Das marokkanische Familienrecht in der multiplen Differenzierung: Postkoloniale und nichtlokale Ansätze für einen alternativen Rechtsbegriff 9783839470084

Wie kann das marokkanische Familienrecht aus postkolonialer Perspektive analysiert werden? Im Gegensatz zur gegenwärtige

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German Pages 248 [246] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Teil A – Theorie
1. Einleitung
2. Forschungsstand
3. Soziologische Rechtsbegriffe
4. Zum soziologischen Begriff der Rechtsübersetzung
5. Vom Segmentierungsbegriff zur pragmatistischen Milieutheorie
6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung
7. Recht und Religion in der multiplen Differenzierung
8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung
9. Die Evolution des multipel differenzierten Familienrechts
Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse
1. Einleitung
2. Der latente Sinn als Verbindung zwischen Empirie und Theorie
3. Sprachliche Übersetzung
4. Reaktivität des Forschungsfeldes
Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung
1. Einleitung
2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«
3. Das latente Interview mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Fes
4. Das latente Interview in der Kleinstadt Khmissat
5. Die Einheit des Rechts in der regional differenzierten Weltgesellschaft?
Fazit und Ausblick
Bibliografie
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Das marokkanische Familienrecht in der multiplen Differenzierung: Postkoloniale und nichtlokale Ansätze für einen alternativen Rechtsbegriff
 9783839470084

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Kamal El Guennouni Das marokkanische Familienrecht in der multiplen Differenzierung

Global Studies

Kamal El Guennouni ist Soziologe und hat an den Universitäten Fes und Bielefeld studiert. Er promovierte an der Graduate School of Sociology (GRASS) der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theoretische Soziologie, Rechtssoziologie, Religionssoziologie, Gender Studies und qualitative Sozialforschung.

Kamal El Guennouni

Das marokkanische Familienrecht in der multiplen Differenzierung Postkoloniale und nichtlokale Ansätze für einen alternativen Rechtsbegriff

D6 Diese Arbeit ist als Dissertation im Rahmen der Graduate School of Sociology (GRASS) der Universität Münster entstanden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839470084 Print-ISBN: 978-3-8376-7008-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-7008-4 Buchreihen-ISSN: 2702-9298 Buchreihen-eISSN: 2703-0504 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Für meine Eltern

Inhalt

Danksagung ..............................................................................13

Teil A – Theorie 1.

Einleitung............................................................................ 17

2. Forschungsstand ................................................................... 27 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Soziologische Rechtsbegriffe ...................................................... 35 Emile Durkheim...................................................................... 35 Max Weber .......................................................................... 36 Jürgen Habermas.................................................................... 38 Niklas Luhmann ...................................................................... 41 Pierre Bourdieu...................................................................... 44

4. Zum soziologischen Begriff der Rechtsübersetzung ............................... 49 5. Vom Segmentierungsbegriff zur pragmatistischen Milieutheorie .................. 53 5.1 Kritik an Theorien segmentärer Differenzierung ...................................... 53 5.2 Umstellung der soziologischen Grundbegrifflichkeiten ................................ 57 6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung.................................. 61 7.

Recht und Religion in der multiplen Differenzierung ............................... 73

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung ...................... 83 9. Die Evolution des multipel differenzierten Familienrechts......................... 95 I. Das Familienrecht in der vorkolonialen Epoche ................................... 97 II. Rechtsordnung in den Städten ................................................... 99

III. Rechtsordnung in der vorkolonialen segmentären Differenzierung................ 100 IV. Das Familienrecht in der Kolonialzeit (1912–1956) .................................. 101 V. Das multipel differenzierte Familienrecht nach der Kolonialzeit ...................104 9.1 Rechtspluralismus und Familienrecht – Übersetzung multipler Ordnung ...............107 I. Das horizontale Übersetzungsverhältnis erster Ordnung........................... 110 II. Das vertikale Übersetzungsverhältnis zweiter Ordnung............................ 112 III. Das vertikale Übersetzungsverhältnis dritter Ordnung............................. 115

Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse 1. Einleitung........................................................................... 121 1.1 Feldzugang und methodologische Reflexionen ........................................126 I. Die makrohemeneutische Forschung im Mittleren Atlas ...........................126 II. Die makrohermeneutische Forschung in der Stadt Fes ............................137 2. Der latente Sinn als Verbindung zwischen Empirie und Theorie .................. 143 3. Sprachliche Übersetzung ...........................................................149 3.1 Sprachpragmatische Übersetzung.................................................... 151 4. Reaktivität des Forschungsfeldes ................................................. 155

Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung 1. Einleitung.......................................................................... 163 1.1 Übersetzungen zwischen den gesellschaftlichen Rechten und dem positiven Familienrecht.....................................................164 2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats« ..................................................... 165 3. Das latente Interview mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Fes .................. 183 4. Das latente Interview in der Kleinstadt Khmissat ..................................197 5. Die Einheit des Rechts in der regional differenzierten Weltgesellschaft? ........ 209

Fazit und Ausblick ...................................................................... 217 Bibliografie .............................................................................219 Online-Literatur ......................................................................... 243

»Wenn die Welt nicht länger in nationale Gesellschaften aufzuteilen ist, und wenn wesentliche Anstöße für die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Nationalstaat der empirische Prozess der Globalisierung und seine soziologische Reflexion sind (…), scheint es sich anzubieten, die soziale Welt als allgemeinste, nämlich: globale soziale Ordnung aufzufassen. Dann gibt es nur noch eine, die Weltgesellschaft.« (Renn 2006, 56) »Alles spielt sich ab, würde man folgern, als ob eine sexuelle Differenz nicht auf einer Höhe mit der ontologischen Differenz wäre: als wäre sie gegenüber der Frage des Sinns von Sein alles in allem genauso zu vernachlässigen wie eine beliebige Differenz, eine festgelegte Unterscheidung, ein ontisches Prädikat.« (Derrida 1988, 11) »…[…] Die Verheiratung von Minderjährigen existiert, hh, existiert in einer enormen Form, und es gibt Orte […], hh, und es gibt Möglichkeiten, durch Kniffe die Gesetze zu umgehen und diese Heiratsform zu ermöglichen, im Rahmen des sog. »Aufrufs zur Ehe«, hh, im Rahmen […], das bedeutet, dieses Problem ist eines der gravierenden Probleme und verursacht Schlaflosigkeit, insbesondere die Verheiratung von Minderjährigen, die auf juristischer Ebene konsequent zu verbieten ist, ohne Ausnahmen, das ist eine Forderung und das Familienrecht muss die Verheiratung von Minderjährigen konsequent verbieten, darüber hinaus müssen wir Aufklärungskampagnen organisieren; es gibt hier Regionen, die immer noch mit der »Fatiha« heiraten, und hh, und daraus entstehen viele Opfer, die Verheiratung von Minderjährigen ist das große Problem.« #00:13:47-4# (Ausschnitt aus dem Interview mit einem Rechtsanwalt und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation »Jeunes Avocats du Maroc« in der Stadt Khmissat, Sommer 2013)

Danksagung

Die Fertigstellung einer Dissertation ist gleichermaßen eine große Herausforderung und Freude, nicht nur für den Verfasser selbst, sondern auch für die Personen, die seine Arbeit begleitet und unterstützt haben. Die vorliegende Arbeit hätte ohne die Unterstützung vieler Menschen gar nicht entstehen können. Auch wenn mein Dank kaum in Worte zu fassen ist, möchte ich es an dieser Stelle trotzdem versuchen. Den beiden Betreuern meiner Dissertation gilt mein besonderer Dank: Prof. Dr. Joachim Renn und Prof. Dr. Norbert Oberauer haben die Durchführung meines Forschungsanliegens mit inhaltlicher Unterstützung und konstruktiver Kritik begleitet. Insbesondere die Arbeitsgruppe der »Makrohermeneutischen Tiefenanalyse« an der Universität Münster, wo ich die in Marokko durchgeführten qualitativen Interviews vorbereiten und anschließend interpretieren konnte, gilt mein besonderer Dank. Zudem möchte ich Dr. Linda Nell, die mich als GRASS-Koordinatorin immer wieder, vor allem in der letzten Phase meiner Doktorarbeit unterstützt hat, danken. Gedankt sei zudem Christoph Mautz für die Korrektur des Manuskripts. Vor allem möchte ich den beiden Kolleg*innen für ihre Unterstützung im Rahmen der Arbeitsgruppe »Makrohermeneutischen Tiefenanalyse« bei den Vorbereitungen der Interviewleitfäden danken. Zu großem Dank bin ich zudem meinen Interviewpartner*innen verpflichtet. Sie gewährten mir einen besonderen Einblick in ihre empirische Welt und machten es überhaupt erst möglich, das multipel differenzierte Familienrecht und seine Übersetzung multipler Ordnung zu erheben. Mein herzlicher Dank gilt meiner Frau und unserer Tochter: Allein sie wissen, wie sehr sie mir bei meinem Arbeitsprozess zur Seite gestanden und mich unterstützt haben.

Teil A – Theorie

1. Einleitung

»Frauen können wohl gebildet sein, aber für die höheren Wissenschaften, die Philosophie und für gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines fordern, sind sie nicht gemacht. Frauen können Einfälle, Geschmack, Zierlichkeit haben, aber das Ideale haben sie nicht. Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist der des Tieres und Pflanze: das Tier entspricht mehr dem Charakter des Mannes, die Pflanze mehr dem der Frau, denn sie ist mehr ruhiges Entfalten, das die unbestimmtere Einigkeit der Empfindung zu seinem Prinzip erhält. Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung. […]. Während der Mann seine Stellung nur durch die Errungenschaft des Gedankens und durch viele technische Bemühungen erlangt« (Hegel 1970, 319–320) Der vorangehende Passus stammt von Friedrich Hegel, einem Hauptvertreter des philosophischen Idealismus. Er findet sich in einem Abschnitt über »Die Familie« in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Wie der Textstelle zu entnehmen ist, betrachtet Hegel die Frau auf Grundlage des sozialen Geschlechts als unfähig, logisch zu denken und vernünftig zu urteilen. Das androzentrische Weltbild Hegels hat in der abendländischen und arabisch- islamischen Philosophie eine lange Tradition und reicht bis in die Antike zurück (de Beauvoir 1968). In der griechischen Philosophie, sowohl in ihrer materialistischen (Aristoteles) als auch idealistischen (Platon) Form, war die Vorherrschaft paternaler Verhältnisse ein Hauptgrund für die gesellschaftliche Exklusion der Frau. Das Prinzip der Gleichheit stand in der griechischen Gesellschaft lediglich Männern, Adligen und Bürgern, offen (Föllinger 1996). Aristoteles und Platon begründeten ihre Thesen mit dem biologischen Körper der Frau. Sie verkannten, dass sowohl sex (das biologische Körpergeschlecht) als auch gender (das soziale Geschlecht) kulturelle Konstruktionen sind, wie feministische Theorien eindrücklich dokumentieren (Butler 1991; Gildemeister 2004). Dementsprechend gibt es keinen begründeten Zusammenhang zwischen der Geschlechterkategorie und sozialer Ungleichheit1 . Die patriarchalische Auffassung der sozialen Geschlechter1

Siehe aus einer anderen – diskursanalytischen – Perspektive Michel Foucault »Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Erster Band« (1987) und den vierten Band »Die Geständnisse des

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Teil A – Theorie

verhältnisse in der Weltphilosophie war im positiven Rechtssystem vieler Nationalstaaten vorherrschend. Bis in das moderne Zeitalter hinein lag die Gleichberechtigung den meisten positiven Rechtssystemen fern (Elsuni 2004; Klein 2000, 51). Laut Holtzleithner kämpfte bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in westlichen Industriestaaten die erste Generation feministischer Juristinnen im Gerichtssaal darum, »die übelsten Diskriminierungen von Frauen in der Rechtsgeschichte zu verabschieden« (2008, 5). Aus einer pragmatistisch-gesellschaftstheoretischen Sicht wurde die mittelalterliche Ständegesellschaft durch »ein multipel differenziertes Recht« (Nell 2020) bestimmt: Zum einen durch ein schriftlich fixiertes römisches Recht, das in einem breiten Sozialraum Anwendung erlangte (Heger 2010; Dieter 2009), zum anderen durch ein partikulares Feudalrecht, das von der Religion, Gewohnheit und Moral geprägt wurde (Elias 1997). Das Feudalrecht, das vom römischen Recht nicht unberührt blieb, zementierte ein traditionelles Frauenbild in der Ehe und Familie und räumte dem männlichen Geschlecht eine uneingeschränkte Autorität ein. Laut de Rozière war »l’achat de la femme« (1852, 439f.) durch die Mitgift eine gängige Heiratspraxis. Der Ehemann konnte seine Gattin jederzeit verstoßen. Für die Scheidung reichte sein Wille völlig aus, da kein juristischer Akt dafür nötig war. Zudem stand die verheiratete Frau unmittelbar unter der Vorherrschaft ihres Ehemannes. Ihm standen sowohl die in die Familie mitgebrachten Güter als auch die für die Ehe erhaltene Mitgift zur Verfügung. Darüber hinaus war das Rechtsverhältnis zwischen den Kindern und Eltern auf die väterliche Macht begrenzt. Der Mutter wurde dieses Recht schlichtweg aberkannt. Insgesamt zeigen die historischen Dokumente, dass das Feudalrecht ein zentraler Ausdruck der patriarchalischen Rollenzuweisung und offenen Exklusion war. Wie die Griechen die abendländische Philosophie beeinflusst haben, so hat die feudale Jurisprudenz die gesamte europäische Rechtskultur über Jahrhunderte hinweg geprägt (Elias 1997). Im Bereich des Frauen- und Familienrechts waren viele Gesetze, die im Feudalrecht anzutreffen sind, in vielen nationalen Rechtstexten omnipräsent. Auch die Erklärung der »Menschen- und Bürgerrechte«, die im Jahr 1789 während der Französischen Revolution in Paris verabschiedet wurde, galt lediglich für das männliche Geschlecht (Helwig 1997). Den französischen Frauen wurde erst im Jahr 1945 das Stimmrecht gewährt (u.a. Wagener 2021, 119). Die Rechtsstellung der Frau war im wissenschaftlichen Diskurs Diskussionsgegenstand. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang u.a. die Forderungen Friedrich Schleiermachers, eines Mitbegründers der modernen Hermeneutik, eine egalitäre Integration der Geschlechter in das Bildungssystem zu ermöglichen (vgl. Meder 2006), oder auch des Hegel-Schülers Eduard Gans, eines der bedeutendsten Fleisches« (2019), in dem die polymorphen Techniken der Macht seit den Griechen sexuelle Praktiken durch pragmatische Diskurse bis in die Moderne generiert und kanalisiert haben. Zu Pragmatisierung der Diskurstheorie siehe v.a. Renn 2016, 37–60.

1. Einleitung

deutschen Rechtswissenschaftler. In seinem Buch »Das System des römischen Civilrechtes im Grundrisse« (1827, 187) plädierte er für die Gleichberechtigung und Anerkennung jeder Person ungeachtet ihres sozialen Geschlechts. Zu erwähnen sind auch die Ansichten des cartesianischen Philosophen François Poullain de La Barre. In seinem Buch »De l’égalité des deux sexes. Discours physique et moral où l’on voit l’importance de se défaire des préjugez« machte er deutlich, dass die Vorurteile über die Geschlechterdifferenz ihren Ursprung in der Sozialisation und Gewohnheit haben. Dementsprechend »on est obligé de reconnaitre entre les deux Sexes une égalité entiere« (1673, 1). Der Diskurs über die Gleichberechtigung wurde zudem von den Frauenorganisationen formuliert, wie der im Jahr 1865 von Louise Otto-Peters gegründete »Allgemeine Deutsche Frauenverein« oder auch die im Jahr 1859 in London ins Leben gerufene »Society for Promoting the Employment of Women«. Die soziale und rechtliche Benachteiligung der Frau wurde in der Regel im nationalstaatlichen Rahmen thematisiert. Erst mit der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1948 ist die Gleichberechtigung juristisch zur globalen Norm geworden (Heintz et al. 2006; Wörgetter 2000; Schöpp-Schilling 2000, 14). Seitdem wird die geschlechtliche Gleichheit völkerrechtlich kodifiziert und als Grundrecht in den Kanons der UN- Konventionen definiert, nämlich in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948, in der Konvention über politische Rechte der Frauen im Jahr 1953, im internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung im Jahr 1965, im internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte vom 19. Dezember 1966 und im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau »CEDAW« im Jahr 1979 (Bear 2008; El Guennouni 2017, 199ff.). Zudem wurden Gleichstellungsrechte in allen supranationalen Rechtstexten, wie im EU-Recht, institutionalisiert2 . Bisher gilt »CEDAW« völkerrechtlich als Kerndokument für Frauenrechte. Der Vertragstext besteht insgesamt aus dreißig Artikeln und wird als »an international bill of rights of women« beschrieben, denn darin wird die Gleichberechtigung sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich konkretisiert und auf internationaler Ebene kodifiziert (Meyer & Rowan 1977, 340–363). Fast alle Nationalstaaten in der Weltgesellschaft konnten den Vertrag unterschreiben und ratifizieren, ungeachtet ihrer Entwicklungspfade und rechtskulturellen Traditionen (Art. 15). Bis da-

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Ein empirischer Beleg dafür, dass die supranationalen Gleichberechtigungsnormen in der EU-Gültigkeit besitzen, ist der Fall einer Frau, die sich im Jahr 1996 für den Dienst bei der Bundeswehr bewarb. Ihre Bewerbung wurde mit der Begründung abgelehnt, dass Frauen nach dem Gesetz keinen Dienst mit der Waffe leisten dürften. Daraufhin wurde ihr Fall dem europäischen Gerichtshof vorgelegt und sie gewann den Prozess. Zudem verlangte der europäische Gerichtshof, dass die Bundesrepublik die Verfassungsbestimmungen ändert, die Frauen den Zugang zum Beruf aufgrund ihres sozialen Geschlechts verbieten (Wobbe 2001, 332f.).

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Teil A – Theorie

to haben insgesamt 186 von 192 UN- Mitgliedstaaten ratifiziert. Mit der tatsächlichen Ratifizierung verpflichten sich die Vertragsstaaten dazu, nationale Gesetze zu erlassen, um Ungleichheiten im sozialen Geschlechterverhältnis aufzufangen, und somit die Chancengleichheit voranzutreiben (Art. 3). Aus der Sicht der neoinstitutionalistischen Weltgesellschaftstheorie lässt sich folgern, dass Frauenrechte ein Kernbestand der »modernen Weltkultur« geworden sind (Meyer 2005; Ramirez 2001). Sie werden in nationalstaatlichen, positiven Rechtssystemen institutionalisiert und sind daher eng mit der Integration des modernen Nationalstaates im weltpolitischen System verbunden. Zudem werden sie durch global operierende Organisationen verbreitet, die nach dem zweiten Weltkrieg – wie dargelegt – eine zunehmende Bedeutung bekamen. Da die Nationalstaaten Meyer und Ramirez zufolge die egalitären Prinzipien aus weltgesellschaftlichen Modellen ableiten und in nationalen Verfassungen institutionalisieren, bilden sich Strukturähnlichkeiten bzw. »Isomorphien« aus (ebd.), wie die globalen Konvergenztheorien postulieren. Die Konvergenz moderner Gesellschaften bleibt für Theorien, die von der Vielfalt der Moderne ausgehen und den Primat einer »einspurigen« sozialen Differenzierung konsequent ablehnen, jedoch fragwürdig. Laut Eisenstadt (2000) werden die im Abendland entwickelten Standards der globalen Moderne im lokalen Rahmen adaptiert und mit den gesellschaftlichen Rechtsordnungen, wie dem islamisch-malikitischen Recht und dem habituellen Gewohnheitsrecht, auf ganz verschiedene Art kombiniert. Gerade auf der regionalen Ebene im globalen Rechtskontext geht der Neoinstitutionalismus (ebenso wie auch verschiedene andere Weltgesellschaftstheorien) nicht konkret ein. Stattdessen wird die These aufgestellt, dass Entwicklungsländer und islamischberberische Rechtskulturen Formalstrukturen des positiven Rechts errichten, um gegenüber hegemonialen Kräften den Anschein der Rationalität zu erwecken und gegenüber der Weltöffentlichkeit Legitimität zu gewinnen (Meyer & Boyle 2005). Die soziologische Übersetzbarkeit und die damit operativ gekoppelte Adaption und Transformation der gesellschaftlichen Rechtsordnungen wurden sowohl in der neoinstitutionalistischen als auch in der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie schlichtweg bis heute nicht erforscht. Denn beide Gesellschaftstheorien fokussieren lediglich eine jeweilige Teilordnung des Rechts und blenden seine multiple Differenzierung komplett aus (siehe hierzu v.a. die Kritik von Nell 2020 und Renn u.a. 2006, insbesondere 68–93). In der vorliegenden Dissertation wird das multipel differenzierte Familienrecht in Marokko untersucht. Die Interdependenzen zwischen dem positiven Familienrecht, das im Jahr 2004 reformiert wurde, und den gesellschaftlichen Rechtsordnungen sind ohne die Anwendung einer multipel differenzierten Weltgesellschaftheorie, die das

1. Einleitung

Regionale mit dem Supranationalen und Globalen verbindet, nicht zu verstehen3 . Diese makrotheoretischen Prämissen und damit verwobenen Kommunikationen und Handlungen des Familienrechts werden als Implikationen der »Übersetzung« begriffen, »die über deren symbolische Grenzen – und ohne Auflösung der Differenz – makrohermeneutisch durch eine Gesellschaftsanalyse« zu interpretieren sind (Renn 1997; 2002; 2006; 2013; 2014; 2016; 2018). In diesem Sinne wird die Gliederung der vorliegenden Arbeit präsentiert. Im ersten Teil der Dissertation werden zunächst Grundbegriffe der soziologischen Rechtstheorie von Dürkheim, Weber, Habermas, Luhmann und Bourdieu, die der Rechtssoziologie eine zentrale Stellung in der Gesellschaftstheorie zuweisen, kritisch beleuchtet. Eine analytische Gemeinsamkeit dieser klassischen Gesellschaftstheorien – trotz ihrer theoretischen Differenzen – besteht in der eindimensionalen Auffassung des Rechts als sozialstrukturelle, positive Abfolge des nichtmodernen habituellen Gewohnheitsrechts und des traditionellen religiösen Rechts. Diese Klassiker der Soziologie unterscheiden explizit in der Reihenfolge und im Verlauf der sozialen Evolution genealogische Stufen der Gesellschaftsdifferenzierung und Rechtsentwicklung. Jede evolutionär in Führung gehende Rechtsebene charakterisiert einen sozialstrukturellen Zusammenbruch der systemischen und sozialintegrativen Mechanismen, während in der vorliegenden Arbeit keine evolutionäre Aufeinanderfolge der Rechtsentwicklung vertreten wird, sondern von einem pragmatistischen, multipel differenzierten Rechtsbegriff in kritischer Anlehnung an die »Übersetzungstheorie« (Renn 2006) ausgegangen wird. Diese sozialstrukturell multiple Differenzierung, des positiven Rechts, religiösen bzw. islamischen Rechts und habituellen Gewohnheitsrechts, bildet differente horizontale und vertikale Übersetzungsformen. Hierfür wird im zweiten Kapitel die multipel differenzierte Weltgesellschaftstheorie von Renn für die Analyse vorangestellt, die Grenzen zwischen Teilen der multiplen Differenzierung, v.a. zwischen Funktionssystemen, Organisationen, Milieus und Personen überschreitet, ohne die symbolischen Grenzziehungen zwischen diesen handlungstheoretischen und kommunikativen Integrationseinheiten aufzulösen (ebd.: 2006, 17). Dieser Vorgang muss analytisch vorbereitet und u.a. durch eine sozialstrukturelle Umstellung der Grundbegrifflichkeiten von der postulierten »primären segmentären Differenzierung« zu den nichtlokalen postkolonialen Milieus im Maghreb erfolgt werden. Denn

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Anders als Luhmann und Meyer, die Teilordnungen der Weltgesellschaft thematisieren und andere ausblenden, findet sich bei Bourdieu und Habermas keine Theorie der Welt-Gesellschaft. Beide sprechen nur von supranationalen Ordnungen wie die vereinigten Nationen oder die europäische Union. Siehe etwa. Habermas, J. (1998). Jenseits des Nationalstaates? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung. In.: Beck, U. Politik der Globalisierung. Bourdieu, P. (20004). Gegenfeuer. Konstanz.

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Teil A – Theorie

soziologische Grundbegriffe reduzieren nicht nur die Weltkomplexität, sondern sie bilden überdies wissenschaftliche Werkzeuge, mit denen wir auf der Übersetzung zweiter Ordnung in empirisch-qualitativen Horizonten eindringen und die multiplen Rechtsphänomene bis zu den kleinsten Bausteinen des Sozialen rekonstruieren. Danach werden die operativ gekoppelten und multipel differenzierten Integrationseinheiten Politik, Religion und Zivilgesellschaft in dieser Region der multipel differenzierten Weltgesellschaft analysiert. Es wird dargestellt, dass erstens das spätmoderne politische Funktionssystem sich durch eine vernetzte Komplexität auszeichnet und gleichzeitig mit zwei – funktionalen und handlungstheoretischen – Sprachen kommuniziert, die in die multiplen Rechtsverhältnisse doppelt übersetz und rückübersetz werden. Hierfür muss die politische Organisationsform Regierung/Opposition immer in ihre Funktionen sowie Entscheidungen mit der Monarchie und ihrer politischen Berater rückgekoppelt werden. In diesem internen Zusammenhang wirkt zweitens die Einheit Regierung/Opposition wie eine strukturelle Maske der gleichzeitigen Multiübersetzungen zwischen dem hochabstrakten politischen Funktionssystem und dem postkolonialen multipel differenzierten Familienrecht. Diese Übersetzungsverhältnisse bilden lediglich Teilbereiche der Gesellschaftsstruktur. Ein weiteres komplexes Segment konstituieren das multipel differenzierte Familienrecht und das System des Religiösen, das in Regionen der Weltgesellschaft qualitativ variiert. In dieser spezifischen regionalen Differenzierung ist die symbolische Sinn-Welt zwischen dem Profanen und Sakralen nicht durch einen revolutionären Umsturz »entzaubert« worden (Luhmann 2000; Weber 2010; hierzu auch Taylor 2013, 58). Die Scharia vereinigt hingegen ein Mehr-Ebenen-System, das sich in »Religion, Recht und Moral« (An-Na˙im 2011, 238, zitiert nach Kirchhof 2018, 145; sowie u.a. Schacht 1935, 216) lokalisieren lässt und in andere normative Rechtsordnungen, wie das habituelle Gewohnheitsrecht oder das positive Familienrecht, vertikal durch Rechtkniffe übersetzt wird. Einen weiteren zentralen Punkt bilden die komplexen Übersetzungen zwischen dem multipel differenzierten Familienrecht und der Zivilgesellschaft. Die Grundidee hierfür beinhaltet eine Rechtsübersetzung zweiter Ordnung mit der pluralistischen Öffentlichkeit einer »performativen Kultur« (Renn 2016) und nicht nur die Reduzierung der Übersetzung auf einer »deliberativen Öffentlichkeit« mit einem »positiven Recht« (Habermas 1992, 399–435). Denn Habermas reduziert in der sozialstrukturellen Entwicklung nicht nur »das multipel differenzierte Recht« (Nell 2020) lediglich auf das positive Recht, sondern er schränkt zudem die deliberative Öffentlichkeit partiell auf westeuropäische positive Rechtsverhältnisse ein. Theoriepragmatisch fügt er den nichtlinearen westlich-dominanten Systemgrenzen keine weiteren Handlungsrationalitäten, wie die monarchische Öffentlichkeit (z.B. Holland, Spanien, Großbritannien), die er im Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990) lediglich als eine kontingent-vergangene, historisch-epistemologische Abfolge und Vergleichsgröße heranzieht. Diese The-

1. Einleitung

sen werden anhand von drei konkurrierenden Idealtypen ergänzt und analysiert, nämlich einer religiösen, einer monarchischen und einer kritischen Öffentlichkeit, die mit der Zwei-Seiten-Form des Politischen vertikal verbunden sind und differente zivilgesellschaftliche »pragmatisch-diskursive« (Renn 2016) Praktiken anwenden, um vehement das positive Familienrecht auf der Übersetzung zweiter Ordnung gegen das islamisch-malikitische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht durchzusetzen. Daraufhin wird die gesellschaftsstrukturelle Entwicklung bzw. Transformation der differenzierten Rechtsordnungen ausführlich behandelt. Systematisch wird hier zwischen einem vorkolonialen, einem kolonialen und einem postkolonialen multipel differenzierten Recht unterschieden, das im weltgesellschaftlichen Strukturverlauf seine Komplexität und Übersetzungskraft steigert. Danach werden horizontale und vertikale Übersetzungen analysiert, die durch drei nichtlokale »Kaskaden« (Renn 2006) ablaufen und ihrerseits der multipel differenzierten Weltgesellschaft unterliegen. Es werden soziale Übersetzungen erster, zweiter und dritter Ordnung eingeführt, die keineswegs statisch sind, sondern eine »Dezentrierung« des positiven staatlichen Rechts bewirken, ohne es jedoch zu »dekonstruieren« (Derrida 2006). Dabei müssen die gesellschaftlichen Rechtsordnungen immer das Moment der kategorialen Differenz beibehalten, auch wenn sie Rechtskniffe anwenden, um nicht ein »interkulturelles Kollisionsrecht«4 zu erwirken. Die Rechtskniffe erlauben es, dass die normativen Rechtordnungen mittels Grenzüberschreitung über systemische Kaskaden hinweg das positive staatliche Recht taktieren, ohne – wie bereits angemerkt – die Differenz aufzulösen. Auf dieser Übersetzungsebene muss die Zeitlichkeit des multipel differenzierten Familienrechts neu gedacht werden. Denn die intersubjektive Zeit, die die phänomenologische Ansicht der Zeitlichkeit des Bewusstseins aufhebt (Renn 1997), ist mit der systemischen Zeit und Rechtskommunikation mit Rechtshandlung wechselseitig operativ verbunden. Im dritten und letzten vertikalen Übersetzungsverhältnis erscheinen die gesellschaftlichen Rechtsordnungen mittels indigener Dynamik (die ausführlich im makroanalytischen Teil analysiert wird) komplexer aus dem systemimmanenten Verfahren des positiven Familienrechts. Im zweiten Teil der Dissertation wird die Methodologie analysiert. Grundelemente hierfür bilden die Interaktions-, Milieu- und Organisationshorizonte als Gesellschaftsanalyse, die der multiplen Differenzierung der Weltgesellschaft zugrunde liegen. Mit Interaktions- und Milieuhorizonten sind die pragmatistischen intersubjektiven Handlungen gemeint, die in organisations- und kommunikationstheoretischen Integrationseinheiten transzendieren. Die Interaktionshorizonte 4

S.o. Teubner 2012, 242ff.; 1987 und Teubner & Fischer-Lescano 2006. Aus einer ebenfalls systemtheoretischen, aber anderen Perspektive siehe u.a. Neves 2003.

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Teil A – Theorie

lassen sich auch mit der phänomenologischen »Horizontstruktur der Erfahrung bzw. demjenigen, was Edmund Husserl den »inneren Horizont« (Gurwitsch 1971, XVIII) nennt, verbinden5 . Dadurch werden wertvolle multiple Sinndeutungen und Interpretationszusammenhänge der Makrosoziologischen Gesellschaftsanalyse betrachtet; vor allem die systematischen »Wechselwirkungen« (Simmel 2013) zwischen den »gesellschaftstheoretischen Integrationseinheiten« (Renn 2006, 397–449). Erkenntnistheoretisch kann somit die empirische Feldforschung, die qualitative Rechtforschung miteingeschlossen, nicht nur die habituelle inkorporierte Praxis und die relationale Interaktion des expliziten Untersuchungsfalls interpretieren oder nur an Makrosysteme und Organisationen in der »funktional differenzierten Weltgesellschaft« (Luhmann 1995, 63–88; 1999 Band I, 145–170) gekoppelt sein. Sie muss auch die strukturellen Verhältnisse der abstrakten Großeinheiten – einschließlich der Gesellschaft als eigener Systemebene – und die empirischen Modellierungen stets in interaktiven, multipel differenzierten Relationen korrelieren. Hier muss eine qualitative Spurensuche ansetzen, die sich von einer »Spurensuche der Dekonstruktionstheorie« (Derrida 1999, 48–53) unterscheidet. Der Spurenbegriff ist im wissenschaftlichen pragmatischen Diskurs oft mit der praktischen Philosophie Derridas verbunden, dessen poststrukturalistisches Vorgehen u.a. Foucault in »Réponse à Derrida« kritisiert, indem die (pragmatistischen) diskursiven Praktiken zu Gunsten einer notwendigen semiotischen Textualität bzw. Semantik vorausgesetzt werden (siehe hierzu Renn 2014; auch Schauer 2006, 60). Dementsprechend führt in der qualitativen Weltgesellschaftsanalyse der Spurenbegriff als »Methodik und Orientierungstechnik« (Krämer 2016) neue makrosoziologische und paradigmatische Schattenbewegungen aus, um durch die ansteigende Abstraktion und Komplexität mit Hilfe des relevanten Grundbegriffs des »latenten Sinns« (Renn 2013; 2018) den verborgenen Umweg der Theoriebildung zu signalisieren. In einer pragmatistischen Übersetzungstheorie ist das Latente im Manifesten verborgen. Der latente Sinn wird als ein Ensemble von hermeneutisch tiefsitzenden Mikro- und Makrobedeutungsstrukturen sprachlicher Bedeutungen beschrieben, die symbolisch wie ein Spurenschatten im Hintergrund jener Bedeutung laufen und in denen sinnhafte kommunikative Handlungsweltbezüge und systemische Imperative wiederkehren. Um eine qualitative Spurensuche nach latenten Sinneinheiten zu ermöglichen, muss zunächst eine präzise Gruppierung und Charakterisierung der gebildeten Einzelfälle zur »Typenbildung« erfolgen (Weber 2010; 2016; Geffers 2008, 362; Kelle & Kluge 2010). Dies wird anhand eines nichtlokalen ländlichen Interaktionsmilieus im Mittleren Atlas und in der Stadt Fes, die von der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) im Jahr 1981 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, operationalisiert. Paradigmatisch handelte es sich bei den beiden Feldzugängen nicht um einen ersten Sozialkontakt mit den Einheimischen. 5

Zur Übersetzung von Pragmatismus und Phänomenologie siehe auch Renn 2012.

1. Einleitung

In der praktischen Form der Übersetzung verliefen die reflexiven Feldzugänge ohne eine »hegemoniale« (Gramsci) asymmetrische Berührung, was jedoch in einigen orientalistischen, ethnologischen und sozialanthropologischen Studien aufgrund der kolonialen Geschichte und funktionalen Differenzierungsgrade – die noch zu klären sind – der multipel differenzierten Weltgesellschaft begründet wird. Die ersten Spuren führten zu einer Person nach Frankreich, die vor Jahren durch Umwege aus dem Atlasgebiet nach Paris immigrierte. Durch sie konnten die grundsätzliche Anschlussfähigkeit im Dorf Ait Lahssan neben der Kleinstadt Khmissat im Zentrum des Landes ermittelt und anschließend einige Mitglieder der Gmaa sowie eine alte Frau und ein Jugendlicher interviewt werden6 . Der zweite Feldzugang in der Stadt Fes wurde durch ein Schneeballsystem (oder Pyramidensystem) gefiltert und erschlossen. Es wurden Rechtsanwälte, Personen, die in zivilgesellschaftliche Organisationen tätig sind, und Professoren im akademischen Bereich latent befragt. Nach der Erhebung der empirischen Daten aus erster Hand auf Arabisch folgte eine selbstdurchgeführte sprachliche Übersetzung ins Deutsche, da die Zielgruppen interaktiv in der arabisch-marokkanischen oder berberischen Sprache kommunizierten, die in eingespielten Habitus Formationen inkorporiert waren. Hier wird sichtbar, dass Übersetzbarkeit im Modus einer Linearität der Bedeutungsübertragung zwischen (fern verwandten) Sprachen nicht möglich ist und eine soziale Übersetzung sich lediglich in einem »kreativen« (Joas 1992, 290–305) nichtlinearen Prozess vollziehen kann. Nach der sprachlichen Übersetzung der durchgeführten Interviews ins Deutsche werden drei makrohermeneutische Interviews ausgewertet. Anders als die kritisch analysierten fünf Klassiker der Rechtssoziologie (s. den ersten Teil der Dissertation) 6

Eine Gmaa wird zunächst strukturell durch fünf bis zehn alte Männer gebildet, die im Argumentieren geübt sind und einen guten Ruf haben bzw. »charismatisch« (Weber) sind. Sie stellen eine Form »hegemonialer Männlichkeiten« dar (Connell 1999). Die Frauen nehmen ebenso am Geschehen teil, aber sie hören lediglich zu und übernehmen eine passive Rolle. Früher – in der vorkolonialen Zeit – ähnelte die Gmaa einem tribalen Senat und war politisch und wirtschaftlich für die Gemeinschaft zuständig und von dem zentralen Nationalstaat unabhängig. Heute – in der postkolonialen Phase – ist sie zu einem informellen Segment des politischen Systems geworden. Die Angehörigen der Gmaa müssen sich nicht an einem lokalen Ort – wie etwa in Ait Lahssan – versammeln, um miteinander zu kommunizieren. Die Gmaa versucht zunächst Konflikte zu versöhnen und Heiratsangelegenheiten etc. zu organisieren, ohne die örtlichen Repräsentanten der zentralen Staatsmacht oder die positive Gerichtbarkeit einzubeziehen. Wenn ein Gmaa-Mietglied etwas darlegt, hört sich sein Redestil wie der eines Gerichtsvorsitzenden an und die Anwesenden müssen zuhören. Er beginnt mit dem Wort Gottes, verdammt den Satan, belehrt die Konfliktparteien über die Konsequenzen ihres Handelns und fordert sie explizit auf, Schande für sie und die Gemeinschaft zu vermeiden und die Verantwortung zu übernehmen. Danach wird im habituellen Gewohnheitsrecht der Rechtsfall verhandelt.

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wird in der theoriebegründeten empirischen Gesellschaftsanalyse u.a. sichtbar, dass makrohermeneutisch erstens eine sozialstrukturelle Gleichzeitigkeit und keineswegs ein evolutionäres Aufeinanderfolgen der staatlichen und gesellschaftlichen Rechtsordnungen beobachtbar ist. Sie bilden nicht nur eine Triade bzw. »drei Achsen der Differenzierung im Rechtspluralismus« (Nell 2020, 292ff.), sondern sie bringen aus pragmatistischer Sicht durch »Bedeutungsbrüche« (Renn 2006) und Rechtskniffe auch eine Rechtsübersetzung multipler Ordnung hervor. Zweitens wird diese sozialstrukturelle Gleichzeitigkeit oder Retraditionalisierung der lokalen »Lebensformen« (Wittgenstein) in Bezugnahme auf das staatliche Recht und die widersprüchliche Einbettung in die moderne Gesellschaftsstruktur als »desperate Vergemeinschaftung« (Renn 2014b) gedeutet. Daran anschließend wird drittens erkennbar, dass sowohl im islamischen Recht als auch im habituellen Gewohnheitsrecht Änderungen an habituellen Gendernormen des neuen Familienrechts lediglich durch Rechtskniffe bewirkt werden können, und dass eine Rechtshandlung (wie die Verheiratung von Minderjährigen oder die Mehrehe) durch pragmatisches Handeln zwei Dinge zugleich ist. Sie kann in zwei normative Ordnungen und Organisationsformen funktionaler und kultureller Differenzierung (Orientierung an binärer Codierung sowie habituelles, implizites Rechtswissen) auf der Übersetzung dritter Ordnung integriert werden. Hier werden auf der Handlungsebene strategische Aneignungen von Rechtsbedeutungen und Sprachspielen durch pragmatische Rechtskniffe vollzogen, die über die symbolischen Grenzen von Differenzierungsformen und performativen Praktiken hinweg als »vertikale Übersetzung« (Renn 2014) deutlich werden. Im abschließenden Kapitel werden die makrohermeneutisch begründeten Übersetzungen des multipel differenzierten Familienrechts in einer multiplen differenzierten Weltgesellschaft präsentiert.

2. Forschungsstand

Die multiple Differenzierung des marokkanischen Familienrechts und die sozialen Übersetzungen zwischen dem positiven Recht und den gesellschaftlichen Rechtsordnungen, dem habituellen Gewohnheitsrecht und dem islamisch-malikitischen Recht, wurden bislang noch nicht erforscht. Zwar wurden im Jahr 2004 – und danach – unzählige empirische und theoretische Studien des positiven Familienrechts und seiner Modernisierung durchgeführt, aber eine multiple theoriegeleitete makroanalytische Erforschung des multipel differenzierten Familienrechts fand noch nicht statt. Überdies existiert kaum eine wissenschaftliche Studie, ob in der Ethnologie, Sozialanthropologie, der Rechts- oder der Geschichtswissenschaft, die in einem unilinearen sozialstrukturellen Prozess (mit großem Atem) von der vorkolonialen über die koloniale bis zu der postkolonialen Epoche minutiös die multikomplexen Entwicklungen des multiplen Familienrechts in kritischer Anlehnung an die pragmatistische Übersetzungstheorie von Renn analysiert (später mehr hierzu). Der Forschungstand kann analytisch in zwei wissenschaftliche, disparate Dimensionen aufgeteilt werden. Die erste impliziert eine primäre Trennung – nicht Unterscheidung – zwischen dem sog. segmentären habituellen Gewohnheitsrecht und dem islamischen stratifikatorischen Recht. Diese Forschungsrichtung ist im kolonialen Kontext entstanden, während ihr die zweite Forschungstradition mit einem Rechtspluralismus entgegensteht. In diesem Sinne schreibt El Qadéry (2007, 4): »Aujourd’hui, la connaissance de l’histoire du Maroc et des institutions qui s’y sont succédé, avant la conquête coloniale, demeure dominée par l’héritage de la tradition savante née dans le contexte colonial. La science coloniale avait grosso modo divisé les indigènes entre l’orientalisme des études arabo-islamiques et l’ethnologie des Berbères ». Laut Qadéry haben der Orientalismus, die arabisch-islamischen Studien und die Ethnologie die marokkanische Sozialstruktur in zwei primäre Differenzierungsformen geteilt: Eine primär segmentierte in den sog. Stämmen und eine stratifikato-

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rische in den Städten (vgl. auch Mahé 1998, 52)1 ; von einer multiplen Differenzierung – und nicht einmal von einer funktionalen Ausdifferenzierung der Weltgesellschaft – war nicht die Rede. Gerade die Forschungsmethoden dieser Zeitphase wurden ebenso von Bourdieu (2003, 84) folgendermaßen kritisiert: »À la fin des années cinquante et au début des années soixante, tout ce qui se rapportait àl’étude de l’Afrique du Nord était dominé par une tradition d’orientalisme. La science sociologiques était alors hiérarchisée, la sociologie proprement dite étant réservée à l’étude des peuples européens et américains, l’ethnologie aux peuples dits primitifs, et l’orientalisme aux peuples de langues et religions universelles non européens. Inutile de dire combien cette classification était arbitraire et absurde. Toujours est-il que, portant sur la société kabyle, mes travaux se rouvaient dans une position assez bizarre. en quelque sorte à cheval entre l’orientalisme et l’ethnologie «. In der postkolonialen Phase wurde die Soziologie in Marokko mit der Gründung des »Instituts für Soziologie« im Jahr 1960 etabliert (Rachik 2012). Die Dekolonisierung der kolonialen Forschungsapparate war »presque un mot d’ordre« (ebd.: 2). Neben der französischsprachigen Forschungstradition geriet Marokko in dieser Phase vermehrt ins Blickfeld der angelsächsischen Forschung (Hamès 1973, 172). Dieses Paradigma (Kuhn) interessierte sich primär für die islamische Religion als normative Ordnung im tribalen Kontext (u.a. Favret-Saada 1966). Zu diesem Zweck wurden unterschiedliche Konzepte herangezogen, wie die Theorie der segmentären Differenzierung, die interpretative Anthropologie oder die Hermeneutik (vgl. Gellner 1969; Waterbury 1970; Hart 1967). Das multipel differenzierte Familienrecht wurde in besonderer Weise in habituellen Vorstellungen kultureller Authentizität und entkoppelt von den Bestimmungen des Rechtskolonialismus und von den postkolonialen Prozessen betrachtet, als wäre das Normensystem völlig in sich geschlossen und vom Staatsbildungsprozess in einer multipel differenzierten Weltgesellschaft exkludiert. Eine der wichtigsten Publikationen in diesem internen Zusammenhang stellt die Dissertation von Gellner »Saints of the Atlas« (1969) dar. In kritischer Anlehnung an die Theorie segmentärer Differenzierung vers. funktionaler Differenzierung von Durkheim untersucht Gellner einen sog. ›Stamm‹ im marokkanischen Hochatlas, ohne eine geschlechtliche Differenzierung auf der handlungs1

Die starre Gegenüberstellung von Arabern und Berbern und die strukturelle Aufteilung der maghrebinischen Sozialstruktur sind überdies in der Forschungsliteratur zum benachbarten Land Algerien zu finden. Dort heißt die Unterscheidung »Bled el Turk – Bled el Baroud«. Zur Kritik siehe etwa Charles Robert Ageron (1968). »Le mythe kabyle« und »la politique kabyle« (1871–1891). Kapitel X. In: Les Algériens musulmans et la France. Paris. S. 267-292. Ferner Kamel Chachoua (2002), L’Islam kabyle. Religion, État et société en Algérie. Paris. Siehe hierzu auch Mahé, A. (1998). Violence et médiation. Théorie de la segmentarité ou pratiques juridiques en Kabylie. In: Genèses. S. 51–65.

2. Forschungsstand

praktischen Ebene und mit kaum sozialstrukturellen Wandlungsprozessen in die Analyse einzubeziehen: »les dynamismes socio-historiques trouvent difficilement leur place dans une explication structurelle formelle« (Hamès 1973, 172). Grosso modo sind für Gellner die Berber der Idealtyp für segmentär egalitäre Gesellschaften, wie Hamès feststellt (ebd.: 174): »Pour Gellner, en effet, l’idéal type de la société segmentaire égalitäre est berbère«. Parallel dazu hat sich in der ersten postkolonialen Phase eine interdisziplinäre Forschungsrichtung herausgebildet, die eurozentristische, ethnologische, orientalische und lokale wissenschaftliche Diskurse in einer »double Critique« der ›sog. Eigenen und Fremden‹ artikulierte (Khatibi 1983; 1975 siehe hierzu u.a. Sabih 2017). Sie fokussierte nicht – wie die vorherige Forschungstradition – die Gegenüberstellung der positiven und gesellschaftlichen Rechtsordnungen, sondern sie analysierte ihre Integration im lokalen Rechtspluralismus. Hierzu sind u.a. die Arbeiten von Paul Pascon, Négib Bouderbala (1970) und Jaques Berques (2001) zu nennen. Über die angelsächsische Forschungstradition schreibt Pascon etwas später (1979, 106), dass die angelsächsischen Diskurse die kulturelle Evolution des marokkanischen Rechts kaum zur Kenntnis nahmen und in Verbindung mit anderen Formen sozialer Differenzierung behandelten. In einem früheren und bis heute viel beachteten Artikel erschließt Pascon zusammen mit Bouderbala (1970) einen analytischen Zugang zum Recht als historisches Kontingent und vielschichtiges Gebilde. Beide Autoren heben hervor, dass das marokkanische Rechtssystem weit davon entfernt ist, eine juridische Einheit mit einer immanenten Logik zu sein. Für beide Autoren bildet das positive Recht ein komplexes und heterogenes System, dessen kulturelle Praxis nach den jeweiligen Gegebenheiten und sozialen Orten variiert. Vor allem weisen Pascon und Bouderbala auf den Pluralismus normativer Rechtsordnungen hin: Die eine normative Ordnung manifestiert sich im islamischen Recht malikitischer Ausprägung; die andere okzidentale Rechtsordnung wurde im Zuge des Kolonialismus von außen oktroyiert; die dritte und letzte Kategorie der Rechtsnormen geht aus dem habituellen ›Stammesrecht‹ hervor (vgl. Tozi & Mahdi 1990; Messaoudi 1995, 147). In diesem Ansatz werden die Berber weiterhin mit dem relativ starren Begriff »der segmentären Differenzierung« konfrontiert, der im Folgenden von dem Begriff »postkolonialer Milieus« abgelöst wird. Ebenso geht Jaques Berques in seinem Hauptwerk von einer segmentären Differenzierung und einem lokalen Rechtspluralismus aus, ohne seine Übersetzungen mit dem globalen Rechtspluralismus zu analysieren. In einem frühen Aufsatz mit dem Titel »Problèlemes initiaux de la sociologie juridique en Afrique du Nord«, den er zum ersten Mal in der Zeitschrift »Studia Islamica« im Jahr 1953 veröffentlichte, identifiziert er vier Elemente, die den Rechtspluralismus im Maghreb bilden: »arabische Gewohnheit, berberische Rechtsordnungen, städtische Jurisprudenz und Eigeninitiative der lokalen habituellen Gerichte« (2001, 468 [1953]. Eigene Übersetzung). Laut Berques kann man diese ausdifferenzierten Rechtsdimensionen interpretieren, wenn man sie

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theoretisch unterscheidet, um sie danach hermeneutisch zusammenzufügen. Dabei sollte sich der Rechtssoziologie an einer notwendigen Vorgehensweise orientieren, nämlich einer »Phänomenologie der Unterscheidungen und Ähnlichkeiten« (ebd.: 469. Eigene Übersetzung). Neben dem positiven Recht fasst Berques die gesellschaftlichen Rechtsordnungen zusammen, die zum einen in berberischen Rechtskulturen gelten, in denen die oratorische Logik und die mündliche Tradition die Hauptrolle spielen und sowohl in Rechtsprozessen als auch in Re-Interpretationen münden (ebd.: 470. Eigene Übersetzung). Er erwähnt jedoch nicht, dass in Rechtsprozessen das habituelle Gewohnheitsrecht mit dem positiven Familienrecht auf der zweiten Ordnungsebene übersetzt werden muss und somit kodifiziert wird. Zum anderen manifestiert sich der Rechtspluralismus – laut Berques – in einer religiösen Rechtsordnung, die durch die Ethik dominiert ist und in jedem Rechtsfall moralische Problematiken der Rechtstechnik und der öffentlichen Ordnung hervorbringt (ebd.: 475. Eigene Übersetzung). In diesem Zusammenhang verdient speziell die erste postkoloniale Rechtsforschung Interesse, da sie die diskontinuierliche Rechtsentwicklung methodologisch nicht durch sozialstrukturelle und semantische Stufen evolutionär aufteilt, als gäbe es neben dem positiven Recht in der Spätmoderne keine heiligen Orte und keine gesellschaftlichen Rechtsordnungen mehr. Die zweite postkoloniale Forschungsphase erstreckte sich von den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis zur Bekanntgabe des neuen Familienrechts im Jahr 2004. Sie erweitert die dekolonisierte Forschungslage auf die internationale Ordnungsebene, wie z.B. auf die Weltbank oder auf das internationale Familienrecht und ihre strukturellen Verbindungen zur Reform des positiven Familienrechts in Marokko, ohne jedoch die nationalstaatliche Souveränität aufzulösen2 . In diesem Zusammenhang schreibt Papi (2004): »Depuis plusieurs années, les pays du Maghreb ont intégré, à des degrés divers et avec plus ou moins de réussite, dans leurs droits des affaires les principes économiques néo-libéraux préconisés par le Fond monétaire international et la Banque mondiale. De même, le partenariat euro-méditerranéen oblige les États associés à une » mise à niveau » juridique de leur législation. Même si le libéralisme économique ne semble pas contredire une improbable théorie économique islamique, cette théorie est bien d’essence occidentale. Cette occidentalisation juridique ou, plutôt cette mondialisation juridique menée par l’Occident a laissé subsister des poches identitaires ». Neben dieser globalen Dimension kommt in dieser zweiten Phase insbesondere den gesellschaftlichen Rechtsordnungen eine symbolische Bedeutung zu. Denn das is2

Dies steht im Gegensatz zu der Behauptung Habermas (1992, 535), dass mit der Entstehung einer modernen Weltordnung die nationalstaatliche Souveränität aufgelöst wird.

2. Forschungsstand

lamische Familienrecht und das habituelle Gewohnheitsrecht wurden eng mit dem jeweiligen Verständnis der Privatinstitution »Familie« als ein Hauptfeld für die Wahrung der nationalen Identität verbunden, da durch die Kolonialisierung beide gesellschaftliche Rechtsordnungen ihre universelle Geltung verloren haben. Mit Ausnahme von Fragen des Gottesdienstes und einiger religiöser Institutionen wie Houbous, Bodenrecht, hatten das islamische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht nur noch im Bereich des Familienrechts Geltung. Diese Rechtserkenntnis taucht in dieser Entwicklungsphase in Bezug auf das islamische Recht bei Jean Deprez auf. Er stellt fest, dass: »Le droit familial n est pas au Maroc droit civil, il reste même un des derniers bastions d un droit musulman dont le domaine positif n a cessé de rétrécir« (1981, 331). Die familiären Rechtsbestimmungen wurden in dieser postkolonialen Phase als eine letzte Hochburg, »un des dernières bastions«, des islamischen Rechts beschrieben. Dementsprechend verwundert es nicht, dass auf der Übersetzung zweiter Ordnung Rechtskniffe angewandt werden, um die praktische Durchsetzung des neuen positiven Familienrechts zu umgehen. Denn die Positivierung des Familienrechts bleibt nicht ohne strukturellen Einfluss auf die gesellschaftlichen Rechtsordnungen (später mehr hierzu). Überdies wurde – auch – in dieser zweiten postkolonialen Phase die Übersetzung zwischen dem islamischen Recht und dem habituellen Gewohnheitsrecht nicht erforscht, auch wenn das habituelle Gewohnheitsrecht in die staatliche Ordnung integriert wurde und die berberische Gesellschaft eine Reihe von immanenten Änderungen durchlebte, wie Boukous hervorhebt (1987, 65): »La société berbère est en pleine mutation. Ce n’est plus la société rurale traditionnelle décrite dans les monographies de l’ère coloniale. La monétarisation de l’économie y modifie qualitativement les rapports personnels, la pression démographique y favorise la désintégration des équilibres traditionnels, l’émigration y introduit de nouveaux modèles culturels et la pénétration de l’État y impose de nouvelles hiérarchies.« In jener Forschungsphase wurde neben der Erforschung eines statischen habituellen Gewohnheitsrechts und islamischen Familienrechts fast ausschließlich auf die erste Modernisierung des positiven Familienrechts im Auftrag von König Hassan II im Jahr 1994 hingewiesen, die zu keiner nennenswerten positiv-rechtlichen Neuerung führte. Denn für das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen im privaten Bereich waren weiterhin die Regelungen der Scharia (Messaoudi 1995, 149; Tellenbach 1994) und des habituellen Gewohnheitsrechts maßgeblich (El Guennouni 2010). Diese soziologische Beobachtung einer separaten Analyse von Teilordnungen des Rechtspluralismus wird ebenso in der dritten und letzten postkolonialen Forschungsphase festgestellt. Denn weder der Strukturwandel des Gewohnheitsrechts und die

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Entwicklung seiner Sozialorganisation von einer segmentären Differenzierung hin zu einem postkolonialen Milieu noch seine Interaktionsprozesse mit dem islamischen dynamischen Familienrecht – horizontale Übersetzung erster Ordnung – und mit dem positiven Recht – vertikale Übersetzung zweiter Ordnung – wurden analysiert. Diese Feststellung gilt ebenso für das islamische Familienrecht; in diesem internen Zusammenhang wurden lediglich seine Transformation in das positive Recht im Jahr 2004 und die religiös-gesellschaftlichen Reaktionen darauf erforscht. Hierzu wurde eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen und Abschlussarbeiten in verschiedenen Sprachen auf internationaler Ebene veröffentlicht. Sie fokussierten – teilweise mit Begeisterung – den Wandel des religiösen Familienrechts und brachten seine strukturelle Änderung mit dem internationalen Familienrecht zusammen (Stichwort: das internationale Abkommen CEDAW, das Marokko im Jahr 1993 unterzeichnete). So schreibt Dirèche-Slimani (2006, 5), dass das neue positive Familienrecht für das »patriarchalische System und die religiösen Institutionen« »les ondes de choc«, Wellen des Schocks, auslöste, da sie für Jahrhunderte die einzigen (?) legitimen Instanzen waren, ohne die immanenten Auswirkungen auf das habituelle Gewohnheitsrecht zu analysieren. Diese Beobachtung trifft zudem auf Harrak zu, indem lediglich die Reaktionen konservativer Bewegungen und islamisch-traditionelle Parteien, wie die Bewegung »Justice et Spiritualté«, behandelt wurden und sie das neue positive Familienrecht als »eine Manifestation des okzidentalen Einflusses auf die islamische Kultur denunzierten«. Sie betrachteten: »[…] the reforms as a pure product of Western influences which did not take into consideration the Islamic dimension of Moroccan identity« (2009, 5). Wieder andere brachten das neue positive Familienrecht in Verbindung mit der Schwäche des politischen Systems zusammen und sprachen gar von einem neuen »Imperialismus« (Ramírez 2006, 25). Eine weitere Forschungsrichtung in der interdisziplinären Literatur betrifft die Übersetzungen des multipel differenzierten Familienrechts mit den Integrationseinheiten, vor allem mit dem multipel differenzierten Politischen oder mit der Zivilgesellschaft. Hierzu muss erwähnt werden, dass die Forschungsliteratur kaum das multipel differenzierte Familienrecht mit operativen Kopplungen zu diesen multikomplexen Großeinheiten rekonstruierte. Trotzdem kann eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten herangezogen werden, die sich mit der Rolle der Zivilgesellschaft auseinandersetzt u.a. die empirische Untersuchung von Hegasy (1997). Als typischer Repräsentant der Zivilgesellschaft wird dort der assoziierte, kritische Aktivbürger verstanden, ein ziviler Akteur, der sich durch einen höheren Grad an politischem Wissen und politischem Engagement auszeichnet (ebd.: 16). Es wurden qualitative narrative Interviews mit den Aktivisten durchgeführt, die die subjektiven Kategorien sozialen Handelns in den Mittelpunkt stellten. In An-

2. Forschungsstand

lehnung an Schütz, Berger und Luckmann wird das Konzept einer gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit herangezogen. Es handelt sich um einen akteurszentrierten Ansatz, in dem das Individuum »die bestimmende Referenzeinheit« darstellt (ebd.: 31). Der Zusammenhang zwischen der Zivilgesellschaft und dem multipel differenzierten Familienrecht wird – wie oben dargelegt – nicht thematisiert. Denn Hegasy thematisiert zwar die Frauenbewegung, die Menschenrechtsorganisationen und ihren säkular-liberalen Hintergrund, aber lediglich als heterogene Formen der Interessenvertretung zur Schaffung von Öffentlichkeit (siehe auch M’Chichi 2010, 49f.). Die religiös-konservativen und sunnitisch-malikitischen Akteure werden kaum als Bestandteil einer ausdifferenzierten spätmodernen Öffentlichkeit betrachtet. In diesem Rahmen kann man überdies die empirische Studie von Tozi (2004) interpretieren, die aber kaum Bezüge zum multipel differenzierten Familienrecht herstellt. In seiner Untersuchung »Les association a vocation religieuse: proposition(s) de Lekture« (2004) stellt er eine Typologie vor, um islamisch geprägte Vereine und ihre soziale Praxis zu analysieren. Er unterscheidet zwischen fünf »Idealtypen« (Weber) islamisch geprägter Vereine (ebd.: 223): Islamische Vereine mit kulturellen und erzieherischen sozialen Aktivitäten in den Bereichen Kunst und Sport, die sie in Anlehnung an den Koran und Sunna des Propheten praktizieren, 2) Religiös-karitative Vereine (Stichwort: Wohltätigkeit), 3) Religiöse Vereine, die als ad hoc Assoziationen qualifiziert werden und v.a. in ländlichen Regionen strukturell verbreitet sind. Dieser Typus ist laut Tozi entstanden, um Koranschulen oder Moscheen zu gründen. 4) die religiösen Bruderschaften, die wichtigste davon sei die Organisation Büschichia, die in der Kolonialzeit im Jahr 1920 gegründet wurde (ebd.: 227). Anders als den traditionell ausgerichteten Bruderschaften (wie der naciriya oder Tijania in Fes), gelingt es dieser religiösen Bruderschaft, Intellektuelle und Akademiker aus der Mittelschicht und entsprechenden Milieus (wie Professoren, Ärzte, Beamter im höheren Dienst und Anwälte) zu vereinen. Schließlich thematisiert er Assoziationen des politischen Islam. In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen drei Assoziationen: Jama tabligh wa daawa, Al Jama ’a al islamiya (gegründet im Jahr 1982 von dem damaligen Ministerpräsident Benkkerian) und Al Adl wa Ilhsan, Justiz und Spiritualität, die von Abdesslam Yassin im Jahr 1973 gegründet wurde (Khallouk 2008). Man kann weitere Beispiele dieser Art nennen, wie die zivilgesellschaftliche Untersuchung von El Hachimi (2014), aber eine »operative Kopplung« (Renn 2006, 397–431) zwischen diesen spätmodernen liberalen und konservativen Öffentlichkeiten mit den gesellschaftlichen Rechtsordnungen und ihre Übersetzung mit dem positiven Familienrecht liegt noch nicht vor. In diesem Sinne lassen sich insgesamt drei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens erstrecken sich die wissenschaftlichen Untersuchungen des positiven Familienrechts

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kaum über einen langen Zeitraum (von der vorkolonialen zu der postkolonialen Phase) in Verbindung mit der Globalisierung des Familienrechts (vgl. Schröter 2011, 6). Die Erkenntnislage hierzu ist »sehr lückenhaft« (Dennerlein 2010, 522 Fn. 13). Zweitens fehlt es an Studien, die die Übersetzungen des habituellen Gewohnheitsrechts mit dem islamischen und dem positiven Recht untersuchen. Zum einen wurde das habituelle Gewohnheitsrecht mit der segmentären Differenzierung und primären mechanischen Solidarität Durkheimischer Prägung wiedergegeben, in dem die familiären Rechtspraktiken lediglich innerhalb einer symbolischen, vormodernen Sozialgrenze – wie die Struktur eines Stammes – praktiziert wurden. Die daran anschließenden Analysen konnten die Integration des Berbermilieus in den postkolonialen Nationalstaat nicht weiterdenken und qualitativ die Übersetzungen des habituellen Gewohnheitsrechts erforschen (u.a. Gélard 2008, 7. Boutaleb 2002, 11; Benmansour 2006, 2 oder Vatin 1982, 8f.). Dies gilt genauso für das islamische Recht, in dem der Strukturwandel des islamisch-malikitischen Rechts von der kolonialen in die postkoloniale Phase zwar untersucht wurde (hierzu u.a. Plantey 1951, S. 16; Elger 1993; Tozy 1999, 97–103; Mouaqit 2006, 15ff.), jedoch ohne seine Übersetzungen mit dem positiven Familienrecht zu thematisieren. Dies führt zwangsläufig zu der dritten und letzten Schlussfolgerung, dass keine theoriegeleiteten makrohermeneutischen Gsellschaftsanalysen des »multipel differenzierten« (Renn) Familienrechts vorliegen.

