 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 81. 1297 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 336. 1298 Seelmann / Demko, Rechtsphilosophie (Fn. 75), S. 216; Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 85: „mit John Rawls’ Konzeption des politischen Liberalismus und der Gerechtigkeit nimmt sogar eine der zentralen Theorien der politischen Philosophie der Gegenwart von der modern transformierten Idee des Gesellschaftsvertrages ihren die aktuelle Debatte prägenden Ausgangspunkt.“ 1299 F. Wilkes, John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, und Ronald Dworkin, These der Rechte. Positionen neuer amerikanischer Rechtsphilosophie zwischen Liberalismus, Utilitarismus, Positivismus und Naturrecht, 1997, S. 21. 1300 Braun, Rechtsphilosophie (Fn. 155), S. 181. 1301 Hassemer, Strafprozeß (Fn. 101), S. 195. 1302 Hassemer, Strafprozeß (Fn. 101), S. 195. 1303 Rawls, Theorie (Fn. 1285), S. 549. 1293

II. Die Vertragstheorien 

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2. Robert Nozick Robert Nozick, ebenfalls ehemaliger Professor in Harvard, greift die gesellschaftsvertragliche Auffassung Lockes, in dem der Mensch im Naturzustand vollkommen frei sei, wieder auf1304. Die Naturrechte, welche Nozick wie Locke unterstellt, müssten aber im Naturzustand geschützt durchgesetzt werden. Nozick glaubt zunächst, dass dies im Naturzustand auch Schutzvereinigungen leisten könnten, zu denen sich Gruppen von Menschen zusammenschließen könnten1305. Solche setzten sich dann für die Rechte ihrer Mitglieder untereinander und gegen Außenstehende ein, müssten als „Dienstleister“ Mitarbeiter anstellen und verkauften dann entsprechend diese Schutzleistungen1306. Durch verschiedene Angebote und Ausgestaltungen solcher Vereine komme es zum Entstehen unterschiedlicher Vereinigung1307. Sollten in einem Gebiet auf Dauer mehrere Schutzvereine bestehen, so würden sich diese aus Kostengründen auf einen dritten Richter einigen und eng zusammenarbeiten, ansonsten würde sich jedoch aufgrund der Größe und Gewichtung einzelner Organisationen eine dieser Gruppen durchsetzen1308. „Aus der Anarchie entsteht durch spontane Gruppenbildungen, Vereinigungen zum gegenseitigen Schutz, Arbeitsteilung, Marktverhältnisse, ökonomische Größenvorteile und vernünftiges Eigeninteresse ein Gebilde, das sehr stark mit einem Minimalstaat oder einer Gruppe geographisch abgegrenzter Minimalstaaten ähnelt.“1309 Eine Vereinigung, welche selbst Übergriffe gegen andere Personen unternehmen würde, könne sich auf Dauer auf keine freiwillige Mitarbeit stützen1310. Ein solches faktisches Machtmonopol einer dieser Organisationen lasse sich mittels der unsichtbaren Hand nach Adam Smith erklären. „Die eigennützigen und vernünftigen Handlungen von Menschen im Naturzustand führen ohne direkte Absicht dazu, dass in einem bestimmten Gebiet sich eine Schutzorganisation durchsetzt und ein Gewaltmonopol bildet.“1311 Dabei kann es dazu kommen, dass solche Monopolisten Außenstehenden oder Nicht-Mitgliedern keinen Schutz vor Gewaltanwendungen anbieten würden1312. Sog. Ultraminimalstaaten würden nur solchen Personen oder Gruppen den Schutz anbieten, die dafür bezahlt hätten1313. Aber aufgrund ihres Monopols müssten diese Ultraminimalstaaten in einen Minimalstaat überführt werden, als Ausgleich der Nachteile für die Außenstehenden, durch das 1304

R. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, 1981, S. 25. Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 26 ff. 1306 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 27. 1307 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 29. 1308 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 30. 1309 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 30. 1310 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 30 ff. 1311 W.  Reese-Schäfer, Robert Nozick und die philosophische Begründung des kapitalistischen Antietatismus, in: B. Knoll (Hrsg.), Der Minimalstaat. Zum Staatsverständnis von Robert ­Nozick, 2018, S. 153 (156). 1312 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 38 ff. 1313 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 115 f. 1305

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Verbot der Selbsthilfe gegenüber ihren Mitgliedern1314. Als Minimalstaat versteht Nozick einen Staat, der ein durch Steueraufkommen finanziertes Gutscheinsystem, Gutscheine an alle oder einige (z. B. Bedürftige) ausgibt, die nur zum Erwerb von Schutzverträgen dienen1315. Ein Staat, der somit jeden Menschen schützt. Aufgrund seiner Nähe zum naturrechtlich begründeten Gesellschaftsvertrag von Locke kann Nozick als Anhänger des Naturrechts gelten1316. Dass sich der Staat von allein aus einem anarchischen Zustand herausbilden würde, ist für Nozick eine naturrechtliche Konsequenz1317. Durch den Prozess der unsichtbaren Hand, einem Prozess, bei dem kein Gesamtsystem vorschwebe, liegt in der Theorie Nozick’s kein Gesellschaftsvertrag in dem Sinne vor, dass es zu einer ausdrücklichen Vereinbarung kommen würde1318. Möglicherweise gilt Nozick deshalb in Deutschland als unbekannt, weil hier die Idee eines reinen „Nachtwächterstaates“ (oder Minimalstaates) auf wenig fruchtbaren Boden fällt1319.

3. David Gauthier David Gauthier beschäftigt sich in seinem Hauptwerk Morals by Agreement, wie der Name schon verrät, ebenfalls mit einer vertragstheoretischen Begründung von Moral1320. Die Moral sieht Gauthier in einer Grundlagenkrise, denn die Voraussetzungen der Moral seien nicht mehr gegeben1321. Moral charakterisiert er dabei als „Moral der gerechtfertigten Beschränkung“1322. So stimmten heutzutage die objektiven Werte, die unser Handeln erklärten, nicht mehr mit unseren psychologischen Befindlichkeiten wie beispielsweise Wünsche und Ziele überein1323. Es stelle sich die Frage, welchen Grund man habe könne, um freiwillig eine Beschränkung anzuerkennen1324? Gauthier geht von dem Grundgedanken aus, dass es Handlungen gebe, die für alle Beteiligten ein besseres Ergebnis erzielten, als eine Entscheidung, die dem Handelnden zunächst den eigenen Nutzen maximieren würde und für andere nachteilig wäre1325. Diese „abwägende Rationalität“ schränke die maximierende 1314

Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 115 f. Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 38. 1316 H. Kliemt, Wie Robert Nozick den Minimalstaat rechtfertigt – Und warum ihm das höchstens gegenüber dem Anarchisten gelingt, in: B. Knoll (Hrsg.), Minimalstaat (Fn. 1311), S. 29 (35). 1317 B. Knoll, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Minimalstaat (Fn. 1311), S. 9 (18 ff.). 1318 Nozick, Anarchie (Fn. 1304), S. 31 ff. 1319 R. Hank, Anarchie. Staat. Utopia, in: FAZ v. 17. 12. 2007, S. 12 (12). 1320 Vgl. D. Gauthier, Morals by Agreement, 1986. 1321 D. Gauthier, Warum Kontraktualismus?, in: R. Celikates / S. Gosepath (Hrsg.), Philosophie der Moral. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, 2009, S. 463 (464). 1322 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 465. 1323 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 464 f. 1324 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 465. 1325 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 466. 1315

III. Der Fähigkeitsansatz 

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Entscheidungsmöglichkeit ein1326. Jeder erkenne seine persönlichen Vorteile, wenn alle nach dieser Praxis handeln, da eine solche Beschränkung von jedem akzeptiert werden würde und man in der Summe solcher allgegenwärtigen Situationen von der Beschränkung mehr profitiere, als durch das Anstreben des eigenen Nutzens1327. So seien „zurückhaltende Maximierer“ vertrauenswürdige Personen und Partner, die von kooperativen Unternehmungen mit Nutzen für jedermann profitieren, im Gegensatz zu „direkten Maximierern“, welche hiervon ausgeschlossen würden1328. Daher könne man als „zurückhaltender Maximierer“ häufiger damit rechnen, von Situationen der Mitbürger zu profitieren1329. Dies könne man als eine Zustimmung unter rationalen Personen bezeichnen, die ihr Zusammenleben ordnen und welche als Grundlage der Moral gelten könne1330. Moral existiere nicht einfach oder lasse sich wie ein Kaninchen aus dem Hut zaubern1331. Die Moral lasse sich vielmehr aus den Wünschen und Zielen der Menschen herleiten und gerade nicht aus der reinen Vernunft1332. „[…] die Moral ist eine der Interaktion mit anderen Handelnden entspringende Beschränkung hinsichtlich der Art und Weise, wie er handelt.“1333 Dies sei jedoch eine „rationale Rekonstruktion“ und keine reale Zustimmung1334. Es seien allerdings Praktiken, denen die Gesellschaft ex ante betrachtet zugestimmt habe und deren „hypothetische Zustimmung ein Test für die Rechtmäßigkeit unserer bestehenden moralischen Praktiken“1335. Daher besagt die Vertragstheorie nach Gauthier zunächst, dass die Moral eine Beschränkung des Einzelnen sei. Jeder würde in diese Handlungseinschränkungen einstimmen, da auch jeder in der Summe davon profitieren würden. Auch wenn diese Moral von Wünschen geleitet ist, beruht sie auf einer imaginären Einigung, die wiederum rational rekonstruiert wird. An einer real existierenden Konsensbildung fehlt es daher. Die vernünftige Herleitung dient sodann als Maßstab der Kontrolle des Rechts.

III. Der Fähigkeitsansatz Der Fähigkeitsansatz geht von der Idee aus, dass der reine Grundsatz der gleichen Verteilung von Grundgütern noch keine gerechte Verteilung darstelle. Ähnlich dem Grundsatz, Ungleiches sollte nicht gleich behandelt werden, müsste bei 1326

Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 466. Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 466. 1328 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 469. 1329 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 469. 1330 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 467. 1331 Gauthier, Morals (Fn. 1320), S. 9. 1332 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 467. 1333 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 468. 1334 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 469. 1335 Gauthier, Kontraktualismus (Fn. 1321), S. 469. 1327

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

einer gerechten Gütertheorie die Fähigkeit des einzelnen Menschen berücksichtigt werden. Die universalen Rechte nach der Idee des Fähigkeitsansatzes von Sen und Nussbaum entspringen dabei dem „normativen Wesen des Menschseins“ und entsprechen damit ganz der „naturrechtlichen Systematik“1336.

1. Amartya Sen Amartya Sen ist ein indischer Philosoph, welcher sich seit Jahrzehnten stark in den anglo-amerikanischen / angelsächsischen ethischen Diskurs einbringt und zusammen mit Martha Nussbaum als Begründer des Fähigkeitsansatzes gelten kann. Sens Fähigkeitsansatz ist zurückzuführen auf die Kritik an John Rawls. Seinen Fähigkeits- oder Befähigungsansatz („Capability-Approach“) bezeichnet Sen als Ergebnis seiner Überlegungen, um individuelle Vorteile besser erfassen zu können als der Ansatz der Gütertheorie von John Rawls1337. Sen sieht seine Überlegungen nicht als neuen Gesellschaftsentwurf, sondern als Maßstab für die Bewertung einer Gesellschaft und ihrer sozialen Institutionen1338. Die Gütertheorie kritisiert Sen, da Güter alleine noch keinen ausreichenden Maßstab für individuelle Vorteile beschrieben, sondern erst die Befähigung einer Person, „die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hochschätzt.“1339 Für das Erreichen des menschlichen Wohlbefindens sei daher die Befähigung einer Person ausschlaggebend. Unter Befähigung versteht Sen „unser Vermögen, vielfältige Kombinationen von Funktionsweisen zu bewerkstelligen, die wir nach Maßgabe dessen, was wir mit gutem Grund hochschätzen, miteinander vergleichen und gegeneinander abwägen können.“1340 Einige dieser Funktionen seien elementar und würden von allen Menschen als wichtig eingeschätzt, wie etwa angemessene Ernährung oder Gesundheit1341. Andere Funktionen seien komplexer, wie beispielsweise das Erreichen von Selbstachtung oder soziale Integration1342. Die Gewichtung dieser Funktion sei dabei nicht hierarchisch vorgegeben, sondern könnte individuell unterschiedlich ausfallen1343. Diese Freiheit, sein Leben unterschiedlich auszurichten, spiegele sich an der Fähigkeit der Person wider1344. Freiheit bedeute zweierlei Dinge: Die Verfahren 1336

Nass, Naturrecht (Fn. 174), S. 109. A. Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, 2010, S. 259. 1338 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 260. 1339 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 259. 1340 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 260 f. 1341 A. Sen, Capability and Well-Being in: M. Nussbaum / ders. (Hrsg.), The Quality of life, 1993, S. 30 (31). 1342 Sen, Capability (Fn. 1341), S. 31. 1343 Sen, Capability (Fn. 1341), S. 31. 1344 Sen, Capability (Fn. 1341), S. 33. 1337

III. Der Fähigkeitsansatz 

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und die realen Chancen, die Menschen angesichts ihrer persönlichen Umstände zur Verfügung stehen. Handlungs- und Entscheidungsfreiheit können durch unzulängliche Verfahren beschränkt werden, wie die Verletzung des Wahlrechts1345. Unfreiheit könne aber auch den unzulänglichen Chancen entspringen, minimale Ziele erreichen zu können, wie die Vermeidung von Krankheiten oder Hungersnot1346. Für die Entfaltung der Freiheit sind beide Aspekte von Bedeutung, sowohl Verfahren als auch Chancen. „Hat eine Person geringere Befähigung – weniger reale Chancen – als eine andere, die Dinge zu tun, die sie mit gutem Grund hoch bewertet, wird ihr Vorteil niedriger eingeschätzt.“1347 Amartya Sen beschreibt an einem Beispiel, warum er die Gütertheorie nicht als ausreichend begreift1348: Wenn eine Person zwar hohe Einkünfte habe, aber an einer schweren Krankheit leide, muss ihr Leben nicht deshalb als begünstigt eingeschätzt werden, weil sie hohe Einkünfte habe. Ressourcen und Güter allein erzeugen noch kein Wohlergehen, da sie keinen Selbstzweck darstellen1349. Die Mittel für ein befriedigendes Leben seien für sich genommen noch kein Zweck eines guten Lebens1350.

2. Martha Nussbaum Martha Nussbaum hat die gegenwärtige Gerechtigkeitsdebatte um ihre Fähigkeitstheorie ergänzt. Sie steht damit ganz in Tradition des Fähigkeitsansatzes Sens. Durch ihren Ansatz, die Ausübung dieser Fähigkeiten ermögliche ein gutes Leben und die Gemeinschaft müsse sich um die Erfüllung der dadurch entstehenden Ansprüche sorgen, lässt sich Nussbaum auch als Vertreterin des Neoaristotelismus bezeichnen1351. Zunächst kritisiert sie an allen bestehenden Gerechtigkeitstheorien die Vernachlässigung der Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung, das Problem der Ausweitung der Gerechtigkeitsfrage auf alle Bürgerinnen und Bürger dieser Welt und das Problem mit dem ethischen Umgang mit Tieren1352. Obwohl ­Nussbaum ihr Werk John Rawls widmet und seine Theorie als „herausragendes Werk“ und überzeugendste Gerechtigkeitstheorie bezeichnet, nimmt sie seine Theorie von der Kritik nicht aus, dass auch diese Ansicht die drei großen ange 1345 A. Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, 2002, S. 28 f. 1346 Sen, Ökonomie (Fn. 1345), S. 29. 1347 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 259. 1348 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 262. 1349 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 261 f. 1350 Sen, Gerechtigkeit (Fn. 1337), S. 262. 1351 S. Laukötter, Zur Begründung der Menschenrechte im Fähigkeitsansatz, in: M. WasmaierSailer / M. Hoesch (Hrsg.), Begründung (Fn. 11), S. 161 (171). 1352 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 14 ff.

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

sprochenen Probleme vernachlässige1353. Nach Nussbaum kann Rawls Theorie für die drei größten Probleme keine Prinzipien anbieten1354. Auch alle klassischen Vertragstheorien würden die größten Probleme unserer Zeit nicht genügend beachten, da sie von Männern mit gleichen Fähigkeiten als Vertragspartner ausgegangen seien1355. So sei es problematisch, dass die Idee eines Gesellschaftsvertrages eben nur auf ihre territorial begrenzte Gesellschaft bezogen ist und Menschen mit Beeinträchtigungen und andere Lebewesen, welche selbst nicht Vertragsparteien werden können, nicht berücksichtige. Die Vertragstheorie setze also Vertragsparteien und Bürger gleich1356. Man müsse die Frage, von wem grundlegende Prinzipien aufgestellt werden, von der Frage, für wen sie formuliert würden, strikt trennen1357. „Man könnte eine Theorie vertreten, der zufolge zahlreiche menschliche und nichtmenschliche Lebewesen als primäre Subjekte der Gesellschaft gelten, auch wenn sie nicht dazu in der Lage sind, an dem Verfahren teilzunehmen, in dem die politischen Prinzipien ausgewählt werden.“1358 Deshalb versucht Nussbaum mit dem von ihr entwickelten Fähigkeitsansatz die Vertragstheorien weiterzuentwickeln. Dabei ginge es ihr um die Erarbeitung einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche mit philosophischer Grundlage, „die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes Minimum geachtet und umgesetzt werde sollte“1359. Dies ginge aus ihrer Sicht am besten, wenn man sich vor Augen führe, was der Mensch tatsächlich tun und sein könne1360. Hierfür stellt sie einen Katalog von „wesentlichen menschlichen Fähigkeiten“ auf, welche als Quelle politischer Prinzipien konzipiert werden1361. Als solche nennt sie das Leben, körperliche Gesundheit, körperliche Integrität, Sinne, Vorstellungskraft und Denken, Gefühle, praktische Vernunft, Zugehörigkeit, andere Spezies, Spiel und Kontrolle über die eigene Umwelt und begreift diese Fähigkeiten als Maßstab eines menschenwürdigen Lebens1362. Nussbaum sieht in den von einer Gesellschaft geschützten Grundgütern allein noch keine Gewährleistung für ein gutes Leben. Die Verwirklichung eines guten Lebens könne vielmehr erst dann erreicht werden, wenn der Mensch in die Lage versetzt werden würde, diese Güter den jeweiligen Umständen entsprechend anzuwenden1363. 1353

Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 14 ff. Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 44 ff. 1355 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 34. 1356 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 35. 1357 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 35. 1358 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 37. 1359 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 104. 1360 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 104. 1361 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 104. 1362 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 112 ff. Diese Aufzählung soll zwar nach Nussbaum nur einen aktuellen Stand darstellen, welcher erweiterbar und veränderbar sei. Unumstritten ist die Aufzählung dennoch nicht. So erhebt Bormann den nicht von der Hand zu weisenden Einwand, warum genau diese Fähigkeiten in die Liste mit aufgenommen wurden, und andere wie die der Schönheit und Sinnerfüllung fehlen; Bormann, Begründung (Fn. 174), S. 153. 1363 Vgl. Mack, Theorie (Fn. 399), S. 52. 1354

III. Der Fähigkeitsansatz 

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Vertragstheorien seien dadurch gekennzeichnet, dass die Erwartung eines gegenseitigen Vorteils die Motivation sei, den Naturzustand zu verlassen1364. Außerdem gehe diese Theorien davon aus, dass sich die Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft bereits dann entfaltet, wenn die Machtverhältnisse zwischen den Menschen annähernd gleich verteilt sind1365. Im Fähigkeitsansatz komme den Vorteilen menschlicher, sozialer Kooperation eine moralische Dimension dazu, da zu dem Menschen eine Wertschätzung der Gerechtigkeit und ein ausgeprägtes Mitgefühl gehöre1366. Zudem unterscheide sich die Idee der Würde des Menschen in der Fähigkeitstheorie von der der Vertragstheorien. Der Fähigkeitsansatz stelle weniger auf eine Betrachtungsweise ab, die auf eine Vernunft in Abgrenzung zu anderen Tieren aufbaue1367. Der Fähigkeitsansatz sehe in der Vernunft nur eine weitere Fähigkeit des praktischen Nachdenkens, welches der Animalität nicht entgegengesetzt werden könnte1368. Zusammengefasst sei der Fehler die starke Ähnlichkeit der Vertragsparteien und der Begründung der Würde aus der menschlichen Vernunft heraus1369. Nussbaum hält, ebenso wie Sen, der Gütertheorie den Fähigkeitsansatz entgegen, welcher einen Verteilungsmaßstab nach dem Grundsatz der Fähigkeiten anstrebt. So stimmt sie mit Sens Kritik überein, wonach Güter und Ressourcen für das Wohlergehen für Menschen mit Behinderung alleine nicht ausreichen: „Eine Person im Rollstuhl kann über dasselbe Einkommen und Vermögen verfügen wie ein Mensch der ‚normal‘ mobil ist, und dennoch nicht die gleiche Fähigkeit haben, sich von Ort zu Ort zu bewegen.“1370 Nussbaums Liste der „wesentlichen menschlichen Fähigkeiten“ solle ausdrücklich nur politischen Zwecken dienen und ohne eine metaphysische Begründung auskommen1371. Ihre Theorie geht von einer Rechtsquelle aus, die in den Fähigkeiten des Menschen (der menschlichen Natur) begründet ist und das politische System daran misst, ob diesen Fähigkeiten in dem Sinne Rechnung getragen wird, als dass der Mensch ein würdevolles Leben führen könne. Diese Theorie bedient sich daher naturrechtlicher Argumentationen1372. Ihren Ansatz begreift Nussbaum selbst als „politisch eng mit der Förderung der Menschenrechte verbunden“, welche auf den „vielschichten Vorstellungen des Menschen und der Moral beruhen“1373. Das heißt, Nussbaum sieht in ihrem Ansatz selbst die klare Position vertreten, „dass 1364

Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 219. Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 219. 1366 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 219. 1367 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 223. 1368 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 224. 1369 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 445. 1370 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 229 f. 1371 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 114. 1372 Ebenso Mack, Wandel (Fn. 400), S. 224: „Nussbaum argumentiert naturrechtlich, ist jedoch bewusst an vertragstheoretische Ansätze anschlussfähig, indem sie Naturrecht und Vertragsrecht methodisch verknüpft und von natürlichen Ansprüchen des Menschen ausgeht, die a posteriori vertraglich gefestigt und festgelegt werden müssten [Herv. F.v.R.].“ 1373 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 390. 1365

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

die relevanten Ansprüche vorpolitisch und nicht bloß das künstliche Ergebnis von Gesetzen und Institutionen sind“1374. Sie will allerdings keineswegs Normen direkt aus der menschlichen Natur ableiten1375. Vielmehr müssten die angeborenen Fähigkeiten eines Menschen ethisch bewertet werden, in dem gefragt werden müsse, welche dieser Fähigkeiten gut und welche für ein achtbares und gelingendes Leben notwendig seien1376. So entledigt sich Nussbaum auch der Kritik, sie würde einen fehlerhaften Sein-Sollen-Schluss zulassen1377. Nussbaum gibt dabei keine starren Ergebnisse oder explizite Gesetzesvorschläge vor, sondern hält die einzelnen menschlichen Fähigkeiten absichtlich besonders abstrakt, damit Gesetzgeber, Bürger und Gerichte genug Spielraum zum Diskutieren hätten1378. Dass Staaten aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen, sei dabei völlig angemessen1379.

3. Jacqueline Laing Jacqueline Laing bekräftigt die Notwendigkeit des Naturrechtsdenkens nicht durch eine ausformulierte Theorie, sondern erklärt die Notwendigkeit an vier Paradigmen des Fehlverhaltens. Diese vier Paradigmen sind Völkermord, unverhältnismäßige Bestrafung, massenhaftes Klonen von lebendigen Menschen und Pathologien wie Bestialität, Inzest und einvernehmlicher Kannibalismus1380. Jacqueline Laing sucht nach einem Werkzeug, um diese Handlungen als Fehlverhalten einstufen zu können. Neben dem Naturrecht gebe es noch den moralischen Relativismus, den Utilitarismus und den harten Liberalismus in der angewandten Ethik, um menschliche Handlungen bewerten zu können1381. All diese Ansätze könnten in ihrer Reinform keine befriedigenden Antworten geben. Nach dem Relativismus ist die Einordnung von Gut und Böse eine persönliche oder kulturelle subjektive Einstellung. Sie ist konsensgebunden und abhängig von Gefühlen und Wünschen1382. Der Relativismus muss demnach nicht zwingend zu dem Ergebnis kommen, dass die jeweiligen Handlungen der vorangestellten Paradigmen als schlecht zu verurteilen sind. Er kann die Frage nach der Verwerflichkeit dieser Paradigmen im Grunde gar nicht liefern. Gebe es eine 90-prozentige Befürwortung für den Völkermord, wäre dies keine befriedigende Antwort1383. Der 1374

Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 392. Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 496. 1376 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 496. 1377 Laukötter, Begründung (Fn. 1351), S. 174. 1378 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 115. 1379 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 115. 1380 J.  Laing, Natural Law Reasoning in Applied Ethics  – Four Paradigms, in: G.  Duke /  R. P. George (Hrsg.), Jurisprudence (Fn. 96), S. 216. 1381 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 221. 1382 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 222 ff. 1383 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 223. 1375

III. Der Fähigkeitsansatz 

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Relativismus könne zwar die psychologische und soziologische Erklärung dafür liefern, wie es zu solchen Gefühlen kommen könne, aber die Handlung als solche könne er nicht bewerten1384. Dies aber könne das Naturrecht mit dem Argument des Objektivismus und Universalismus leisten, da die Gefühle und der Konsens keinen Einfluss auf die Bewertung hätten1385. Auch der Utilitarismus könne die Paradigmen nicht befriedigend bewerten. So seien Handlungen generell nach dem Utilitarismus als legitim zu bewerten, wenn diese dem größtmöglichen Nutzen dienen würde. So ließe sich die Tötung eines Obdachlosen dadurch rechtfertigen, dass seine Organe zehn weitere Menschen retten könnten1386. Dies sei aber eine schwerwiegende Ungerechtigkeit, was das zentrale Problem des Utilitarismus sei1387. Die Theorie der Autonomie (oder der harte Liberalismus) wiederum vertrete die Ansicht, eine Handlung sei dann nicht zu beanstanden, wenn kein Schaden angerichtet werde1388. Mit dieser Ansicht aber könne man seinen Unmut über Nekrophilie, Inzest, Zoophilie oder gar „freiwilligen“ Sex mit Kindern oder Säuglingen nicht zum Ausdruck bringen1389. Auch das Klonen lebendiger Menschen sei dadurch nicht negativ zu bewerten1390. Eine Theorie, welche die rationale Grenze der Autonomie nicht erklären könne, lehnt Laing deshalb ab: „However intrepid and entertaining the autonomist ethic, a theory that cannot account for the rational limits of autonomy must be rejected.“1391 Laing nähert sich dem Naturrecht durch ein Ausschlussverfahren an. Für Laing ist das Naturrecht objektiv und universell und es existiert unabhängig von menschlichem Konsens, menschlichen Konventionen und menschlicher Konstruktion1392. Ohne naturrechtliche Argumente käme man bei der Bewertung dieser Paradigmen zu irrationalen Entscheidungen, sollte man eine der anderen ethischen Theorien heranziehen1393. Die Vernunft des Menschen erlaube es ihm, das Gute zu erkennen und aufgrund seiner natürlichen Neigungen nach menschlichen Gütern zu streben. Die Frage nach dem Sinn und Zweck einer Handlung, eine naturrechtlich geprägte rationale Autonomie („rational autonomy“)1394, helfe bei der Untersuchung nach dem Wohlbefinden und den Bedürfnissen der Lebewesen1395. 1384

Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 223. Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 223. 1386 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 231. 1387 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 231. 1388 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 233. 1389 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 234 f. 1390 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 235. 1391 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 238. 1392 J.  Laing, Bioethics and Natural Law, in: T. Angier (Hrsg.), Ethics (Fn. 1078), S. 199 (201 f.): „Natural law theory supplies an account of nature that locates binding moral law in human reason. The law of nature is objective and universal. It exists independently of human consensus, human convention and human construction.“ 1393 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 240. 1394 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 233. 1395 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 227. 1385

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Der Fähigkeitsansatz nach Sen und Nussbaum könne erklären, warum die beschriebenen Handlungen natürliche menschliche Ziele untergraben und daher zu verurteilen seien1396. Der Fähigkeitsansatz ermögliche eine Bewertung der menschlichen Handlungen anhand der Bedürfnisse des Lebewesens. So untergrabe beispielsweise das massenhafte Klonen zur Reproduktion die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen1397. Bei der Sodomie erlaube der Liberalismus noch den Geschlechtsverkehr, das Naturrecht aber schütze die Fähigkeit des menschlichen und tierischen körperlichen Wohlergehens1398.