3. Soziologische Rechtsbegriffe

Trotz paradigmatischer und theoretischer Differenzen markieren viele Klassiker der Rechtssoziologie in ihren Makrotheorien sozialstrukturelle Entwicklungsstufen, in denen Diskontinuität und Fortschritt beschrieben werden1 . Sie deuten die Entwicklung des Rechts mit einem Sinnprozess an, der die Ablösung einer Rechtsordnung durch eine jeweilige Komplexe generalisiert und verallgemeinert wird.

3.1 Emile Durkheim Beispielsweise geht Emile Durkheim als Mitbegründer der akademisch institutionalisierten Soziologie in der sozialen Arbeitsteilung (1977) methodologisch von einem Zweistufenmodell aus, nämlich der segmentären und primären funktionalen Differenzierung. Nach Durkheim ist die segmentäre Differenzierung durch ein repressives Strafrecht charakterisiert, das als Recht der »primitiven Völker« beschrieben wird (Durkheim 1977, 8ff. und 179ff.). Die Regeln, die das Recht sanktioniert, drücken die wesentlichen Ähnlichkeiten aus und entsprechen der mechanischen Solidarität, die von den sozialstrukturellen Ähnlichkeiten herkommt. Die Sozialorganisation bleibt aus homogenen Segmenten gebildet, und laut Durkheim können Stämme wie die der algerischen Kabylen sie nicht überwinden (ebd. 217f.; Mahé 1998, 53; Valensi 1984, 233f.). Die Analyse Durkheims, dass die Kabylen am Ausgangspunkt der segmentären Differenzierung stehen, ist eine Missinterpretation der damaligen Verhältnisse, da ihr Rechtssystem nicht segmentär organisiert war, sondern eine Interaktion zwischen dem habituellen Gewohnheitsrecht, dem islamischen und dem staatlichen Recht bildete (Hannemann 2005; Roberts 2002). Unklar bleibt ebenso die »pragmatische Übersetzung« (Renn 2006) des habituellen Gewohnheitsrechts in den beiden Rechtordnungen, die bereits in Durkheims Zeit

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Mit klassisch ist nach Luhmann eine soziologische Theorie gemeint, die einen Ausgangszusammenhang produziert, der in dieser Prägung später nicht mehr möglich ist und als Problem fortbesteht (1977, 17).

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die Strukturen des Rechts mitgeformt haben. Der strukturelle Übergang zur funktionalen Differenzierung beruht im Okzident, so Durkheim, auf dem Bruch mit segmentärer Differenzierung. Daraus entsteht eine neue Größenordnung: Die Solidarität einer modernen Gesellschaft stellt sich, so Durkheim, von Gleichheit auf Ungleichheit um. Die Moral und das Recht haben sich ebenso qualitativ gewandelt und spezialisiert. Es hat sich, so Durkheim, eine »Moral der Freiheit« und ein kooperatives, modernes Recht entwickelt, in dem das Kollektivbewusstsein immer weniger repressiv ist und auf autoritative Repräsentanten für kollektiv bindende Entscheidungen abstellt (Luhmann 1977, 31). Somit lassen sich die Rechtsbegriffe und die Rechtsentwicklung bei Durkheim als Indikator für die sozialstrukturelle Veränderung der Integrationsformen und als eine Tendenz zum Rationalen deuten, die mit dem Wandel segmentärer Differenzierung hin zu funktionaler Differenzierung organisiert sind (Habermas 1995, 130; Gephart 1993, 368).

3.2 Max Weber Ähnlich geht Max Weber (2010) von dem zentralen Erklärungsversuch aus, dass historisch nur im Okzident eine rechtliche Rationalisierung stattgefunden hat, indem ein formales, logisch rationales und positives Recht entstanden ist. Nach Weber (2010) ist das rationale Recht ein »mehrdimensionaler Begriff « und unterscheidet zwei Operationen von »Rechtsfindung und Rechtsschöpfung«, nämlich »Generalisierung vs. Konkretisierung« und »Systematisierung vs. Analytik« (Gephart 1993, 517f.). Die innere Rationalisierung des Rechts im Sinne einer logischen Ordnung fand, so Weber, im Rahmen einer umwälzenden Rationalisierung aller Bereiche des menschlichen Lebens statt (Freund 1987, 10ff.). In diesem Sinne sind laut Max Weber sowohl die Moderne als auch die Ausdifferenzierung des rationalen Rechts in sachlichen Rechtsgebieten eine Entwicklung des Okzidents (Weber 1960, 87ff.). Diese okzidentale Sonderentwicklung begreift Weber als umfassenden Rationalisierungsprozess, der an die Stelle des Partikularismus traditioneller Gesellschaften rückt (Hermes 2016, 86). Denn in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus interpretiert Max Weber (2006) ausschließlich die Entwicklung des Okzidents als Säkularisierungsprozess, in dem sich das Recht von der Religion ausdifferenziert hat. In seinen rechtssoziologischen Untersuchungen (2010; 1960, 226ff.) deutet er den Begriff des islamischen Rechts als ein heiliges, material- irrationales und in diesem Sinne vormodernes Recht, das den Weg für die Säkularisierung versperre (siehe auch Gephart 1993, 529). Neben der hier fehlenden formalen Rationalität des islamischen Rechts ist auch die Undenkbarkeit einer »systematischen Rechtschöpfung« zur Eingebung der »inneren und äußeren Vereinheitlichung des Rechts« (Weber 1960, 229) zu bemängeln. Zudem nehmen in Webers Schriften das islamische Recht und die Kadi-Justiz keinen Bezug auf allgemeine Rechtsnormen und beruhen lediglich

3. Soziologische Rechtsbegriffe

auf dem vom Machthaber eingesetzten Schiedsrichter oder auf dem persönlichen Gefühl des Richters (Freund 1987, 32). Dabei ist vor allem anzumerken, dass Max Weber nur die Entstehung der frühislamischen Rechtsordnung behandelt hat, nicht jedoch deren Ausbreitung und Entwicklung (El Guennouni 2017, 199f.)2 . Zudem widmete er dem islamischen Recht verstreute Hinweise und eine Zusammenfassung, die aber mangels ungenügenden Zugangs zu Primärquellen und Sprachbarrieren über dessen System ungenügend ausfallen musste (Schacht 1935, 207; Eisenstadt 2005, 342)3 . Dementsprechend analysiert Max Weber genauso wie Emile Durkheim nicht die soziale Übersetzung zwischen dem islamischen Recht und dem Gewohnheitsrecht sowie dem staatlichen Recht, die auch bereits in Max Webers Zeit in der islamischen Welt existierte. Während Emile Durkheim und Max Weber zumindest das islamische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht arabisch-islamischer Gesellschaften zum Teil manifest gedeutet haben, sind beide Rechtsordnungen fast ausschließlich latent in den Rechtstheorien Jürgen Habermas und Niklas Luhmanns beschrieben4 . In diesem Zusammenhang wird der Rechtsbegriff als Theoriebegriff verwendet und ist metatheoretisch aufgebaut. Er besitzt eine Doppelstruktur und beinhaltet eine sozialstrukturelle und semantische Rechtstheorie sowie eine Theorie der epistemologischen Rechtsentwicklung und sozialen Evolution, die sich diskontinuierlich mit dem Weltgesellschaftssystem vollzieht. Als Theoriebegriff wird das Recht als ein Differenzierungsvorgang zweiter Ordnung konzipiert, in der Rationalität und Komplexität wachsen. Es hat sich zudem eine Konvention herauskristallisiert, sozialevolutionäre Paradigmen und Stufen des Rechts epistemologisch nacheinander zu unterscheiden und daraus neue Solidaritätsformen und gesellschaftliche Integrationsebenen abzuleiten5 . Denn die Ausdifferenzierung der Weltgesellschaft von der segmentären und stratifikatorischen hin zu der funktionalen Differenzierung 2 3

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Zu einer strukturellen Säkularisierung im Islam und der Ausdifferenzierung von Religion und Recht vgl. El Guennouni 2017. Eine weitere Schwäche der Islamanalyse Max Webers liegt laut Eisenstadt (2005, 355) in der mangelnden Untescheidung von Religion als »Kult- und Glaubenssystem« und als »Komponente der grundlegenden Prämissen und der institutionellen Dynamik einer Zivilisation«. Habermas hat das habituelle islamische Recht kaum analysiert. In seinen Veröffentlichungen seit 2001 hat er »fast ausschließlich die christlich-jüdische Tradition« (Lauterbach 2014, 312) fokussiert. Auch Luhmann hat sich nicht mit dem habituellen Gewohnheitsrecht der maghrebinischen sog. Berberstämme und seiner sozialen Übersetzung ins positive Recht auseinandergesetzt. Nur in vereinzelten Hinweisen hat er sich zur peripheren Weltgesellschaft und zum islamischen Recht geäußert, wie zum Beispiel im Jahr 2000 in der »Rückgabe des zwölften Kamels. Zum Sinn einer soziologischen Analyse des Rechts«. Auch Ders. 1999, 572; und Neves 2003. Wie gezeigt wurde, findet sich diese historische Stufenunterscheidung auch bei Max Weber und Emile Durkheim. Zu einer kritischen Rechtssoziologie Webers und Durkheims, die aber, wie gezeigt wird, die Epochale Stufenanalyse des Rechts wieder produzieren u.a. Habermas

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zerstört die traditionellen Formen der Solidarität und die alten Rechtsordnungen. Der Übergang vom segmentären und traditionellen Recht zum formalen positiven Recht wird als eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung der modernen Weltgesellschaft angesehen. Das Recht löst sich von seinen alten Formen und verschiebt sich auf immer abstraktere Stufen der generalisierten Handlungsorientierungen. Aus strukturellen Gründen verlangt es nach höheren Ebenen der Wertgeneralisierung (Habermas 1992, 1981; Luhmann 1999a, 1995). Insofern wird bei Habermas und Luhmann ausschließlich das positive Recht in der modernen Gesellschaft ausgearbeitet. Eine Übersetzung zwischen dem religiösen Recht und dem habituellen Gewohnheitsrecht sowie dem positiven Recht wird auch bei diesen beiden Klassikern nicht behandelt.

3.3 Jürgen Habermas So unterscheidet Jürgen Habermas, der seine Rechtstheorie nach der linguistischen Wende erschließt, in der Reihenfolge und im Verlaufe der sozialen Evolution vier Stufen der Gesellschaftsdifferenzierung und Rechtentwicklung. Jede evolutionär in Führung gehende Ebene ist durch einen Zusammenbruch der systemischen und sozialintegrativen Mechanismen charakterisiert. Daraus bilden sich höhere Integrationsgrade, die zur Komplexitätssteigerung und Ausbildung neuer Rechtssemantiken und Strukturen führen. Die folgende Grundform umfasst – nach Habermas – vier ungleiche Mechanismen der Systemdifferenzierung in der Abfolge, wie sie im Ablauf der sozialen Evolution nacheinander auftreten: 1.) die egalitären Stammesgesellschaften, die über Heiratsregeln normierte Tauchbeziehungen laufen, 2.) die über Machtbeziehungen hierarchisierte segmentäre Differenzierung, 3.) die politisch stratifizierten Klassengesellschaften und schließlich 4.) die ökonomisch konstituierten Klassengesellschaften (Habermas 1981, 241253). In Stammesgesellschaften, ob stratifiziert oder nicht, übernimmt das Verwandtschaftssystem die Rolle der Produktionsverhältnisse (Habermas 1981, 252). Somit ist das Recht nicht einmal aus den Verwandtschaftsinstitutionen heraus ausdifferenziert. In hierarchisierten Stammesgesellschaften nimmt die funktionale Spezialisierung für die Schlichtung von Rechtskonflikten zu, bleibt dabei aber innerhalb der Grenzen der Verwandtschaft (ebd, 253). Habermas nennt drei Praktiken für die manifeste Regelung von sozialen Konflikten: Die Blutrache oder Selbstjustiz, die rituale Aufrufung zauberischer Mächte, und als friedliches Äquivalent führt er die schiedsrichterliche Vermittlung zwischen den Konfliktparteien ein. Das Recht ist mit religiösen Vorstellungen eng verbunden, sodass eine Differenzierung des Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 und 2, insbesondere S. 332ff.; und S. 119ff. sowie Luhmann1977, Einleitung zu Durkheim, S. 17–34.

3. Soziologische Rechtsbegriffe

Rechts von der Sitte oder der Religion schwer vorstellbar ist. In dieser archaischen Rechtsordnung sind Tatsachenbehauptung und normative Urteile eng vermischt. Zudem werden Fahrlässigkeit und Absicht nicht charakterisiert. In der Rechtssemantik und Gesellschaftssprache fehlen Begriffe wie Pflichtverletzung oder Zurechnungsfähigkeit sowie der Appell an die unpersönlich bindende Autorität eines Gesetzes. Eine Ausdifferenzierung des Strafrechts von Privat- und Familienrecht ist noch nicht möglich, denn alle Rechtswidrigkeiten werden als Verstöße geahndet, die eine materielle Entschädigung fordern. Erst in komplex werdenden Gesellschaften wird das Gewohnheitsrecht der Stämme substanzlos entzaubert (Habermas 1992, 558ff.). Mit dem Übergang von Stammesgesellschaften zu »Hochkulturen« bildet sich ein teilweise autonomes Recht. Dieser evolutionäre Schritt, so Habermas (ebd. 99), ist durch eine staatliche Organisationsform charakterisiert, in der Recht und politische Macht eine Synthese bilden. Dieser sozialstrukturelle Übergang wird von der Schrift begleitet (Habermas 1981, 274). Er hat sich in Europa, so Habermas (1992, 580f.), vom ausgehenden Mittelalter bis zu den großen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts ausgedehnt. Dabei wird 1.) das Gewohnheitsrecht seit dem 12. Jahrhundert kodifiziert6 und durch das römische Recht überformt und 2.) sukzessiv an eine entstehende kapitalistische Wirtschaft und einen sich ausbildenden Territorialstaat angepasst. Die Politik emanzipiert sich vom sakralen Recht und wird autonom (Habermas 1992, 583). Mit dem Übergang zur Moderne ist das positive Recht in verschiedenen Versionen aufgetreten. Es bildet sich ein posttraditionelles moralisches Bewusstsein darüber, dass sich das Recht nach dem Zerfall des sakral und religiös begründeten Naturrechts paradigmatisch wandelt und auf Verfahrensrationalität umstellt (ebd. 587ff.). Zudem besteht »ein begrifflicher oder interner Zusammenhang« (ebd. 664) zwischen Rechtsstaat und Demokratie. Der Rechtsstaat und die Demokratie differenzieren sich aus einer traditionalen Sozialstruktur und bilden eine wechselseitige Legitimation des modernen Nationalstaates7 . Der Zerfall der politisch stratifizierten Klassengesellschaften führt ebenso zu einer Ausdifferenzierung von Recht und 6

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Anders als im Okzident beruht das Gewohnheitsrecht der marokkanischen Berber im Atlas auf Bräuchen sowie Überlieferungen und wird bis heute nicht kodifiziert. Eine Kodifizierung der Rechtsfälle erfolgt nach vertikalen Übersetzungen mit dem positiven Recht auf dem zweiten und dritten Übersetzungsverhältnis (siehe Kapitel: Rechtspluralismus und Familienrecht. Übersetzung multipler Ordnung). Das islamische marokkanische Familienrecht wurde unmittelbar nach der Unabhängigkeit im Jahr 1956 in Gesetzesform kodifiziert, woraufhin zum ersten Mal in der Geschichte des Landes sechs Gesetzbücher entstanden, die das Familienrecht im gesamten Nationalstaat formal vereinheitlichen (El Guennouni 2010). Zur Kritik der von Habermas behaupteten Legitimationsbeziehung von Rechtsstaat und Demokratie siehe Brune (2010, 51), der auf die begrenzente Affinität beider Systeme aufmerksam macht und in Anlehnung an den ehemaligem Verfassungsrichter Böckenförde die These

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Moral und einer pragmatischen Übersetzung der Moral in den Rechtskode. Somit stehen Recht und Moral in der ökonomisch stratifizierten Gesellschaft nicht in einer traditionellen, mittelalterlichen Legeshierarchie, sondern befinden sich in einem modernen »Ergänzungsverhältnis« (Habermas 1992, 137; Marxsen 2011, 130; Brune 2010, 42). In der Moderne ist das positive Recht, so Habermas, durch eine komplexe Kombination gekennzeichnet. Es übernimmt die Rolle eines Steuerungsmediums für den Systembereich, bleibt aber an der legitimen Ordnung lebensweltlicher Integration rückgebunden, damit das Netz der sozialintegrativen Kommunikation nicht reißt (Habermas 1987, 536; 1992, 78; Marxsen 2011, 124ff.). Wie diese Rechtsstruktur als eine reflexiv gewordene Ordnung zu der Entkopplung von System und Lebenswelt passt, will Habermas folgendermaßen präsentieren. Das systemische Recht ist ihm zufolge von der Begründungsproblematik entbunden und nur über formelle Verfahren mit dem legitimationsbedürftigen Recht gekoppelt. Hingegen sind die Rechtsinstitutionen intersubjektiv in die gesellschaftliche Komponente der Lebenswelt eingebettet (Habermas 1987, 536f.). Nach dieser Theorie nimmt das moderne positive Recht eine Vermittlungsfunktion zwischen System und Lebenswelt ein und ist primär nicht mehr nur als systemische Integration zu deuten. Somit erreicht das positive Recht eine grundsätzliche und doppelte Übersetzungsleistung von lebensweltlichen Geltungen und Einflüssen in eine systemische zweckrationale Sprache und umgekehrt (Marxsen 2011, 126f.). Aus den Grundbegriffen der Gesellschaftstheorie Habermas’ expandiert das Recht in Verbindung mit der Gesellschaftsstruktur. Daraus ergibt sich die zunehmende Abstraktion von soziologischen Rechtsbegriffen durch die strukturelle Umstrukturierung des Gesellschaftssystems. Im modernen Rechtsbegriff nach Habermas existieren keine heiligen Orte, kein religiöses Recht und auch kein habituelles Gewohnheitsrecht. Das wird als Entzauberung der Welt bzw. als strukturelle Säkularisierung beschrieben. Eine moderne Rechtstheorie, die aber aus ihren Grundbegriffen die beiden normativen Rechtsordnungen verbannt hat, ist gegenüber komplexen weltgesellschaftlichen Entwicklungen unsensibel. Denn wie Emile Durkheim und Max Weber geht auch Jürgen Habermas nicht von der primären spätmodernen Existenz des religiösen Rechts und des habituellen Gewohnheitsrechts aus und analysiert nicht deren Übersetzungen in das staatliche positive Recht.

vertritt, dass nicht jede Demokratie bereits aus sich selbst heraus eine rechtsstaatliche, sog. konstitutionelle Demokratie ist.

3. Soziologische Rechtsbegriffe

3.4 Niklas Luhmann Evolutionstheoretisch ähnlich wie Habermas analysiert Luhmann aus einer systemtheoretischen Perspektive die Ausdifferenzierung des Rechts (1995, 1999a; 1999b). In diesem sozialstrukturellen Rahmen wird das Funktionssystem, so Luhmann, in Verbindung mit funktionaler Differenzierung als primäre Differenzierungsform der Weltgesellschaft analysiert. Laut Luhmann erreichen die Funktionssysteme mit dem Übergang der Gesellschaftsstruktur von stratifikatorischer zu primärer funktionaler Differenzierung eine Unabhängigkeit von religiösen Inhalten und bilden autopoietische, operativ geschlossene Systeme (1999a, 707–745). Dabei werden die Rechtspositivierung und die autopoietische Verselbständigung als Voraussetzungen der modernen Weltgesellschaft betrachtet (Luhmann 1999b, 113–155). Denn in der soziologischen Systemtheorie wird das Recht in der modernen Weltgesellschaft hauptsächlich fortlaufend und vor allem mit Rekurs auf das staatlich positive Recht in Geltung gesetzt (Krawietz 1992, 262). Ähnlich wie Habermas unterscheidet auch Luhmann grosso modo vier primäre gesellschaftliche Differenzierungsformen als die wichtigsten Gesellschaftsstrukturen in der sozialen Evolution: die segmentäre Differenzierung, die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, die stratifikatorische Differenzierung und die primäre funktionale Differenzierung (Luhmann 1999a). Bei diesem sozialstrukturellen Umbruch geht es, so Luhmann, in der Gesellschaft um eine »Katastrophe« im Sinne einer Umstrukturierung der jeweils älteren Gesellschaftsstruktur (auch Kneer 2016, 35). Als Resultat dieser sozialen Evolution ist die Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Rechts im Zusammenhang mit der Positivierung entstanden, und laut Luhmann existiert für das Rechtssystem nur noch das positive Recht (1999b,183; 1995, 280). Das Recht bildet sich mit der Entwicklung des Gesellschaftssystems um und löst sich primär von Macht, Wahrheit oder auch Schichtung ab. Auch die Moral hat im autopoetischen, operativ geschlossenen Rechtssystem keine unmittelbare Geltung, da die Positivierung im Ganzen das Recht umstrukturiert hat (Luhmann 1995, 78; 1999b, 127). Nur die Lernfähigkeit als die kognitiv offene Dimension des positiven Rechtssystems erlaubt es, dass das Recht sich umformt, um sich an die komplexwerdende Umwelt anzupassen (Luhmann 1993; Neves 2003, 253). Dabei ist anzumerken, wie Gephart (1993, 361) formuliert hat, dass das Normproblem der Luhmannschen Rechtssoziologie sich unmittelbar um die Frage des Zusammenhangs der Ausdifferenzierung des Rechtssystems und der Gesellschaftsevolution dreht. Als Teilsystem des spätmodernen Gesellschaftssystems hat sich das Recht auch vom habituellen Gewohnheitsrecht emanzipiert und wird unter dem funktionalen Gesichtspunkt der Stabilisierung von Verhaltenserwartungen analysiert (Luhmann 1999b, 73–9)8 . 8

Daher bleibt die Anmerkung Habermas (1971, 230) zu Luhmanns System der Grundbegriffe, die eine »philosophische Deutung der Welt im Ganzen« implizieren sollen, unverständlich.

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Dabei ist die gesellschaftliche Funktion des Rechtssystems darauf spezialisiert, Erwartungen in der sozialen, sachlichen und zeitlichen Dimension so zu generalisieren, dass im Kontingent agierender Streitfälle bindend nach dem binären Code von Recht und Unrecht zu urteilen bzw. zu schlichten ist (Habermas 1992, 67; Baecker 2000, 146). Im Allgemeinen besteht das Rechtssystem aus allen Kommunikationen, die mit Bezugnahme auf das Recht formuliert sind (Luhmann 1999b, 35). Im Besonderen enthält nach Luhmann das Rechtssystem solche Rechtsakte, »die die Rechtslage ändern, wobei sie mit institutionalisierten Rechtsverfahren, Rechtnormen und Rechtsdogmatischen Auslegungen rückgekoppelt sind« (Habermas 1992, 68). Als Kommunikationssystem riegelt es sich selbstreferentiell gegen seine Umwelt ab und trägt seine Außenkontakte nur noch über Beobachtungen und strukturelle Kopplungen aus. Denn das moderne Recht kann keinen unmittelbaren Kontakt mit seinen Umwelten und keine gesamtweltgesellschaftlichen Steuerungsfunktionen betreiben. Insofern vollzieht das Funktionssystem seine strukturelle Autonomie über eine eigene Spezialsemantik, die für andere soziale Systeme »nicht mehr übersetzbar ist« (ebd. 407) und somit den direkten Austausch von Informationen nicht mehr erzeugen kann. Mit der soziologischen Systemtheorie kann man also davon ausgehen, dass die Grundbegriffe des Rechtssystems ausschließlich auf das positive Recht zugeschnitten sind und weder ein staatlich organisiertes religiöses Recht noch ein habituelles Gewohnheitsrecht in der modernen Weltgesellschaft zulassen. Diese verkürzte Analyse des Rechts führt, wie bei Emile Durkheim, Max Weber und Jürgen Habermas, zu einer charakteristischen Vereinseitigung der Rechtstheorie in der Systemtheorie. Denn nur die funktionale Differenzierung wird in Bezug auf das moderne Recht analysiert, nicht aber auch die »praktisch-kulturelle Differenzierung« und somit »die Differenzierung von Integrationsformen« (Renn 2006). Eine weitere methodologische Schwäche der (rechtssoziologischen) Systemtheorie ist das Desinteresse gegenüber dem handelnden und bedeutungsstiftenden Individuum (ebd. 2016; Schauer 2006). Denn laut Luhmann besteht die Gesellschaft – oder besser die Weltgesellschaft als eigene Systemebene – nicht aus bedeutungsstiftenden Subjekten, sondern aus einem Netzwerk von sozialen Kommunikationen. Es sind die sozialen Systeme und nicht die handelnden Akteure, die anordnen, was als Kommunikation in der primären Differenzierungsform gilt. Zwar werden die Subjekte als psychische Bewusstsein bei systemischer Kommunikation vorausgesetzt, aber Kommunikation entzieht sich ihrer Intention und Intersubjektivität. Somit hat die Operation der Kommunikation kein anthropologisches Fundament (ebd. 109; Schelsky 1980, 91ff.). Schließlich werden in den theoretischen Ausführun-

3. Soziologische Rechtsbegriffe

gen Luhmanns außereuropäische, moderne Rechtssysteme fast ausschließlich ausgeblendet9 . In Anlehnung an Niklas Luhmann hat Marcelo Neves Beiträge zur Weiterentwicklung der soziologischen Systemtheorie in der sog. ›peripheren Weltgesellschaft‹ am Beispiel Lateinamerikas geliefert (Birle, Dewey, Mascareño 2012, 7). Er geht davon aus, dass die steigende Komplexität der Weltgesellschaft nicht zum Primat der funktionalen Differenzierung und einem autopoietischen, operativ geschlossenen Rechtssystem in Lateinamerika geführt hat (Neves 2012, 19; 1992). Das hängt ihm zufolge damit zusammen, dass die Code-Differenz von Recht und NichtRecht von dem Wirtschaftscode (Haben/Nichthaben) und dem politischen Code (Macht/Nicht-Macht) überlagert und blockiert wird, was von der »Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts führt« (Neves 2003). Die Allopoiesis des Rechts bezeichnet eine äußere Bestimmung und (Re-)Produktion des Systems durch Codes, Programme und Kriterien seiner Umwelt. Somit lösen sich die symbolischen Grenzen zwischen dem Rechtssystem und seiner Umwelt, wie Wirtschaft, Politik oder Religion, auf. Diese Auflösung der Grenzen führt zu einer Generalisierung von Beziehungen der Überintegration und Subintegration in sämtlichen Funktionsbereichen. Anders als die Unterintegrierten haben die Überintegrierten im Rechtsbereich Zugang zu den Rechten, ohne die vom System auferlegten Pflichten zu erfüllen (ebd.: 258ff.). Aus Luhmanns Sicht operiert ein solches Rechtssystem, das durch solche Eingriffe gefährdet ist, »im Zustand der Korruption« (Luhmann 1995, 81). Außerdem impliziert Neves (2003, 262), dass das Interagieren der pluralen Rechtsordnungen keine soziale Übersetzung darstellt, sondern lediglich die Durchsetzung des positiven Rechts und die »Absorption« des religiösen Rechts und des habituellen Gewohnheitsrechts bedeutet. Im Gegenzug zu den genannten klassischen Rechtsbegriffen werden hier in einer spätmodernen, rechtspluralistischen Auffassung drei vertikale Gesellschaftshorizonte des Rechts vertreten und im Folgenden kurz vorgestellt (später mehr hierzu). In einem allgemeinen ersten Gesellschaftshorizont werden die intersubjektiven Rechtsvorhaben und Erfahrungen zwischen differenten »Sprachspielen« und kulturellen »Lebensformen« (Wittgenstein 2003) geteilt, bis die handelnden Akteure an die symbolischen Grenzen der gesellschaftlichen Rechtsordnungen stoßen (Berque 2001, 465; Pascon & Bouderbala 1970; Mouaqit 2006,19). Im zweiten Gesellschaftshorizont gibt es implizit eine charakteristische Wendung. Es werden nämlich die außerstaatlichen, gesellschaftlichen Rechtsordnungen nur vorübergehend absorbiert, um im interaktiven Moment das rationale »Verfahren des positiven

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Vgl. zum Beispiel Globalisierung und Regionalisierung in Die Gesellschaft der Gesellschaft 2, S. 806–826.

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Rechts« (Luhmann 1993) im Modus der Hierarchie zu durchlaufen und in das staatliche Recht zu übersetzen. Dabei wird nicht zwingend die Außerkraftsetzung der scheinbar unterlegenen Rechte der Lebenswelt behauptet – im Gegenteil. Durch die Übersetzung der Rechtsordnungen lösen sich die Grenzen zwischen dem positiven Rechtssystem und den gesellschaftlichen Rechten keineswegs auf, wie Neves in Anlehnung an Luhmann behauptet, sondern bilden im zweiten Schritt neue Rechtsschichten aus, die aus dem Konkurrenzverhältnis eine zweite komplexe Rechtsordnung formen. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung ist diese komplexe Rechtsordnung von Bedeutungsbrüchen und Rechtskniffen sowie ungleichen Rationalitäten durchzogen. Insofern ähnelt das Rechtssystem einem Werk, dessen Bestandteile nach der »pragmatischen Übersetzung« (Renn 2006) sich nicht mehr in ihrem ersten, ursprünglichen Zusammenhang befinden. Auf der letzten Ebene kommen die gesellschaftlichen Rechtsordnungen komplexer aus dem normativen Gehalt des positiven Rechts heraus und bilden wieder ungleiche Segmente mit einer juridischen Einheit und einer immanenten Logik. Für diese theoretischen Thesen werden im Laufe der Argumentation empirische Ergebnisse geliefert, die mit der Auswertung der qualitativen Interviews und dem Begriff des »latenten Sinns« (ebd. 2013, 2014) zusammenhängen.

3.5 Pierre Bourdieu Als letzter Klassiker in diesen kritischen Ausführungen wird die Rechtssoziologie Pierre Bourdieus dargestellt und kritisch beleuchtet. Bourdieu orientiert sich genauso wie die thematisierten Klassiker in erster Linie an dem formal ausdifferenzierten Rechtssystem der Moderne. Nur am Rande thematisiert er das ›vormoderne‹ Recht und kommt mit dem spätmodernen Rechtpluralismus keineswegs in Berührung10 . Denn anders als die Rechtssoziologie Luhmanns, die sich auf »eine Theorie der Evolution von Recht in der Gesellschaft« beschränkt (Krawietz 1992, 263), hat die Rechtssoziologie Bourdieus kaum eine Evolutionstheorie des Rechts. Die Feld- und Praxistheorie Bourdieus beinhaltet in erster Linie eine sozialstrukturelle Theorie der modernen Gesellschaft und keine historische Prozesstheorie des Rechts (Kneer

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Zum Rechtspluralismus in Europa und in der Weltgesellschaft vgl. u.a. Teubner (1989) sowie zum Globalen Rechtspluralismus Fischer-Lescano und Viellechner (2010). Allerdings vertreten sie die Hauptthese, dass es zu einer Kollision zwischen dem positiven Recht, dem religiösen Recht und dem habituellen Gewohnheitsrecht gekommen sei. Hingegen wird in der vorliegenden Dissertation, wie im letzten Kapitel des theoretischen Teils noch ausführlich analysiert wird, von einer Überlappung und interaktiven Umordnung der Rechtshorizonte ausgegangen.

3. Soziologische Rechtsbegriffe

2016, 35). Systematische Untersuchungen des Rechts in mittelalterlichen und segmentiert differenzierten Gesellschaften liegen in der Praxistheorie nicht vor11 . Trotz dieses Unterschieds zwischen Bourdieu und Luhmann in dem Theorieaufbau und in der Terminologie ähneln sich beide Soziologen aufgrund ihrer selbstreflexiven Position und vor allem der abstrakten Teilung der modernen Gesellschaft in unterschiedliche eigenlogische Systeme und Felder (Nassehi & Nollmann 2016, 9ff.). Ähnlich wie Luhmann richtet sich Bourdieus Entwurf an einem »emergenztheoretischen« (Kneer 2016, 29) Aspekt aus. Zudem handelt es sich bei Bourdieu – wie bei Luhmann – nicht um alteuropäische Denkschemata, die das Ganze in Teile differenzieren. Der Kern von Bourdieus soziologischer Theorie ist in seinen Untersuchungen in Algerien verwurzelt und umfasst eine Zusammensetzung aus Erkenntnistheorie, Ethnologie und quantitativer Empirie sowie soziologischen Begrifflichkeiten (Rehbein 2016, 19). Bourdieus erste Veröffentlichungen beschäftigen sich kaum mit dem Rechtsfeld, sondern haben die Kolonialgesellschaft in Algerien, die Klassenstruktur und die Verwandtschaftsbeziehungen, die Migration, die Stadt-Land-Analysen und die Geschlechterverhältnisse in der Kabylei zum Thema (Bourdieu 1976; Rehbein 2016, 27). In diesen Forschungen nahm er eine wissenschaftliche Distanz von der damaligen Ethnologie und dem Orientalismus ein, da sie in einer illusionären Epistemologie haften geblieben sind und die sozialen Strukturen in eine imaginäre Tradition zurückgeworfen haben (Bourdieu 2000, siehe auch den Forschungsstand in der vorliegenden Dissertation). In diesem Kontext kann Bourdieus Forschung in der Kabylei als »Paradebeispiel eines Projekts der Dekolonialisierung« gelesen werden (Hannemann 2002, 9), das bereits Jacques Berque und Andere begonnen haben. In »La force du droit« vertritt Bourdieu (1986) die These, dass das Recht ein Produkt des rechtlichen Feldes ist und durch den Begriff der Rationalisierung eine notwendige strukturelle Autonomie erlangt. Der Begriff der (westlichen) Rationalisierung wird von Bourdieu in Anlehnung an Max Weber verwendet und beinhaltet demgemäß auch die Systematisierung des Rechts. Dabei werden die westlichen Juristen als »Professionelle der Systematisierung« charakterisiert (Bourdieu 1992, 87). Als Voraussetzungen einer formalen Systematisierung sieht Bourdieu die Schrift und die Kodifizierung (Conradin-Triaca 2013, 191). Hier liegt u.a. die ausgeprägte Vereinseitigung und die verkürzte Analyse des Rechts (auch) bei Pierre Bourdieu, denn dadurch wird ihm zufolge das westliche positive Recht von der islamischen Jurisprudenz, d.h. der Urteilskraft nach Billigkeit, unterschieden (Bourdieu 1986, 7; auch Conradin-Triaca 2013, 190f.). Für das westliche Recht verbindet Bourdieu in Anlehnung an Max Weber

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Zwar thematisiert Bourdieu in wenig differenzierten Makrokosmen wie der Kabylei in der Mitte des 19.Jahrhunderts das Heiratssystem, jedoch im Rahmen einer habituellen Verwandtschaftssoziologie und nicht aus einer spätmodernen Rechtsperspektive (Bourdieu 1976; 1993, 264ff.).

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und Sigmund Freud die Ausdifferenzierung des Rechtsfeldes mit »Prozessen der Rationalisierung«, die erst durch den symbolischen Kampf und das Monopol im Rechtsfeld definiert wird, da Rationalität laut ihm nicht universell ist (Bourdieu 1986, 5). In diesem Sinne ist die relative Autonomie des rechtlichen Feldes in Zusammenhang mit dem Machtfeld des modernen Staates und dem sozialen Feld zu beobachten. Innerhalb dieser strukturellen Beziehungen ließen sich die spezifischen Effekte und Modi der juridischen Aktion beobachten. Diese Analysen des rechtlichen Feldes sind laut Bourdieu notwendig, um das Prinzip der symbolischen Gewalt zu verstehen (ebd. 14). Um im Rechtsfeld mitspielen zu dürfen, damit ein sozialer Konflikt gelöst wird, müsse man auf physische Gewalt verzichten und die elementaren Formen der symbolischen Gewalt annehmen (ebd. 10). Dabei kommt Pierre Bourdieu (1997, 97) u.a. in seiner Goffman-Rede an der Universität Berkeley zu dem Schluss, dass die sozialen Konstrukteure gesellschaftlichen Voraussetzungen und Mechanismen unterliegen, einschließlich des Staates, der über die Vermittlung legitimer Identitäten die legitime symbolische Gewalt monopolisiert (siehe auch Bourdieu 1986, 12). Die symbolische Gewalt umschreibt nun eine raffinierte, frei gewählte wie aufgezwungene Form der Gewalt (Bourdieu 1976, 370), die unmittelbar auf den (juristischen) Habitus rekurriert (Krais 1993, 231)12 . Sie ist ein Herrschaftsmodus, der sich unmittelbar – aber gleichzeitig subtil – über das Wertesystem des Verhaltens, Denkens und Wahrnehmens ausdrückt. Als ein symbolischer Raum ist das Feld des Rechts somit durch den juristischen Habitus gekennzeichnet, um das rechtliche Kapital zu akkumulieren, damit die Ordnung im sozialen Raum bestimmt wird. Hierfür sollen sich die sozialen Akteure, um am rechtlichen Feld zu partizipieren, auf die rechtlichen Regeln berufen. Die Juristen müssen die ihnen vorgetragenen Konflikte in juristische Fachbegriffe übersetzen (Bourdieu 1986, 4ff.; Conradin-Triaca 2013, 136f.). Denn laut Bourdieu (1986, 6) kann die praktische Bedeutung des Rechts lediglich

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Hier soll der Vollständigkeit halber einer kurzen Definition des Bourdieuschen Habitus-Begriffs geliefert werden: Der Habitus beschreibt ein Ensemble von Besonderheiten des persönlichen Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemas (das sich beispielsweise in Kleidung, Sprache, Körperhaltung, Sportarten etc. äußert). Der Habitus ist dabei gleichzeitig ein System von Schemata zur Produktion und Bewertung von Praktiken. Wesentlich im Habitus Konzept ist, dass es nicht nur individuelle Verhaltensmuster von Akteuren umschreibt, sondern vielmehr mögliche Einschränkungen individueller Einstellungen und Verhaltensweisen durch kollektive Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster (Bourdieu 1992; 1998). Zudem ist der Habitus kein kohärentes Bündel von Sozialregeln, sondern er ist »das Körper gewordene Soziale« (Bourdieu & Wacquant 1996: 161), und die sozialen Akteure sind keineswegs bloße Träger von sozialen Rollen, sondern sie sind – im Sinne Bourdieus und Wacquants (ebd. 170) – »das Produkt der Geschichte, der Geschichte des ganzen sozialen Feldes und der im Laufe eines bestimmten Lebenswegs in einem Unterfeld akkumulierten Erfahrungen«. Den Habitusbegriff führte Bourdieu ein, um mit dem strukturalistischen Paradigma zu brechen, allerdings ohne in die Bewusstseinsphilosophie zurückzufallen (Bourdieu 1997, 61).

3. Soziologische Rechtsbegriffe

aus der symbolischen Auseinandersetzung differenter habitueller Akteure (Notare, Richter, Staatanwälte) und ihrer Klienten in der sozialen Hierarchie resultieren. In diesen Ausführungen wird erkennbar, dass Bourdieu lediglich das staatliche positive Recht thematisiert. Das Recht der Kabylen und die islamischen sowie kolonialen Einflüsse werden nur selten gedeutet (Hannemann 2002, 10f.; Colonna 1995, 44). Denn in seinen rechtssoziologischen Studien schränkt Bourdieu den Rechtsbegriff im territorialen System ein und analysiert lediglich das juristische Feld in Frankreich. Auch dem modernen Globalisierungsprozess des Rechts im Maghreb kommt keine Relevanz zu. Denn globale Verflechtungen und deren soziale Folgen thematisiert Bourdieu – wie Habermas – lediglich auf wirtschaftlicher Ebene (Krücken 2005, 8). Zwar werden u.a. die Heiratstypen und Formen der Hochzeitfeier in der Kabylei thematisiert (Bourdieu & Sayad 1972; Bourdieu 1976, 114ff.), jedoch nicht aus rechtssoziologischer Perspektive, sondern aus einer Verwandtschaftsperspektive. Das Interagieren des »Stammesrechts«, wie es Bourdieu (ebd.) nennt, mit dem islamischen Recht und dem positiven Recht nach der Entkolonialisierung Algeriens im Jahr 1962 wird nicht untersucht. Somit wird die Konstellation differenzierter Rechtsformen, die mit bestimmten Gesellschaftsformationen zusammenhängen, in Bourdieus rechtsoziologischen Arbeiten weder in der Kabylei noch in Frankreich beleuchtet. Die Übertragung seiner Praxistheorie von den algerischen Kabylen auf die französische Sozialordnung »drückt sich bei Bourdieu ausschließlich im Moment der Vervielfältigung des Feldbegriffs aus« (Renn 2006, 358). Außerdem wird in Bourdieus Arbeiten der juristische Habitus, der als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis begriffen wird, nicht aus einer makrosoziologischen Perspektive gedeutet, sondern auf die Interaktionsmuster reduziert. Ebenso bleibt jedes einzelne Feld, auch das Feld des Rechts, im Medium der Interaktion traditionsgebunden (ebd.). Die hier dargestellten Klassiker der Soziologie operieren mit Rechtsbegriffen, die für die soziologische und weltgesellschaftliche Beschaffenheit von Recht abgeschwächt sind, weil sie nur auf die Positivierung des Rechts fixiert sind und den spätmodernen Rechtspluralismus ausblenden. Die Rolle des »segmentären« und »stratifikatorischen« Rechts im modernen positiven Recht wird nicht untersucht, sondern negiert. Dabei können sie nicht das Interagieren der Rechtsordnungen und die formalen Rechtsbildungen weitgehend ausklammern, weil sie integrierende Bestandteile der sozialen Wirklichkeit des Rechts sind (Krawietz 1992, 263). Entscheidend ist überdies, dass aufgrund der kolonialen und postkolonialen Entwicklung arabisch-islamischer Nationalstaaten, darunter auch Marokko, wie wir noch sehen werden, eine »komplexe Gesellschaft« (Pascon & Bouderbala 1970) entstanden ist, in der die normativen Ordnungen nicht als eine Ablösung vom traditionsgesicherten Gewohnheitsrecht hin zum islamischen und positiven Recht zu deuten sind. Stattdessen lassen sich die normativen Rechtsordnungen als eine Überlappung und interaktive Umordnung mehrerer Rechtshorizonte beobachten,

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Teil A – Theorie

die in spezifische »Übersetzungsverhältnisse« geraten (Renn 2006). Insofern wird, wie Eisenstadt (2000), Macamo (2012, 141) – und andere Wissenschaftler – plädieren, die Vielfalt der Moderne vorausgesetzt und nicht von den Dichotomien Tradition vs. Moderne und Stammrecht vs. nationalstaatliches Recht ausgegangen. Die negativen Folgen dieser Zweiteilung der sozialen Welt und die Gegenüberstellung einer angeblich »schriftlosen«, segmentierten Differenzierung (Afrika) und einer universalen funktionalen Differenzierung (Europa) begründeten die kolonialen Herrschaftsbeziehungen (Mamdani 1996, zitiert nach Macamo 2012, 142). Somit bleibt die Geschichte des Maghreb unverständlich, wenn wir das Postulat der segmentären Differenzierung auf moderne Gesellschaften anwenden, denn »on sera condamné à ne jamais saisir la dialectique de l’évolution maghrébine« (Laroui, 1970, 63). Daher ist es wichtig, die sozialstrukturelle Theorie der modernen Weltgesellschaft und die historische Prozesstheorie des Maghreb von den dargestellten Theorien abzulösen. Denn multiple Differenzierung ist ein fester Bestandteil der postkolonialen Nationalstaaten in der Weltgesellschaft. Im Folgenden wird der komplexe Rechtsbegriff makrotheoretisch und methodologisch in der funktionalen und kulturellen Differenzierung in Marokko ausführlich analysiert. Zunächst aber soll der Rechtsbegriff als Beobachtung zweiter Ordnung in der »pragmatischen Übersetzungstheorie« (Renn 20016, 2014a, 2014b; 2013; 2006) gedeutet und am Beispiel des marokkanischen Familienrechts erweitert werden.

4. Zum soziologischen Begriff der Rechtsübersetzung

Während Emile Durkheim und Max Weber das islamische und das habituelle Gewohnheitsrecht als segmentiertes Recht oder vormodernes Recht analysieren, fokussieren Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu latent oder manifest lediglich das positiv gesetzte Recht der europäischen Moderne. Die Interaktionen des religiösen Rechts mit dem habituellen Gewohnheitsrecht und dem positiven Recht werden kaum erforscht (zur Kritik siehe das vorherige Kapitel). Hingegen werden in der vorliegenden Dissertation die Interaktionen des multipel differenzierten Familienrechts analysiert. Dabei werden solche manifesten und latenten Interaktionen nicht als eine »Unordnung« konzipiert, die im Recht eine Art »Chaos« (Seinecke 2015, 373) verursacht, sondern sie werden als eine interaktive Umordnung und Überlappung mehrerer Rechtshorizonte beobachtet, die in spezifische spätmoderne »Übersetzungsverhältnisse« geraten (Renn 2006). Daher ist es vorab angebracht, hierfür einen entscheidenden makrotheoretischen Horizont, nämlich die pragmatistische Übersetzungstheorie, einzuführen. Die pragmatistische Übersetzungstheorie schließt problemorientiert an die soziologische Systemtheorie, die Theorie des kommunikativen Handelns und eine aus unterschiedlichen Standpunkten verteilte Praxis- und pragmatische Theorie an (Renn 2006, 22). Denn während in der soziologischen Systemtheorie eine operative Schließung der Funktionssysteme behauptet wird und u.a. eine systematische Begrifflichkeit und Theoretisierung des Milieubegriffs fehlt (vor allem Bohnsack 2010, 301), bleiben die Praxistheorien auf der Interaktionsebene verhaftet. Außerdem schließt die Theorie des kommunikativen Handelns eine Integration zweiter Ordnung zwischen kommunikativen und handlungstheoretischen Einheiten aus. Die Übersetzungstheorie ist somit eine Gesellschafts- und Integrationstheorie zweiter Ordnung der multiplen Spätmoderne. Grosso modo präsentiert sie eine Variation kultureller, funktionaler und regionaler Differenzierungsbegrifflichkeiten, nämlich das Modell einer »multiplen Differenzierung« (ebd. 68) der spätmodernen Weltgesellschaft. Das bedeutet, dass die Gesellschaft nicht wie im Fall des modernen Nationalstaates begrenzt und die soziale Welt nicht lediglich im Rahmen nationaler Gesellschaften konzipiert werden. Die soziale Welt wird hingegen als »globale, soziale Ordnung« aufgefasst (ebd. 56). Wichtig dabei ist, dass die Gesellschaft, oder die Weltgesellschaft als emergente

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Teil A – Theorie

Systemebene, nicht allein auf abstrakte »globale soziale Systeme« (Luhmann 1975, 1984) reduziert wird, in denen ausschließlich der primären funktionalen Differenzierung vorherrscht. Die Übersetzungstheorie dezentralisiert nicht – wie die Systemtheorie – den Begriff der Weltgesellschaft von seinen normativen und kulturell-praktischen Gehalten. Sie postuliert auch nicht – wie der weltgesellschaftliche Neoinstitutionalismus –, dass die Weltgesellschaft lediglich durch eine kulturelle Globalisierung, durch »strukturelle Isomorphie« und »lose gekoppelte Organisationen« operiert (Meyer & Boli & Thomas & Ramirez 2005, 85). Stattdessen geht sie davon aus, dass in der Weltgesellschaft neben der funktionalen Differenzierung auch kulturelle Bedeutungen und regional-lokale Schemata für den Integrationsbegriff maßgebend sind, allerdings ohne den Integrationsbegriff auf eine globale Homogenität zu reduzieren, wie beispielsweise einige Weltgesellschaftstheorien (etwa die Systemtheorie oder der Neoinstitutionalismus) postulieren. Bei der erwähnten Korrektur eines Modells der Weltgesellschaft in der pragmatischen Übersetzungstheorie geht es also um differenzierte Differenzierungsformen und die Beziehung zwischen der Pluralisierung von interaktionsnah entwickelten Handlungen und globalen kommunikativen Systemen. Aus dieser Prämisse resultiert dann die Integration zweiter Ordnung, die zwischen funktionaler und kultureller Differenzierung makrotheoretisch analytisch unterscheidet und die Formen von Grenzfällen und Integrationseinheiten als Typen der Übersetzung rekonstruiert. In der Übersetzungstheorie wird allerdings nicht eine lineare Bedeutungsübertragung zwischen den sozialen Einheiten ermöglicht; stattdessen vollzieht sich die Übersetzungspraxis zwischen den Integrationseinheiten durch Bedeutungsbrüche. Hierfür wird nicht primär die implizite Bedeutung sprachlicher Praktiken herangezogen, sondern es wird an die pragmatischen Anschlüsse einer Handlung (und nicht die Praxis einer Bedeutung) typologisch über die symbolischen Grenzen zwischen abstraktem System, Organisation, Milieu und Person angeschlossen (ebd. 177ff.). Diese Pluralität der unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen von symbolischen Grenzbeziehungen zwischen den handlungs- und kommunikationstheoretischen Integrationsformen wird nun als elementare Form der Übersetzung rekonstruiert. In Anlehnung an die Übersetzungs- und Gesellschaftstheorie kann dann formuliert werden, dass trotz der Selektivität und autonomen Bedeutungszuschreibung die Funktionssysteme als ausdifferenzierte moderne Integrationseinheiten nicht im radikalen Sinne »operativ geschlossen« (Luhmann 1984) sind, sondern »operativ gekoppelt und soziale Übersetzungen zwischen den Integrationseinheiten leisten« (Renn 2006, 404ff.)1 . Daher muss das System zumeist durch Selektionsfilter der Inter1

Anders als die systemtheoretische Abkopplung und Isolierung der abstrakten Funktionssysteme von konkret integrierten Handlungseinheiten, geht die pragmatische Übersetzungstheorie von einer systemischen und operativen Kopplung aus, die Übersetzungen selbst aus-

4. Zum soziologischen Begriff der Rechtsübersetzung

pretation und Kaskaden der Übersetzung hindurch zur Wirkung kommen. Aus dieser Perspektive ist das Funktionssystem (hier das positive staatliche Recht) auf der Basis symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und binärer Codierung nicht operativ geschlossen. Das systemische Recht ist auf der Basis der praktischen Übergänge – wie bereits angemerkt – »operativ gekoppelt« (Renn 2006, 410ff.) und erfordert Übersetzungen zwischen der formalen Organisation, dem soziokulturellen Milieu und der Person (Individualisierung). Die operative Kopplung impliziert allerdings keinesfalls, dass die sozialen Beziehungen über Sinngrenzen hinweg durch eine Linearität der Bedeutungsübertragung oder Auflösung der Differenz markiert sind, sondern sie sind durch Rechtskniffe und »Bedeutungsbrüche« gekennzeichnet, die »Translate« (Renn) hervorbringen. In diesem Sinne können die spezifischen Übersetzungsverhältnisse zwischen den oben genannten normativen Ordnungen so interpretiert werden, dass die Übersetzung einer abstrakten Integrationseinheit – hier das staatliche Familienrecht – den Umweg durch die Rechtsorganisation als konkretere Integrationseinheit nehmen muss. Die Übersetzung zwischen dem System und der Rechtorganisation muss ihrerseits die Übersetzung zwischen Organisation und Person bzw. Milieu (hier Segmente der gesellschaftlichen Rechte, die in das positive Recht transzendieren) durchgehen, was in der empirischen Gesellschaftsanalyse ausführlich analysiert wird. Dadurch wächst eine Kaskade von Übersetzungsschritten, die auch von »unten nach oben« bzw. von der Mikro-Miso- zur Makroebene durchlaufen kann. In diesem Prozess interveniert wieder das »implizite Wissen« (Renn 2006, 120–127), auf dessen Basis die Anwendung der Regel bestimmt wird. Funktionale Rollen der normativen Rechtsordnungen können zunächst auf der praktisch-kulturellen Differenzierungsebene als milieuspezifische und habituelle Praktiken erfasst werden, die durch ein kollektiv geteiltes implizites Wissen integriert sind und in funktionale Differenzierung übergehen. Generell schließt also die Übersetzung des staatlichen Familienrechts die Auseinandersetzung mit kulturell praktischen Lebensformen und Interaktionsmilieus ein und bleibt auf die pragmatische Struktur zwischen den Handlungszusammenhängen angewiesen. Darauf, dass die Integrationseinheiten in Regionen der multiplen Weltgesellschaft variieren, wurde systematisch durch drei »Achsen der Differenzierung« hingewiesen (Renn 2006; Nell 2020, 74ff. und 295ff.). Gegen diese multiple Differenzierungseinteilung und strukturelle Variation in der Weltgesellschaft können sich theoretische Einwände herauskristallisieren, die zwei analytische Einwände hervorheben: Zum einen den sozialstrukturellen Differenzierungsgrad zwischen dem sog. Zentrum und peripheren Regionen der Weltgesellschaft und zum anderen die Traditionalität

führt und in solche permanent verwickelt sind (Renn 2006, 407). Zur Kritik der systemtheoretischen Rechtssoziologie, insbesondere des systematischen Fehlens »eines Zusammenspiels von konkreten und abstrakten Ordnungsebenen« und »(…) die Ausblendung der performativen Ebene« siehe auch Nell 2000, 183ff.

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Teil A – Theorie

der islamischen Religion und des habituellen Gewohnheitsrechts, die einer vormodernen Weltepoche zugeordnet werden (siehe das vorherige Kapitel: Soziologische Rechtsbegriffe). Im Folgenden wird charakterisiert, dass beide gesellschaftliche Rechtordnungen weder primär segmentär noch stratifikatorisch oder im Zentrum/in der Peripherie differenziert sind, sondern beide bilden soziale Integrationseinheiten der multipel differenzierten (nicht nur der primär funktional differenzierten) Gesellschaft bzw. der Weltgesellschaft. Sie sind keinesfalls Teilordnungen von »primitiven vergangenen Gesellschaften« (Levi-Strauss) oder von einer Zentrum-/Peripherie-Differenzierung wie das Inkareich oder die Maya (Burch 2010 in Anlehnung an Luhmann), sondern beide Rechtsordnungen existieren nach dem Zerfall der stratifizierten Gesellschaft weiterhin und ändern in der postkolonialen Phase ihre Form nach der Übersetzung zweiter Ordnung mit dem positiven staatlichen Recht. Somit bilden sie eine multikomplexe Triade im spätmodernen Rechtspluralismus, die eine Übersetzung multipler Ordnung hervorbringt.

5. Vom Segmentierungsbegriff zur pragmatistischen Milieutheorie

5.1 Kritik an Theorien segmentärer Differenzierung Die sozialwissenschaftliche Forschung über segmentäre Differenzierung im Maghreb ist in der Form facettenreicher Theorien und Paradigmen aufgetreten. Eine Auseinandersetzung mit dieser primären Differenzierungsform setzt mit der Gesellschaftstheorie Emil Durkheims (1977) an. Denn Durkheim hat diese Differenzierungsform, die zum Teil auf Forschungsmaterial aus dem Maghreb basiert, gegenüber der funktionalen Differenzierung in seinem Buch »Über die Teilung der sozialen Arbeit« entwickelt. Laut Durkheim ist segmentäre Differenzierung auf der sozialstrukturellen Ebene in »primitiven« Gesellschaften zu beobachten. Er beschreibt diese primäre Differenzierungsform als eine soziale Ordnung, in der eine Vielzahl gleicher und voneinander unabhängiger Segmente nebeneinander existieren. Dies impliziert, dass in der segmentären Differenzierung die Arbeitsteilung gering ist, was in der mechanischen Solidarität und dem schwachen Grad an Interdependenz mündet. In dieser Differenzierungsform wird die politische Grundeinheit vom Clan gebildet und die Clanführer stellen die einzigen sozialen und politischen Autoritäten dar. Demgegenüber thematisiert Durkheim die funktionale Arbeitsteilung in staatlichen Gesellschaften in Verbindung mit organischer Solidarität und moralischer Integration (Tyrell 1985). Somit stellt er eine Dichotomie zwischen zwei Gesellschaftstypen auf, die der Ersetzung der Solidaritätsform entspricht. In diesem Sinne geht Durkheim von einer sozialstrukturellen und semantischen Gegenüberstellung von funktionaler und segmentärer Differenzierung aus. Diese Kontrastierung wird durch den Sozialanthropologen und Philosophen Ernest Gellner mit der vertikalen Rolle islamischer Heiliger1 und sein Segmentierungsmodell aufgehoben und erweitert. Laut Gellner ist Segmentierung ein Gesellschaftsmodell, das ohne Staatsmacht und in Abwesenheit einer 1

Die Rolle der islamischen Heiligen hat sich heute stark verändert, und sie verfügen in ihren Gemeinschaften nicht mehr über die Entscheidungsmacht, die sie in der Zeit der Untersuchung von Gellner hatten (Anm. Autor).

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Teil A – Theorie

modernen Ordnung mit institutionellem Gesetz existiert (1992). Dabei sind für Gellner die marokkanischen Berber der Idealtyp für segmentäre Gesellschaften (Hamès 1973; Waterbury 1975; El Qadéry 2007)2 . Es herrsche eine mechanische Solidarität vor und das schließe Spezialisierung ökonomischer oder ritueller Art aus. Denn die muslimische Stammesgesellschaft lehne im Rahmen ihrer Wertvorstellungen die Spezialisierung ab (Gellner 1992). Zudem sei Macht sowohl ziemlich gleichmäßig verteilt als auch vertikal strukturiert, was Durkheim bei segmentären Gesellschaften nicht erfasst (ebd. 91–97). Hingegen versucht Gellner die »Stämme« im marokkanischen Atlas mit der vertikalen Rolle islamischer Heiliger, lebender Marabouts, zu verbinden (Gellner 1969). Heiligkeit ist laut ihm erblich und wird durch Abstammung vom Propheten konstruiert. Es ist also diese Erblichkeit, die Heiligkeit in den Berberstämmen als Institution die Stabilität und Kontinuität verleiht (Gellner 1992). Zudem sei Heiligkeit in eine hierarchische Ordnung eingebettet und stehe einzig und allein dem männlichen Geschlecht offen. Im Rechtsbereich erfüllen die Heiligen die Funktion von Schlichtern und Mittlern, da laut Gellner die Berberstämme keine Schriftgelehrten sind (ebd. 98f.). Außerdem übernehmen die Heiligen in segmentären Gruppen die Aufgabe der Bestätigung und Beaufsichtigung von Rechtsverfahren, vor allem durch Eidleistung. In der Stadt hingegen unterscheidet sich die Situation für die Heiligen. Hier stellt der politische Herrscher Schriftgelehrte als Richter an und die Existenz der Heiligen wird nicht geduldet (ebd. 100). Somit trennt Gellner in seiner Idealtypologie analytisch zwischen den religiösen Gelehrten, die für die Rechtssemantik in den Städten stehen und für die Schrift verfügbar ist, und den Heiligen, die in Rechtsfällen die Rolle der Schlichter in den sog. Berberstämmen ausüben. Außerdem postuliert er, dass es in einer segmentären Gesellschaft keine zentralisierten Instanzen zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung gibt, insbesondere keine staatlichen Institutionen. Es sind die mechanische Solidarität und die durch sie strukturierten politischen und rechtlichen Interaktionen zwischen Gruppen, die ein ausreichendes Maß an Sicherheit gewährleisten. Dabei wird die Interaktion zwischen dem islamischen Recht und dem staatlichen sowie dem inkorporierten Gewohnheitsrecht kaum untersucht. Insofern wird die rechtspluralistische Ebene Marokkos weder von Gellner noch von Durkheim thematisiert. Außerdem erforschen Gellner und Durkheim kaum Wandlungsprozesse und beschreiben den Antrieb segmentärer Gesellschaften wie die Struktur eines Baumes symmetrisch mit Abspaltungen und Fusionsmechanismen3 . 2

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In der soziologischen und islamwissenschaftlichen Forschung, um nur ein paar Forschungsansätze zu nennen, werden die Berber und die marokkanische Gesellschaft insgesamt als »tribal-religiöses« bezeichnet (siehe Nohlen 1997), und der Stammesbegriff wird weiterhin verwendet (z.B. Axtmann 2007, 118). Neben der Segmentierungstheorie hat auch die Theorie der »Leff« die Sozialtheorien im Maghreb beschäftigt. Laut Tozy und Lakhassi (2004) bedeutet der arabisch-berberische Begriff eine Allianz zwischen den Stämmen, um die sozialen Konflikte zu kontrollieren und den Frie-

5. Vom Segmentierungsbegriff zur pragmatistischen Milieutheorie

Daher bleibt die Rechtsoziologie im Maghreb unverständlich, wenn das Postulat segmentärer Gesellschaften vorausgesetzt wird. In »l’Histoire du Maghreb« geht Laroui (1973) davon aus, dass der abstrakte Begriff des Stammes als Basisorganisation des Sozialen der dialektischen Evolution im Maghreb nicht gerecht werden kann. Außerdem beobachten sowohl Pascon (1965) als auch Tosy und Lakhsassi (2004) den Bedeutungsverlust des Stammesrats (arab. Gmaa) in der postkolonialen Phase Marokkos. Diese Thesen sind mit der Inklusion der Gmaa in den modernen Nationalstaat begründet. Ein weiterer Klassiker der Anthropologie im Maghreb, der den Stammesbegriff in seiner Sozialtheorie verwendet hat, ist Jaques Berque. Denn anders als Durkheim und Gellner geht. Berque (2001) in seiner juristischen Anthropologie des Maghreb von der Interaktion zwischen dem islamischen Recht und dem Gewohnheitsrecht aus. Die Differenz zwischen beiden Systemen betrachtet Berque in den dichten islamischen Konzepten und ihre Integration in der alltäglichen Praxis (ebd, 449). Denn das Familienrecht der Berberstämme ist – Berque zufolge – zum einen durch das islamische Recht bestimmt, z.B. in der Verheiratung, der Verstoßung und der Bevormundung. Zum anderen ist das Familienrecht durch das Gewohnheitsrecht geregelt, wie die Substituierung, die Adoption oder der Zugewinn. Insofern begreift Berque die Besonderheit der Berberstämme in der Materieverteilung zwischen dem islamischen Recht und dem Gewohnheitsrecht sowie in der Anzahl spezifischer Merkmale, die aus ökonomischen Konditionen und einem Charakter sui generis resultieren. Den Stammesbegriff versucht Berque u.a. in »Qu › est-ce qu’une tribu nordafricaine?« (1953) in der kolonialen und postkolonialen Phase theoretisch zu deuten. Dabei liefert er kaum eine soziologische Definition von Segmentierung. Stattdessen dekonstruiert er (aus seiner Sicht) unangemessene Begriffsbildungen und thematisiert somit, was »die Segmentierung nicht ist« (Albergoni 1997, 145). Überdies scheint seine analytische Erklärung den Stammesbegriff auf eine linguistische Frage zu reduzieren (Gélard 2003). Außerdem werden die dialektischen und technischen Aspekte, die die Probleme der Modernisierung des islamischen Rechts (arab. Fiqh) lösen sollen, vorangestellt (Berque 2001), aber in »Problème initiaux de la sociologie juridique en Afrique du Nord« wird das globale Recht ausgeklammert und lediglich das islamische und nordafrikanische (berberische) Recht erläutert, auch wenn er die weltgesellschaftliche Ebene als dritte Komponente des Rechtspluralismus im Maghreb erkennt (ebd, 466ff.). Die Modelle der angeführten Sozialtheorien im Maghreb berühren mit der Verwendung des Stammesbegriffes ein Thema, das die soziologische Systemtheorie paradigmatisch verwendet hat. Denn anders als Durkheim, Gellner und Berque unden zu sichern. Dieser Begriff wurde überwiegend in Studien der politischen Soziologie angewandt, um die politische Organisation der berberischen Gesellschaft, die Gmaa, zu erklären.

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Teil A – Theorie

terscheidet Luhmann analytisch zwischen Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft, auch wenn sie epistemologisch soziale Systeme sind. Im Zentrum seines theoretischen Interesses geht Luhmann für das gesamtgesellschaftliche System von einem Grundschema der Differenzierung aus und unterscheidet zwischen segmentärer, stratifikatorischer, Zentrum/Peripherie und funktionaler Differenzierung. Er fügt hinzu, dass ein sprunghafter Übergang von segmentärer zur funktionalen Differenzierung nicht möglich ist. Insofern steigt die interne Systemkomplexität mit Zunahme oder vor allem mit einer Änderung der primären Differenzierungsform an (Luhmann 1999; 1984; 1980). Die Systemkomplexität vermittelt mithin zwischen evolutionären Strukturänderungen und Umwandlungen der Semantik. Dies bedeutet allerdings nicht, dass mit einem Strukturwandel des Gesellschaftssystems zu einer primären funktionalen Differenzierung Segmentierung (und Stratifikation) marginalisiert wird. Für die Systemtheorie bleiben Korrelationen zwischen sozialen Veränderungen und der primären Form der Gesellschaftsdifferenzierung aktuell. Dabei geht Luhmann auf der Begriffsebene von einer Multifunktionalität segmentärer Differenzierung aus; zum einen von einem segmentär differenzierten Gesellschaftssystem. Hier handelt es sich um eine evolutionäre Errungenschaft besonderen Typs, nämlich um den durchgesetzten Primat einer bestimmten Form der Systemdifferenzierung. Segmentäre Differenzierung bedeutet demnach, dass die Gesellschaft in gleiche Teilsysteme strukturiert wird. Jedes Teilsystem, wie Familien oder Dörfer, beobachtet die Umwelt lediglich als ähnliche Einheit. Das segmentäre Gesellschaftssystem stützt sich auf Alter und Geschlecht, die es in Interaktionen zum Ausdruck bringt, und kann daher eine geringe Komplexität von Kommunikationsmöglichkein nicht überschreiten (Luhmann 1999; 1980). Dabei ergibt sich Inklusion aus der Zugehörigkeit zu einem der Segmente, während in der funktional differenzierten Weltgesellschaft Inklusion den Teilsystemen überlassen wird (Luhmann 1999). Auch das Prinzip der Solidarität entspricht dem Primat segmentärer Differenzierung und impliziert, dass man einer und nur einer sozialen Gruppe angehören kann (Luhmann 1980). Außerdem können segmentäre Gesellschaften lediglich mündlich kommunizieren und sind in ihrem Gedächtnis auf psychische Systeme angewiesen (Luhmann 1995). Insofern bedeutet die Verwendung der Schrift eine strukturelle Umstellung des Gesellschaftssystems auf stratifikatorische Differenzierung (ebd, 252). Zum anderen geht Luhmann auf weltgesellschaftlicher Ebene von einer primär segmentären Differenzierung der Funktionssysteme aus. Hier handelt es sich um eine Ungleichheit der Segmente, die wiederum gleiche Funktionen erfüllen. Zwar ändert sich mit der funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft die primäre Stellung der Differenzierungsform, allerdings scheint eine Art der Schichtung und segmentären Differenzierung vorzuherrschen (Luhmann 1999, 760–776). Beispielsweise ist das Weltwirtschaftssystem als eine interne Differenzierung von Märkten zu verstehen, das sich gerade durch die Ungleichheit der Finanzmärkte auszeichnet.

5. Vom Segmentierungsbegriff zur pragmatistischen Milieutheorie

Das weltpolitische System ist segmentär in Nationalstaaten und zugleich in eine Zentrum-/Peripherie-Differenzierung organisiert. Ebenso ist das Wissenschaftssystem primär segmentär in Disziplinen gegliedert, die sich ebenfalls durch die Unterschiedlichkeit der Forschungsgegenstände kennzeichnen. Abschließend geht Luhmann (1999) von Globalisierung und Regionalisierung aus, um die weltweite Durchsetzung primärer funktionaler Differenzierung zu verdeutlichen. Dabei wird konstatiert, dass die primäre funktionale Differenzierung die moderne Weltgesellschaft ungleichförmig strukturiert (Johannes 2007). Denn auf Weltgesellschaftsebene zeichnet die primäre Differenzierungsform die Strukturen vor, welche die Voraussetzungen für regionale Konditionierung markieren (Luhmann 1999). Es kann sich bei diesen lokalen Sonderbedingungen um strukturelle Kopplungen (wir werden von Übersetzung sprechen und von Luhmann zu Renn gehen) handeln, die einen Modernisierungsschub in Richtung funktionaler Differenzierung begünstigen. Somit ist nach Luhmann der Maghreb auf weltgesellschaftlicher Ebene nicht in den gleichen Ausmaßen durch funktionale Gesellschaftsdifferenzierung strukturiert wie z.B. Westeuropa. Im Maghreb kommt – Luhmann zufolge – der segmentären und stratifikatorischen Differenzierung eine besondere Bedeutung zu. Eine Grundproblematik der soziologischen Systemtheorie besteht darin, dass sie die systemische und kulturelle Heterogenität der sogenannten Segmentierung in den peripheren Regionen der Weltgesellschaft nicht erfasst, sondern von radikal und systemisch geschlossenen Segmenten ausgeht. Zuletzt betont die soziologische Systemtheorie die operative Schließung der Funktionssysteme (1984). Dies bedeutet die Ausgeschlossenheit der sozialen Umwelt, außer wenn – so Luhmann – das Funktionssystem selbst die Umwelt nach der Voraussetzung seiner eigenen möglichen Informationsverarbeitung als bedeutend erachtet. Hierfür muss das Funktionssystem seine Institutionen an die steigende Komplexität anpassen und zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz differenzieren (Luhmann 1995). Eine Antwort auf diese Grundproblematik liefert die Übersetzungstheorie. In Anlehnung an diese Gesellschaftstheorie wird formuliert, dass trotz der Selektivität und autonomer Bedeutungszuschreibung die Systeme nicht im radikalen Sinne operativ geschlossen sind, sondern »operativ gekoppelt und soziale Übersetzungen zwischen den Integrationseinheiten leisten« (Renn 2006, 406f. mehr hierzu im nächsten Kapitel).

5.2 Umstellung der soziologischen Grundbegrifflichkeiten Die ausgeführten klassischen Theorien begreifen die Sozialorganisation der untersuchten Subjekte als Segmentierung erster Differenzierung oder allenfalls als Zweitdifferenzierung. Während Durkheim, Gellner und Berque unterschiedlich von einer primären Differenzierungsform ausgehen, deutet Luhmann Segmentierung als soziale Differenzierung und lokale Sonderbedingung der modernen Weltge-

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Teil A – Theorie

sellschaft. Somit ist die methodologische Umstellung von den maghrebinischen Akteuren als Segmente einer bestimmten Form der Differenzierung hin zu einer spezifischen Milieuform unter dem Primat multipler, d.h. funktionaler, kultureller und regionaler Differenzierung angekommen (Renn 2006, 2014, 2016). Die Gründe dieser methodologischen Umstellung sind nur zum Teil (wie oben ausgeführt) explizit beschrieben worden. Dabei ist anzumerken, dass die makrosoziologische Forschung im Maghreb nicht in der Form einer pragmatistischen Übersetzungstheorie aufgetreten ist. Diese Gesellschaftstheorie anzuwenden, bedeutet allerdings, die Komplexität und die begrifflichen Genauigkeiten maghrebinischer Soziologie zu steigern und ihre analytischen Fähigkeiten auszubauen. Daran anschließend wird die Sozialorganisation der Berber nicht als Segmentierung betrachtet, sondern als Milieuform und Nichtlokalität habituell verankerter Handlungshorizonte erfasst. Denn anders als die angeführten Segmentierungstheorien, die eine soziale Lokalität der Berbermilieus voraussetzen, impliziert Nichtlokalität (auch in der theoretischen Physik) soziale Beziehungen und Interdependenzen zwischen räumlich dezentralisierten und nicht nationalstaatlich abgegrenzten Fernwirkungen. Nichtlokalität bedeutet folglich, dass die sozialen Milieus nicht an einem bestimmten Territorium oder Staatsgebiet einzuordnen sind, da sie letztendlich keineswegs geographisch auf einen Ort festgelegt sind, sondern sich in verschiedenen Gebieten des modernen Nationalstaats und der Weltgesellschaft niederlassen können. Diese universelle und weltgesellschaftliche Reichweite der Berber als soziale Milieus ist im Zuge der Entkolonialisierung mit Prozessen der Ausbreitung spätmoderner und komplexer Lebensmuster – wie das Bildungssystem oder die Migration – verbunden. Überdies sind die Berbermilieus bereits während der französischen und spanischen Kolonialzeit (1912–1956) politisch und rechtlich in den modernen marokkanischen Nationalstaat und somit in die Weltgesellschaft integriert. Zudem sind die Berbermilieus durch Inhomogenität und unzählige Differenzen gekennzeichnet und lassen sich durch weltweite Bedingungen durchdringen. Insofern sind die Berbermilieus als eine interne Differenzierung der multipel differenzierten Weltgesellschaft zu verstehen. Denn geht man von einer multiplen – und nicht nur funktionalen – Differenzierung aus, werden die Berbermilieus – in Anlehnung an Renn (2016, 174) – als eigene Integrationseinheit auf der Basis eines inkorporierten und praktisch geteilten Wissens zusammengehalten bzw. transformiert. In diesem Sinne sind auf der gesellschaftheoretischen Ebene die lebensweltlichen praktisch-performativen Milieus von den Systemen codierter Kommunikation, formaler Organisationen und Personen zu unterscheiden. Die performative Übersetzung ist überdies, historisch gesehen, eine Folge gesellschaftlicher Differenzierung und verändert sich zeitlich und regional (ebd. 250). Das bedeutet auch, dass die Übersetzung zwischen den Sinnhorizonten in Nationalstaaten und/oder auf supranationaler Ebene variiert. Variation bedeutet allerdings auf der strukturellen (und semantischen) Ebene nicht die Vorstellung der System-

5. Vom Segmentierungsbegriff zur pragmatistischen Milieutheorie

theorie von einer Abwandlung bestehender Strukturen innerhalb der primären Unterscheidung von System und Umwelt (Luhmann 1997, 456 ff; Stichweh 2000). Stattdessen charakterisiert Variation die Pluralisierung von funktionaler, kulturellpraktischer und regionaler Differenzierung in der Weltgesellschaft (Renn 2016, 266). Die Pluralisierung von Differenzierungsformen bezeichnet überdies keine Hierarchie und keine wesentliche Integrationseinheit, die die Weltgesellschaft im Wesentlichen bestimmt. Somit bedeutet die weltgesellschaftliche Integration eine Integration zweiter Ordnung (ebd. 204, 266). In diesem Sinne können die Berbermilieus – in Anlehnung an Renn 2006, 410ff. – als praktische Integration und eine Form kultureller Differenzierung in funktionale Differenzierung übergehen, oder sie können in kulturellen Feldern auf der Grundlage impliziten und habitualisierten Wissens als Bindeglied der Interaktion fungieren. Diese Koordinationszusammenhänge sind nicht nur auf der Subjekt- und Handlungsebene mikrotheoretisch in den sozialen Interaktionssphären auf der Beziehungssoziologie des Alltags zu konzeptualisieren, wie Zifonun (2014, 18f. und 71) im Falle der sozialen Milieus argumentiert. Dabei blendet er aus, dass Milieus als Handlungselemente in funktionale differenzierte Organisationen und Systeme durch »Übersetzungskaskaden« transzendieren (Renn 2014). Auch seine Methodologie (2014, 77ff.) bleibt an die mikrohermeneutische und interaktions-wissenssoziologische Ebene gebunden (siehe auch Schiffauer 2010, der islamistische Handlungskompetenzen, Routinen und Techniken des Alltags empirisch aus einer »praxistheoretische[n] Perspektive« (ebd. 26) als religiöse Milieus erforscht). Im Gegensatz dazu sollen in Anlehnung an Renn primär die sozialen Übersetzungen fokussiert werden, die zwischen den differenzierten Integrationseinheiten im multipel differenzierten Familienrecht hyperzirkulär und makrohermeneutisch interpretiert werden sollen. Der Begriff des postkolonialen Milieus wird dann für einen primären Sinnzusammenhang angewandt, ohne ihn mit der Kategorie der ethnischen Herkunft (wie Araber, Berber etc.) zu überlasten. Denn durch die ethnische Kategorisierung können funktionale und praktisch-kulturelle Differenzierungen überdeckt werden, was zu Ausgrenzungen und »künstlichen Homogenisierungen« (Wiebke 2006, 361) führen kann4 . Die Einheit eines Milieus hängt von der Form der kulturellen Integration eines Handlungszusammenhangs ab und besteht in der permanenten Übersetzung zwischen den Integrationseinheiten. Die operative Kopplung impliziert allerdings keinesfalls, dass die sozialen Beziehungen über Sinngrenzen hinweg durch eine Linearität der Bedeutungsübertragung oder Auflösung der Differenz markiert sind,

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Bohnsacks (u.a. 1995 auch hierzu Zifonun 2014) hebt in seinen Studien neben den Kategorien soziales Geschlecht und Generation auch Ethnizität als relevant für die Bestimmung des Milieubegriffs hervor, die nur um den »Halbbogen« gespannt werden und nicht eine gesellschaftliche Milieuanalyse implizieren.

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Teil A – Theorie

sondern vielmehr, dass sie durch Bedeutungsbrüche und Rechtskniffe gekennzeichnet sind. In der gesellschaftheoretischen Analyse der Übersetzungstheorie unterscheiden sich die informellen sozialen Milieus voneinander durch die habituell verankerten und praktisch kulturellen Handlungshorizonte. Zudem besteht die fundamentale Differenz zwischen sozialen Milieus und formalen Organisationen darin, dass Organisationen durch die Mitgliedschaft die Personen selektiv integrieren, während sie in Milieus durch die Zugehörigkeit eingeordnet werden (Renn 2014, 127 ff.). Wie bereits angemerkt, sind soziale Milieus ebenso mittelbar und implizit in eine heterogene und hochgradig multipel differenzierte Weltgesellschaft eingebettet. Sie variieren mit multiplen Differenzierungsmustern und kommen durch Selektionsfilter der Übersetzung und makroanalytischer Interpretation zur Geltung. Somit ist die Form eines sozialen Milieus keineswegs eine Teilmenge von Individuen. Stattdessen ist sie performativ die zusammengefügte Gesamtheit gebildeter (oder möglicher) Praktiken, die durch ein gemeinsam implizites Wissen integriert ist (Renn 2012; 2014, 285). Ein Berbermilieu ist daher eine besonders implizite und praktische Lebensform der Handlungskoordination und variiert mit der Form multipler Differenzierung. Insofern sind die Formen der Berbermilieus in regionalen Konstellationen der modernen Weltgesellschaft spezifisch verschieden. Die Differenzierung zweiter Ordnung oder die Differenzierung von Differenzierungsformen realisiert folglich eine Vielzahl von regional und lokal unterschiedlichen Integrationsformen. Dies bedeutet, auf der regionalen Ebene zwischen den Formen multipler Differenzierung zu unterscheiden und bei den Integrationsformen, hier bei den Berbermilieus, anzusetzen. Denn diese Region der multipel differenzierten Weltgesellschaft kann die globalen und nationalstaatlichen Interdependenzen unterschiedlich in »Spezialkonditionen übersetzen« (Renn 2014, 283 fn.). Abschließend kann man zunächst als Zwischenfazit festhalten, dass die Berbermilieus nicht im Rahmen von lokalen Koordinationen einer Nation bzw. eines Nationalstaats zu konzipieren sind, sondern gesellschaftlich bzw. weltgesellschaftlich als ein nichtlokales emergentes kulturelles System zu betrachten sind, das in primäre funktionale Differenzierung transzendieren kann. Entscheidend ist überdies, dass aufgrund der kolonialen und postkolonialen Entwicklung Marokkos die normativen Ordnungen nicht als eine Ablösung vom traditionsgesicherten Gewohnheitsrecht hin zum islamischen und positiven Recht zu deuten sind. Stattdessen lassen sich die normativen Rechtsordnungen als eine Umverlagerung und Umordnung beobachten, die eine Übersetzung multipler Ordnung hervorbringen.

6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung

Die makrosoziologischen und pragmatistischen Theoriearbeiten, die empirischen Ergebnisse aus erster Hand beziehen, erfassen die nordafrikanischen Berber nicht primär als segmentär differenzierte Stämme, sondern als postkoloniale und weltgesellschaftliche Milieus, die in Anlehnung an die Übersetzungstheorie grosso modo als Integrationseinheit unter dem Primat multipler Differenzierung mit den Systemen, den Organisationen und den Individuen interagieren. In dieser spätmodernen multiplen Differenzierungsform, die sich durch Abstraktion und Komplexität auszeichnet, werden die symbolischen Grenzen zwischen den Integrationseinheiten überschritten und gesellschaftstheoretisch übersetzt. Überdies werden die ausdifferenzierten Kommunikations- und Handlungszusammenhänge bzw. die funktionalen und praktisch- kulturellen Einheiten transponiert, ohne jedoch die Integrationseinheiten zu assimilieren. In diesem Sinne folgt die spätmoderne marokkanische Sozialstruktur nicht nur auf die »primäre funktionale Differenzierung« (im Sinne Luhmann) als einziges sozialstrukturelles Ergebnis der sozialen Evolution, sondern ist multipel differenziert. Die Integrationsformen der multiplen Differenzierung treten ebenfalls als funktionale Makrosysteme auf und bilden in Regionen der Weltgesellschaft füreinander vertikale und wechselseitige Umwelten. Dabei können die Makrosysteme Recht und Politik sowie deren pragmatische Übersetzungsverhältnisse in den differenzierten Integrationseinheiten jeweils unterschiedlich entfalten. Sie können – anders formuliert – in bestimmte Funktionssysteme und Organisationen oder Milieu- und personenbezogene Sinnhorizonte übersetzt werden (Renn 2014, 317). Dieser Vorgang schließt einen hermeneutischen Übergang zwischen Abstraktion- und Explikationsniveau ein, der nicht allein durch primäre funktionale Differenzierung zu gewährleisten ist (ebd. 112). Ähnlich wie die Übersetzungstheorie, orientiert sich auch die Systemtheorie bei der Ausdifferenzierung von Recht und Politik (und anderen Funktionssystemen) nicht an alteuropäischen Denkschemata, die das Ganze in Teile differenzieren, sondern trotz paradigmatischer Unterschiede (auch in Bezug auf die Feld- und Praxistheorie) an einem »Emergenz Paradigma« (Kneer 2016, 28f.; Luhmann 1999, 597f.; Bourdieu 2001, 406f.). Aus dieser Perspektive der soziologischen Systemtheorie können die Funktionssysteme, Recht und Politik, selbst ihre Selbstreferenz, ihre Funktionseinheiten, ihre binären Codierungen im Schema

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Teil A – Theorie

(Recht/Unrecht oder Regierung/Opposition) und Strukturen stabilisieren und paradigmatisch die Systemdifferenz markieren (Luhmann 1995, 41ff., 407–495; 1984, 75ff.). Dadurch können beide Systeme ihre Autopoiesis regulieren und ihre eigenen Sinngrenzen operativ radikal verschließen. Anders formuliert: In den systemtheoretischen Rahmenbedingungen sind die funktionalen Integrationseinheiten in der spätmodernen Weltgesellschaft auf Dauer zirkulär geschlossen. Dementsprechend schließen das positive Recht und das politische System – aufgrund der relativen Autonomie – ein »direktes Hineinkopieren« von systeminternen Operationen aus (z.B. von Gesetztexten und machtpolitischen Entscheidungen) (Luhmann 1995, 409). Daher sind das Rechtssystem und das politische System nicht in der Lage, in der sozialen Umwelt zu operieren. Sie stehen erst in der funktional differenzierten Weltgesellschaft füreinander zur Verfügung, wenn es sich um »strukturelle Kopplungen« handelt (ebd.: 440ff.). Laut der soziologischen Systemtheorie ist strukturelle Kopplung eine »Zwei-Seiten-Form«, die systemischen Kommunikationen einschließt und ausschließt. Dabei kann strukturelle Kopplung in den Funktionssystemen nur »Irritationen, Überraschungen oder Störungen auslösen« (ebd.: 442). Das systemische Recht ist mit dem politischen System durch die Verfassung strukturell gekoppelt, und laut der Systemtheorie erzeugen beide dadurch wechselseitige Irritationen. Auf diese Weise werden zwar Interdependenzen zwischen den Teilsystemen realisiert, aber die operative Geschlossenheit beider Funktionseinheiten wird nicht aufgehoben (Kneer 2016, 46). Im Gegensatz dazu sind die Funktionssysteme in der multiplen differenzierten Welt- Gesellschaftstheorie nicht strukturell, sondern operativ gekoppelt; außerdem sind sie in der Lage, sich gegenseitig nichtlinear und grenzüberschreitende zu übersetzen (Renn 2006; 2014; 2016, 245). Daraus folgt, dass die intersystemischen Korrelationen permanent durch vertikale und horizontale »Übersetzungskaskaden« (2006, 406ff.) eine Integration zweiter Ordnung bilden (mehr hierzu siehe 3.2. Zum soziologischen Begriff der Rechtsübersetzung). In diesem Sinne integriert das systemisch relativ autonome und spezialisierte Recht sich selbst und ist – trotz der gegenseitigen symbolischen Abgrenzungen – auf der Basis der praktischen Übergänge mit anderen Funktionssystemen und Handlungskontexten, hier im Speziellen mit dem politischen System und dem habituellen Gewohnheitsrecht sowie dem islamischen Recht, in Übersetzungen verwickelt. Dies hängt primär mit der sozialen Evolution der multiplen Differenzierung zusammen, die je nach Region der Weltgesellschaft zu einer jeweils anderen Konstellation zwischen den Beteiligten Integrationseinheiten führt und kann weder nur in praxistheoretischen noch allein in systemfunktionalen Aspekten ausreichend untersucht werden. Beispielsweise entfalten sich die mehrdimensionale sozialstrukturelle Evolution und die daraus entstehenden Übersetzungsverhältnisse der spätmodernen Funktionssysteme in Nordamerika oder in Teilen Europas anders als die multiple Entwicklung in der arabisch-islamischen Welt oder in Lateinamerika, wobei sich »der Spielraum der

6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung

Theoriebildung« amplifiziert (Renn 2014a, 253. Fn. 12). Überdies ist das Verhältnis zwischen Recht und Politik – als hochabstrakte systemische Integrationseinheiten – in eine Pluralität bzw. Gesamtheit von typendifferenten Kommunikationen und Handlungskontexten integriert. Sie zirkulieren in räumlich getrennten Nationalstaaten der Weltgesellschaft, in denen einzelne Funktionssysteme in Führung gehen können (Renn 2006, 405; Luhmann 1995; Teubner & Fischer-Lescano 2006). Das bedeutet allerdings keine latente Verkennung der Funktion anderer Subsysteme, sondern nur, dass sie mit unterschiedlicher Geschwindigkeit der Eigenstrukturen und symbolischen Machtverhältnisse die Evolution der innerstaatlichen Funktionsbereiche eminent einordnen1 . In Regionen der Weltgesellschaft im Allgemeinen und in der »komplexen marokkanischen Sozialstruktur« (u.a. Pascon 1971; Claret 2004, 11–17) im Besonderen kann – gesellschaftsstrukturell – das politische System, das in der Weltgesellschaft als multiple Zweitdifferenzierung integriert ist, mit dem Wirtschaftssystem in Führung gehen. Das komplexe politische System hängt wiederum offensichtlich mit dem multidimensionalen Rechtssystem2 zusammen und bildet die Grundlage gesicherter Geltung der normativen Rechtsordnungen. Das positive Rechtssystem ist in der kolonialen Phase (1912–1956) durch die französische Verwaltung entstanden und hat sich in der postkolonialen Phase weiterentwickelt. Daher handelt es sich bei systemischem Recht und staatlicher Politik um sozialstrukturelle Umverlagerungen, die spezifische vertikale und wechselseitige Übersetzungszwänge erzeugen, denn neben ihrer Abstraktion sind beide Funktionssysteme auch äußerst komplex. Sozialstrukturell kann das geltende positive Recht die Besonderheiten von Einzelentscheidungen der Politik übersetzen, ohne jedoch ein einheitliches rechts-politisches System zu bilden. Dies gilt zunächst im Hinblick auf ein besonderes leitendes Segment des politischen Systems, nämlich die Institution der Monarchie, die in einem Sinnzusammenhang rechtliche Entscheidungen mit politischen Funktionen integriert. Denn einerseits sitzt die Institution des Königs dem Obersten Justizrat vor, die den Richterstatus organisiert, andererseits wird sie als »Führung der Gläubigen« (Amir al-Mu’minīn) ausgelegt. Diese operativen Differenzen und die inhärente Struktur der Monarchie ist nicht durch eine Singularität politischer Formen (Regierung/Opposition) und eine systemtheoretische binäre Codierung gekennzeichnet, sondern sie akzentuiert politische und kulturelle »Hegemonie« (Gramsci) weitgehend durch Signifikante der Pluralität. In diesem Sinne koexistieren in der Sozialstruktur, der König miteingeschlossen, sakral-religiöse und profan-weltliche Ordnungen, die die islamisch-

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Wie bereit angemerkt, zeichnen sich die Funktionssysteme durch ein Charakteristikum der Gleichheit und Ungleichheit aus, vgl. in dieser Arbeit den vorletzten Absatz von »Kritik an Theorien segmentärer Differenzierung«. Siehe »Die Übersetzung zweiter und dritter Ordnung« in: Rechtspluralismus und Familienrecht. Drei horizontale und vertikale Übersetzungsverhältnisse.

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Teil A – Theorie

berberische und koloniale Geschichte in ihnen hervorgerufen haben. In ihren Innenwelten sind beide Ordnungen operativ gekoppelt und bedingen einander gegenseitig, sodass sich politische und religiöse Handlungen wechselseitig einander voraussetzen. Diese komplexe Zwei-Seiten-Form des Politischen ist das Ergebnis historisch spezialisierter Einrichtungen, das sich im Amt des Königs manifestiert. Diese politische Form wurde im Zuge der Reformen während des »arabischen Frühlings« erneut in der neuen Verfassung von 2011 pragmatisch weiterentwickelt und kodifiziert (Lafrougi 2015). Demnach hat das Amt des Königs als legitimer Ort politischer Machtausübung eine weltlich koloniale und eine religiös rechtliche Herkunft (vgl. vor allem Heintz et al. 2006, 436; Tozy 1999). Die religiös rechtliche Dimension bezieht ihre Legitimitätsgeltung primär von der Prophetenabstammung und den vorherigen Königsdynastien (Geertz 1988, 116). Sie geht somit auf das sunnitische Herrschaftskonzept des Kalifats zurück, das im Laufe der islamischen Geschichte insgesamt zwei paradigmatische Abgrenzungen und semantische Brüche in seinen vordefinierten Konstruktionen erfahren hat. In diesen sozialstrukturellen Wandlungsprozessen wurde die Sinnsprache der Metaphysik mit der politischen Seinfrage verknüpft. Die erste epochale Umwandlung analysiert Ibn Khaldun (2014) in seinen soziologischen Betrachtungen zur politischen Geschichte des Islam. Dort thematisiert er die Abschaffung des frühislamischen Kalifatssystems während der Umayyaden-Dynastie (660–750 n. Chr.) und die Einführung des Königsbegriffs unter dem Primat des Erbkalifats (mehr hierzu El Guennouni 2017, 201ff.). In diesem Sinne zeigt sich die pragmatische Rekombination der frühislamischen Herrschaftsform durch die Umayyaden-Dynastie primär in der Übernahme der Institution des »Amir al-Mu’minīn« (Führer der Gläubigen) in Gestalt des Rechts des erstgeborenen Sohnes auf politische Macht. Da jene Reformulierung des Politischen religiös-rechtlich begründet war, entlehnten die zentralen »Machtfigurationen« (Elias 1997, 2009, 2010) überlieferte Hilfsmittel und Rituale aus der vorhandenen Tradition, die auf langen Umwegen und durch die koloniale Epoche bis heute das marokkanische System (und andere sunnitische Systeme) konstitutionell begleiten3 . In Marokko wird die ontologische Selbsterhaltung des Religiösrechtlichen im Politischen jedes Jahr durch staatliche Handlungen und habituell verankerte Praktiken bestätigt. Als fortdauerndes Medium dieser historischen

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Sowohl die frühislamische Herrschaft als auch das Erbkalifatsystem finden im Koran als kulturelle und semantische Machtformen keine Erwähnung, wie Mérad (1986, 68) feststellt: »Cependant, il y a lieu de signaler que dans le Coran, il n’y a pas d’éléments structurels d’un projet politique. Le livre saint de l’Islam ne parle que de principes moraux, d’éthique: la justice, l’équité, l’égalité entre les hommes: vous êtes tous égaux, vous êtes tous issus d’Adam, donc vous êtes constitués de la même substance «. Insofern sind beide islamisch- politische Machtformen menschlicher Natur.

6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung

Selbstreproduktion kann man an die »Baiʼa-Praktiken« (Treueid, Huldigung) erinnern, welche die normative Erwartung »Tā’a« (Gehorsam) nicht nur symbolisieren, sondern die religiöse Pflicht der sog. Gläubigen (der Bevölkerung) zur Machterhaltung durch staatliche Rituale in Szene setzen4 . Ganze islamische Rechtsbücher und vor allem die letzte Verfassungsänderung im Jahr 2011 (Artikel 19 und 41) schreiben weiterhin die basale Souveränität des Königs als Amir al-Mu’minīn vor5 . Als Führer der Gläubigen ist der König laut der Verfassung der Vorsitzende des obersten Rats der islamischen Rechtsgelehrten. Hierbei handelt es sich um einen Rat, der allein dazu befugt ist, legitime Fatawa (islamische Rechtsgutachten) zu erlassen. Zudem verfügt der König über die Macht, Gesetze in Gestalt von Dahirs zu verabschieden6 . Dies ermöglicht ihm, Entscheidungen in differenten Funktionsbereichen zu dirigieren, wie die Parlamentsauflösung (Artikel 51 und 96), die Ernennung der Richter und Staatsanwälte durch das oberste Organ der rechtsprechenden Gewalt zu genehmigen (Artikel 57) oder eine Verfassungsänderung nach einem konstitutiven Referendum durchzuführen (Artikel 174). Die Dahirs treten mit ihrer Veröffentlichung in der sogenannten Offiziellen Zeitung des marokkanischen Königreiches in Kraft. Aus diesem Grund wurde das marokkanische Königreich in frühen postkolonialen frankophonen Schriften als Pays des Dahirs (Land der Dekrete) bezeichnet (Decroux 1967). Das Vorhandensein eines Verfassungsrechts, das zum Teil aus der religiösrechtlichen Tradition abgeleitet wird, hat weitreichende Konsequenzen nicht nur für die Entwicklung der pluralen normativen Rechtsordnungen, sondern auch für andere Integrationseinheiten. Die zweite komplexe epochale Umwandlung ereignete sich – wie bereits ausgeführt – durch die koloniale Verwaltung (1912–1956) und ist Teil der funktionalen Ausdifferenzierung des weltpolitischen Systems unter der Prämisse der Nationalstaatsbildung. Der systemtheoretische Ursprung dieser Argumentation ist unverkennbar (z.B.: Luhmann 1984, 1999). Dabei ist jedoch zu bedenken, dass in der islamischberberischen Welt die Durchsetzung eines spezialisierten Subsystems politischer Kommunikation nicht unmittelbar mit einem sozialstrukturellen Zusammenbruch der mittelalterlichen Stratifikation einherging, wie Luhmann im Falle Europa mit dem Grundbegriff »Katastrophe« beschreibt. Stattdessen geschah der Übergang zum 4

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Dies war auch in der zwanzigsten Jahresabsprache des Königthrons vom 29.07.2019 zu beobachten, in der sich der Monarch – wie in jedem Jahr – in einer Rundfunkabsprache an sein Volk wendet. Siehe hierzu auch Waterbury John (1975). Le Commandeur des croyants. La monarchie marocaine et son élite. Paris. Oder auch: Leveau Rémy (2012). Le fellah marocain défenseur du trône. Paris. Ein Dahir (unterzeichneter Erlass des Königs) ähnelt in seiner Form und Geltung »les lettres de cachet« in der politischen Rechtsgeschichte Frankreichs. Durch die lettres de cachet konnte der französische König unterzeichnete Befehle erteilen (vgl. Foucault 2003, 94).

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modernen Nationalstaat ohne Entmythologisierung habitueller Strukturmuster und politischer Weltanschauungen. Dazu gehört insbesondere die konstitutionelle Ausdehnung der tradierten Königsposition auf weltgesellschaftliche Organisationsformen und die institutionelle Kombination westlicher Rollen des Politischen mit einverleibten Symbolsystemen. Dies lässt sich zunächst an der ersten Verfassung von 1962 unmittelbar nach der Entkolonialisierung beobachten. Hier konnte der König den Premierminister und die Minister ernennen und war zugleich Vorsitzender des Ministerrats (Artikel 24, 25). Überdies verfügte der König über die Macht, mittels eines Dahirs das Parlament aufzulösen (Artikel 65). Darüber hinaus war der König Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Artikel 27, 30) und Vorsitzender des obersten Rats der Wissenschaftsförderung (Artikel 27). Dementsprechend führten die internen Differenzierungen des Politischen und deren Integration in weltgesellschaftliche Strukturmuster dazu, dass die traditionelle Position des Königs und die Systemgrenzen des Politischen überschritten und auf moderne politische Rollen und Institutionen ausgeweitet wurden. Denn obwohl die Verfassung, als strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik, mehrmals reformiert wurde, ist die Kernposition des Königs als Amir al-Mu’minīn und dessen Hegemonie als Richter- und Regierungsoberhaupt weiterhin in der staatlichen Ordnung festgeschrieben. Jedenfalls ist die Vermischung religiöser Herrschaft mit moderner Politik und die plurale Rolle des Königs unübersehbar. Insofern ist die Identität des Politischen in der postkolonialen Phase primär über die Differenz und Interrelation zweier Evolutionsverläufe und politischer Modelle errichtet und in ein spezifisches Netzwerk von Interdependenzen verwoben. In dieser postkolonialen Konstellation ist das religiöse Recht von der Duplizität des Politischen dominiert. Mittels der Zwei-Seiten-Form kann das vertikale Segment des Politischen und sein »Patronage Netzwerk« (Werenfels & Saliba 2017, 2)7 sowohl die religiöse Orthodoxie als auch liberale Akteure auf der Handlungsebene inkludieren8 . Es kann zudem eine pragmatische Modernisierung des islamischen Rechts gegenüber traditionellen religiösen Kräften und Rechtsgelehrten legitimieren und die relativ autonome Frauenorganisationen für seine praktische Übersetzung mobilisieren. In diesem Sinne haben die konstitutionellen Verflechtungen von »neo-patrimonialer Macht« (Weber und Eisenstadt) und moderner politisierter Religion im Jahr 2003 dazu geführt, dass die Monarchie eine Beratungskommission zur Reform des Familienrechts selektiv einsetzte und somit ein tragfähiger Konflikt zwischen säkularen Menschenrechtsbefürwortern und traditionellen Gegnern deeskalierte (Engelcke

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Mit »Patronage Netzwerk« sind sowohl die Berater der Monarchie und die Businesselite als auch die Bürokraten und »royalistische Parteien« gemeint (ebd.: 2). Anders verfährt das multiple Politische in der Regel mit den systemkritischen verschiedenen Öffentlichkeiten, nämlich durch implizite und indirekte Praktiken der rechtlichen Verfolgung.

6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung

2012; Heintz et al. 2006, 441; Belal 2012, 285f.)9 . Abstrakter kann man im Zuge der komplexen und multiplen gesellschaftsstrukturellen Entwicklung »keine Ableitungshierarchie von funktionaler Differenzierung« im Sinne Luhmanns feststellen (Renn 2016, 266), sondern stattdessen eine Vielfalt von vertikalen und doppelten Übersetzungsbeziehungen zwischen funktionalen und kulturellen Rationalitäten. Demzufolge kann die Einheit dieses komplexen Systems des Politischen sich nicht nur auf das Primat funktional differenzierter Makroordnungen als zweite Differenzierung in der Weltgesellschaft beschränken. Eine primär funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft löst andere sozialstrukturelle Differenzierungen, wie die hierarchische Differenzierung, nicht ab. Überdies kann sich das Politische nicht nur in eine universelle Legitimationsgrundlage manifestieren und wird speziell in der regional differenzierten Weltregionen unterschiedlich kombiniert. Das Politische wird nicht als Auflösung von immanenten Traditionen – die Monarchie – durch die Bildung eines »selbstreferenziellen autopoietischen Funktionssystems« (Luhmann 2008) verstanden, sondern es zeichnet sich durch die Differenzierung von Differenzierungsformen aus – es ist multipel differenziert. Dabei muss im Horizont eines Pragmatismus des Übersetzens hinzugefügt werden, dass die strukturell explizite doppelseitige Funktion der Monarchie – wie oben dargelegt wurde – und das politische patrimoniale Elitennetzwerk (u.a. das Machzensystem)10 im komplexen politischen Funktionssystem die handlungsfähige Spitze der Machtasymmetrien darstellen. Die Monarchie und das Elitennetzwerk können gleichzeitig in zwei Sprachen kommunizieren und implizit in die sozialen Rechtsverhältnisse doppelt übersetzt und rückübersetzt werden: Sie können sowohl weltgesellschaftliche Vorgaben der Spätmoderne in nationalstaatliche Rechtshorizonte über die symbolischen Grenzen hinweg transformieren als auch historisch praktisch-habituelle Strukturmuster inkorporieren und vertikal in das Rechtssystem, hier in das Familienrecht, übersetzen. Für die politische Kommunikation ist ein fundamentaler weiterer Code an den Übersetzungen zwischen Recht und Politik beteiligt. Dementsprechend müssen der Parteienpluralismus und die Regierung/Opposition immer in ihre Funktionen sowie Entscheidungen der Monarchie und ihrer Berater rückgekoppelt werden. Die Regierung/Opposition wirkt wie eine

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Zur Spaltung islamischer Gesellschaften im Allgemeinen siehe Nagel (2014) in Bezug auf die Schriften vom Philosophen Al Jabiri: Muhammad Abid Al Gabiri (1936–2010) – ein Aufklärer und Verfechter der Säkularisierung? Zur Kritik (u.a.) Al Jabiri in Bezug auf die Säkularisierungsthese siehe El Guennouni (2017, 200 ff.). Das Machzensystem ist ungefähr im Jahr 1860 entstanden und hat sich in der kolonialen und postkolonialen Phase weiterentwickelt. Es ist ein »Mechanismus, eine Struktur und eine Funktion des Staates« (Al Harwi 2005, 142). Das Machzensystem umfasst alle politischen und wirtschaftlichen Funktionäre des komplexen Staates, wie die Königsfamilie, die Minister, das Militär etc.

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strukturelle Maske der gleichzeitigen Multiübersetzungen zwischen dem hochabstrakten politischen Funktionssystem und den postkolonialen komplexen normativen Rechtsordnungen. Eine weitere Grundkategorie für die wechselseitigen Übersetzungen zwischen beiden komplexen Systemen in der postkolonialen Phase wird aus der zentralen und übersubjektiven Einheit Regierung/Opposition und der parlamentarischen Gesetzgebung, die sowohl schriftlich fixierte politische Entscheidungen als auch Rechtsakte umfasst, gebildet. Sie nimmt neben der Institution der Monarchie unter der binären Codierung machtüberlegen/machtunterlegen als ein zweites codeabhängiges Programm an der Bildung und Funktion von politischer Macht teil und ist neben dem König und den Verfassungsgerichten Hüter der nationalen Verfassung. Das Verfassungsgericht garantiert in der neuen Verfassung (2011) die Unabhängigkeit der Justiz und wird von zwölf ernannten Richtern gebildet, wobei die Institution der Monarchie die Hälfte der Mitglieder beruft und die andere Hälfte vom Parlament ausgewählt wird. Die Gewaltenteilung im politischen System wird nach dem sog. »arabischen Frühling« und der daraus verabschiedeten Verfassung verfestigt, denn die königliche Monarchie hat immer noch eine wesentliche Machteinwirkung im Rechtssystem, obwohl sie nun wichtige politische Entscheidungsräume dem Premierminister überlässt (Hanns-Seidel-Stiftung 2011)11 . In dieser postkolonialen Epoche ist die politische Rolle des Premierministers als Regierungschef, dessen Partei »Gerechtigkeit und Entwicklung« seit dem »arabischen Frühling« neben dem Amt des Königs agiert, gestärkt. Diese pragmatisch politische Partei hat überdies die Parlamentswahlen von 2017 gewonnen und weist einen religiössunnitischen Glaubenshintergrund auf. Ihre Organisationstruktur ist aus der genealogischen Ideengeschichte einer sog. »Chabiba Islamiya«, einer islamistischen Gruppe, entstanden und hat sich im Zuge sozialer, politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge zu einem gemäßigten Flügel weiterentwickelt (mehr hierzu u.a. López García 2012; Ammor 2012, 61ff.; Kirchenbauer 2008, 124). Als regionales Phänomen mit pro-monarchischer Auffassung stellt sie überdies eine politische Ausdifferenzierung der informell »fragmentierten« islamistischen Vielfalt dar (Ebil & Engelcke 2016, 153ff.)12 , wie die konkurrierende zweite Hauptströmung mit 11

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Im Jahr 2011 wurde aufgrund des sogenannten »arabischen Frühlings« eine neue Verfassung verabschiedet, in der der König nicht mehr heilig ist und Teile seiner politischen Macht der Regierung überlässt. Auch andere politische Parteien weisen eine lange Erfahrungsgeschichte im postkolonialen »Parteienpluralismus« (Axtmann 2004, 139) des komplexen politischen Systems auf, wie die Parteien »Die sozialistische Partei für Fortschritt und Sozialismus« (PPS) und »Die liberale Partei der Nationalen Versammlung der Unabhängigen« (RNI) oder die großen Oppositionsparteien wie »Die Partei Authentizität und Modernität« (PAM) und »Die Unabhängigkeitspartei Istiqlal«. Die Regierung/Opposition erstreckt sich in diesem Sinne von islamisch-konservativen und links-

6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung

weltgesellschaftlichen Ambitionen »Gerechtigkeit und Wohlfahrt«, die der Monarchie politische und religiöse Legitimität abspricht und indirekt politischen Druck ausübt (Wegner 2008, 37). Entscheidend für die Entwicklung der Regierungspartei »Gerechtigkeit und Entwicklung« war das Bestreben der Monarchie, eine politische Partei mit einem qualitativen islamistischen Bezugsrahmen in das komplexe System strukturell einzubetten (vgl. Dialmy 2000; Kirchenbauer 2008), um religiöskonservative Milieus und Organisationen in das Politische zu integrieren. Das monarchische Netzwerk mit einem spezifisch inkorporierten Habitus und impliziten Wissen ist neben den Funktionssystemen für die Koordination politischen Handelns strukturbestimmend. Diese These kann nicht auf das subjektive Erleben der Personen reduziert werden, sondern ist in einem Sinnzusammenhang transsubjektiv und in unzähligen Regionen bzw. Nationalstaaten der Weltgesellschaft verbreitet. Einer der substantiellen Unterschiede liegt jedoch darin, dass Marokkos politisches Funktionssystem typologisch durch drei Charakteristika kennzeichnet, ist: Erstens durch eine Veralltäglichung metaphysischer Macht in das Politische, die durch den geschichtlichen und kolonialen Wandel keineswegs abgenommen hat und das Prototyp sozialstruktureller Veränderungen mit epistemologischen Umbrüchen abspeichert. Diese religiöse Machtdimension, die politische Herrschaftsverhältnisse umschließt, integriert und übersetzt zweitens ohne einen Zusammenbruch der historisch habituell-einverleibten Religionsbezüge weltliche Machtrollen mit »zweckrationalen« und »kreativen« (Weber – Joas) Dimensionen des Politischen, das drittens über eine nichtlineare symbolische und materielle Grenze den Code und die Eigenschaften des Systems vertikal und konstruktiv interferiert. Das politische Funktionssystem wird in der postkolonialen Phase nicht neben dem besonderen rekursiven Netzwerk, das im Zentrum des Politischen angesiedelt ist, transmittiert, sondern als eine weltgesellschaftliche Zweitdifferenzierung dadurch überlappt. In diesem Fall sind die Operationen und Beobachtungen des politischen Systems auf weitere vertikale und horizontale Integrationseinheiten angewiesen, so dass die primäre funktionale Differenzierung für eine Makroanalyse der Übersetzungsverhältnisse von multidimensionalem Recht und komplexer Politik nicht ausreicht und sich in multipel differenzierte Weltregionen verwandeln muss. Das politische System grenzt sich dann nicht im radikalen Sinne gegen das besondere Netzwerk und natürlich auch nicht gegen andere Integrationseinheiten ab, und gerade mit seiner Hilfe lassen sich nicht nur Störungen beheben, sondern auch Operationen reproduzieren. Das bedeutet logischerweise dann, das politische

sozialistischen bis hin zu liberalen Parteien (Hans Seidel Stiftung 2017). Mit der Verfassungsreform von 2011 vollzieht sich eine institutionelle Umschließung von politischen Parteien in die politische Teilordnung (Zeino 2017, 235).

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Teil A – Theorie

Macht nicht einfach ein »Kommunikationsmedium« (Luhmann 2003, 4–18) im politischen System darstellt, sondern dass man übersetzungstheoretisch zwischen »multiplen differenzierten Machtformen« und deren Grenzüberschreitungen unterscheiden muss, die innerhalb der mehrdimensionalen Weltgesellschaft eindeutig divergieren (Renn 2014a, 256f.)13 . Insgesamt handelt es sich um eine mehrdimensional ausführende staatliche Gewalt, die intern nach Funktionen ausdifferenziert ist und sich einerseits aus Ministern und Regierungschefs bildet und unter Vorsitz der Institution der Monarchie dirigiert wird. Andererseits ist die Regierung aus einem Rat unter der Macht der Premierminister gebildet und hat überdies dem neuen Familienrecht im Parlament zugestimmt. Dementsprechend muss eine Übersetzung zwischen dem komplexen politischen System und den multiplen Rechtsordnungen – d.h. islamisches Recht, positives Recht und habituelles Gewohnheitsrecht – die elementaren Beziehungen dieser hochkomplizierten Verhältnisse untereinander analysieren und auf diesem Wege kommunikations- und handlungstheoretisch entlang der Übersetzungsstufen rekonstruieren. Das heißt, dass die Möglichkeit der Übersetzungsverhältnisse zwischen diesen beiden komplexen Systemen über Sinngrenzen hinweg verschiedene Differenzierungswege durchlaufen und somit die Reduzierung und den Aufbau von Komplexität verzeichnen muss. Das implizit allerdings keinesfalls, dass die sozialen Systembeziehungen durch eine Linearität der Bedeutungsübertragung gekennzeichnet sind, sondern vielmehr, dass sie durch Bedeutungsbrüche und Rechtskniffe markiert sind. Die strukturelle Verbindung zwischen Recht und Politik auf der multiplen Differenzierungsebene schließt also weder eine Auflösung der Differenzen noch eine Rechtskollision in der bezogenen Umwelt mit ein. Die systemischen Kommunikationen und die Abstraktionsgrade sind stattdessen durch Machtasymmetrien und »vertikale Übersetzungen« (Renn 2006) einerseits zwischen der Monarchie und der Regierung/Opposition und andererseits zwischen der Monarchie und/oder der Regierung/Opposition sowie den normativen Ordnungen des Familienrechts, das wiederum mit globalen Modellen nichtlinear verbunden ist, charakterisiert. Diese strukturellen Asymmetrien zwischen den Funktionssystemen Recht und Politik bedeuten für die vertikalen Übersetzungsverhältnisse

13

In der Übersetzungstheorie wird der Machtbegriff als »eine Dimension der Koordination des Handelns« begriffen, »die sich in Formen differenziert, zwischen denen übersetzt werden muss« (Renn 2014a, 255). Zwischen den multiplen differenzierten Machtformen unterscheidet Renn (ebd.: 256) in einem allgemeinen Sinn implizite Macht und explizite Macht sowie die sekundäre Form der Macht der Übersetzung dieser Macht, während wir im Speziellen darüber hinausgehen und dazu einen handlungstheoretischen Machtbegriff mit einer systemischen Machtkoordination des Politischen hinzufügen, die in weiteren machtbezogenen vertikalen und horizontalen Übersetzungen interagieren.