IV. Der Kommunitarismus bei Alasdair MacIntyre Der Kommunitarismus kann als eine in den 1980er Jahren entstandene angloamerikanische Gegenreaktion auf die Vertragstheorien nach Rawls verstanden werden1399. Der Kommunitarismus (aus dem lateinischen communitas = Gesellschaft) stellt zur Bildung eines Konsenses ganz im Gegensatz zur Vertragstheorie auf eine gemeinsame moralische Grundvorstellung des Menschen in der Gemeinschaft ab1400. Eine Behandlung der menschlichen Moralvorstellung aus einem neutralen, ungeprägten Naturzustand heraus ist für den Kommunitarismus daher nicht möglich. Die Bewertung menschlichen Handelns kann dadurch immer nur im gesellschaftlichen und sozialen Kontext passieren. Was sich wie eine starke rechtspositivistische Theorie liest, benutzt teilweise schwache naturrechtliche Argumentationsmuster1401. Alasdair MacIntyre bedient sich für die Beantwortung der Frage nach moralischen Forderungen bei der aristotelischen Tugendethik1402. Allerdings verzichtet MacIntyre auf eine metaphysisch begründete Natur des Menschen, welche das Güterstreben für ein gutes Leben vorgebe. Güter würden erst durch die Praxis erfüllt und angestrebt: „Mit ‚Praxis‘ meine ich jede kohärente komplexe Form sozial begründeter, kooperativer menschlicher Tätigkeit, durch die dieser Form von Tätigkeit inhärente Güter im Verlauf des Versuchs verwirklicht werden, jene Maßstäbe der Vortrefflichkeit zu erreichen, die dieser Form von Tätigkeit angemessen und zum Teil durch sie definiert sind, mit dem Ergebnis, daß menschliche Kräfte zur Erlangung der Vortrefflichkeit und menschliche Vorstellungen der involvierten 1396

Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 239. Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 239. 1398 Laing, Natural Law (Fn. 1380), S. 240. 1399 G. Hartung, Art. Vertrag II (soz. / pol.), in: J. Ritter / K. Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 2001, Sp. 965 (977). 1400 Hartung, Vertrag (Fn. 1399), Sp. 977. 1401 Die Darstellung beschränkt sich daher auf Alasdair MacIntyre. Zu den weiteren Anhängern einer kommunitaristischen Theorie werden Charles Taylor, Michael Sandel und Michael Walzer gezählt; vgl. M.  Haus, Alasdair MacIntyre, in: W.  Reese-Schäfer (Hrsg.), Handbuch Kommunitarismus, 2019, S. 193 (194). 1402 Vgl. A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, 2006. 1397

IV. Der Kommunitarismus bei Alasdair MacIntyre 

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Ziele und Güter systematisch erweitert werden.“1403 Für jede Praxis ergeben sich äußere und innere Güter. Zur Veranschaulichung nennt MacIntyre das Beispiel eines Kindes, welchem zum Zwecke des Erlernens des Schachspiels zur Belohnung Süßigkeiten versprochen werden. Diese seien als äußeres Gut anzusehen, wie etwa auch Lohn, Prestige und Status1404. Und es gebe innere Güter, die der Praxis, beispielweise dem Schachspiel, inhärent sind und nicht wie äußere Güter auf andere Wege erlangt werden können1405. Den zugrunde liegenden Praxen ist allerdings noch keine Bewertung immanent, sodass es auch Arten von Praxen gibt, die schlecht sind und zu vielen Konflikten und zu viel Willkür führen können1406. Der Definition von Tugend als „erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im Allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind“, fügt ­MacIntyre daher das Merkmal der narrativen Einheit hinzu1407. Der Mensch sei in seinen Handlungen und in seiner Praxis „im Wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier.“1408 Die Frage nach der richtigen Handlung lasse sich nur in der konkreten Situation betrachten. Handlungen seien immer Episoden einer bestimmen Geschichte, weshalb sie für die Frage nach der richtigen Handlung immer nur zusammen mit dem Subjekt einer Geschichte betrachtet werden können1409. Der Individualismus widerfährt bei MacIntyre nun allerdings eine starke Begrenzung. Das Narrative eines Individuums lässt sich nicht erzählen ohne sein Umfeld. Die Geschichte eines Lebens sei eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaft, von der man seine Identität ableite1410. Die soziale Identität durch Zugehörigkeit zu Familie, Berufsstand, Stadt, Land oder Stamm erzeugen den moralischen Ausgangspunkt1411. MacIntyre lehnt eine metaphysische Biologie als Grundlage der teleologischen Darstellung der Tugenden ab1412. Dennoch ist MacIntyre davon überzeugt, dass Beteiligte an einem Projekt „bestimmte Gruppen von Eigenschaften als Tugenden und die entsprechende Gruppe von Mängeln als Untugenden anerkennen“ müssten, um etwas Gutes erreichen zu können1413. Daher müssten auch Handlungen bestimmt werden, die das Erreichen des Guten verhindern, wie etwa „das Vernichten unschuldigen Lebens, Diebstahl, Meineid und Betrug“, weil sie nicht einfach als schlecht, sondern als untragbar anzusehen seien1414. Für Michael Haus erkennt 1403

MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 251 f. MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 253. 1405 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 253. 1406 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 267, 269. 1407 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 255 f., 275. 1408 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 288. 1409 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 288 ff. 1410 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 294. 1411 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 293. 1412 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 218. 1413 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 203. 1414 MacIntyre, Verlust (Fn. 1402), S. 203. 1404

206

D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

MacIntyre damit den Gedanken eines minimalen Naturrechts an1415. Die Bewertung von Handlungen, die in der Konsequenz zur Förderung angestrebter Projekte verboten werden müsste, lässt sich in einer Gesellschaft herausarbeiten, aufgrund der negativen Einflüsse auf die gemeinsamen Ziele. Für die Teilnehmer dieser Gemeinschaft sind diese Regelungen dann aber bereits denklogisch vorgelagert. Durch das Narrativ zur Einordnung verschiedener Handlungen lassen sich auch typisch naturrechtliche Ansätze der katholischen Sozialethik begründen1416. So könne das Gemeinwohl durch einen narrativen Verpflichtungsgrund begründet werden, nämlich durch die Verflechtung des Individuums mit der Gemeinschaft1417. Auch die Solidarität untereinander ließe sich somit erklären, da das Narrativ der Menschen in einer Gemeinschaft miteinander verwoben ist und sich hieraus eine Verpflichtung untereinander herleiten lasse1418. Christian Müller und Michael Sendker sehen hierin einen alternativen Begründungsansatz, der ohne die vorbelastete Legitimationsfigur des Naturrechts auskomme1419. Der narrative Ansatz betrachte die real wahrgenommenen Rechte und Pflichten zwischen den Menschen und hinterfrage nicht, ob es tatsächlich auch Pflichten für solche Handlungen gebe1420. Die Antwort auf die Frage, ob es eine solche Verpflichtung gebe, sei immer noch dem Naturrechtsansatz zu eigen, weshalb sich die Ansätze ergänzten und nicht ausschlössen1421.

V. Die Prinzipientheorie nach Ronald Dworkin Für Mahlmann gehört Ronald Dworkin zu den „wenigen Rechtstheoretikern der unmittelbaren Gegenwart mit weltweitem Einfluss“1422. Dworkin vertritt dabei einen prinzipientheoretischen Ansatz1423. Bereits in seinen frühen Aufsätzen beschäftigt sich Dworkin mit dem Rechtspositivismus und kritisiert vor allen die Ausführungen von Hart, den er als Vertreter der ausgereiftesten Position begreift1424. Die Auseinandersetzung mit H. L.A. Hart ist dabei unter dem Begriff Hart-DworkinDebatte bekannt geworden. Dworkin möchte einen Angriff auf die Idee des Rechtspositivismus unternehmen: „I want to make a general attack on positivism, and I shall use H. L. A. Hart’s version as a target, when a particular target is needed.“1425

1415

M. Haus, Kommunitarismus. Einführung und Analyse, 2003, S. 50. Müller / Sendker, Narration (Fn. 5), S. 130 f. 1417 Müller / Sendker, Narration (Fn. 5), S. 131. 1418 Müller / Sendker, Narration (Fn. 5), S. 133. 1419 Müller / Sendker, Narration (Fn. 5), S. 137. 1420 Müller / Sendker, Narration (Fn. 5), S. 137 f. 1421 Müller / Sendker, Narration (Fn. 5), S. 137 f. 1422 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 192. 1423 Vgl. zur deutschen Ausprägung der Prinzipientheorie bereits Kap. C. III. 3. 1424 Heinold, Prinzipientheorie (Fn. 893), S. 71. 1425 R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 22. 1416

V. Die Prinzipientheorie nach Ronald Dworkin 

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Dworkin entgegnet dem Rechtspositivismus, dieser könne mit vorpositiven Rechten nichts anfangen, obwohl in der Rechtsanwendung freiheitlicher Staaten ständig darauf zurückgegriffen werden müsse1426. Der Rechtspositivismus verwerfe zudem die Auffassung, Rechte könnten vor irgendeiner Form der Gesetzgebung bereits existieren1427. In seinem Gedankenspiel existiert ein Richter namens Hercules, welcher bei Kenntnis aller Umstände und genügend Zeit nur zu einem richtigen Ergebnis gelangen könne1428. Dabei stützt er sich im „hard case“, in kniffligen Fällen, auf Prinzipien, welche von positivierten Regeln zu trennen sind. Dworkin unterscheidet nämlich zwischen Regeln und Prinzipien. Regeln seien durch ihre „all-or-nothing fashion“ (Alles-oder-Nichts-Geltung) gekennzeichnet1429. Was hierunter zu verstehen ist, erklärt er an einem Beispiel aus dem Baseballsport1430: So gebe es eine Regel aus dem Baseball, die besagt, dass ein Spieler mit dreißig misslungenen Schlägen keinen weiteren Versuch mehr frei habe. Der Schiedsrichter könne diese Regel nicht gleichzeitig anwenden und dem Spieler zusätzliche drei Versuche zusprechen. Diese beiden Optionen schließen sich ohne Ausnahmeregelung kategorisch aus. Eine Regel enthält ein zwingendes „Wenn-Dann-Schema“ mit den altbekannten Mitteln des Tatbestands und der Rechtsfolge1431. Regeln liefern somit bestimmte Rechtspositionen1432. Das Gegenstück zu Regeln seien nach Dworkin Prinzipien, Richtlinien und andere Standards1433. Für Dworkin sind Prinzipien Normen, die aufgrund ihres Anspruchs an die Gerechtigkeit verfolgt werden und nicht etwa, weil sie aus politischer Sicht wünschenswert seien: „I call  a ‚principle‘  a standard that is to be observed, not because it will advance, or secure an economic, political, or social situation deemed desirable, but because it is a requirement of justice or fairness, or some other dimension or morality.“1434 Prinzipien seien demnach Anforderungen an Gerechtigkeit, Fairness und Moral. Moral und Recht lassen sich bei D ­ workin demnach nicht streng voneinander trennen. Diesen läge auch keine rechtliche Konsequenz zu Grunde, konkrete Ergebnisse oder Gebote seien vielmehr erst im Zuge der Abwägung untereinander herauszuarbeiten. Prinzipien könnten sich gegen andere durchsetzen, denn sie hätten im Gegensatz zu Regeln Gewicht und Wichtigkeit1435. Ein nun all-wissender Richter („Judge Hercules“) könne nun nur zu einem 1426

Braun, Rechtsphilosophie (Fn. 155), S. 181 f. „Legal positivism rejects the idea that legal rights can pre-exist before any form of legislation“; Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. XI. 1428 Vgl. zusammenfassend Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 193 ff. 1429 Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. 24. 1430 Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. 25. 1431 Vgl. Staake, Werte (Fn. 146), S. 344. 1432 Mahlmann, Rechtsphilosophie (Fn. 43), S. 193. 1433 Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. 22. 1434 Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. 22. 1435 Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. 26. 1427

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

richtigen Ergebnis kommen („one-answer-thesis“), da dieser die Gesamtheit der Prinzipien kennt und abwägen kann1436. Die Prinzipien gehören nach Dworkin zu den verbindlichen Elementen der Rechtsordnung. Hiermit setzt sich die Prinzipientheorie nach Dworkin von der Lehre des Rechtspositivismus ab1437. Kritisiert wurde hierzu, dass die Erweiterung durch solche Prinzipien der Rechtsprechung Maßstäbe an die Hand geben würde, die der Gesetzgeber nicht erlassen hat. Dies führe zu einer „Verflachung der demokratischen Legitimation des Rechts“1438. Auch sei es nicht nachvollziehbar, warum, auch wenn man den Rechtsbegriff weit fasse, nur zu einem Ergebnis gelangen müsse1439. Dworkin kann als „verkappter Naturrechtler“ gelten, da er von „einer eindeutigen, rationalen und allein ‚richtigen‘ Lösung“ ausgeht1440. Daher, obwohl Dworkin seine Theorie selbst als „third theory of law“ bezeichnet1441, ist seine Theorie in der Tradition des Naturrechts zu sehen. Für Braun stünde Dworkin durch seine Kritik am Rechtspositivismus dem recht verstandenen Naturrecht deutlich näher als er selbst meine1442.

VI. Naturrecht als Auslegungsmethode bei Michael Moore Weit weniger Beachtung wird dem US-Philosophen Michael Moore und seinen Theorien geschenkt. Dabei kann dieser sogar als Anhänger eines starken / harten Naturrechts („strong natural law thesis“) gelten1443. Moore möchte das Recht nicht mehr aufgrund seiner Struktur bestimmen, sondern eher nach seiner Funktion definieren1444. Dafür müsse zunächst das Ziel bestimmt werden, welchem das Recht nützlich sein solle1445. Würde dieses Ziel nur erreicht werden können, wenn das Gesetz moralisch verpflichtend sei, so würde eine Abhängigkeit von Gesetz und moralischer Verpflichtung bestehen. Sei die Norm in diesem Fall nicht moralisch verpflichtend, könne es kein Gesetz sei, da sie dem Ziel nicht dienlich sei. 1436

Dworkin, Rights (Fn. 1425), S. 81; R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 239 ff. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 491b. Dort wird eine naturrechtliche Deutung der These mit nur einer richtigen Antwort im Ergebnis abgelehnt. Eine naturrechtliche Deutung sei rechtshistorisch und rechtstheoretisch widerlegt. 1438 I.  Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant, 1994, S. 301. 1439 Hilgendorf, Rechtsphilosophie (Fn. 13), S. 173. 1440 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie (Fn. 57), Rn. 491c. 1441 C. Bittner, Recht als interpretative Praxis. Zu Ronald Dworkins allgemeiner Theorie des Rechts, 1988, S. 18 unter Bezugnahme auf R. Dworkin, The Law of the Slave Catchers, 1975, S. 1437, Sp. 5. 1442 Braun, Rechtsphilosophie (Fn. 155), S. 185. 1443 So bezeichnet von Murphy, Natural Law (Fn. 1237), S. 245. 1444 M. Moore, Law as a Functional Kind, in: R. P. George (Hrsg.), Natural Law Theory: Contemporary Essays, 1992, S. 188 ff. 1445 Vgl. zusammenfassend Murphy, Natural Law (Fn. 1237), S. 258 ff. 1437

VI. Naturrecht als Auslegungsmethode bei Michael Moore 

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Moore beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, ob eine moraltheoretische Auslegung der Verfassung durch den Richter mit seiner gebotenen Treue zur Verfassung vereinbar ist1446. Zu den möglichen Auslegungsmethoden zählt Moore neben der teleologischen Rechtsauslegung im Zusammenhang mit dem Sinn und Zweck der gesamten Verfassung vor allem die Auslegung nach der „Bedeutung“ der Begriffe und Sätze aus dem Verfassungstext1447. Die Bedeutung der Wörter und Sätze soll dabei im Sinn der sprachlichen Semantik untersucht werden: Zu den traditionellen semantischen Theorien gehörten die „sense-determines reference theories“1448. Ein solches Bezugsdenken ergründet die Bedeutung eines Wortes „checklistenartig“. Der Bedeutung des Wortes Junggeselle werden verschiedene Eigenschaften zugesprochen, männlich und unverheiratet1449. Wende man das Wort nun an, überprüfe man checklistenartig das Vorhandensein dieser Eigenschaften an einer Person und damit, ob diese innerhalb dieser Kategorie (Junggeselle) liege oder außerhalb1450. Eine „alternative Semantik“ drehe den Spieß um und bestimme den Bezug des Wortes nach seinem Sinn: Die Bedeutung von Wasser ergründet sich nicht an Elementen, die dem Wort von der Gesellschaft zugeordnet wurden, sondern anhand einer naturwissenschaftlichen Theorie über die Natur des Wassers, die nicht aufgestellt wird, sondern entdeckt wurde1451. Möchte ein Richter nun die Bedeutung der Termini und Sätze in Texten erkennen, wie bespielweise die Bedeutung des Verbots „grausamer und ungewöhnlicher Bestrafungen“ im Achten Verfassungszusatz oder die Garantie für alle Bürger des „gleichen Schutzes der Gesetze“ im Vierzehnten Verfassungszusatz der Vereinigten Staaten, müsse er die Auslegungsmethode der realistischen Semantik benutzen, um eine Theorie zu entwickeln, die sich mit der Natur dieser Sache beschäftige1452. Hier lege der Richter das Gesetz unter Bezugnahme der diesen Worten zugrunde liegenden natürlichen Rechte des Menschen aus, weshalb Moore dies als „naturrechtliche Auslegungstheorie“ bezeichnet („Natural Law of Interpretation“)1453. Moore bindet das Naturrecht in die Auslegung des positiven Rechts ein. Verfassungstreue und naturrechtliche Auslegungen schließen sich nicht aus, so wie sich die Anwendung des Rechtspositivismus und des Naturrechts nicht ausschließen müssen1454. Es ist für Moore vielmehr nur eine rechtstheoretische Auslegungs­ methode unter vielen. 1446

M. Moore, Justifying the Natural Law Theory of Constitutional Interpretation, in: Fordham Law Review 69 (2001), S. 2087 (2090). 1447 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2091. 1448 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2091. 1449 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2091. 1450 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2091. 1451 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2091. 1452 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2092. 1453 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2090. 1454 Moore, Natural Law (Fn. 1446), S. 2092.

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

VII. Die Begründungsversuche möglicher Unterschiede Die Darstellung über die aktuellen Naturrechtstheorien trennt die Erzeugnisse explizit nach Sprach- und Rechtsraum der Veröffentlichungen. Sie fokussiert sich dabei auf die Unterscheidung einer englischsprachigen, vor allen anglo-amerikanischen, und einer deutschsprachigen Herkunft. Dies ermöglicht eine Analyse, inwieweit die gesellschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten des einen oder des anderen Raums einen Rückgriff der Rechtswissenschaften auf Naturrecht befördern. Stellt man eine erhebliche Präsenz naturrechtlicher Ansichten im angelsächsischen Sprachraum fest, schließt sich die Frage an, ob sich hierfür Gründe im gesellschaftlichen Umgang oder im Rechtssystem finden lassen.

1. These der „zwei Säkularisierungen“ Die NNLT ist stark mit christlichen Bezügen verknüpft und basiert auf römischkatholischer Ethik. In den Veröffentlichungen und Ansichten nehmen beispielsweise Familie und Ehe regelmäßig einen besonderen Stellenwert ein, ebenso der Schutz des ungeborenen Lebens1455. Christlich motivierte Ansichten haben implizit Auswirkungen auf die einzelnen Theorien der New Natural Law Theory und lassen sich exemplarisch bei den Vertretern John Finnis1456, Germain Grisez1457, Jonathan Crowe1458, Robert P. George1459, Gerard Bradley1460, Patrick Lee1461 oder 1455 Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 409; vgl. auch R. P. George / C. Tollefsen, Embryo. A Defense of Human Life, 2. Aufl. 2011. 1456 Die Haltung von Finnis zur Zeitlosigkeit des Naturrechts ist stark von seinem Gottesbild geprägt; Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 244. Dabei baut er auf den Ansichten von Thomas von Aquin auf; vgl. Finnis, Natural Law (Fn. 1085). 1457 Auch Germain Grisez gilt als bekennender Katholik; vgl. G. Grisez, Natural Law, God, Religion, and Human Fulfillment, in: The American Journal of Jurisprudence 46 (2001), S. 3–36. 1458 Crowe behandelt in „Natural law and the nature of law“ den Gottesbezug seiner Naturrechtsüberlegungen. Für Crowe sei es auch denkbar, das Gott beabsichtige, dass der Mensch das Naturgesetz nach und nach entdecke und forme. Dadurch entfalte sich der Plan Gottes abhängig von der menschlichen Handlung erst mit der Zeit; Crowe, Natural Law (Fn. 1163), S. 245. 1459 Robert P. George selbst war als bekennender Katholik Vorsitzender der National Organization for Marriage, welche sich gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe einsetzt. George sieht in den Menschen ein gottgleiches Tier und ihnen sei das Naturrecht ins Herz geschrieben, auch wenn sie Heiden seien; George, Tier (Fn. 1074), S. 30. 1460 Gerard Bradley ist Professor an der katholischen University of Notre Dame und lehrt dort Rechtsethik und Verfassungsrecht. Zusammen mit John Finnis leitet er das Institut für Naturrecht. Er kritisiert, dass das heutige Verfassungsrecht alle Hinweise auf eine göttliche Realität verwerfe. Dabei könne die Bekräftigung der Wahrheit, einschließlich der Tatsache, dass es einen sich um die Menschen sorgenden Schöpfergott gebe, große Vorteile bringen; Bradley, Natural Law (Fn. 1261), S. 414. 1461 Vgl. Lee, God (Fn. 1132), S. 279 ff.

VII. Die Begründungsversuche möglicher Unterschiede  

211

bei Christoper Tollefsen1462 finden. Die NNLT kann daher als katholische bzw. katholisch geprägte Ethik bezeichnet werden1463. Während in Deutschland zum Naturrecht bekennenden Rechtswissenschaftlern teilweise eine fehlende Abgrenzung zur Theologie vorgeworfen wird, wenn das Naturrechtsverständnis theologischem Einfluss unterliegt, finden sich in den USA nicht selten solche Einflüsse in den Naturrechtstheorien wieder. Dies trägt sicher zur Popularität des Naturrechtsthemas im angelsächsischen Bereich bei. Da die Auseinandersetzung mit dem Naturrecht in der römisch-katholischen Kirche praktisch kontinuierlich geführt wird, profitiert die englischsprachige Rechtsphilosophie in dem Grad, dass sie darauf zurückgreifen kann. Auch im deutschsprachigen Raum wird selbstverständlich innerhalb der Theologie auf ein christliches Naturrecht zurückgegriffen. Eine Besinnung auf ein christliches Naturrecht ist in der deutschen Rechtswissenschaft eher unüblich. Ursache für die Möglichkeit eines offenen Regresses auf das theologische Naturrecht ist ein anderes Verständnis der Rolle der Theologie in der Gesellschaft. Dabei geht es nicht um die rechtliche Trennung von Kirche / Religion und Staat. Die Kirchen als Körperschaft des öffentlichen Rechts haben immer noch eine herausragende Rolle in Deutschland, weshalb viele Kritiker auf das Modell der Trennung von Kirche und Staat in den USA verweisen. Die USA vermeiden verfassungsrechtlich strikt eine Vermischung von Religion und Staat. Im ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung heißt es: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Mißständen zu ersuchen.“ Es handelt sich daher nicht um eine staatsrechtliche Förderung des christlichen Glaubens in Gesellschaft und Wissenschaft. Vielmehr haben die Amerikaner ein anderes Verhältnis zur Religion, welche in den USA einen erheblichen Einfluss auf die Politik ausübt1464. Grund der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gewichtung der Theologie könnten zwei unterschiedliche Wege der Säkularisierung 1462 Christoper Tollefsen bemüht zur Verteidigung des freien Marktes die von Gott vorgesehene Handlungsfreiheit des Menschen; Tollefsen, Freedom (Fn. 1152), S. 488. 1463 S.  Heuser, Menschenwürde. Eine theologische Erkundung, 2004, S. 222. Nach Stefan Heuser sei es unlängst zu einem „Revival of Nature Law“ auf katholischer Seite durch Finnis und Grisez gekommen. Vgl. auch Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, 2. Aufl. 2014, S. 466 f. Dennoch macht Schockenhoff deutlich, dass die Repräsentanten der NNLT glauben, dass die Einsicht in die Grundlagen der Moral durch praktische Vernunft vermittelt werde. Die Vertreter der NNLT beharren darauf, „dass zumindest die Grundprinzipien der Moral und ihre fundamentalen Verbotsnormen von der praktischen Vernunft unmittelbar erfasst werden können, ohne dass sie dazu auf metaphysische Erklärungen oder nur im Glauben zugängliche Offenbarungswahrheiten zurückgreifen müsste.“ Ebda., S. 474. 1464 Vgl. M. Pally, Gottes eigenes Land? – Die Trennung von Kirche und Staat in den USA, in: Internationale Politik 59 (2004, S. 13 (13 ff.).

212

D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

sein1465: In den USA habe sich eine strikte Säkularisierung durchgesetzt, die aber zu einem enormen gesellschaftlichen Ansehen der Religion geführt habe. In Europa habe die Trennung von Kirche und Staat hingegen nur halbherzig stattgefunden, was den christlichen Religionsgemeinschaften ein Monopol bescherte, aber langfristig zu einem sinkenden Einfluss und Nachwuchs führte1466. Grund für die Auswanderung der Europäer nach Amerika war für Claus Leggewie hauptsächlich die dort erhoffte Religionsfreiheit1467. Auch für Marcia Pally lässt sich dieses Verhältnis geschichtlich begründen, da die Amerikaner in ihrer Historie nicht mit einem kirchlichen System als Unterdrückungsapparat, wie in Europa, in Berührung kamen1468. Die Säkularisierung sei vielmehr aufgrund der Vielfalt verschiedener Glaubensgemeinschaften entstanden, um die religiöse Freiheit zu schützen, weshalb die Beziehung der Amerikaner zur Religion durchweg positiv sei1469. Viele von ihnen flohen gerade in die Vereinigten Staaten, weil ihnen dort die freie Religionsausübung versprochen wurde1470. Zwar sei die rechtliche Trennung von Kirche und Staat in den USA strikt gezogen worden, aber anders als in den europäischen Gesellschaften sei das christliche Leben nicht aus dem öffentlichen Leben verschwunden1471. Die unterschiedliche historische Entwicklung bezeichnet Leggewie daher als „zwei Säkularisierungspfade“1472. Es werden sich auch noch weitere Gründe finden, warum sich ein Rückgriff auf die Theologie in den USA in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten unproblematischer darstellt als hierzulande. Es erleichtert aber auf jeden Fall die Möglichkeit, eine religiös motivierte Naturrechtstheorie zu vertreten, die gesellschaftlich anschlussfähig ist. Es sei vorsichtshalber wiederholt, dass es sich bei den dargestellten Naturrechtstheorien nicht um eine moraltheologische Auseinandersetzung handelt. Naturrechtstheorien basieren im deutsch- und englischsprachigen Raum auf ethischen, säkularen Rechtsverständnissen. Das Naturrecht ist in historischer Hinsicht stark mit der Moraltheologie verbunden und heute noch in der katholischen Kirche sehr präsent. Zieht man den Begriff des Naturrechts heran, so greift man auf einen Begriff zurück, der maßgeblich von Thomas von Aquin mitgeprägt wurde. Für eine Gesellschaft, in der der Bezug auf Religion in der Politik nicht unüblich ist, ist der Rückgriff auf ein christlich begründetes Naturrecht unbelastet. Ganz in Tradition dieser Theorie bezeichnen sich viele als Anhänger einer New Natural Law Theory, die einen gütertheoretischen Ansatz nach Thomas von Aquin verfolge. In den USA kann daher frei auf die Begrifflichkeit „Naturrecht“ zurückgegriffen werden. In Deutschland wird der Naturrechtsbegriff 1465

Vgl. Pally, Land (Fn. 1464), S. 13; C. Leggewie, Religionen und Globalisierung – Essay, in: APuZ 2005, S. 3 (3). 1466 Leggewie, Religionen (Fn. 1465), S. 3. 1467 Leggewie, Religionen (Fn. 1465), S. 3. 1468 Pally, Land (Fn. 1464), S. 13 ff. 1469 Pally, Land (Fn. 1464), S. 13 ff. 1470 Leggewie, Religionen (Fn. 1465), S. 3. 1471 Leggewie, Religionen (Fn. 1465), S. 4. 1472 Leggewie, Religionen (Fn. 1465), S. 3.

VII. Die Begründungsversuche möglicher Unterschiede  

213

mit einer katholischen Sonderlehre in Verbindung gebracht, was eher eine negative Konnotation hervorzurufen scheint.

2. Ein Blick auf die unterschiedlichen Rechtssysteme Der unterschiedliche Stellenwert religiöser Einflüsse auf die politische Gestaltung beschreibt zunächst einen gesellschaftlichen Aspekt. Da sich aber auch das kontinental-europäische stark von dem angelsächsischen Rechtssystem unterscheidet, lassen sich hier möglicherweise systematische Abweichungen erkennen, die einen Umgang mit Naturrecht fördern könnten. Der größte Unterschied zwischen dem Civil Law (kontinental-europäisches Recht) und dem Common Law bestand in der fehlenden Kodifizierung des Rechts im angelsächsischen Rechtsraum. Führten die Bildungen der einzelnen Nationalstaaten in Europa zur Kodifizierung des Rechts, also die systematische Zusammenfassung eines Rechtsbereichs in die Gesetze, kam es in England nicht zu einer Kodifizierung solchen Ausmaßes1473. Durch die Kolonien verbreitete sich das sog. Common Law in die USA, Kanada oder auch Australien, welches aber unterschiedliche Entwicklungen nahm. So emanzipierte sich das US-amerikanische Rechtssystem vom englischen Recht1474, sodass sich beispielsweise in 50 Staaten der USA ein schriftlich ausformuliertes Strafrecht finden lässt1475. Daher aber hat das richterliche Fallrecht (case law) in diesen Systemen einen besonderen Stellenwert. Das System des Fallrechts „lässt sich so vom sog. statute law abgrenzen, welches im parlamentarischen Verfahren zu Stande gekommenen ist.“1476 Dieses Fallrecht versucht eine kontinuierliche Rechtsprechung zu ermöglichen, in die vorgelagerte Entscheidungen mit einem ähnlichen Sachverhalt analog für das Urteil herangezogen werden. In diesen richtungsweisenden Urteilen sieht Eric Hilgendorf allerdings keinen allzu bedeutenden Unterschied, da auch das kontinental-europäische Recht ein präjudizierendes System, beispielsweise im Verfassungsrecht, sei1477. Der größte Unterschied der beiden Rechtsfamilien bestehe im Umgang mit Gesetz und Fallmaterial. „Während im angelsächsischen Recht das reasoning from case to case im Mittelpunkt steht, wird das kontinentaleuropäische Recht entscheidend vom Systemgedanken […] geprägt.“1478 Diese unterschiedliche Handhabung hängt nach 1473

E. Hilgendorf, Kontinental-europäisches Recht (Civil Law), in: ders. / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 30 (30). 1474 B. Häcker, Das englische Common Law – Eine Einführung, in: JuS 2014, S. 872 (872). 1475 Hilgendorf, Recht (Fn. 1473), S. 30. 1476 Häcker, Common Law (Fn. 1474), S. 874; Herv. i.O. 1477 Hilgendorf, Recht (Fn. 1473), S. 31; vgl. auch O. Höffe, Europäisches versus angloamerikanisches Recht: Standortkonkurrenz in Zeiten der Globalisierung, in: F. Herzog / U. Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 57 (58 ff.). 1478 Hilgendorf, Recht (Fn. 1473), S. 31; Herv. i.O.

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D. Angelsächsische Naturrechtstheorien der Gegenwart

Hilgendorf mit der unterschiedlichen Auffassung über die Stellung der Rechtswissenschaft zusammen1479: So versetze sich der Rechtswissenschaftler bereits in seiner Ausbildung im kontinental-europäischen Verständnis, ebenso wie der Richter, in eine Anwenderperspektive bzw. Binnenperspektive. Im angelsächsischen, vor allem im anglo-amerikanischen Rechtsraum, argumentiere die Rechtswissenschaft hingegen nicht aus der Binnenperspektive, sondern aus einer externen Perspektive. „Sie versteht sich grundsätzlich als Sozialwissenschaft, die das Recht und die Rechtsanwender zu ihrem Gegenstand macht.“1480 Eine solche „externe Betrachtung“ ermöglicht es einfacher, auf interdisziplinäre Wissenschaften zurückzugreifen1481. Das Naturrecht lässt sich als rechtsphilosophische Theorie einordnen, da sie die Behandlung des Rechts mit den ethischen Fragen der richtigen Handlung / des richtigen Rechts verbindet. Tritt man daher ein Stück aus der dogmatischen Sichtweise heraus, ist man für die Argumente anderer Disziplinen, eben auch der Ethik, empfänglicher.

VIII. Zwischenfazit Die aufgeführten Vertreter stehen hier repräsentativ für eine deutlich präsente Strömung im angelsächsischen Bereich1482. Die Liste naturrechtlicher Forderungen oder Theorien ließe sich gefühlt unendlich fortführen. Einige ihrer Ansichten 1479

Hilgendorf, Recht (Fn. 1473), S. 31. Hilgendorf, Recht (Fn. 1473), S. 31. 1481 Wie etwa law and economics, law and literature oder law and gender, Recht und Literatur; vgl. Hilgendorf, Recht (Fn. 1473), S. 31. 1482 Die Liste ließe sich vermutlich unendlich führen. Ein Naturrechtsverständnis im Sinne einer Gütertheorie findet sich beispielhaft noch bei weiteren Akteuren: Eugene Christian Brugger beschreibt die Güter als zwingende Voraussetzung eines guten Lebens im Zusammenhang mit der Bioethik. Nach Thomas von Aquin gehörten die Güter des menschlichen Lebens, die Zeugung und Erziehung von Kindern, die Erkenntnis der Wahrheit, die Religion oder auch die soziale Harmonie zu den schützenswerten menschlichen Gütern; E. C. Brugger, The First Principles of the Natural Law and Bioethics, in: Christian Bioethics: Non-Ecumenical Studies in Medical Morality 22 (2016), S. 88 (95). Hierauf aufbauend beschäftigt sich Melissa Moschella mit der Frage über eine naturrechtliche Fehlerhaftigkeit einer assistierenden Reproduktion durch eine Dritte Partei; M. Moschella, The Wrongness of Third-Party Assisted Reproduction: A Natural Law Account, in: Christian Bioethics: Non-Ecumenical Studies in Medical Morality 22 (2016), S. 104 ff. Folgt man der Einteilung Kollers, so können Deryck Beyleveld und Roger Brownsword als Anhänger eines starken Rechtsmoralismus gelten; Koller, Begriff (Fn. 897), S. 163. Koller verweist hierbei auf: D. Beyleveld / R. Brownsword, Law as a Moral Judgement, S. 164 ff.; Recht und Moral seien daher im Wesentlichen deckungsgleich, da die rechtliche Ordnung eine moralische Ordnung sei, deren Regeln erzwungen werden müssten. Russell Hittinger ist als katholischer Philosoph bekannt, der sich u. a. mit dem Naturrechtsverständnis Kardinals Ratzingers und der katholischen Moraltheologie auseinandergesetzt hat.; R. Hittinger, Natural Law and Public Discourse: The legacies of Joseph Ratzinger, in: Loyola Law Review 60 (2014), S. 241 (241 ff.); ders., Grace (Fn. 185). Samuel Gregg wendet die Gütertheorie der NNLT auf ökonomische Fragen an. Die Wirtschaft könne den Regierungen wichtige Informationen liefern, 1480

VIII. Zwischenfazit 

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sind auch in der deutschen Wissenschaft bereits weit verbreitet. John Finnis, John Rawls, Ronald Dworkin, Amartya Sen oder Martha Nussbaum dürften weit über die Grenzen der englischsprachigen Wissenschaft zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart gehören. Ihnen sind Gerechtigkeitstheorien, das Wiedererstarken der Gütertheorie und die Begründung des Fähigkeitsansatzes zu verdanken. Nicht zufällig sieht Hittinger im angelsächsischen Bereich in einklagbaren Naturrechten heutzutage eine weitverbreitete Forderung1483. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Naturrecht im angelsächsischen Sprachraum einen hohen Stellenwert genießt. Für diesen Umstand sind im Vergleich zur deutschsprachigen Rechtswissenschaft zwei Erklärungsversuche präsentiert worden, die auf die unterschiedlichen Rechtssysteme und das unterschiedliche Verhältnis zur Religion hinweisen. Die gegenwärtigen englischsprachigen Naturrechtslehren sind sehr christlich geprägt. Gerade die Gütertheorien stehen in der thomanischen und aristotelischen Tradition, die einen enormen Einfluss auf die gegenwärtige Diskussion genommen haben. So beschäftigt sich die NNLT mit klassischen christlichen Themen und setzt sich beispielsweise überwiegend für eine moralische Bewertung sexueller Handlungen im klassischen Eheverständnis ein1484. Dennoch ist das englischsprachige Naturrechtsverständnis mit der Gütertheorie, Vertragstheorie und dem Fähigkeitsansatz sowie der Prinzipientheorie sehr vielfältig aufgestellt.

solche wirtschaftlichen Bedingungen zu schaffen, in der die Menschen in dieser Gemeinschaft ihre Grundgüter verwirklichen können; S. Gregg, Economics and Natural Law, in: T. Angier (Hrsg.), Ethics (Fn. 1078), S. 215 (232). 1483 Hittinger, Grace (Fn. 185), S. XIV f. 1484 Vgl. Salzman / Lawler, Natural Law (Fn. 447), S. 182.

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie Das Naturrecht leide durch die Positivierung ethischer Maßstäbe zum Umgang unter den Menschen an einem Bedeutungsverlust. Die These besagt, dass der enorme Zuwachs der in staatlichen Verfassungen und völkerrechtlichen Verträgen festgehaltenen Menschenrechte als positives Recht gleichbedeutend ist mit der Überflüssigkeit des Naturrechts1485. Die Menschenrechte etwa hätten einen universalen Anspruch menschlichen Lebens fixiert, ohne des Rückgriffs auf das Naturrecht zu bedürfen. Dabei könnten Menschenrechte durch ihr „Universalisierungsanliegen“ auch eine besondere Erscheinungsform des Naturrechts sein und dabei noch am ehesten die Chance haben, auf große Akzeptanz zu treffen1486. Aber bei der inzwischen „inflationären Verwendung“1487 des Begriffes stellt sich mehr denn je die Frage, was unter den Menschenrechten zu verstehen ist (I.-II.) und wie sie begründet werden können (III.-V.).

I. Begriffserklärung der Menschenrechte Zunächst kann bereits festgehalten werden, dass es wie für die Begriffe Naturrecht, Gerechtigkeit und Freiheit auch keinen allgemein gültigen Begriff der Menschenrechte gibt. Man kann gerade in der philosophischen Diskussion von „tiefgreifenden Divergenzen“ sprechen, die auf ein unterschiedliches Verständnis des Verhältnisses von Moral zu Recht zurückzuführen sind1488. Das kann wahrlich nicht überraschen, geht es doch bei den Menschenrechten um die Frage der Einordnung als dem Menschen angeborener und daher universeller oder von der Gemeinschaft erst zugestandener Rechte. Menschenrechte aus der Zeit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise in der Bill of Rights oder der französischen Menschenrechtserklärung festgehalten wurden, verhinderten die Gräueltaten und menschenverachtenden Handlungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht. Menschenrechte waren bis dahin eine innenpolitische Angelegenheit und daher ein verfassungsrechtliches Thema. Erst später wurden die Menschenrechte als außenpolitische und völker-

1485

Vgl. die Darstellung bei Kühl, Aufgaben (Fn. 174), S. 168. Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 153. 1487 E. Hilgendorf, Menschenrechte, Menschenwürde, Menschenbild, in: ders. / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 366 (366). 1488 S. Gosepath / G. Lohmann, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 7 (9). 1486

I. Begriffserklärung der Menschenrechte 

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rechtliche Grundsatzfrage wahrgenommen1489. Es kam zu einer Entwicklung von den reinen Bürgerrechten hin zu den Menschenrechten. Deshalb können die gegenwärtigen Menschenrechtserklärung, wie etwa die Menschenrechtscharta der UNO, bzw. die sog. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), als Reaktion auf den Nationalsozialismus verstanden werden1490. Menschenrechte in der AEMR können jedoch nicht eingeklagt und somit nicht gewährleistet werden1491. Solche Menschenrechtserklärungen sind grundsätzlich dem Völkerrecht zuzuordnen, wenn sie nicht, wie etwa die Charta der Europäischen Union, einer supranationalen Rechtsordnung zuzuordnen sind1492. Die Menschenrechte werden daher nur durch die Aufnahme der Grundrechte in die jeweiligen nationalen Gesetze garantiert1493. Dabei sind die Menschenrechte nicht nur juristisches Werkzeug, sondern genießen immer wieder auch tagespolitische Aufmerksamkeit und begründen Diskussionsbedarf, bei dem die Frage der Universalität der Menschenrechte im Vordergrund steht. Die Idee des Naturrechts und die der Menschenrechte verbindet, dass beide einen Anspruch an Universalität erheben und „einheitsstiftend“ sind1494. Diese Verbindung ist in früheren Erklärungen zu Menschenrechten auch deutlich anzumerken. So erklärt etwa die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Der Hinweis auf den Glauben, das alle Menschen gleich geschaffen sind, lässt einen Schöpfergott erkennen1495. Nicht etwa dieser Erklärung, sondern vielmehr der Natur seines Wesens hat der Mensch seine Gleichartigkeit zu verdanken und beansprucht daher seine gleiche Behandlung. Historisch betrachtet, kommen oder kamen Diskussionen über Menschenrechte immer dann auf, „wenn Partikularrecht als Unrecht“ empfunden wurde, etwa wenn Sklaven Rechte gegenüber ihren Herren oder Bürger einer Kolonie gegenüber Bürgern des „Mutterlandes“ vorenthalten wurden1496. Hier konnte man sich mangels positiven Rechts nicht etwa auf formelle Gesetze berufen, sondern nahm

1489 Ballestrem, Kirche (Fn. 345), S. 183; G. Lohmann, Menschenrechte – universal geltend?, in: S. Jäger / S. Oeter (Hrsg.), Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht – eine Verhältnisbestimmung. Frieden und Recht, Bd. 4, 2019, S. 71 (76). 1490 Hilgendorf, Menschenrechte (Fn. 1487), S. 366. 1491 K. Hilpert, Ethik der Menschenrechte, in: H. Reinalter (Hrsg.), Menschenwürde, Menschenrechte und Menschenpflichten heute, 2021, S. 103 (105). 1492 Vgl. Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 48. 1493 Hilpert, Ethik (Fn. 1491), S. 105. 1494 Brieskorn geht davon aus, dass beide Ordnungen „von der Einheit des Menschen­ geschlechts“ ausgingen und diese „ihre Geltung für jeden Menschen“ unterstellten; Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 117. 1495 Stein, Begründungen (Fn. 724), S. 29. 1496 Ballestrem, Kirche (Fn. 345), S. 182 ff.

218

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

vorpositives Recht oder Naturrecht in Anspruch1497. Allerdings schützten auch eben diese Menschenrechtserklärungen in Nordamerika oder Frankreich nicht alle Menschen vor menschenverachtenden Handlungen. So wurde zwar begrifflich ein universeller und egalitärer Anspruch auf Menschenrechte fixiert. Faktisch aber kamen Frauen, „Eingeborene“ oder Sklaven nicht in den Genuss des Schutzes der Menschenrechte1498. Gegen eine religiöse Begründung der Menschenrechte wird häufig eingewandt, sie könnten dadurch nur solche Gruppen schützen, die eben diese religiöse Überzeugung teilen, wie die Gleichheit der Menschen aufgrund ihres göttlichen Abbildes oder eines Schöpfergottes, oder zumindest sei nur ihnen diese Begründung einleuchtend1499. Nichts anderes könne für Menschenrechte gelten, welche auf einem säkularen Naturrecht aufbauen und von Bürgern, die diese naturrechtliche Idee nicht bejahen, deshalb nicht als unterstützungswert erachtet werden. Der Staat könne sich aufgrund seiner Verpflichtung zur neutralen Weltanschauung keine religiösen oder philosophischen Menschheitsbilder zu eigen machen1500.

II. Die Menschenrechtsdeklarationen Die AEMR von 1948 hält in Art. 1 fest: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“ Hieraus resultiert das in Art. 3 festgehaltene Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit des Menschen. Dabei können die Menschenrechte nach der AEMR in vier Gruppen eingeteilt werden: Das Menschenrecht auf Leben, stellt zusammen mit dem Recht auf Eigentumsfreiheit (Art. 17), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18), Verbot von Sklaverei und Folter (Art. 4, 5) u. a. die erste Gruppe dar. Sie schützt den Menschen vor Beschränkungen seiner Freiheit durch die öffentliche Hand und sind sog. Abwehrrechte (status negativus)1501. Daneben kennt die AEMR auch Rechte, die die Forderungen des Menschen gegenüber dem Staat ausdrücken, wie beispielweise das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 22) (status positivus)1502. Hinzu kommt eine Gruppe der Menschenrechte, die als Mitwirkungsrechte der Menschen in der öffentlichen Hand bezeichnet werden können, wie es etwa das Menschenrecht (Art. 21) auf demokratische Teilhabe ausdrückt (status activus)1503. Nach Kirste wird noch eine vierte Gruppe der Menschenrechte durch die in Art. 1 1497

Ballestrem, Kirche (Fn. 345), S. 183. Lohmann, Menschenrechte (Fn. 1489), S. 75. 1499 Vgl. Stein, Begründungen (Fn. 724), S. 30. 1500 F. Wetz, Menschenwürde – Eine Illusion?, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten, 2008, S. 27 (45). 1501 S. Kirste, Das Fundament der Menschenrechte, in: Der Staat 52 (2013), S. 119 (120, 123). 1502 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 122 f. 1503 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 122 f. 1498

III. Säkulare Menschenrechte  

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erläuterte angeborene Freiheit und Gleichheit des Menschen deutlich. Hieraus resultiere eine „Pflicht zum brüderlichen Umgang der Menschen untereinander“, wie es etwa Art. 15 verdeutliche, der allen Menschen ein Recht auf Staatsbürgerschaft verspreche1504. Der „status subjectonis“ stelle eine eigene Gruppe der Menschenrechte dar, da in der Würde des Menschen die Anerkennung der Rechtsfähigkeit des Menschen zu sehen sei1505. Die AEMR ist aus sich heraus nicht juristisch bindend und begreift sich auch nicht als rechtsverbindlich. Vielmehr soll sie als ein für alle Völker und Nationen erstrebenswertes und gemeinsames Ideal dienen (Präambel). Zudem wurden die Menschenrechte zunehmend auch in die nationalen Verfassungen übertragen und so positiviert1506. Im Zuge dessen kam es zu einer Entwicklung der Menschenrechte, welche immer seltener mit dem Naturrecht begründet werden sollte1507. Sprach die AEMR noch von der Anerkennung der angeborenen Würde, also einem vor-positiven Recht, welches durch die Menschenrechtserklärung anerkannt würde, hat die Europäische Union 2000 auf eine naturrechtliche Begründung bei der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ verzichtet. Anstatt von einer angeborenen Würde zu sprechen, bezeichnet sie die Würde als universellen Wert im „Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ (Präambel). Als Wert ist sie eine unter vielen und kann daher nicht mehr absolut gesetzt werden1508. Art. 1 der EU Menschenrechtscharta schützt die Würde des Menschen in altbekannter Grundgesetzmanier: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Einen großen Einfluss auf die Formulierung der Menschenrechtscharta der EU hatte auch der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog, der als Vorsitzender des Konvents an der Ausarbeitung mitbestimmend beteiligt war1509.

III. Säkulare Menschenrechte als Gegensatz zur theologischen Naturrechtsbegründung Die christlichen Kirchen, und vor allem die römisch-katholische Kirche, in denen das Thema der Menschenrechte ebenfalls einen großen Platz einnimmt, stehen oder standen den Menschenrechten ohne göttliches Begründungsfundament lange kritisch gegenüber1510. Die katholische Kirche ist sogar als Gegnerin der Demokratie bezeichnet worden, welche an theologisch begründeten Menschenrechten festhält und somit als Bekämpferin der Legitimität säkularer Menschenrechte 1504

Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 123 f. Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 124. 1506 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 54 f. 1507 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 55. 1508 Vgl. Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 55. 1509 CHARTE 4159/00, Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 1510 Hilgendorf, Menschenrechte (Fn. 1487), S. 366. 1505

220

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

wahrgenommen wurde1511. Durch das Menschenrechtsverständnis der Aufklärung verstand die römisch-katholische Kirche die Menschenrechte nicht mehr durch Naturrecht und göttliches Recht geprägt und musste einen erheblichen Bedeutungsverlust befürchteten, da der säkulare Staat seinen Souverän auch ohne theologische Begründung zu schützen begann1512. Erst Papst Johannes XXIII. beschrieb die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in seiner Enzyklika Pacem in terris von 1963 als „ein Akt von höchster Bedeutung“1513. Auch wenn sich der Vatikan zum ersten Mal in dieser Enzyklika positiv über die Menschenrechte äußert, bleibt festzuhalten, dass sie selbst die „rechte Ordnung der Menschen“ durch das Naturrecht begründet1514. Als Kritik aus der Sicht der katholischen Lehre an den Menschenrechten wird weiterhin eine „Entfernung […] von der menschlichen Natur im Sinne des Naturrechtsdenkens“ angeführt1515. Daher warnt Kuciński auch davor, naturrechtliche Argumentationsstränge mit den Menschenrechten gleichzusetzen, da sie doch zu verschieden seien1516. Hierbei beruft sich Kuciński zustimmend auf einen Text von Jakob Cornides, Naturrecht oder Menschenrechte?1517 Cornides sieht den Konflikt der Kirche gegenüber den Menschenrechten als nicht behoben an, da seiner Meinung nach die Menschenrechte gegen die Kirche gerichtet werden1518. „Das Naturrecht ist unwandelbar, das gesetzte Recht, zu dem auch ‚die Menschenrechte‘ gehören, ist (im Idealfall) sein zeitgebundener Ausdruck.“1519 Die Menschenrechte könnten wie jedes andere Recht ausgelegt werden und dem Naturrecht widersprechen1520. Die Menschenrechte seien daher, wie jedes andere gesetzte Recht, „stets in Gefahr, durch willkürliche positive Gesetzesänderung oder durch entstellende Auslegungen in Widerspruch zum Naturrecht zu geraten.“1521 „Aus allen diesen Gründen folgt, dass das Naturrecht nach wie vor den Maßstab bildet, mit dem alles positive Recht, einschließlich der Menschenrechte und ihrer Auslegungen, sich messen lassen muss.“1522 Cornides beobachtet eine Entfernung, eine „Emanzipation“ der Menschenrechte vom Naturrecht, welches sie anfällig für Verwässerung und 1511 Ballestrem, Kirche (Fn. 345), S. 180; T. Stein, Menschenrechte und Kirche – eine politikwissenschaftliche Analyse und kirchenpolitische Stellungnahme aus aktuellem Anlass, in: JCSW 55 (2014), S. 79 (79). 1512 Vgl. Ballestrem, Kirche (Fn. 345), S. 189. 1513 Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris, http://w2.vatican.va/content/john-xxiii/de/ encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_11041963_pacem.html, (4. 8. 2019). 1514 Vgl. Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 85. 1515 Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 160. 1516 Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 160: „Die Übersetzung des Naturrechts in die Idee der Menschenrechte kann nicht in einem voreiligen Harmonisierungsdrang als endgültiges Angekommensein der Menschenwürde im säkularen Staat gefeiert werden.“ 1517 Vgl. Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 158; Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 88. 1518 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 84. 1519 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 88. 1520 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 88. 1521 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 89. 1522 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 89.

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

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rechtspositivistische negative Veränderungen mache1523. „Für das Verhältnis zwischen ‚den Menschenrechten‘ und dem Naturrecht ist es kennzeichnend, dass ‚die Menschenrechte‘ nur dann zur Grundlage einer (staatlichen oder internationalen) Rechtsordnung taugen, wenn sie im Licht des Naturrechts ausgelegt werden.“1524 Ein Problem sei hierbei, dass unter Juristen eine verbreitete Unkenntnis über das Naturrecht herrsche, da dieses an den juristischen Fakultäten kaum noch gelehrt werde1525. Durch die Emanzipierung der Menschenwürde von dem angeborenen Recht des Menschen liefe, so auch Berthold Wald, die Menschenwürde Gefahr, von ihren Wurzeln getrennt zu werden1526.

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte Ansätze, welche die Menschenrechte als angeboren und von Natur aus begründen, bedienen sich eines klassischen Begründungsmusters des Naturrechts1527. 1523 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 90: „In gewisser Hinsicht ist daher der jetzige Niedergang der Menschenrechte bereits in ihrer Natur als positives Recht zugrundegelegt: man hat das Naturrecht auf einige wichtige ‚Rechte‘ reduziert und hat fürderhin diese ‚Rechte‘, nicht aber das Naturrecht als Ganzes, zur Grundlage der Rechtsordnung gemacht. Je weniger das Naturrecht zur Interpretation der Menschenrechte herangezogen wird, desto mehr werden diese aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst; sie verselbständigen sich und werden zur Basis einer positivistischen Rechtsordnung, in der sie nur noch einen letzten vagen Anklang an das tradierte Naturrecht bilden. Man könnte die Geschichte der Menschenrechte durchaus auch als Geschichte einer Emanzipation vom Naturrecht beschreiben.“ 1524 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 90. 1525 Cornides, Naturrecht (Fn. 174), S. 90 f. 1526 Wald, Menschenwürde (Fn. 6), S. 56. Wald stellt die These auf, dass eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte unverzichtbar sei und geht von angeborenen Rechten des Menschen aus; ebda., S. 61 ff. Ganz anders beispielweise Franz Josef Wetz: „Denn es ist einfach falsch, dass allein die Idee der angeborenen Wesenswürde die Menschenrechte garantieren kann. Abgesehen davon, dass die im 18. und 19. Jahrhundert proklamierten Menschenrechte zur damaligen Zeit nicht ein einziges Mal auf die Idee der Menschenwürde gegründet wurden, die erst im 20. Jahrhundert nach dem brutalen Mord von Millionen Unschuldiger den Weg ins Recht fand, können die Menschenrechte durchaus ethisch begründet werden und damit für sich stehen“; Wetz, Menschenwürde (Fn. 1500), S. 45 f. 1527 K.  Seelmann, Das Dilemma einer Begründung von Menschenrechten, in: P.  StekelerWeithofer / B. Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, 2018, S. 439 (441). Koller sieht in den Menschenrechten ein Recht, welches jeder Mensch unabhängig von seinen Lebensumständen von Geburt an besitzt. Die Menschenrechte kämen jeder menschlichen Person von Natur aus zu; P. Koller, Der Geltungsbereich der Menschenrechte, in: S. Gosepath / G. Lohmann (Hrsg.), Philosophie (Fn. 1488), S. 96 (100); Gosepath bezeichnet die Menschenrechte als Mitgliedschaftsrechte: „Menschenrechte gelten qua Mitgliedschaft in der Menschengemeinschaft, einer Mitgliedschaft die keinem Menschen mit guten Gründen verweigert werden kann“; S. Gosepath, Zur Begründung sozialer Menschenrechte, in: ders. / G. Lohmann (Hrsg.), Philosophie (Fn. 1488), S. 146 (149). Auch Böckenförde vertritt die Ansicht, die Menschenrechte stünden dem Menschen kraft seiner Natur zu: „Die Diskussion um die Menschenrechte zeigt, daß die als Rechte postuliert und gesehen werden, die dem Menschen als solchen, das heißt jedem Menschen kraft seines Menschenseins zukommen.“ E.-W. Böckenförde, Ist Demokratie eine notwendige Forderung der Menschenrechte?, in: S. Gosepath / G. Lohmann (Hrsg.), Philosophie (Fn. 1488), S. 233 (236).