6. Recht und Politik in der multiplen Differenzierung

keineswegs, dass sie ein einheitliches rechtlich- politisches Funktionssystem bilden oder verschiedenen sozialstrukturellen Differenzierungsgraden, z.B. primär stratifikatorischer und primär nur funktionaler Differenzierung, unterliegen. Denn differenzierungstheoretisch ist die Übersetzung zwischen den normativen Rechtordnungen und der komplexen Politik im spätmodernen Sinne erst in der postkolonialen Phase (ab 1956) entstanden. Vor der kolonialen Phase, die von 1912 bis 1956 andauerte, war die Interaktion des politischen Systems mit den normativen Rechtsordnungen – islamisches Recht und habituelles Gewohnheitsrecht – insbesondere durch indigene Faktoren und ein hierarchisches Verhältnis mit geringfügigen Interdependenzen von Rechtsprechung und Gesetzgebung bestimmt. Denn solange die Gesellschaftsstruktur primär durch zwei Differenzierungsformen, stratifikatorisch in den Städten und segmentär in den Stämmen, organisiert war, waren viele Teile des Landes durch das Gewohnheitsrecht bestimmt und nicht in die zentrale Machtgewalt inkludiert. Das positive staatliche Recht als besonderer Teil des dritten Übersetzungsverhältnisses (siehe das letzte theoretische Kapitel: Drei vertikale Übersetzungen, Rechtspluralismus und Familienrecht) ist erst in der postkolonialen Phase entstanden, als die multiple Differenzierung der Weltgesellschaft bereits weiterentwickelt worden war. Dazu haben die Durchsetzung des modernen Territorialstaats und die strukturelle Säkularisierung sowie die Formalisierung des Rechts in der kolonialen Phase beigetragen (El Guennouni 2017). In diesem Zusammenhang ist überdies die maßgebende Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen zu nennen, die in der sozialen Sinndimension auf Umwegen das staatliche positive Familienrecht mittels moderner Gendernormen explizit determinieren und zugleich in anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen rückübersetzen (vgl. Kapitel 7: Das Familienrecht und die Zivilgesellschaft). Von Bedeutung ist hier der funktionale Status von Frauenorganisationen als Handlungsakteure für die praktischen Übersetzungen und Rückübersetzungen des neuen positiven Familienrechts. Somit haben das staatliche Familienrecht und die zwei normativen Rechtsordnungen – das islamische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht – in der postkolonialen Epoche ihre eigentümlichen Interpretationsmöglichkeiten, in denen das zweitrangig-komplexe politische System, die Monarchie und Regierung/Opposition, die positive Rechtsordnung durch Gesetzgebung erneuern. Denn die intersystemischen Beziehungen zwischen dem Familienrecht und dem politischen System stehen nicht in einem hierarchischen vertikalen Verhältnis, in dem die Sozialstruktur stratifikatorisch differenziert ist. Das hängt außerdem damit zusammen, dass die marokkanische Sozialstruktur nicht eine vormoderne »relativ undifferenzierte Gesellschaft« aufweist (König 2012, 8). Zudem lassen sich das Familienrecht und die normativen Rechtsordnungen in der spätmodernen postkolonialen Phase nicht durch das komplexe politische System anordnen. Stattdessen bilden beide Systeme funktional differenzierte Integrati-

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Teil A – Theorie

onseinheiten, die durch »Steuerungshorizonte« und vertikale »Übersetzungskaskaden« operativ vollzogen werden und durch Umwege sowie Bedeutungsbrüche in weitere grenzüberschreitende Differenzierungs- und Handlungsebenen wie Netzwerke, Organisationen, Milieus und Personen übersetzt können (Renn 2006, 152ff. sowie 406ff.). In diesem Sinne ist die spätmoderne Komplexität der nichtlinearen und asymmetrischen Übersetzung zwischen komplexer Politik und multiplem Familienrecht eine Folge der sozialstrukturellen Ausdifferenzierung der Weltgesellschaft und hängt mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden und Integrationsformen zusammen, nämlich damit, welche Einheiten der Eigenartenintegrationen sich auf der zweiten Beobachtungebene aufeinander beziehen. Insofern muss die funktional doppelte Übersetzung der Monarchie als vertikales Segment des Politischen auf der Basis der praktischen Übergänge den Umweg über die Übersetzung in einem anderen abstrakten Segment des Politischen, nämlich Regierung/Opposition, nehmen. Danach findet ein drittes abstraktes Übersetzungsverhältnis zwischen den operativ gekoppelten Funktionssystemen, Politik und Recht, statt, die sich durch wechselseitige asymmetrische und nichtlineare Selektionsfilter auszeichnen. Diese Verhältnisse können wiederum vertikal in Organisation (Gerichte und Parteien) oder in andere normative Rechtsordnungen, islamisches Recht und habituelles Gewohnheitsrecht, übersetzt und durch pragmatische Rechtskniffe und »kreatives Handeln« (Joas 1992) rückübersetzt werden. In diesen langen Prozessen interveniert das »implizite Wissen«, auf dessen Grundlage die Verwendung der Regel an besonderen Pointen dezidiert wird (Renn 2006, 120–127).

7. Recht und Religion in der multiplen Differenzierung

Die Übersetzungsverhältnisse zwischen dem umfassenden System des Politischen, das eine pragmatische Handlungstheorie mit einer multipel (und nicht nur funktional) differenzierten Politik vertikal integriert, und den normativen Rechtsordnungen bilden – wie wir gesehen haben – lediglich Teilbereiche in der Gesellschaftsstruktur. Ein weiteres komplexes Segment konstituieren die normativen Rechtsordnungen und das System des Religiösen, das in Regionen der Weltgesellschaft qualitativ variiert. Bei diesen regional multipel differenzierten Sozialformen handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Welt-Religionen als semantische Systeme mit pragmatischen epistemischen Machtdiskursen1 , sondern auch um generalisierte Kommunikationen, die mit den Integrationseinheiten und Rechtskategorien durch Bedeutungsbrüche und Rechtskniffe operativ (und nicht strukturell, wie die Systemtheorie postuliert) gekoppelt sind. Aus dieser abstrakten und allgemeinen Grundlage resultiert dann die gesellschaftstheoretische Frage, wie Recht und Religion in einem speziellen islamisch-arabischen Nationalstaat transsubjektiv interagieren und ineinander übersetzt werden. Diese Grundfragen werden weniger mit Hinblick auf religionsvergleichende oder sozialanthropologische Untersuchungen gedeutet, wie es bei Geertz (1988, 2015), Gellner (1969, 1992) und Berque (2001) der Fall ist, da sie in Anlehnung an Durkheim und Weber primär an vergangene vormodernen, segmentären und stratifikatorischen, Differenzierungen festhalten, während sich in der kolonialen und postkolonialen Phase die Sozialstruktur in der multiplen Weltgesellschaft weiterentwickelt hat2 . Die aktuelle Komplexität und Multiplizität von Recht und Religion erfordern zudem ein theoretisch-analytisches Programm, das die soziologische Systemtheorie nicht leisten kann. Geht man von der primären Unterscheidung System/Umwelt aus, die Luhmann verwendet, dann verfügt das religiöse System, wie im Falle des Rechtssystems (s.o.), über die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz, die im Sinne 1

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Zum Begriff des »Machtdiskurses« siehe Mannheim 1964; aus einer poststrukturalistischen Perspektive vgl. Foucault u.a. 1969, 1975, 1999. Zu einer Pragmatisierung der Diskursanalyse Foucaults siehe Renn 2016, 37- 54. Siehe ausführlich die folgenden Kapitel in dieser Arbeit: Soziologische Rechtsbegriffe und Vom Segmentierungsbegriff zur Milieutheorie. Kritik an Theorien segmentärer Differenzierung.

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Teil A – Theorie

Luhmanns systemische Kommunikation beinhaltet. Die religiöse Kommunikation benötigt eine binäre Codierung, die in einem dualen Prozess generiert wird, damit das System von seiner Umwelt unterschieden und die religiösen Systemoperationen realisiert werden können (Luhmann 2002, 64f.). Die These der binären religionsspezifischen Codierung hängt in der Systemtheorie mit der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung eines funktionalen Systems zusammen und impliziert eine Relation zwischen epochalen Transformationen der Sozialstruktur mit der abstrakten Bildung einer binären Schematisierung. Folglich steigert die Evolution dieses wechselseitigen Zusammenhangs die Autonomieleistungen des religiösen Systems in der primär funktional differenzierten Weltgesellschaft und wird unter der Unterscheidung von Immanenz/Transzendenz operativ geschlossen (ebd. 77 und 187ff.). Die radikale Schließung des Religionssystems operiert im Medium Sinn und erschließt die weitreichende These, dass die Religion in der Moderne ihre Funktion nicht gesamtgesellschaftlich ausüben, sondern immer nur selbstreferentiell operieren kann, was mit der Beschreibung der Gesellschaft als säkularisierte Weltgesellschaft koordiniert (ebd.125ff.). In der primär funktionalen Differenzierung der Weltgesellschaft mit einer umfassenden Systemebene gibt es innerhalb des Religionssystems verschiedene Religionen, deren Sinnhorizonte im Kontingent dem Prinzip der Differenzierung folgen (ebd. 120). In diesem Rahmen unterscheidet Luhmann im Falle des westlichen Christentums analytisch drei Kategorien, nämlich eine soziale, eine sachliche und eine zeitliche: Während in der ersten Kategorie der Glaube in der Begegnung mit dem Transzendenten gefunden und bestätigt wird, wird der Supplementglaube in der Sachkategorie vom Transzendenten und der Welt überlappt. Die zeitliche Kategorie beinhaltet schließlich den historischen Einzelfall der Offenbarung (ebd. 134f.) und ist in logischer Weise mit den zwei ersten Kategorien vernetzt. Laut der Systemtheorie ist das autopoietische Religionssystem aufgrund der operativen Geschlossenheit strukturell mit dem selbstreferenziellen Rechtssystem (und anderen Funktionssystemen) gekoppelt, so dass systemspezifische Operationen nur an systemspezifische Operationen anschließen können. Diesen theoretischen Sachverhalt kann man auch strukturelle Säkularisierung nennen; Luhmann analysiert diese in einem gesellschaftsstrukturellen Rahmen in Verbindung mit funktionaler Differenzierung als primäre Differenzierungsform der Weltgesellschaft. Dieser historische Prozess des europäischen Spätmittalters und der frühen Neuzeit wird auf Grundlage der christlichen Religion und westlichen Gesellschaftsstruktur gedeutet. Das Rechtssystem und andere Funktionssysteme erreichen mit dem Übergang der Gesellschaftsstruktur von stratifikatorischer zu primär funktionaler Differenzierung eine Unabhängigkeit von religiösen Inhalten und bilden autopoietische, operativ geschlossene Systeme. Das System der Religion reagiert auf diese sozialstrukturelle Umstellung, indem es die moderne Gesellschaft als

7. Recht und Religion in der multiplen Differenzierung

»säkularisiert« bezeichnet (ebd. 278–318 und 2000, 39–51). In diesem Sinne finden gravierende strukturelle Transformationen zum Abbau von christlich-strukturellen Eingriffen auf ihrer innergesellschaftlichen Umwelt statt. Die Individuen werden nicht mehr durch die o.g. drei Kategorien und ihr religiöses Bekenntnis vertikal typisiert, sondern Inklusion und Exklusion werden durch das Rechtssystem – und andere Funktionssysteme – übernommen und systematisiert. Wir schließen hier mit dem Inklusionsbegriff die systemtheoretischen Ausführungen allmählich ab und fügen Interdependenzbeziehungen zwischen Inklusionen oder Exklusionen hinzu (wer z.B. nicht beim Einwohnermeldeamt registriert ist, kann kein Bankkonto eröffnen und auch seine Kinder nicht in der Schule anmelden). Hingegen hat Religion als Folge der funktionalen sozialstrukturellen Ausdifferenzierung sowohl im Inklusionsbereich als auch im Exklusionsbereich ihre Funktion der gesamtgesellschaftlichen Fürsorge, wie im christlichen Mittelalter, stark verloren (ebd. 301ff. und 1995, 237–264; sowie u.a. Pickel 2017, 389ff.). Außereuropäische Weltreligionen, wie etwa der Islam, werden in Luhmanns Religions- und Säkularisierungstheorie ausgeblendet3 . Im Gegensatz dazu bilden der Islam und die Scharia (islamisches Recht) in der multiplen – nicht nur funktionalen – Differenzierung keine vormodernen antagonistischen semantischen Traditionen zu der weltgesellschaftlichen Spätmoderne, sondern interferieren konstruktiv mit den Funktionssystemen und Handlungskontexten, hier mit den normativen Rechtsordnungen. Die These einer strukturellen Rationalisierung des Islam trotz aufkommender Protestbewegungen wird von unterschiedlichen klassischen Theorien, wie denjenigen der marokkanischen und ägyptischen Philosophen Al Jabri und Hanafi, unter den universalen Begriffen Rationalität und Demokratie vertreten. Al Jabri und Hanafi weisen v.a. in ihrem gemeinsam publizierten Werk (1990) über Säkularisierungsfragen im arabischen Kontext deutliche Ähnlichkeiten in ihrer Argumentation auf. Beide lehnen die semantische Verwendung des Säkularisierungsbegriffs unter Berufung auf die historisch europäische Erfahrung der Kirche ab.

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Man könnte weitere theoretische Beispiele dieser Art anführen. Bourdieu konzipiert die Theorie des religiösen Feldes (1971a, 1971b) in Anlehnung an Weber und Durkheim auf Grundlage der Genese und Struktur der christlichen westlichen Religion, und Giddens (1999, 503) thematisiert die Säkularisierung ausschließlich in Zusammenhang mit dem Christentum in Europa und in den USA. Den Islam betrachtet Giddens als »traditionelle Religion« und »Basis« islamischer Protestbewegungen (ebd. 492). Zur strukturellen Säkularisierung im Islam seit der Kolonialisierung siehe El Guennouni 2017. Zur besonderen Bedeutung außereuropäischer Religionsgeschichte für die allgemeine religionswissenschaftliche Theoriebildung und Diskussion vgl. Kleine 2010. Zur Kritik der vorherrschenden Gleichsetzung von Religion und Kirche in der klassischen Soziologie vgl. Berger (1970, 17). Eine weitere ausführliche und auch bis heute einschlägige Kritik findet sich in Luckmanns »Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft« (1963).

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Teil A – Theorie

Während Hanafi keine Nachfolgebegriffe des Säkularisierungsbegriffs vorschlägt, bleiben bei Al Jabri die Begriffe Rationalität und Demokratie im Kontext der Säkularisierungsdebatte in einem allgemeinen Sinn definiert. Demnach bezeichnet Rationalität die Fähigkeit, politische Entscheidungen aus der Vernunft herzuleiten, und Demokratie soll bedeuten, die Rechte der Individuen und Gruppen zu schützen (Al Jabri 1990, 39). Außerdem fokussiert Al Jabri (und auch Hanafi) lediglich die semantischen und ideengeschichtlichen Formen (islamische Texte und Begriffe) jener Zeit und zeigt eine Indifferenz gegenüber postkolonialen rationalen Transformationen auf. Weiterhin lassen sich sicherlich auch nach der Abbassiden-Dynastie neuere Entwicklungen des islamischen Religionssystems und Prozesse der Ausdifferenzierungen anderer Systeme beobachten, mit denen sie auf die zunehmende gesellschaftliche Komplexität reagieren. Insbesondere die Umstellung des Gesellschaftssystems auf multiple Differenzierung und die europäische Kolonisierung der arabischen Welt im 19. und 20. Jahrhundert brachten sozialstrukturelle Neubildungen der Integrationseinheiten hervor. Diese tiefgreifenden Ereignisse werden jedoch von keinem der beiden Philosophen analysiert; stattdessen artikulieren sie eine starre Gegenüberstellung der okzidentalen mit der islamisch-arabischen performativen Rechtkultur und postulieren in ihren Analysen keine multipel differenzierte Weltgesellschaft (Al Jabiri u.a. 1973; 1988; 2009; Hanafi 1990). Im Folgenden wird analytisch präzisiert, wie das islamische Religionssystem sich sozialstrukturell entwickelt hat und wie korrelativ die normativen Rechtsordnungen, am Beispiel des Familienrechts betrachtet, mit dem System des Religiösen interagieren, übersetzt und rückübersetzt werden. Zunächst muss jedoch erwähnt werden, dass die Scharia eine hochkomplexe Zusammensetzung aus religiöser Ethik und Rechtsvorschriften (islamisches Recht) inkorporiert. Sie stellt nicht nur ein relativ autonomes ausdifferenziertes Funktionssystem dar, das die symbolisch-semantische Zuständigkeit für jeweils eine gesellschaftliche Funktion übernimmt, wie es Luhmann im Falle des Christentums postuliert, sodass die symbolische Sinnwelt zwischen dem Sakralen und Profanen in (islamischen) Regionen der Weltgesellschaft nicht durch einen revolutionären Umsturz »entzaubert« worden ist (Weber 1992, hierzu auch Taylor 2013, 58). Vielmehr vereinigt die Scharia ein heteronomes Mehr- Ebenen-System, das sich in »Religion, Recht und Moral« (An-Na˙im 2011, 238, zitiert nach Kirchhof 2018, 145; sowie u.a. Schacht 1935, 216) lokalisieren lässt und in andere normative Ordnungen, wie das habituelle Gewohnheitsrecht, übersetzt wird. In der klassischen (vorkolonialen) Epoche umfasste das islamische Recht vier Hauptquellen der religiösen Auslegung (Al Jabiri 2009, 109–154): Als primäre metaphysische Quelle diente der Koran, der in allen Lebensbereichen das von Gott ersehnte Recht verkündet (Ibn Khaldun 2014, 658). Er gilt je nach der Interpretationsart für alle Muslime u.a. Liberale, Konservative und Fundamentalisten, als heilig (ebd. 111; Khury 2000, 24). Die zweite Hauptquelle besteht aus überlieferten Aussagen, Ta-

7. Recht und Religion in der multiplen Differenzierung

ten und Zustimmungen (Hadith) des Propheten. Im Koran wird die Autorität der Sunna betont und der Abgesandte ausdrücklich als Vorbild für alle Gläubigen bezeichnet. Bei der Sunna handelt es sich um die Art, wie die islamische Gemeinschaft geführt und die rechtlichen Bestimmungen festgestellt werden sollen (ebd. 38f.). In »Kritik der arabischen Vernunft 2« wurde die Sunna laut Al Jabiri erst ca. hundert Jahre nach dem Tod des Propheten gesammelt (ebd.). Während dieser historischen Periode wurde der Hadith nicht verschriftlicht, um eine Vermischung mit dem Koran zu vermeiden (ed.: 123). Die Richtigkeit des Hadith wurde durch die Übereinstimmung der Gefährten und Begleiter des Propheten bewiesen. Dabei war nicht die Wahrheit der Botschaften bedeutsam, sondern im Vordergrund stand vielmehr ihre richtige Referenz zum Propheten (ebd. 125). Die dritte Quelle der klassischen Scharia stellten der Konsens der Rechtsgelehrten oder die kodifizierte Zustimmung der religiösen Gemeinschaft dar (auch Ibn Khaldun 2014, 663f f .). Die Übereinstimmung als eine Hauptsäule und Methode des islamischen Rechts hatte nicht nur im Fiqhbereich Geltung, sondern wurde auch von anderen Wissenschaften praktiziert, wie das islamische Denken oder die arabische Linguistik und Grammatik (Al Jabri 2009, 125127). Sie bildete die Grundlage des Ijtihads, sodass die Rechtsgelehrten (arabisch: Fokaha) der islamischen Theologie diejenigen exkommunizierten, die diese theologische Methodik verleugneten (ebd. 127)4 . Al Jabri deutet den Konsensus der Rechtsgelehrten als »Macht der Vorfahren« (ebd. 133), die nicht auf eine bestimmte vorangegangene Epoche reduziert werden kann (z.B. auf die Zeit des Propheten), sondern gemeint ist die Macht der habituellen Gewohnheit und theologischen Vergangenheit, die historisch ethische Metadiskurse enthalten. Als letzte klassische Quelle im sunnitischen Islam ist das System des Analogieschlusses zu nennen (ebd. 142; Papi 2004, 431; Plantey 1951, 16), dass ein logisch-deduktives Schlussverfahren der islamischen Rechtsschulen aufgrund der Analogie zwischen zwei Tatbeständen impliziert, um die Beweiskraft, die in den drei erstgenannten Quellen keine eindeutige Regelung aufweist, zu erschließen. Diese Analogie umfasste die Methodik der Irfan (Erkenntnis), die in der Golfregion und im islamischen Osten unter der religiö-

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Neben dem Koran und der Sunna verfolgten die islamischen Schulen eine eigene theologische Interpretation. Die rationalistisch ausgerichteten sunnitischen Hauptschulen unter ihnen waren die Mu’tazila (übersetzt: ‫اﻟﻤﻌﺘﺰﻟﺔ‬, die sich Absetzenden), aus denen die Ash’ariyya Schule (‫ )أﺷﺎﻋرة‬hervorgegangen ist. Die erste war vom 8. bis zum 9. Jh. am einflussreichsten in Basra und Bagdad vertreten. Die zweite war zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert im Irak und Chorasan vertreten, bis sie sich nach Syrien und Maghreb ausdehnte. Beide theologischen Schulen waren von der griechischen Philosophie beeinflusst. Auch die Schi’iten, die Ismaeliten und die Aleviten haben unterschiedliche theologische Rechtsschulen entwickelt. Zu einer Einführung siehe: Tilman Nagel (1994). Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart. München und: Neal Robinson (1998). Ash’ariyya and Mu’tazila. In: Edward Craig (Hg.). Routledge Encyclopedia of Philosophy. Bd. 1. London. S. 519–523.

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Teil A – Theorie

sen Autorität verschiedener islamischer Strömungen weitverbreitet und epistemologisch mit wissenschaftlicher Rationalität verflochten war, wie im Falle des aristotelisch-neuplatonischen islamischen Philosophen Avicenna (siehe auch Al Ghouz 2015, 148 -187). In diesem Rahmen kritisiert Al Jabri die Determiniertheit der klassisch-islamischen Jurisprudenz, indem die semantischen Interpretationsmethoden der ersten Hauptquelle aus dem Konsens der Rechtsgelehrten und dem Analogieschluss resultierten. Stattdessen plädiert er für einen epistemologischen Bruch und eine Umstellung auf eine Erkenntnistheorie in Anlehnung an eine strukturelle Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft, die u.a. Averroes und Ibn Khaldun in den philosophischen und soziologischen arabischsprachigen Paradigmen und Foucault in den poststrukturalistischen Wissenssystemen ausgearbeitet hatten. Diese theoretisch-analytischen Grundlagen begründeten die rationalistischen Scharia Interpretationen im maghrebinisch-andalusischen Raum (Al Jabiri 2009, 1996, 1991, 1988, 1973). Dieser erkenntnistheoretische Bruch und die Zweiteilung Al Jabiris der arabisch-islamischen Philosophie in eine maghrebinische Rationalität und einen wissenschaftlich starren islamischen Osten wurde u.a. von Hanafi (1990) als sog. »Ideologie der Kolonialmächte« bemängelt (vgl. auch Al Ghouz 2013, 273). Diesen semantischen Standpunkt hat Hanafi (2002, 43–62) allgemein in seinem Werk »Das Kulturerbe und die Renaissance« vertreten. Er teilt das Wissenssystem wiederum in ein rein islamisches und westliches ein, ohne jedoch ein globales, in Nationalstaaten segmentär ausdifferenziertes Wissenschaftssystem vorauszusetzen, das mit Bedeutungsbrüchen und Rechtskniffen in ökonomischen und rechtlich supranationalen Organisationen (z.B. der Europäischen Union) und politischen Ordnungsebenen sowie weltgesellschaftlichen Milieus, Netzwerken und Personen übersetzt und rückübersetzt wird. Insgesamt basierte das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen auf einer religiösen Rechtsordnung, die in den islamischen Regionen der Weltgesellschaft unterschiedlich gedeutet wurde. Im Maghreb wurde sie von der sunnitisch-malikitischen Rechtsschule geprägt, deren Inkorporierung in Marokko bis in das 8. Jahrhundert zurückreicht5 . Seitdem tauchten die heiligen Texte des Koran und der Sunna als Rechtsquellen auf und wurden von den islamischen Rechtsgelehrten interpretiert. Diese Gelehrten wiederum nahmen innerhalb der Justizeinrichtungen eine besondere Stellung ein und waren in Moscheen und Lehreinrichtungen (an ihrer Spitze die Universität Al-Qarawiyyin in der Stadt Fez) repräsentiert. Der Hauptinhalt der

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Davor herrschte ein habituelles Gewohnheitsrecht vor, das bis heute existiert und in die islamische sowie positive Rechtsordnung übersetzt und rückübersetzt wird. Siehe die Kapitel in dieser Dissertation: »Vom Segmentierungsbegriff zur Milieutheorie« und »Rechtspluralismus und Familienrecht. Übersetzung multipler Ordnung«.

7. Recht und Religion in der multiplen Differenzierung

theoretischen und praktischen Arbeit der Kadi-Justiz hatte einen Sühne-Charakter. Rechtsverletzungen wurden nicht als Störung des »Gesellschaftsvertrages« (Rousseau) betrachtet, sondern als Verletzung der heiligen Vorschriften. Eine Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete war für das islamische Recht unbekannt (Schacht 1935, 208). Daher zielte die Bestrafung nicht auf die Wiederherstellung des Gemeinwohls ab, sondern erschien primär als ein Weg der Heilung und Entsühnung. Laut Plantey (1951, 94) nahm das islamische Recht die okzidentale Formel »nulla poena sine lege« nicht zur Kenntnis: Nicht nur die Qualifizierung der Straftaten im islamischen Rechtssystem sei unzureichend, sondern auch die Methode der Rechtsfindung räume dem islamischen Richter im maghrebinischen Fiqh ein großes Ermessen ein (Berque 2001, 467; 1944, 51). Insofern war die ganze Geschichte des klassischislamischen Rechts eine Geschichte der Verhandlung zwischen den religiösen Normen und den besonderen Rechtsfällen. Den Richtern fehlte es an einer einheitlichen Regel der Methode und die Geschichte des islamischen Fiqh ist größtenteils eine Geschichte der Rechtsprechung: sie ist eine Sammlung von beurteilten Fällen, Schlichtungen und alten Lösungen. Dies ermöglichte zu Teilen ein Rechtszustand, in dem das männliche Geschlecht seine eigenen Interessen über das Interesse der Justiz stellte, denn das islamische Recht war nicht durch eine veröffentlichte und allgemeingültige Regel determiniert, die die Gleichheit vor dem Gesetz – zumindest formal für alle Individuen vorgibt. Ein sozialstruktureller und epistemologischer Wandel der islamischen Rechtsordnung ereignete sich erst am Ende des 18. Jahrhundert und zu Anfang des 19. Jahrhundert. Hierfür hatte die französische Verwaltung zunächst u.a. Wissenschaftler engagiert6 , um den Maghreb zu erforschen, mit dem Ziel, ihn zu kolonialisieren (vgl. Meynier 1985; Valensi 1984, 227–244; Nicolas 1961, 572–534). Die erzwungene Implementierung abstrakter Funktionseinheiten und latenten Wissens durch Krieg und Gewalt zählen zu »inneren Logik der Asymmetrien zwischen Integrationseinheiten« (Renn 2006, 475, Fußnote 9), deren Umsetzung in der islamisch-berberischen performativen Kultur nicht lückenlos verlaufen ist. Denn dadurch bildeten sich neue asymmetrische Kommunikationen sowie eine neue positive Rechtsordnung heraus, während das islamische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht sich durch diesen epistemologischen Bruch transformiert haben und nichtlinear mit dem neuen säkularen Recht übersetzt werden (siehe 3.1). Diese gesellschaftliche Entwicklung trat übrigens nicht nur im Maghreb auf, sondern ist auch in anderen Gesellschaften zu beobachten, in denen die soziale Übersetzung weltgesellschaftlicher Integrationseinheiten (hier Systeme und Organisationen) von außen oktroyiert oder herangetragen wurde. Seit der Kolonialzeit kann man feststellen, dass sich auf der Grundlage des französischen Rechts ein vom

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Darunter Geographen wie B. Augustin, Geologen u.a. L. Gentil, sowie Soziologen und Islamwissenschaftler wie E. Durkheim, M. Maus, M, Bellaire und E. Doutté.

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islamischen Recht getrenntes Straf- und Zivilrecht entwickelte. Es entstanden gerichtliche Verfahrensformen mit entsprechenden Gerichtsbarkeiten. Neue und auf bestimmte Rechtsbereiche spezialisierte Gerichte (die laut Luhmann als das Zentrum des Rechtssystems gelten) wurden errichtet und durch die koloniale Gerichtsverfassung geregelt. Außerdem wurden neue Gesetze erlassen, die bis heute Anwendung finden, wie etwa das Vertrags- und Beurkundungsgesetz. Die Rechtsverfolgung erfolgt nun jeweils dann, wenn eine schriftlich fixierte und unterzeichnete Anzeige erstattet wird. Auch das Urteil musste kodifiziert werden, und seine Umsetzung ist durch die Staatsanwaltschaft gesichert. Vor der Kolonialzeit unterlag diese rechtliche Verfahrensweise kaum einer Regel: Gerichtsentscheidungen wurden schnell getroffen und nicht schriftlich fixiert. Der Dahir (unterlassene Erlass des Königs) vom 4. August 1918 änderte dieses Rechtsverfahren (Plantey 1951,102). In diesem sozialstrukturellen Prozess Ende der Kolonialzeit schränkte sich die Gültigkeit der islamischen Rechtsordnung ein und konnte nur noch private Rechtfragen im Familienbereich und Erbrecht übernehmen. Im habituellen Gewohnheitsrecht verlief der Wandlungsprozess ähnlich. Das koloniale Recht bildete zum einem neue positive Gerichtshöfe, Gesetze und Rechtsorganisationen, gleichzeitig aber änderte es nicht das herkömmliche Familienrecht. In diesem Sinne konnte der Stammesrat umgewandelt werden und in den Nationalstaat integriert werden7 . Er konnte nun auf der Übersetzung erster Ordnung über ihm vorgelegten habituellen Heiratsfragen entscheiden und auf der Übersetzung zweiter Ordnung als Zeuge im Familiengericht erscheinen, um seine pragmatischen Interessen durchzusetzen. Somit stellt die Bildung des Nationalstaates als konstitutionelles Modell (Verfassung, politische Parteien, Parlament und zivilgesellschaftliche Organisationen etc.) einen epistemologischen Bruch mit 14 Jahrhunderten Geschichte und einen Übergang von einer passiven Rolle des politischen Systems im juristischen Feld zu einem staatlichen Monopol des Rechts und einem Staat dar, der das Recht formal rational produziert und verwaltet. In der Postkolonialen Phase schritt die Positivierung des Rechts weiter voran, nur das Familien- und Erbrecht kreisten weiterhin um den Bereich der islamischen Rechtsordnung und des habituellen Gewohnheitsrechts (mehr hierzu später im Kapitel: Die Evolution des multiplen Differenzierten Familienrechts). Damit kann man in der modernen Geschichte sozialstrukturell insgesamt eine Veränderung der lokalen Lebenswelt in der Kolonialzeit beobachten, die zu einer politischen und wirtschaftlichen Vereinigung der Sozialstruktur durch Krieg und Gewalt führte, sowie eine doppelte Weiterentwicklung des nichtlokalen Rechts, 7

Siehe hierzu u.a. Bouderbala Negib (1996). Les terres collectives du Maroc dans la première période du protectorat (1912–1930). In: Revue du monde musulman et de la Méditerranée, n°79-80. pp. 143–15.

7. Recht und Religion in der multiplen Differenzierung

nämlich des islamischen Rechts und des habituellen Gewohnheitsrechts, mit einem eigenen materiellen und pragmatischen Differenzierungsgrad. Dazu kann man in dieser kommunikativen Zeit die Herausbildung einer dritten normativen Ordnung hinzufügen, nämlich das positive staatliche Recht, das zum ersten Mal in der lokalen Geschichte entstanden ist und mit den nichtlokalen normativen Ordnungen bis heute koexistiert. Dabei sind die Übersetzungsverhältnisse der kommunikativen und handlungstheoretischen Rechtshorizonte transsubjektiv, denn eine Inklusion oder Exklusion der Individuen (z.B. durch Geburt oder Tod) können die interaktiven Überlappungen dieser Einheiten nicht transformieren. Die Faktizität der normativen Rechtsordnungen in den Lebensformen wird zudem durch die Übersetzungen nicht marginalisiert, auch wenn sie im Zuständigkeitsbereich des positiven Rechts und somit im Modus der Hierarchie Rechtshandlungen ausüben. Denn die symbolischen Grenzen werden durch das säkulare Recht nicht absorbiert und aufgelöst, sondern formen im zweiten Übersetzungsschritt neue Rechtsschichten, die aus den zusammenhängenden Selektionsvorgängen eine zweite multidimensionale Rechtsordnung bilden. Dadurch nimmt die Komplexität und Abstraktheit der rechtspluralen Sozialstruktur zu. Dieser Vorgang geschieht nicht zufällig und wird auch im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit nachgewiesen. Das positive staatliche Recht hat durch die pragmatische Wiederholung die rationalen Abweichungsmanöver inkorporiert und spielt das objektive »Sprachspiel« (Wittgenstein) als Grundsatz des Rechtspluralismus mit. Somit stoßen wir auf ein neues asymmetrisches Verfahren des staatlichen Rechts, das sich durch die gleichzeitige und doppelte Übersetzung auszeichnet. Diese Variantenvielfalt des Rechtspluralismus ist nicht durch eine radikale Abgeschlossenheit der symbolischen und materiellen Systemgrenzen gekennzeichnet, sondern durch die wechselseitige Artikulation der symbolischen und sozialen Grenzüberschreitungen. Dabei sind die transsubjektiven normativen Rechtsordnungen in der primären multiplen Differenzierung aufgrund der operativen Kopplung und praktischen Übergänge durch Übersetzungskaskaden und die daraus entstehenden Transformationen bestimmt. Diese Relationen und das Ineinandergreifen der Integrationseinheiten werden am Beispiel des Verhältnisses zwischen dem pragmatisch kulturellen Strukturhorizont (habituell-islamisches Milieu) und der Ebene der Rechtsorganisation (positives Gericht) deutlicher: anhand des richterlicher Beschlüsse bezüglich der Heirat mit minderjährigen Mädchen lässt sich zeigen, dass diese Rechtshandlung durchführbar ist, auch wenn das positive Recht diese Handlung formal unterbindet, z.B. zweimal zugleich zu heiraten. Denn die Akteure können eine islamisch begründete Heirat mit einem minderjährigen Mädchen schließen und durch Rechtskniffe und Bedeutungsbrüche diese Heirat im Gericht anerkennen lassen und dann die gleiche Person praktisch zum zweiten Mal heiraten. Das islamische Recht bringt durch eine strukturelle Kopplung mit dem positiven Recht nicht nur »Irritationen« (Luhmann) hervor, sondern ermittelt auch einen pragmatischen milieuspezifischen inkorporierten Habitus

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der Lebenswelt, der mit formaler Organisation und codierter Kommunikation des staatlichen Rechts strukturell verbunden und integriert ist. Dieser operative und transsubjektive Zusammenhang, der durch die historische Entwicklung sozialstrukturell begründet ist, hat zudem für die spätmodernen maghrebinischen Personen als »eigene Integrationseinheiten« (Renn 2016, 260ff.) weitreichende Konsequenzen, die im methodologischen empirischen Teil näher analysiert werden.

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung

Im vorherigen Kapitel »Recht und Religion« wurde dargelegt, wie sich in der kolonialen und postkolonialen Phase eine dritte positiv-staatliche Rechtsordnung herausgebildet und wie die religiöse Rechtsordnung sich in die habitualisierte Lebenswelt verschoben hat, die a priori weiterexistiert und keine strukturelle Fusionierung oder »Kollision« (Teubner 1990) mit dem positiven Recht erfährt, sondern über die symbolischen Grenzen hinaus in ein interaktives zweites Übersetzungsverhältnis verwoben ist. Im Folgenden werden die Übersetzungen zwischen den normativen Rechtsordnungen und der Zivilgesellschaft analysiert. Die Grundidee beinhaltet eine Rechtsübersetzung zweiter Ordnung mit pluralistischer Öffentlichkeit einer »performativen Kultur« (Renn 2016) und nicht nur die Übersetzung einer »deliberativen Öffentlichkeit« mit einem »positiven Recht« (Habermas 1992, 399–435). Das kategoriale Problem einer deliberativen Öffentlichkeit besteht in der partiellen Analyse gesellschaftlicher, das heißt, nur westeuropäischer Rechtsverhältnisse und kann theoriepragmatisch über die nichtlinearen westlich-dominanten Systemgrenzen hinaus keine weiteren Handlungsrationalitäten aufweisen wie z.B. die monarchische Öffentlichkeit, die Habermas im Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990) lediglich als eine historisch epistemologische Abfolge und Vergleichsgröße heranzieht. Dies beeinträchtigt dann die spätmodernen komplexen Übersetzungen zwischen den gesellschaftlichen und positiven Rechtsordnungen sowie der pluralistischen Zivilgesellschaft in Regionen der multiplen Weltgesellschaft radikal. Laut Habermas ist die deliberative Demokratie im öffentlichen Vernunftgebrauch und in argumentativen legitimen Auseinandersetzungen in nationalen Sozialstrukturen oder Mehr- Ebenen-Systemen (z.B. die EU) einer Weltgesellschaft manifestiert. Die Partizipation an Deliberation ist durch die Gleichheit aller Teilnehmer formal garantiert, abgesehen von sozialen Klassifikationen wie Ethnizität, Schichtzugehörigkeit oder sozialem Geschlecht. Die Individuen können über kommunikative Macht die Antinomien der Funktionssysteme öffentlich in legitimen Auseinandersetzungen einflussreich thematisieren und zu einer Integration der Gesellschaft beitragen. Somit wird die systemtheoretische These der selbstreferentiellen Geschlossenheit der Funktionssysteme bei Habermas in Frage gestellt. Dabei ist sein Hauptanliegen die gesell-

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Teil A – Theorie

schaftstheoretische und philosophische Beschäftigung mit der Demokratie und der Zivilgesellschaft, die autonome Öffentlichkeiten entwickeln, um das politische System zu stabilisieren, was wiederum in Rechtsprogramme im Rahmen des konstitutiven Zusammenhangs von Recht und politischer Macht übersetzt wird (Habermas 1992, 399ff.). In diesem Sinne findet die Übersetzung über die Kommunikationen zwischen Operationen des Kernbereiches (wie Parlamente, Gerichte, Bürokratien) und der informellen Öffentlichkeit statt, die durch symbolische Kanäle die Entscheidungen des Zentrums legitimiert und in der Lebenswelt verwurzelt ist. Insofern kann das politisch-rechtliche System diese Handlungsprozesse nur begrenzt kontrollieren und in rationalisierten lebensweltlichen Konstellationen und Koordinierungen übersetzen (ebd. 427ff.). Dementsprechend lässt sich die deliberative Öffentlichkeit laut Habermas weder als Ensemble von Organisationen noch als Institutionen beschreiben, sondern vielmehr als ein ausdifferenziertes »Netzwerk für die Kommunikation von Meinungen« begreifen, das über kommunikatives Handeln in einer räumlichen Struktur re-produziert wird und auf die soziale Anwesenheit eines generalisierten Publikums angewiesen ist (ebd. 435ff.). Der Kern der Zivilgesellschaft besteht daher aus machterrungenen Kommunikationsstrukturen der interpersonalen Öffentlichkeit ohne einen Spezialcode, die durch Netzwerkkanäle mit dem politischen System und Rechtssystem operativ gekoppelt sind und somit gesellschaftsweit mittelbar oder unmittelbar operieren können1 . Durch eine sozialstrukturelle Umwälzung unterscheidet Habermas (1990) im »Strukturwandel der Öffentlichkeit« historisch grosso modo zwischen einer monarchischen metaphysisch legitimierten weltlichen Macht, die eine repräsentative Öffentlichkeit innehat, und einer demokratischen bürgerlichen Politik, die seit der europäischen Frühen Neuzeit letztlich die Grundlagen des Idealtypus moderner deliberativer Öffentlichkeit enthält. Diese langfristige semantische Klassifikation wird als eine Steigerung westlich-europäischer Gesellschaftsgestaltung und eine historische Abfolge begriffen, die erst mit einem epochalen Strukturwandel zur Moderne beginnt. Dieser makrotheoretische »Paralogismus« (Kant 1986) wird mit inhaltlichen Charakterisierungen aufgewertet, indem im demokratischen Verfassungsstaat die politische Macht in die Positivität des gesetzten Rechts als einzige evolutionsbedingte Entwicklung übersetzt wird und andere vormoderne Rechtsordnungen, wie das

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Diese Auffassung erinnert an Gramscis politische Theorie der Zivilgesellschaft, zwar nicht mit demselben theoretischen Hintergrund, aber mit vielen sich wiedertreffenden und wesentlichen Punkten. Demnach nimmt der Begriff der Hegemonie bei Gramsci eine besondere Stellung ein und bedeutet ein Ensemble gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen, die die kulturelle Sphäre der Gesellschaft zwischen Ökonomie und Staat umfassen und auf indirekte Weise in die Strukturen des politischen Systems und des Rechtssystems eingebettet sind (siehe Votsos 2001; Neubert 2001).

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung

religiöse Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht, aus der Moderne faktisch verbannt sind. Im Gegensatz zu den Auffassungen von Habermas entwickelten sich in der multiplen Differenzierung die Zusammenhänge von Funktionssystemen und pluralistischen Zivilgesellschaft nicht im Sinne einer epochalen Ablösung tradierter pragmatischer Diskurse und Strukturen, sondern sie fusionierten als eine epistemologische Ausdehnung inkorporierter Makrostrukturmuster und eine nichtlineare ausdifferenzierter postkolonialer Integrationseinheiten, die miteinander pragmatisch konkurrieren und ineinander vertikal und horizontal übersetzt werden. In diesem Sinne kann man mit dem gesellschaftlichen Systemwechsel jene epistemischen Dimensionen erfassen, die sich mit den deliberativen und monarchischen Öffentlichkeiten in einer pluralistischen Zivilgesellschaft verbinden, wie in manchen postkolonialen Regionen der multipel differenzierten Weltgesellschaft der Fall ist. Übersetzungstheoretisch lässt sich daher die Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung zunächst als die Gesamtheit generalisierter Netzwerkhorizonten in praktisch-kulturellen Strukturen und habitualisierte Sozialorganisationen fassen, die in funktionale Differenzierung transzendieren. Zudem impliziert die Zivilgesellschaft ein riesiges Terrain von deliberativen und weiteren Rationalitätsmustern, die durch eine interne strukturelle Ausdifferenzierung und Stratifikation der pluralen Öffentlichkeit differenziert sind. Demnach kann man die plurale Öffentlichkeit als weltgesellschaftliche Partizipation an unterschiedlichen »pragmatische[n] Diskurse[n]« (Renn 2016) interpretieren, die durch global oder lokal operierende Organisationen vertreten ist und auf politisch-rechtliche sowie sozialer Ungleichheiten in den Nationalstaaten und supranationalen Ordnungen aufmerksam macht. Diese globalen Strukturprinzipien verlieren an öffentlichem nationalstaatlichem Einfluss, wenn es sich u.a. um Auffassungen über die symbolische und strukturelle Gleichheit und Gerechtigkeit handelt2 . Insofern bildet die pluralistische Zivilgesellschaft eine komplexe Form, die kein Zentrum aufweist, das weder systemische Kommunikationen noch Handlungen steuert, und weist eine reflexive Pluralität der Effekte in globalen, supranationalen und nationalstaatlichen Strukturebenen auf, die durch differente Reaktionen auf das Weltgeschehen operieren können. Daher kann die pluralistische Zivilgesellschaft sich kommunikativ durch Bedeutungsbrüche ausdehnen und einen nichtlinearen Übergang zu differenten Makrokontexten, wie das multiple Recht, hervorbringen. Auf nationalstaatlicher Ebene kann man keineswegs lediglich ein zivilgesellschaftliches hegemoniales Orientierungsmuster im Sinne einer immanenten deliberativen Einheitssemantik postulieren, auf das die pragmatischen 2

Zum Beispiel das Recht auf ein Asylverfahren in Mehr-Ebenen-Systemen wie in der EU und in der Golfregion oder die politischen Gefangenen in manchen Regionen der Weltgesellschaft.

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spätmodernen Akteure in der interaktiven Übersetzungsarbeit mit den normativen Rechtsordnungen gleichermaßen rekurrieren. Stattdessen muss man in einer pluralistischen Öffentlichkeit differente Rationalitätsmustern mit horizontalen und vertikalen »Übersetzungskaskaden« (Renn 2006) in der multiplen Differenzierung voraussetzen. Diese theoretischen Prämissen kann man in Regionen der multiplen Weltgesellschaft methodologisch beobachten, in denen zivilgesellschaftliche Organisationen mit dem islamischen Recht und dem habituellen Gewohnheitsrecht interagieren und in Wechselbeziehung konkurrieren, um letztlich zu versuchen, beide gesellschaftliche Rechtsordnungen an das positive Familienrecht – auch mit Hilfe von regionalen Kampagnen – zu assimilieren. Unter diesen pluralöffentlichen Rationalitätsmustern kann man religiöse Akteure als Bestandteil einer pluralistischen Zivilgesellschaft und strukturell ausdifferenzierten Öffentlichkeit betrachten. Im Gegensatz dazu konzipiert Gellner (2001) in seinen sozialphilosophischen und anthropologischen Abhandlungen den Islam als normative Gesellschaftsordnung, die mit der Zivilgesellschaft inkompatibel ist. Laut Gellner ist die islamische Religion, insbesondere die islamische städtische Mittelschicht, unvereinbar mit dem Wertsystem der Zivilgesellschaft (vgl. auch Roque 2004, 34). Die These der Inkompatibilität basiert laut Gellner auf dem autonomen Status der Ulama, die permanent die soziale Rolle als Hüter der religiösen Orthodoxie vor politischen Entscheidungen spielen. Somit steht Gellner in einer westlichen Traditionslinie, die den umfassenden Rationalisierungs- und Bürokratisierungsprozess lediglich als okzidentale Sonderentwicklung begreift, das islamische Recht hingegen als heiliges, material-irrationales und somit vormodernes Recht versteht, das sich den hermeneutisch- modernen Rechtsinterpretationen entzieht. Dementsprechend versteht Gellner die Institution der Ulama als epistemologisches Hindernis für die soziale Evolution und Entwicklung islamisch-geprägter Öffentlichkeiten, die jedoch – wie wir noch darstellen – an der Herausbildung des neuen positiven Familienrechts aktiv beteiligt waren. Religiöse und sunnitisch-maleketische Akteure werden auch in anderen Studien nicht als kritischer Bestandteil einer pluralen Zivilgesellschaft und ausdifferenzierten Öffentlichkeit betrachtet. Wenn der Islam in der Öffentlichkeit thematisiert wird, dann werden die traditionell- konservativen Kräfte den liberal-säkularen Akteuren wie den modernen Frauenorganisationen, die eine globale Systemreferenz aufweisen, gegenübergestellt (vgl. Hegasy 1997; M’Chichi 2010). Diese These einer spätmodernen Unvereinbarkeit von islamischreligiösen Interpretationen und einer pluralistischen Zivilgesellschaft wird von anderen Denkrichtungen widerlegt. In diesem Zusammenhang deutet Al Assri (2012) den Islam als eine pragmatische Kultur und Weltreligion, die nicht mit dem Konzept der Zivilgesellschaft kollidiert. Diese Feststellung hängt von einer adäquaten Interpretation der Scharia und von den islamisch-semantischen historischen Erfahrungen ab. Überdies sind die unantastbare Würde der Menschen und ihre

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung

sozialen Rechte, die von der Zivilgesellschaft eingefordert werden, in der islamischen Praxis verankert. Daher können religiöse Akteure einen Beitrag als zivile Reformakteure leisten. Mehr noch: Al Assri geht in Anlehnung an verschiedene Untersuchungen davon aus, dass bereits in der vorkolonialen islamisch-arabischen Epoche soziale Organisationsformen und funktionale Spezialsierungen existierten, die unabhängig von staatlichen Institutionen operierten, und nennt hierfür u.a. fromme gemeinnützige Stiftungen. Diese paradigmatische These wird überdies von Ghazali (1989) vertreten; laut ihm waren die sozioökonomischen Beziehungen in der vorkolonialen Epoche in Form von Vereinen im Bereich der Landwirtschaft, der islamischen Erziehung, der Bewässerung sowie der Lagerung von Lebensmitteln in den Städten und auf dem Land organisiert. Insofern existierte diese Form der zivilgesellschaftlichen Sozialorganisation sowohl in Regionen des islamischen Rechts als auch des habituellen Gewohnheitsrechts. Diese vorkolonialen zivilgesellschaftlichen Vereine haben sich in der postkolonialen Phase auf lokaler, nationaler und globaler Ebene in Bereichen der gesellschaftlichen Rechtsordnungen weiterentwickelt und vervielfacht (siehe »Les associations á vocation religieuse« Tozy 2004, 219–238). Zu diesen genannten Öffentlichkeiten existieren zudem religiöse Reformakteure, die für eine reflexiv aufgeklärte Interpretation des islamischen Rechts eintreten. Ein Beispiel hierfür stellt die Rechtstheorie Hamadi dar3 . In seinen Schriften u.a. »Pragmatischer Igtihad und die Reform des Familienrechts« (2005 eigene Übersetzung) interpretiert er die Erneuerung des Familienrechts im malikitischen Islam nicht als eine Angleichung an globale Normen und schlussfolgert, dass dogmatische Rechtsgelehrte und Reziprozitätsverweigerer nicht zu einer sozialstrukturellen Transformation der hermeneutischen Interpretation beitrugen. Seine Überlegung wird von innen heraus in Anlehnung an die primären Rechtsquellen der Scharia untermauert, da der Mujtahed (übersetzt: islamischer Forscher) nicht nur objektiv manifeste oder latente Bedeutungsstrukturen interpretiert, sondern auch die habituelle pragmatische Praxis und das gesellschaftliche Handlungsrecht zur Kenntnis nehmen muss, um das Gemeinwohl der Gesellschaft zu berücksichtigen (ebd. 7 f.). Insofern unterscheidet er qualitativ zwischen zwei Formen epistemologischer Erneuerung: Einem theoretischen Scharia- Igtihad und einem praktisch-kulturellen Igtihad, der aus dem Ersteren hervorgeht und unter dem Primat der sozialen Arbeitsteilung nach Spezialgebieten im Rahmen funktionaler und kultureller Differenzierung spezialisiert ist (ebd. 30–45). Diese Thesen stellen laut Hamadi keine subjektiven Interpretationen dar, sondern repräsentieren übersubjektive Alltagsfunktionen. Denn wenn zivilgesellschaftliche Akteure und die islamischen Rechtsgelehrten 3

Auch mit Idriss Hamadi, Dozent für islamische Rechttheorie in der Stadt Fes//Marokko, wurde während der ersten Feldforschung im Jahr 2013 ein qualitatives Interview durchgeführt.

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diese hermeneutische Interpretation im Familienrecht übernehmen und andere islamische Rechtsschulen bei der pragmatischen Deutung selektiv inkludieren, würden sie diese aufgeklärten Igtihad-Formen entdecken. Somit transzendiert die Zivilgesellschaft über eine semantische Vereinheitlichung und eindimensionale weltgesellschaftliche Musterübernahme hinaus und zeichnet sich durch ausdifferenzierte Modi der sozialen Handlungskoordinationen aus, in denen liberal und religiös- traditionell geprägte Praktiken einen analytischen Ausgangspunkt bilden. Laut ihm setzen sich sunnitisch-malikitische Rechtsgelehrte für eine selektive Vertauschbarkeit legitimer Argumente und Perspektivenübernahme hermeneutischer Interpretationen des pragmatischen Fikhdiskurses ein. Somit wird die islamische Jurisprudenz (Fikh) u.a. in Anlehnung an Averroes und Ibn Khaldun entsakralisiert und die spätmoderne Zivilgesellschaft pluralisiert. Diese religiöse Gewissheit führt zu einem Kontingenzbewusstsein und delegiert die pluralen Rechtsentscheidungen von einem religiös milieuspezifischen Teil der Zivilgesellschaft an spezialisierte Funktionssysteme, Hierarchien und Ämter (wie Richter und Ärzte), die in funktional differenzierten Organisationen tätig sind und die öffentlich pragmatischen Diskurse in Rechtsprogramme übersetzen. In diesen zweiten Übersetzungsprozessen kommt den Individuen durch habitualisierte Techniken, Rechtskniffe und Sinnbrüche eine zentrale Rolle zu. Sie umgehen als »Angehörige eines Milieus oder Mitglieder einer Organisation« (Renn 2016, 127ff.) die Positivität und das Verfahren des staatlichen Familienrechts trotz Bestrebungen zivilgesellschaftlicher Institutionen, die Rechtshandlungen eindimensional zu steuern. Daher muss die systemische Rechtssprache zur Überwindung der pragmatischen Rechtskniffe in die komplexen gesellschaftlichen Rechtordnungen übersetzt werden. Diese ungleichgewichtigen vertikalen Relationen schaffen für die milieuspezifischen Individuen eine doppelte Verbundenheit, die prinzipiell eine positive weltgesellschaftliche und eine lokale, transkulturelle Ebene einschließt und die Notwendigkeit einer strukturellen Veränderung auf den dritten Übersetzungsverhältnissen seriell neutralisiert4 . Die Übersetzungen zivilgesellschaftlicher spezifischer Einheiten werden überdies als ein plural weitgefasstes Netzwerkmedium für eine symbolische und materielle Umwandlung von handlungstheoretischen Formationen in Richtung funktionaler Integrationssysteme gedeutet, die im Ergebnis keine Gleichstellung oder Homogenisierung der normativen Rechtsordnungen durch ihre wechselseitigen Transformationen lokalisieren lassen. Stattdessen initiieren die ersten Übersetzungen kommunikativer Öffentlichkeiten komplexe Entitäten von mehrdimensionalen Umformungen der unilinearen Übertragbarkeit zivilgesellschaftlicher

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Die abstrakteste Komplexität beider gesellschaftlicher Rechtsordnungen ergibt sich aus den zweiten und dritten Übersetzungsverhältnissen mit dem positiven Familienrecht und wird in einem eigenen Kapitel analysiert.

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung

Diskurse in die pluralen normativen Rechtsprozesse. In den zweiten Übersetzungsverhältnissen wird der Appell pluralistischer Öffentlichkeiten im Modus der Interaktion der Rechtsordnungen und der systemischen Hierarchie des rationalen Verfahrens des positiven Rechts funktional eingeschränkt. Mit dieser strukturell eingeschränkten Komplexität wird impliziert, dass zivilgesellschaftliche Formationen ihre funktionalen Spezialisierungen permanent in persistenten und zugleich komplementären Rechtsprozessen bereitstellen und nur in den ersten Multiübersetzungsverhältnissen eine Faktizität der Geltung aufweisen. Sie können nicht bis zu den inkommensurablen Differenzen und Innerwelten der normativen Rechtsordnungen sowie ihren akteurlos programmierten Interaktionen vordringen und ihre operationsspezifischen Handlungen und Kommunikationen umwandeln. Dieser performative Übergang und diese symbolische Transformation von einem ersten Übersetzungsverhältnis zu weiteren Rechtübersetzungen werden erst durch die Rechtsniffe ermöglicht, denn durch sie können die Individuen die Pflicht umgehen, das staatliche Gesetz zu befolgen5 . Die pluralistische Zivilgesellschaft und die spezielle Ausdifferenzierung der Öffentlichkeit in religiösen, kritischen und monarchischen übersubjektiven Akteuren werden durch die Übersetzungen in den normativen Rechtsordnungen verwandelt. Die Logik dieser pluralen Transformationen kann aufgrund der operativen Bezüge zwischen Individuen und Organisationen sowie gekoppelter Funktionssysteme bereits in der ersten Übersetzung in der multiplen Differenzierung artikuliert werden. Diese Thesen werden anhand zweier konkurrierender Idealtypen von Öffentlichkeit analysiert, nämlich einer monarchischen und einer kritischen Öffentlichkeit, die differente zivilgesellschaftliche Praktiken und Strategien anwenden, um das positive Familienrecht in den zweiten Übersetzungsverhältnissen vehement durchzusetzen: Die monarchische Öffentlichkeit lässt sich am Beispiel der Union Nationale des Femmes du Maroc (UNFM) diskutieren und die Kritische am Beispiel der Union de lʼAction Féminine (UAF)6 . Während die erste Organisation durch die Initiative des Kö-

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Die hier verwendete latente und pragmatische Methodik der soziologischen Rechtskniffe wurden zunächst in den hanafitischen und darauffolgend in den schafiitischen Rechtspraktiken entwickelt (Schacht 1924, 5). Sie wurden aus der dritten islamischen Hauptquelle, der Igtihad, hervorgebracht und in differenten religiösen Rechtsbereichen, wie dem Familienrecht, dem Erbrecht und dem Strafrecht angewandt. Die Kniffe sind in erlaubte, verbotene und missbilligte Hialpraktiken differenziert. Bei Hanafiten liegt der Hauptnachdruck auf der Betonung der Rechtsgültigkeit der Kniffe in allen Fällen und bei Schafiiten auf ihrem Verbot und ihrer Missbilligung (ebd.). Mehr zu der funktionalen Rolle der Rechtskniffe bei den zweiten vertikalen Übersetzungen siehe das Kapitel »Rechtspluralismus und Familienrecht – Übersetzung multipler Ordnung«. Laut dem Innenministerium existierten im Jahr 2012 mehr als »90 000 associations« in Marokko. Die meisten sind »associations de proximite«, Vereine der Nähe, und operieren regional (El Hachimi 2014).