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

So verteidigt beispielweise auch Martin Kriele einen naturrechtlichen Rückgriff zur Begründung der Menschenrechte, weshalb er sich für die strikte begriffliche Trennung von Grundrechten und Menschenrechten einsetzt1528. Menschenrechte seien dem Naturrecht zuzuordnen, welche zeitlich ewig und räumlich überall in der Welt gelten, weil sie in der Natur oder in Gottes Schöpfung verwurzelt seien1529. Menschenrechte stünden dem Menschen daher Kraft seines Menschseins und somit unabhängig von einem Gesetzgeber zu1530. Grundrechte hingegen seien häufig die institutionalisierten Menschenrechte, welche einklagbar, zeitlich und örtlich bedingt seien und die Macht des Staatsapparates beschränken1531. Auch Florian Rödl will am Beispiel der Menschenrechte zeigen, „dass die richterliche Entscheidung notwendig orientiert ist an selbst nicht geltender und in diesem Sinne naturrechtlicher Grundlegung des geltenden Rechts.“1532 Gerichte müssten gesetzliche Regelungen mit den geschriebenen Menschenrechtsgarantien überprüfen, ohne dass der Wortlaut dieser Garantien dem Schutzbereich der Menschenrechte zu entnehmen sei1533. Sodann müsse der Richter auf der Suche nach dem Schutzbereich sich der teleologischen Auslegung bedienen. Diese in der Rechtswissenschaft übliche Auslegungsmethode von Gesetzen fragt nach dem Sinn und Zweck der Norm und wird auch dann verwendet, wenn der Wortlaut einer Norm zunächst unsauber formuliert wurde und das Ergebnis durch den Hinweis des Sinns und Zweck der Norm korrigiert werden müsste. Für Hillgruber sind Menschenrechte im Gegensatz zu unseren Grundrechten bereits eine vorstaatliche Institution, derer sich der Parlamentarische Rat bedient habe, um ein vorpositives Fundament der Grundrechte zu legen1534. Das Grundgesetz habe daher „mit dem Bekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG die Brücke zwischen den (naturrechtlichen) Menschenrechten und den (positiv geltenden) Grundrechten geschlagen.“1535 Das Grundgesetz setzt mit Art. 1 GG die universelle Gültigkeit „unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte“ daher voraus1536. Hillgruber benutzt die beiden Begriffe Menschenrechte und Naturrecht nahezu synonym. Auch wenn er sich bei seinen Ausführungen diesbezüglich ausführlich auf die Diskussion des Parlamentarischen Rates bezieht, so thematisiert er eine 1528 M. Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 2003, S. 111. 1529 Kriele, Einführung (Fn. 1528), S. 111. 1530 Kriele, Naturrecht (Fn. 796), S. 9. 1531 Kriele, Einführung (Fn. 1528), S. 111. 1532 Vgl. Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 37. 1533 Vgl. Rödl, Menschenrechtskonzeption (Fn. 19), S. 38. 1534 Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 9), S. 170 ff. 1535 Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 9), S. 171. 1536 Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 9), S. 171: „Die ‚nachfolgenden‘ Grundrechte dürfen sich daher ungeachtet ihres positiv-rechtlichen Selbstandes von ihrer naturrechtlich menschenrechtlichen Grundlage nicht lösen, sich auch in ihrer interpretativen Fortentwicklung nicht aus dem Begründungszusammenhang lösen, indem sie stehen. Gerade eine solche ‚Abkoppelung‘ könnte

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

223

mögliche Unterscheidung beider Begriffe nicht detailliert. Zwar seien Menschenrechte und Naturrecht nicht identisch. Das geht beispielsweise aus der Formulierung hervor, Menschenrechte hätten eine „immanente, naturrechtliche Grundsubstanz“1537. So können sie nicht identisch sein, wenn das eine aus dem anderen hervorgeht. Aber es verdeutlicht, wie eng Hillgruber die Verbindung der Menschenrechte mit dem Naturrecht verknüpft. Den verschiedenen naturrechtlichen Ansätzen der beschriebenen Theorien lassen sich ebenfalls Äußerungen zu den Menschenrechten und ihrer Verknüpfung zum Naturrechtsdenken entnehmen.

1. Theologische Begründungsmuster Andrzej Kuciński bestreitet die Wichtigkeit des Naturrechts für die Menschenrechte nicht, er sieht im Naturrecht vielmehr eine wichtige Voraussetzung für die Menschenrechte. Das liegt unter anderem an seinem Verständnis der Menschenrechte und der Menschenwürde: Diese gelten unabhängig von weltanschaulichen, religiösen und konfessionellen Überzeugungen und seien unveräußerlich1538. Dabei würde die Fortführung der naturrechtlichen Argumentationen in der Verbindung mit der Idee der Menschenrechte auf eine breite Zustimmung in der Gesellschaft stoßen und dem Universalisierungsanliegen des Naturrechts am ehesten entsprechen1539. Diese gelte dabei „als die Errungenschaften des Rechtsbewusstseins der westlichen Zivilisation“1540. Franz-Josef Bormann erkennt in Menschenrechten ebenfalls einen Bezug zur Idee des Naturrechtsgedankens: „Primärer Gegenstand naturrechtlicher Weisungen sind […] elementare Gerechtigkeitspflichten, die die Würde und Selbstzwecklichkeit des Einzelnen schützen und daher einen inneren Bezug zur modernen Idee der unveräußerlichen Menschenrechte aufweisen.“1541 Ebenso kann sich Norbert Brieskorn eine Begründung der Menschenrechte ohne das Naturrecht nicht vorstellen. Die Menschenrechte selbst könnten ihren universalen Anspruch nicht erklären, sie könnten nicht selbst begründen, warum sie zu respektieren seien1542.

zu einer Fehldeutung der Grundrechte führen, der die Väter und Mütter des Grund­gesetzes von Anfang an entgegentreten wollten. Die Menschenrechtsidee, die Grundvorstellung von dem Menschen als solchem zukommender Rechte soll daher – positiv-rechtlich verbindlich! – die dauerhaft gültige Leitidee bleiben, die bei der Auslegung der Grundrechte zu beachten ist. Eine Grundrechtsinterpretation, die gegen diese Menschenrechtsidee verstößt, kann damit auch verfassungsrechtlich falsifiziert werden.“ 1537 Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 9), S. 171. 1538 Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 83. 1539 Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 153. 1540 Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 153; Herv. i.O. 1541 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 356. 1542 Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 118.

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

Daher kommt Brieskorn zu dem eindeutigen Schluss: „Menschenrechte […] gründen auf dem […] Naturrecht.“1543 Für Eberhard Schockenhoff bleiben die Menschenrechte ebenfalls auf eine naturrechtliche Begründung angewiesen. Das Menschenbild der Menschenrechte verweise nämlich auf die Idee der Menschenwürde1544. Die Menschenrechte ließen sich dabei aus einem zweistufigen Erklärungsmuster ableiten1545: Die ethischen Theorien über die praktische Vernunft gingen von natürlichen Rechten der Menschen aus, welche allerdings über die menschlichen Lebensziele keine letztgültige Aussage treffen können. Dennoch könne aus ihr die Basis der Menschenrechtspolitik abgleitet werden und sie habe die Stärke, sich an alle Individuen und Völker richten zu können, da sich ihre Begründung auf die „Anfangsbedingungen des Menschseins“ beschränke. Sie ersetze allerdings die religiöse Begründung in der moraltheologischen Tradition nicht, denn diese müsse die Gesamtdeutung des Lebens beachten. Auf der zweiten Stufe könne die Menschenwürde durch die Menschwerdung Gottes und der Offenbarung noch tiefer begründet werden. Auch für Martin Rhonheimer stellen Grundrechte eine Anerkennung von natürlichen, angeborenen Rechten des Menschen dar. Es gebe zwar Grundrechte, die eine staatliche Ordnung voraussetzen und ohne den Kontext einer solchen Ordnung keinen Sinn ergeben würden, wie etwa die Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit oder Religionsfreiheit1546. Erst durch die Natur der Grundrechte als Abwehrrechte wird es notwendig, die Rechte der Versammlungsfreiheit zu schützen. Denn erst die gesellschaftspolitische Struktur stelle eine Gefahr für die Religionsausübung und Meinungsfreiheit dar, weshalb nur die Eingriffsmöglichkeiten des Staates den Schutz dieser Rechte notwendig mache. Aber diese Grundrechte bleiben Ausdruck einer Anerkennung menschlich angeborenen Anspruchs, seine Religion ausüben zu können. Für Friedrich Lohmann besteht zunächst eine historische Kontinuität, da bereits die Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts sich an naturrechtlichen Entwürfen aus dem 17. Jahrhundert orientierten1547. Aber auch in systematischer Hinsicht zeige sich eine gemeinsame Kontinuität, da sowohl das Naturrecht auf die Natur des Menschen abstelle wie auch die Menschenrechte, wenn diese von der Freiheit jedes Menschen und seiner angeborenen Würde ausgingen1548. Zudem sei beiden das Universalisierungspostulat gemein1549.

1543

Brieskorn, Naturrecht (Fn. 371), S. 118: „Menschenrechte gelten, weil sie auf einem Sollen gründen, dass dem und den Menschen je das Seine und das Ihre zu geben, zu gewährleisten sei oder zu gewähren sei, mit anderen Worten, sie gründen auf dem hier skizzierten Naturrecht.“ 1544 Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 299. 1545 Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 297 ff. 1546 Rhonheimer, Unverzichtbarkeit (Fn. 107), S. 109. 1547 Lohmann, Naturrecht (Fn. 989), S. 10. 1548 Lohmann, Naturrecht (Fn. 989), S. 10 f. 1549 Lohmann, Naturrecht (Fn. 989), S. 11.

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

225

2. Gütertheorie und Menschenrechte Für Robert P. George beschäftigen sich die Naturrechtstheorien mit dem Wohlbefinden der Menschen und ihrer Gesellschaft1550. Es gebe integrale Güter des Menschen, wie die des körperlichen Wohlbefindens, aber auch Güter des intellektuellen und spirituellen Wohlbefindens1551. Der Mensch sei zwar ein Individuum, sei aber auch ein geselliges Wesen, weshalb die Gütertheorie aufgrund der verschiedenen Güter einen strengen Individualismus ebenso ablehne wie einen strengen Kollektivismus1552. Der Individualismus verkenne das Gute der Freundschaft, der Kollektivismus verkenne die Würde, wenn sich das Individuum in einer Gesellschaft völlig unterordnet1553. Menschenrechte seien daher Handlungsvorgaben der praktischen Vernunft zum Wohlergehen und der Achtung der Würde des Menschen. Robert P. George geht davon aus, dass die Menschen aufgrund ihres Menschseins Rechte besitzen, die vom Staat geschützt werden müssten: „Among these principles are respect for rights people possess simply by virtue of their humanity – rights which, as a matter of justice, others are bound to respect, and governments are bound not only to respect but, to whatever extent possible, also to protect.“1554 Die Menschenrechte existieren, wenn es, wovon George selbst überzeugt ist, Prinzipien der praktischen Vernunft gebe, die Menschen aus Respekt vor dem Wohlergehen und der Würde anderer Menschen Handlungsanweisungen aussprechen1555. Dass der Mensch nicht als Mittel, sondern immer als Zweck zu behandeln sei, liegt in der Zugehörigkeit der Spezies Mensch1556. Für George ist dies somit der entscheidende Kernpunkt der Menschenrechte, dass der Mensch ein angeborenes, nicht zu erwerbendes Recht besitzt, nicht als Mittel behandelt zu werden. Das Verständnis der Menschenrechte stützt sich bei George auf die Menschenwürde, die er als Ergebnis natürlicher menschlicher Fähigkeit der Vernunft und Freiheit sieht: „Under that account, the natural human capacities for reason and freedom are fundamental to the dignity of human beings – the dignity that is protected by human rights.“1557 Die Gütertheorie baue auf einem Verständnis von Güter eines rationalen Geschöpfes auf, welches die Fähigkeit zum Nachdenken, Wählen und Urteilen besitze1558.

1550

George, Natural Law (Fn. 1113), S. 59. George, Natural Law (Fn. 1113), S. 59. 1552 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 60. 1553 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 60. 1554 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 59. 1555 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 60 f. 1556 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 61. 1557 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 63. 1558 George, Natural Law (Fn. 1113), S. 63. 1551

226

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

3. Vertragstheoretische Begründungsansätze Traditionell betrachten die vertragstheoretischen Ansätze die nationalen Verfassungen. Der Naturzustand wird gerade dadurch überwunden, dass der Mensch sich untereinander auf die Abgabe seiner Rechte einigt und diese auf den Staat überträgt. Er wird zum Bürger und definiert die Rechte des Staates gerade in der Beziehung zu ihm. Ein universeller Anspruch der Menschenrechte lässt sich in den Vertragstheorien der Aufklärung daher nicht begründen1559. Das erklärt auch den späten Wandel der Menschenrechte von einem innenpolitischen hin zu einem völkerrechtlichen, außenpolitischen Thema. Moderne Ansätze erweitern daher den Kreis der Menschen über die eigene Gesellschaft hinaus. Martha Nussbaum begrenzt den Ansatz der am Vertrag Beteiligten nicht mehr nur auf staatliche Grenzen, sondern bezieht alle Lebenswesen mit ein. Auch Rawls konstruiert die Menschenrechte im Zuge des Völkerrechts. Zunächst geht Rawls davon aus, dass sich aus dem Gesellschaftsvertrag auf einer ersten Ebene, dem „ersten Verwendungszeck des Urzustandes“, faire und vernünftige Bedingungen für die Parteien in einer Gesellschaft ergeben1560. Sodann wird die Idee des Urzustandes als Schleier des Nichtwissens auf das Recht der Völker ausgedehnt1561. Auch hier befinden sich die Parteien in einem ahnungslosen Zustand über ihre eigene spätere Situation, wie die Größe des Territoriums oder der Bevölkerung, und daher in einer fairen Position zueinander1562. Dabei dürften die kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern größer sein als zwischen den Bürgern, weshalb ein utilitaristischer Ansatz im Pluralismus der Völker keine Chance habe: Kein Volk sei dazu bereit, als erstes Prinzip anzuerkennen, dass Vorteile eines anderes Volkes die eigenen Nachteile aufwiegen könnten1563. Daher bezeichnet Rawls nur die absoluten Grundvoraussetzungen der Menschenrechte als achtbare Hierarchie: Er unterscheidet politische und bürgerliche Freiheitsrechte von den fundamentalen Rechten wie Leben, Freiheit, Eigentum und Gleichheit1564. Die Vertragstheorie setzt typischerweise bereits ein bestimmtes Menschenbild voraus, welches es erst ermöglicht, dass sich der Mensch in einem vertraglich gedachten Zustand auf Schutzvorschriften seiner Rechte einigen könne. Der Mensch wird als ein Rechtssubjekt behandelt. Als Rechtssubjekt versteht man Menschen „in ihrer rechtlichen Beurteilung als ein wechselseitig anerkannter tauglicher Inhaber von Rechten und Pflichten“1565. Die Voraussetzungen, dass Menschen sich 1559

Vgl. M. Koenig, Menschenrechte, 2005, S. 124. J. Rawls, Das Recht der Völker. Enthält: „Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft“, 2002, S. 33. 1561 Rawls, Recht (Fn. 1560), S. 33. 1562 Rawls, Recht (Fn. 1560), S. 36. 1563 Rawls, Recht (Fn. 1560), S. 45. 1564 Rawls, Recht (Fn. 1560), S. 80. 1565 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 446. 1560

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

227

als Vertragspartner auf einen bestimmten Zustand einigen können, gründet auf dem Gedanken des Status als Person1566. Ähnlich lässt es sich auch bei der Diskurstheorie für die Annahme einer Menschenwürde argumentieren. Wenn die Diskurstheorie davon ausgeht, dass die Menschenrechte diskursiv begründbar und gerechtfertigt sein müssten, geht sie von der Grundannahme aus, der Mensch habe ein Recht auf die Teilhabe an der Diskussion1567. Der Mensch brauche als Ausdruck seiner Autonomie freie und gleiche Mitwirkungsmöglichkeiten1568. Aus dem Recht, am politischen Diskurs teilzuhaben, lassen sich der status activus und der status subjectionis, das Recht auf Anerkennung seiner Rechtsfähigkeit, erklären1569. Die Autonomie sei wiederum Ausdruck der Würde als freiheitsfähiges Wesen1570.

4. Die Menschenrechte aus dem Blick des Fähigkeitsansatzes Der Fähigkeitsansatz selbst ist zunächst keine Menschenrechtskonzeption und auch als solche primär nicht gedacht1571. Dennoch ist der Fähigkeitsansatz „politisch eng mit der Förderung der Menschenrechte verbunden“, sodass Nussbaum den Fähigkeitsansatz als eine Art von menschenrechtsbasiertem Ansatz bezeichnet1572. Ansprüche eines Menschen seien nach Nussbaum bereits in seiner Existenz begründet, in der Tatsache also, „daß eine Person in die Gemeinschaft der Menschen hineingeboren wird.“1573 Der Fähigkeitsansatz ist demnach universell und besagt, dass die Fähigkeiten für jeden Menschen wichtig sind und von jedem Staat beachtet werden sollten1574. Für Nussbaum selbst ähnelt ihre Theorie daher dem Verständnis der Menschenrechte1575. Der Schritt vom Fähigkeitsansatz bis hin zu den Menschenrechten ist in der Tat kein allzu großer. Nussbaum beschäftigt sich mit einer gerechten Gesellschaft, welche als solche angenommen werden kann, wenn sie die Menschen in die Lage versetzt, ihre Fähigkeiten auch auszuüben. „Da wir uns bei der Bestimmung sozialer Gerechtigkeit auf Rechte beziehen, sollten wir eine Gesellschaft nur dann als gerecht bezeichnen, wenn diese Fähigkeiten tatsächlich verwirklicht worden sind.“1576 Entscheidend ist allerdings, dass der Ansatz, wie man vielleicht zunächst denken könnte, die Ansprüche des Menschen nicht auf bestimmte, real vorliegende Fähig 1566

Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 446. Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 135. 1568 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 136. 1569 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 135. 1570 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 137. 1571 Laukötter, Begründung (Fn. 1351), S. 164. 1572 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 390. 1573 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 392. 1574 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 115. 1575 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 115. 1576 Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 394. 1567

228

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

keiten eines Menschen begrenzt. Vielmehr ist der Anspruch eines jeden Menschen in der Zugehörigkeit zur Spezies begründet, welche charakteristische Fähigkeiten besitze1577. Dieser Punkt ist ganz entscheidend für den Fähigkeitsansatz: Einer stummen Person, welcher somit die Fähigkeit der verbalen Kommunikation fehlt, müsse die Gesellschaft eine „angemessene Form der Vormundschaft entsprechende Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen.“1578 Würde allerdings nur auf die vorhandenen Fähigkeiten eines Menschen abgestellt werden, fehle einem stummen Mensch ein solcher Anspruch.

5. Die Würde des Menschen als Begründung der Menschenrechte Würde bezeichnet den inneren Wert eines Lebewesens, der als unverlierbar, unentziehbar angesehen wird1579. Die Würde bezeichnet einen Wert, der nicht wie andere Werte auf der Achtung und dem Respekt anderer beruht. Vielmehr verstehen wir unter der Würde eine nicht abstufbare Achtung des absoluten Wertes unabhängig jedes Kontextes1580. Der Schutz der Menschenwürde im Grundgesetz ist als kurzer Exkurs im Zusammenhang mit den naturrechtlichen Inhalten der deutschen Rechtsprechung und des deutschen Gesetz- und Verfassunggebers angeschnitten worden. Wie mit Blick auf die AEMR gezeigt wurde, ist die Menschenwürde häufig die Basis der sich hieraus ergebenden Menschenrechte. Dass die Menschenwürde und die Menschenrechte aufeinander folgen und aufeinander beziehen, findet sich in den Menschenrechtserklärungen und Verfassungen erstmals im 20. Jahrhundert, da in den Erklärungen des 18./19. Jahrhunderts die Menschenwürde noch keine Rolle spielte1581. Ähnlich wie der Naturrechtsbegriff wurde auch der Begriff der Menschenwürde nicht einheitlich verwendet und unterliegt einem Wandel. Der Würdebegriff taucht bereits in der Antike auf, ohne dass dieser mit einer von Natur aus angeborenen menschlichen Stellung oder Fähigkeit begründet worden wäre. Vielmehr verstand die dignitas ex excellentia sich als eine auf individuelle Leistung und sozialer Anerkennung beruhendes erworbenes Ergebnis1582. Sie hing somit von „innerer Selbstbeherrschung und äußerer Selbstdarstellung […] und auch von gesellschaftlicher Wertschätzung“ ab1583. Dieser Begriff hat sich seitdem historisch sehr gewandelt. Vor allem das Christentum verstand die Menschenwürde als Wesensmerkmal des Menschen aufgrund seiner Ebenbildlichkeit zu Gott und die Menschwerdung Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus und dessen Erlösung der 1577

Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 392. Nussbaum, Grenzen (Fn. 70), S. 392. 1579 Thies, Moral (Fn. 121), S. 27. 1580 Thies, Moral (Fn. 121), S. 27. 1581 Wetz, Menschenwürde (Fn. 1500), S. 33 f. 1582 Wetz, Menschenwürde (Fn. 1500), S. 29. 1583 Wetz, Menschenwürde (Fn. 1500), S. 29. 1578

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

229

Menschheit1584. Die Neuzeit „säkularisiert“ den Menschenwürdebegriff von Gott und unterstellt dem Menschen in kantischer Manier aufgrund seiner Vernunft eine Würde, die im Gegensatz zu Werten nicht disponibel oder eintauschbar gegen andere Werte ist1585. Die Menschenwürde dient der Begründung der Menschenrechte und ersetzt nach Eckhart Klein einen direkten Rückgriff auf das Naturrecht1586. Für Klein ist die Menschenwürde zum Ausgangspunkt der Entwicklung der Menschenrechte geworden1587. Es könne allerdings offenbleiben, ob die Menschenwürde dabei nur die gedankliche Basis der Menschenrechte darstelle, ob sie selbst Rechte vergebe oder ob sie sogar direkte Anspruchsgrundlage sei1588. a) Würde als Anerkennung Kurt Seelmann sieht in den traditionellen Begründungsversuchen der Menschenrechte ein Dilemma. Zum einen führe die naturrechtliche Begründung der vorstaatlichen oder vernunftrechtlichen Menschenrechte zu einem Konflikt mit dem Prinzip der Volkssouveränität1589. Zum anderen erzeuge der Rechtspositivismus die Annahme, die Menschenrechte seien einem Gesetzgeber zu verdanken und durch einen Mehrheitswillen entstanden, welcher die Menschenrechte jederzeit abschaffen könne1590. Wäre dies der Fall, so Seelmann, gerieten einige im Alltag vorherrschende Rechtsverständnisse in eine Schieflage1591. Nach ihm käme man deshalb nicht an einer normativen Begründung der Menschenrechte vorbei1592. Dieses Begründungsdilemma der Menschenrechte versucht Seelmann dadurch zu lösen, dass er die Erklärungsmuster für die Würde des Menschen, die sog. Mitgift­theorie und die „Anerkennungstheorie“, verbindet. Die Mitgifttheorie geht davon aus, dass die Würde dem Menschen angeboren ist und daher von Natur aus jedem zukommt, während in der Anerkennungstheorie die Meinung vertreten wird, die Würde sei das Ergebnis einer menschlichen Handlung1593. Seelmann beschreibt die Würde als Ausdruck eines Rechts, Rechte haben zu können1594. In der Menschenwürde kommt das Bild des Menschen als Träger von Rechten zum Ausdruck und nicht etwa das Innehaben einzelner konkreter Rechte. Ein solches Rechtssubjekt besteht allerdings nicht im Vorhinein. Hierin sei ein 1584

Wetz, Menschenwürde (Fn. 1500), S. 30. Wetz, Menschenwürde (Fn. 1500), S. 31. 1586 Lohmann, Menschenrechte (Fn. 1489), S. 77. 1587 E. Klein, Menschenrechte zwischen Universalität und Universalisierung, in: C. Böttigheimer / N. Fischer / M. Gerwing (Hrsg.), Menschen (Fn. 29), S. 207 (212). 1588 Klein, Menschenrechte (Fn. 1587), S. 212. 1589 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 439. 1590 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 439. 1591 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 442. 1592 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 443. 1593 Vgl. Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 446. 1594 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 446. 1585

230

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

Fehler im Konstrukt der Vertragstheorien zu sehen, die den Menschen als Person und Vertragspartner gerade voraussetzen1595. Nach Seelmann sei die Personwerdung des Menschen ein Prozess, in dem die Menschen sich einander wechselseitig als freie Menschen und als Personen mit gleichen Rechten anerkennen1596. Dies sei eine „Theorie doppelter Anerkennung“, denn aus diesem einen Akt der Anerkennung folgten zwei Resultate. Der Mensch als Rechtssubjekt und die damit verbundenen Normen, die den Menschen ein Leben als Rechtssubjekt erlauben, würden durch die Anerkennung entstehen1597. Allerdings, und hierin ist die Verbindung beider Theorien zu sehen, ist die Anerkennung unabdingbar. Eine reine, dem Menschen freigestellte Anerkennung seines Gegenübers als freien Menschen könne nicht angenommen werden. „Darin ist deshalb der ‚Mitgift‘-Theorie der Menschenwürde Recht zu geben, dass das Anerkennen notwendig ist – notwendig aber nicht schlechthin, sondern notwendig unter der Voraussetzung des Lebens in einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft, das ohne Rechtssubjekte im empathischen Sinn einander wechselseitig Anerkennender nicht gedacht werden kann.“1598 Die Menschenwürde mag nach Seelmann nicht angeboren sein, aber dennoch ist sie eine notwendige Voraussetzung. Das bedeutet aber letztlich auch, dass Seelmann den Konflikt der Begründung der Menschenrechte bei der Begründung der Menschenwürde nicht völlig umgehen kann. „Volkssouveränität – wenn diese vereinbar sein soll mit der Herrschaft des Rechts, muss also den empirischen Volkswillen notfalls normativ dahingehend einschränken, dass Menschenwürde und folglich Menschenrechte geachtet und geschützt werden.“1599 Indem Seelmann die Würde, d. h. den Menschen als Träger von Rechten, als Grundlage der Menschenrechte betrachtet, zieht er den Status des Rechtssubjekts aus einem Menschenrechtskatalog. Der Status des Rechtssubjekts ist gerade nicht Teil der Menschenrechte, sondern ihre Grundlage. Diese Ansicht widerspricht der Theorie der vier Kategorien der Menschenrechte, wie sie beispielhaft von Kirste vertreten wird. Er beschreibt den status subjectionis als Teil der Menschenrechte. Aus der Vernunftfähigkeit des Menschen folge das Recht auf Freiheit und Gleichheit und somit die Rechtsfähigkeit des Menschen, ein „Recht auf Rechte“1600. Diese angeborenen Werte seien die Basis für Recht und Würde1601. Die Rechtsfähigkeit des Menschen sei demnach kein Resultat der direkten Anerkennung, sondern die Rechtsfähigkeit folge daraus, dass der Mensch einen Anspruch auf Anerkennung habe1602.