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nigs Hassan II. gegründet wurde, ist die zweite Organisation aus der Frauensektion der linken Oppositionspartei Organisation de lʼAction Démocratique Populaire (OADP) entstanden. Diese Organisationen sind in Anlehnung an Luhmann (1997, 826) aufgrund von Mitgliedschaftsregeln und Rollenspezifikation hierarchisch strukturiert und können Entscheidungen organisieren. Ferner müssen sie die marokkanische Verfassung und die nationalstaatliche Rechtsordnung anerkennen (Artikel 12 der Verfassung). Das sind die Rechtsbedingungen, innerhalb derer diese Organisationen gesellschaftlich handeln können. Erste Ansätze öffentlich organisierter Frauenbewegungen lassen sich in der kolonialen Zeit finden. Die Frauenverbände dieser Epoche sind aus politischen Parteien hervorgegangen und weisen vielerlei Ähnlichkeiten auf. Sie haben eine einheitliche Motivlage primär gegen die koloniale Herrschaft artikuliert (Belarbi, 1997; MˈChichi 2010). Handlungsstrategien gegen hegemoniale Männlichkeit und politische Strukturen wurden kaum dokumentiert. Es lassen sich mindestens zwei Idealtypen unterscheiden, in denen sich das Politische auf unterschiedliche Weise institutionalisiert hat. Der erste Idealtypus ist nicht aus politischen Oppositionsparteien hervorgegangen, sondern wurde explizit durch das komplexe politische System ins Leben gerufen. Er ist unmittelbar an die normativen Erwartungen und die offizielle Geschlechterpolitik gekoppelt. Daher ist dieser Typus als lineare Verlängerung politischen Handelns zu verstehen und durch systemtreue Praktiken im Sozialbereich gekennzeichnet. Zwar ist ihm politisches Handeln fremd, allerdings trägt sein gesellschaftliches Handeln implizit oder explizit zur Reproduktion politischer Strukturen bei. Dazu gehört in diesem Kontext die pragmatische Bindung des neuen Familienrechts an die Zwei-Seiten-Form des Politischen, nämlich die religiöse und die weltliche (mehr hierzu im Kapitel Recht und Politik). Historisch ist dieser Idealtypus unmittelbar nach der Entkolonialisierung entstanden. Man kann als Hauptvertreter dieser Variante an die älteste und bis heute existierende Frauenorganisation Union Nationale des Femmes du Maroc (UNFM) denken. Sie wurde von König Hassan II. 1969 gegründet und 1970 mit einem Dahir als gemeinnütziger Verein anerkannt. Die erste vom König benannte Präsidentin dieser Organisation war Prinzessin Lalla Fatima Zohra. Seit 2003 ist Prinzessin Lalla Meriem die neue UNFM-Präsidentin. Sie wurde vom amtierenden König berufen. Hauptinteresse der Organisation ist die Integration der marokkanischen Frau in sämtlichen Funktionsbereichen. Im Rechtsbereich verfügt sie über lokale Anlaufstellen, die aus einer Kooperation mit dem Justizministerium anlässlich des Weltfrauentags vom 8. März 2007 resultierten. Die Anlaufstellen sind im ganzen Land verteilt und dienen u.a. dazu, die Rechtsberatung und -unterstützung durch spezialisierte Akteure, wie etwa Rechtsanwältinnen, zu leisten. Dazu gehört außerdem die Mediation zwischen den Eheleuten und die Sensibilisierung der Frauen im Bereich des neuen Familienrechts. Gegenwärtig geht eine Vielzahl von sozialen Praktiken wie die sexuelle Aufklärung und informelle Alphabetisierung bis hin zu der Organisation

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung

von Kongressen, in die gesellschaftliche Arbeit der Organisation ein. Beispielsweise wurde im Jahr 2013 ein Kongress in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium zum Thema »La femme rurale sous la législation marocaine« realisiert, um das positive Familienrecht zu reformieren. Ein weiterer Idealtypus (neben der religiösen und monarchischen Öffentlichkeit) artikuliert einen »pragmatischen Diskurs« (Renn 2016), der zuerst im postkolonialen Prozess als Ensemble von Protestbewegungen im sozialen Raum entstanden ist und auf Umwegen in gesellschaftlichen Integrationseinheiten des Politischen inkludiert wurde. Als Form des Protests mit einer linksorientierten Lebens- und Denkform hatte diese heterogene Oppositionsbewegung gegen autoritäre Strukturen, Klassenlagen und Geschlechterungleichheit interveniert sowie eine grundlegende Veränderung »männlich hegemonialer Herrschaftsverhältnisse« (Connell 2006) durch praktisches Handeln gefordert. Als Reaktion darauf hatte das komplexe politische System viele ihrer Akteure durch spezielle Methoden der sozialen Kontrolle von der gesellschaftlichen Praxis isoliert, um sie danach in konstitutionell regelkonforme Bahnen zu lenken7 . Das zeigt sich daran, dass in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts viele Protestierende bereit waren, sich von einer sozialen Bewegung hin zu einer politischen Opposition in verfassungsmäßigen Parteien zu organisieren. Dies führte zur Abmilderung ihrer Rhetorik und ihres Diskurskodex. In dieser Konstellation entstanden aus dem Frauenflügel politische Parteien und Frauenorganisationen, die eine funktionale Trennung zwischen parteipolitischer Arbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement etablierten. Als prominente Organisation ist die Union de lʼAction Féminine (UAF) zu nennen. Sie entstand im Jahr 1987 aus der Frauensektion der linken Oppositionspartei Organisation de lʼAction Démocratique Populaire (OADP). Die pragmatisch diskursiven Inhalte der UAF wurden in ihrer arabischsprachigen feministischen Zeitschrift »8 Mars« veröffentlicht. Sie behandelte ausdifferenzierte Frauenthemen, die ihre Legitimität aus dem universellen Menschenrechtsdiskurs nichtlinear ableiten. Ihr gesellschaftliches Handeln war in ein plural weitgefasstes weltgesellschaftliches Netzwerk eingebettet und akzentuierte auf internationalen Tagungen, wie dem Weltfrauentag, die Gleichheitsberechtigung der sozialen Geschlechter. Am 8. März 1992 startete die UAF eine Aktion mit dem Ziel, eine Million Unterschriften für eine Modernisierung des Familienrechts zu sammeln (MˈChichi 2010; Tellenbach 1994). Sie forderte u.a. die Abschaffung der Verheiratung von Minderjährigen und der Verstoßung sowie der Polygamie und der Ehevormundschaft. Ein Jahr später wurde im Auftrag von König Hassan II., der von 1961 bis 1999 regierte, das Familienrecht reformiert, was

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Das führte dazu, dass im Jahr 2004 eine »Wahrheitskommission« zur Vergangenheitsbewältigung unter König Hassan II von seinem Nachfolger Mohamed der 6 gegründet wurde.

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jedoch zu keiner nennenswerten rechtlichen Neuerung führte. Denn für das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen im privaten Bereich waren weiterhin das habituelle Gewohnheitsrecht und Regelungen des islamischen Rechts maßgeblich. Erst mit der Liberalisierungswelle und der neuen Geschlechterpolitik von König Mohammed VI., der seit 1999 das Land regiert, wurden die Forderungen der marokkanischen Frauenbewegung berücksichtigt. Im Jahre 2001 setzte der König eine Beratungskommission u.a. aus Juristen und religiösen Rechtgelehrten ein, welche ihm einen ersten Reformvorschlag vorlegte. Die Änderungen zielten darauf ab, die säkularen universellen Normen unter Achtung der religiösen Besonderheiten des Landes in das staatliche Familienrecht zu übersetzen. Am 10. Oktober 2003 gab der König unter Berufung auf seine o.g. religiöse Rolle das neue Familienrecht im Parlament bekannt. Somit trug dieser Idealtypus maßgeblich dazu bei, das patriarchalische Familienrecht formal zu reformieren. Abschließend wird ersichtlich, dass die Zivilgesellschaft nicht nur eine deliberative epistemologisch herauskristallisierte Öffentlichkeit mit einem hegemonialen Zentrum inkorporiert, was im operativ gekoppelten Funktionssystem der Wissenschaft zum Teil konstruiert und als unhinterfragte Wahrheit hingenommen wird. Vielmehr kann die Zivilgesellschaft als eine plurale Gesellschaft im Sinne spätmoderner überlagerter Öffentlichkeiten verstanden werden, wie der monarchische, der kritische und der religiöse Idealtyp, die auf unterschiedlichste Weise in das komplexe politische System integriert und in die normativen Rechtsordnungen übersetzt werden. Überdies sind diese differenten zivilgesellschaftlichen Akteure mit dem Versuch befasst, das positive staatliche Recht in praktisches Handeln zu übersetzen, und zwar auch in sozialen Nichtlokalitäten, die vom islamischen Recht und vom habituellen Gewohnheitsrecht der Berbermilieus dominiert sind. Daher stoßen die zivilgesellschaftlichen Initiativen unweigerlich auf verinnerlichte gesellschaftliche Rechtspraktiken, die aufgrund ihrer Geltung in die pragmatischen Regeln dieser sozialen Milieus inkludiert sind und durch das Individuum mittels Rechtskniffen und Bedeutungsbrüchen umgangen werden, wie die Verheiratung von Minderjährigen und die Mehrehe, die sowohl in den Städten und als auch in peripheren Regionen praktiziert werden. Durch diese strukturelle Umschrift wird der feste Glaube an ein rationales Verfahren des positiven Rechts relativiert und seine systemische scheinbare Überlegenheit sowie Kontrolle der Rechtsprozesse auf das zweite vertikale Übersetzungsverhältnis eingeschränkt. Die Prozesse der Assimilation und Angleichungsversuche der gesellschaftlichen Rechtsordnungen werden somit kreativ umstrukturiert. In diesem Sinne stoßen die zivilgesellschaftlichen Idealtypen auf postkoloniale Sinngrenzen, in denen eine lineare Bedeutungsübertragung des positiven Familienrechts in den diskontinuierlich originären dritten Übersetzungsverhältnissen nicht möglich ist. Somit impliziert die Übersetzung kein geschlossenes lineares System von Interdependenzen, sondern birgt ein mehrdimensionales Aufeinanderfolgen von komplexen horizontalen und vertikalen Kaskaden, die in einer

8. Recht und Zivilgesellschaft in der multiplen Differenzierung

überlappten Form über die symbolischen und materiellen Systemgrenzen interagieren. Auf diese theoretisch gewonnenen Thesen der Übersetzungsverhältnisse wird im empirischen Teil der vorliegenden Dissertation eingegangen.

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9. Die Evolution des multipel differenzierten Familienrechts

Im wissenschaftlichen Diskurs der Spätmoderne wurde die multiple Evolution des marokkanischen Familienrechts kaum analysiert, wie dem vorliegenden Forschungsstand zu entnehmen ist. Dabei ist zunächst zu konstatieren, dass die Evolution des marokkanischen Rechtssystems von der Evolution der multipel differenzierten Weltgesellschaft abhängt und (wie wir bereit gesehen haben) nicht auf die primäre funktionale Differenzierung reduziert werden kann. Begreift man die Evolution der Weltgesellschaft in makrosoziologischen Theorien als langfristigen sozialen Prozess, so ist eine präzise Darstellung der Evolution des multipel differenzierten Familienrechts nur über eine langfristige Prozessanalyse zu leisten. Das Konzept, das sich bisher in der Soziologie für sozialstrukturelle Prozessanalysen am effizientesten erwiesen hat, ist die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, die differenziell je nach paradigmatischer Ausrichtung eingesetzt wird. In »Der Staatsadel« betont Bourdieu (2004, 321), dass bereits Durkheim langfristige soziale Prozesse als Differenzierung der Gesellschaft in relativ autonome Teilbereiche analysiert hat. Durkheim unterscheidet zwei Formen der Gesellschaftsdifferenzierung und verbindet sie mit ihren spezifischen Rechtsordnungen, nämlich segmentäre und funktionale Differenzierung. Mit dem sozialstrukturellen Übergang zu funktionaler Differenzierung lösen sich allmählich, so Durkheim (1977, 210), die rechtlichen, politischen und wissenschaftlichen Funktionen von der religiösen Funktion, richten sich ein und nehmen einen weltlichen Charakter an. Das repressive Strafrecht der segmentären Differenzierung, das als Recht der »primitiven Völker« im Sinne Durkheims gilt, hat sich auf ein modernes Recht umgestellt und spezialisiert (zur Weiterführung und Kritik u.a. an Durkheims und Bourdieus Rechtstheorien siehe hier das Kapitel: Soziologische Rechtsbegriffe). Als ein weiterer Beitrag zur Evolution des positiven – nicht multiplen – Rechtssystems kann die Theoriebildung Luhmanns erwähnt werden. Anders als Durkheim fügt Luhmann zwei Formen der sozialen Differenzierung hinzu und spricht von stratifikatorischer und Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Das moderne positive Rechtssystem verbindet Luhmann mit der Umstellung der Gesellschaftsstruktur von stratifikatorischer auf primäre funktionale Differenzierung, da ihm zufolge

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Teil A – Theorie

erst in dieser funktionalen Differenzierungsform die Funktionssysteme autonom und operativ geschlossen werden (1984). Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Kann man mit systemtheoretischen Differenzierungsformen (siehe hierzu oben 3.4) zeitliche Epochen angemessen unterscheiden, um die Evolution des multipel differenzierten Familienrechts systematisch zu erfassen? Und dies vor allem, wenn man bedenkt, dass die Systemtheorie sich lediglich mit der funktionalen und nicht mit der »multiplen Differenzierung« (Renn 2006) beschäftigt hat? Luhmann kommt in »Gesellschaft der Gesellschaft« (1999b, 683) zum Ergebnis, dass die Veränderung der Gesellschaftsstruktur auf einem Primat funktionaler Differenzierung nur in Europa erfolgt ist. In diesem Zusammenhang macht Mayntz auf die Schwierigkeit aufmerksam, soziale Differenzierungsformen europäischer Herkunft auf – wie sie es nennt »orientalische Gesellschaften« (1997, 40) zu übertragen. Sie betont, dass solche Gesellschaften weder unter dem Primat funktionaler Differenzierung differenziert werden noch wie die mittelalterlichen Ständegesellschaften durch Stratifikation gekennzeichnet sind. Weiterhin lassen sie sich auch nicht wie segmentäre Gesellschaften behandeln, da ihr dominantes Strukturprinzip vielmehr die allesumfassende bürokratische Herrschaftsordnung sei (wie in der Vormoderne). Demnach sind differenzierungstheoretische Unterscheidungen für eine sozialstrukturelle Prozessanalyse islamisch geprägter Gesellschaften unzureichend (Mayntz 1988, 13). Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Ursachen der Gesellschaftsdifferenzierung, die Luhmann (1999b, 14ff.) auf evolutionäre Mechanismen zurückführt und akteurlos konzipiert. Im Gegensatz dazu hat Eisenstadt (1971) in einer herrschaftstheoretischen Perspektive die strategische Rolle von gesellschaftlichen Akteuren (dominante Elitegruppen) im Differenzierungsprozess hervorgehoben – dies bietet eine, wenn auch unzureichende Möglichkeit, soziale Differenzierung in ihren lokalen Ausprägungen zu begreifen. Denn die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung und des modernen Rechts kann ihren Untersuchungsfokus nicht ausschließlich entweder auf die primäre funktionale Differenzierung oder auf die Handlungseinheiten einschränken. Stattdessen muss sie die Differenzierung von Formen und Arten der Differenzierung berücksichtigen und die fallspezifische Konstellation der regional wirksamen Integrationseinheiten fokussieren. Denn das Recht – wie in vielen Regionen der spätmodernen Weltgesellschaft – präsentiert sich nicht als eine Ablösung von Rechtstraditionen (hier: religiöses Recht und habituelles Gewohnheitsrecht) durch die Bildung eines modernen positiven Funktionssystems, wie beispielsweise Luhmann (1995, 1999a; 1999b) oder Bourdieu (1986; 1992) postulieren. Wirft man einen Blick auf die gesellschaftliche Evolution Marokkos, so fällt unweigerlich auf, dass das habituelle Gewohnheitsrecht und die religiöse Praxis im Rechtssystem nicht durch die primäre funktionale Differenzierung abgeschafft sind, sondern vielmehr das Gegenteil der Fall ist: Sie werden gerade dadurch aufrechterhalten und auf der Übersetzung zweiter Ordnung umgeordnet, nämlich in

9. Die Evolution des multipel differenzierten Familienrechts

der Form einer Übersetzung multipler Ordnung. Insofern können die gesellschaftlichen Rechtsordnungen durch pragmatisches Handeln zwei Dinge zugleich sein und in zwei normative Rechtsordnungen und Organisationsformen funktionaler und kultureller Differenzierung integriert werden. Im Kontext von multipler Differenzierung ist somit jede evolutionäre Veränderung eine Vielfache und betrifft zugleich die funktionale, kulturelle und regionale Ausdifferenzierung. Dabei charakterisiert die Form der multiplen Strukturbildung des Gesellschaftssystems die empirischen Bedingungen des Rechtssystems in Marokko (und in der arabisch-islamischen Welt), die anders als in anderen Regionen – Lateinamerika, Westeuropa – der Weltgesellschaft verlaufen. Daraus resultiert eine multiple Evolution, die sich auf verschiedene Horizonte der sozialen Übersetzung bezieht. In der marokkanischen, modernen Gesellschaftsgeschichte kann man von drei übergeordneten, multiplen Differenzierungsformen ausgehen, nämlich von einer vorkolonialen, einer kolonialen und einer postkolonialen Epoche. Die Übersetzung zwischen den gesellschaftlichen Rechtsordnungen fand bereits in der vorkolonialen Epoche statt, während das positive staatliche Recht erst in der kolonialen Phase entstanden ist und strukturell hinzugefügt wurde.

I. Das Familienrecht in der vorkolonialen Epoche Die Geschichte der Soziologie im Sinne einer institutionalisierten akademischen Disziplin in Marokko – und in der arabisch-islamischen Welt – begann erst mit der Etablierung der Kolonialverwaltung (Dyalmi 2010, 290; Higazi 2010, 19). Vor der Kolonialzeit wurden vor allem ethnologische Studien im Auftrag der Kolonialverwaltung durchgeführt, um zur Erkundung der Sozialstruktur beizutragen. Eine der ersten ethnologischen Forschungen wurde von Mouliéras unter dem Titel »Das unbekannte Marokko« im Jahr 1895 veröffentlicht (Dyalmi 2010). Erst während der Kolonialzeit widmete sich die französische Sozialforschung primär den Ausprägungen des islamischen Rechts im Zentrum des Landes und der Untersuchung des sog. Stammesrechts in peripheren Regionen (Surdon 1936; Schmitz 1990, 380). Die dominierenden Forschungsrichtungen dieser Zeitphase im Maghreb waren neben der Ethnologie auch die orientalischen Studien und die Soziologie. Viele Studien wurden aufgrund ihrer unkritischen Haltung zur Kolonialverwaltung mehrfach kritisiert; ausgenommen sind u.a. die Studien von Thérèse Rivière, Jacques Berque und Robert Montagne (Bourdieu 1997, Qadéry 2007, Lahouari 2004, 141. Mehr hierzu: siehe Der Forschungstand). Dass in jener Zeit weder eine soziologische Rechtsforschung noch eine institutionalisierte Geschlechterstudie existierten, muss hier nicht explizit betont werden. Dementsprechend erweist sich die sozialwissenschaftliche Forschungslage zum Familienrecht in der vorkolonialen Phase als lückenhaft. Laut dem Philosophen Al Jabiri (1988, eigene Übersetzung) ist generell die marokkanische Geschichte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht weitergehend

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kritisch erforscht worden. Thematisiert wurde entweder eine national eingefärbte Geschichte, die die Differenzierungsgrade und symbolischen Machtkämpfe im Land ausblendet, oder eine nichtnationale Geschichte, die von französischen Historikern unter Einfluss der kolonialen Verwaltung dokumentiert ist. Die unzureichende Forschungslage berührt insbesondere die Geschlechterthematik und kann ebenso auf die kaum institutionalisierte Geschlechterforschung an den marokkanischen Universitäten zurückgeführt werden – was wiederum als ein gesellschaftsstruktureller Ausdruck der Tabuisierung geschlechtlicher Beziehungen betrachtet werden kann (siehe hierzu El Guennouni 2010). Intimbeziehungen waren (und sind) immer Gegenstand moralischer Bedenken in der islamisch-arabischen Welt und gelten bis heute weitgehend als tabuisierter Bereich1 . Erörtert wurden von einigen Ethnologen und Soziologen einzig Aspekte, die das Familienrecht und die Ehepraxis betreffen. Die Eheschließung und Familienbildung im vorkolonialen Marokko dienten nicht nur der Institutionalisierung, sondern erfüllten zudem die Funktion der sozialen Stabilität und schützten vor der sogenannten Fitna, dem sozialen Chaos. Diese Vorstellung beruhte auf der Sorge vor den scheinbar unkontrollierten Kräften der weiblichen Sexualität, die als eine Gefahr für die islamische Gemeinschaft (Umma) erachtet wurden, falls sie nicht in einem ehelichen Rahmen »kontrolliert« würden (Mernissi 1989). Insofern war die Ehe nicht gegenüber Instanzen der öffentlichen Gewalten, sondern gegenüber der islamischen Gemeinschaft zu legitimieren. Die Familie zeichnete sich durch eine patriarchale Struktur aus, in der die Polygamie sowohl in allen sozialen Schichten als auch in allen Regionen weit verbreitet war. In juristischer Hinsicht existierte keine allgemeingültige Rechtsreferenz für das Familienrecht und die Ehepraxis. Eine Reihe religiöser und in der vorkolonialen Epoche ungeschriebener Gewohnheitsrechte organisierte die eheliche Institution. Dieser Rechtspluralismus herrschte vor allem bei den Berberstämmen (Müller 2005). Die rechtsplurale Struktur war unmittelbar mit der politischen und sozialen Ordnung dieser Stämme verbunden. Die zentrale Regierungsgewalt versuchte landesweit islamische Rechtsnormen einzuführen, tastete aber gleichzeitig die traditionellen Rechtsstrukturen der Stämme 1

In der frühen arabisch-islamischen Geschichte bildete Sexualität keinen tabuisierten Bereich im wissenschaftlichen System. Die arabischen Wissenschaftlichen haben sich mit Sexualität u.a. in der Literatur, Philosophie und Medizin befasst. z.B. Jalal Din AL Siyote, »Der Schal in den Vorteilen der Ehe«, Syrien, (Eigene Übersetzung), der im Frühmittelalter, im Jahr 911 gestorben ist. Oder das Buch von Muhammad Ibn Ahmed Al-Tijani »Das Meisterwerk der Verheiratete und das Vergnügen der Seele« (Arabisch: Tohfat Al Arous). 1992. London. Oder der berühmte arabische Dichter Abu Nawas, der von 145 bis 198 arabische Zeit während der Abbassiden Dynastie in Bagdad gelebt hat. Siehe auch Pinckney (2009). Early Islamic Poetry and Poetics. New York. Erst in der Moderne wurde Sexualität als Forschungsfeld u.a. in der islamischen Theologie, Lyrik und Poisie verboten und als tabuisierten Bereich des hegemonialen männlichen Geschlechtes degradiert.

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nicht an. So schuf das Zentrum (Regierungsgewalt) eine Koexistenz zwischen dem islamischen Recht und dem partikularen Gewohnheitsrecht. Systematisch lassen sich zwei Rechtsformen unterscheiden: eine in den Städten und eine zweite in den ländlichen Regionen.

II. Rechtsordnung in den Städten Das herkömmliche Zentrum Marokkos lässt sich als relativ statisch beschreiben. Die Regierung des Sultans zeichnete sich durch relative Homogenität aus; sie bestand lediglich aus einem Minister, einem Palastmeister, einem Schriftführer sowie aus Boten und um die Städte herum stationierten Soldaten (Montagne 1986). Das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen basierte ausschließlich auf dem islamisch-malikitischen Recht, auf dessen Grundlage Verstöße gegen das Recht festgestellt und Unrecht beseitigt werden konnten. Das Familienrecht wurde unmittelbar – wie wir gesehen haben – den Hauptquellen der Scharia, dem Koran und der Sunna (Aussagen und habituelle Gewohnheiten des Propheten) entnommen und galt in diesem Sinne als heilig. Dementsprechend hatte die Justiz einen religiösen Charakter, und eine Rechtsverletzung wurde nicht nur als Störung des »Gesellschaftsvertrages« (Rousseau), sondern als Verletzung der heiligen Vorschriften betrachtet. Recht und Religion waren somit eng miteinander verbunden und eine strukturelle Trennung administrativer und richterlicher Funktionen war dem klassisch-islamischen Familienrecht fremd (hierzu insbesondere Schacht 1935, 212). Kritik an der ungleichen Geschlechterordnung wurde unmittelbar als Kritik an dem heiligen Gesetz interpretiert und als Ausdruck mangelnder Religiosität gekennzeichnet. In diesem Sinne wurde »die männliche Herrschaft« (Connell 1999) durch religiöse Gesetze untermauert. Das islamische Familienrecht regelte nicht nur die Eheschließung und Scheidung, es durchdrang auch alle Bereiche des ehelichen Zusammenlebens und des Erbrechts. Eine umfassende Beschreibung aller Zuständigkeitsbereiche der Scharia würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Allerdings kann man zusammenfassend feststellen, dass alle rechtsrelevanten Handlungen in den Wirkungskreis der Scharia fielen. Geprägt wurde sie im Wesentlichen von der malikitischen Rechtsschule, deren Inkorporierung in Marokko in das 8. Jahrhundert zurückreicht (mehr hierzu im Kapitel Recht und Religion). Seitdem tauchten die heiligen Texte des Koran und der Sunna als Rechtsquellen auf und wurden von den islamischen Rechtsgelehrten gelehrt und praktiziert. Diese Gelehrten wiederum nahmen innerhalb der Justizeinrichtungen eine besondere Stellung ein und waren in Moscheen und Lehreinrichtungen (an deren Spitze die Universität Al-Qarawiyyin in der Stadt Fez stand) präsent. Die heiligen Texte stellten in den damaligen Lehrein-

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richtungen diewichtigsten Lehr- und Lerninhalte dar2 . Zugang zu diesen vormodernen Lehreinrichtungen hatten vor allem Männer aus der einflussreichen arabischen Oberschicht. Die dritte Quelle des Frauen- und Familienrechts stellte der Konsens der männlichen islamischen Rechtsgelehrten (arabisch: ŭlama) dar. Islamische Theologen, die den Konsens als Rechtsquelle leugneten, wurden schlechthin exkommuniziert (Al Jabri 2001, 125). Den Koran und die Sunna zu interpretieren, war einzig und allein den männlichen Rechtsgelehrten gestattet. Eine Interpretation der heiligen Texte aus weiblicher Perspektive war ausgeschlossen. Insofern war – und ist – das religiös-islamische Recht immer noch männlich dominiert. In der Forschungsliteratur stimmen die Autoren darin überein, dass die männlichen, islamischen Rechtsgelehrten in Marokko bis zur Kolonialzeit gegenüber dem politischen System relativ autonom waren (Elger 1993, 23). Ähnlich hebt Papi (2004, 443) in seiner Untersuchung »Islam et Droit Musulman au Maghreb« hervor, dass das politische System weder in das religiöse Rechtssystem und seine Organisation eingriff noch die Texte und Rechtsfindungsmethoden festlegte oder die Rechtsnormen und -rituale anordnete. Jahrhundertelang konnten die männlichen Rechtsgelehrten durch Rekurs auf die primären religiösen Quellen das islamische Familienrecht regeln. Wie das Amt der religiösen Rechtsgelehrten waren auch die Rechtsberufe ausschließlich männlich dominiert, z.B. wurde die Funktion der Rechtsausübung nur männlichen Richtern übertragen (Plantey 1951, 16). Den Frauen war der Zugang zum Richteramt verwehrt. Die islamischen Richter wurden in den theologischen Schulen ausgebildet und wendeten als Rechtsfindungsmethoden den Analogieschluss (arabisch: Qiyās) und die selbstständige Anstrengung (arabisch: Įgtihad) an, da das Familienrecht unkodifiziert war. Insofern musste der islamische Richter jeden Rechtsfall in seiner Besonderheit betrachten und ihn selbstständig in Anlehnung an die Hauptquellen des islamischen Rechts lösen. Theoretisch konnten die islamischen Richter keine neuen Gesetze erlassen, da im klassisch-islamischen Recht die Gesetzgebung ausschließlich Gottes Anliegen war. Durch die Sinndeutung von Rechtstexten konnte zwar ein Konsens zur Bereicherung des Textkorpus entstehen (Gellner 1992, 101), aber in dieser historischen Phase wurden im islamisch-malikitischen Familienrecht kaum Rechtskniffe (arabisch: Hijal) angewandt, was die Übersetzung der Rechtstheorie in die Rechtspraxis im religiösen Recht massiv einschränkte.

III. Rechtsordnung in der vorkolonialen segmentären Differenzierung Die Sozialorganisation der hierarchisierten Stämme lässt sich über eine gemeinsame Genealogie als ein System der Verwandtschaft beschreiben. Sie bestanden aus 2

Andere Wissenschaften wie etwa die Philosophie nahmen eine untergeordnete Stellung ein (Al Jabiri 1988, 19).

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vielen strukturell einander ähnlichen Segmenten (siehe hierzu El Guennouni 2010). Jeder Stamm verfügte über ein bestimmtes Territorium als Basis seiner politischen und ökonomischen Macht und Ausdruck seiner sozialen Einheit. Zudem waren sie durch eine geringe Arbeitsteilung unter dem Primat lokaler Wirtschaft, Alter und Geschlecht differenziert. Es herrschte eine »mechanische Solidarität« (Durkheim) vor, in der eine Spezialisierung ökonomischer oder politischer Art erst mit einem Wandel in der postkolonialen Phase zu beobachten war. Die soziale Macht war, so Gellner (1992, 91–97), sowohl ziemlich gleichmäßig verteilt als auch vertikal strukturiert. Die hierarchische segmentäre Differenzierung bestimmte auch das Familienrecht. Die Eheschließung und Familienbildung war »Privatsache« eines jeden Stammes. Das Familienstammesrecht bestand aus regionalen Bräuchen und habituellen Gewohnheiten und war neben der Scharia ein wichtiger Teil der geltenden Rechtsordnung. Das Familienrecht wurde durch den Stammesrat »Gmaa« zur Geltung gebracht. Er konnte alle ihm vorgelegten rechtsrelevanten Fälle autonom entscheiden. Dabei besaß das männliche hegemoniale Geschlecht (auch in dieser Sozialstruktur) eine uneingeschränkte Autorität. Beispielsweise waren Frauen vom Stammesrat ausgeschlossen und durften ihr Erbe nicht selbst verwalten. In den Atlasgebieten durften die Frauen nach dem Tod des Ehemannes sogar nicht einmal erben (ebd. 94). Derlei Praktiken haben eine vorislamische Tradition und konnten in manchen Fällen ohne Rücksicht auf das islamische Recht durchgesetzt werden (Al Khamlichi 1988, 265). Denn ökonomisch wie auch politisch waren die Stämme autonom und entzogen sich der Herrschaft der islamischen zentralen Regierungsgewalt. Erst im Laufe der Kolonialzeit dehnte sich die Zentralgewalt allmählich auf sämtliche Regionen Marokkos aus. Im Jahre 1934 gelang es der Kolonialmacht, unter Einsatz militärischer Mittel die Stammesstrukturen weitgehend zu zerstören und die Stämme unter staatliche Herrschaft zu bringen. Alle Stämme verloren ihre strukturelle Autonomie, und Marokko wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte zentralisiert. Auch die koloniale Gesetzgebung trug – wie wir sehen werden  nicht zur Veränderung des patriarchalischen Familienrechts bei. Diese koloniale Epoche dehnte sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aus. Dabei blieb das habituelle Gewohnheitsrecht unkodifiziert und wurde sukzessiv in einem ausbildenden Territorialstaat integriert. Zudem ist diese Zeitphase durch die Emergenz einer dritten positiven Rechtsordnung gekennzeichnet.

IV. Das Familienrecht in der Kolonialzeit (1912–1956) Eine Strukturveränderung der marokkanischen Sozialordnung und eine multiple Ausdifferenzierung des marokkanischen Rechts kann man während der Kolonialzeit beobachten. Es bildeten sich drei unterschiedliche Rechtsordnungen heraus: eine säkular- westliche, eine islamische und eine habituelle, deren Wirkungsmacht

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sich allerdings nur noch auf das Familien- und Erbrecht beschränkte3 . Laut Artikel 1 des Kolonialvertrags stand die Etablierung einer säkularen Rechtsordnung durch die französische Kolonialverwaltung im Vordergrund (Plantey 1951, 22). Georges Surdon fasst zusammen: »La mission de la France y est défini d’un mot: organiser tout le Maroc en Etat de forme occidentale tout en sauvegardant le prestige traditionnel du Sultan et en assurant le respect de la religion et des institutions musulmanes.« (1936, 352). Genau in dieser historischen Zeitphase konnte das positive koloniale Recht beide gesellschaftliche Rechtsordnungen bis zu einem bestimmten strukturellen Grad umwandeln. In der postkolonialen Phase konnte das koloniale Recht diesen Prozess fortsetzten. Somit ist in den Städten eine duale Rechtordnung und eine Zweiteilung des Rechts in »justice séculière« und »justice religieuse« entstanden (Elger 1993, 186). Neue und auf bestimmte Rechtsbereiche spezialisierte Gerichte wurden errichtet und durch die französische Gerichtsverfassung geregelt. Das religiöse Recht beschränkte sich vor allem auf das Familienrecht, und die islamischen Gerichte konnten nur noch Rechtsfragen über Heirat, Scheidung und Erbschaften behandeln (Lapanne-Joinville 1964, 426; Messaoudi 1995). Man kann diesen Prozess in zwei Phasen unterteilen. Die erste Phase fand unmittelbar nach der Kolonialisierung des Landes statt. Sie zielte darauf ab, das islamische Recht strukturell von außen zu säkularisieren, ohne jedoch die immanenten Rechtsstrukturen zu berühren, wie zum Beispiel die Einführung des westlichen Rechtsinstruments der Berufung in den islamischen Gerichten. Aus diesem Anlass wurden Berufungsgerichte wie »Le HautTribunal Chérifien« errichtet. Mit Ende des zweiten Weltkriegs begann die koloniale Verwaltung, das islamische Rechtssystem von innen heraus zu säkularisieren, wie die Einführung eines positiven Rechts auf der Grundlage der französischen Rechtsauffassung und die fachliche Spezialisierung der Richter sowie die Einführung der Gewaltenteilung (Plantey 1951, 25ff.). Weitere Maßnahmen folgten, wie die Bindung der islamischen Rechtsgelehrten an den Zentralstaat – was in der vorkolonialen Epoche nicht der Fall gewesen war – und die Gründung der »Ecole Marocaine d’Administration« (analog zur französischen Eliteschmiede ENA) für die Rekrutierung von juristischen Verwaltungsbeamten (ebd. 31). Zudem wurde der Richterberuf durch neue staatliche Vorschriften geregelt und die Notare (arabisch: udul) wurden vom Justizministerium einberufen anstatt wie zuvor von den islamischen Richtern (Lapanne-Joinville 1964, 433). Außerdem entstanden neue Rechtsberufe und Institutionen. Seit dem Jahr 1924 ist die Verteidigung eine Aufgabe der Anwählte und die Ausbildung der Richter findet nicht mehr in den 3

Diese gesellschaftliche Entwicklung trat übrigens nicht nur in Marokko auf, sondern ist auch in anderen arabisch-islamischen Gesellschaften zu beobachten, in denen die Modernisierung von außen oktroyiert und herangetragen wurde (El Guennouni 2017; Robinson 1987).

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Theologieschulen, sondern in säkularen Universitäten statt (Plantey 1951, 76). Auch im Bereich der Rechtsfindungsmethoden wurde das Monopol des islamischen Rechts außer Kraft gesetzt. Der Analogieschluss war nicht mehr erlaubt (Elger 1993, 191) und die Geltung des Rechts blieb nicht mehr an den Konsens der männlichen, islamischen Rechtsgelehrten gebunden. Denn die Gesetze wurden nun kodifiziert und nach speziellen Rechtsbereichen systematisiert. Es wurden neue Gesetze erlassen, die bis heute Anwendung finden, wie etwa das Vertrags- und Beurkundungsgesetz (Jalal 1988). Im habituellen Gewohnheitsrecht verlief der Prozess ähnlich, denn auch die Stämme verfügten über eigenständige Rechtsinstitutionen und Gesetze. Dabei stützte sich die koloniale Verwaltung auf zwei Instrumente: Die Bildung moderner Strukturen sowie die Ersetzung des Stammesrates (arabisch: Gmaa) durch französische Gerichtshöfe und die Beibehaltung des habituellen Familienrechts, da dieses ihre pragmaische Weltsicht kaum unmittelbar berührte. Die Gmaa spielte das hegemoniale Machtspiel auf der Übersetzung zweiter Ordnung mit. Sie taucht nun als »Zeugin« in den Gerichtsverhandlungen auf, und durch die Anwendung von Rechtskniffen umgeht sie eine asymmetrische Konfrontation der Differenzierungsgrade mit dem positiven Recht (mehr hierzu im empirischen Teil). Dieser Dualismus lässt sich auch im Bereich der Bildung beobachten. Die koloniale Verwaltung modernisierte zwar die islamische Universität Al-Qarawiyyin, veränderte sie jedoch strukturell nicht: Noch immer bildeten dieselben Lehr- und Forschungsmethoden und dieselben Curricula die Grundlagen der Universität wie bereits Jahrhunderte zuvor. Parallel dazu wurden neue, moderne Bildungseinrichtungen gegründet, die sich nach der Unabhängigkeit Marokkos rasch im ganzen Land verbreiteten und nach europäisch- säkularem Vorbild organisiert waren. Beispielsweise gab es bis zum Jahre 1936 nur einen marokkanischen Absolventen der Rechtswissenschaften im ganzen Land. Im Gegensatz dazu waren im Jahre 1959 insgesamt 1725 Studierende an der Juristischen Fakultät in Rabat eingeschrieben (Al Jabiri 1973, 38). Der Zugang zu den von der kolonialen Verwaltung etablierten modernen Strukturen stand ausschließlich Mitgliedern der Oberschicht in den Städten offen. So dienten diese modernen Einrichtungen in erster Linie zur Rekrutierung autochthoner Eliten. Diese Entwicklungen im Rechts- und Bildungsbereich sind prägnante Beispiele dafür, wie in Marokko die Grundlagen für die Entwicklung und Ausgestaltung von modernen Funktionsbereichen wie Wissenschaften, positives Recht oder Bildung geschaffen wurden. Die Sozialordnung, die sich aufgrund dieser Veränderungen herauskristallisierte, hat zu einer Neuorganisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung geführt. Dementsprechend spezialisierte sich das Familienleben, während das Eheund Familienrecht im Zuständigkeitsbereich der Religion und des habituellen Gewohnheitsrechts blieb. Dadurch entstand ein Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Modernität und der Schwierigkeit, diesen Anspruch ohne islamischen

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und habituellen Identitätsverlust zu verwirklichen. Beispielsweise sah das islamische Familienrecht eine klare geschlechtliche Arbeitsteilung nach klassisch-islamischem Ideal vor, in dem der Ehemann für den öffentlichen und die Ehefrau für den häuslichen, privaten Bereich zuständig waren. Aber durch die zunehmende Beteiligung der Frau am Arbeitsmarkt nahm ihre soziale Rolle im öffentlichen Raum zu, während ihre rechtliche Stellung unverändert blieb. Die postkoloniale Geschichte ist von diesem Dualismus und der Suche nach einem Ausweg daraus geprägt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den zahlreichen Initiativen des marokkanischen Staates wider, das positive Familienrecht zeitgemäß zu gestalten. Insgesamt lassen sich seit der kolonialen Epoche ein Zusammenbruch der Unterordnung des Rechts unter der islamischen Religion und die Errichtung einer säkularen Rechtordnung feststellen. Nur im Frauen- und Familienrecht lebte das islamische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht mit den entsprechenden Rechtsquellen und -institutionen sowie Rechtsberufen fort. Insofern trug das Kolonialrecht nicht zur Entstehung einer Gesetzgebung bei, die die Stellung der marokkanischen Frau verbesserte. Die Beibehaltung des Familienrechts in der kolonialen Phase hängt damit zusammen, dass sich das islamische Familienrecht nicht wesentlich vom französischen und europäischen Recht jener Zeit unterschied (Holtzleithner 2008, 5). Ein weiterer Grund für diesen Differenzierungsverlauf kann damit zusammenhängen, dass die Kolonialverwaltung danach trachtete, die Struktur der Familie nicht zu ändern, um ein Hauptfeld der symbolischen und kulturellen Ordnung nicht ins Wanken zu bringen.

V. Das multipel differenzierte Familienrecht nach der Kolonialzeit In der Sozialstruktur sind in der postkolonialen Phase mindestens drei Teilrechtsordnungen im Bereich des Familienrechts zu beobachten. Betrachtet man die Differenzierungsprozesse des multiplen Familienrechts seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956, so drängt sich der Eindruck auf, dass die Mechanismen und Einflussfaktoren dieses Prozesses systemimmanent und vom europäisch-französischen und weltgesellschaftlichen Recht induziert waren. Sie lassen sich weder nur auf äußere noch innere Einflussfaktoren zurückführen. Im Bereich des positiven Familienrechts erfolgten gesellschaftliche Differenzierungsvorgänge auch in der postkolonialen Phase nach demselben Schema: induziert von außen durch das ausdifferenzierte politische System und seine Inklusion in weltgesellschaftliche Strukturen und Modelle4 . So war unmittelbar nach der Un-

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Der multiple Differenzierungsverlauf lässt keineswegs den Schluss zu, dass die Trennung von Religion und Politik bereits in der Epoche der Umayyaden-Dynastie stattgefunden hat (Al Jabiri 1990; 1996) oder dass das islamische Recht ein positives Recht ist – wie z.B. Hanafi (1990) postuliert.

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abhängigkeit ein königliches Dekret erlassen worden, um das Familienrecht in Gesetzesform zu kodifizieren, woraufhin zum ersten Mal in der Geschichte sechs Gesetzbücher entstanden, die das Familienrecht im gesamten Land vereinheitlichten. Sie beschränkten sich jedoch auf die Änderung der Form des Rechtstextes, ohne die Rechtsquellen und Institutionen sowie die Rechtsberufe in der religiösen Rechtsordnung zu verändern. Diese übertrugen Männern und Frauen unterschiedliche Rechte und Pflichten. Sie waren nicht gleichberechtigt. So durfte der Ehemann beispielsweise ohne jegliche Angabe von Gründen und ohne ein gerichtliches Verfahren seine Frau verstoßen, während die Ehefrau die Scheidung nur aus geregelten Gründen beantragen durfte. Im Laufe der postkolonialen Epoche kam es zu erheblichen Bedenken gegen eine solch patriarchalische Auslegung der Scharia. Viele Diskurse beschreiben das kodifizierte Familienrecht daher als eine unveränderte Wiederholung in einer sich wandelnden Gesellschaft (Khatibi 2001). Tatsächlich läuft die Sozialstruktur seit der Kolonialzeit auf immer umfassendere multiple Differenzierungsvorgänge zu, die u.a. zu einer zunehmenden Spezialisierung im Arbeitsmarkt und zur Inklusion der Frauen im Bildungssystem führten (siehe auch El Guennouni 2010). Im Ergebnis wurde ein erheblicher Teil der Frauen aus ihren traditionellen Geschlechterrollen herausgelöst. Dieser Prozess beschleunigte sich mit der Integration des Landes in weltgesellschaftliche Strukturmuster. Die globalen Einflüsse berührten nicht nur den öffentlichen Bereich, sie durchdrangen auch die Privatsphäre und das Familienleben. Seit der Mitgliedschaft Marokkos in den Vereinten Nationen im November 1956 ist eine wachsende Einbindung des Landes in das internationale Rechtssystem zu beobachten. Dieses internationale, säkularisierte Rechtssystem bietet einen Referenzrahmen, auf den sich Menschenrechts- und Frauenorganisationen in Marokko berufen können. Vor diesem Hintergrund hatten sie im Frühjahr 1992 eine Aktion gestartet mit dem Ziel, eine Million Unterschriften für die Gleichberechtigung zu sammeln (Tellenbach 1994, 843). Ein Jahr später wurde im Auftrag von König Hassan II., der von 1961 bis 1999 regierte, das Familienrecht reformiert, was jedoch zu keiner nennenswerten rechtlichen Neuerung führte. Denn für das Treffen rechtsverbindlicher Entscheidungen im privaten Bereich waren weiterhin die Regelungen der Scharia und des habituellen Gewohnheitsrechts maßgeblich. Erst mit der Liberalisierungswelle und der neuen Geschlechterpolitik König Mohammeds VI., der seit 1999 das Land regiert, wurden die Forderungen der marokkanischen Frauenbewegung aufgenommen. Im Jahre 2001 setzte er eine Beratungskommission aus Rechts- und Sozialwissenschaftlern sowie religiösen Rechtgelehrten ein, welche ihm einen ersten Reformvorschlag vorlegte. Die Änderungen zielten darauf, die säkularen universellen Normen unter Achtung der religiösen Besonderheiten des Landes in das nationale Familienrecht zu integrieren. Am 10. Oktober 2003 gab der König das neue Familienrecht schließlich bekannt.

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Vor allem die Frau verbesserte ihren formalen Rechtsstatus und findet mehr Anerkennung, wie die folgenden Sachverhalte aus der neuen Familiengesetzgebung zeigen. Denn anders als im klassisch-islamischen Familienrecht wurde die gängige Praxis der Verstoßung abgeschafft. Das Scheidungsrecht gewinnt nun säkulare, zivilrechtliche Konturen, da die Scheidung in staatlichen Familiengerichten geregelt wird (Art. 78). Zudem wurde die hierarchische Familienstruktur durch eine gleichberechtigte Verantwortung der Ehepartner im Haushalt und in der Familie ersetzt (Art. 51), und die Frau braucht bei der Eheschließung keinen Vormund mehr (Art. 25). Das Mindestheiratsalter für die Frau ist wie beim Mann auf 18 Jahre heraufgesetzt; Ausnahmen sind nur mit richterlicher Genehmigung möglich (Art. 20). Außerdem ist die Polygamie sehr stark eingeschränkt und nur in äußersten Ausnahmefällen möglich (Art. 40). Unmittelbar nach der Bekanntmachung des neuen Familienrechts wurden im positiven Rechtssystem säkulare Familiengerichte eingerichtet. Um eine entsprechende Rechtspraxis der neuen Familiengesetzgebung zu gewährleisten, erhalten die Richter zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen. Überdies wird der Versuch unternommen, den Zugang zur Justiz zu stärken. Dadurch konnte der strukturelle Dualismus im positiven Rechtssystem, der das Land seit der Kolonialzeit prägte, formal überwunden werden. Parallel dazu haben sich strukturell sowohl das islamisch-malikitische Familienrecht als auch das habituelle Gewohnheitsrecht in der postkolonialen Phase weiterentwickelt. Denn nach der Verabschiedung des positiven Familienrechts haben sich beide Rechtordnungen zu einer kulturell-praktischen und performativen Integrationseinheit umgeformt, in denen die Übersetzung mit dem positiven Recht neu figuriert wurde. Die Anwendung des malikitischen Rechts wurde zum ersten Mal in der islamischen Geschichte nicht von »hegemonialen Männlichkeiten« (Connell 1999) dominiert, sondern auch das weibliche Geschlecht wurde in die Interpretation religiöser Texte integriert. Überdies wurde unter der Leitung vom Amir Al Muminin, im Jahr 2004 der religiöse »Oberste Wissenschaftliche Rat« modernisiert. Dazu gehörten der Umbau der religiösen Institutionen und die strukturelle Einbindung des weiblichen Geschlechts als Notare (arabisch: Udul), die am »Institut Supérieur de la Magistrature« in der Hauptstadt Rabat ausgebildet werden. Außerdem leiten Frauen, die seit 2005 in einem staatlichen Programm als Imaminnen qualifiziert werden (arabisch: Murschidat), das Gebet in einer Frauenabteilung an einer öffentlichen Moschee5 . Auch das habituelle Gewohnheitsrecht hat in der postkolonialen Phase durch die strukturelle Integration im spätmodernen Nationalstaat und in der Weltgesellschaft sozialstrukturelle Transformationen erfahren. In dieser Zeitphase interagiert auf der Übersetzung zweiter Ordnung zum

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Der Oberste Wissenschaftliche Rat hat Zweige in den verschiedenen marokkanischen Städten u.a. in der kulturellen Hauptstadt Fes. Im Sommer 2013 und im Herbst 2015 besuchte der Verfasser das Zentrum in Fes, um im Kontext der Dissertation Interviews durchzuführen, aber weder Rechtsgelehrte noch auszubildende Imaminnen stimmten der Anfrage zu.

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einen das positive Familienrecht mit dem habituellen Gewohnheitsrecht und dem islamischen Recht, zum anderen wird diese Übersetzung durch die Weltmigration der Individuen außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen fortgesetzt. Im folgenden Kapitel wird in der postkolonialen Phase die Übersetzung multipler Ordnung analysiert.

9.1 Rechtspluralismus und Familienrecht – Übersetzung multipler Ordnung Im Folgenden werden die multipel differenzierten Rechtskontexte als Makrointegrationseinheiten differenzierungs- und handlungstheoretisch in der postkolonialen Phase erschlossen. Es handelt sich, wie schon erwähnt, nicht allein um die primäre funktionale Differenzierung der marokkanischen Gesellschaftsstruktur, sondern immer um multiple Differenzierung in den verschiedenen Sinnhorizonten und Rechtsschichten, die sowohl die makrosoziologische Theoriebildung anreichern als auch die Rechtssoziologie in islamischen Regionen der Weltgesellschaft pragmatisch ausbauen. Dabei wird der spätmoderne Rechtspluralismus weder in der Rekonstruktion des Zusammenhangs von Recht, Moral und Demokratie gedeutet, die nur das moderne positive Recht impliziert (Habermas 1992), noch als autopoietisches selbstreferentielles Funktionssystem behauptet, das im radikalen Sinne operativ geschlossen ist, wie die Systemtheorie postuliert (Luhmann 1999, 1992). Denn laut der Systemtheorie erfüllt das positive Recht als abstrakte Integrationseinheit die symbolisch-semantische Zuständigkeit für jeweils eine gesellschaftliche Funktion. Es integriert Handlungen und Kommunikationen mittels Abstraktion und Generalisierung und stabilisiert sie mit der Codedifferenz und Programmen. Das Erkenntnisproblem der Systemtheorie, das sich hieraus ergibt, liegt u.a. in der Ausblendung der Integration kultureller und funktionaler Differenzierung sowie der theoretischen Abkopplung abstrakter Integration (Rechtssystem, Rechtsorganisationen) von konkreteren integrierten Handlungszusammenhängen (Milieus, Netzwerke und Individuen), die laut Luhmann nicht selbst eine Form der systeminternen Rechtskommunikation sind. Diese systemtheoretische Sichtweise führt zu einer grundbegrifflichen Verschließung grenzüberschreitender Übersetzungen zwischen den abstrakten und konkreteren Integrationseinheiten (Renn 2006, 404ff.). Denn das Primat funktionaler Differenzierung reduziert die Rechtskommunikation und die normativen Handlungen auf das positive Funktionssystem, als wäre in der Umsetzung und Fortbildung des Rechtssystems lediglich eine ausdifferenzierte Selektionsordnung am Werk, die alle anderen Integrationseinheiten negiert (ebd.: 2014, 317). Dabei liegt die Differenz zwischen den Integrationseinheiten bzw. den normativen Rechtsordnungen auf einer ausgedehnten Beobachtungsebene, nicht nur auf speziellen System-Umwelt-Beziehungen. Sie verändert die Geltungsgrund-

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lagen des Rechts sowie die Strukturmuster zwischen habituellem Rechtshandeln und positiver Normorientierung, sodass sie eine Übersetzung in beiden Richtungen darstellt. Insofern verweist diese Differenz auf das Recht auf strukturelle Verstrickungen in Organisationsformen funktionaler, kultureller und lokaler Differenzierung. Daher wird das Recht zunächst allgemein als »ambivalente abstrakte Integration« (Renn 2006, 86–93) in der funktionalen und kulturellen Differenzierung definiert, in der die Übersetzungsformen zwischen differenzierenden Rechtsgrenzen mittels Bedeutungsbrüchen und Rechtskniffen fungieren. Bei diesen vertikalen und horizontalen Übersetzungstypen werden Normen, Gesetze etc. latent von einer Rechtssprache in eine andere transportiert, umgebildet und transformiert. In diesem interaktiven Prozess findet eine Sinnveränderung und Bedeutungstransformation statt, ohne jedoch die Differenz zwischen den Sinneinheiten aufzuheben. Denn die Rechtssprachen bzw. die normativen Rechtsordnungen eröffnen verschiedene Weltzugänge und verfügen nicht über die gleiche Referenz, da sie von einer spezifischen, gemeinsamen habituellen Praxis und implizitem Sinn abhängig sind. In diesem ausdifferenzierten Kontext wird das Recht interaktiv überlappt und zu einer Integrationsleistung zweiter Ordnung formiert. Das plurale Recht ist somit ein unverzichtbarer Teil der Gesamtkonstellation von multiplen Ordnungsund Integrationseinheiten, das über soziale und symbolische Grenzen hinweg performativ übersetzt und rückübersetzt wird (wie beispielsweise kulturelle Lebensformen im Modus der Interkulturalität). Diese Übersetzung der normativen Ordnungen unterscheidet sich zudem systematisch von der Hybriditätsforschung (u.a. Said 1978; Bhabha 1990; Bahadir 1998, 2004)6 oder dem »interkulturellen Kollisionsrecht« (Teubner 2012, 242ff.; 1987). Denn laut Teubner (u.a. 1989, 1987) ist das Rechtssystem ein autopoietisches selbstreferenzielles Funktionssystem, wie oben im Kapitel Soziologische Rechtsbegriffe im Sinne Luhmann ausführlich analysiert und kritisiert wurde. Das moderne Recht (und andere Funktionssysteme) werden allerdings von Teubner weitergeführt und durch drei Komponenten bestimmt: Erstens durch die Selbstproduktion sämtlicher Systemcharakteristika, zweitens durch die Selbstbeobachtung als Steuerung und Regelung der Selbstproduktion- und Reproduktion, und drittens durch die Selbsterhaltung über »hyperzyklische Verkettung zyklisch konstituierter Systemkomponenten« (1987, 430). Für den Hyperzyklus des modernen Rechts ist laut Teubner (ebd.: 434f.) die »Episodenverknüpfung« wesentlich, d e n n ihre Konstruktion erlaubt u.a. eine Autonomisierungssteigerung von Rechtsbildungsprozessen, im Sinne Luhmann eine Steigerung von Selbstreferenz des evolutionären positiven Rechtssystems.

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Mehr hierzu in diesem Kapitel im dritten vertikalen Übersetzungsverhältnis.

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Sofern das moderne, staatliche Recht und indigene Rechte in interkulturellen Kontakt treten, entstehen laut Teubner auf globaler und nationaler Strukturebene Normkollisionen zwischen den Teilrationalitäten der funktional differenzierten Systeme und indigenen segmentären oder stratifizierten Regionalkulturen (2012, 245 ff; Teubner & Fischer-Lescano 2006, 35). In diesem Prozess können die funktional differenzierten Teilsysteme die lokalen Gewohnheitsrechte aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld herausreißen und sich transformieren. Anders als die soziologische Rechtstheorie Teubners und die Systemtheorie Luhmanns findet in Regionen der Weltgesellschaft, wie im arabisch-islamischen Raum im Allgemeinen und in Marokko im Besonderen, keine Kollision der Rechtsordnungen statt. Stattdessen sind horizontale und vertikale Übersetzungen zu beobachten, die durch drei symbolische »Kaskaden« (Renn 2006) ablaufen und ihrerseits der multiplen Differenzierung unterliegen. Die rechtssoziologische Kollisionsforschung (u.a.) systemtheoretischer Prägung deutet das positive Recht in der Weltgesellschaft als Folge der globalen Ausdehnung von primär funktionaler Differenzierung und Strukturmustern westlichen Ursprungs (Teubner 2012)7 . Derlei symbolische Makrodetermination impliziert, dass das Interagieren und die Verwobenheit der pluralen Rechtsordnungen keine Übersetzung darstellt, sondern lediglich die weltgesellschaftliche Durchsetzung eines staatlichen Rechts entweder durch eine Kollision mit den gesellschaftlichen Rechten oder durch die Absorption (Neves 2003 siehe auch Kapitel 3.1) des religiösen Rechts und des habituellen Gewohnheitsrechts in das staatliche Recht. Die interaktiven Übersetzungen und Umdeutungen der pluralen Rechtsprozesse, die weder nur durch die primäre funktionale Differenzierung geschehen noch lediglich in islamischen Regionen der Weltgesellschaft staatfinden, werden weder von Luhmann noch von Teubner oder Neves untersucht. Um eine abstrakt vertiefte Untersuchung des marokkanischen Familienrechts zu erreichen, muss das einseitige Erklärungsmodell einer weltgesellschaftlichen determinierenden Makrostruktur überwunden und dauerhaft mit multipler Differenzierung verdichtet werden. Diese multiple Differenzierung wird im Folgenden als Ausdruck tiefgreifender struktureller Wiedersprüche sowie Machtkonstellationen einer komplexen Gesellschaftsstruktur begriffen, die in der kolonialen und postkolonialen Phase immanent sind, und führt zu einer immanenten Steigerung der Komplexität der gesellschaftlichen Rechte und des positiven Rechtssystems (z.B. die Modernisierung des marokkanischen Familienrechts im Jahr 2004). Dementsprechend wird für die postkoloniale Phase, anstatt eine weltgesellschaftliche Makrodetermination vorauszusetzen, von drei nichtlinearen, horizontalen und vertikalen Über7

Auch der Neoinstitutionalismus weist eine weltgesellschaftliche »Makrodetermination« (Kastner 2015, 77) auf, die u.a. im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit »Das Recht in der regional differenzierten Weltgesellschaft?« analysiert wird.

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setzungsverhältnissen ausgegangen, in denen kreative Uminterpretationen und interaktive Überlappungen des Familienrechts zum Vorschein treten. Bei diesen interaktiven Überlappungen handelt es sich um eine Ausdifferenzierung der Explikationsgrade, die weder bedeutungsäquivalent sind noch die gleiche Rechtssprache akkumulieren, da sie primär mit einer spezifischen Lebenswelt verbunden sind. Bei den drei Übersetzungen wird überdies der Interpretationsraum erweitert, der Sinn transportiert und anschließend verändert. Diese strukturellen Transformationen erlauben es dann, die multipel differenzierten Rechtskontexte differenzierungsund handlungstheoretisch (auch) in dieser Zeitphase zu erschließen.