1595

Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 447. Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 447. 1597 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 448. 1598 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 448. 1599 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 449. 1600 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 124. 1601 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 123. 1602 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 124. 1596

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

231

Eine direkte Begründung der Menschenrechte aus dem Naturrecht oder dem Rechtspositivismus heraus, sieht auch Kirste mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Eine naturrechtliche Begründung könne unterschiedliche Verständnisse über Menschenrechte nicht verhindern1603. Menschen, welche die religiöse Überzeugung oder die philosophische Annahme, aus denen ein Naturrecht begründet werden kann, nicht teilen, könnten die Menschenrechte nicht anerkennen1604. Der Rechtspositivismus vermag es wiederum nicht, die Universalität der Menschenrechte zu sichern und zu begründen1605. Kirste bezeichnet deshalb die Würde des Menschen als Fundament der Menschenrechte1606. Ein Recht auf Zuschreibung von Menschenrechten kann zu erheblichen Problemen in der Behandlung der Menschenwürde führen. Rechte sind nicht mit Pflichten gleichzusetzen, weshalb sie zwar ausgeübt werden können, aber nicht müssen. Ein Recht auf Zuschreibung verneint Peter Schaber mit dem Hinweis auf die Folgewirkungen von Rechten. Eine Anerkennung von Recht habe eben die spezielle Eigenart zur Folge, nicht ausgeübt werden zu müssen, weshalb dann von jedem Menschen frei entschieden werden könnte, ob er der Anerkennung folgt oder sie ablehnt1607. Menschenrechte und Menschenwürde seien nicht von Menschen ausgehandelt, sondern begründeten Pflichten, die ihren Schutz bereits vorgäben1608. Der Mensch aber besitze Rechte und eine Würde unabhängig von ihrer Zuschreibung oder Anerkennung, weshalb Schaber von einer Pflicht zur Anerkennung ausgeht1609. Die Überlegung, die Anerkennung der Menschenwürde sei eine Notwendigkeit oder die Würde entstamme eines menschlichen Anspruchs hierauf, widersprechen der klassischen Anerkennungstheorie. Ist die Anerkennung der Menschenwürde notwendig, so ist sie nicht allein zugeschrieben. Die Würde ist gerade kein zufälliges Ergebnis einer menschlichen Handlung untereinander, sondern wurzelt auf einem, dem Menschen immanenten Anspruch. Dieses Recht kommt jedem Menschen universell und gleichermaßen zu und stellt bei Würdeverletzungen nicht selten die Grundlage für Kritik an bestehenden Normen dar. Es unterscheidet sich zudem gerade von der Anerkennungstheorie, da der Anspruch hierauf eben nicht der Mehrheitsmeinung oder dem Gegenüber überlassen wird, weshalb die Theo-

1603

S. Kirste, Die naturrechtliche Idee überstaatlicher Menschenrechte, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. X, 3. Aufl. 2012, § 204 Rn. 19. 1604 Kirste, Idee (Fn. 1603), § 204 Rn. 19. 1605 Kirste, Idee (Fn. 1603), § 204 Rn. 43. 1606 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 137 ff. 1607 Peter Schaber bezieht sich dabei auf das Recht auf Zuschreibung der Menschenrechte. Menschenrechte und Menschenwürde sollen hier auf keinen Fall vermischt werden, die Argumentation aber bleibt die gleiche; P. Schaber, Sind Menschenrechte zugeschriebene Rechte?, in: F. Bornmüller / T. Hoffmann / A. Pollmann (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 2013, S. 89 (96). 1608 Schaber, Menschenrechte (Fn. 1607), S. 97. 1609 Schaber, Menschenrechte (Fn. 1607), S. 97.

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

rien über ein Recht auf Anerkennung alle naturrechtsrelevanten Voraussetzungen enthalten1610. Spätestens die Pflicht auf Anerkennung von Rechten und bestimmte Behandlungen stellt den Unverfügbarkeitscharakter dieser Rechte in den Vordergrund. Pflichten stehen der freien Entscheidungsmöglichkeit zwar nicht entgegen, sie konstatieren allerdings bereits die richtige Entscheidung. Die Entscheidung obliegt sodann auch nicht mehr der Mehrheit oder einem Gremium – es wäre sonst eben keine Pflicht. Pflichten sind verbindliche Handlungsvorgaben, denen auch der Gesetzgeber nachzukommen hat. b) Würde als angeborene Voraussetzung Als „nicht interpretierbare These“1611 gibt das Menschenwürdeprinzip nicht selbst Art und Umfang des Schutzes vor, sondern nur den Grund für diesen Rechtsschutz, so Johannes Hattler1612. Danach besäße jeder Mensch eine angeborene und unverlierbare Würde1613. Diese Würde existiert demnach unabhängig von Anerkennung anderer und auch des eigenen Würdenträgers. Sie zeigt sich auch nicht erst bei bestimmten Eigenschaften des Menschen, sondern sie bleibt dem Menschen immanent: „Jedem kommt die Würde zu – unabhängig von seinen Anlagen, Fähigkeiten und Leistungen, allein deshalb, weil er als Mensch geboren ist.“1614 Nach Hattler vertrete der Großteil der Juristen und Philosophen noch die sog. Mitgifttheorie, nach welcher der Mensch mit Beginn des menschlichen Lebens die Würde zustehe, da jede andere Differenzierung willkürlich sei1615. Auch für Robert Spaemann kommt der Menschenwürdebegriff nicht ohne Rückgriff auf naturrechtliche Überlegungen aus. Menschenwürde bezeichnet nach Spaemann das Minimum an Würde eines Menschen1616. Es gebe eine Ungleichheit der Würde in institutioneller und persönlicher Art, wie die Würde eines Amtes, welches nicht jedem zuteilwerde, allerdings auch wieder verlierbar sei1617. „Die 1610 Kritisch zum Gedanken des Anspruchs auf Anerkennung: „Damit aber bleibt seine [Peter Schaber; F.v.R.] Argumentation letztlich in naturrechtlichem Fahrwasser und verfehlt m. E. die neue Konstellation der internationalen Menschenrechte.“ G. Lohmann, Echo des Naturrechts? Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie, in: P. Stekeler-Weithofer / B. Zabel (Hrsg.), Philosophie (Fn. 1527), S. 450 (459). 1611 Das Zitat geht auf Theodor Heuss zurück; Bundestag / Bundesarchiv, Rat (Fn. 613), S. 64. 1612 J.  Hattler, Menschenwürde und Menschennatur, in: H. Thomas / ders. (Hrsg.), Appell (Fn. 107), S. 13 (16). 1613 Hattler, Menschenwürde (Fn. 1612), S. 18. 1614 M. Spieker, Folgerung aus der Natur des Menschen für die Weitergabe des Lebens und die Demokratie, in: H. Thomas / J. Hattler (Hrsg.), Appell (Fn. 107), S. 79 (81). 1615 Hattler, Menschenwürde (Fn. 1612), S. 18. 1616 R. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1987), in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, 2. Aufl. 2002, S. 115 (115). 1617 Spaemann, Begriff (Fn. 1616), S. 115.

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

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Ungleichheit in der persönlichen Würde liegt begründet in der unterschiedlichen sittlichen Vollkommenheit der Menschen.“1618 Aber das „Minimum“ an Würde sei unverlierbar, weil die Freiheit eines Menschen, also die Möglichkeit eines Menschen jederzeit das Gute anzuerkennen und zuzustimmen, als mögliche Sittlichkeit unverlierbar sei1619. Diese Freiheit zu schützen und dem Menschen diesen Freiraum zu gewähren, sei daher ein „Akt der Achtung der Menschenwürde.“1620 Der Mensch als freies Wesen hat demzufolge jederzeit die Möglichkeit, sich sittlich richtig zu verhalten. Einige Menschen leben sittlicher als andere und sind daher auch reicher an persönlicher Würde. Ein sittlich richtiges Verhalten kann es allerdings nur geben, wenn sich der Mensch dazu auch frei entscheiden kann. Ihm diese Möglichkeit zu gewähren, ist nach Spaemann Ausdruck der unverlierbaren Menschenwürde. Wie bereits beschrieben, stellt die Würde auch für Stephan Kirste den zentralen Begründungpunkt der Menschenrechte dar. Für ihn sei die Begründung der Menschenrechte keineswegs wertneutral1621. Gerade durch die Voraussetzung, dass jeder Mensch Träger der Menschenrechte sei, sei dies Ausdruck des Wertes der Menschenwürde1622. Die Würde komme dem Menschen als solches aufgrund seines Freiheitwesens zu1623. Die Menschenrechte setzten das Potential des Menschen, frei zu handeln, bereits voraus. Diese Freiheitsfähigkeit müsse als Ausdruck der Würde in den verschiedenen Status der Menschenrechte geschützt werden: „Erstens der rechtlichen Anerkennung eines jeden Menschen, zweitens der Abwehr von Eingriffen, die die Entfaltung seiner Freiheitsfähigkeit vereiteln, drittens der Schaffung und Teilhabe an Freiheitsvoraussetzungen und viertens der rechtlichen Möglichkeit, aus sich selbst heraus über Grund, Ausgestaltung und Sicherung seiner Rechte mitbestimmen zu können.“1624 Heiner Bielefeld bezeichnet die Menschenwürde zunächst als Ausdruck des Achtungsanspruchs der Menschen untereinander, weshalb sie der Begründung der Menschenwürde aufgrund des status subjectionis des Menschen ähnelt1625. Der Mensch habe eine subjektive Verantwortungsfähigkeit, die ihn in die Lage versetze, Verbindlichkeiten einzugehen. Für den Fall, dass die Erwartung an die Verbindlichkeiten enttäuscht würden, wie etwa beim Treuebruch oder bei Unzuverlässigkeit, entstünden negative Gefühle (Vorwürfe, Empörung, Schuld­ gefühle, Gewissenbisse), die wiederum bewiesen, dass der Achtungsanspruch des Menschen aufgrund seiner Verantwortungssubjektivität kein Produkt künstlicher Selbstüberhöhung sei1626. 1618

Spaemann, Begriff (Fn. 1616), S. 115. Spaemann, Begriff (Fn. 1616), S. 115. 1620 Spaemann, Begriff (Fn. 1616), S. 115. 1621 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 134. 1622 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 133 f. 1623 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 138. 1624 Kirste, Fundament (Fn. 1501), S. 138. 1625 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 105 f. 1626 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 105 f. 1619

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

Des Weiteren seien Menschenrechte historische Antworten auf strukturelles Unrecht und daher von ihrer Struktur her bereits entwicklungsoffen1627. Das schließe allerdings nicht aus, dass die Würde der Grund der Menschenrechte sei, sondern die Würde setze die Menschenrechte vielmehr explizit voraus1628. Wegen neuerer gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen müssten sich die Menschenrechte anpassen und ließen sich daher nicht einfach aus der Würde ableiten. Die Würde diene vielmehr einem „kritisch-reflexiven Rückbezug“ und präge die Grundprinzipien des Menschenrechtsansatzes insgesamt, „die universalistische Orientierung, die emanzipatorisch-egalitäre Stoßrichtung und der besondere Rang ‚unveräußerlicher‘ Rechte“1629. Durch die Möglichkeit, anhand dieser Prinzipien neue Rechtsforderungen kritisch auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen, gewinne sie unmittelbar praktische-politische Relevanz1630. „Die Idee der Menschenwürde umspannt das Ganze der Menschenrechte.“1631 Bielefeld sieht im Universalitätsanspruch der Menschenrechte keinen Anspruch auf die Gewährleistung der Menschenrechte überregional und international1632. Es handle sich bei diesem Anspruch um eine innere Qualität, die für die Menschenrechte am bloßen Faktum des Menschseins anknüpft und im Gegensatz zum Partikularismus nicht an Eigenschaften, Leistungen, Ansehen des Menschen festmacht1633. „Bei den Menschenrechten handelt es sich […] um grundlegende Rechte, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zu kommen.“1634 Menschenrechte seien als Ausdruck der Menschenwürde jedem Menschen gegeben und könnten daher nicht erworben oder verloren werden1635. Wenn Bielefeld die Würde als Grundprinzip versteht, welches universell und unveräußerlich, also aufgrund der Entscheidung des Menschen nicht aberkannt oder zugesprochen werden könne, und als kritischer Maßstab für neue Rechtsforderung diene, dann formuliert er die Würde als minimalen Naturrechtsansatz, an dem sich die Menschenrechte orientieren. Ein solch moraltheoretisch begründetes Verständnis von Menschenrechten, das sich auf „einen sogenannten universalisierbaren Minimalkatalog fundmentaler Rechte auf Leben, Sicherheit, persönliche Freiheit und formale Gleichheit beruft“, steht „in der Tradition des neuzeitlichen Naturrechtsdiskurses“1636. Schockenhoff geht bei der Würde des Menschen ebenfalls nicht von einer der Anerkennung eines anderen Menschen abhängigen Tatsache aus, sondern von einer 1627

Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 108 f. Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 107. 1629 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 109. 1630 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 110. 1631 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 110; Herv. i.O. 1632 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 116. 1633 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 116. 1634 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 115. 1635 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 115, 122. 1636 F. Martinsen, Grenzen der Menschenrechte. Staatsbürgerschaft, Zugehörigkeit, Partizipation, 2019, S. 36. 1628

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

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angemessenen Reaktion auf einen vorgegebenen Anspruch1637. Vielmehr sei sie in einer humanen Rechtsordnung als Voraussetzung anerkannt1638. „Keiner von uns verdankt seine menschliche Würde dem Einverständnis und der Zustimmung der anderen; sie wird in einer humanen Rechtsordnung nicht gegenseitig zuerkannt und gewährt, sondern als das allen vorausliegende Fundament anerkannt.“1639 Eine im Rechtssystem weitverbreitete Tatsache der gegenseitigen Anerkennung von Rechten untereinander dürfe nicht als schöpferischer Akt der Würde missverstanden werden, sondern vielmehr eine Reaktion auf einen dem Menschen anhaftenden Anspruch hierauf, der der Anerkennung vorausgeht1640. Daher könne die Würde nicht verwirklicht oder befördert, sondern nur geachtet und anerkannt werden1641. Wenn also das Erklärungsmuster für die Würde des Menschen nicht auf die Anerkennung angewiesen ist, weil der Mensch aufgrund seiner Natur über Recht verfüge, ist der Mensch Träger einer Würde aufgrund seiner Zugehörigkeit zu seiner Spezies1642. Die Zugehörigkeit zur Spezies und die Würde wiederum sind demnach unabhängig von dem jeweiligen Lebensstadium und der Fähigkeiten. c) Abgrenzung zum Personenrecht Die Würde als universale Eigenschaft eines jeden Menschen aufgrund seiner Spezies ist selbst unter denjenigen nicht unstreitig, die die Würde anerkennen. Neben einer den Menschen aufgrund der gemeinsamen biologischen Art angeborenen Würde hat sich eine Meinung etabliert, die die Würde am „Personsein“ des einzelnen Menschen festmacht. Der Status der Personen im Recht hat eine weit zurückgehende Tradition. Bereits in den Institutiones Iustiniani, einem Gesetzeswerk aus dem Jahr 533 n. Chr., wird die „Person“ vorausgesetzt und unter dem Begriff des Menschen in Abgrenzung zu Sklaven als freier Mensch bezeichnet1643: „Die oberste Einteilung des Rechts der Personen ist nun die, daß alle Menschen entweder Freie sind oder Sklave. Und die Freiheit, libertas, nach der man auch von freien Menschen, liberti, spricht, ist die natürliche Fähigkeit, das zu tun, was einem jeden zu tun beliebt, sofern es nicht durch Gewalt oder das Recht verhindert wird. Dagegen ist die Sklaverei eine Einrichtung des Völkergemeinrechts, durch die jemand entgegen dem Natur 1637

E.  Schockenhoff, Beruht die Menschenwürde auf einer kulturellen Zuschreibung?, in: W. Härle / B. Vogel (Hrsg.), Rechte (Fn. 52), S. 248 (250). 1638 Schockenhoff, Menschenwürde (Fn. 1637), S. 250. 1639 Schockenhoff, Menschenwürde (Fn. 1637), S. 250. 1640 Schockenhoff, Menschenwürde (Fn. 1637), S. 251. 1641 Schockenhoff, Menschenwürde (Fn. 1637), S. 251. 1642 Schockenhoff, Menschenwürde (Fn. 1637), S. 252. 1643 Vgl. N. Campagna, Person, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), S. 373 (373).

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

zustand dem Eigentum eines anderen unterworfen ist.“1644 Der Begriff der Person war schlicht an die Fähigkeit des Individuums zur Rechtsdurchsetzung bei Gericht geknüpft1645. Eine Rechtsperson ist daher ein Wesen gewesen, welches einen Anspruch auf ein schützenswertes Gut aufgrund seiner selbst willen erheben konnte1646. In der Gegenwart dürfte zumindest ein überwiegender Teil dieser Welt die Vorstellung nach einer Unterscheidung nach freien Menschen und Slaven ablehnen und zumindest unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Rechtsfähigkeit für jeden Menschen anerkannt werden. „Jeder Mensch ist eine Rechtsperson, da es bestimmte Rechte gibt – die sogenannten Menschenrechte –, die der Mensch von Natur aus besitzt und die von jedem positiven Rechtssystem anerkannt werden müssen.“1647 Es schließt sich die Frage an, welches Wesen diesen Personenstatus aufgrund seiner Situation, „wie irreversibel komatöse Menschen, Embryos, Föten, Tiere“ anerkannt oder aberkannt wird1648. Die Personenrechte stoßen teilweise auf erhebliche Ablehnung, da dadurch nicht jedem Menschen eine Würde zugesprochen werde1649. Christopher Tollefsen sieht für die Personalisierung des Menschen ein überhöhtes Menschenbild verantwortlich. Philosophen wie Platon, Descartes, Locke oder Peter Singer seien von den persönlichen Eigenschaften des Menschen so beindruckt, dass sie den Träger dieser Eigenschaften als etwas ansehen, was sich von den biologischen Eigenschaften des menschlichen Tieres unterscheide1650. Eine solche Person unterscheide sich begrifflich von einem körperlichen Tier und somit von einem Menschen1651. Zu diesen personellen Eigenschaften zählt Tollefsen Selbstbewusstsein, Vernunft und Willen. Dieses Verständnis von Person baue auf einem Dualismus auf, welcher den Geist und die Seele des Subjekts in den Fokus stelle, der mit dem Köper nur ver 1644 Inst. 1.3,1–2 (Corpus Iuris Civilis, Text und Übersetzung, Bd. 1 Institutionen, heraus­ gegeben u. a. von Okko Behrends, 2. Aufl. 1997, S. 6); Herv. F.v.R. 1645 Campagna, Person (Fn. 1643), S. 374. 1646 Campagna, Person (Fn. 1643), S. 374. 1647 Campagna, Person (Fn. 1643), S. 374. 1648 Campagna, Person (Fn. 1643), S. 374. 1649 Vgl. Hattler, Menschenwürde (Fn. 1612). Nach Hattler beginnt das Leben eines Menschen bei der Verschmelzung der Eizelle, spätestens aber wird das Leben im Moment der Nidation angesetzt; ebda., S. 20. Kritisch sieht er daher die Tendenz zu einem Personenrecht. Eine Theorie, welche die Würde des Menschen an seine Fähigkeiten kopple, wie Bewusstsein, Überlebensinteresse, Autonomie, Erlebnisfähigkeit oder Schmerzempfinden, unterscheide zwischen Menschen- und Personenrechten, wobei nur Personen eine Würde zukomme; ebda., S. 21. Vgl. Wald, Menschenwürde (Fn. 6). Auch Wald erkennt in der Debatte um den Anfang des Lebens und das Menschsein eine Tendenz, die Unteilbarkeit der Menschenrechte an eingeschränkte Bedingungen zu knüpfen; ebda., S. 54. Die Teilhabe und Ansprüche an Menschenrechten würden danach nur noch Menschen unter bestimmten Bedingungen zukommen, nämlich beim Vorliegen „personalrelevanter Eigenschaften“; ebda., S. 54. Vgl. Spaemann, Begriff (Fn. 1616). Spaemann sieht ebenfalls die offenkundige Gefahr, Würde an Eigenschaften der Menschen zu koppeln, die vorher von der Mehrheit festgelegt worden sind. Dies stünde im Widerspruch zu Menschenrechten, die jedem Menschen angeborene Rechte zuschrieben; ebda., S. 116. 1650 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 80. 1651 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 80.

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

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bunden sei und nicht etwa ein körperliches Tier in dem Menschen sehe1652. Körper und Geist werden dabei als zwei zu trennende Elemente des Menschen angesehen. Das Verständnis der Personalität verkenne aber nach Tollefsen die Animalität des Menschen. Nach ihm sei der Mensch ein rationales Tier, welches, wie jeder andere Organismus, ein zeitliches Leben führe und sein Leben in der Zeit entfalte1653. Tollefsen verdeutlicht diese Ansicht mit der Beobachtung des Wesens eines Hundes. Hunde seien beispielweise nicht von Anfang an in der Lage zu jagen1654. Das aber erkennt man nicht, wenn man sich den Hund allein in seinem ausgewachsenen und seine Jagdfähigkeit erlernten Zustand anschaue. Die Wahrheit über Hunde könne nur erkannt werden, wenn man sie nicht nur in einem Zeitfenster betrachtet, sondern kann nur mit Blick auf die Art des Hundes erkannt werden1655. Es sei jedem klar, dass dem Hund die Fähigkeit zu jagen angeboren sei, diese sich aber mit der Zeit noch entwickeln müsste1656. Dem Hund werden also aufgrund der angeborenen Beschaffenheit seiner Spezies typische Fähigkeiten zugesprochen. Dennoch käme niemand auf die Idee, dass der Welpe ohne diese typischen Hunde-Fähigkeiten noch kein Hund sei1657. Es gibt keine Überhöhung des Hundes, für den Fall, dass er die typischen Hunde-Fähigkeiten auslebt. Der Hund wird als Spezies verstanden, der natürliche Veranlagungen besitzt, unabhängig von seiner zeitlichen Lebenssituation. Bei Menschen könne nach Tollefsen nichts anderes gelten: Auch der Mensch entwickele seine Fähigkeiten, wie das Laufen und Sprechen mit der Zeit, weil sich die meisten Fähigkeiten von Organismen erst mit der Zeit entwickeln müssten1658. Es wäre daher eine fehlerhafte Ansicht zu glauben, dass sein Organismus erst dann existiere, wenn er seine charakteristischen Fähigkeiten ausüben könne: „So it would be a mistake to assume that the organism doesn’t really exist until it can perform all of its characteristics activities.“1659 Dass der Mensch, wenn er mög­ licherweise die natürliche Eigenschaft des Selbstbewusstseins besitzt, zu einer über die menschliche Spezies hinausgehende Gruppe der Personen gehören soll, ist dadurch nicht ersichtlich. Tollefsen kommt zur Schlussfolgerung, dass die Fähigkeit nicht das ausschlaggebende Kriterium sein könne, sondern eher die natürliche Veranlagung. Dann aber entsteht für ihn der Mensch, wie jeder andere Organismus, bereits mit der Empfängnis1660. Auch die EU- Menschenrechtscharta geht in Art. 3 nicht weiter von Menschen aus, sondern spricht Personen das Recht auf körperliche und geistige Unversehrt 1652

Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 80. Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1654 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1655 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1656 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1657 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1658 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1659 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 81. 1660 Anderson / Tollefsen, Enhancement (Fn. 1143), S. 82. 1653

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

heit zu. Die Gefahr ist offensichtlich: Die Theorie eröffnet eine Möglichkeit der Willkür aufgrund der Zuschreibung eines Menschen zur Personengruppe, durch die Erfüllung bestimmter Eigenschaften. Jede Position sei problematisch, sagt Christoph Böhr, „die für die Würde Ausnahmen zulässt, […] weil sie zu einem Dammbruch führt.“1661 Zwar ähnelt die Personen-Theorie im Groben einem antiken Würdeverständnis, in dem der Mensch als Anerkennung seiner Fähigkeiten die Qualität als Person durch andere Menschen zugeschrieben bekommt. Vergleichbar mit einem Punktekonto gelangt man zu dem Status „Person“, wenn gewisse Eigenschaften erfüllt sind. Hierbei stellt sich die Frage, ob Personen im Laufe ihres Lebens Rechte verlieren, wenn die Eigenschaften, die man ihnen für das Person-Sein zugeschrieben hatte, nicht mehr vorliegen. Dennoch enthält auch diese Theorie naturrechtliche Denkmuster. So sind Selbstbewusstsein oder Schmerzempfinden keine Eigenschaften, welche die Gesellschaft künstlich zuschreibt, wie etwa einen zivilrechtlichen Rechtsschein oder eine Gesellschafterstellung. Vielmehr wird die Würde auch an der Natur des Menschen gemessen. Sie geht im Ergebnis sogar noch weiter als die „Mitgiftheorie“, da sie die Person als einen „normalen Menschen“ qualifiziert. Sie betrachtet einen Menschen in seiner natürlichen Art und will daraus ablesen, welche Eigenschaften, die typisch menschlich und nicht erlernbar, sondern vorgegeben sind, einen besonderen Schutz dieses Subjektes hervorrufen. Das ruft die Gefahr hervor, andere Menschen aus dem Personenkreis auszuschließen, sollten gewisse Merkmale nicht vorliegen. Der Versuch, Kriterien zu suchen, die definieren, wer unter dem Schutz der Menschenwürde stehe, „käme dem Ende des Allgemeinbegriffs Mensch gleich.“1662 Sie sind dann Opfer des Ab-Normalen, ein nicht in der Mehrheit der Natur vorkommender Mensch. Eine Untersuchung des Sein-Sollen-Defizits, welches auch den naturrechtlichen Theorien nicht immer zu Unrecht vorgeworfen wird, würde sich hier sicherlich anbieten. d) Definitionsverbot als Schlussfolgerung Will man aber den Menschen nicht als Person aufgrund seiner Fähigkeiten qualifizieren, lässt sich der Mensch aufgrund seiner biologischen Herkunft bestimmen, weshalb Spaemann für die Herleitung der Menschenwürde auf die Spezies abstellt. Der Natur des Menschen entspräche eine kontinuierliche Entwicklung zur Personalität. Aufgrund der Natur des Menschen hänge, so Spaemann, die menscheneigene Würde nicht von ihrer Anerkennung durch das einzelne Individuum ab und setzt sich daher für die Beurteilung ein, wie es das Bundesverfassungsgericht wie folgt 1661 Christoph Böhr im Gespräch unter der Leitung von Johannes Hattler; J. Hattler, u. a., Aussprache, in: H. Thomas / ders. (Hrsg.), Appell (Fn. 107), S. 93 (93). 1662 T. Stein, Menschenrechte und Menschenwürde als Vermittlung zwischen Sein und Sollen des Menschen, in: C. Böttigheimer / N. Fischer / M. Gerwing (Hrsg.), Menschen (Fn. 29), S. 83 (96).