I. Das horizontale Übersetzungsverhältnis erster Ordnung Das erste Übersetzungsverhältnis findet zwischen den gesellschaftlichen Rechtsordnungen statt, die aus der historischen Faktizität seit der vorkolonialen Epoche existieren, während das positive Recht erst in der kolonialen und postkolonialen Phase entstanden ist (mehr hierzu im Kapitel: Die Evolution des multipel differenzierten Familienrechts: Erster Teil): entweder in Face-to-Face-Interaktionen oder in globalen Interaktionsmilieus statt8 , die räumlich getrennt und durch moderne Verbreitungsmedien erschlossen sind. Es handelt sich um eine interaktive Verschränkung, die verschiedene »Habitusformen« (Bourdieu) und ein »implizites Wissen« (Renn) der Akteure einer oder mehrerer »kultureller Lebensformen« (Wittgenstein) einschließt. Denn die Angehörigen der nichtidentischen Lebensformen begegnen sich in der sozialen Welt materiell bzw. leiblich oder medial und weisen eine semantische und intentionale Interferenz auf. In diesem Übersetzungshorizont existiert ein kollektives »Sprachspiel« (Wittgenstein 2013) mit pragmatischen Schattierungen und horizontalen sowie vertikalen nichtlinearen Übergängen. Das bedeutet, es handelt sich keineswegs um eine kulturell neutrale und lineare Übersetzung zwischen sozialen Milieus oder Rechtssprachen. Diese nichtlinearen Übersetzungen der Rechtstypen werden in einschlägigen soziologischen Studien über den Maghreb nicht thematisiert, sondern beharrlich durch die unterstellte Konstruktion eines strukturellen Dualismus, wie Araber – Berber, Stamm – Stadt und Makhzan – Siba, übergangen (etwa Gellner 1969). Auch Bourdieu schlägt in »Soziologie de L’algérie« (1958) im Kapitel »Les Arabophones« unkritisch vor, die Unterscheidung Araber – Berber als Idealtypen im Sinne Max Webers zu verwenden, während Marcel Mauss aus einer einseitigen Perspektive heraus diese analytische Unterscheidung kritisiert und unweigerlich feststellt, dass Marokko »kein arabisches Land ist und dies auch niemals gewesen«, sondern im Grunde »berberisch« sei (1980, 8; auch El Qadéry 2007, 20).

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Der pragmatistische Milieubegriff soll hier den Stammesbegriff theoretisch ersetzen und wurde im Kapitel »Vom Segmentierungsbegriff zur Milieutheorie« eingeführt.

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In diesem diametralen Denkansatz sind nicht nur die gegenübergestellten Gesellschaftsstrukturen zu beobachten, sondern auch eine statische Konstellation, die die Sozialorganisation mit der primären Strukturform autochthoner segmentärer und stratifikatorischer Differenzierung einschließt, sowie das Fehlen einer soziologischen Theorie des sozialstrukturellen Rechtswandels zu bemängeln. Anders als die ethnologischen, soziologischen und sozialanthropologischen Studien über den Maghreb, kann man auf der Ebene der kulturellen Differenzierung (mindestens) von zwei normativen Rechtordnungen – islamisches Recht und habituelles Gewohnheitsrecht der Berber – im marokkanischen Kontext ausgehen, die implizit im Habitus der Akteure inkorporiert sind, wie bereits eingeführt wurde. Beide normativen Rechtsordnungen verfügen bis heute über keine gemeinsame Sprache oder semantische Metapher. Sie sind durch ungleiche religiöse und habituelle Rationalitätskriterien sowie Asymmetrien der Differenzierungsgrade gekennzeichnet. Der theoretische Ertrag dieser asymmetrischen und strukturellen Verflochtenheit beider (gesellschaftlicher) normativer Ordnungen manifestiert sich auf der empirischen Ebene in den dichten Rechtshandlungen und ihrer selektiven Wahrnehmung bzw. Übersetzung in funktionaler und systemischer Differenzierung. Somit sind die gesellschaftlichen Rechte aus dem Prinzip der Übersetzungstheorie nicht auf mögliche kulturelle Interaktionen pragmatisch beschränkt, sondern können in Organisationen und funktionale Systeme übergehen, ohne jedoch diese ausdifferenzierten Welthorizonte zu assimilieren. Denn sie projizieren eigene Rechtskategorien, die nicht nur miteinander interagieren, wie Jaques Berque (2001, 494ff.) postuliert, sondern interaktiv dicht miteinander überlappt und verwoben sind9 . Laut Berque, der u.a. von Nicolas als »le sociologue décolonisateur« (1961, S. 539) beschrieben wird, ist das Familienrecht der Berber zum einen durch das islamische Recht bestimmt, z.B. in der Verheiratung, der Verstoßung und der Bevormundung. Zum anderen ist das Familienrecht durch das Gewohnheitsrecht geregelt, wie die Substituierung, die Adoption oder der Zugewinn (mehr hierzu siehe der Forschungsstand). Stattdessen sind beide Rechtsordnungen kohärent verschränkt, wie die Verheiratung im Familienrecht belegt, ohne jedoch zu einer einheitlichen Einheit zu verschmelzen. Insbesondere hier zeichnet sich die Originalität des islamischen Rechts und des habituellen Gewohnheitsrechts ab, die eine Balance zwischen einem vertragsrechtlichen malikitischen Recht (Fikh) und einem unkodifizierten milieuspezifischen Familienrecht bilden sowie für alle Familien statutarisch und bindend sind. In diesem Sinne bilden d i e gesellschaftlichen Rechtsordnungen eine erste Alternative, um die Familie zu organisieren bzw. durch eine selektive Wahrnehmung und

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Wie die Verwobenheit der normativen Ordnungen auf der empirischen Ebene abläuft, wird im methodisch- konzeptionellen Teil ausführlich dargestellt.

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Bezugnahme auf die staatliche Ordnung zu übersetzen. Das erste Übersetzungsverhältnis steht auch für eine Ordnung, die den Anspruch erhebt, die Lebensverhältnisse in Rechtsverhältnisse umzuwandeln. Damit wird ein Anspruch des Rechts an die weltgesellschaftliche Lebensgemeinschaft ausgeführt. Dabei werden die intersubjektiven Erfahrungen zwischen differenten »Sprachspielen« und »kulturellen Lebensformen« (Wittgenstein 2013) geteilt und permanent übersetzt, bis die handelnden Akteure an die symbolischen Grenzen der gesellschaftlichen Rechtsordnungen stoßen. Hier werden die Rechtshandlungen über normative Grenzen hinweg transzendiert und in funktionale Differenzierung übersetzt.

II. Das vertikale Übersetzungsverhältnis zweiter Ordnung Im zweiten Übersetzungsverhältnis, in dem Handlungen und systemische Kommunikationen (beispielweise) im Gericht unmittelbar überlappen und eine pragmatische Bindung eingehen, handelt es sich um mehrere Stufen des Aufbaus von Komplexität, die auf eine Umwandlung der normativen Ordnungen hindeuten. Hierbei werden die Rechtssprachen, islamisches Recht und habituelles Gewohnheitsrecht, epistemologisch transformiert. Bei diesem Umstrukturierungsprozess ist das positive Recht kaum in der Lage, die vertikalen und horizontalen Bewegungen der gesellschaftlichen Rechte zu kanalisieren. Denn es handelt sich nicht um eine lineare Bedeutungsübertragung der gesellschaftlichen Rechtsordnungen, sondern um deren Übersetzungen mit dem Ziel, die äußere Komplexität zu reduzieren (reziprokes Übersetzen), da die normativen Ordnungen nicht die gleiche Rechtssprache anwenden. Dabei werden die milieuübergreifenden weltgesellschaftlichen Rechte wirksam und müssen immer das Moment der kategorialen Differenz beibehalten, auch wenn sie Rechtskniffe anwenden, um nicht ein »interkulturelle[s] Kollisionsrecht«10 zu erwirken. Die Rechtskniffe erlauben es, dass die gesellschaftlichen Rechte mittels Grenzüberschreitung über normative Kaskaden hinweg das positive staatliche Recht taktieren und umgehen, wie die Mehrehe oder auch die Verheiratung von Minderjährigen im empirischen Teil belegen. Mit Hilfe der Rechtskniffe (arabisch: Hijal) gelangen dann das Gewohnheitsrecht und das islamische Recht auf Umwegen und latent zu Erfolgen, die von der habituellen mehrdimensionalen Rechtspraxis verlangt werden. Beide Rechtsordnungen begründen, dass sie sich formell oder auch theoretisch dem positiven Recht nicht assimilieren. In diesem Sinne stellen sie sich nicht vor dem hegemonialen staatlichen Recht ab, sondern manövrieren vielmehr die positive Normorientierung mit pragmatischen Nuancen, die hinter dem Rücken der Akteure staatfinden und durch andere Funktionssysteme wie das Gesundheitssystem beziehungsweise die medizinische Praxis begünstigt werden 10

S.o. Teubner 2012, 242ff.; 1987 und Teubner & Fischer-Lescano 2006. Aus einer ebenfalls systemtheoretischen, aber anderen Perspektive siehe u.a. Neves 2003.

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(ausführlich hierzu der konzeptuell-empirische Teil der vorliegenden Arbeit). Insofern können die außerstaatlichen Rechtsordnungen nur vorübergehend absorbiert werden, um im interaktiven Moment das rationale »Verfahren des positiven Rechts« (Luhmann 1993) im Modus der Hierarchie zu durchlaufen und die gesellschaftlichen Normorientierungen in das staatliche Recht zu übersetzen. Dabei wird nicht zwingend die Außerkraftsetzung der scheinbar unterlegenen Rechte der Lebenswelt behauptet, im Gegenteil. Durch die Übersetzung der Rechtsordnungen lösen sich die Grenzen zwischen dem positiven Rechtssystem und den gesellschaftlichen Rechten keineswegs auf, wie (u.a.) Teubner oder Neves in Anlehnung an Luhmann behaupten, sondern bilden im zweiten Übersetzungsverhältnis neue Rechtsschichten aus, die aus dem Konkurrenzverhältnis eine zweite komplexe Rechtsordnung formen. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sind diese komplexen Rechtsordnungen von Bedeutungsbrüchen sowie ungleichen Rationalitäten durchzogen. Insofern ähnelt das Rechtssystem einem Werk, dessen Bestandteile sich nach der »pragmatischen Übersetzung« (Renn 2006) nicht mehr in ihrem ersten, ursprünglichen Zusammenhang befinden. Diese vertikalen und horizontalen Prozesse implizieren immer eine Zeitdimension, die nicht nur relativ ist, wie in der Physik festgestellt wird, sondern auf soziologische multiple Strukturmuster hindeutet11 . Denn auf der Organisationsebene ist das zweite Übersetzungsverhältnis im Gericht ein kontingenter Rechtsprozess mit einer »Vorher/Nachher-Differenz« (Luhmann 1984, 388ff.), in der der Übergang zu einem neuen Rechtselement in der Zeitdimension lokalisiert wird. Das positive Rechtssystem konstituiert Zeit, um sein 11

Seit der Entstehung der Soziologie taucht der Zeitbegriff in der soziologischen Makrotheorie auf, ohne ihn jedoch in einer multiplen differenzierten Rechtstheorie auszuarbeiten. Dabei können in diesem Abschnitt die geisteswissenschaftlichen Untersuchungen zum Zeitbegriff nur skizzenhaft erörtert werden. So betrachtet Durkheim z.B. die Zeit erkenntnistheoretisch als organisierten Rahmen, in dem eine Gesellschaft, segmentär oder funktional differenziert, ihre eigenen Periodizitäten ordnet (Durkheim 1981; Dux 1989, 72). Anders als Durkheim betrachtet Elias (1987) in seinem Figurationskonzept die Zeit entwicklungssoziologisch als gesellschaftlichen Prozess, in dem die kulturellen Lebensformen durch die soziale Differenzierung eine Autonomiesteigerung erreichen. Hingegen stellt Giddens (1992) Zeitlichkeit und Räumlichkeit aller sozialen Phänomene in den Mittelpunkt seiner Theorie der Strukturierung (vgl. hierzu auch Joas 1988, 13). Und Goffman (u.a. 1971) behandelt die Zeit-Raum-Beziehungen als elementare Kategorien für seine Interaktionssoziologie. Zur subjektiven Zeit siehe u.a. Schütz & Luckmann (2003, 81–94). Aus anderen philosophischen Perspektiven, die die Zeit u.a. mit dem Sinn von Sein untersuchen, siehe Heidegger, »Sein und Zeit« (1993; dazu auch Renn 1997), oder auch die Phänomenologie der Wahrnehmung, Merlau-Ponty 1976. Siehe auch Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (2000), der die Zeit auf subjektiver Ebene analysiert und die Interaktion bzw. die Überlappung zwischen der Zeit des Handelns und der systemtheoretischen Zeit nicht erfasst.

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kontingentes Relationierungspotenziel auszuweiten und abstrakter in Zeitdistanzen zu kalkulieren (Luhmann 1993, 240–259). In diesem abstrakten zweiten Rechtsprozess haben die Rechtsstrukturen ihr primäres Verhältnis zum Zeitbegriff, da die Verknüpfung der multiplen Rechtsprogramme lediglich in der Zeitdimension als eine Verkettung der »Gleichzeitigkeit« (Luhmann 1990b, 39) zu leisten ist. Laut Luhmann bezeichnet diese Gleichzeitigkeit der sinnverarbeitenden SystemSystem-Differenz eine strukturelle Kopplung von System- und Umwelt-Beziehungen (Nassehi 2008, 175)12 . Dabei werden die normativen Rechtsordnungen in der Systemtheorie keineswegs als Umordnung und Umverlagerung definiert, die in spezifische Übersetzungsverhältnisse mit unterschiedlicher Zeitigkeit geraten. Denn der Zeitbegriff der Systemtheorie unterliegt nicht der multiplen, sondern der funktionalen Differenzierung und ist ausschließlich auf das positive Recht zugeschnitten. Er lässt weder ein spätmodernes organisiertes religiöses Recht noch ein habituelles Gewohnheitsrecht im normativen Rechtssystem der Weltgesellschaft zu. Daher wird die zeitliche Asymmetrie der normativen Rechtsordnungen – im Sinne einer systemischen Zeit und der Zeit als Handlungsschemata – keineswegs im Anschluss an eine soziologische Theorie autopoetischer Systeme interpretiert, die durch die strukturelle Kopplung sowie die Autopoiesis von Bewusstsein und Kommunikation konstituiert ist. Denn wie bereit eingeführt, sind autopoietische Sozialsysteme in der Systemtheorie operativ geschlossen und keineswegs operativ gekoppelt. Zudem kann sich Zeitigkeit in der soziologischen Systemtheorie keineswegs nur in funktionalen Systemen erschöpfen. Daher gehen wir auf dieser elementaren Ebene ebenso wie Renn (2006 und 2018, 180, Fußnote 16) von einer operativen Kopplung mit sinnverarbeitenden wechselseitigen Übersetzungen aus, die durch die drei normativen Rechtsordnungen konstituiert sind. Hierin liegt der Schlüssel dafür, dass die intersubjektive Zeit, die die phänomenologische Ansicht der Zeitlichkeit des Bewusstseins aufhebt (Renn 1997), mit der systemischen Zeit sowie Rechtskommunikation mit Rechtshandlung wechselseitig operativ verbunden sind und latent ein nichtlineares Aufeinanderfolgen der Elemente implizieren, das heißt zugleich Reduktion sowie Abstraktion von Zeitkomplexität. Überdies ist das zweite Übersetzungsverhältnis kein einfacher Nacheinander von funktionalen Zeitereignissen und schließt den systemtheoretischen »Zeitbegriff mit seinem Selektionszwang« (Luhmann 1984, 70ff.) in diese multiplen Prozesse ein. Denn das staatliche positive Recht kann zwar die Sinndimension des Zeitverlaufs anwenden, um die »Temporalisierung der Komplexität« (ebd. 77 und 1980) zu steigern und sich zu reproduzieren. Hierfür muss das Rechtssystem aber nach innen (systemische 12

Zur paradoxen Zeit in der Systemtheorie, die den Zeitbegriff einerseits in der Autopoiesis inkludiert und als Resultat autopoietischer Ereignisse formiert und andererseits Zeit als Beobachtung von Vergangenheit und Zukunft, siehe Nassehi (ebd. 226).

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Selbstreferenz) und nach außen (kognitive Fremdreferenz) hochabstrakt gefasst werden, um über die sozialen Systemgrenzen hinweg mit der Organisation, dem Milieu und dem Individuum verknüpft zu werden. Diese operative Kopplung der »kommunikativen Zeit« (Luhmann 1984) mit der »Zeitlichkeit des Handelns« (Renn 1997; 2006, 284; 2014, 256) ist auf der Operationsebene in das positive staatliche Rechtssystem integriert und bildet eine systemimmanente Voraussetzung für die Operationen Anschlüsse der Übersetzung zweiter Ordnung. Diese strukturelle Integration ermöglicht es, dass die Zeiten von System und Handlung auf der Übersetzung erster Ordnung in einer geordneten abstrakten Zeitigkeit auf der zweiten kontingenten Ordnungsebene zusammenfallen, um die zuvor angedeutete Vorher-/Nachher-Differenz Luhmanns zu ermöglichen. In diesem abstrakten Sinne ist die Zeit auf dem zweiten Übersetzungsverhältnis eine interaktive komplexe Überlappung der normativen Rechtsordnungen und hängt vor allem von der multiplen Komplexität der Weltgesellschaft ab. Insofern ist die Zeit ein interaktives, operational verdichtetes Verknüpfungselement zwischen Handlung und kommunikativ geordneter normativer Rechtsordnung. Diese bilden zunächst interaktive verschränkte Verläufe, die sich vertikal einkreuzen, aber auf Dauer keine gesamten (in den drei Übersetzungsverhältnissen) Anfangs- und Endpunkte formieren, da sie diskontinuierlich im hermeneutischen Zirkel wiederkehren13 .

III. Das vertikale Übersetzungsverhältnis dritter Ordnung Im dritten und letzten vertikalen Übersetzungsverhältnis erscheinen die gesellschaftlichen Rechte mittels indigener Dynamik aus dem systemimmanenten Verfahren des positiven Rechts komplexer. Sie haben die abstrakten Prozesse der mittelbaren Wechselwirkungen pragmatisch durchlaufen und bilden wieder ungleiche Segmente mit einer juridischen Einheit und einer immanenten Logik. Demnach können die selbstproduzierten Elemente der Rechtsordnungen auf der dritten interaktiven Übersetzungsebene festlegen, was sie als Norm, Gewohnheit oder Recht/Nicht-Recht anordnen. In ihrer Relation sind sie aber nicht »operativ geschlossen«14 , sondern primär »operativ gekoppelt« (Renn 2006) und können sich auf dieser Übersetzungsebene nicht kategorial verändern: Weder können die gesellschaftlichen Rechtsordnungen die binäre Codierung oder die Systemprogrammierung des positiven Rechts modifizieren, noch ist das staatliche Recht in der Lage, die

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Um das Ganze zu plausibilisieren: Im Jahr 2019, das auf die abstrakte kapitalistische Warenproduktion hindeutet und als Basis der intersubjektiven Weltzeit entwickelt wurde (Dux 1989, 335), beginnen die Berber das Jahr 2969. Die Berberzeit wird noch heute im Maghreb und weltweit gefeiert. Die islamische Zeit feierte im Jahr 2020 ihre 15. Jahrhundert. Wie die Systemtheorie oder die Diskurstheorie Foucaults im Falle des positiven Rechts behaupten; vgl. auch Schauer 2006, 114.

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beiden normativen Ordnungen systematisch umzuwälzen. Die Transformationsprozesse, die durch die zweite vertikale Übersetzung in Gang gesetzt wurden, bilden keine »rechtliche[n] Hybride«, wie Heintz et al. (2006, 435 Fn.: 17) postulieren, sondern sie gehen im dritten Übersetzungsverhältnis auseinander und erlauben eine Relativierung der strukturellen Autonomie der Normorientierungen, ohne jedoch zu einer Auflösung ihrer symbolischen Grenzen zu führen. Nichtlinear bleiben sie grenzüberschreitend durch die »Übersetzungskaskaden« (Renn 2006) verbunden. Somit sind die asymmetrischen normativen Rechtsordnungen auf der zweiten Beobachtungsebene integriert und weisen eine Emergenz der kulturellen und funktionalen Kontingente auf. Die Emergenz ist weder durch eine einzige Rechtsordnung noch durch die Weltgesellschaft als primäre »funktionale Systemebene« (Luhmann 1999) bestimmt, sondern durch die horizontalen und vertikalen drei Übersetzungsverhältnisse und die strukturellen Bewegungen des multipel differenzierten Familienrechts beobachtbar. Diese sind keineswegs statisch, sondern die epistemische Autonomie und Beweglichkeit der pragmatischen gesellschaftlichen Rechtsordnungen forciert eine »Dezentrierung« des positiven staatlichen Rechts, ohne es jedoch zu »dekonstruieren«, wie Derrida (2006) postuliert. Den philosophischen Begriff der Dezentrierung führt Derrida in seiner Abhandlung über den Strukturbegriff in die »Schrift und die Differenz« als eine Kritik an Zentrismen ein, z.B. am Ethnozentrismus, Phallozentrismus oder Anthropozentrismus (Dizdar 2006, 135). Außerdem versteht Derrida Übersetzung philosophisch u.a. als eine Art Ersetzung von äußerlichen Signifikanten (ebd. 155), während sie in der vorliegenden Arbeit pragmatisch und makrosoziologisch eine Theorie der multipel differenzierten Weltgesellschaft darstellt und in ihrer Bandbreite mehrere Kaskaden der normativen Rechtsordnungen beinhaltet. Die soziale Übersetzung ist zudem nicht (nur) eine Übersetzung zwischen verschiedenen philosophischen Sprachen bzw. interlingualen Kommunikationen, wie Derrida annimmt, sondern sie ist eine grenzüberschreitende Übersetzung zwischen den multipel funktionalen und handlungstheoretischen Integrationseinheiten. (mehr zu einer Auseinandersetzung mit Derridas Begriff der Dekonstruktion aus der Sicht der multiplen Differenzierung siehe den methodologischen Teil der vorliegenden Arbeit). Dadurch wird die Komplexität gesteigert, das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Rechtsformen sich der säkularen Macht und Strukturalität des positiven Rechts entziehen und in einen symbolisch ontologischen, dritten Übersetzungsraum mit differenten Welterschließungen und pragmatischen Sinnhorizonten übergehen. Dabei unterscheidet sich auch der hier verwendete dritte Raumbegriff von Bhabhas »drittem Raum« (1990, 1994, 1997, 2000), der zur Hybridbildungen, d.h. zur strategischen und selektiven Aneignung von Bedeutungen zwischen den Kulturkreisen führt und Konstellationen, Weiterführungen eines postmodernen sowie poststrukturalistischen Denkens einschließt (Derrida, Fou-

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cault, Lacan etc.). Der dritte Raum Bhabhas als »Neuverhandlung« (Varela & Dhawan 2005, 97) und Reinterpretation kultureller Mythen und Symbole ist im Spannungsfeld verschobener »Machtbeziehungen und Autoritätsverhältnissen« konstituiert (Babka & Posselt 2012, 9). Hier etabliert sich ein komplex-dynamischer »Dazwischen« (Bhabha 1990; Bahadir 1998, 2004) -Prozess, in dem vertikal organisierte Subjekte und die Ambivalenz sozialer Konstellationen agieren. Im Gegensatz dazu wird der dritte Übersetzungsraum als eine Repräsentation funktionaler, kultureller und regionaler Differenzierungsformen verwendet und charakterisiert die wissenschaftlichen Grenzen der Hybridtheorie. Dieser Grundbegriff wird auf der makrotheoretischen Ebene in Anlehnung an die multiple Übersetzungstheorie (Renn 2006, 2013, 2014, 2017) sozialstrukturell und semantisch erschlossen, während bei Bhabha der Raumbegriff post-kolonial »literarisch« (Wagner 2012), sprachphilosophisch oder »semiotisch« (Bhabha 2012, 64) für die notwendige Textinterpretation angewandt wird15 . Allenfalls ist der Raumbegriff eine Form inkorporierter und kontingenter Analytik, die sich innerhalb der Semiotik übersetzen lässt. Bhabhas Begriff der kulturellen Übersetzung, der »eine metaphorische Ausweitung des Übersetzungsbegriffs« im sprachwissenschaftlichen und philosophischen (in Anlehnung an Benjamin 1963) Sinne ist, stellt nur eine »partiale Perspektive« dar, da er im Wesentlichen »diasporische« Gemeinschaftswelten beschreibt (Wagner 2012, 29ff.; Babka & Posselt 2012, 12). Dieser problematische Begriff der Diaspora, der Identitätskonstruktionen zwischen Autoritätsbeziehungen beschreibt, impliziert keinen »singulären Raum« (Varela & Dhawan 2005, 103) oder eine »transitorische Identität« (Renn 2002), die in komplexen Übersetzungsverhältnissen transzendieren. Als Zwischenfazit lässt sich anhand der drei Übersetzungsverhältnisse in der postkolonialen Phase beobachten, dass die Rechtsordnungen eine qualitative Veränderung implizieren, die nicht auf eine einfache Rechtsübertragung und eine Auflösung von Differenzen bzw. Hybridbildungen hindeutet und zu keinem einseitigen Einverleiben bzw. keiner Homogenisierung von Signifikanten führt. In diesem Prozess bleibt ein nicht auszuschöpfender »Übersetzungsrest« (Benjamin 1963), in dem keine symbolische Gewalt oder »Assimilation des Anderen« (im Sinne Assmann 1996) als Anhaltspunkt für eine ungleichgewichtige Rechtsordnung manifestiert ist. Demzufolge werden die »originalen« Rechtssprachen durch die Übersetzung auf der dritten Ordnungsebene nicht assimiliert. Das Nichtverallgemeinbare des positiven staatlichen Rechts im Sinne einer eindimensionalen Übersetzung wird durch eine interaktive Episodenverknüpfung mit den gesellschaftlichen Rechten verdichtet. Dadurch wird der »selbstreferenzielle Hyperzyklus« (Teubner 1990, 232ff.) des modernen Rechts durch die Pluralität der gesellschaftlichen Rechte und ihre Übersetzungen in funktionale Differenzierung eingebunden. Überdies kann im 15

Während im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit nicht nur Texte, sondern auch manifeste und latente pragmatische Praktiken Makrohermeneutisch analysiert werden.

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Übersetzungsverhältnis dritter Ordnung zwischen dem staatlichen positiven Recht und den gesellschaftlichen Rechtsordnungen die Handlung und kommunikative Zeit weder nur auf systemtheoretischen Begrifflichkeiten noch auf subjektorientierten und intersubjektiven Theorien aufbauen. Diese Theoriekontroversen müssen durch die multiplen Zeithorizonte des Sozialen operativ ersetzt und in den Übersetzungsinterdependenzen strukturell umgebaut werden.

Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse »Mit anderen Worten: die sogenannten konkreten Tatsachen der alltäglichen Wahrnehmung sind gar nicht so konkret, wie es scheint. Sie umfassen bereits Abstraktionen höchst komplizierter Natur, die wir beachten müssen, um nicht dem Fehlschluss der unangebrachten Konkretheit zu verfallen.« (Alfred Schütz 1971, 4)

1. Einleitung

Die empirische Sozialforschung ist zunächst ein heterogener und vielfältiger Ansatz mannigfaltiger soziologischer Paradigmen, wie die Praxeologische Wissenssoziologie oder die poststrukturalistische Diskurstheorie, die herkömmliche Rational Choice Theorie, der Akteur-Netzwerk-Ansatz oder die hier verfolgte Makroanalytische Tiefenhermeneutik bzw. die qualitative Sinnrekonstruktion der Gesellschaftsanalyse, die der multiplen Differenzierung der Weltgesellschaft zugrunde liegt. All diese paradigmatischen Grundlagenansätze erforschen durch entsprechende Methoden aus dem empirisch gewonnenen Datenmaterial die relationale Form des subjektiv bzw. intersubjektiv artikulierten Sinnzusammenhangs in der qualitativen Forschung. Sie unterscheiden sich durch ihre theoretischen und heuristischen Annahmen sowie ihre methodologische und empirische Vorgehensweise (z.B. die latente oder explizite Formulierung der qualitativen Interviewfragen im jeweiligen Forschungsfeld), die mit den soziologisch relevanten Mikro- Meso-MakroEbenen der Kommunikation operieren. Diese vertikalen Grenzziehungen zwischen den Makrosystemen, Organisationseinheiten und Interaktionshorizonten werden in vielen Forschungsparadigmen kaum differenzierungstheoretisch überschritten1 . Dies ist sowohl in der Begriffsbildung und Generalisierung der empirischen Ergebnisse, der Komplexität und Abstraktion der soziologisch performativen Sprache als auch in den empirischen Rechtlinien der selektiven Operationalisierung und methodologischen Regeln zu beobachten. Gewiss kann wissenschaftlich dargelegt werden, dass manche Studien, die auf soziologische weitreichende Gesellschaftsanalysen Anspruch erheben, nicht mehr als nur interaktionistische und organisatorische Kontexte oder (wenn überhaupt) eindimensionale primär funktional differenzierte Makrointerpretationen fokussieren (siehe hierzu aus einer anderen philosophischen Perspektive die Auseinandersetzung Ha1

Mit Interaktionshorizonten sind die pragmatistischen intersubjektiven Handlungen einer Lebensform, die in differenzierungstheoretischen Integrationseinheiten transzendieren, gemeint. Die Interaktionshorizonte lassen sich auch mit der phänomenologischen »Horizontstruktur der Erfahrung bzw. dem, was Edmund Husserl den inneren Horizont« (Gurwitsch 1971, XVIII) nennt, verbinden. Zur Übersetzung von Pragmatismus und Phänomenologie siehe auch Renn 2012.

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Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse

bermas’ mit Luhmann 1971, 177–226), und somit eine ungenügende inhaltliche und das heißt weltgesellschaftliche Reichweite erlauben, die auf implizite eindimensionale System- oder nur Handlungskontexte eines weltgesellschaftlichen Kultursystems hindeutet, wie der Neoinstitutionalismus (Meyer et al. 2005). Dadurch werden wertvolle multiple Sinndeutungen und Interpretationszusammenhänge der soziologischen Analyse gemustert; vor allem die systematischen »Wechselwirkungen« (Simmel 2013)2 zwischen den »gesellschaftstheoretischen Integrationseinheiten« (Renn 2006, 397–449). Daher muss eine Methodologie qualitativer Forschung ihre Gegenstände auf der Basis und entlang von pragmatistischen, handlungs- und differenzierungstheoretischen Überlegungen spezifizieren und in spezielle Kontexte multipler Differenzierung übersetzen. Denn die faktische Operationalisierung empirischer Sozialforschung kann sich keinesfalls nur in der relationalen Umgebung von interaktiven, alltäglichen und lokalen Fallstrukturen deskriptiv entfalten, sondern sie muss sich analytisch von einem Interaktionshorizont bis zur makrotheoretischen Ebene und umgekehrt bewegen. Dieser hermeneutische Prozess deutet auf eine doppelte Struktur von Mikro- und Makroeingängen hin, oder besser auf »ein[en] Zirkel« (ebd. 2018) mit pragmatistischen Iterationen und latenten Nuancen, in dem die Komplexitätssteigerung und die Reduktion von Weltkomplexität Hand in Hand balancieren. In diesem hermeneutischen Zirkel soll keine epistemologische Stufenordnung von niedrigeren zu mittleren und dann zu abstrakten Integrationseinheiten impliziert werden, sondern dieser Zirkel umfasst dynamische Komplexitätsebenen und sinnhafte Gesellschaftshorizonte, die sich übersetzen und rückübersetzen lassen. Dadurch wird die starre überlieferte Trennung – nicht analytische Unterscheidung – zwischen den Sozialsystemen und Handlungshorizonten, das heißt zwischen globalen Systemen und Organisationen, die sich in supranationalen, nationalen und lokalen Integrationseinheiten ausdifferenzieren, und weltgesellschaftlichen Milieus sowie Individuen als eigene Integrationsebenen methodologisch überwunden. Somit kann die Vernetzung des Lokalen mit dem Globalen oder die »Glokalisierung« (Robertson 1998) konsequent in der Makroanalytischen Tiefenhermeneutik mitberücksichtigt und übersetzt werden. Die qualitative Forschung erhält dann eine makrotheoretische und multiple weltgesellschaftliche Grundlage (später mehr hierzu). In diesem Sinne können hermeneutisch komplexe Makrointerpretationen eines nationalen gerichtlichen Prozesses, der sich der Wahrheitsfindung und implizit der Komplexitätsreduzierung widmet, an einem relativ (und nicht radikal) geschlossenen Interaktionssystem und seiner Strukturumgebung ansetzen, um die empiri-

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Georg Simmel hat die qualitative Soziologie durch ihre Methode und nicht durch die Gegenstände festgelegt; in seinem Ansatz werden die sozialen Strukturen, die sich aus den Wechselwirkungen ergeben, erforscht (Kleining 1991, 20). Zum soziologischen und methodischen Ansatz der Wechselwirkungen siehe u.a. Rosa & Strecker & Kottmann 2018, 211.

1. Einleitung

schen qualitativen Daten auszuwerten. Dies hängt zunächst von den Personen ab, die Rechtskniffe als praktisch-habituelle performative Handlungen und Transportbänder anwenden, um u.a. die pragmatische Durchführung des islamischen Rechts und habituellen Gewohnheitsrechts auf den bereits dargelegten zweiten und dritten Übersetzungsverhältnissen zu erzielen. Diese Personen sind in Organisationen des positiven Rechts und Milieus der gesellschaftlichen Rechtordnungen, d.h. in abstraktere Formen der Handlungskoordination eingebunden; sogar der Familienrichter bzw. die Familienrichterin ist wiederum doppelt gebunden: Einerseits muss er/sie das Urteil im Gerichtsamt (als nationale Organisation des positiven Rechts) terminieren und verkünden, und anderseits muss diese Person den funktional differenzierten Imperativen des staatlichen Rechtssystems resilieren, das in supranationale und globale Normerwartungen integriert ist und mit der Struktur der multiplen Weltgesellschaft durch Bedeutungsbrüche und »Kaskaden der Übersetzungsdynamiken« interagiert (Renn 2006, 165 und 2010, 322ff.). Erkenntnistheoretisch kann somit die empirische Feldforschung, die qualitative Rechtforschung miteingeschlossen, nicht nur die habituelle inkorporierte Praxis und die relationale Interaktion des expliziten Untersuchungsfalls interpretieren oder nur an Makrosysteme und Organisationen in der multiplen Weltgesellschaft gekoppelt sein. Sie muss die strukturellen Verhältnisse der abstrakten Großeinheiten – einschließlich der Gesellschaft als eigene Systemebene – und die empirischen Modellierungen stets in interaktiven multipel differenzierten Relationen korrelieren. Daher kann die qualitative Weltgesellschaftsanalyse mit der hermeneutischen Spurensuche nach »Translaten« bzw. »Übersetzungsprodukten« (ebd. 2018, 203) in spezifischen Milieuhorizonten als Übergangskaskaden zwischen den vertikal einverleibten Interaktionen und systemisch gesellschaftlichen Makroeinheiten ansetzen, um dann kontingentweise auf Umwegen die indirekten und latenten Umcodierungen der kreativen Prozesse einer nichtlinearen dreigliedrigen Kette der pluralen rechtsoziologischen Übersetzungsverhältnisse im empirischen Material detailliert zu entfalten. In diesem analytischen Kontext muss darauf hingewiesen werden, dass der elementare Grundbegriff der Spurensuche in der Makroanalytischen Tiefenhermeneutik nicht durch die »Dekonstruktion und Translationswissenschaft« (Derrida 1999, 2006; und in Anlehnung an ihn Dizdar 2006, 123ff.) vereinnahmt und nur sprachphilosophisch im Text durch die Sprache verengt werden kann. Die Dekonstruktion und die Makrosoziologie der multiplen Differenzierung teilen zunächst die Grundprämisse einer nicht literarischen Übersetzung von einer originalen Sprache in eine Andere. In beiden Paradigmen ist zudem der Spurenbegriff zentral, er wird aber theoretisch (oder für die Theoriebildung) unterschiedlich eingesetzt. Als dynamisches Denkunternehmen ist die Dekonstruktion »weder als Theorie noch allgemeingültig als seine wollende Methode einheitlich zu beschreiben«, sondern ist auf »die Verschiebung vorhandener Grenzen« (ebd. 126) und die kritische Analyse von

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differenten philosophischen Anschauungen spezialisiert. Daher wird die Dekonstruktion als eine »Beobachtung zweiter Ordnung« (Luhmann 1995b, 9–36) häufig in die Luhmannische »Supertheorie« (Stäheli 2000, 13) eingefügt3 . Oder sie wird als eine radikale Übersetzung des Heideggerschen Typus interpretiert, in dem »der Sinn von Sein (...) nicht mehr als transzendentales oder transepochales Signifikat verstanden [wird], sondern schon als eine Spur« (Dizdar 2006, 131). Die Spur kann somit nicht mehr im Horizont des Seins innenwohnen, sondern steht mit anderen Spuren in einer solidarischen Kette zusammen und wird in einer verborgenen Bewegung des Bedeutens durch die différance gezeichnet und introjiziert, bis der Spurenbegriff von der différance untrennbar erscheint, denn ohne Spur gibt es keine Differenz, so Derrida in Anlehnung an Sigmund Freud (Derrida 1999, 48–53). Der Spurenbegriff im postmodernistischen Sinne hat daher nicht den existenziellen Charakter eines Daseins und ist nicht durch seine ontische Struktur begründet. Er gehört zudem zu keiner Kategorie des Seienden, sondern wird von Derrida im weitesten Sinne und in der Regel als ein temporales und/oder dagewesenes »Synonym« zum Begriff der différance verwendet (Bartl 2002, 96). In der qualitativen Weltgesellschaftsanalyse vollführt der Spurenbegriff neue makrosoziologische und paradigmatische Schattenbewegungen, um den Umweg der Theoriebildung durch die ansteigende Abstraktion mit Hilfe des relevanten latenten Sinns zu signalisieren. Mit der Verwandlung von einem sprachphilosophischen hin zu einem soziologisch pragmatisierten Paradigma lässt sich der Spurenbegriff auf eine Situierung des performativen Handlungsgebrauchs anwenden, der wiederum differenzierungstheoretisch eingebettet wird. Dabei fungiert der soziologische Spurenbegriff oder auch die Spur von Spuren in diesem internen Zusammenhang zunächst als empirische, kreativ-laterale und latente Sucheinheiten im Modus des »impliziten Wissens« (Renn 2006, 120–127). Ein Wissen, das in der habituellen und intersubjektiven Praxis impliziter Handlungen in der pragmatischen Interaktion wirksam und in einer Kette von Interpenetrationen und Umdeutungen in theoretisches Wissen über sozialstrukturelle unilineare Kontextbedingungen integrierbar ist. Hierzu würde Derrida argumentieren, »dass alles Wissen, dass gar die ganze Welt als Text (als Schrift!) aufgefasst werden müsste« (Reichmann 2015, 86). Und genau in diesem Sinne analysiert Foucault in »Réponse à Derrida« und »Mon corps, ce papier, ce feu« das poststrukturalistische Vorgehen 3

Siehe Luhmann (1995b), der das gesamte theoretische Repertoire Derridas in den Bezugsrahmen der philosophischen Postmoderne hineindeutet. Laut Stäheli (2000, 14ff.) hat sich die systemtheoretische Theoriekonstruktion verändert: Während in den siebziger und achtziger Jahren die Debatte um Habermas und die Frankfurter Schule kreiste, wandelte sie sich zu Anfang der neunziger Jahre. Dabei sind v.a. die Dekonstruktion und die sogenannte Postmoderne zur Zielscheibe der Systemtheorie geworden, entweder als »Semantik« oder als »Bastelmaterial«. Allerdings übernehmt Stäheli in »Sinnzusammenbrüche« die Perspektive einer dekonstruktiven Übersetzung der Systemtheorie (ebd. 93).

1. Einleitung

von Derrida, in dem die (pragmatistischen) diskursiven Praktiken zu Gunsten einer notwendigen semiotischen Textualität bzw. Semantik vorausgesetzt werden (siehe hierzu Schauer 2006, 60; auch Renn 2016, 89). Hingegen kann der soziologische Spurenbegriff nur aus beschatteten Beziehungen eines multiplen sozialstrukturellen Sinnkontextes implizit erschlossen werden. Die Spurensuche nach Translaten setzt in der qualitativen Weltgesellschaftsanalyse somit bei den handlungstheoretischen Interaktionsmilieus und der Pragmatik einer Sprachpraxis ein, um die im hermeneutischen Zirkel nichtlinearen Beziehungen zwischen der pragmatisch habitualisierten Sprache und routiniertem nichtsprachlichem Handeln sowie strukturelle Spannungen zwischen milieuexternen Vorgaben und milieuinternen Routinen (Renn 2013, 334) mit den Spuren des latenten Sinns aufzudecken. Aus pragmatistischer Perspektive ist der Spurenbegriff daher nicht mit der dekonstruktiven Différancebewegungen vereint und wird nicht aus einer theoretischen Vertextung abgeleitet. In der hermeneutischen Makrointerpretation wird der Spurenbegriff gezielt als eine Orientierungstechnik in der multiplen Differenzierung eingesetzt, um die Hinterlassenschaften der Sozialordnungen in den Interaktionsmilieus aufzuspüren4 . In dieser methodischen Praxis lassen sich die Spuren durch (fast) unsichtbare, sich wiederholende und/oder verändernde latente Sinneinheiten prozessieren. Sie kann zunächst aus Buchstaben, Sätzen oder praktischen Handlungen (wie im Falle einer qualitativen Beobachtung) hervorgebracht werden. Diese werden in der qualitativen Weltgesellschaftsanalyse nicht als chronologische Abfolge von Einzelereignissen paraphrasiert, sondern zunächst in Sequenzen gedeutet. Hierfür muss man die charakteristischen Spuren des latenten Sinns, die in den Interpretationslinien eines sozialen Milieus verborgen sind, aufhellen und semantisch über symbolische Grenzen hinweg additiv im hermeneutischen Zirkel verfolgen. Denn der gesuchte latente Sinn äußert sich in den implizit gegebenen Einflüssen externer Koordinationsformate, die auf milieuinterne Horizonte Einfluss haben und dort in einer übersetzten Form manifest illustriert werden (Renn 2013). Das bedeutet zunächst, dass die hermeneutische Makrointerpretation und qualitative Gesellschaftsanalyse den Text – seien es eine teilnehmende Beobachtung, ein durchgeführtes Interview oder auch Feldnotizen – nicht aus den subjektiven Spuren und der explizit formulierten Perspektive der untersuchten Akteure analysiert, sondern sich als Verfahren der Rekonstruktion des latenten Sinns mittels des Spurenbegriffs einschließlich dessen weltgesellschaftstheoretischen Einbettungen versteht. Das heißt, multipel ausdifferenzierte und empirisch untersuchte Rechtsordnungen können nicht einzig aus der Wahrnehmung der Befragten erforscht werden, sondern sie nehmen in sozialen Milieus, Organisationen und 4

Zu Methodik des Spurenlesens als Orientierungstechnik in der Wissenschaft siehe u.a. Krämer 2016.

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differenzierten Funktionssystemen der Weltgesellschaft neue Formen an, sie werden weiterentwickelt, verändert und pragmatistisch übersetzt und rückübersetzt. Die analytische Auseinandersetzung mit den Mikrosinnhorizonten schließt also auf dem Weg der Theoriebildung weitere Integrationsmuster ein und kann nicht auf der funktionalen Interaktionsebene oder nur der kulturellen Milieuforschung reduziert werden. Beide Integrationseinheiten müssen makrotheoretisch in der multipel differenzierten Weltgesellschaft erschlossen werden.

1.1 Feldzugang und methodologische Reflexionen I. Die makrohemeneutische Forschung im Mittleren Atlas Es wurde argumentiert, dass die qualitative Weltgesellschaftsanalyse – wie ihre Beschreibung impliziert – keine interaktionistisch empirische und methodologische Forschungsmethode darstellt, sondern ein spezialisiertes Verfahren der Makroanalytischen Tiefenhermeneutik, die gesellschaftliche Komplexitätssteigerung und die Reduktion von Weltkomplexität inkorporiert. Sie baut auf der Integration zweiter Ordnung von funktionalen, praktisch-kulturellen und regionalen Sozialeinheiten auf, die ohne ein theoretisches Zentrum wie im »alteuropäischen Denken« operiert (zur Kritik der alteuropäischen Denkweise siehe Luhmann (1984), insbesondere nach der autopoietischen Wende). Die qualitative Weltgesellschaftsanalyse koordiniert wegweisend die Spannungen balancierender und strukturell vertikaler Aneinanderreihungen symbolisch abgrenzender Übersetzungskaskaden und inkludiert die lautlose Spielbewegung zwischen »Sprachsystem und Sprechakt« (Derrida 1999, 40) in ihren pragmatisch-performativen Horizonten. Außerdem transformiert sie den Spurenbegriff von einer Philosophie der Sprache im poststrukturalistischen Sinne zu einem makrosoziologischen Hintergrundwissen und einer Orientierungstechnik des latenten Sinns5 . Dabei ist der Prozess der Spurensuche nach latenten Sinneinheiten kein endgültiges Ereignis; stattdessen wird er durch implizite Wiederholungen und unlinearen Weiterführungen im hermeneutischen Zirkel eingeübt und im gesamten Forschungsprozess einkalkuliert, das heißt, von der gemeinsamen hermeneutischen Planung und Vorbereitung des qualitativen Leitfadens in der Makrohermeneutischen Arbeitsgruppe der Universität Münster, dann in der gezielten Auswahl der interviewten Personen im Forschungsfeld in der Stadt Fes und auf dem Land

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Für einen allgemeinen kritischen Überblick des poststrukturalistischen Vorgehens u.a. von Jaques Derrida vgl. Reckwitz (2010, 284), bei dem es sich nicht primär um »systematische Theorien und gar nicht um Sozialphilosophien mit normativen Begründungen handelt«, sondern das Vorgehen »läuft in erster Linie auf eine stark an materiellen Untersuchungen orientierte Analytik hinaus«.

1. Einleitung

im Mittleren Atlas bis hin zur makrohermeneutischen Interpretation und Theoriebildung. Es ist in der Soziologie (auch in der Philosophie und in der Psychologie, um nur ein paar Forschungsdisziplinen zu nennen) allgemein bekannt, dass vor jeder Untersuchung die Methode der qualitativen Datenerhebung ausgewählt werden muss. Die Methode und der qualitative latente Leitfaden hängen vor allem mit dem Forschungsthema und den -fragen zusammen, die hier auf eine Heterogenität der normativen Rechtsordnungen und Übersetzungsverhältnisse zwischen dem habituellen Gewohnheitsrecht, dem islamischen Recht und positiv staatlichem Recht abzielen. In diesem gesamten empirischen und methodologischen Untersuchungsprozess muss jede qualitative Phase immanent eine symbolisch-inhaltliche Grenze ziehen und erhalten, indem sie die wissenschaftliche Logik anwendet und sich von den anderen soziologischen Ansätzen durch eine beachtliche Verfahrensweise abgrenzt. Vor diesem Hintergrund wurden differente semantische Vorräte im Sinne eines »theoretischen Bastelns« (Stäheli 2000) nicht einbezogen, sondern die pragmatische multiple Gesellschaftstheorie und ihr empirischer Filterhorizont emphatisch verfolgt. In diesem Rahmen wurde die Feldforschung konzeptualisiert, um das empirische Material in einer regionalen Sozialstruktur der spätmodernen Weltgesellschaft mit einer signifikanten Ausprägung multipler Differenzierung zu erheben. Zu diesem Zweck wurden erstmals zwei latente Interviewleitfäden (face-to-face) entworfen, um die Übersetzungsverhältnisse der normativen Rechtsordnung zu erforschen: Ein latenter Leitfaden für die Stadt Fes, der auf die Milieuzugehörigkeit und den Beruf der Befragten zugeschnitten war, und ein weiterer latenter Interviewleitfaden für die ländliche Region im Mittleren Atlas6 . Anschließend wurden die qualitativen Interviews in der Makrohermeneutischen Arbeitsgruppe der Universität Münster kritisch analysiert und methodologisch auf ihren Bezug zum Forschungsthema, insbesondere auf ihre »Latenz« und »makrosoziologische Einbettung« (Renn 2013; 2018), sowie auf ihre »Offenheit« hin überarbeitet (Lamnek 1988; 1989, 64; und Lamnek, Krell 2016), so dass die idealtypische Differenzierung u.a. in Stadt/Land als Heuristik zur Erfassung neuer heterogener und unerwarteter Erkenntnisse des multiplen Rechts herangezogen wurde. Die Auswahl dieser regionalen Differenzierung und die Variation der pragmatischen »Idealtypen« (Weber 2010, 14ff.; 1904, 64ff.) sind nicht vereinzelt repräsentiert und hängen primär mit der Entwicklung-Differenzierung des Landes in der multiplen Weltgesellschaft zusammen. Sie implizieren in einem Sinnzusammenhang eine Kette von vertikalen und horizontalen Übersetzungen zwischen den globalen und nationalstaatlichen normativen Rechtordnungen. Diese wissenschaftlichen Idealtypen 6

Darüber hinaus wurden zwei manifeste qualitative Interviewleitfäden entworfen, in denen die Forschungsfragen direkt gestellt werden, falls die geplante latente Interviewform kein Ergebnis im Forschungsfeld erzielen konnte.

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werden in Anlehnung an die verstehende Kultursoziologie Max Webers von subjektiven »Realtypen« unterschieden (2010, 14ff.) und auf das implizite Rechtshandeln bezogen. Daran anschließend werden die rational orientierten Idealtypenbegriffe makrosoziologisch abstrahiert und in einer pragmatistischen »kreative[n]« (Joas 1992, 290–305) Dimension der kommunikativen Rechtskniffe hinzugefügt, die vor allem die Übersetzung zweiter und dritter Ordnung zwischen den normativen Rechtsordnungen auszeichnet7 . Die Makroanalytische Weltgesellschaftsanalyse bildet konstruktiv ihre eindeutigen multipel differenzierten Rechtsbegriffe und verbindet nach »generellen Regeln« (Weber 2010, 14) die Ausdifferenzierung zentraler Idealtypen auf abstrakter Ebene. Die Potenzialität, unterschiedliche soziale Typenbegriffe nach empirischen oder theoretischen Klassifikationen wissenschaftlich zu konstruieren, ist wissenschaftlich erkannt worden (siehe v.a. Adorno 2018, 309). Diese konstruierten Typologien legen die einzelnen Interviewten nicht nach psychologischen Bildungskriterien fest, sondern müssen soziologisch auf die Binnenpluralisierung der qualitativen Daten zu einem einzigen oder mehreren Entwürfen angepasst und gebildet werden. Während also im Mittleren Atlas das habituelle Gewohnheitsrecht praktiziert wird und mit dem positiven Familienrecht interagiert, herrscht in der Stadt Fes vor allem das islamische Recht vor, das in das staatliche Recht übersetzt wird. Somit ist der Rechtstypus in diesen inkorporierten regionalen Rationalitäten grundverschieden. Die Typenbildung in der Makrohermeneutischen Tiefenhermeneutik basiert zudem auf der kategorialen Unterscheidung zwei sprachlicher und pragmatistischer Lebensformen in Arabisch und Berberisch, die das latente Rechtshandeln performativ in diesen Regionen der multiplen Weltgesellschaft prägen. Diese sprachliche Pluralisierung charakterisiert die qualitativ unterschiedlichen Forschungstypen (postkoloniale Milieus, spätmoderne Individuen und zivilgesellschaftliche Organisationen) und hat außerdem dazu geführt, dass zwei Feldzugänge erschlossen wurden, um das spezifische und latente Rechtshandeln der Einzelnen makrosoziologisch und sinnadäquat im Konzert der Ausdifferenzierung von Differenzierungsformen zu deuten. In diesem Sinnzusammenhang wurde nicht auf theoretisches Vorwissen verzichtet, denn die Grounded Theorie fordert zwar ausdrücklich eine Freimachung von jeglichem Vorwissen und empfiehlt darüber hinaus den Verzicht darauf, theoretische und empirische Arbeiten in der Theoriegenerierung heranzuziehen (Glaser & Strauss 1967), dennoch ist hier der Verzicht auf theoretisches Vorwissen deplatziert. Schließlich ist eine theoretische Vorbeschäftigung mit der Forschungsthematik und dem zu erschließenden Feldzugang äußerst wichtig für die Planung und die Gestaltung des Forschungsvorgehens. In ihrer Studie »Interaktion mit Sterbenden« (1974) greifen Glaser und Strauss selbstverständlich auf

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Zum Problem der Kreativität in Max Webers Werk siehe vor allem Joas 1992, 69–75.

1. Einleitung

Vorwissen zurück. Und ohne theoretisches Vorwissen kann man weder die empirischen Fragestellungen in dem jeweiligen Forschungsfeld einordnen noch eine »methodologische Positionierung« in der Wissenssoziologie vornehmen (Przyborski & Wohlrab-Sahr 2014, 4 f.). Schließlich kann man ohne eine erfolgreiche Erschließung des Feldes – und zwar möglichst im ersten Anlauf – sowohl in der qualitativen als auch in der quantitativen Sozialforschung keine empirische Untersuchung der ausgewählten Gesellschaftsphänomene und Erhebung der Daten durchführen. Der soziologische Grundbegriff »Feldzugang« betont die besondere Tätigkeit eines unlinearen und andauernden Prozesscharakters des gemeinten Geschehens, da er sich einer »strikte[n] Drinnen-Draußen-Unterscheidung« entzieht (Wolf 2000, 334f.). In der Makroanalytischen Tiefenhermeneutik – wie in der qualitativen Sozialforschung – gestattet sich der Zugang zum Feld »intensiver, intrusiver und invasiver« (Eberle 2015, 57), da erwartet wird, dass die untersuchten Individuen oder sozialen Gruppen bedeutungsvoll und sättigend auf die Forschungsfragen respondieren. Daher setzen soziologische Untersuchungen in der multipel ausdifferenzierten Weltgesellschaft die Anwesenheit der Forscherin bzw. des Forschers im jeweiligen Forschungsfeld voraus. In diesem Sinne wurden in einem besonders sensiblen methodologischen Vorgehen erste soziale Kontakte aktiviert, um den ersten Feldzugang im Mittleren Atlas zu erschließen. Die ersten Spuren führten zu einer Bekannten in Frankreich, die vor Jahren durch Umwege aus dem Atlasgebiet nach Paris immigrierte. Durch sie konnte die grundsätzliche Anschlussfähigkeit (u.a. die Kontaktdaten ihrer Großfamilie) im Dorf Ait Lahssan neben der Kleinstadt Khmissat im Zentrum des Landes ermittelt, und anschließend konnte sie kontaktiert und im Sommer 2013 und 2015 für mehrwöchige Forschungsaufenthalte besucht werden. Durch diesen wertvollen Feldkontakt konnten eine staatliche Genehmigung und das Einverständnis der zuständigen Lokalbehörden umgangen und eine latente Herangehensweise, die die Erhebung von spezifischen Übersetzungsverhältnissen aus erster Hand heranzieht, erzielt werden. Aus der Makroperspektive inkorporierte der erste Idealtypus in diesem Interaktionskosmos eine ganz eigene Übersetzungsschicht, indem die spätmoderne multiple Differenzierung mit traditionellen Strukturen spannungsreich Hand in Hand balancierten – genau wie das habituelle Gewohnheitsrecht, das in einer Nichtlokalität mit dem positiven Recht koexistiert und auf der zweiten und dritten Ordnungsebene vertikal übersetzt wird. Das bedeutet nicht zwingend eine »Absorption« des scheinbar unterlegenen Gewohnheitsrechts durch das positive Recht, wie Neves (2003) in Lateinamerika postuliert, und auch nicht die Außerkraftsetzung des habituellen Rechts durch eine »interkulturelle Kollision« mit dem positiven staatlichen Recht (wie Teubner 2012, 242ff.; 1987 behauptet). Genau wie manche rechtssoziologischen Studien postulieren u.a. Neves und Teubner, wurde in der ethnologischen Forschung das habituelle Gewohnheitsrecht in einer scheinbaren Lokalität samt Rechtsorganisationen, Rechtsnormen und -re-

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geln substanzialisiert und diskursiv als eine vormoderne Entität degradiert. Der makroanalytisch tiefenhermeneutische Zugang zum Forschungsfeld war nicht davon geprägt, ethnographische Ergebnisse in Form segmentärer, typischer Interaktionsmuster zu erheben, zum Beispiel mit Hilfe der Dokumentation eines genealogischen Tagebuchs, wie es Bourdieu für die Kabylei oder Gellner für das Atlasgebiet beschrieben haben. Klassische ethnologische Studien schreiben den Bewohnern eine segmentäre und – wenn überhaupt – eine primär stratifikatorische Differenzierungsform zu, als würden sie in vergangenen und exotischen sozialstrukturellen Epochen existieren (Zur Kritik der Ethnologie und Orientalismus siehe u.a.: Pascon 1965; Said 1978, 1994; Bhabha1990, 2004; Münster 2012; Mocamo 2012). Daher diente in der vorliegenden Arbeit das Sammeln von konkreten Daten primär dazu, das Interaktionsverhältnis mit den Bewohnern durch soziologische und »psychologische Strategien« möglichst zu neutralisieren (Wolff 2000, 337), um anschließend die horizontalen und vertikalen Übersetzungen des habituellen Gewohnheitsrechts mit der islamischen und positiven Rechtsordnung zu erforschen. In der ersten Übersetzungsschicht in Ait Lahssans Mikrokosmos bildeten die empirisch beobachteten Bauernhöfe zwischen Bergen und Wäldern keine spätmodernen Agrarbetriebe mit hochspezialisierten Maschinen, sondern die Bewohner bewirtschafteten ihre vorhandenen Landflächen mit traditionellen Ressourcen, die einer Permakultur ähnelten. Die Höfe hatten (damals während der Feldforschung) weder Strom noch fließendes Wasser und der dringend benötigte Wasserbedarf wurde von einer nachliegenden Brunnenquelle abgefüllt. Dieser arabisierte Berberkosmos war horizontal durch ca. 200 Familien strukturiert und in die komplexe, multipel differenzierte Weltgesellschaft integriert, nicht zuletzt auf der Makroebne durch Geldüberweisungen ihrer Familienmitglieder in den Städten und v.a. im europäischen Ausland8 . Diese Familienform in dieser spätmodernen Sozialdynamik bestand in der Regel aus einer ehelichen Großfamilie, allerdings mit bemerkenswerter Fragmentation und Ambivalenzen, weit entfernt von den ethnologischen Mythen und Klischees eines traditionellen Zusammenlebens. Diese Sozialform war überdies durch batteriebetriebene Rundfunkprogramme und eine Parabolantenne für den Satellitenrundfunkempfang in nationalstaatliche und globale Informations- und Medienprozesse inkludiert. Die Deregulierung der Infrastruktur im

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Laut der »World Development Indicators database« (Weltbank) haben marokkanische Staatsangehörige, die oft eine zweite Staatsangehörigkeit besitzen, im Jahr 2006 rund 5,6 Milliarden US-Dollar überwiesen (Hein de Haas 2009, S. 7). Das Land steht laut der Weltbank an dritter Stelle in der Mena-Region bei Auslandsüberweisungen (Munoz-Konaté & Reith 2019, 205). Um die Rolle der marokkanischen Migration für die Entwicklung des Landes zu gegenwärtigen, siehe auch »Migration et Urbanisation«, Robert (1990, 170), oder Bessaoud & Sadiddin (2019). Développement rural et migrations: une dimension environnementale.