IV. Naturrechtliche Begründung der Menschenrechte 

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formulierte1663: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Würde zu. Es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“1664 Andere Möglichkeiten, Träger von Rechten und Subjekten zu bestimmen, liefen fehl: So gebe es die Möglichkeit, Rechtssubjekte losgelöst von ihrer Natur durch eine etablierte Entscheidungsinstanz bestimmen zu wollen1665. „Von daher gesehen, gebe es keinen Grund für die Bürger des brasilianischen Staates, die im Amazonas lebenden Indianer nicht auszurotten wie wilde Tiere.“1666 Eine andere Möglichkeit sei die Definition des Rechtsträgers als freies und vernunftbegabtes Wesen1667. Dadurch aber wären wiederum Geisteskranke und kleine Kinder ausgenommen, obwohl sie der gleichen biologischen Gattung angehörten1668. Käme die Würde demnach nur solchen Menschen zuteil, die die Fähigkeit zu einer sittlichen Selbstbestimmung besitzen, sind Embryonen, kleine Kinder, Debile oder Geisteskranke keine Träger dieser Würde1669. Würde man die Rechtssubjekte enger definieren als es die Gattungsnatur vorgebe, so würde eine absolute Tyrannei etabliert werden1670. Spaemann nimmt in einem Artikel in der Zeitschrift Cicero explizit zu dem Thema der Menschenwürde in Bezug auf die Problemstellung der embryonalen Schimäre Stellung und geht dabei auf die Aussagen des früheren Ministers Julian Nida-Rümelin ein1671. Anlass dieser Debatte war die Freigabe des Klonens menschlicher Embryonen bis zur 14. Woche durch das britische Parlament. Nida-Rümelin beschreibt hierzu in einem Zeitungsartikel die Menschenwürde folgendermaßen: „Die Achtung der Menschenwürde ist dort angebracht, wo die Voraussetzungen erfüllt sind, dass ein menschliches Wesen entwürdigt werde, ihm seine Selbstachtung genommen werden kann.“1672 An dieser Stelle soll nicht der Versuch unternommen werden, den Streit zu entscheiden. Spaemann hatte entschieden verneint, dass eine solche Diskussion ohne das Naturrecht auskäme. Die Probleme werden durch technischen Fortschritt größer, gravierender und nehmen großen Einfluss auf die Gesellschaft. Der Gesetzgeber kann nicht alles rechtzeitig normieren, zumal eine gesellschaftliche ethische Diskussion über ein richtungweisendes Verhalten der Gesellschaft zu einzelnen bestimmten Problemen sich nicht durch einen Satz im Gesetzbuch überflüssig machten. 1663

Spaemann, Bedeutung (Fn. 91), S. 333. BVerfGE, 39, 2 ff. 1665 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 77. 1666 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 77. 1667 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 77. 1668 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 77. 1669 Vgl. Spaemann, Begriff (Fn. 1616), S. 116. 1670 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 77. 1671 R. Spaemann, Jedem nach seiner Art, in: Cicero, https://www.cicero.de/weltbühne/jedesnach-seiner-art/38651 (13. 12. 2019). 1672 J. Nida-Rümelin, Wo die Menschenwürde beginnt (2001), in: ders., Ethische Essays, 2002, S. 405 (407). 1664

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

Für Schockenhoff dient die Unterscheidung von biologischer Artzugehörigkeit der „Aberkennung“, oder besser als der Versuch der Aberkennung der Würde des Menschen: „Soll sich das gebieterische Postulat der Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten dagegen nur auf einen Kreis von Anspruchsberechtigen beziehen, denen wir die Trägerschaft dieser Rechte zuvor in einem kulturellen Zuschreibungsakt verliehen hatten, so wäre bereits der Grundakt der Anerkennung eines unbedingten Verpflichtetseins, um den es im Gedanken der Menschenwürde geht, durch diskriminierende Einschränkungen relativiert.“1673 Aufgrund einer durch kulturellen Zuschreibungsakt erfolgten Anerkennung als Personen sei es möglich, bestimmte Angehörige der menschlichen Art die Würde abzusprechen. Der Mensch selbst ist keine Erfindung eines Gesetzgebers und existiert völlig unabhängig von einem Staat. Dieser Aussage dürfte wohl jeder zustimmen, auch wenn sich daraus allein noch keine neue Erkenntnis gewinnen lässt. Im Gegensatz hierzu stehen juristische Personen. Diese existieren nicht in der Natur und werden erst durch die Rechtsnorm begründet. Eine vorstaatliche Kapitalgesellschaft kann es daher nicht geben. „Sie ist damit aus einer vorstaatlichen Rechtsordnung oder einer faktisch existierenden Realität nicht ableitbar. Sie ist vielmehr ein theoretisches Konstrukt, das seine Existenz und Rechtsfähigkeit erst gewissen, vom Staat gesetzten, Rechtsnormen verdankt.“1674 Grundrechte der juristischen Personen werden daher erst durch die politische Verankerung in Art. 19 Abs. 3 GG ermöglicht. Dann aber, wenn die Rechtsfähigkeit erst durch Positivierung begründet wird, lassen sich Vorgaben setzen, die zu dieser Rechtsfähigkeit zwingend notwendig sind. Der Numerus Clausus des Gesellschafsrechts bestimmt daher, welcher künstliche Zusammenschluss als rechtsfähige juristische Person angesehen werden kann. Zunächst müssen die typischen Eigenschaften der rechtlichen Vorgaben umgesetzt werden. Das alles aber ist nur möglich, weil derjenige, der das Konstrukt vorgibt oder erfindet, das Konstrukt auch definieren kann. Jeder Autor kann seine fiktiven, nicht real existierende Figuren so ausgestalten, wie er es möchte. Er muss es sogar vorgeben, da sonst seine Figur gar nicht zum Leben erwacht. Bei Kapitalgesellschaften zumindest gilt das gleiche, denn ihre einzige Daseinsberechtigung erschließt sich aus der gesetzgeberischen Formung. „Der Mensch braucht solche Rechtsnormen nicht, um geboren zu werden.“1675 Das heißt, der Begriff des Menschen und der Menschenrechte unterliegt keiner rechtlichen Definition. Sollen die Menschenrechte dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen, können sie nicht legitim eingeschränkt werden, indem sie an eine definierte Rechtsfähigkeit anknüpfen. Das besagt nicht, dass man nicht biologisch und soziologisch den empirischen Versuch unternehmen dürfe, den Menschen anhand seiner Eigenschaften zu bestimmen. Aber eine Definition 1673

Schockenhoff, Menschenwürde (Fn. 1637), S. 255. C. Kruchen, Europäische Niederlassungsfreiheit und „inländische“ Kapitalgesellschaften im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG, 2009, S. 54. 1675 Kruchen, Niederlassungsfreiheit (Fn. 1674), S. 54. 1674

V. Menschenwürde und Menschenrechte als Naturrechtsersatz  

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solcher Eigenschaften, die ein Mensch erfüllen muss, um in den Genuss der Menschenrechte zu gelangen, nur weil diese Eigenschaften möglicherweise typischerweise menschlich sind, verbietet sich. Aus dem Genannten ergibt sich nebenbei für Carsten Kruchen, dass die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG eine Schnittstelle zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus bilde: Der Rechtspositivismus begründe die Teilhabe der juristischen Personen an den vom Naturrecht gewährten Grundrechten der natürlichen Personen1676.

V. Menschenwürde und Menschenrechte als Naturrechtsersatz Wie bereits gezeigt, gibt es eine Fülle von Ansätzen, welche in den Menschenrechten eine durch Naturrecht begründete Errungenschaft sehen. Letztlich weisen bereits diese schon vermehrt auf die Gemeinsamkeit der Argumentation und Wirkung hin. Sie umschreiben somit eine ähnliche Funktion oder auch Begründung der Menschenrechte und des Naturrechts. Die Frage, ob Naturrecht sich heute in einem neuen Begriffskleid der Menschenrechte versteckt oder aber ob die Menschenrechte das Naturrecht ersetzen können, sind zwei zu unterscheidende Fragen. Tine Stein formuliert die Fragen, ob die Menschenrechte „als zeitgemäße Platzhalter der Naturrechtsidee fungieren können“1677? Ob die Menschenrechte eine Alternative zum Naturrecht darstellen1678? Alternativen schließen sich für gewöhnlich aus und begründen nicht einander, weshalb die beiden Fragen zwei unterschiedliche Richtungen aufweisen.

1. Menschenrechte als Naturrechtsersatz Für Tine Stein sind Menschenwürde und Menschenrechte nicht erst durch den Staat entstandene Rechtsbegriffe1679. Vielmehr ginge der Positivierung eine pre-­ positive Eigenschaften voraus, wie es auch der Parlamentarische Rat gedacht habe1680. Dazu könne auch auf religiöse Untermauerung zurückgegriffen werden. Die biblischen Erzählungen zeichneten ein Menschenbild, was für einen demokratischen Verfassungsstaat ebenfalls maßgeblich sei: Ein Bild des Menschen als freie und gleiche Person mit einem Anspruch auf die Anerkennung seiner Würde1681. Alle Weltreligionen könnten sich in einem interreligiösen Dialog für die Univer 1676

Kruchen, Niederlassungsfreiheit (Fn. 1674), S. 57. Stein, Menschenrechte (Fn. 1662), S. 90. 1678 Stein, Menschenrechte (Fn. 1662), S. 83. 1679 Stein, Begründungen (Fn. 724), S. 36. 1680 Stein, Begründungen (Fn. 724), S. 36. 1681 Stein, Begründungen (Fn. 724), S. 30. 1677

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

salität der Menschenrechte einbringen, wenn sie diese so erklären, dass sie auch von Anders- oder Nichtgläubigen verstanden werden könne1682. Als Naturrecht versteht Stein in Bezug auf Karl-Heinz Ilting ein System rechtlicher Normen, das für alle Menschen als Vernunftwesen verbindlich sei1683. Und mit den Worten Benedikts XVI. bekräftigt sie, die Menschenrechte seien als „ein letztes Element des Naturrechts, das im Tiefsten ein Vernunftrecht sein wollte, jedenfalls in der Neuzeit […], stehen geblieben“1684. Stein scheint die Befürchtung Ratzingers zu teilen, das Naturrecht sei nicht immer förderlich gewesen und müsse in einem säkularen Staat anders vorgetragen werden. Auch wenn sich für sie das Menschenbild und die daraus resultierende Würde aus dem Gottesbild und der Überlieferung speisen, erklärt sie die Menschenwürde aufgrund der Freiheit eines jeden Menschen heraus. Stein bedient sich einer säkularen Erklärung, bei der die christliche Überzeugung nur der Bestärkung dienen kann. Die Einordnung der Menschenrechte in eine klassische Naturrechtsvorstellung lehnt sie ab. Dabei stelle das Prinzip der Menschenrechte einen überzeitlichen und metapositiven Geltungsanspruch dar1685. Im Gegensatz zu „jene zeitlich wandelbaren Naturrechtsvorstellungen, die sich auf eine biologische Natur des Menschen stützen, dabei aber immer nur dasjenige als Natur des Menschen erfassen können, was im jeweiligen naturalistisch geprägten Erkenntnishorizont des Betrachters überwiegt, und anders als genuin religiöse Naturrechtsvorstellungen, die keinen Anspruch auf allgemeine Geltung erheben können, kommt Menschenwürde und Menschenrechte ein universeller Geltungsanspruch zu, weil sich in ihnen das Bild vom Menschen als Person niedergeschlagen hat.“1686 Nur jene Naturrechtsvorstellungen, die sich aus der Theologie und biologischen Natur des Menschen begründen, stellt sie den Menschenrechten gegenüber. Eine Antwort auf die aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Naturrecht und Menschenrechten lautet aufgrund des hier verwendenden Naturrechtsverständnisses: Die Menschenrechte ersetzen das Naturrecht nicht, sondern sie argumentieren mit einem Naturrecht der Vernunft. Oder aber die Menschenrechte ersetzen ein Naturrechtsverständnis, welches auf Theologie und Biologie aufbaue, durch ein Naturrechtsverständnis der Vernunft.

2. Naturrechtsfunktion der Menschenrechte Unabhängig ihrer Begründungen ähneln die Menschenrechte in ihrer Form und Funktion dem Naturrecht. „Die Idee moralischer Rechte für alle Menschen qua 1682

Stein, Begründungen (Fn. 724), S. 38 f. Vgl. Stein, Menschenrechte (Fn. 1662), S. 91. 1684 Vgl. Stein, Menschenrechte (Fn. 1662), S. 97. 1685 Stein, Menschenrechte (Fn. 1662), S. 96. 1686 Stein, Menschenrechte (Fn. 1662), S. 96. 1683

V. Menschenwürde und Menschenrechte als Naturrechtsersatz  

243

Menschsein findet sich schon seit der Antike und liefert uns den uns heute so vertrauten normativen, ideellen, universalistischen Maßstab mittels dessen bestehende Verhältnisse und geltendes Recht beurteilt und ggf. kritisiert werden können.“1687 Auch für Eckhart Klein lässt sich der universelle Anspruch der Menschenrechte ebenfalls nicht leugnen: „Aus rechtlicher Sicht lässt sich heute nicht mehr bestreiten, dass es menschenrechtliche Normen von universeller, d. h. alle Menschen als Rechtsträger und alle Staaten als Verpflichtungsadressaten einschließender Geltung gibt.“1688 Dies aber stimmt mit der funktionalen Leistung des Naturrechts überein. Zur Erinnerung sei die eingangs vorgestellte Naturrechtsdefinition noch einmal wiederholt: „Naturrecht ist eine wie auch immer, nicht zwingend durch die menschliche Biologie begründete, universell geltende Norm, die nicht der freien Entscheidung der Menschen unterliegt, sondern bereits vor einer möglichen Positivierung durch einen Gesetzgeber existiert, also nicht erst in ihrer Regelung erschaffen wird und sich dabei sowohl auf einzelne Handlungen als auch auf die Förderung gesamt­ gesellschaftlicher Prinzipien beziehen kann, die nicht mehr zwangsläufig den Verlust der Rechtskraft widersprechender Gesetze zur Folge hat, sondern als Maßstab für Kritik am positiven Recht dienen kann.“ Bezieht man diese Definition nur auf ihre Funktion und vernachlässigt zunächst ihre inhaltlichen Begründungen und Anhaltspunkte, wird eine Funktionsidentität sichtbar. Sowohl die Menschenrechte als auch das Naturrecht geben eine universelle Handlungsnorm vor, welche als Maßstab für Kritik am positiven Recht dienen kann. Auch Ullrich Vosgerau sieht im Völkerrecht, worunter auch der Wesenskern der AEMR fällt, „die eigentliche funktionelle Naturrechtsidee der Gegenwart.“1689 Das zwingende Völkerrecht bilde das „funktionale Naturrecht“, „also das Recht, an dem staatliches Recht […] zu messen ist.“1690 Gemeint seien grundlegende Vorstellungen über das richtige Recht, wie etwa Grundregeln der internationalen Friedenssicherung und den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen, welche ihren normativen Bezugspunkt im Völkerrecht fänden1691. Dem Vorwurf des überflüssigen Naturrechts aufgrund des Völkerrechts entgegnet Vosgerau gerade in seiner Funktionalität1692. Gerade das Völkerrecht entziehe den einzelnen Staaten und Gesetzgebern die Disposition über die Menschenwürde und Menschen 1687 S.  Gosepath, Universalität der Menschenrechte  – Ein Erklärungsansatz, in: G.  Nooke /  G. Lohmann / G. Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, 2008, S. 195 (198). 1688 Klein, Menschenrechte (Fn. 1587), S. 212. 1689 U. Vosgerau, Staatliche Gemeinschaft und Staatengemeinschaft. Grundgesetz und Europäische Union im internationalen öffentlichen Recht der Gegenwart, 2016, S. 27. Vosgerau vertrat die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag vor dem BVerfG zur rechtlichen Frage der Duldung der Einreise von Asylbewerbern in das Bundesgebiet (BVerfGE 150, 194–204) und betätigt sich im politischen Umfeld der AfD. 1690 Vosgerau, Gemeinschaft (Fn. 1689), S. 27. 1691 Vosgerau, Gemeinschaft (Fn. 1689), S. 28. 1692 Vosgerau, Gemeinschaft (Fn. 1689), S. 30.

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E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

rechte1693. Auch wenn dies nicht so verstanden werden dürfe, dass es sich hierbei um den Anspruch einer genauen Transzendierung in die nationalen Verfassungen handele1694. Vielmehr sei das Naturrecht als Vorgabe für staatliches Handeln auch immer ein kulturelles und regionales Phänomen1695. Für Stefan Gosepath allerdings sind die Menschenrechte nicht nur in ihrer Funktion dem Naturrecht sehr ähnlich. Er sieht in den Menschenrechten ein von der Anerkennung und Befolgung unabhängig und vor aller positiver Rechtssetzung geltendes Recht. Für ihn basieren die Menschenrechte inhaltlich auf einem „globalen, minimalen und übergreifenden Konsens unterschiedlicher Moralauffassungen.“1696 Es käme nicht auf die richtige Begründung der Menschenrechte an, da trotz der verschiedenen Auffassungen, man sich in der Sache moralisch einig sei1697.

VI. Zwischenfazit Wie verhalten sich und verstehen sich Menschenrechte und Naturrechte zueinander? Sprechen die Menschenrechte in ihren Grundprinzipien, wie der Menschenwürde, von der Idee eines unverfügbaren Anspruchs eines jeden Menschen auf eine gewisse Grundbehandlung, lässt sich ein naturrechtlicher Kern nicht verleugnen. Dieser liegt für Schockenhoff in dem Begriff der Menschenwürde, „in der sich anthropologische Vorstellungen über die Natur des Menschen bündeln.“1698 All das bezeichnet Fabian Wittreck als menschenrechtliches Begründungsparadoxon1699. Auf der eine Seite bestehe ein breiter Konsens darüber, dass ein Rekurs auf das Naturrecht abzulehnen sei. Auf der anderen Seite sei über die Wissenschaft bis in die Gesellschaft hinein ein Konsens über den Kerngehalt von Menschenrechten zu sehen, die niemand in Abrede stellen könne. Auch für Franz-Josef Bormann stehen der „Siegeszug des Rechtspositivismus“ und der „Aufstieg und Entfaltung der Menschenrechtsidee“ in „einer gewissen Spannung zueinander“1700. Menschenrechte seien durch ihren universellen Geltungsanspruch und ihre Begründung mit der Idee des Rechtspositivismus nicht vereinbar und sprengen die rechtspositivistische Argumentation1701. Um es mit den Worten von Andrzej Kucinski zusammen 1693

Vosgerau, Gemeinschaft (Fn. 1689), S. 31. Vosgerau, Gemeinschaft (Fn. 1689), S. 31. 1695 Vosgerau, Gemeinschaft (Fn. 1689), S. 31. 1696 Gosepath, Universalität (Fn. 1687), S. 198. 1697 Gosepath, Universalität (Fn. 1687), S. 200: „Hinter der Oberfläche eines minimalen Menschenrechtskonsenses können vielmehr unterschiedliche kulturspezifische Begründungen koexistieren, die der kulturübergreifenden Geltung von Menschenrechtsnormen keinen Abbruch tun.“ 1698 Schockenhoff, Stärken (Fn. 261), S. 240. 1699 Wittreck, Naturrecht (Fn. 11), S. 56. 1700 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 347. 1701 Bormann, Natur (Fn. 29), S. 347. 1694

VI. Zwischenfazit 

245

zufassen: „Insgesamt kann man also bis heute auf die bleibende Affinität moderner Rechtsordnung mit der Idee des Naturrechts verweisen, obwohl das Letztere darin eher implizit und allgemein als explizit und konkret vorkommt.“1702 Über eine Überflüssigkeit der Menschenrechtsdiskussion würde freilich keiner sprechen. Zu aktuell sind die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen innerhalb eines Staates, beispielweise über eine menschenwürdige Behandlung von geflohenen Menschen, innerhalb einer Staatengemeinschaft, wie etwa die Diskussion über die Einhaltung von Menschen- und Grundrechten in Polen oder Ungarn, und auch weltweit1703. Die Debatte und das Ringen um die Menschenrechte scheint nicht abzunehmen und soll von deutschen Vertretern verteidigt und weiterhin in China, Syrien, Iran oder sonst wo angesprochen werden. Die Diskussionen über Menschenrechte sind hochaktuell. „Das gegenwärtige ‚Zeitalter der Menschenrechte‘1704 ist auch eine Zeit der Renaissance des Naturrechtsgedankens.“1705 Dann aber zeigt sich auch die deutsche Rechtswissenschaft deutlich offener zum Naturrecht als von vielen angenommen. Die Diskussion wird zwar nicht mehr über theoretische Anforderungen an das Recht geführt, sondern zeigt sich offen am konkreten Beispiel der Menschenrechte. Aber diese Diskussion braucht den Begriff des Naturrechts nicht mehr durch dritte Wege zu kaschieren, sondern kann sich auf einen konkreten und etablierten Begriff der Menschenrechte berufen. Das aber scheint die Verwandtschaft der beiden Begriffe und Theorien zu verschleiern. Das könnte an der Etablierung und alltäglicher Nutzung der Begriffe Würde und Menschenrechte liegen, während der Naturrechtsbegriff keineswegs die gesellschaftliche Bandbreite erreicht. Interessant scheint in diesem Zusammenhang der Begriff der Menschenwürde. Die Würde als nicht interpretierbare These schafft etwas oder erhebt etwa den Anspruch, was dem Naturrecht auch während und insbesondere nach der Naturrechtsrenaissance vorgeworfen wurde: fehlinterpretiert und missbraucht worden zu sein. Daraus würde folgen, dass der Aufstieg der Menschenrechte und der Menschenwürde der erneuten Etablierung des Naturrechtsbegriffs im Wege stand, da sie eine vermeintliche Antwort auf die Verhinderung richtigen oder falschen Naturrechts haben geben können. Dazu hatten diese Institutionen, Würde und Menschenrechte, den Vorteil des unbeschädigten Begriffes, welcher gerade den Verfassunggeber daran hinderte, das Naturrecht wörtlich in das Grundgesetz aufzunehmen. Nicht für alle, aber doch für einige sind die Menschenrechte Auswuchs des Naturrechts. Der Begriff kann jedoch keinesfalls gleichgesetzt werden, widersprechen 1702

Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 83. Vgl. beispielsweise R. Vetter, Brüder im Geiste. Was Kaczyński mit Orbán verbindet und wie die EU damit umgehen sollte, in: Internationale Politik 71 (2016), S. 25 (25 ff.). 1704 Bei dem Zitat „Zeitalter der Menschenrechte“ beruft sich Lohmann auf einen Beitrag von Norberto Bobbio: Das Zeitalter der Menschenrechte (1987), ders., in: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, 1998, S. 35–59. 1705 Lohmann, Naturrecht (Fn. 989), S. 11; Herv. i.O. 1703

246

E. Die Menschenrechte als Naturrechtsanalogie

doch auch einige Ethiker und Rechtswissenschaftler dieser Annahme. So lässt sich zwar über die Existenz des Naturrechts streiten, nicht aber über die Existenz der Menschenrechte. Es ist eher die Begründung und die Natur der Menschenrechte oder der Menschenwürde, über die gestritten wird und an der sich wiederum die Diskussion über Naturrecht oder Rechtspositivismus offenbart. Die Menschenrechte entsprechen ihrer Funktionalität nach dem Naturrecht, in dem sie den Anspruch an die Verwirklichung dieser Rechte als unverfügbar begreifen. Auch inhaltlich stellen die dargestellten Theorien eine naturrechtliche Begründung der Menschenrechte dar, da diese Rechte aufgrund der Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies bereits nicht mehr frei verfügbar sind. „Wenn heute – zu Recht – der Eindruck besteht, dass eher selten von Naturrecht gesprochen wird, so darf das über die weiterhin ungebrochene Stärke in der Substanz nicht hinwegtäuschen. Es hat sich lediglich die Einkleidung gewandelt. Was früher unter Naturrecht diskutiert worden ist, erscheint heute unter dem Topos der Menschenrechte. Der Anspruch der Menschenrechte auf Allgemeingültigkeit ist ungebrochen.“1706

1706

Robbers, Recht (Fn. 174), S. 38.

F. Conclusio Die offensichtliche Verkennung des Naturrechts in der deutschen Rechtswissenschaft stellt – wie beschrieben – ein Defizit dar, da die zahlreichen Anhänger des Naturrechts schon allein quantitativ keine zu vernachlässigende Randgruppe sind. Es konnte hinreichend dargelegt werden, dass sie lediglich aufgrund fehlender oder ungenügender Beachtung als solche behandelt werden. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass es sich ebenfalls um ein Defizit in der wissenschaftlichen Erörterung handelt, da das Naturrecht auch inhaltlich einen bedeutenden Mehrwert für die Rechtswissenschaft liefert.

I. Zusammenfassung gegenwärtiger Naturrechtstheorien Die Untersuchung hat zunächst auf einen Punkt hinweisen können: Das Naturrecht kann nicht als eine Mindermeinung verstanden werden. Die hier untersuchten Theorien und Normen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, können aber bereits aufgrund ihrer Quantität wahrlich nicht als Randerscheinung gelten. Es gebe noch andere interessante Disziplinen, die eine aktuelle Behandlung des Naturrechts vorweisen könnten und aktuell auch Teil von Naturrechtsuntersuchungen sind1707. Die hier verwendeten Naturrechtsverständnisse aber reichen aus, um eine aktuelle Behandlung des Themas zu unterstreichen. Das christliche Naturrechtsdenken ist im erheblichen Maße durch die römischkatholische Theologie geprägt. Die Vorstellung der Partizipationsmöglichkeit des Menschen an einem ewigen Recht aufgrund seiner Vernunftbegabung bildet die Basis des Rechts. Die Auffassung zieht sich durch die gesamte Naturrechtstradi 1707

So lassen sich selbstverständlich auch andere Religionen nach ihrem Naturrechtsverständnis untersuchen. Siehe hierzu für viele andere T. Rudavsky, Natural Law in Judaism, in: T. Angier (Hrsg.), Ethics (Fn. 1078), S. 113–134; R.  Alsoufi, Das Verhältnis von Theologie und Recht aus muslimischer Sicht, in: N. Kalbarczyk / T. Güzelmansur / T. Specker (Hrsg.), Gott (Fn. 231), S. 53–69; A. Emon, Natural Law in Islam, in: T. Angier (Hrsg.), Ethics (Fn. 1078), S. 179–196. Auch lässt sich das Thema aus dem Blickwinkel anderer wissenschaftlicher Bereiche, wie beispielsweise der Medizin, betrachten. So untersucht Monika Emilia Miranowicz angeborene neurologische Strukturen des Menschen nach ihrer Erkenntnisfähigkeit von naturrechtlichen Normen. Siehe E.  Miranowicz, Gehirn und Recht. Wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse das Dilemma zwischen Naturrecht und Positivismus überwinden können, 2009. Dabei kommt Miranowicz zu dem Ergebnis: „Die menschliche Vorstellung von übergesetzlicher Gerechtigkeit […] ist neurobiologisch begründet und damit einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich.“ Ebda., S. 255.