1. Einleitung

ländlichen Sozialraum durch digitale Medien hatte den Arbeitsalltag der Familienmitglieder in lokalen Gemeinschaftsleben nicht strukturiert, denn erst in den Abendstunden wurden sie selektiv als passive Zuschauer in das Weltgeschehen integriert. Der Feldzugang zur Erhebung der Übersetzungen des habituellen Gewohnheitsrechts in dieser »desperaten Vergemeinschaftung« (Renn 2007, 65–96) war zudem zwingend auf den Einsatz eines weiteren Idealtypus angewiesen, nämlich auf die berberisch-arabische Sprache der Einwohner. Allgemein steht Sprache nach dem cultural turn im Zusammenhang mit Denken und Handeln in einer interaktiven sinnverarbeitenden und -konstituierenden Triade (Srubar 2009, 11–64). Das heißt, die Sprache im soziologischen Sinne ist aufgrund ihrer immanenten Eigenschaften kein geschlossenes System, wie die linguistische Sprachtheorie postuliert. In der sinnhaften Kommunikationstheorie und Systemtheorie ist die Sprache weder strukturell typenfest gebunden noch wird sie als generalisiertes Kommunikationsmedium begriffen. Die Sprache wird als eine Form interpretiert, »die zugleich das beteiligte Bewußtsein und sich selbst als Medium für die Formen behandeln kann« (Luhmann 1987, 468). Die Unterscheidung von Medium und Form stehen in einer Formel zusammen und können sich nur temporär als Ereignis der Autopoiesis vollziehen9 . Für die empirische Welt der Erfahrung müssten zuerst diese wissenschaftlichen Dimensionen der Sprache inhaltlich getrennt werden, bevor die empirische sprachliche Übersetzung durch nichtlineare Spuren in einer sozialen Übersetzung münden kann. Als Muttersprachler in Arabisch wurden dem Verfasser die soziale Integration in diesen Interaktionskosmos und die Durchführung von qualitativ latenten Interviews in Ait Lahssans ›Fremdkultur‹ zügig ermöglicht. Durch diese sprachlich-pragmatistische Verständigung aus erster Hand in face-to-face-Interaktionen und ihre Übersetzungen wurde der Feldzugang in Ait Lahssan zügig erschlossen, da die interaktive Kommunikation und sprachliche Übersetzung keinen Dolmetscher erforderten. Unterstützt wurde der ganze Forschungsprozess von einem Dichter und Mitglied des informellen Milieurates (Bruder der Bekannten aus Paris), der auf dieser engen verwandtschaftlichen Grundlage ein Zimmer innerhalb seines Hauses im Mittleren Atlas zur Verfügung stellte und die Feldkontakte zu den einzelnen Personen, insbesondere zum informellen Milieurat, ermöglichte. Als Ort der Verschriftlichung von Feldnotizen charakterisierte sich das Haus für die Bewohner in diesem facettenreichen Mikrokosmos als Mittelpunkt der Alltagsorganisation und Durchführung von drei Interviews mit Mitgliedern des informellen Milieurats. Weitere zwei qualitativ latente Interviews wurden in den Häusern der Interviewten in Ait Lahssan im ersten Forschungsaufenthalt im Sommer 2013 durchgeführt: Mit einer Witwe, um

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Siehe Srubar »Sprache und strukturelle Kopplung. Das Problem der Sprache in Luhmanns Theorie«, in: Ders.: »Kultur und Semantik« (2009), S. 221–257.

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die 70 Jahre alt, und mit einem männlichen Jugendlichen, der 20 Jahre alt war. Alle Interviewpartner wurden durch den Dichter, zugleich Mitglied des informellen Milieurats, ermittelt (später mehr hierzu)10 . Das Haus des Dichters war nicht primär vom segmentären Prinzip dominiert, wie die eurozentrische, ethnozentrische und anthropozentrische Denkweise im Mittleren Atlas und Nordafrika im Allgemeinen naheliegen. In diesen Denkschemata und diesem latenten Wissen wird der Begriff eines ethnologischen Hauses empirisch unreflektiert benutzt, um die normativen Solidaritätsvermutungen seines Bewohners – komme was wolle – im alteuropäischen Stil zu zementieren. Um sich solchen wissenschaftlichen Fehldeutungen zu entziehen, wird ein Haus makrosoziologisch zunächst als ein abgegrenzter realer Privatraum begriffen, der strukturell keinen Friedensbereich mit idealisierter Harmonie auf der Interaktionsebene darstellt. Innerhalb eines horizontal differenzierten Hauses wohnt die Familie, deren sozialstrukturelle Position nicht, wie tribal oder stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften, genuin »vererbbar« ist (siehe hierzu Luhmann 1999, zweiter Teilband 634–706). Vielmehr ist die Sozialordnung eines Familienranges, wie in Ait Lahssan empirisch beobachtet wurde, vertikal durch Arbeit und Leistung veränderbar. Auch im Konfliktfall, wie im Falle einer Scheidung, geht aus dem empirischen Material hervor, dass weder primär der männlich dominierte postkoloniale Milieurat noch die Oberschicht in einer ungleichen stratifikatorischen Beziehung für die Rechtslösung verantwortlich sind, sondern letztendlich das staatlich positive Gerichtsamt im Mittleren Atlas. Dementsprechend gründet sich die systemische Kommunikation des nichtlokalen Familienrechts nicht auf die physische Anwesenheit des Individuums, sondern sie folgt der Leitdifferenz »rechtmäßig//nicht-rechtmäßig« und ist u.a. mit Organisationen, postkolonialen Milieus und komplexen Individuen operativ gekoppelt. Die Eheschließung ist schichtübergreifend möglich und das Heiratssystem ist weder charakteristisch auf lineare Verwandtschaftsbeziehungen beschränkt noch durch schichtspezifische Konstanten in sozialstruktureller Hinsicht. Die Milieuangehörigen im Mittleren Atlas überschreiten symbolisch und materiell das lokale Territorialprinzip und treten über die Systemgrenzen hinaus in interkulturelle Übersetzungen ein. Sie sind zum Teil mit Personen aus europäischen Regionen vermählt und beantragen eine zweite oder dritte Staatsangehörigkeit. Insofern wissen die Bewohner in Ait Lahssan latent, dass keine einzige habituelle Rechtsform mit symbolischen Machtgefügen prädominiert, sondern in dieser Region der Weltgesellschaft eine rechtsplurale Sozialstruktur vorherrscht, indem das habituelle Gewohnheitsrecht durch pragmatische und performative Transformationen in das positive staatliche Rechtssystem übersetzt wird. Die Integration dieser kulturellen Le10

Die Frau um die 70 Jahre wusste nicht genau, wann sie geboren war. Sie erzählte, dass früher nach einer Geburt keine Eintragung ins Familienbuch vorgenommen wurde.

1. Einleitung

bensform in einen Rechtspluralismus wurde empirisch in Ait Lahssan nicht primär durch eine »mechanische Solidarität« dokumentiert, wie Emile Durkheim (1977) im Falle der primär segmentär differenzierten Gesellschaften theoretisch postuliert. Sie läuft in diesem komplexen Nationalstaat der primär multiplen Differenzierung zunächst über die Bürgerschaft der Individuen. Insofern werden die Teilsysteme und die Primärordnung in dieser Gesellschaftsformation weder primär männlich über Adel und Abstammung reguliert noch geschlechteregalitär über Familie und Verwandtschaft dominiert11 . Die institutionelle Organisierbarkeit von habituellem Gewohnheitsrecht im Mittleren Atlas wurde nicht den religiös-islamischen Gruppen oder Heiligen überlassen, sondern sie wurde vom säkularen informellen Milieurat auf der Übersetzung erster Ordnung praktiziert. Überdies war der Glaube der Atlasindividuen nicht an vormoderne verschiedene Götter, Mythen oder Magie gekoppelt; stattdessen wurde der religiöse Glaube durch islamische Rituale – wie das Fasten und Beten – in Bezug auf einen einzigen Gott praktiziert. Öffentlich wurde das religiöse Handeln durch den Nationalstaat und seine vertikale Spitze im Rücken der Atlasindividuen systematisch verwaltet, wie die Einstellung eines Imams in der lokalen Moschee. Als verlängerter Arm des Staates konzentrierte sich der Imam auf seine habituelle Funktion, die nicht durch performative religiöse Praktiken in das habituelle Gewohnheitsrecht eingreift. Außerdem wurde in Ait Lahssan die Brautgabe und ihre Mitgift bzw. die Aussteuer auf dem Wochenmarkt nicht mit Waren oder Prestigegütern als Tauschwährungen erworben, sondern sie wurden mit Geld als generalisiertes Kommunikationsmedium der nationalen Zentralbank angekauft, die in supranationale und globale Organisationen, wie die Weltbank, inkludiert ist. Die Brautgabe in Ait Lahssan, wie sie in den islamischen und anderen gesellschaftlichen Rechtsordnungen existiert, impliziert zwei Formen der ehelichen Vorsorge: Eine Gabe, die vor der Hochzeitszeremonie festgelegt und übergeben wird (arabisch: Al Mahr), und eine zweite Gabe, die im Falle einer Scheidung oder des Todes des Ehepartners von seiner Familie an die Ehefrau übergeben wird (arabisch: Al Mut’â). Diese Gabe-Praktiken wurden im Rahmen einer »Kreativität des Handelns« (Joas 1996) nicht als Schablone im übertragenen Sinne von allen postkolonialen Milieumitgliedern vollzogen u.a. nicht von denjenigen, die eine supranationale Gemischtehe eingehen. In der ersten Übersetzung des habituellen Gewohnheitsrechts, die sich mit der Brautgabe in einer ehelichen Institution entfaltet und in eine Übersetzung zweiter und dritter Ordnung mündet, lassen sich allgemein zwei habituelle Rechtstypen in Ait Lahssan rekonstruieren:

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In Ait Lahssan ist auch eine sozialstrukturelle dritte Differenzierung im Zentrum/der Peripherie der Großreiche, die Segmentation und Stratifikation miteinander kombiniert (Luhmann 1984, 1999), nicht geeignet, um die Gesellschaftsform der nordafrikanischen Berber zu beschreiben.

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Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse

Die Rechtsquellen: Die Faktizität der Rechtsquellen im Mittleren Atlas ist aufgrund der primären multiplen Gesellschaftsdifferenzierung viel komplexer und inhomogener als in den sozialstrukturellen Rechtsformationen früherer Typen, wie etwa in der primär segmentären, in der stratifikatorischen und in der Zentrum-/ Peripherie-Differenzierung. Diese Komplexität ergibt sich aus den spätmodernen drei Rechtsübersetzungen, in denen die Rechtsstrukturen und Rechtsprozesse vertikal über die symbolischen Grenzen hinweg nichtlinear eine hochentwickelte normative Ordnung bilden. Die Frage nach den lokalen Rechtsquellen kann somit nicht – wie in den ethnologischen oder eurozentrierten Theorien – mit dem Hinweis auf bestimmte Institutionen des habituellen Gewohnheitsrechts wie Brauch oder Sitte einschränkend beantwortet werden. Sie muss aus der Makroperspektive die pragmatistischen Funktionen dieser habituellen Institutionen und ihre nichtlinearen Rückkopplungsprozesse mit normativen Rechtsordnungen, insbesondere mit dem positiven staatlichen Familienrecht, lateralisieren. Durch diese gesellschaftsstrukturelle Verlagerung gewinnen die Rechtsquellen in der Übersetzungstheorie eine Ebenen-Ausdifferenzierung: Zunächst sind die Rechtsquellen des Gewohnheitsrechts historisch – d.h. vor der Kolonialzeit – aus der praktisch-habituellen Normcharakter unkodifiziert abgeleitet worden. Sie sind durch pragmatische Rechtsübungen als Produkt der akkumulierten verinnerlichten Moralerfahrungen einer Post-Gemeinschaft entstanden. Die habituellen Rechtsquellen wurden weder von einem staatlich formalisierten Gesetzgebungsorgan erlassen noch durch Personen hervorgebracht, denn sie waren im pragmatistischen impliziten Wissen inkorporiert, sich mit der interaktiven geltenden Ordnung zu identifizieren. In der postkolonialen Rechtsübersetzungstheorie und im Zuge der gesellschaftlichen multiplen Evolution können die Rechtsquellen nicht primär dem gewohnheitsmäßig geltenden Recht zugeschrieben werden, indem sie die operative Funktion einer vergangenen und strikt geschlossenen Rechtseinheit übernehmen. Stattdessen sind die habituellen Rechtsquellen in eine relativ geschlossene Integrationseinheit in hierarchischen Abstraktionsgraden der pluralen Rechtsbildungsprozesse auf der Übersetzung zweiter und dritter Ordnung integriert. Denn im Verborgenen strukturieren sie die Entscheidungen der positiven Rechtsbildung durch die Anwendung von Rechtskniffen mit, wenn nämlich interaktive Individuen einer gesellschaftlichen Rechtsordnung das Rechtsspiel im Amtsgericht mitspielen und anschließend diese vertikale Konstruktion zweiter Ordnung umgehen. Das heißt, die habituellen Rechtsquellen werden in zwei normative Ordnungen und Organisationsformen funktionaler und kultureller Differenzierung integriert, die Orientierung an einer binären Codierung sowie habituelles implizites Rechtswissen. Und an der gesetzlichen Verheiratung von Minderjährigen und der Mehrehe kann man später beobachten, wie die habituellen Rechtsquellen durch kohärente und nichtlineare Interpenetrationen mit dem positiven Recht interagieren.

1. Einleitung

Die habituelle Rechtsorganisation in Ait Lahssan: Genau wie die habituellen Rechtsquellen, die die Prozesse der multiplen Rechtsbildung und ihrer Kontingenz durch Rechtskniffe mitstrukturieren, kollidiert die informelle Rechtsorganisation des habituellen Gewohnheitsrechts auf dieser pluralen Entscheidungsebene nicht mit dem positiven Recht, sondern sie integriert sich zunächst in das staatliche Recht, um es auf der Übersetzung zweiter und dritter Ordnung zu übergehen. Diese empirischen Feststellungen, die durch teilnehmende Beobachtungen und qualitative Interviews im Mittleren Atlas erkannt wurden, heben hervor, dass das multiple Recht weder in der Moderne strukturell durch seine immanente Ausdifferenzierung »am Ende positiviert wird« (Luhmann 1999, 39; aus einer anderen soziologischen Perspektive u.a. Habermas 1992), noch das nichteuropäische Recht u.a. durch ethnologische und soziologische Forschungen in vergangenen Gesellschaftstypen stecken geblieben ist, als wären die historischen und sozialstrukturellen Übergänge der normativen Ordnungen lediglich europäischer und nicht weltgesellschaftlicher bzw. globaler Natur. Solche Fehlinterpretationen ergeben Belastungserklärungen für die Interdependenzen zwischen der habituellen Rechtsorganisation und dem positiven Rechtssystem. Ausgehend von einer operativen Bindung der Integrationseinheiten muss man daher deren Übersetzungsverhältnisse in der praktischen Welt neu ordnen und rekonstruieren. In der ersten sozialen Übersetzung in Ait Lahssan existiert keine formal staatliche Rechtsorganisation, sondern es herrscht ein informeller Milieurat vor, der aus Mitgliedern einer pragmatistischen Lebensform besteht und symbolisch hierarchisiert ist. Diese nichtlokal ländliche Institution besteht in der Regel aus fünf bis zehn männlich dominierten Mitgliedern, die weder einen schichtspezifischen und ökonomischen Status inkorporieren noch durch ein kompliziertes Netz von Milieuverschiedenheiten charakterisiert sind. Sie weisen strukturelle Familienähnlichkeiten auf (u.a. Alter und soziales Geschlecht) und wurden von anderen ansässigen Männern in Ait Lahssan für diesen Rat auf Lebenszeit ausgewählt. Sie verinnerlichen offenbar ein »symbolisches Kapital« (Bourdieu) und sind auf die Tradierung von mechanischer Solidarität, die mit funktionaler Solidarität überlappt ist, sowie die Erhaltung von habituellem Rechtswissen spezialisiert. Sie operieren weder individuell noch sind sie an implizite kulturelle Rechtsgrenzen gebunden. Ihre performativen Handlungen im ländlichen Mikrokosmos sind nicht radikal durch Familien- und Heiratsregeln bestimmt (als wäre ihre Struktur primär segmentär differenziert), sondern bewegen sich entlang von Spuren, Schattierungen und Kaskaden durch Übersetzungen in die funktionale Differenzierung. Hier verändern sich freiwillig ihre symbolischen und sozialen Status auf der Übersetzung zweiter Ordnung von Mitgliedern eines informellen Milieurats zu funktionalen Amtszeugen. Der Rechtsprozess dieser habituellen Institution von einer kulturellen und handlungsspezifischen Integrationseinheit zu einer funk-

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tional differenzierten Zusammengehörigkeit wird durch den nationalstaatlichen Rechtspluralismus hervorgerufen. Denn als Zeugen von partikularen Rechtsfällen treten sie als Vertreter eines postkolonialen Milieus in der Übersetzung zweiter Ordnung auf. Auf dieser multiplen Ebene wird die habituelle Rechtsordnung nach empirischen Fällen im Gerichtsamt kodifiziert und durch eine Reihe von »kreativen Handlungen« (Joas) nicht in systemischer Rechtskommunikation assimiliert. In völliger Übereinstimmung mit dem Code des positiven Rechtssystems und seiner binären Differenz Recht/Unecht übergehen sie im Gerichtsamt seine änderbaren/nicht änderbaren Inhalte, seine »Konditionalprogramme« (Luhmann) als eine der wichtigsten Schatzkammern der staatlichen Rechtsordnung. In der Praxis docken die kreativen Handlungen an die Leerstellen von Programmen an (z.B. nicht oder noch nicht verabschiedete Gesetze, Verordnungen sowie Rechtsverfahren) und produzieren durch habituelle Wiederholungsmuster – wie in einer prozessorientierten Ablauforganisation – dauerhaft sinnhafte Brüche im positiven Recht. Somit integrieren sie sich vertikal und auf Umwegen in die Infrastruktur von Rechtskommunikation und verändern ihren Sinn von einer rein funktionalen Programmierung zu multiplen Operationen. Dieser multiple Rechtsprozess auf der Übersetzung zweiter Ordnung ist durch Ambivalenzen und die indirekte Komplizenschaft anderer formaler Organisationen sowie Funktionssysteme, wie das nationale Gesundheitssystem, gekennzeichnet (z.B. im Beweisverfahren durch ein Gesundheitszeugnis im Falle der Verheiratung von Minderjährigen, später mehr hierzu). Insofern wirken sich die kreativen Handlungen des informellen Milieurats nicht nur in der Umwelt des lokalen positiven Gerichts im Mittleren Atlas durch strukturelle Kopplungen (?) aus, sondern sie werden zunächst in die formale Rechtsorganisation integriert, um danach die Eigenständigkeit ihrer Leitorientierungen zu taktieren und die Effektuierung der Programme intendiert mitzubestimmen. Dadurch reduzieren die kreativen Handlungen des informellen Milieurats die hohe Komplexität des binär codierten Rechtssystems und fügen durch Rechtskniffe Milieuerweiterungen hinzu. Diese positiven Rechtsbrüche in der Organisation, die durch die spezifischen Erweiterungen entstehen, zeichnen sich in der beobachteten Welt durch eine praktische Wiederholbarkeit der Fälle aus, die von den pragmatistischen Individuen und dem informellen Milieurat sinngemäß ausgeführt werden. Somit besitzt die Wiederholungshandlung keinen Überraschungseffekt für die formale Rechtsorganisation, die diesen unlinearen Prozess nicht allein verändern kann. Denn gegen solche informellen Eingriffe kann sich das staatliche Recht – immer noch – nicht immunisieren, um u.a. die soziale Lebensform in Ait Lahssan und anderen komplexen postkolonialen Milieus nicht zu destabilisieren. Demzufolge befindet sich die Richterin bzw. der Richter des Familienrechts praktisch im Gerichtsamt als »das Zentrum des positiven Rechtssystems« (Luhmann 1995, 297–337) in den asymmetrischen und hierarchischen Verhältnissen von Rechtsentscheidung,

1. Einleitung

basierend auf der Doppelanforderung von Rechtsquellen und Gesetzgebung sowie den informellen und postkolonial-normativen Milieuhorizonten. Genau diese empirisch beobachtbaren mehrdimensionalen funktionalen, handlungstheoretischen und regionalen Operationen bringen das multiple differenzierte Familienrecht hervor. Die bisherigen Ergebnisse der Forschung in Ait Lahssan (sowie in der Stadt Fes) lassen die Unmöglichkeit der operativen radikalen Geschlossenheit der positiven Rechtsorganisation erkennen. Dabei deuten die dichten nichtlinearen Verbindungen der formalen Rechtsorganisation mit dem komplexen habituellen Gewohnheitsrecht auf eine Übersetzung multipler Ordnung hin, in der die relationalen Verhältnisse von vertikalen und horizontalen Integrationseinheiten ohne eine Monstrosität des Rechtspluralismus empirisch wiederholt werden. Nach diesen empirisch beobachtbaren »Übersetzungskaskaden« (Renn) im Gerichts- und Gesundheitssamt kehrt der informelle Milieurat in seine soziale Lebensform zurück und ist weiterhin über Grenzen hinweg in pragmatistische Rechtsübersetzungsprozesse dritter Ordnung involviert. Auf dieser strukturellen Ebene kommt dem kreativen und informellen Milieurat eine Zentralstellung zu. Zwar operiert er nicht innerhalb des formal ausdifferenzierten Gerichtsamtes als Zentrum des positiven Rechtssystems, bleibt aber mit beiden Integrationseinheiten operativ gekoppelt. Er ist in diesem Übersetzungskontext prinzipiell der eingeschlossene Dritte, trotz der Bemühungen des Gerichtsamts, ihn von den Rechtsentscheidungen auszuschließen. Letztendlich kommt es im multiplen Recht nicht nur auf den positiven Code Recht und Unrecht sowie seine Konditionalprogramme und die Bindung an geltende Gesetze an, sondern auch auf milieuspezifische und habituell gewohnheitsrechtliche (sowie religiöse) Gesichtspunkte. Die jetzt nachvollzierbaren soziologischen Interaktionszwänge zwischen der informellen und formalen Rechtsorganisation im Gerichtsamt führen – wie angedeutet – ausgefiltert über weite Überlappungen zu einer neuen Übersetzung dritter Ordnung12 . Auf dieser Ebene ist nun das multiple Recht komplex genug, um die Differenz zwischen der Handlungsrationalität und der Systemrationalität pragmatisch zu verbinden.

II. Die makrohermeneutische Forschung in der Stadt Fes Es wurde durch makrosoziologische Prämissen dargestellt, dass das multipel differenzierte Familienrecht sowohl die habituelle als auch die religiöse Rechtsordnung

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Diese Ebene existiert in Ait Lahssan (und anderen habituellen Berbermilieus) seit der Entkolonialisierung im Jahr 1956, als diese Teil Welt der normativen Rechtsordnungen in den postkolonialen Staat politisch und wirtschaftlich inkludiert wurde. Nichtdestotrotz wurde das habituelle Familienrecht nicht assimiliert und bildet eine eigenständige Einheit im Rechtspluralismus.

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vertikal auf der Übersetzung multipler Ordnung miteinschließt. Um diese theoretischen Annahmen in der vorliegenden Arbeit durch neue, empirisch gewonnene Erkenntnisse weiterzuentwickeln und die pragmatistischen Übersetzungen des religiösen Familienrechts »makrohermeneutisch« (Renn 2013; 2018) zu interpretieren, wurde neben dem habituellen Gewohnheitsrecht in Ait Lahssan auch das inkorporierte islamische malikitische Recht in der Stadt Fes fokussiert13 . Beide regional differenzierten und global verbreiteten normativen Rechtsordnungen, zu denen die latenten makrohermeneutischen Interviews durchgeführt wurden, unterscheiden sich durch verschiedene Kategorien und Idealtypen, wie die Einwohnerstruktur (Stadt vers. Land), die kommunizierte Sprachhandlung (Berberisch vers. Arabisch bzw. Marokkanisch) und vor allem durch das strukturell institutionalisierte Recht (habituelles Gewohnheitsrecht in Eit Lahssan vers. inkorporiertes islamisches Recht in Fes14 ). Daher wurde für den Feldzugang in der Stadt Fes zwar auf die gleichen grundlegenden Forschungsprinzipien rekurriert: Eine »relative« Vertrautheit zu gewinnen, nämlich durch die bereits einverleibte nichtlokale arabische Sprache sowie durch eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit der Interviewten und des Interviewers, die auf einem »subjektiv empfundenen« irrational gefärbten Glauben an gemeinsame Merkmale beruht (Weber 2010, 323ff.). Freiwilligkeit der Interviewaufnahme auf Tonband und Auswahl der Befragungsorte durch die Interviewten, ob in den jeweiligen Büros, in ruhigen Caféplätzen und in den eigenen Wohnungen und Häusern. Schließlich eine Offenheit in der Interviewsituation und in den Interviewfragen, die einem allgemeinen Schema wie in Ait Lahssan (Familie statt Familienrecht) und einer bestimmten impliziten Ordnung des multipel differenzierten Familienrechts folgte.

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Die islamische Rechtsordnung hat sich weltweit verbreitet. Zu den Weltreligionen zählt Max Weber (1989) den hinduistischen, den konfuzianischen, den buddhistischen, den christlichen und den islamischen Glauben. Er fügt noch das Judentum hinzu u.a. aufgrund seiner strukturellen Annährung zum Islam und Christentum. Diese Religionen zeichnen sich durch einen universalen Anspruch und eine überregionale weltgesellschaftliche Verbreitung aus, die in den Schriften Max Webers in einem »werkgeschichtlichen Zusammenhang« zu interpretieren sind (Schmidt-Glintzer & Kolonko 1989, 1). Über die Geschichte und Soziologie der Stadt Fes existieren verschiedene wissenschaftliche Publikationen, u.a. von Mouzin Mohammed, Historiker an der Universität Fes, über »Die Anfänge von Fes. Ein Beitrag zur Geschichte der marokkanischen Saadier (1986). Rabat. (Eigene Übersetzung aus dem Arabischen); und Ders. »Die Geschichte der Stadt Fes. Von der Gründung bis zum Ende des 20 Jahrhundert« (2010). (Eigene Übersetzung aus dem Arabischen), sowie Ibn Khaldun, der in der Stadt Fes von 1372 bis 1375 unter der Herrschaft der Meriniden erneut lebte und lehrte. Siehe auch: Burckhardt, T. (2015 [1960]). Fes: Die Stadt des Islam. Mit einem Nachwort von Navid Kermani. Frankfurt a.M. Und Laroui, A. (1977). Les origines sociales et culturelles du nationalisme marocain (1830–1912). Paris.

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Gleichzeitig wurden aber in der Stadt Fes gegenüber Ait Lahssan weitere qualitative Spurenelemente hinzugefügt, die primär pragmatisch mit den gezielten Gesprächspartnern zusammenhingen, und der originale (an der Universität Münster mit der makrohermeneutischen Arbeitsgruppe entworfene) Interviewleitfaden je nach den theoriebezogenen Idealtypen und Ordnungsbegriffen ständig modifiziert und verändert, bis eine theoretische Sättigung erreicht wurde. Es wurden fünf Interviews mit RechtsanwältInnen geführt, vier Interviews mit HochschullehrerInnen, die im Bereich des islamisch-malikitischen Rechts und des positiven Familienrechts tätig sind, zwei Interviews mit Rechtsgelehrten und drei Interviews mit Personen, die sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen im Bereich des multipel differenzierten Familienrechts einsetzen, insgesamt vierzehn Interviews. Paradigmatisch handelte es sich beim Feldzugang in dieser weit entfernten kulturellen Hauptstadt nicht um den ersten Sozialkontakt mit den Einheimischen. In der praktischen Form der Übersetzung als primäre Integrationseinheit verlief der reflexive Feldzugang ohne eine asymmetrische »hegemoniale« (Gramsci) Berührung, die den Kontakt in einigen bisherigen orientalischen und soziologischen Studien über nordafrikanische Regionen prägten (siehe u.a. das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit, »Soziologische Rechtsbegriffe«). Die Weltzuschreibungen und -zugänge des Orientalismus haben bei einigen Gründervätern (und nicht Gründermüttern!) der deutschen Philosophie ihre Spuren hinterlassen. So heißt es bei Friedrich Hegel in »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« (1970) über die sog. orientalische Welt: »Wir haben die Aufgabe, mit der orientalischen Welt zu beginnen, und zwar insofern wir Staaten in derselben sehen. Die Verbreitung der Sprache und die Ausbildung der Völkerschaften liegt jenseits der Geschichte. Die Geschichte ist prosaisch, und Mythen enthalten noch keine Geschichte. [...]. Die orientalische Welt hat als ihr näheres Prinzip die Substantialität des Sittlichen. Es ist die erste Bemächtigung der Willkür, die in der Substantialität versinkt. [...]. Die Verfassung ist im Ganzen Theokratie, und das Reich Gottes ist ebenso weltliches Reich, als das weltliche Reich nicht minder göttlich ist. Was wir Gott nennen, ist im Orient noch nicht zum Bewusstsein gekommen...« (S. 142–143) Danach widmet sich Hegel explizit dem Mohammedanismus und der islamischen Religion, die er als »Revolution des Orients« bezeichnet. Dort heißt es auf Seite 431: »Die Abstraktion beherrschte die Mohammedaner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeisterung war Fanatismus (Hervorhebung im Original). [...]. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, dass er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält; aber der mohammedanische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinen Interessen und mit

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allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden. La Religion et la terreur (Hervorhebung im Original) war hier das Prinzip, wie bei Robespierre La liberté et la terreur (Hervorhebung im Original). Aber das wirkliche Leben ist dennoch konkret und bringt besondere Zwecke herbei; es kommt durch die Eroberung zu Herrschaft und Reichtum, zur Rechten der Herrschaftsfamilie, zu einem Bande der Individuen...«15 Genau diese eurozentristische Sicht auf den Orient und die islamische Religion sollte beim unternommenen Feldzugang durch eine praktische Offenheit und wissenschaftliche Unvoreingenommenheit als primäre Bezugsysteme vermieden werden. Darüber hinaus sollten die empirisch begründeten Übersetzungen des multiplen Rechts im Lichte eines doppelten epistemologischen Bruchs mit dem alteuropäischen und autopoietischen arabischen Denken in einer »double Critique« (Khatibi 1975; 1983) der überlieferten habituellen Denkmuster ständig im Forschungsfeld reflektiert werden16 . Die Rechtsquellen und die Rechtsorganisation des islamisch-malikitischen Rechts wurden in Anlehnung an Al Jabiri im Kapitel »Recht und Religion« analysiert. Hier ist hinzuzufügen, dass die Integration des weiblichen Geschlechts in die religiösen Organisationen etwas noch nicht Dagewesenes in der Geschichte der islamischen Religion beinhaltet. Denn neben der strukturellen Einbindung des weiblichen Geschlechts als Notarinnen (arabisch: Udul) und als Imaminnen (arabisch: Murschidat) wurde es überdies im religiösen »Obersten Wissenschaftlichen Rat« des Landes unter der Leitung von Amir Al Muminin ausgewählt. Bei den einleitenden Feldbegegnungen mit den Interviewpartner/innen in der Stadt Fes existiert kaum eine sozialpsychologische kommunikative Barriere. Dieser gefilterte und methodologisch-reflektierte Forschungsprozess, der eine »praktische Koreferentialität« (Renn 2006, 335) bei den transitorischen Kulturkontakten voraussetzt, wurde durch ein Schneeballsystem (oder Pyramidensystem) erschlossen. Das

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U.a. auch bei Emmanuel Kant (2018, 13ff.) in seinem Buch: »Von den verschiedenen Rassen der Menschen« lassen sich anti-aufklärerische und eurozentrische Zuschreibungen in einer aufklärerischen Tradition wiederfinden. Zu den beiden Aufklärungsphilosophen Hegel und Kant – auch als »Gründerväter des modernen symbolischen Rassismus und weißer männlicher Dominanz« bezeichnet, siehe vor allem Mills 1997; ferner Maischa Auma 2017, die die These einer »Gleichzeitigkeit von Rassismus und egalitären Menschenrechten« vertritt. Zu Hegel, James Mill und Karl Marx siehe Alexander Lyon Macfie (2000, 11ff.). Orientalism. A Reader. Washington Square, New York. Siehe auch über die Kritik Foucault, M. (1990). Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. (Hrsg). Erdmann, E.; Forst, R.; Honneth, A. Frankfurt a.M. Die soziologische »double Critique« Khatibis kann auch für Al Jabri gelten (siehe das Kapitel Recht und Religion in der vorliegenden Arbeit), allerdings nur in Bezug auf die europäische und nachöstliche Philosophie, ohne die nordafrikanischen klassischen Denkmuster in Al Jabris Schriften miteinzuschließen.

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Schneeballprinzip als empirisch ausgewählte Zugangsform zum »methodisch kontrollierten Fremdverstehen« (Przyborski & Wohrab- Sahr 2014, 11–18 und 184f.) setzte implizites Hintergrundwissen voraus, um eine latente Sinninterpretation zweiter Ordnung zu rekonstruieren. Die theoretischen Samplingstrategien wurden anhand der leitenden Forschungsfragen im Vorfeld fortentwickelt, indem eine Variationsbreite der interviewenden Zielgruppen und Experten aufgrund ihrer beruflich reichhaltigen Verhältnisse zum multiplen Familienrecht zusammengestellt wurde. Die qualitative Spurensuche nach dem ersten Sample erfolgte direkt in der Stadt Fes in Face-to- Face-Interaktionen, da keine Rückmeldungen auf Fragen durch die sozialen Medien (E- Mails etc.) erfolgten. Die InterviewpartnerInnen wurden nicht durch eine Zufallstischprobe ausgesucht wie in der quantitativen Sozialforschung, sondern nach »methodischer Repräsentativität« (Lamnek 2005). Außerdem wurde eine Heterogenität der Stichprobenpläne herangezogen, um eine präzise Gruppierung und Charakterisierung der gebildeten Einzelfälle zur Typenbildung zu ermöglichen (Geffers 2008, 362; Kelle & Kluge 2010). Die qualitative Analyse »vom Einzelfall zum Typus« (Kelle & Kluge 2010) wird in differenten qualitativen Ansätzen eingesetzt. In der soziologischen Makrohermeneutischen Typologie wird eine Generalisierung des Typus erst im Kontext mit der multiplen Differenzierung möglich, um die inhaltlichen Verbindungen zwischen der Makrotheorie (siehe die theoretischen Teile der Dissertation) und der Empirie, die durch Kaskaden der Übersetzung und den latenten Sinn vertikal und horizontal fließen müssen, zu ermöglichen. In der überindividuellen makrohermeneutischen Typenbildung stehen die subjektiven Rechtssemantiken in multiplen Rechtsverhältnissen, deren latente Wissensstrukturen und -vorräte von den handlungspragmatischen in den funktionalen Dimensionen transzendieren. Denn soziale Milieuformen und individuelle Rationalitäten sind nicht von imperativen Systemen und Organisationen »entkoppelt« (Meyer et al. 2005) oder »kolonisiert« (Habermas 1992). Die Übersetzungen können überdies in einem hermeneutischen Zirkel von der systemischen Makroebene in die Mesoebene und dann in die individuelle kleine Lebensform triangulieren. Das bedeutet, dass die Wissensvorräte der empirischen Welt und die Typenbildung weder durch die »Interaktionsordnung« (Goffman) noch durch die »Ethnomethodologie« (Garfinkel) oder die praxeologische ›Halbbogen‹ Soziologie (Bourdieu und seine Fechter) hervorgebracht werden, die lediglich durch die Typeninterpretation die funktionale und/oder kulturelle Milieuebene erreichen, »aus der Puste« geraten und schließlich stehenbleiben und keine makrohermeneutische Gesellschaftsanalyse für die jeweiligen Typenbildungen liefern. Die Gruppierung der empirischen Fälle und die Analyse ihrer qualitativeren Regelmäßigkeiten sowie die Deutung ihrer Sinnzusammenhänge stehen in einem multikomplexen interaktiven Deutungsschema zwischen handlungspraktischem und kommunikativem Gesamtkontext. Sie sind die tatsächlichen Leuchter und

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»Kerzenständer« der methodischen Sozialforschung, auf deren Rücken sich die Spuren des latenten Sinns von der Mikroebene bis zur multiplen weltgesellschaftlichen Differenzierung entfalten können. Die empirischen Daten werden somit nicht – wie in der Grounded Theorie – schließlich durch ein gezieltes Sampling selektiv kodiert, um eine empirische Theorie zu generieren. Es wird auch nicht auf ausgewählte Textstellen verwiesen, die bestimmte Konkordanzen und Begriffe enthalten. Zudem werden die Synopse und der Vergleich von Textpassagen nicht einbezogen, um neue Kategorien in einem Kodierschema zu bilden. Stattdessen werden die empirisch-latenten gehaltsvollen Kategorien systematisch von Anfang bis Ende des empirischen Materials interpretiert und analytisch nichtlinear im hermeneutischen Zirkel von der handlungspraktischen Ebene »z.B., wie der Arbeitsalltag einer Rechtsanwältin aussieht« bis zu den makrosoziologischen Einheiten und zentralen abstrakten Begriffen des multipel differenzierten Familienrechts ausgewertet, die auf einer Übersetzung multipler Ordnung hindeutet. Im Folgenden wird der Begriff des latenten makrohermeneutischen Sinns vorgesellt.

2. Der latente Sinn als Verbindung zwischen Empirie und Theorie

Es wurde konstatiert, dass weder das habituelle Gewohnheitsrecht als tribales Segment einer bestimmten Form der Systemdifferenzierung noch das islamisch-malikitische Recht als stratifikatorische Integrationseinheit zu begreifen sind, sondern beide als spezifische Formen des spätmodernen multipel differenzierten Familienrechts unter dem Primat multipler Gesellschaftsdifferenzierung konzipiert werden. Im Folgenden werden methodologische Reflektionen der makroanalytischen Gesellschaftsanalyse analysiert, um daran anschließend die empirischen Daten zu interpretieren. Dies kann zunächst bei der Sprachtheorie de Saussures ansetzen, die analytisch durch den soziologisch fundierten Begriff des »latenten Sinns« (Renn 2013; 2018) erweitert wird. Denn in »Cours de linguistique générale« (de Saussure 1972) ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft – einschließlich des Signifikats – lediglich die Sprache als soziale Tatsache und semiotisches System an sich. Das heißt, die Sprache wird losgelöst von den sozialen Bedingungen ihrer Produktion und pragmatischen Gebrauchsweisen in Sprechsituationen begriffen (siehe auch die vorherige Kritik an der Dekonstruktionstheorie Derridas). Die Sprache als solche wird also jenseits des Historischen und Gesellschaftlichen konstruiert und aufgrund des semiologischen Charakters ihrer Gegenstände nur als System von Zeichen gedeutet, das lediglich eine eigene immanente Ordnung zulässt. Überdies wird bei de Saussure die Sprache nicht als Praxis einer Lebensform, sondern als Form eines Zeichensystems gedeutet. Diese Form wird durch die Unterscheidung zwischen Langue und Parole bestimmt, d.h. Sprache als System und das Sprechen als Realisierung des Systems (comme une pratique sociale), wobei nur la Langue als wesentlich betrachtet wird, jedoch weder ihre materielle Erscheinung noch ihre sozialstrukturellen Voraussetzungen Berücksichtigung finden1 .

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Schon Bourdieu hat in »Ce que parler veut dire: lʼéconomie des échanges linguistique« (1982) die einseitig auf Sprache bezogene Fassung des Signifikats überwunden und den sprachlichen Habitus als Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Praxis gebührend hervorgehoben. Als weitere Beispiele für das Spannungsverhältnis von Sprache und Gesellschaft können Luhmann (2010) und Foucault (1999) genannt werden: Wie sensibel gepflegte Semantiken

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Hingegen artikuliert das Konzept des latenten Sinns ein gesellschaftstheoretisches Theorieprogramm und greift somit über den engeren Bereich des strukturalistischen Paradigmas hinaus. Damit ist ein Aspekt sprachpragmatischer Übersetzung angedeutet, der in eine hermeneutische Tradition und Theoriebildung eingebettet ist. Demnach bedeutet Übersetzung weniger, den manifesten Sinn einer sprachlichen Äußerung nachzubilden, sondern richtet die Aufmerksamkeit vermehrt auf den latenten Sinn sprachlicher Bedeutungen. Zweifellos ist diese Unterscheidung zwischen dem manifesten und latenten Sinn relativ, oder besser analytisch: Der latente Sinn ist im Manifesten präsent. Im latenten Sinn sind zudem die Bürden der Sozialisation, die habitualisierten Normen, das kollektive Bewusstsein und nicht zuletzt die performative Macht einer Lebensform verborgen. Dementsprechend lässt sich eine Übersetzung viel umfassender durchführen. Dabei wird jedoch nicht auf die objektive Texthermeneutik Oevermanns (2000) Bezug genommen, die allein an der Rekonstruktion »objektiver Metastrukturen« (Reichertz 1991, 228) durch den latenten Sinn sprachlicher Äußerungen interessiert ist. In einer sprachpragmatischen Übersetzung kommt es nicht darauf an, die hinter den subjektiven Deutungen verborgenen objektiven Bedeutungsstrukturen einer Originalsprache in eine Zielsprache zu übertragen. In einer pragmatistischen Übersetzungstheorie kann man den latenten Sinn als ein Ensemble von tiefsitzenden Mikro- und Makrobedeutungsstrukturen sprachlicher Bedeutungen beschreiben, die symbolisch wie ein Schatten im Hintergrund jener Bedeutung laufen und in denen sinnhafte kommunikative Lebensweltbezüge und systemische Imperative wiederkehren. Somit werden die Ebene des Verstehens und die hermeneutische Kompetenz erweitert. Durch diese Erweiterungen, einschließlich pragmatisches Übersetzungshandeln, lassen sich dann Übersetzungsirritationen und Verluste, Inkonsistenzen sowie Überinterpretationen relativieren. Abschließend ist die sprachpragmatische Übersetzung weder eine Assimilierung oder Kolonisierung (Habermas) der Ausgangssprache durch eine Auflösung der Differenz, noch ist sie primär an der systemimmanenten Fixierung (etwa der grammatikalischen Formenlehre und den Verwendungsregeln) der Sprache interessiert, sondern vielmehr daran, wie diese latente Sinnstrukturen (z.B. verborgene Bedeutungsebenen) kommuniziert. Bis jetzt wurde der latente Sinn – unter Berücksichtigung makroanalytischer Ansätze der Tiefenhermeneutik – als ein Grundbegriff pragmatistischer Übersetzungstheorie eingeführt. Im Folgenden wird dieser

(Schriftsprache) auf primäre sozialstrukturelle Umstellungen der Differenzierungsform reagieren, zeigt Luhmann anschaulich in »Sozialstruktur und Semantik«. Aus einer poststrukturalistischen Perspektive legt Foucault in »Les mots et les choses« (1966) nah, wie die Tiefenstruktur diskursiver Formationen (Episteme) mit Epochen des Wissens (Renaissance, Klassik und Moderne) qualitativ variieren.

2. Der latente Sinn als Verbindung zwischen Empirie und Theorie

paradigmatische Begriff methodologisch als Erhebungs- und Analyseinstrumentarium qualitativer Daten eingesetzt. Insofern geraten sowohl der Feldzugang und die Erhebung qualitativer Daten als auch die hermeneutische Interpretation von Übersetzungen gleichermaßen in den Fokus des latenten Sinns. Davon ausgehend, dass eine kulturelle Rechtspraxis auch auf eine Übersetzungshandlung hinweist, scheint es zudem geboten, den Übersetzungsbegriff gesellschaftstheoretisch anzusetzen, um die kulturell-praktischen sowie die funktionalen Imperative des multipel differenzierten Familienrechts adäquat zu erforschen. Mit dieser theoretischen Entscheidung wird eine weitere abstrakte Reflexionsebene artikuliert, auf der Fragen nach der Integration personaler Identitäten und postkolonialer Interaktionsmilieus in das Familienrecht analysiert werden. Die grundlegende methodische Konzeption entstand aus einer makrotheoretischen und wissenssoziologisch angelegten Hermeneutik der Münsteraner Soziologie2 . Eine so verstandene Hermeneutik artikuliert zwei analytische Bezugspunkte: Einerseits ein methodologisches Konzept und andererseits ein gesellschaftstheoretisches Programm. Das Erstere verweist auf spezifische Methoden der Datenerhebung und Interpretation, die für eine theoretisch angeleitete empirische Forschungsweise von zentraler Bedeutung sind. Eine Hauptdifferenz zu herkömmlichen qualitativen Methoden liegt im hermeneutischen Verfahren begründet (mehr hierzu: Renn 2013; 2018). Eine weitere signifikante Differenz liegt darin, dass die Makroanalyse Empirie und multiple Gesellschaftstheorie im hermeneutischen Verfahren verbinden kann, welche den weltgesellschaftlichen Horizont der allgemeinen Übersetzungstheorie im Gegensatz zu anderen Methoden wie ein »rationalisme appliqué« intakt lässt (Bachelard 1970). Beispielsweise formuliert die objektive Hermeneutik, die eine Interpretation von Makrostrukturen beansprucht, keine Methoden der Datenerhebung (Wernet 2009: 13, Fn. 3). Wissenssoziologische Ansätze wiederum formulieren zwar eigene Erhebungsinstrumente, bleiben aber bei der hermeneutischen Interpretation der Daten meist auf der Interaktionsebene haften. Es geht bei der Verbindung von multipler Differenzierungstheorie und qualitativer Empirie nicht zuletzt auch um eine soziologische Tradition, die seit Durkheim für die Theoriebildung unverzichtbar ist. Als Datenquellen und Erhebungsinstrumente kommen in der makroanalytischen Tiefenhermeneutik eine Vielzahl von Techniken in Betracht, wie die teilnehmende Beobachtung, das qualitative Interview oder auch bestehende Theorien. Die mit dem jeweiligen Forschungsvorhaben zusammenhängenden Fragestellungen haben dabei wesentlichen Einfluss auf die Wahl der Untersuchungsmethodik. Für das Forschungsanliegen wurde eine qualitativ latente In2

Diese Methodik wurde von Renn in den letzten Jahren entwickelt und u.a. im Rahmen der Arbeitsgruppe »Makroanalytische Tiefenhermeneutik und multiple Differenzierung« am Institut für Soziologie der Universität Münster betrieben.

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terviewform gewählt. Diese Interviewform ist primär aus interaktiven Kommunikationen in der Münsteraner Arbeitsgruppe hervorgegangen und durch eine Reihe charakteristischer Merkmale und methodologischer Leitlinien gekennzeichnet. Dies wurde in einer Folge von Ausweitungs- und Abgrenzungsversuchen im Vorfeld überprüft und präzisiert. Die Pointe besteht darin, explizite Fragen im strukturierten Leitfaden zu vermeiden und die Antworten aus jener Sprache latent zu gewinnen. Eine Hauptprämisse dieser empirischen Vorgehensweise war es, das Forschungsanliegen im Feld nicht explizit zu erwähnen. In diesem Sinne wurde das Familienrecht durch die Familie ersetzt. Gleiches gilt auch für die formulierten Fragen im Leitfaden, die im Vorfeld methodologisch auf der Grundlage des latenten Sinns ausgearbeitet wurden. Dementsprechend wurde das Forschungsthema allgemein gehalten. Die Bedeutungsstrukturierung der sozialen Wirklichkeit wurde somit den Befragten überlassen. Beispielsweise wurde das Heiratsalter der Frauen im reformierten Familienrecht auf 18 Jahre angehoben. Um zu erfahren, wie die Berbermilieus auf das neue Gesetz reagieren, wurde die Frage folgendermaßen formuliert: Wie sehen Sie die Unterschiede zwischen der Stadt und dem Land bei der Umsetzung des neuen Familienrechts? (Frage aus dem Leitfaden) Offensichtlich basiert dieses Verfahren auf dem Differenzschema latent/manifest, aktiviert jedoch die latente Sinndimension für die Formulierung der Fragen und die Erhebung der Daten. Bei dieser Vorgehensweise zeigen sich im Übrigen auch Unterschiede zu weiteren qualitativen Methoden der Datenerhebung wie dem »problemzentrierten Interview« (Witzel 1985; Lamnek 1989), dem »episodischen Interview« (Flick 2011) oder auch dem »narrativen Interview« (Schütze 1983). Denn diese Interviewform enthält u.a. keine »Stimulierung« (Lamnek 1989, S. 75) durch Erzählanstöße oder Alltagsbeispiele, die im problemzentrierten Interview angewendet werden. Überdies werden im Verlauf der Interviews keine »ad-hoc- Fragen« gestellt. Darüber hinaus wird auf Instrumente verzichtet, die im episodischen Interviewverfahren Anwendung finden (zum Beispiel »Erzählaufforderungen«, die das Forschungsfeld stark eingrenzen). Stattdessen wird mit dieser Interviewform Wert darauf gelegt, dass die Forschungsthematik latent berührt wird. Diese Praxis der Subtilität beinhaltet ein Gewebe semiotischer Spuren und sichert die Offenheit und Unvoreingenommenheit sowohl gegenüber den Untersuchungspersonen als auch gegenüber der Untersuchungssituation. Offenbar gehören beide Kategorien – Offenheit und Unvoreingenommenheit – zu den Leitprinzipien sämtlicher o.g. qualitativen Methoden. Wie können aber diese Prinzipien realisiert werden, wenn die Befragten in ihren Äußerungen durch Explizitheit (unmittelbare Einführung in die Thematik und explizite Fragen und Nachfragen) semantisch eingeschränkt und somit vorbelastet werden? Solch eine methodische Steuerung kann zweifelsohne dazu führen, die »Kanalisierung« und »Überwachung diskursiver Praktiken« (Foucault 1999, 54ff.) im Forschungs-

2. Der latente Sinn als Verbindung zwischen Empirie und Theorie

feld zu institutionalisieren3 . Die Methodik, durch implizite Fragen Daten zu erheben, ist anspruchsvoll und zeitaufwändig, da die Forschungsfragen nicht immer schnell beantwortet werden. Es wurde im Feld erkennbar, dass der Grad der Involviertheit den latenten Einstieg der Interviewpartner in die Thematik qualitativ beeinflusste: Akteure (z.B. Rechtsanwälte) konnten den Begriff des Familienrechts praktisch schneller in »diskursives Bewusstsein« (Giddens 1992, 91–95) überführen als jene (z.B. islamische Rechtsgelehrte), die sich in der Lebenspraxis dem Familienrecht nur mittelbar widmen.

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Ein Paradebeispiel für derlei Forschungspraxis stellt u.a. eine wissenssoziologische Hermeneutik dar, Stichwort: Kommunikativer Konstruktivismus (2012).

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3. Sprachliche Übersetzung

Die empirische Forschung und qualitativen Interviews der vorliegenden Dissertation wurden auf Arabisch durchgeführt und von dem Doktoranden ins Deutsche übersetzt. Denn in der Alltagswelt kommunizierte die Zielgruppe in Fes und im Mittleren Atlas interaktiv in lokalen Sprachformen, die in eingespielten Habitus Formationen inkorporiert waren. Daher erfolgte die Erhebung empirisch gesicherter Daten von Beginn an adäquat in Verbindung mit einer sprachlichen Verständigung. Bei solchen Forschungspraktiken kommt der sprachlichen Übersetzung eine wichtige Rolle zu, nicht nur deshalb, weil die symbolischen Zeichensysteme und kulturellen Handlungscodes der Befragten in interkulturellen Kommunikationen anschlussfähig werden, sondern auch, weil semantische Grenzbeziehungen und Fremdheitserfahrungen zwischen differenten »Sprachspielen« und kulturellen »Lebensformen« (Wittgenstein 2013) zumindest pragmatistisch-diskursiv überwunden werden. Daher war die symbolische Grenzüberschreitung eine dreifache: Vom Berberisch-Arabischen wurde zuerst ins Deutsche und dann in die soziologische Sprache übersetzt. Im Letzteren wird im weiteren Verlauf die zentrale Rolle der Übersetzungstheorie und der Makrohermeneutischen Tiefenhermeneutik deutlich, die weit über eine sprachliche Übersetzung hinausgeht und als ein infrastrukturelles Untersystem »allgemeiner Übersetzungsverhältnisse« zu verstehen ist (Renn 2006). Diese Konzeption von Übersetzung geht weit hinaus über eine rein sprachphilosophische: Sie impliziert, dass Übersetzung in einem soziologischen Kontext und nicht nur in einem sprachphilosophischen oder epistemologischen Rahmen aufgefasst werden kann. Damit erweitert sich der Sinn sprachlicher Übersetzung und kann auch nicht länger nur ein Gegenstand semiotischer Innenverhältnisse oder interaktionistischer Wissenssoziologien sein. Durch die makrohermeneutische Interpretation wird sichtbar, dass Übersetzbarkeit im Modus einer Linearität der Bedeutungsübertragung zwischen (entfernt verwandten) Sprachen nicht möglich ist und eine Übersetzung lediglich in einem kreativen Prozess des symbolischen und praktischen Gebrauchs kultureller Bedeutungen entstehen kann. Ideengeschichtlich betrachtet hat der Begriff der kreativen Übersetzung eine eminente Tradition und taucht bereits bei Schleiermacher in der »Übersetzungshermeneutik« (1969) oder bei Apel (1982) unter der Kategorie der »Sprachbewegung« auf. Man

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Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse

könnte weitere Beispiele anführen. Die Problematik liegt jedoch darin, dass diese ausdifferenzierten Reflexionen den Begriff der Kreativität von den jeweiligen Sprachauffassungen und Paradigmen ableiten und in der Innenwelt der Zeichen operieren1 . Das kreative Handeln in einer sprachpragmatischen Übersetzung geht aber noch weiter als nur bis zu einem kreativen oder aktiv- schöpferischen Zugriff auf sprachliche Bedeutungsidentitäten. Mit kreativem und pragmatischem »Übersetzungshandeln« (Renn 2002) sind überdies praktisch kulturelle und sinnhafte kommunikative Imperative gemeint, um sowohl die Sprachbedeutung als auch den Handlungstyp durch Interpretation in der Übersetzung multipler Ordnung zu bestimmen. Hier wird in der tiefenhermeneutischen Makroanalyse eine Interpretation des latenten Sinns herangezogen, nämlich entlang der Bewegung von konkreteren Rechtshandlungen zu abstrakten Integrationseinheiten und multiplen Differenzierungsformen. Damit ist aber nicht die Methodenlehre der sogenannten »doppelten Anverwandlung« gemeint (Schröer 2007; 2013, 61–75), in der »(1.) der kulturvertraute Co-Interpret nach der Einführung in die methodischen Prinzipien das Datenmaterial interpretiert und daraufhin analogisierend übersetzt, danach (2.) die erstellte Übersetzung gemeinsam mit deutschen Interpreten gedeutet wird, anschließend (3.) eine weitere hermeneutische Ausdeutung des gemeinsamen Interpretationsgesprächs stattfindet, die (4.) in mehrere Kontrollinterpretationen und -sitzungen zerlegt wird, und abschließend die endgültige Interpretation vom deutschen Interpreten übersetzt wird«. Eine soziale Übersetzungspraxis geht hingegen – in der vorliegenden Dissertation – von einem Übersetzer aus, der vom »sprachlichen Habitus« her (Bourdieu) in beiden Sprachen, der arabischen und der deutschen praktisch »zuhause« ist. Zudem richtet sich hier der Blick bei der Interpretation des Originals vielmehr auf den »latenten Sinn« (Renn 2013; 2018), der in die arabischen Inhalte inkorporiert ist. In diesem übersetzungstheoretischen Zusammenhang tauchen auf methodischer Ebene völlig neue paradigmatische Fragen für die qualitative Sozialforschung auf. Exemplarisch hierfür wurden Forschungen zum multipel differenzierten Familienrecht im marokkanischen Mittelatlas bei einem postkolonialen Berbermilieus und in der Stadt Fes erörtert. Wenn man erst einmal an diesem Punkt angelangt ist, wird der Weg für eine allgemeinere, soziale Übersetzung geebnet. Hier wird eine hermeneutische Interpretation des latenten Sinns herangezogen, nämlich entlang der Bewegung von konkreten Rechtshandlungen zu abstrakten Integrationseinheiten mit verschiedenen Differenzierungsformen. Stufenweise werden zunächst regionale Übersetzungen des Familienrechts auf die Erfahrungswelt der Akteure in Interaktionen und kulturellen Lebensformen transferiert. Es wird sichtbar, dass das pragmatische Rechtshandeln latent auf 1

Die Erkenntnis, dass rational und normativ orientierten Handlungstheorien eine kreative Dimension des Handelns hinzuzufügen ist, hat besonders Hans Joas (1992) hervorgehoben.

3. Sprachliche Übersetzung

strukturelle Verstrickungen in Organisationsformen funktionaler und kultureller Differenzierung verweist, die mit differenten und ungleichen Formen der Rechtskommunikation operieren (Orientierung an binärer Codierung vers. habituelles, implizites und teil-explizites Rechtswissen). An dieser Stelle wird der Weg von der Handlungstheorie zur differenzierungstheoretischen Analyse vorbereitet: Das Familienrecht, das in einem ausdifferenzierten Rechtssystem operieren kann, stößt in der multiplen Differenzierung unweigerlich auf habituelle Rechtspraktiken. In dieser postkolonialen Konstellation wird ein »third space« (Bhabha 1990) sichtbar, der sich zwischen dem Raum des kodifizierten Familienrechts und dem Raum des Gewohnheitsrechts öffnet. Hier werden auf der Handlungsebene strategische Aneignungen von Rechtsbedeutungen und Sprachspielen durch pragmatische Rechtskniffe vollzogen, die über die symbolischen Grenzen von Machtfigurationen und ihrer performativen Praktiken hinweg als »vertikale Übersetzungen« unter dem Primat »multipler Gesellschaftsdifferenzierung« (Renn 2014) deutlich werden.