248

F. Conclusio

tion der katholischen Theologie von Thomas von Aquin über die katholische Lehrmeinung bis hin zum gegenwärtigen Denken und prägt bis heute die Ansicht, das menschliche Recht sei nicht frei verfügbar und müsse bis hin zu seiner Verwerfung am Naturrecht gemessen werden. Neben vielen ethischen Fragen der Gegenwart, die sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft und das Sozialwesen oder neuen medizinischen Eingriffsmöglichkeiten im Bereich der Fortpflanzung, genetische Untersuchungen und lebenserhaltende oder lebensverkürzende Maßnahmen beschäftigt, steht der Schutz des ungeborenen Lebens im Mittelpunkt römisch-katholischer Ethik. Die offen geführte Debatte um das Naturrecht innerhalb der Moraltheologie betrifft daher weniger die Frage nach dem Naturrecht an sich. Die Diskussion dreht sich vielmehr um den Naturbegriff und das Vernunftverständnis und ob sich eine vorgegebene Handlungsanweisung aus einer naturwissenschaftlichen / biologischen oder interdisziplinären Betrachtung der menschlichen Natur ergründen lässt. Die protestantische Ethik verhält sich mit dem Rückgriff auf naturrechtliche Argumentationen sehr zurückhaltend, ohne aber das Naturrecht in Gänze zu verwerfen. Vielmehr fällt es in der innerkirchlichen Diskussion schwer, konkrete Handlungen und Forderungen vorzugeben. Die Möglichkeit des „Ablesens“ von Normen aus dem Naturrecht muss von der Frage nach der „Existenz“ unterschieden werden, wobei sich einer solchen Diskussion keine Rechtserkenntnis entnehmen lässt. Dennoch ist beiden Konfessionen die Forderung gemein, den Menschen aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit in seiner Würde zu achten. Nach teilweise anfänglicher Skepsis gegenüber den Menschenrechten aufgrund ihrer säkularen Begründung, setzt sich die christliche Ethik für den Schutz der Würde des Menschen und seiner Rechte ein. Rechtshistorisch konnte dargestellt werden, inwieweit die Naturrechtsrenaissance in Form von Gesetzen und Urteilen auch heute noch Auswirkungen auf die deutsche Rechtswissenschaft entfaltet. Das Naturrecht wirkt nicht rein rechtshistorisch, sondern kam bei den Mauerschützenfällen erneut zur Anwendung. In aktuellen Strafrechtskommentaren lassen sich zudem Verbindungen zur Naturrechtsidee finden: So gehen die Kommentierungen davon aus, dass das Naturrecht auch für den Straftatbestand der Rechtsbeugung nach § 339 StGB von Bedeutung ist. Selbst für den Verbotsirrtum nach § 17 StGB ist die Anwendung überpositiven Rechts nicht gänzlich ausgeschlossen, wenn der Täter das positive Recht dadurch als unverbindlich betrachtet1708. Die aufschlussreiche Darstellung einzelner Verfechter einer zumindest minimalen Verankerung des Naturrechtsgedankens in der Rechtswissenschaft hat die Vielfältigkeit der Naturrechtstheorien aufzeigen können. Mit unterschiedlichen Begründungen und Ausgestaltungen lässt sich das Naturrecht in unterschiedlichen Rechtsgebieten wiederfinden. Teilweise wird das Naturrecht zur rechtspolitischen 1708

Neumann (Fn. 713), § 17 StGB Rn. 40.

I. Zusammenfassung gegenwärtiger Naturrechtstheorien 

249

Gestaltung im Strafrecht herangezogen oder entdeckt in der bereits vollzogenen Rechtsgestaltung des Gesetzgebers naturrechtliche Begründungen, wie etwa in der Analyse zur Privatrechtstheorie. Als eine eigenständige Naturrechtstheorie kann die Prinzipientheorie zusammengefasst werden. Diese sowohl im Inland als auch im Ausland bekannte Naturrechtsströmung kann als die präsenteste Theorie ihrer Art gelten. Sie vertritt die Ansicht, das Recht sei auf überpositive Prinzipien angewiesen. Prinzipien lassen sich der Theorie nach nutzen, um normative Standards in die Interpretation von Gesetzen aufzunehmen, auch wenn sie zuvor nicht explizit festgelegt worden sind. Wir haben gesehen, dass das Naturrecht im angelsächsischen Raum als weitverbreitet gelten kann. John Finnis erscheint als Anhänger der Gütertheorie mittlerweile regelmäßig auch in deutschsprachigen Abhandlungen. Die Theorien sind säkular anschlussfähig, weil sie selbst meist ohne christliche Offenbarung argumentieren und dadurch echte rechtsethische Theorien präsentieren. Die NNLT verknüpft wiederum die christliche Naturrechtstradition mit der griechischen Tradition1709. Diese Theorien basieren auf der Annahme, dass es eine menschliche Natur gibt und dass die Menschen als Geschöpfe des Schöpfers mit Gott verbunden sind: „Indeed, it posits that there is a human nature, and that humans stand in relation to God as creatures to the Creator.“1710 Die stärksten Strömungen innerhalb des Naturrechtsgedankens können unter den Oberbegriffen Gütertheorie, Vertragstheorie, Fähigkeitsansatz und Prinzipientheorie zusammengefasst werden. Die Gütertheorie geht von einem natürlichen menschlichen Streben nach gewissen Grundgütern aus, das zur Verwirklichung individuellen Wohlergehens notwendig ist. Daraus lassen sich Forderungen an das Rechtssystem und den Gesetzgeber ableiten, die die Verwirklichung zumindest nicht erschweren dürfen. Innerhalb der Gütertheorie lässt sich der Gedanke ausweiten und mit der Ansicht verknüpfen, das Gemeinwohl aufgrund der individuellen Güter anzustreben. Der Anspruch des Wohlergehens wird zumindest auch auf ein Gemeinwohl ausgeweitet. Hinter der Vertragstheorie verbirgt sich bereits ein Menschenbild, welches von der generellen Gleichheit der Menschen ausgeht. Auch wenn der Vertrag nicht real zustande kommt, sondern nur imaginär angedacht wird, liegt dem Gedanken ein Verständnis zugrunde, das den Menschen bereits vorstaatlich als Rechtspersönlichkeit wahrnimmt. Der Fähigkeitsansatz kritisiert die Vertragstheorie nach John Rawls, da sie sich zu sehr auf Güter konzentriere. Vielmehr ermöglicht die Ausübung der eigenen Fähigkeiten ein gutes Leben, und die Gemeinschaft muss sich um die Erfüllung der daraus resultierenden Anforderungen kümmern. Menschenrechte und Menschenwürde werden von allen Naturrechtsströmungen bejaht. Es wurde aber auch gezeigt, dass die Rechte und Würde des Menschen 1709

Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 200. Anderson, Natural Moral (Fn. 1274), S. 200.

1710

250

F. Conclusio

schlicht durch die Zugehörigkeit der Spezies oder den Anspruch auf Anerkennung begründet werden können. Das heißt, auch ohne detaillierte Naturrechtstheorien als Begründungsgrundlage scheint man sich über die Funktion und Art der Menschenrechte größtenteils einig zu sein. Die Menschenrechte stellen dabei universelle Rechte dar, an die die Machthaber gebunden sind, und sind insoweit Ausdruck der Unverfügbarkeit des Rechts.

II. Der moderne Naturrechtsbegriff Das Naturrecht blickt auf eine lange Historie zurück, was eine Begutachtung von dem Naturrecht verbietet. Der Begriff hat sich in seiner Bedeutung mehrfach gewandelt. Ausgehend von der Frage, ob das gegenwärtige Naturrecht defizitär vernachlässigt wird, wurde daher ein gemeinsamer Nenner gegenwärtiger Naturrechtsdefinitionen präsentiert: Unter Naturrecht versteht man eine wie auch immer, nicht zwingend durch die menschliche Biologie begründete (1.), universell geltende Norm (2.), die nicht der freien Entscheidung der Menschen unterliegt, sondern bereits vor einer möglichen Positivierung durch einen Gesetzgeber existiert, also nicht erst in ihrer Regelung erschaffen wird (3.) und sich dabei sowohl auf einzelne Handlungen als auch auf die Förderung gesamtgesellschaftlicher Prinzipien beziehen kann (4.), die nicht mehr zwangsläufig den Verlust der Rechtskraft widersprechender Gesetze zur Folge hat, sondern als Maßstab für Kritik am positiven Recht dienen kann (5.). Hierauf wurden gegenwärtige Theorien und Veröffentlichungen von verschiedenen Vertretern aus dem Bereich der deutsch- und englischsprachigen Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften untersucht. Aufgrund der Vielfalt der verschiedenen Naturrechtsverständnisse fallen die Zuordnung rechtsphilosophischer Abhandlungen zu einer Theorie des Naturrechts oft schwer. So werden bereits über den naturrechtlichen Gehalt vieler Theorien, etwa bei Radbruch oder Kaufmann, gestritten, da über die Vorstellung Uneinigkeit besteht, was unter dem Naturrecht, unter dem man eine Theorie subsumieren möchte, zu verstehen ist. (1.) Die vorgeschlagene Naturrechtsdefinition zum modernen Naturrechtsverständnis hat sich auch nach der Betrachtung der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der römisch-katholischen Kirche bestätigt. Eine Beschränkung des Naturrechtsverständnisses auf eine rein biologische Betrachtung des Menschen wird teilweise abgelehnt und eine Betrachtung durch verschiedene Disziplinen befürwortet1711. Selbstverständlich finden sich auch Vertreter des klassischen Naturrechts in der Kirche wieder, die beispielweise sexuelle Handlungen in ihrem biologischen Fortpflanzungsnutzen erschöpft sehen. Es gibt daher eine Pluralität der Begründungsmöglichkeiten innerhalb des Naturrechtsdenkens. Auch im Gesamt 1711

Vgl. Schockenhoff, Vortrag (Fn. 428), S. 4; Mack, Theorie (Fn. 399), S. 60.

II. Der moderne Naturrechtsbegriff  

251

vergleich der Theorien ist klar geworden, dass es verschiedene Begründungsmöglichkeiten gibt. So lässt sich der Begriff unterschiedlich stark normativ verstehen. Es gibt daher keine einheitliche Begründung naturrechtlicher Theorien. (2.) Viele Naturrechtstheorien werden dahingehend kritisiert, kulturelle Unterschiede der Rechtssysteme auszublenden, die aber gerade den Beweis erbringen, dass es eine allgemeingültige Rechtsnorm nicht geben kann. Wenn sich das Recht unter den Kulturen unterscheidet und sich zeitlich wandelt, sei das nicht mit der Idee des Naturrechts in Einklang zu bringen. Diesem Einwand liegt nach Höffe ein Missverständnis über das Naturrecht zugrunde, denn nicht alle Theorien ignorieren die Geschichtlichkeit des Rechts1712. Es wurde gezeigt, dass der Anspruch an universell geltende Rechte die Veränderung von moralischen Rechtsnormen nicht ignoriert. Zurückgreifend auf Heiner Bielefeld wurde erläutert, dass der Universalitätsanspruch der Menschenrechte und des Naturrechts nicht durch kulturelle Unterschiede und existierende Menschenrechtsverletzungen angetastet wird1713. Der Unterschied zum Universalismus wäre der Partikularismus, d. h. eine bereits gedankliche Eingrenzung von Rechtsansprüchen. Dadurch werden nicht mehr jedem Menschen Rechte zuteil, sondern einigen würden bestimmte Rechte bereits in ihrem Anspruch versagt. Der rechtliche Universalismus kann zwar die Regionalität des Rechts nicht verhindert, er erhebt aber den Anspruch nach gleichen Rechten für alle Menschen. Die Erhebung universeller Rechtsansprüche steht daher nicht im Widerspruch zu kulturellen Rechtssystemen. (3.) Als Kern des Naturrechts im weiteren Sinne wurde das Kriterium der Unverfügbarkeit des Rechts vorangestellt. Ich habe dafür plädiert, einen „Dritten Weg“ abzulehnen, zumindest für die hier diskutierten Theorien, da sie aufgrund ihres Verständnisses über die Unverfügbarkeit des Rechts als Naturrecht bezeichnet werden können. Ebenso verstellen die Termini „Nichtpositivismus“ und „rechtsethischer Normativismus“ als Alternative zum Naturrechtsbegriff den Blick auf ihren Anspruch an das Recht. Sie erfüllen hauptsächlich den hier präsentierten Naturrechtsbegriffs. Hauptaugenmerk des Naturrechts in der Rechtswissenschaft ist die Unverfügbarkeit des Rechts. Das Gesagte erhöht die Anzahl derjenigen Theorien, die fälschlicherweise nicht als Naturrecht erkannt oder eingeordnet werden. Erkennt man die Grundsub­stanz moderner Naturrechtstheorien nicht an, so lässt sich über universell geltende Menschenrechte debattieren und das Naturrecht als überholt ansehen. Die dargestellten Theorien beinhalten die fünf bzw. die zwei essentiellen Voraussetzungen einer Naturrechtstheorie.

1712 „Der Ausdruck ‚Natur‘ steht nicht im Gegensatz zu ‚Geschichte‘ oder ‚Kultur‘, sondern zu dem, was die Menschen untereinander vereinbaren.“ Höffe, Naturrecht (Fn. 39), Sp. 237. 1713 Bielefeld, Würde (Fn. 1055), S. 116.

252

F. Conclusio

III. Die fehlerhafte Verwendung des Begriffs Es wurde aufgezeigt, dass das Naturrecht namhafte Vertreter auf seiner Seite weiß und gerade im angelsächsischen Bereich aktuelle Diskussionen begleitet. Zwei Begründungsversuche für die geringe Aufmerksamkeit konnten heraus­ gearbeitet werden: Die Benutzung des Naturrechtsbegriffs wird vermieden, nicht aber seine inhaltliche Leistung. Zunächst wurde bereits der unterschiedliche Einfluss der Theologie auf die Gesellschaften dargestellt. Begründet durch die These der zwei Säkularisierungen findet sich in den USA ein anderer Zugang zur Religion. Hier ist die Theologie in Politik und Gesellschaft deutlich präsenter, was bei Theorien offen zu Tage tritt, die sich mit der politischen Umsetzung der Förderung des Gemeinwohls beschäftigen. Dies erklärt, warum die Anhänger der NNLT keine Probleme damit haben, sich in die Tradition des kirchlichen Naturrechtsvaters Thomas von Aquin zu stellen, und weshalb ein Rückgriff in Deutschland auf ein mit der Theologie konnotiertes Naturrecht schwerer fällt. Der offene Regress auf das Naturrecht dürfte hierzulande schlicht nicht so naheliegend sein, da der Begriff als katholisch geprägt verstanden wird, was sich mit der Einschätzung deckt, dass sich solche Autoren, die sich mit dem Naturrecht beschäftigen, fast entschuldigen müssten. Wenn Klaus Tanner bereits ein Distanzierungsbedürfnis bei protestantischen Theologen aufgrund der Verwendung katholisch geprägter Termini beobachtet, gilt das allemal für die rechtsphilosophischen Vertreter1714. Eine weitere historische Besonderheit mit dem Umgang des Naturrechts wurde ebenfalls bereits beschrieben. Dabei könnte sogar weniger der Missbrauch des Naturrechts im Dritten Reich ein Grund für die unterschiedliche Behandlung des Themas sein als vielmehr die fehlerhafte Analyse durch die Naturrechtsrenaissance. Hatte man bei der letzten großen Naturrechtswelle die Erfahrung des menschenverachtenden Nationalsozialismus vor Augen, so wurde später, anders als anfänglich angenommen, deutlich, dass das Naturrecht den Unrechtsstaat nicht verhindern konnte und naturrechtliche Argumentationsmuster auch mitverantwortlich hierfür waren. Die hohe Erwartung an das Naturrecht konnte die Theorie somit nicht erfüllen. Nach dem großen Aufstieg musste der Fall folgen. Will man es vorsichtig formulieren, war die Naturrechtsrenaissance geprägt und getrieben von einer Fehleinschätzung, die sich bei Radbruch besonders gut manifestiert hat und sicherlich nicht förderlich ist, will man sich heute auf den Naturrechtsbegriff berufen. Bereits der Rückgriff auf den Terminus „Naturrecht“ scheint besonders erklärungsbedürftig aufgrund der beiden Besonderheiten. M. E. stellen die Menschenrechte eine moderne Naturrechtstheorie dar. Es wurde gezeigt, dass sie sowohl in ihrer Funktion und in ihrem Wesen als auch im Anspruch an die Unverfügbarkeit von Recht dem Naturrecht entsprechen. Die Dis 1714

Tanner, Schatten (Fn. 454), S. 22.

IV. Das Naturrecht als notwendige Hilfestellung  

253

kussion um die Menschenrechte und die Verwendung des Begriffes konnte in großen Teilen den Fokus auf das Naturrecht ablösen. Menschenrechte werden nahezu unstreitig akzeptiert, die Würde des Menschen teilweise selbstverständlich bejaht und Verletzungen von Menschenrechten geächtet. Sie werden in politischen Diskussionen als unverfügbarer Anspruch für jeden Menschen in der Flüchtlingspolitik, bei Staatsbesuchen, Bürgerkriege oder in der Diskussion des Klimawandels angeführt. Von einem geringen bis schwindenden Einfluss des Naturrechts kann mit Blick auf die Menschenrechtsdiskussion auch in Deutschland nicht die Rede sein. Die Änderung der Terminologie könnte daran liegen, dass die Menschenwürde als Ausgangspunkt der Menschenrechte als sog. nicht interpretierbare These zumindest den Anspruch äußert, nicht durch falsch verstandene Theorie missbraucht zu werden. Da das Naturrecht diese Aufgabe in der menschenverachtendsten Zeit der deutschen Geschichte nicht im Stande war zu leisten, fällt ein Rückgriff auf den Begriff schwerer als auf einen modernen Begriff der Menschenwürde zurückzugreifen, der einen erstaunlichen Erfolgsweg im 20. Jahrhundert bestreiten konnte und gerade für die Überwindung von staatlichem Unrecht steht1715. Dass die Naturrechtsrenaissance ihren Aufstieg fälschlicherweise einer Darstellung verdankt, die den Begriff des Naturrechts als Schutzwall gegen Unrechtsstaaten verstand, erklärt auch ihren rasanten Rückgang. Die Menschenrechte hingegen sind international anerkannt, werden nicht mit religiösen Begründungen verbunden (wobei religiöse Begründungen natürlich möglich sind) und sind daher zunächst wohl sehr viel anschlussfähiger durch ihren internationalen Anspruch. Begrifflich meiden manche Vertreter die Nutzung des Naturrechts und sprechen lieber von einem Dritten Weg, Rechtsmoralismus oder Nichtpositivismus1716. Der Inhalt aber ist häufig derselbe. Der erste Begründungsversuch für die Verkennung des gegenwärtigen Naturrechts zielt auf die Verwendung des Begriffes „Naturrecht“ ab. Dieser wird im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Tradition eher gemieden.

IV. Das Naturrecht als notwendige Hilfestellung Die Rechtswissenschaft kann neben dem inhaltlich elementaren auch funktionalen Nutzen aus dem Naturrecht ziehen. Folgende Gedanken über die Daseinsberechtigung des Naturrechts seien deshalb noch summarisch angesprochen. Damit soll die Leistung des Naturrechts für die heutige Rechtswissenschaft und Gesellschaft aufgezeigt werden und deren defizitäre Vernachlässigung begründet werden.

1715 Vgl. Lohmann, Naturrecht (Fn. 989), S. 273; Lohmann erkennt eine grundsätzliche Skepsis der Menschenrechtler gegenüber der Tradition des Naturrechts. 1716 Vgl. Alexy, Nature (Fn. 899), S. 176.

254

F. Conclusio

1. Die Positivierung des Naturrechts als Totengräber? Es wurde eigewandt, dass das Naturrecht an Bedeutung aufgrund der Positivierung naturrechtlich geforderter Normen und Vorgaben verloren habe. Als Erklärungsversuch für den schwindenden Einfluss des Naturrechts ist dieser Aussage zuzustimmen. Die Berufung auf das Naturrecht mag sich in einer Vielzahl von Fällen nicht mehr als notwendig erweisen, da ihre Grundsätze bereits in Gesetzesform gegossen wurden. Die Aussage aber suggeriert letztlich auch, ethische Fragen seien damit beantwortet worden und das Naturrecht spiele schlicht keine Rolle mehr. Dabei geht es nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus oder der Ablehnung der Naturrechtsidee oder eine scheinbare Erkenntnis, das Naturrecht vermöge die Fragen aufgrund inhaltlicher Schwächen und Begründungsmängel nicht beantworten zu können. Das Naturrecht biete vielmehr eine Lösung für eine fehlende Problemstellung, so das Motto. Aber der Hinweis läuft aufgrund mehrerer Gründe fehl. Das Naturrecht stellt die Frage nach der Begründung von Recht. Der Verweis auf den Gesetzeswortlaut mag die Frage nach der Begründung aber nicht zu beantworten. Sicher ist, dass viele naturrechtliche Forderungen in einigen Verfassungen und Gesetzen als Ergebnis des Begründungversuchs festgehalten wurden. Aber die Untermauerung dieses Ergebnisses, die Begründung des Rechts, fehlt im positiven Recht, kann aber vom Naturrecht weiterhin geleistet werden. Weiterhin muss festgehalten werden, dass aus dem vermeintlichen Fehlen aktuell aufgeworfener Fragen wohl kaum auf die fehlende Aktualität einer Theorie geschlossen werden kann. Diese Einstellung geht offensichtlich an einer wissenschaftlichen Behandlung eines Themas vorbei. Hätten sich Menschen in der Wissenschaft immer auf scheinbar schon beantwortete Fragen verlassen, so hätten wir uns sicher nicht so weiterentwickelt, wie wir es getan haben. Gerade hier ist ja nicht nur die Antwort als Ergebnis einer Diskussion entscheidend, sondern seine Begründung. Man stelle sich vor, die Wissenschaft in der Physik habe neue Erkenntnisse und Erklärungen über den Stromfluss gewinnen können. Wir würden auch nicht sagen, diese Forschungsergebnisse können keinen Mehrwert erbringen, da die Lampe ja schließlich bereits leuchte. Die Begründung wäre hier schließlich nicht weiter notwendig, da sich an dem Ergebnis der Leuchtkraft nichts ändern würden. Wir würden viel eher annehmen, dass die Begründung ein notwendiges Wissen für das Ergebnis darstelle und sich aus der Begründung viel eher noch andere Ergebnisse ableiten ließen, die sich mit anderen Erzeugnissen des Stroms beschäftigten. Für den Fall, dass die tatsächliche Normierung ihren Höhepunkt erreicht habe, bleibt doch die Begründung dieser Normierungsergebnisse, den Gesetzen, eine zentrale Aufgabe. Zudem handelt es sich beim positiven Recht aus ihrem Selbstverständnis heraus gerade nicht um Naturgesetze, sondern um eine sich ändernde Gesellschaft und sich daher ändernde Gesetze, die nicht auf ewig derzeitige Handlungsvorgaben positiviert haben müssen. Der Rechtspositivismus argumentiert gerade, dass sich Gesetze je nach politischem Konsens ändern können. Was

IV. Das Naturrecht als notwendige Hilfestellung  

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hindere eine Gesellschaft nach der Auffassung des Rechtspositivismus, die Menschenrechte etwa durch Mehrheitsentscheid abzuschaffen oder einzugrenzen1717? Zumal dieser Blick nur die eigene gesellschaftliche Diskussion in den Fokus nimmt. Aber die Frage nach möglicherweise universellen vorstaatlichen Handlungsnormen kann nicht damit beantwortet werden, dass dieses oder jenes Land oder eine supranationale Organisation bereits all jene Fragen in ihre eigenen Gesetze übertragen hat. Vielmehr wächst doch das Bewusstsein, durch Zugehörigkeit der gleichen Spezies, auch die „universalen Probleme nur anhand von universalen Grundhandlungsorientierungen angehen zu können.“1718 „Auch wenn man annimmt, das Grundgesetz verhindere wirksam das Zustandekommen eines unsittlichen Gesetzes, verliert das Problem nicht an Bedeutung.“1719 Denn wenn sich etwas in der Rechtsgeschichte der jüngsten Vergangenheit zeigt, dann dass moralische Vorstellungen und Rechtsordnungen sich wandeln können, so wie sich Gesellschaften ändern und das Normen, die dem Schutz der Bürger dienen und wir für selbstverständlich halten, es morgen nicht mehr sein müssen. „Nichts und niemand kann dem Rechtsstaat garantieren, den Unrechtsstaat endgültig und für immer überwunden zu haben.“1720 Der Rechtspositivismus kann einer solchen Entwicklung aus sich heraus nichts entgegensetzen. Die sog. Ewigkeitsklausel, die Art. 1 GG und Art. 20 GG der Disposition des Gesetzgebers im Wege einer einfachen Verfassungsänderung entzieht, kann durchaus als eine rechtspositivistische Verpflichtung der Gesellschaft angesehen werden, diese Grundprinzipien des Staates auch später nicht mehr ablehnen zu dürfen und daran festhalten zu müssen. Ein „Sich-selbst-auf-Dauer-Stellen des positiven Rechts“1721. Das Grundgesetz könnte allerdings den Verfassunggeber nicht an der Übertragung des Art. 1 in eine nachfolgende Verfassung binden, es sei denn, dieser entscheide sich wiederum mehrheitlich dazu. Vielmehr bleibt wohl in der „Ewigkeitsklausel“ ein psychologischer Effekt, der ansonsten keine größere Geltung beanspruchen kann1722. Damit sind die Grenzen der rechtspositivistischen Selbstfindung beschrieben. 1717

Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 442. Kuciński, Naturrecht (Fn. 104), S. 141. 1719 Hans-Ullrich Evers schrieb dies bereits 1956. Man mag ihm vielleicht eine gewisse Skepsis dem Grundgesetz gegenüber unterstellen, da er noch nicht auf 70 Jahre Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes zurückblicken konnte. Falsch wird diese Aussage deshalb nicht. Nach Evers wird das Grundgesetz die Menschenrechte nicht ewig schützen: „Das Grundgesetz wird einmal außer Kraft treten. Es hat sogar den Zeitpunkt dafür in Art. 146 vorgesehen. Es kann aber auch durch einen skrupellosen Gewalthaber als ein Fetzen Papier beiseitegeschoben werden, wenn er nur die Macht dazu hat.“ H.-U. Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz. Eine Untersuchung, 1956, S. 3. Auch Freund sieht nach den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts kein Grund zur Annahme, dass der Erlass von ungerechtem positiven Recht ausgeschlossen werde könne; Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 23. 1720 Scholderer, Rechtsbeugung (Fn. 604), S. 445 ff. 1721 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 439. 1722 Seelmann, Dilemma (Fn. 1527), S. 439. 1718

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F. Conclusio

2. Das Naturrecht als Förderung der inneren Überzeugung der Bürger Anhand der missbräuchlichen Verwendung naturrechtsähnlicher Argumentationen ist kritisiert worden, das Naturrecht könne einem Unrechtsstaat nichts entgegenstellen oder würde vielmehr zu dessen Förderung beitragen. Dasselbe gilt für die Annahme, ein Verwerfungsrecht des Richters eines mit der Gerechtigkeit im eklatanten Widerspruch stehenden Gesetzes, sprenge die Gewaltenteilung und fördere gar einen Unrechtsstaat1723. Das Naturrecht oder ihm ähnlich erscheinende Ideologien können jedoch nicht separat und von der gesellschaftlichen Stimmung getrennt betrachtet werden. Wenn die Richter in der Zeit des Nationalsozialismus nicht damit hätten rechnen können, dass die Machthaber ihre Zustimmung zu diesen Urteilen geben würden, dann hätten sie sie wahrscheinlich nicht gefällt1724. Das zeigt, dass die Richter ähnlich glühende Verfechter der unmenschlichen Ideologie waren, wie dies auch bei der Mehrheit der Bevölkerung anzutreffen war1725. Es ist doch vielmehr der Beweis dafür, dass Gesellschaften und Rechtssysteme auf die innere Überzeugung ihrer Bürger angewiesen sind. Es scheint, als würden sich hier Rechtsstaat und menschenvernichtende Diktaturen nicht unterscheiden. Ein System lässt sich auf Dauer nur mit der Überzeugung seiner Bürger und seiner Staatsdiener aufrechterhalten oder durch einen schrecklichen Tyrannenstaat, in dem der Rechtspositivismus zum Unterdrückungsmechanismus wird. Die sittliche Überzeugung fördert das Unrechtsregime, es ermöglicht allerdings auch erst einen offenen Rechtsstaat. Der Mensch könne nach Schockenhoff in einer freien Rechtsordnung nämlich nur begrenzt gezwungen werden, ohne, dass der Staat langfristig in einer totalitären Diktatur zu landen drohe1726. Um es mit den Worten Böckenfördes zusammenzufassen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“1727 Der Rechtspositivismus setzt auf die formelle Gesetzeskonformität, weshalb den Rechtsstaatssystemen auch starkes Vertrauen der Bürger entgegenschlägt. Der Rechtspositivismus soll in seiner Leistung auch nicht gemindert werden. Der Rechtspositivismus kann aber das Recht nicht begründen, denn er will die Begründung gerade nicht selbst liefern, sondern es dem politischen Diskurs überlassen. Das Naturrecht ist hingegen im Stande, Gesetze zu begründen und der Bevölkerung ihre Sinnhaftigkeit zu erklären. Es kann zur „sittlich-rechtlichen Überzeugung“ und damit zu einer eigenverantwortlichen Gesetzeskonformität der Bürger beitragen1728. 1723

Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 210 ff. Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 212. 1725 Freund, Rechtsbeugung (Fn. 742), S. 212. 1726 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 15. 1727 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1992, S. 92 (112). 1728 Eidam, Strafrecht (Fn. 21), S. 21. 1724

IV. Das Naturrecht als notwendige Hilfestellung  

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Das Naturrecht im Zuge richterlicher Rechtsfortbildung kann sicher als Katalysator für gesellschaftliche Entwicklungen wirken. Die Sorge, sie könne einen Staat auch gegen den Willen des Gesetzgebers zu einem Unrechtsstaat formen, ist aber eher unbegründet. Die Rechtsanwender könnten damit nur Erfolg haben, wenn die von ihnen gegen den Gesetzgeber durchgesetzte Ansicht auf fruchtbaren Boden fällt. Anders allerdings besteht die Hoffnung, Richter könnten als letzte Instanz die Entwicklung hin zu einem Unrechtsregime verlangsamen.

3. Der Streit über das „Gerechte“ Der Streit als Austausch und zur Kompromissfindung in einer Gesellschaft ist vielleicht das zentrale Mittel einer demokratischen Gesellschaftsform. Nicht umsonst wird der Sicherung der Meinungsfreiheit eine ganz besondere Stellung in den demokratischen Systemen zugeschrieben: „Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 [205] = NJW 56, 1393). Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit, ‚the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom‘ (Cardozo).“1729 Aber lässt sich über etwas streiten, das es nicht gibt? Gibt es kein Naturrecht, gibt es auch kein von Anfang an gerechtes Recht. Dann gäbe es im Grunde überhaupt kein Recht und kein Unrecht. Ist der Streit also ein Beleg oder ein Hinweis auf ein existierendes Naturrecht? So sieht es zumindest Spaemann: „Gäbe es kein von Natur Rechtes, so könnte man über die Frage der Gerechtigkeit gar nicht sinnvoll streiten.“1730 Bei der Diskussion um das Recht muss es sich immer um einen Streit handeln und nicht um eine Verhandlung mit anschließendem Kompromiss, da das Gerechte nicht Ausdruck von Machtverhältnissen ist1731. Einer objektiven Wertbegründung des Rechts steht Schockenhoff ebenfalls nicht kritikfrei gegenüber. Es sei unmöglich, einen „verbindlichen Konsens über die Bedeutung, […] und unterschiedlichen Ranghöhen der einzelnen Werte in einer pluralistischen Gesellschaft“ zu erzielen, zumal diese Werte ebenfalls an die subjektive Werteauffassung aus der Gesellschaft gebunden wären1732. Durch die Idee einer objektiven Werteordnung, welche nach Schockenhoff auf breite Zustimmung nach dem 2. Weltkrieg stieß, lässt sich somit kein Vorteil gegenüber dem Rechtspositivismus gewinnen, da beide Konstruktionen von einer subjektiven Auffassung abhingen. Das Naturrecht könne deshalb helfen, ein „angemessenes Verständnis 1729

BVerfGE 7, 198 (208) = NJW 1958, 257 (258). Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 60. 1731 Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 61. 1732 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 11. 1730

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F. Conclusio

der Differenz von Recht und Moral“ zu finden1733. Er gesteht allerdings ein, dass der Begriff und was unter diesem zu verstehen sei, auch von geschichtlichen, kulturellen und sozialen Eigenschaften abhängig sei und sich daher kein konkreter Rechtskatalog davon ableiten lasse1734. „Er ist seinem logischen Status nach eher mit einer regulativen Vernunftidee vergleichbar, die der jeweiligen geschichtlichkonkreten Festlegung bedarf.“1735 Der Begriff des Naturrechts umfasse alle Rechte, über die der Mensch alleine aufgrund seines Menschseins verfüge1736. Schockenhoff sieht im Naturrecht eine Hilfestellung zur Förderung und Befolgung des gesetzten Rechts. Nur durch die sittliche Überzeugung seiner Bürger könne der Staat seine Bürger auf Dauer an die Staatsordnung binden. Will man nicht alles der Relativität und der Geschmacksfrage überlassen, kann das Instrument des Naturrechts eine hilfreiche Stütze in gesellschaftlichen Diskussionen sein.

4. Das Naturrecht in einer pluralistischen Gesellschaft Die Ansicht, das Naturrecht habe seine Daseinsberechtigung in einer bürgerfreundlich ausformulierten Verfassung verloren, verkennt, wie gegenwärtige gesellschaftliche Debatten geführt werden. Auch ist der Pluralismus in einer Gesellschaft kein Ausdruck der Verabschiedung vom Naturrecht, nur weil sich innerhalb einer Gemeinschaft verschiedene Erklärungen und Ansichten finden lassen. Die Tatsache, dass wir über die Frage, was inhaltlich recht oder unrecht ist streiten, wird häufig als Hauptargument verwendet, es könne daher kein von der Natur aus vorgegebenes Recht geben1737. Die Erkenntnis, dass in einer diskursoffenen Gesellschaft die teilweise so schwierige Kompromissfindung im Vordergrund steht, darf nicht zu dem Fehlschluss führen, man habe sich von dem Gedanken an Wahrheit und Wirklichkeit getrennt. Wer diese Wahrheitsfähigkeit von Aussagen bestreitet, „attackiert“ gleichzeitig naturrechtliche Begründungsmuster1738. Ist es denn wirklich so, dass die pluralistische Gesellschaft durch die Toleranz der anderen Meinung die eigene Meinung als gleichwertig einsortiert?

1733

Schockenhoff, Naturrecht (Fn. 336), S. 310. Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 12. 1735 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 12. 1736 Schockenhoff, Grundlagen (Fn. 334), S. 12. 1737 Vgl. Spaemann, Aktualität (Fn. 79), S. 60. 1738 Henkel, Naturrecht (Fn. 453), S. 86. 1734

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a) Die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch In vielen gesellschaftlich geführten Debatten der Gegenwart werden weiterhin naturrechtliche Argumentationen verwendet. Hierzu möchte ich auf das Beispiel um die Diskussion des Schwangerschaftsabbruchs hinweisen. Befürworter und Abtreibungsgegner argumentieren beide naturrechtlich für Ihren Standpunkt. Befürworter stellen das Wohl der Mutter und ihr Recht auf freie Selbstbestimmung in den Vordergrund, wohingegen die Skeptiker und Abtreibungsgegner auf das menschliche Leben des Fötus und auf das daraus resultierende Lebensrecht verweisen. Die Frau habe das Recht, selbst über ihren Körper entscheiden zu können, ohne, dass ihr dieses Recht gesondert zugesprochen werden müsste. Auf der anderen Seite sei das ungeborene Leben aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Spezies oder als Gottes Schöpfung bereits als Träger von Rechten anzusehen, da eine Unterscheidung und Definition von lebenswertem Leben innerhalb der Spezies Raum für Missbrauch öffnet. Es lassen sich hier wie dort reichlich Argumente aufzählen, das Problem lösen wird man jedoch nicht. Hat die Pluralität hier eine moralische Wahrheit ausgeschlossen? Die beiden Ansichten sind sich in ihrer Argumentation vermutlich näher als vielen bewusst sein dürfte. Der Dissens besteht nicht in der unterschiedlichen Auffassung, ob der Schutz des menschlichen Lebens oder das Selbstbestimmungsrecht von Frauen per se wichtiger ist1739. Menschliches Leben darf nicht beendet werden, dürften auch die Frauenverbände vertreten, sonst müssten sie gesellschaftlich geächtet und mit dem Blick auf die Verfassung und unser Strafrecht verboten oder bekämpft werden. Auch wird das Selbstbestimmungsrecht der Frau von den allermeisten Christen nicht in Frage gestellt, die sich selbst in weiten Teilen der Welt für die Förderung der Gleichberechtigung und Bildung der Frauen einsetzen. Streitig ist die hier zugrunde liegende Ausgangslage, über die keine Einigung erzielt wird. „Ursächlich für den Dissens sind vielmehr konfligierende Auffassungen bezüglich der Frage, ob bzw. ab wann ein Embryo den vollen moralischen Status einer menschlichen Person hat.“1740 Diese unterschiedliche Auffassung mag durch säkulare Erklärungsmuster und pluralistische Diskursfähigkeit zu erklären sein, aber sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Diskussion eine erstaunlich simple naturrechtliche Argumentation zugrunde liegt, die von beiden Seiten zunächst geteilt wird. Schuld an der nicht zu lösenden Frage sind die unterschiedlichen Standpunkte, von denen aus diese Diskussion geführt wird. Diese unterschiedliche Herangehensweise, nämlich die unterschiedliche Auffassung über die Beschaffenheit und Wesensnatur der Föten, verstellt den Blick auf die Argumentation, da die Ergebnisse zu weit entfernt liegen. Aber zu behaupten, 1739

M. Westphal, Verfassungen in pluralistischen Demokratien. Unbestimmtheit als politische Ressource, in: M. Hein / F. Petersen / S. v. Steinsdorff (Hrsg.), Die Grenzen der Verfassung, 2018, S. 103 (109). 1740 Westphal, Verfassungen (Fn. 1739), S. 109.

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F. Conclusio

dass eine der beiden Seiten nicht von der Wahrheit und Richtigkeit seines Standpunktes überzeugt wäre, halte ich für sehr gewagt. Erachtet man das mensch­liche Leben bereits mit der Nidation, verbietet sich ein Schwangerschaftsabbruch ganz selbstverständlich. Verneint man das menschliche Leben in diesem Stadion, steht das Selbstbestimmungsrecht mangels alternativer Rechtsschutzbedürfnisse im Vordergrund. Auch wenn die Gefahren der Definition und Bestimmung von Menschenleben aufgezeigt wurde, soll hier kein Streit entschieden werden. Es soll die Argumentationsmuster aufzeigen. Aus gegebenem Anlass soll einmal auf die Klimabewegung eingegangen werden. Das Naturrecht kann aus sich heraus ein Widerstandsrecht gegen Unrecht und ungerechte Regime rechtfertigen. Das Naturrecht verpflichtet gerade, sich an der Gerechtigkeit und nicht allein an dem Gesetz zu orientieren. Dass sich durch die Positivierung vieler naturrechtlicher Forderungen in den europäischen Staaten ein Rückgriff auf das Naturrecht erübrigt, ist eine weit verbreitende Ansicht. In der europäischen Gesellschaft ist jedoch eine Initiative entstanden, die sehr wohl bereit ist, ein Widerstandsrecht für ihre Zwecke zu bemühen, welches einer naturrechtlichen Argumentationen entspringt: Extinction rebellion! Diese Gruppierung bescheinigt par excellence die Gefahren naturrechtlicher Argumentationen. Würden sich apokalyptische Weltuntergangsszenarien andeuten, welche von einem Gesetzgeber befördert, unterstützt oder gar erzeugt wurden, ließe sich wohl kaum argumentieren, warum ein solches gesellschaftliches System weiterhin als unterstützenswert erachtet werden sollte. Nicht nur einzelne Gesetze dürften in ihrer Anwendung abgelehnt werden, sondern das ganze Rechtssystem wäre Ausdruck einer zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit erlaubt es zumindest, für den zivilen Ungehorsam zu plädieren. Die Argumentation bleibt stringent, aber die Ausgangsposition führt zu einem tückischen Ergebnis. Der Pluralismus mag höchstens, wenn überhaupt, denn Pluralismus sollte nicht mit Falschinformationen verwechselt werden, dazu beitragen, dass sich unterschiedliche Ausgangspositionen häufen. Pluralismus bedeutet Respekt vor der anderen Meinung, nicht aber Beliebigkeit der eigenen. Der Klimaschutz scheint mir eine der zentralen Aufgaben der Zukunft, aber vor dem Untergang der Welt steht die Menschheit gewiss noch nicht1741. Wenn man sich nun aber einmal 1741 Zur erheblichen gesellschaftspolitischen Tragweite der Klimakrise siehe Beschluss des BVerfG v. 24. März 2021, 1 BvR 2656/18. Mit diesem Beschluss hat das BVerfG das KSG insofern als verfassungswidrig eingestuft, als dass es keine Regelung zur Treibhausgasreduzierung ab dem Jahr 2030 enthält. „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.“ (1 BvR 2656/18, Leitsatz Nr. 4; Herv. F.v.R.).

IV. Das Naturrecht als notwendige Hilfestellung  

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ein Aufeinandertreffen der verschiedenen Lager vor Augen führt, kann von einem Verlust des Wahrheitsanspruchs nicht die Rede sein. Pluralismus sollte nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. b) Der Wahrheitsanspruch der Mehrheitsmeinung Politische Diskussionen sollen nicht mit naturrechtlichen Argumentationen gleichgesetzt werden. Hier sollten nur exemplarisch die traditionellen Naturrechtsaspekte, das Widerstandsrecht, das Lebensrecht und das angeborene Recht auf körperliche Selbstbestimmung im Kontext weiterhin aktueller Debatten aufgezeigt werden. Unterschiedliche Ausgangspunkte könnten mit dafür verantwortlich sein, naturrechtliche Argumentationen nicht immer zu erkennen. Der Naturrechtsbegriff mag in großen Bereichen verschwunden sein, aber der Gedanke, dass das Recht, wie auch immer begründet, nicht der völligen Verfügbarkeit ausgesetzt ist, findet sich nach wie vor in der Rechtsphilosophie wieder. Der Begriff des Naturrechts im weiteren Sinne kann als Sammelbegriff auch künftig wertvoll sein, da er den einen Gedanken, der dieser Theorie seit Jahrtausenden auch in unterschiedlichen Verständnissen gemeinsam ist, die Unverfügbarkeit von Recht, zusammenfasst. Der Begriff steht für einen kontinuierlichen Wandel in seiner Begründung und gleichzeitig für ein kontinuierliches Grundverständnis. Der Stolz auf eine eigene menschenwürdige Verfassung sollte nicht etwa trotz dessen, sondern gerade mit Blick auf die menschenverachtende Ideologie der NS-Zeit, ein Minimalanspruch an das Recht nicht aus den Augen verlieren. Eine fehlende Relevanz des „Berufens“ auf naturrechtliche Normen aufgrund einer möglichen Positivierung, darf nicht mit der fehlenden Existenz ethischer Ansprüche an das Recht verwechselt werden. Die Rechtswissenschaft sollte daher den Blick für das vorhandene Naturrechtsdenken wieder etwas schärfen. Es kann uns für die gesellschaftlichen Fragen in der Zukunft eine große Hilfe sein, ohne dass die Forderungen einfach stupide zu übertragen wären. Die Untersuchung nach der Rechtsquelle außerhalb der Mehrheitsmeinung dient der Reflexion eines solchen zustande gekommenen Ergebnisses. Begreift man eine durch die Mehrheit begründete Entscheidung als die einzige Grundlage des Rechts, kommt dieser Entscheidung eine gewisse Wahrheitsimplikation zu. Das aber dürfte gerade mit der Kritik des Rechtspositivismus am Naturrecht nicht zusammenpassen. Der Schwarmintelligenz wird in ihrer Entscheidungsfindung eine vernutete „Richtigkeit“ unterstellt1742. Soll sie aber nicht als absolute Wahrheit gleichgesetzt werden, kann sie an den Parametern des Naturrechts gemessen werden. 1742 Ähnlich wie sich Matthias Wendland über die formelle Gerechtigkeitskonzeption im Privatrecht äußert, von der zunächst eine Indizwirkung ausgehe; vgl. Wendland, Mediation (Fn. 1035), S. 119.

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F. Conclusio

V. Fazit Die vorliegende Arbeit stellt keine Generalkritik am Rechtspositivismus dar und beschreibt die aktuelle Wirkung des Naturrechts daher auch nicht antagonistisch zum Rechtspositivismus. Der dialektische Ansatz bezieht sich somit nicht auf Pro und Contra der beiden Strömungen im Sinne einer endgültig herausgearbeiteten Verifizierung oder Falsifizierung, sondern er bezieht sich auf mögliche Wirkrealitäten oder Wirkmächtigkeiten einzelner naturrechtlicher Argumente. Die Frage nach der Wirkungsweise gegenwärtiger Naturrechtsströmungen und ihren Stellenwert in der aktuellen Rechtswissenschaft fokussiert sich daher auf die Existenz und den Mehrwert dieser Argumente für das Recht. Naturrechtliche Argumente sind nach dieser vorliegenden Untersuchung in ihrer Aussage von erheblicher Bedeutung für das Recht per se. So können diese – ohne zwingend das geltende Recht zu untergraben – ein geeignetes Korrektiv zur Meinungsbildung im Verhältnis zur formellen Gesetzgebung darstellen. Dieser Ansatz leistet damit einen gesellschaftlichen Beitrag vor, während und nach der Gesetzgebung und stellt ein Argumentationsplus dar. Das Naturrecht ist nicht als Gegensatz, sondern als notwendige Ergänzung zum Rechtspositivismus zu verstehen. Höffe beschreibt das Naturrecht daher zu Recht mit einer gegenseitigen komplementären Ergänzungswirkung zum Rechtspositivismus: „Eine Theorie des Rechts ohne den Gedanken der Positivierung wäre Schwärmerei, eine Rechtstheorie ohne Anerkennung des N.s [Naturrechts, F.v.R] Zynismus.“1743 Diese Arbeit hebt die Bedeutung der Notwendigkeit solcher Argumente im rechtspolitischen und -philosophischen Kontext hervor und versucht, dem Irrtum zu begegnen, dass der Rechtspositivismus Fragen zu ethischen Maßstäben endgültig beantworten kann, indem er auf die formale Rechtskraft eines Entscheidungsprozesses verweist. Ethik und Recht lassen sich nicht trennen. Wird dem Recht oder der Ethik der Vorwurf der rechtswidrigen Regelung, des illegitimen Begründungsansatzes oder des unethischen Ergebnisses entgegengebracht, so hat dies nicht nur Wirkung auf die eigene Disziplin. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille, deren Währung die richtige Handlung darstellt. Die Aussage, die Legislative habe in Vertretung des Volkes durch einen Mehrheitsbeschluss ein Gesetz erlassen und damit Handlungsspielräume erweitert oder begrenzt, verkennt zudem die teilweisen komplexen Strukturen einer modernen Gesellschaft. Hier sei beispielhaft an die hitzige Debatte um den neu eingeführten § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt hatte, erinnert. Die Normierung stellte gleichzeitig klar, dass die nicht geschäftsmäßige Förderung straffrei behandelt wird, sollte der Teilnehmer Angehöriger oder Nahestehender sein. Dennoch sieht die Musterberufsordnung der 1743

Höffe, Naturrecht (Fn. 39), Sp. 242.

V. Fazit 

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Bundesärztekammer v. 14. Dezember 2018 ein Verbot nach § 16 MBO vor: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. […] Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer mag selbst keine rechtlich verbindlichen Ausführungen entnommen werden können, „die Normen der MBO haben aber empfehlenden Charakter für die nach Landesrecht gebildeten Landesärztekammern, die die verbindlichen Berufsordnungen als Satzungen erlassen.“1744 Immerhin zehn von 17 Landesärztekammern haben Regelungen erlassen, welche eine Suizidassistenz untersagen1745. Somit ist eine Tat, die durch den Gesetzgeber explizit als straffrei zugelassen ist, für manche Ärzte durch öffentlich-rechtliche Regeln einer Körperschaft des öffentlichen Rechts weiterhin verboten. Die rechtliche Regelung alleine hat die Diskussion über die Handhabung der ärztlichen Suizidhilfe nicht lösen können1746. In diesen und ähnlichen Fällen lassen sich daher richtige Handlungsanweisungen nicht einfach mit dem Hinweis auf eine formelle Rechtsnorm ableiten. Für die Beantwortung der Frage nach der „richtigen“ Herangehensweise müssen eben auch Argumente außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens und ihrer Rechtswirkung gesucht werden. Naturrechtliche und sonstige ethische Überlegungen helfen dabei, die Gesellschaft von der Richtigkeit gewisser Maßnahmen zu überzeugen und können den Entscheidungsprozess vor und während der Maßnahmen beeinflussen. Dient die Mehrheitsmeinung als alleiniger Maßstab für die Richtigkeit in der Legislative und finden die Begründungen innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens in ethisch komplexen Bereichen ohne solche Vorüberlegungen statt, so entwickeln sich die Resultate eines solchen Verfahrens zu einem kollektiven Recht des Stärkeren. Diese Tatsache ist bereits hinlänglich in der Politikwissenschaft mit ihrer vergleichenden Systemkritik bearbeitet worden. Die Rechtswissenschaft ist daher auf die legitimitätsbegründete Argumentation angewiesen, um sich nicht dem Vorwurf der Willkür auszusetzen. Diese Arbeit hat gezeigt, dass eben diese Hilfestellung für das Recht keineswegs als obsolet angesehen werden kann und plädiert daher für eine angemessene Würdigung der Wissenschaft, ohne das Naturrecht auf den Sockel der einzigen Geltungsmöglichkeit zu erheben. In einer globalen und immer weiter globalisierenden Welt sind wir zukünftig verstärkt auf naturrechtliche Argumente im legislativen Willensbildungsprozess angewiesen. Diese Arbeit möchte sich nicht an Spekulationen über den Hinter 1744 J. Lindner, Sterbehilfe in Deutschland – mögliche Regelungsoptionen, in: ZRP 53 (2020), S. 66 (66). 1745 C. Roxin, Die geschäftsmäßige Förderung einer Selbsttötung als Straftatbestand und der Vorschlag einer Alternative, in: NStZ 2016, S. 185 (192). 1746 Die Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung des BVerfG zu § 217 Abs. 1 StGB zeigt die Komplexität des Themas; vgl. BVerfG, Urt. v. 26. 2. 2020 − 2 BvR 2347/15. Für die Frage der inhaltlichen Unterfütterung eines rechtlich legitimierten Rahmens ist die Entscheidung allerdings nicht hilfreich.

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F. Conclusio

grund und die Begleitumstände des Ausbruchs und die Verbreitung des neuartigen Corona-Virus beteiligen. Dennoch zeigt die Pandemie sehr deutlich: Einzelne Vorgänge können erhebliche Auswirkungen für jedes Individuum an jedem Ort der Welt entfalten. Eine ergänzende und bereichernde naturrechtliche Argumentation ist daher zwingend nötig. In Zeiten, in denen Handlungen an den nationalen Grenzen verpufften, konnte dem Gedanken des Verbots der Einmischung in souveräne Entscheidungen etwas abgewonnen werden. Alles andere grenzte an nationale Arroganz. Heute aber haben Handlungen und Entscheidungen sehr viel größere und globalere Auswirkungen. Solche Fragen betreffen z. B. den Natur- und Klima­schutz, die Terrorismusbekämpfung oder weltweite Arbeitsbedingungen. Will man solche Fragen nicht zur Geschmacksfrage degradieren, hilft der Verweis auf universelle Standards. „Diese beständigen Fragen über Gut und Böse sind heute dringlicher denn je, insofern den Menschen stärker bewusst geworden ist, dass sie eine einzige Weltgemeinschaft bilden. Die großen Menschheitsprobleme haben von nun an eine internationale, weltweite Dimension, zumal die Entwicklung der Kommunikationstechniken eine wachsende Interaktion zwischen Personen, Gesellschaften und Kulturen begünstigt. Ein lokales Ereignis kann fast unmittelbar eine weltweite Ausstrahlung haben. So entsteht das Bewusstsein einer globalen Solidarität, die ihre letzte Grundlage in der Einheit des Menschengeschlechts findet und im Sinn für weltweite Verantwortung zum Ausdruck kommt. […] In diesem Kontext gewinnt die Suche nach gemeinsamen ethischen Werten neu an Aktualität.“1747

1747

Internationale Theologische Kommission, Suche (Fn. 251), Nr. 1.

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Sachverzeichnis Allgemeingültigkeit  75, 161, 188, 246 Allgemeinwohl, siehe Gemeinwohl Anerkennungstheorie  229, 231

Krieleschen Formel  136, 153 Kommunitarismus 204 Komplementärbegriff 39

Beobachterperspektive  149 f. Bonum Commune  65 f., 135 – siehe auch Gemeinwohl

Lex – Lex aeterna  31 f., 52 f., 68, 87 – Lex divina  52 – Lex humana  52 f. – Lex naturalis  32, 52 f., 59, 66, 86 f., 89

Civil Law  213 Codex Iuris Canonici  54 ff., 89 Common Law  213 Demokratie  69 ff., 139, 153, 219 Diskurstheorie  148, 151, 157, 227 Dritter Weg  101, 140, 168 f. Essentialismus  93 f., 170 Fähigkeitsansatz  197 ff., 204, 215, 227 f., 249 Finnis-Grisez-Theorie  171, 175 – siehe auch Gütertheorie Gemeinwohl  38, 60 f., 76, 125, 163, 172 ff., 177, 182, 186 ff., 206, 249, 252, – siehe auch Bonum Commune Gesellschaftsvertrag  32, 79 – siehe auch Vertragstheorie Goldene-Regel  88, 155 Grundgüter, siehe Gütertheorie Gütertheorie  171 f., 175, 179 f., 189, 198 f., 201, 215, 225, 249, – siehe auch Finnis-Grisez-Theorie Hercules 207 Ius – Ius divinum  55 ff., 87 – Ius humanum  55, 58 Katechismus der kath. Kirche  58 f., 61, 81

Mauerschützen  121, 248 Mitgifttheorie  229, 232 Nationalsozialismus  44, 100 f., 103, 105 ff., 111, 118, 131, 136, 155, 217, 252, 256 Naturalistischer Fehlschluss, siehe SeinSollen-Fehlschluss Naturrecht – Absolutes Naturrecht  134, 170 – Dynamisches Naturrecht  133, 139 – Naturrechtsdefinition  38 ff., 243, 250 – Naturrechtsrenaissance  100, 105, 108 ff., 126, 132, 245, 248, 252 f. – Negatives Naturrecht  102 Naturzustand  33 f., 36, 142, 155, 187 f., 192 f., 195, 201, 204, 226 Neuthomismus 109 Neutralitätstheorie  41, 45 New (Classical) Natural Law Theory 171 f., 176, 178 f., 180, 184 f., 210 ff., 215, 249, 252 Nihilismus  93 f. Nulla-Poena-Grundsatz  44, 122 – siehe auch Rückwirkungsverbot Nomos 28 Normalität  72, 79, 83, 97, 137 Normativismus  91, 93 ff., 251 Parlamentarische Rat  222, 241 Partikularismus  167, 234, 251 Personalität  143, 237 f.

284

Sachverzeichnis

Physis  27, 34 Pianistentheorie 131 Pluralismus  18, 77, 79, 83, 191, 226, 258, 260 f. Polis  28 f. Primärnormen 43 Prinzipientheorie  92, 133, 147, 152, 157 f., 206, 208, 215, 249 Privatrechtstheorie  162 f., 249 Protestantismus  84 f., 87 Radbruchsche-Formel  99 ff., 103, 114 f., 120 f., 129 f., 132, 153, 163 f., 168, 184 Rechtsbeugung  129 ff., 248 Reduktionismus  93 f. Relativismus  71, 77, 133 f., 138, 141, 167, 192, 202 f. Rückwirkungsverbot 122 – siehe auch Nulla-Poena-Grundsatz Sein-Sollen-Fehlschluss  34, 66, 69 f., 97, 139, 179 Sekundärnormen 43

Sexualethik 78 – siehe auch Sexualmoral Sexualmoral  80 ff., 96 f. Teilnehmerperspektive  149 f. Trennungsthese  41, 146, 150 Unerträglichkeitsformel 100 Universalismus  167, 192, 203, 251 Unverfügbarkeit  37 ff., 94, 101, 133 f., 158, 168 ff., 194, 232, 250 ff., 261 Utilitarismus  194, 202 f. Verbotsirrtum 248 Verfassunggebung / Verfassunggeber  23, 89, 99, 116 f., 120 f., 124, 126, 128, 228, 245, 255 Verleumdungsformel  32 f., 100, 104, 122 Vertragstheorie  187, 192 ff., 197, 200 f., 204, 226, 230, 249 – siehe auch Gesellschaftsvertrag Zwei-Welten-Lehre 85