3.1 Sprachpragmatische Übersetzung Im Folgenden werden theoretische Vorüberlegungen herangezogen, um die Bedeutung einer sprachpragmatischen Übersetzung darzulegen. Eine sprachliche Übersetzung im Sinne einer Tätigkeit von grenzüberschreitendem Verstehen ist nur auf der Basis der Sprache möglich. Denn Sprache ist zugleich Gegenstand und Medium der Übersetzung und erhält in diesem Sinne eine paradigmatische Rolle. In der pragmatischen Sprachsoziologie geht die gesellschaftliche Funktion der Sprache über die bloße Bereitstellung von Vokabular und grammatischen Regelsystemen oder die Ausstattung der Zeichen mit sinnhaften Bedeutungen hinaus. Sprache ist zudem nicht nur als funktionales Hilfsmittel der Kommunikation und Strukturbildung in sozialen und psychischen Systemen zu begreifen, wie Luhmann seit der autopoietischen Wende (1984) postuliert, sondern zugleich eine Bedingung für die Möglichkeit (Vorstruktur) von Sozialität. In »Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt« (2003) versteht Schütz beispielsweise Sprache in Anlehnung an Weber als soziale Handlung, mittels derer die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft intersubjektive handlungsbezogene Erfahrungen kommunikativ in Interaktionen reproduzieren, wie z.B. die reziproke Wahrnehmung einer gemeinsam geteilten Lebenswelt (s. Söffner et al. 2003, 10f.). Überdies entspricht jede Sprache einer bestimmten Weltanschauung und objektiviert durch die semantische und syntaktische Struktur sowohl die Typisierungen der Lebenswelt als auch die Auslegungen und Erfahrungsschemata der Mitglieder einer Gesellschaftsstruktur (Schütz 1981, 60 und 209f.; Schütz/Luckmann 2003, 318–336). An Schütz anschließend, nimmt Habermas (1981) den Lebensweltbegriff auf, erweitert ihn makrotheoretisch (Renn 2006, 235f.) und betont die Zusammenzugehörigkeit von welterschließender Spra-

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che und intersubjektiv geteilter Lebenswelt. Denn das kommunikative Handeln, das einer Handlungsrationalität folgt, ist wesentlich in die Sprache eingebaut und außerhalb der Welt einer Sprache undenkbar. Dies bedeutet, dass sprachliche Äußerungen über deskriptive Sätze hinausgehen2 . Sprachliche Äußerungen erzeugen auf der Basis der Geltungsorientierung strukturelle Kopplungen zwischen der subjektiven Welt (religiöser Glaube, Bewusstseinszustände), der sozialen Welt (Normen des Handelns in Interaktionsordnungen) und der objektiven Welt (das Ensemble der Objekte). Habermas (1992a, 125) legt viel Wert darauf, von verschiedenen Weltbegriffen auszugehen (die ihrerseits von der Lebenswelt zu unterscheiden sind), um »den Weltbegriff von seinen ontologischen Konnotationen à la Popper zu befreien«. In diesem Sinne ermöglicht die Sprache eine kommunikative Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung und ist aufgrund der Geltungsorientierung in die pragmatischen, semantischen Regeln einer Diskursgemeinschaft inkludiert (Habermas 1981, 143). Habermas betont, dass das Verstehen einer sprachlichen Äußerung unmittelbar mit deren Geltungsansprüchen, die das Spezialwissen einer Gemeinschaft einschließen, zusammenhängt (1988, 105f. und 2009, 12f.). Dadurch impliziert sprachpragmatische Übersetzung in der Regel auch immer eine Übersetzung bestimmter Lebensformen, Weltbezüge und Geltungsansprüche von Normen und kann deshalb nicht losgelöst von sprachabhängig konstruierter gesellschaftlicher Wirklichkeit praktiziert werden. Diese heuristischen Prämissen sprechen daher für einen pragmatisch angelegten, methodologischen Zugang zum »Übersetzungshandeln« (Renn 2002), dass das essenzielle Ziel hat, vor der Übersetzung sprachlich-fixierte Äußerungen einer pragmatischen Diskursgemeinschaft im Horizont ihrer Lebensweltbezüge und Gebrauchsbedeutungen durch »kreatives Handeln« (Joas) in einen verstehbaren Sinnzusammenhang zu stellen. Dieses Verfahren löst sich deutlich von der Vorstellung von Übersetzung als linearer sprachlicher bedeutungserhaltender Übertragung der Sinngehalte einer Sprache in eine andere – eine solche Vorstellung läuft Gefahr, den Sinn zu atomisieren (Benjamin 1972, daran anschließend Derrida 2007). Am Beispiel literarischer Kunstwerke legt Benjamin (1972) den Gedanken zugrunde, dass in einer Übersetzung einzelne Wörter nicht vertauschbar sind. Daher sei es die Aufgabe des Übersetzers, Abstand vom Wort zu nehmen und die

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Analytisch unterscheidet Habermas (Habermas & Luhmann 1979, 102) zwischen Äußerung und Satz. Demzufolge sind Sätze linguistische Einheiten und bestehen aus sprachlichen Ausdrücken. Äußerungen sind hingegen »situierte Sätze, d.h. pragmatische Einheiten der Rede«. Der Sprecher verwendet zugleich in seinen Äußerungen Sätze, um sich zu verständigen. Eine Verständigung kommt jedoch nur zustande, wenn die Kommunikationspartner (1) die Ebene der Intersubjektivität und (2) die Ebene der Gegenstände (d.h. Ereignisse, Personen, Erzählungen, Zustände) gleichzeitig betreten (ebd.: 104).

3. Sprachliche Übersetzung

»Art des Meinens« im Original in der Zielsprache zu rekonstruieren (ebd.: 14). Nur auf diese Weise kann die Unübersetzbarkeit der Sprache überwunden werden. Benjamins übersetzungskritische Haltung berührt überdies ein zeitliches Argument, das sich auf die apodiktische Wandelbarkeit und Bewegung der Sprache (z.B. Ton und Bedeutung) stützt. Deshalb besteht die sprachphilosophische Aufforderung Benjamins darin, relationale Begriffe in ihrer Geschichtlichkeit zu betrachten und den Sinn in der Subjektivität der Nachgeborenen, statt im Wesen einer Sprache zu suchen (ebd.:11ff.). In ähnlicher Weise argumentiert auch Derrida (2007; 1986, 56), dass sich eine zulängliche Übersetzung nicht am Ideal der Linearität, sondern an der zentralen Grundunterscheidung von Signifikanten und Signifikaten orientieren soll. Eine Unterscheidung, die Derrida von de Saussure (2001) übernimmt. De Saussure zufolge setzt sich ein sprachliches Zeichen aus Signifikanten (Lautbild) und Signifikaten (Bedeutung) zusammen. Demzufolge sei eine Übersetzung als Bedeutungsübertragung des Signifikats möglich (Derrida 1986, 56; daran anschließend Stäheli 2000, S: 138)3 . Eine Übersetzung ist jedoch nicht als »entweder völlig möglich« oder »ganz unmöglich« zu verstehen, sondern ist eher eine Annäherung an die andere Sprache und eine Verschiebung des Eigenen (Renn 2006, 172f.), gleichwohl eine Erweiterung und Vertiefung des Eigenen durch die fremde Sprache (Benjamin 1972). Diese Auffassung sprachpragmatischer Übersetzung mag dem Leser noch neu erscheinen. Um sie zu illustrieren, wird ein Satz aus einem qualitativen Interview, das in Mittleren Atlas durchgeführt wurde, herangezogen: »Die künftigen Eheleute können mit Fatiha heiraten, und danach gehen sie ins Gericht, um die Anerkennung der Ehe zu beantragen.« (2013,13). So würde eine sprachliche Übersetzung aus dem Original erscheinen, wenn man den latenten Sinn nicht berücksichtigen würde. Aber was ist »sie« und worauf bezieht sich »sie« im Satz? Es scheint zunächst, als wäre »sie« schon durch das Subjekt im Satz vordefiniert, was jedoch nicht der Fall ist. Es gäbe keine Möglichkeit, »sie« adäquat zu übersetzen, ohne zunächst eine praxeologische Vorstellung jener Interaktionsordnung, in der latente Sinnstrukturen am Werk sind, miteinzubeziehen. Denn bei einer Fatiha-Ehe in einem Berbermilieu sind die künftigen Eheleute zunächst der Obhut und Macht ihrer Herkunftsfamilien, die sie repräsentieren, unterstellt. Etymologisch bezeichnet Fatiha die erste Sure im Koran, die man u.a. fünfmal am Tag bei der Verrichtung des Pflichtgebets rezitiert. Im Satz weist Fatiha jedoch nicht auf eine religiöse Praxis in einer Moschee oder in einem mystischen

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Auf weitere Aspekte der Übersetzung bei Derrida kann hier nicht eingegangen werden. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion als Übersetzung siehe etwa Dizdar 2006.

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Raum hin. Mit Fatiha ist ein mündlicher Ehevertrag in der Form eines posttraditionellen Rituals gemeint, der sowohl die Herkunftsfamilien als auch die Mitglieder der Gmaa umfasst4 . Die Anwesenheit der Gmaa ist für die Durchführung des Rituals und die Besiegelung der Ehe von enormer Bedeutung, weil sie im Konfliktfall jederzeit zu einer rechtlich verbindlichen Institution wird. Mit dem gemeinsamen Vorlesen der Fatiha treten dann die vereinbarten Vertragsbedingungen zwischen beiden Herkunftsfamilien in Kraft. Somit wird kein Vertrag unterzeichnet, und die Ehe wird noch nicht von einem Standesbeamten registriert. In diesem Sinne wird die Eheschließung noch von den geordneten Bahnen des habituellen Gewohnheitsrechts bestimmt. Mit der Einführung des neuen Familienrechts können sich nun die Eheleute und vor allem die beiden Familien der staatlichen Registrierung nicht mehr entziehen und sind dazu verpflichtet, die Fatiha-Ehe von einem Familienrichter anerkennen zu lassen. Hierfür sind die Aussagen der Zeugen, also der Gmaa-Mitglieder, entscheidend. Das bedeutet, dass die Eheleute mit den beiden Familien und Vertretern der Gmaa ins Gericht gehen, um die Anerkennung bzw. Registrierung der Ehe zu beantragen. Dieser informative Überblick legt nahe, dass ein Subjekt oder ein sprachlicher Ausdruck wie »sie« an eine Lebensform im Sinne Wittgensteins gekoppelt und erst durch eine praxeologische Vorstellung von »Handlungsketten« (Simmel) zu bestimmen ist. Wenn man »sie« interpretativ auf das Subjekt »Die künftigen Eheleute« reduzieren würde, bekäme man in der Übersetzung eine bloße Verzerrung, durch die latente Sinnstrukturen und signifikante Andere in der multiplen Differenzierung unberührt blieben. Daher lautet eine gelungene Übersetzung: »Die künftigen Eheleute können in Anwesenheit beider Familien und Vertreter der Gmaa mit Fatiha heiraten und danach gehen sie gemeinsam ins Gericht, um die Anerkennung der Ehe zu beantragen« (ebd.). Dieses Beispiel aus der Übersetzungsarbeit macht deutlich, dass die sprachpragmatische Übersetzung keineswegs nur auf sprachliche Äußerungen zu reduzieren ist. Die Übersetzung muss interpretativ an Handlungszusammenhänge anschließen, um die Leerstellen zwischen Signifikat und Signifikant mit praktischem Sinn anzureichern und somit die sprachliche Bedeutung an das situative Handeln der Beteiligten rückzukoppeln.

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Berque (2001, 496) vergleicht in seinen rechtsethnologischen Studien zum Maghreb die juristischen Qualifikationen der Gmaa mit einem »sénat tribal«. Eine ausdifferenzierte Beschreibung dieser posttraditionellen Institution liefern die marokkanischen Soziologen Tozy und Lakhassi (2004, 185f.).

4. Reaktivität des Forschungsfeldes

Durch die makrotheoretischen Ergebnisse, die u.a. in dem Kapitel »Soziologische Rechtsbegriffe« sowie »Recht und Politik« dargestellt wurden, wurde die Gültigkeit eines interaktiven, multipel differenzierten Familienrechts eingeordnet. Dabei wurde die paradigmatische Beschränkung auf die primäre funktionale Differenzierung durch die multiple Differenzierung umgeformt, die durch eine funktionaltheoretische, kulturell- praktische und regionalspezifische Differenzierung charakterisiert ist. Daraus ergibt sich eine trianguläre Integrationseinheit des Rechts, die strukturell sowohl das positive Recht als auch das religiöse Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht einschließt. Dementsprechend wurden diese kreativen Prämissen in der Logik der makroanalytischen Tiefenhermeneutik und methodologisch im Forschungsfeld eingesetzt und gesellschaftsanalytisch nach der Datenerhebung reflektiert. Es muss aber erwähnt werden, dass im Rahmen einer übersetzungstheoretischen Grundbegrifflichkeit nicht nur die selektiven Funktionssysteme, sondern auch jedes Forschungsfeld in seiner Gesamtheit mit einer Zwei-SeitenForm Kopplung/Lose Kopplung operiert. Eine soziologische Kopplung beinhaltet die nichtlineare praktisch-performative Reduktion von systemischer Komplexität, mittels derer die praktisch-qualitative Umsetzung des Forschungsvorhabens möglich wird. Innerhalb dieser Differenz existiert eine sinnhaft lose Kopplung; diese kann unzählige empirische Gründe für ihre Negation aufweisen. Diese lose Kopplung bleibt aber für einen eventuell weiteren – gegenwärtigen oder späteren – Feldzugang bestehen, und jede*r Forscher*in kann sich daran orientieren und gegebenenfalls Anschlüsse für eine weitere Gesellschaftsanalyse aufspüren. Wie Foucault in »surveiller et punir: Naissance de la prison« oder Goffman in »Asyle« eindrucksvoll analysiert haben, kann diese Reaktivität des Feldes nicht nur in totalen Institutionen eintreten, z.B. bei der Erforschung der alltäglichen Interaktionen im Gefängnis oder in einer Psychiatrie, sondern jedes empirische Forschungsfeld kann sich durch eine qualitative (oder quantitative) Reaktivität auszeichnen und dementsprechend auf die Forscher*innen reagieren. Denn die Reaktivität des Feldes ist eine »Begleiterscheinung sozialwissenschaftlicher Erhebungsmethoden« (Scholl 2013, 79) und kann handlungstheoretisch – wie bei Esser – oder system- und kommunikationstheoretisch – wie bei Merton – analysiert werden (ebd.: 82–85).

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Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse

Diese methodologische Trennung wird in der vorliegenden Dissertation nicht verfolgt und die Reaktivität des Feldes nicht lediglich auf der Interaktions- oder Mesoebene aufgespannt. Überdies wird das Reaktivitätsphänomen keineswegs als »falsche, invalide oder fehlende Daten« (ebd.: 95) gedeutet. Im Rahmen der multipel differenzierten Gesellschaftstheorie wird die Reaktivität des Feldes überdies nicht als eine Störung der Kontaktschließung betrachtet, sondern als ein reflexives Artefakt der performativen und handlungspraktischen Welt, das in kommunikationstheoretischen Integrationseinheiten transzendiert. Die Reaktivität des empirischen Feldes muss in der Makrohermeneutischen Gesellschaftsanalyse an die makrotheoretischen Annahmen rückgekoppelt werden, um sie zunächst auf das Forschungsfeld in seiner strukturellen Gesamtheit zu beziehen, z.B.: Wie reagiert ein Interaktionskosmos bei dem ersten empirischen Eingang auf die Forscher*innen? Wie wirkt die Beantragung/Nichtbeantragung oder die Erlaubnis/Nichterlaubnis eines Forschungsprojektes bei den zuständigen Behörden auf den gesamten Prozess ein? Und wie sensibel ist die Forschungsthematik im Verhältnis zu anderen Integrationseinheiten wie Milieus, Organisationen oder Systemen? Erst nach diesen methodologischen Ausführungsbestimmungen (mehr hierzu im obigen Kapitel Methodologische Reflexionen) kann man mit der hermeneutischen Kreisbahn ins Feld einsteigen und seine Reaktivität durch einen habitualisierten interkulturellen Code verringern. Dazu gehört erstens, die Formen des jeweiligen latenten und manifesten habitualisierten »Sprachgebrauchs« (Wittgenstein) der Untersuchungsgemeinschaften zu inkorporieren oder diese Formen mindestens zu erlernen, um anschließend ohne Alterität interaktiv zu kommunizieren. Denn eine als »klein« oder »unwichtig« wahrgenommene Handlung kann beträchtliche empirische Folgen für die gesamte Forschung nach sich ziehen. Hier kann man trotz der theoretischen Unstimmigkeiten an die zeit- und sprachaufwendige Feldforschung u.a. von Malinowski in Kiriwina, einer der Inseln von Papua-Neuguinea, an Geertz im marokkanischen Hochatlas oder an Bourdieu mit Sayad bei den algerischen Berbern erinnern. Zweitens gehört dazu, diese latente vorgeübte makrohermeneutische Vorgehensweise in der Forschungsgruppe, z.B. der Universität, ins Feld einzusetzen und zwischen dem Sichtbaren und seinen Schattenbewegungen, wie den Interaktionen der Körpersprache mit der Umwelt, zu oszillieren. Das bedeutet, als Forscher*in weder geheim noch direkt, sondern indirekt vorzugehen, um die Reaktivität der Untersuchungspersonen zu dezimieren. Drittens gehört dazu schließlich die Durchführung der Interviews (oder der teilnehmenden Beobachtungen), die immer eine bestimmte Form sozialer Interaktionen und keine chemische oder technische Apparatur zwischen Menschen und Robotern bezeichnet. In Bezug auf die Datenerfassung, die mithilfe von qualitativen Interviews durchgeführt wird, sorgt v.a. der Prozess der Befragung in der Interviewsituation für eine besondere Beeinflussung der Daten. Was im Augenblick der Befragung zwischen

4. Reaktivität des Forschungsfeldes

dem Interviewer und dem Befragten über das reine Fragen und Antworten hinausgeht, ist kaum erfassbar und nur schwer zu durchschauen. Das mag daran liegen, dass die Interviewsituation oft eher undifferenziert wahrgenommen wird. Oftmals wird der Interviewer als neutrales Ermittlungsinstrument betrachtet, das lediglich mit der Aufgabe der Übermittlung »verbaler Stimuli«, also Fragen und der konkreten Erfassung »verbaler Reaktionen« (Antworten) betraut ist, wohingegen der Interviewpartner als reiner Rezipient verbaler Stimuli gesehen wird, der auf diese Stimuli zu reagieren hat (vgl. Holm & Hübner & Mayntz 1971, 114f.). Dass diese Vorgehensweise bis heute oftmals nicht der Realität entspricht, lässt sich jedoch in fast jeder Interviewsituation immer wieder aufs Neue erfahren. Oftmals wird die Datenermittlung durch viele soziale Faktoren beeinflusst – das Verhalten der Befragten und Interviewern gleichermaßen – (ebd.: 116), wie mitten im Interview einen unerwarteten Anruf zu bekommen oder auch eine rufende Mutter im Hintergrund, wie es während des Interviews im Mittleren Atlas mit dem Dichter und Mitglied des postkolonialen Milieurats »die Gmaa« der Fall war. Nach dem Interview hatte der Dichter über mehrere Wochen die Forschung in seinem Dorf begleitet und auf berberisch Interviewpartner*innen angeworben, wobei die Interviews dann auf Arabisch realisiert wurden. Er hat als Erster die Mitglieder seines Dorfes nach ihrer Bereitschaft zur Durchführung des Forschungsvorhabens gefragt, was auch als eine sekundäre Reaktivität des Feldes wahrgenommen werden kann. Die Reaktivität des Feldes in der Interviewsituation gilt für das soziale Verhalten der Interviewer*in und der Befragte*in gleichermaßen und kann auf wissenspraktische, soziokulturelle, schichtspezifische oder soziale geschlechtsspezifische Faktoren zurückgeführt werden. Welche Vorfälle und Einflüsse nun explizit auf den Prozess der Datenermittlung während einer Interviewsituation einwirken, ist nur schwer einzeln rekonstruierbar, ihr Auftreten ist aber geradezu typisch für die klassische Datenerhebung. Interkulturelles Verstehen, latente und manifeste Deutungen, sprachpragmatische Übersetzung (wie oben bereits dargelegt) und psychologisches Verstehen (Lamnek 1988, 67) sind unverzichtbar für den gesamten Erhebungsprozess. Und es ist geradezu undenkbar, sich nach dem Feldausstieg an bestimmte Faktoren und Ereignisse zu erinnern, die die Daten explizit oder implizit beeinflusst haben. Oftmals haben unzulängliche Faktoren u.a. aufgrund der handlungstheoretischen Integrationseinheiten Einfluss auf die Datenerhebung und lassen sich durch die Feldnotizen oder Gedächtnisprotokolle graduell rekonstruieren. Wissenschaftliche Beobachtungen erster Ordnung der alltäglichen Erkenntnisleistungen können weder durch logische Tatbestände noch durch hermeneutische Interpretationen unverändert nachgeformt werden, darauf haben bereits u.a. Emil Durkheim und Alfred Schütz trotz ihrer methodologischen Unterschiede hingewiesen. Im Falle der vorliegenden makrohermeneutischen Untersuchung sind einige Reaktionen auf der spezifischen Logik des Feldes doku-

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Teil B – Feldforschung und qualitative Weltgesellschaftsanalyse

mentiert, mit denen im Vorfeld vereinzelt gerechnet wurde, wie die latente Ablehnung der Anfragen für die Durchführung von qualitativen Interviews im religiösen Zentrum und im Ausbildungsinstitut der Imame in der Stadt Fes, die möglicherweise mit den islamischen Bild- und Tonverbote zusammenhingen (siehe hierzu auch Dediro 2014, 112 Fn. 6). Vor Ort wurden sowohl der religiöse Vorsitzende, der sog. Ãlim, als auch Frauen, die ein theologisches Studium absolvieren müssen, um zu Imaminnen zu werden, und Personen, die in diesem Zentrum im religiös-wissenschaftlichen Rat arbeiten, gefragt, ob sie bereit seien, an einem qualitativen Interview teilzunehmen. Nach mehreren Besuchen, die im Sommer 2013 mehrere Tage in Anspruch nahmen, wurde die Teilnahme an der Studie zwar nicht direkt abgesagt, aber es wurden immer wieder Vorwände geäußert. Infolgedessen wurden andere qualitative Spuren verfolgt, um Vertreter des islamisch-malikitischen Rechts in der Stadt Fes zu eruieren und für die qualitative Forschung zu gewinnen. Daher wurden Rechtsgelehrte an der islamischen Universität Al Qarawiyyin und Professoren an der theologischen Fakultät der Universität in Fes u.a. durch Bekannte kontaktiert. Nach mehreren Absagen wurden vier latente Interviews in diesem Bereich des multipel differenzierten Familienrechts durchgeführt. Überdies wurden Rechtsanwält*innen in den Gerichten erster Instanz der Stadt Fes und in der Kleinstadt Khmissat für die latente qualitative Befragung aufgesucht. Trotz der Reaktivität des Feldes wurden u.a. sieben Interviews in den Büros der Rechtsanwält*innen, in den Cafés der Neustadt oder direkt in ihren zivilgesellschaftlichen Organisationen realisiert. Ein weiteres latentes Interview wurde in dem »Centre multifonctionnel Batha pour L’autonomisation des femmes victimes de violence basé sur le genre«, kurz le Centre Batha, mit einem Vorsitzenden geführt. Dieses Frauenzentrum ist einer der wenigen Institutionen (wenn nicht sogar die einzige) in der Stadt Fes. Es beschäftigt sich mit den geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen gegen Frauen und unterteilt sie methodologisch in körperliche und sexuelle Gewaltformen1 . Die gesellschaftliche geringe Thematisierung und weitgehende Ausblendung dieser fünf Gewaltformen erscheinen so, als ob »die sexuelle Differenz nicht in einer Höhe mit der ontologischen Differenz wäre« (Derrida 1988, 11). Generell zeichneten sich die Reaktionen der möglichen Interviewten auf die Anfragen für die Durchführung von qualitativen makrohermeneutischen Interviews durch eine

1

Psychische, strukturelle und v.a. symbolische Gewalt gegen Frauen werden im Frauenzentrum nicht behandelt. Zur symbolischen Gewalt siehe Bourdieu 1998; sowie 1976, 370 und daran im deutschsprachigen Raum anschließend Krais 1993, 231). Im deutschsprachigen Raum ist auch die Lenzsche Analyse (1995) zu nennen, die verschiedene Vergesellschaftungsund Vergemeinschaftungsprozesse umfasst. Für diese Triade als Koordinationssystem zur Analyse geschlechtsspezifischer Gewalterfahrungen in Gender-Paradoxien siehe auch (Teubner & Wetterer 1999, 26).

4. Reaktivität des Forschungsfeldes

hohe Reaktivität und Ablehnung aus. Daher empfiehlt es sich u.a. eine hinreichende Zeitachse und eine pragmatische Überzeugungskraft einzubringen, um die Reaktivität des Feldes zu verringern. Überdies ist es ratsam, sich vor dem Einstieg ins Forschungsfeld mit sozialen geschlechtsspezifischen, sozialkulturellen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren zu beschäftigen, um über das Forschungsfeld Hintergrundwissen zu sammeln. Dennoch sollte man nicht davon ausgehen, dass alle im Feld auftretenden Hindernisse eliminiert werden können oder sollten. Auch mögliche Forschungsprobleme und Irritationen während der Datenerhebung können bei einer späteren makrohermeneutischen Gesellschaftsarchitektur in der gesamten Analyse von Nutzen sein und neue Erkenntnisse liefern.

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

1. Einleitung

Die Makrohermeneutische Tiefenanalyse – wie sie dargestellt wurde – ist eine qualitative Forschungsmethode, die latente Sinneinheiten im Datenmaterial identifiziert und ihre Spuren von einer habituellen performativen Praxis bis hin zur multiplen Differenzierung aufspürt und interpretiert. Diese latente Vorgehensweise ist keine reine Mikrologie der Lebensform und interaktionistische Feinanalysen lokaler Artefakte, sondern die sozial einverleibten Praktiken transzendieren kreativ durch die makroanalytische Deutung in systemischer funktionaler Differenzierung und bilden eine Integration zweiter Ordnung. Das heißt, die funktionalen, die kulturell-praktischen und regionalen habituellen Differenzierungshorizonte interferieren indirekt über die symbolischen Grenzen hinweg im Spannungsfeld eines hermeneutischen Zirkels miteinander. Diese theoriegeleitete Forschungsmethode der Übersetzungstheorie kann im breiteren Untersuchungsfeld der differenten und operativ gekoppelten Integrationseinheiten, das heißt Personen, Milieus, Organisationen und Systeme, eingesetzt werden. Am Anfang der hier eingesetzten Makrohermeneutischen Tiefenanalyse befinden sich – abstrakt formuliert – die Personen, die als »eigene Integrationseinheiten« zu interpretieren und in horizontale »personale Übersetzungsverhältnisse« (Renn 2016, 260–282) verstrickt sind. Die personale, transitorische Identität ist aber nicht die primäre und einzige Integrationseinheit in der spätmodernen und multipel differenzierten Weltgesellschaft. Sie bildet auch keine strukturell gekoppelte Umwelt zu den anderen Integrationeinheiten. Stattdessen sind die Personen »hinter dem Rücken« (wie Renn es formulieren würde) durch vertikale Kaskaden der Übersetzung in nichtlokale Milieuformen, wie im Mittleren Atlas oder in der Stadt Fes, eingebettet. Diese eingespielten personalen und performativen Milieus sind in konditionale Rechtsprogramme »über den Köpfen« integriert, die wiederum in makrosoziologischen Funktionssystemen – wie dem Recht – der gelagerten Weltregionen strukturiert sind. Dementsprechend wird in der Makrohermeneutischen Tiefenanalyse die qualitative Erhebung von einzelnen pragmatischen Rechtshandlungen zunächst in ihrer kleinformatigen Umgebung und performativen Lebensform als eine erste Übersetzungsschicht rekonstruiert. In der zweiten Übersetzungsschicht wird die Integration von sinnhaften individuellen Handlungsrationalitäten

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

einer Lebensform und des Mikro-Milieus in der organisationalen und systemischen Rechtsordnung analysiert. Daran anschließend werden schließlich in der Übersetzung dritter Ordnung die pragmatischen handlungstheoretischen Rechtseinheiten auf dem Wege von Abstraktionsgraden in komplexen Sinnhorizonten als eine Integration zweiter Ordnung dargestellt. Hierfür wird der Grundbegriff des »latenten Sinns« (Renn 2013, 2014, 2016, 2018), der bereits in einer pragmatistischen Übersetzungstheorie und methodologischen Reflexionen eingeführt wurde, herangezogen.

1.1 Übersetzungen zwischen den gesellschaftlichen Rechten und dem positiven Familienrecht Die ausgewählten drei qualitativen Interviews a) mit einem Dichter und Mitglied der Gmaa, sog. »tribaler Senat« in einem Berbermilieu im Mittleren Atlas, b) mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Fes und c) mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Khmissat thematisieren Übersetzungen des neuen multiplen Familienrechts. Im hermeneutischen Verfahren werden die expliziten Aussagen des Interviewten nicht als chronologische Abfolge von Einzelereignissen paraphrasiert, sondern zunächst in Sequenzen zerlegt. Daraufhin werden die Spuren latent beteiligter Makrosinnstrukturen aus der Interaktionsebene heraus, das heißt indirekt von »unten nach oben«, oder von einer milieuspezifischen Lebensform hin zum internationalen Familienrecht als Integration zweiter Ordnung rekonstruiert und anhand der multiplen Differenzierungstheorie reflektiert. Dabei werden folgende Hauptthesen vertreten: 1. Die Übersetzungsleistungen des positiven Familienrechts tragen nicht zur Gleichberechtigung der sozialen Geschlechter bei, sondern verstärken latent und informell das Patriarchat in dieser Region der Weltgesellschaft. 2. Überdies werden die gesellschaftlichen Rechtsordnungen nicht durch eine »interkulturelle Kollision« untergeordnet, wie u.a. Teubner in Anlehnung an Luhmann postuliert, sondern im »multipel differenzierten Recht« (Nell 2020) übergehen sie auf der Integration zweiter Ordnung durch Rechtskniffe und Bedeutungsbrüche das positive staatliche Familienrecht, um eine Übersetzung multipler Ordnung zu bilden.

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

Das Interview im Mittleren Atlas beginnt mit einer Lokalisationsfrage »F: Wo befinden wir uns derzeit?« #00:00:10-1#«. Es handelt sich um die explizite Angabe des Ortes und nicht um ein Namenspiel bzw. eine Identifikation, die auf Variablen beruht. Dabei wird in der marokkanisch-arabischen Sprache der Begriff »daba«, übersetzt »derzeit«, verwendet, um eine Mehrdimensionalität zu deuten. Dies impliziert, mit der Zeitordnung nicht nur eine Bewegung oder eine Abfolge von Ereignissen zu bezeichnen (Luhmann 1984), sondern auch den Ort intersubjektiv zu bestimmen: Diese Einstiegsfrage gibt dem befragten Dichter die Möglichkeit, dem Stattfinden des Interviews im Horizont seiner kulturellen Lebensform zuzustimmen und seine Position als vorsitzendes Mitglied des informellen Rats zu bekräftigen. Diese Vorgehensweise ist zudem wichtig, um auf der Interaktionsebene des Interviews die »relationale Machtbalance« (Elias 2009) und die sozialstrukturellen vertikalen Differenzierungsgrade zwischen Europa und dem Maghreb, die von Kolonialisierung und Dominanz geprägt waren, möglichst zu neutralisieren. A: Wir sind, dieser Ort wird Stamm Ait Hmou Boulmann genannt, das Dorf Ait Lahssan (Stimmen im Hintergrund) #00:00:25-9#

Die strukturelle Beschreibung der sozialen Lebensform wird vom Dichter in Ait Lahssan mit dem Stammesbegriff, der eine segmentäre Differenzierung der Gesellschaftsstruktur impliziert, wiedergegeben. Diese subjektive Charakterisierung korrespondiert mit zwei herkömmlichen Forschungstypen: der kolonialen und postkolonialen Fremdinterpretation sowie der wissenschaftshistorischen Eigentradition, die das individuelle Rechtbewusstsein und spätmoderne Mikromilieus latent mitprägen. Somit hängt die individuelle Selbstdeutung des Dichters in einer traditionellen Stammesgesellschaft fest, ohne die Spuren eines »genealogischkontingenten« (Foucault 1966; 1977) Geschichtsverlaufs in dieser Region der multipel differenzierten Weltgesellschaft wahrzunehmen. Denn Stammesgesellschaften entstehen, wie Luhmann (1999, 634) feststellt, dadurch, dass die Gesellschaftsstruktur in »prinzipiell gleiche Teilsysteme gegliedert wird«. Das heißt, die Familie existiert

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

als primäre Differenzierungsform, und dazu herrscht lediglich ein traditionelles »repressives Strafrecht« vor (Durkheim 1977, 179ff.); religiöse und positive Rechtsformen bilden sich erst mit der sozialstrukturellen Entwicklung heraus. Überdies entspricht die Stammesgesellschaft einer mechanischen Solidarität, die nicht durch umgesetzte Leistung oder Arbeit veränderbar ist. Die Stämme können in dieser Differenzierungsform über den Familien gebildet werden, die methodologisch den primitiven Völkern‹ zugeordnet werden. Erst durch eine strukturelle »Katastrophe« (Luhmann) oder einen »epistemologischen Bruch« (Bachelard) kann sich die Gesellschaftsstruktur allmählich umwandeln: Von einer segmentär vorherrschenden Differenzierungsform hin zu einer Differenzierung nach »Zentrum und Peripherie«, dann zu einer »stratifikatorischen Differenzierung« und schließlich zu einer »funktionalen Differenzierung« (Luhmann 1999, 613), die in Anlehnung an Renn durch eine »multiple Differenzierung« (2006; 2014; 2016; 2018) der spätmodernen Weltgesellschaft umgebaut ist. Denn eine Gesellschaftstheorie der Differenzierungsformen kann sich nicht nur auf den Formenkatalog von System-zu-System-Verhältnis eingrenzen und muss dabei die kulturell- performative und regionale Differenzierungsformen miteinschließen. Das Recht ändert sich zugleich mit diesen sozialstrukturellen Wandelprozessen und wird sozialstrukturell zu einem »multipel differenzierten Recht« (Nell 2020) umgeformt. Dementsprechend muss man in diesem Punkt weder dem interviewten Dichter noch den herkömmlichen Deutungen folgen und eine segmentäre Differenzierung mit einem tribalen Rechtssystem in Ait Lahssan voraussetzen. Denn später im vorliegenden Interview tritt der berberische Dichter selber als Übersetzer zwischen dem habituellen Gewohnheitsrecht und dem positiven Recht am Beispiel der Verheiratung von Minderjährigen und der Mehrehe auf. Die Übersetzungsverhältnisse zwischen den staatlichen und gesellschaftlichen Rechtsordnungen sind überdies eine Übersetzung zwischen systemisch organisationalen Imperativen und performativen Handlungshorizonten. Und der Dichter – als postkoloniales Individuum – ist selbst in diese Übersetzungen miteingeschlossen. Insofern befindet sich das durchgeführte Interview in einem Kerngebiet, das seit Jahrzehnten von der Ethnologie und Sozialanthropologie u.a. Bourdieu, Gellner und Berque, aus einem einseitigen Blickwinkel (Stichwort: segmentäre Differenzierung) erforscht wurde1 . Diese sozialstrukturelle Fremdbeschreibung kommt in der Antwort des interviewten Dichters und seiner strukturellen Selbstbeschreibung zum Ausdruck. Davon ausgehend wurde dann die Frage gestellt: »F: Wie viele Familien leben ungefähr hier?« #00:03:15-3#. Das Wort »hier« wird angewandt, um eine wiederholte Verwendung des Stammesbegriffs jenseits von ›Richtig und Falsch‹ im interaktiven

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Wie u.a. Khatibi (1975, 1983) in »double Kritik« und Laroui (1977) in »Les origines sociales et culturelles du nationalisme marocain« feststellen.

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

Dialog zu vermeiden. Überdies taucht in dieser erzählgenerierenden Einstiegsfrage zum ersten Mal der Oberbegriff Familie auf, um die latente Vorgehensweise im vorliegenden qualitativen makrohermeneutischen Interview zu programmieren, das seine Deutungsmuster nicht nur aus der empirischen Datenanalyse gewinnen, sondern auch durch Umwege der gesellschaftstheoretischen Abstraktion und latente Sinntransformation realisiert werden kann (Renn 2018, 158ff.; siehe aus einer anderen soziologischen Perspektive die Wechselwirkung von Empirie-Theorie: Schütz 1971). In diesem Sinne sollte der Oberbegriff Familie, eine der wichtigsten Institutionen in diesem nichtlokalen postkolonialen Milieu, als Vordergrund dienen und Grundelemente des habituellen Gewohnheitsrechts im Schatten überdecken. Insofern wurde diese einleitende Frage als eine erste »Fassade« (Goffman 2019, 23ff.) im latenten Interview gestellt, um inkorporierte Handlungsroutinen, Inszenierungsdarstellungen und Mikrometapher des gesellschaftlichen Rechtsalltags zu stimulieren. Weitere programmierte Filter jenseits der Keimzellen eines interaktionistischen oder theorielosen Empirismus werden im Laufe der makrohermeneutischen Interpretation und Rechtsübersetzungen sichtbar. Der Dichter und das Mitglied des informellen Milieurats versteht die Institution Familie mehrdimensional und teilt den Begriff in eine Großfamilie – hier sind alle Familien in seinem Umfeld als imaginäre Einheit gemeint – und eine Kleinfamilie. Er erzählt (a.) von den Familienstrukturen in seinem Berbermilieu, die er weiterhin mit der segmentären Differenzierung wiedergibt, zum Beispiel die Beziehungen zwischen den älteren und jüngeren Familienmitgliedern als Moment der reziproken Abhängigkeit, ohne den Komplexitätszuwachs der Sozialstruktur zu thematisieren, als wäre das Zusammenleben mit den Eltern eine traditionelle vormoderne Institution. Diese Interdependenz wird durch die Angabe von äußeren strukturellen Bedingungen verstärkt, z.B., aufgrund der funktionalen Spezialisierung der Arbeitsverhältnisse in der Stadt das Elternhaus temporär zu verlassen. Das ist eine Reaktion darauf, dass die spätmodernen Personen trotz der kulturell- praktischen und habituellen Eigentradition legitime Gründe haben, um von ihrem informellen Milieuort fortzugehen. Es wird durch die Anschlüsse und die Integration im Nationalstaat deutlich, dass dieses ländliche Haus strukturell durchlässig ist und auffällige Fragmentierungszwecke aufweist. Danach (b.) erzählt der Interviewte von der Verpflichtung, die Eltern im Alter zu pflegen und nicht ins Altenheim zu bringen, was er als Symbol für eine drohende atomisierte moderne Lebensform betrachtet, sowie von der Migration einiger Familienmitglieder in die Städte und ins europäische Ausland. Er selbst lebt jährlich zeitweise in der Stadt Khmissat und hat Verwandte im Ausland, z.B. in Belgien und Frankreich, mit denen er in engem Sozialkontakt steht (Stichwort: Nichtlokalität in der multipel differenzierten Weltgesellschaft). Abstrakter formuliert, lassen sich die ersten einleitenden Ausführungen des interviewten Dichters als eine gleichzeitige strukturelle Überlappung von zwei

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

gesellschaftsstrukturellen Welthorizonten, nämlich der segmentären Differenzierung und der Spätmoderne, interpretieren, die die postkoloniale Person in seiner ländlichen Lebensform wiedergibt. Diese komplexe Formation und latente Beschreibung wird durch sein subjektives Sinnsystem keinesfalls als sozialstrukturelle Abfolge von funktionalen (und/oder kulturellen) Differenzierungsformen dargestellt, wie Klassiker der soziologischen Theorie in ihren systematischen Hauptwerken postulieren (siehe hierzu ausführlich das Kapitel »Soziologische Rechtsbegriffe«). Stattdessen werden beide gesellschaftsstrukturelle Welthorizonte durch eine aktuelle Gleichzeitigkeit der Differenzierungsgrade beschrieben, als würden sich die Gegenwart und die Vergangenheit überlappen. Sie sind somit nicht an eine bestimmte historische Sozialstruktur gebunden. Diese einführende Auslegung des befragten Dichters muss selektiv modifiziert und die vormoderne segmentäre Differenzierung in einen postkolonialen performativen Milieubegriff umgeformt werden. Denn erstens sind seine Aussagen bzw. sein praktisches Tun durch epistemische Konstrukte der Moderne gekennzeichnet, die seit der französischen und spanischen Kolonialzeit im Maghreb existieren und die Einführung einer dritten positiven Rechtsordnung, neben dem islamischen Recht und habituellen Gewohnheitsrecht, mitgestaltet haben (El Guennouni 2010, 2017)2 . In diesem Sinne unterliegt die Sprache des Dichters einem ethnologischen »Wissen«, das bis heute das kollektive Bewusstsein in dieser regionalen Differenzierung ausprägt und strukturell die Berberregionen immer noch als »Stämme« wahrnimmt. Diese Modifizierung führt zweitens dazu, dass die Aussagen des Dichters nicht nur aus den sozialstrukturell zeitlichen und historischen Gründen überdacht werden müssen, sondern auch in einem multiplen rechtlichen Kontext über die symbolischen und materiellen Grenzen hinweg »übersetzungstheoretisch« (Renn 2006; 2014; 2016) rekonstruiert werden. Denn eine sozialstrukturelle Modifizierung in den soziologischen Grundbegrifflichkeiten beinhaltet eine Änderung in der Theoriearchitektur von der Segmentierung erster Differenzierung oder allenfalls Zweitdifferenzierung hin zu einem performativen übersetzungstheoretischen Milieukonzept, das zu einer ganz neuen makrohermeneutischen Interpretation führt. Methodologisch ergeben sich daraus differente Normkontexte und unterschiedliche Rechtsordnungen, die kreativ den spätmodernen Rechtspluralismus qualitativ generieren. Das bedeutet weder eine Assimilierung des nichtlokalen Gewohnheitsrechts und seine strukturelle Verschmelzung mit dem positiven Recht durch Prozesse des sozialstrukturellen Wandels noch eine »interkulturelle Rechtskollision« (Teubner), die das habituelle Gewohnheitsrecht verdrängen soll. Stattdessen: Das strukturelle Verhältnis der gesellschaftlichen und staatlichen Rechtsordnungen steht in komplexen horizontalen 2

Am 27. November 1912 wurde Marokko laut dem französisch-spanischen Vertrag in zwei Kolonialzonen geteilt. Während die spanische Regierung Gebiete im Norden und im Süden Marokkos eroberte, kolonisierte Frankreich den Rest.

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

und vertikalen Übersetzungsrelationen. Diese implizieren in ihren pragmatistischen Fundierungen zum einen eine regionale Rechtdifferenzierung, die mit der Ursprungsquelle (in Ait Lahssan) eines posttradierten Gewohnheitsrechts und informellen Milieurat zusammenhängt. Zum anderen deduzieren diese Formen die Relation der kulturellen, funktionalen und regionalen Rechtsdifferenzierung in der spätmodernen multiplen Weltgesellschaft. Diese strukturell ausdifferenzierten »glokalisierten« Ebenen (Robertson 1998) stellen verbundene Elemente der multiplen Differenzierung dar, die nicht nur eine Triade bzw. »drei Achsen der Differenzierung im Rechtspluralisums« bilden (Nell 2020, 292ff.), sondern aus pragmatistischer Sicht eine Rechtsübersetzung multipler Ordnung hervorbringen. Die überlappten Übersetzungen sind als ein changierendes Ordnungsensemble zu verstehen, das vertikal und horizontal grosso modo in transitive und asymmetrische Teilordnungen untergliedert ist und eine Zirkularität makrohermeneutischer Interpretation der qualitativen Gesellschaftsanalyse begleiten wird. Nun wieder zu den empirischen Daten. Nach langwährenden Ausführungen wurde im Interview das Thema Familienrecht erreicht. Sie zeigen in diesem Fall auf, dass die Interviewführung einen »langen Atem« braucht, um zum Kernthema zu gelangen. Dieser Erzählungsablauf war vorgesehen und wurde im Vorfeld mit der Arbeitsgruppe »Makroanalytische Tiefenhermeneutik und multiple Differenzierung« am Institut für Soziologie der Universität Münster kalkuliert. Es wurden die methodologischen Vorüberlegungen getroffen, dass in diesem ländlichen postkolonialen Interaktionsmilieu zunächst nach der Institution Familie als soziologischer Typus, ihrer operativen Kopplung mit der Gmaa-Institution und ihren spätmodernen Charakteristika gefragt wird. Das Ziel war es, auf diesem nichtlinearen qualitativen Weg zu den Großkategorien »die Mehrehe (Art. 40) und die Verheiratung von Minderjährigen (Art. 20)« als besondere Grenzfälle des neuen positiven Familienrechts zu gelangen. Auf die Frage, wie die Familiengründung sich im Laufe der Zeit verändert hat, (dass man früher uneingeschränkt eine zweite Frau heiraten konnte und gegenwärtig aufgrund des neuen staatlichen Familienrechts die Genehmigung des Richters einholen muss), antwortete er:

A: [...] Ja, früher konnte er sogar drei heiraten, der Mann, es ist klar, wenn die Frau müde wird, kann er heiraten, das ist selbstverständlich, gegenwärtig gibt es einen Stamm in der Region Hajb (auch im Mittleren Atlas: Anm. des Interviewers) hh, sie werden Ait Bourzi genannt, in der Hajb-Region herrscht fast in jedem Haus die Mehrehe vor, es gibt zwei Frauen fast in jedem Haus, das stellt kein Problem dar, in diesem Stamm, die Frauen, die Männer, sobald die Frau heiratet, weiß sie, dass ihr Ehemann eine zweite Frau heiraten wird, in dieser Region herrscht die Mehrehe vor, hier bei uns, bei uns dominiert nicht die Mehrehe;

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

F: A:

F: A:

F: A:

wenn die Frau ausreichend ist, heiraten sie nicht eine zweite Frau, in der Region Hajb ist das, ist die Mehrehe wie eine Konkurrenz #00:41:03-2# Wie kann das sein, wenn das neue Familienrecht die Polygamie sehr stark einschränkt? #00:41:16-2# Das Recht kann einschränken, wie es will, warum soll das eingeschränkt werden? Ich teile dir mit, wenn die Frau nicht ausreichend ist, was hat das Recht zu sagen? Was hat es zu sagen? Der Gesetzgeber selber wird eine zweite Frau heiraten, falls die erste Frau nicht befriedigend ist, der Gesetzgeber, was hat er zu sagen? Wenn die, wenn seine Frau nicht genügend ist, was soll er machen? Heiraten oder nicht? #00:41:41-7# Hh #00:41:41-7# Heiraten, der Gesetzgeber, wenn man ermitteln würde, würde man bei ihnen die Mehrehe feststellen, nicht? Nicht? Eine Frau ist für den Mann nicht ausreichend, warum soll er nicht zwei haben? Wenn die Frau gut arbeitet und anständig ist, warum soll er noch einmal heiraten? Nur wenn der Mann reich und beispielsweise im Besitz von Häusern ist, zwei oder drei Häuser, und ein Haus in der Stadt in Khmissat und ein Haus hier, heiratet er zwei; wenn er dort ist, hat er eine Frau und wenn er hier ist, findet er eine Frau, oder die Frau ist müde und der Mann ist gesund, warum darf er nicht heiraten? Er braucht nur ausreichende Finanzen, es ist kein Problem #00:42:41- 9# Und die erste Frau muss unterschreiben? #00:42:45-6# 10 Sie braucht nicht mal zu unterschreiben, sie heiraten nun eine zweite Frau ohne die Unterschrift der ersten Frau, warum? Gegenwärtig heiraten sie, ohne dass die erste Frau davon erfährt, erst nachdem der Mann die zweite Ehe registriert und Kinder bekommen hat, jetzt, jetzt #00:43:00-3#

Zunächst fällt auf, dass in dieser Interviewpassage zum Thema Familienrecht der Stammesbegriff wiederauftaucht. Dieser sozialstrukturelle Begriff beschreibt für den Dichter nicht nur das regional ausdifferenzierte Interaktionsmilieu in Ait Lahssan, sondern wird zudem für die Hajb-Region, die sich neben der kulturellen Hauptstadt Fes befindet, verwendet. In diesem »Stamm« existiert laut dem Interviewten die Mehrehe, trotz der Einführung des neuen Familienrechts, das die Polygamie einschränkt und nur in äußerten Ausnahmefällen genehmigt (Code de la Famille 2016, 7f.) Demnach ist in manchen informellen Milieus der multipel differenzierten Weltgesellschaft, wie den Regionen Hajb und Ait Lahssan, die Polygamie geradezu weitverbreitet. Die Mehrehe im regionalen Rechtsdifferenzierung stellt insofern laut dem Interviewten nicht die Ausnahme, sondern weiterhin die Regel dar. Überdies variiert die empirische Wahrnehmung und Deutung der Polygamie milieuspezifisch. In weltgesellschaftlichen Milieus, wie im Mittleren Atlas, wird die Zweitehe eingegangen und das systemische staatliche Familienrecht kann die Polygamie nicht einschränken. Denn der systemische Imperativ funktionaler Diffe-

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

renzierung muss durch die kulturelle Differenzierung u.a. das performative Milieu und die spätmoderne Person übersetzt werden. Dabei spielt das »ökonomische Kapital« (Bourdieu) eine bestimmende Rolle. Denn wenn er die Polygamie ausreichend finanzieren kann, kann ein Mann laut dem Interviewten pragmatisch eine weitere Ehe eingehen. Dabei wird von dem Interviewten die Eheregelung zeitlich unterschieden. Früher (kurz nach der Einführung des neuen Familienrechts) musste die erste Frau von der zweiten Heirat ihres Mannes wissen, denn sie musste einwilligen und unterschreiben. Zudem wurde die Heirat von dem Milieurat, der Gmaa, wie ein Ritual organisiert. In dieser Übersetzung erster Ordnung übernahm die Gmaa als charismatischer und informeller Milieurat eine wichtige Rechtsrolle. Sie war somit eine erste Alternative zwischen den interaktiven Rechtsordnungen und versuchte daher die Ehe zu organisieren bzw. durch eine selektive Wahrnehmung oder Bezugnahme auf die staatliche Ordnung zu übersetzen. Sie stand auch für eine Ordnung, die den Anspruch erhob, die Rechtverhältnisse in Lebensverhältnisse umzuwandeln. Damit wurde ein Anspruch des Rechts an die Lebensgemeinschaft ausgeführt. Gegenwärtig kann laut dem interviewten Dichter die Zweitehe eingegangen werden, ohne dass die erste Frau, ihre Eltern und die Großfamilie davon erfahren. Überdies wird der informelle Milieurat, die Gmaa, bei den Heiratsvorbereitungen latent umgangen. Diese Interviewpassage deutet somit auf vertikale Übersetzungskaskaden zweiter Ordnung zwischen dem habituellen Gewohnheitsrecht und dem positiven Recht hin, indem die Individuen mit der Rechtsorganisation interagieren, ohne das nichtlokale Milieurat in die Eheorganisation miteinzubeziehen. Laut dem Interviewten gehen Personen des habituellen Berbermilieus in Paris oder Brüssel ebenfalls pragmatisch die Mehrehe ein und heiraten manchmal, ohne die Gmaa miteinzubeziehen3 . Diese informelle Organisationsform hat ihre traditionelle Funktion durch den sozialstrukturellen Wandel und regionale Transformationen in der kolonialen und postkolonialen Phase verloren. Erst wenn systemische Inklusionserwartungen bei signifikanten Anlässen in dieser spätmodernen Heiratsform institutionalisiert werden müssen (z.B., wenn die zweite Ehefrau Kinder bekommen hat), können die erste Frau, ihre Eltern und der informelle Milieurat die Heirat wahrnehmen und als Handlungsaufforderung 3

Sozialstrukturell zeichnet sich (auch hier) eine elementare Differenz zu den ethnologischen und sozialanthropologischen Beschreibungen ab, die die soziale Organisationsform in dieser regionalen Differenzierung mit einer vergangenen marokkanisch-berberischen und islamischen Stammesgesellschaft sowie einer oralen Tradition und tribalen Identität wiedergeben (siehe u.a. Kraus 2004 und seine ethnographischen sog. Fallstudien im Hohen Atlas). Dabei blendet die regionale Re-Definition und Re- Verwendung des Terminus Stammesgesellschaft in der anthropologischen Theoriebildung die indirekten Rechtsübersetzungsverhältnisse zweiter Ordnung aus und mithin die habituelle Heiratsform, die keineswegs einer segmentären Rechtsordnung entspricht, sondern in das multipel differenzierte Familienrecht integriert ist.

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

deuten. Insofern schöpft das pragmatische Individuum die Möglichkeiten des systemischen positiven Rechts im Sinne patriarchalischer Interessen aus. Denn die Heirat wird traditionell begründet und die Polygamie kann zugesprochen werden, wenn der Mann die Mehrehe finanzieren kann. Aber das habituelle Gewohnheitsrecht des Milieurates, der Gmaa, beinhaltet eigentlich, dass die Frau ihre Rechte durch die Gemeinschaft erhält. Das Zustimmungsrecht der ersten Frau wird ihr aber im Sinne der praktischen Instrumentalisierung der Makroebene enttraditionalisiert entzogen, nämlich die Fähigkeit, am nichtlokalen Milieurat vorbei die Ehe zu organisieren und einzugehen. Das ist nämlich eine indirekte Wirkung der Traditionszersetzung: Sie wird nicht dadurch realisiert, dass das systemische staatliche Recht sich vertikal durchsetzt und die Gleichstellung der sozialen Geschlechter in der Familienbildung garantiert ist, sondern dadurch, dass die Individuen es für ihre habituellen Zwecke uminterpretieren und übersetzen. Dabei werden die Traditionsbestände allmählich unterminiert. In diesem Sinne gibt es keine autochthone Stammeskultur, wie sozialanthropologische und ethnologische Ansätze postulieren, sondern vielmehr eine interaktive Rechtskommunikation mit dem sunnitisch-malikitischen Islam und weltgesellschaftlichen Interdependenzen, die seit Jahrhunderten in Marokko existieren. Der Milieurat herrscht zwar in manchen sozialen Kontexten vor, etwa um Rituale für Neugeborene zu gestalten oder leichtere Streitigkeiten direkt vor Ort als erster Ansprechpartner zu lösen. Gemeint ist jedoch nicht die segmentäre Differenzierung oder der ethnologische Stamm, der Allmacht über die Gemeinschaft ausübt, eine geringe Komplexität an Handlungsmöglichkeiten aufweist, an soziale Lokalitäten und Anwesenheitsgrenzen der Individuen gebunden ist und somit die Differenz zwischen der multipel differenzierten Weltgesellschaft und dem Interaktionsmilieu noch nicht erlebt. Denn in der Spätmoderne können Individuen pragmatisch den postkolonialen Milieurat latent umgehen und im Mittleren Atlas oder auch in anderen Nationalstaaten der Weltgesellschaft staatlich heiraten4 . Diese Auflösung des Solidaritätsverbandes und Retraditionalisierung mit Bezugnahme auf die staatliche Ordnung kann man als eine Reaktion auf die widersprüchliche Anforderung und Einbettung in der modernen marokkanischen Gesellschaftsstruktur auslegen oder auch als »desperate Vergemeinschaftung« (Renn 2014b) deuten. Denn das desperate Element steckt, wie Bourdieu (2010) postuliert, nicht darin, dass die lokale »Lebensform« (Wittgenstein) vom kapitalistischen Weltsystem zerstört wird, sondern ergibt sich aus der Spannung der Erzählung des Interviewten. Denn das Interview zeigt zweierlei: Einerseits wird der Appell an die strukturelle Autonomie der Dorfgemeinschaft 4

Wie der Fall einer Schwester des interviewten Dichters verdeutlicht, die in Brüssel einen Belgier geheiratet hat. Zuvor war sie von ihren Dorf Ait Lahssan in den Norden nach Tanger emigriert, wo sie ein paar Jahre arbeitete, bis sie schließlich nach Belgien auswanderte.

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

artikuliert. Anderseits verrät sich im Interview, dass diese Autonomie der autochthonen lokalen Tradition im eigentlichen Sinne nicht mehr existiert. Das ist an vielen Stellen des Interviews zu beobachten, aber es wird überall an diese Tradition appelliert: Wenn das Verhalten des Sohnes gegenüber den Eltern beschrieben wird, die eine Ehefrau für ihn aussuchen sollen, so auch, dass die Kinder (in den Städten und im Ausland) irgendwann in ihr Heimatdorf zu ihren Eltern zurückkehren, oder in der Betonung, dass die Eltern bei der Tochter oder Schwiegertochter bleiben können und kein Altenheim aufsuchen müssen. Die spätmoderne multipel differenzierte Weltgesellschaft schreitet voran und ist nachweislich schon längst in die lokale Lebenspraxis eingedrungen. Aber der Interviewte postuliert, dass sich an der traditionellen Ordnung nichts geändert hat, obwohl er auch Wege der Moderne geht. Somit gerät die lokale solidere Gemeinschaft ins Wanken und wird enttraditionalisiert. Dies wird vom interviewten Dichter instrumentalisiert, und das zeigt, dass es keine Autonomie und keine Autokratie von regionalen Kontexten gibt, aber eben auch keine unmittelbare Interpretation, sondern lediglich eine latente Umdeutung und soziologische Rechtsübersetzung. Weiter zum Interview. Auf die Frage, ob es Beispiele für den zweiten kategorialen Grenzfall, die Verheiratung von Minderjährigen, gibt, antwortete er:

F: Das bedeutet, die gegenwärtige Form der Eheschließung und der Scheidung existierte auch in der Vergangenheit? #00:49:08-6# A: Ja sie existiert seit langem, es gibt keinen Unterschied, früher wurde geheiratet und geschieden, gegenwärtig gibt es auch die Eheschließung und die Scheidung, das ist alles hh #00:49:21-7# F: Aber die Form der Eheschließung und der Scheidung hat sich durch das neue Frauenrecht geändert #00:49:27-8# A: Wie? Gibt es Beispiele? #00:49:28-8# F: Zum Beispiel, hhh das Mindestheiratsalter für die Frau ist auf 18 Jahre heraufgesetzt worden #00:49:37- 7# A: Hhh, gegenwärtig, wenn die Frau unter 18 ist, müssen sie einen Antrag beim Richter stellen, das bedeutet, das Mädchen teilt dem Richter mit, sie ist reif und sie will heiraten, der Richter erlaubt ihr zu heiraten, er erteilt ihr die Genehmigung und bestätigt, dass das Mädchen reif ist, auch wenn sie unter 18 ist, warum nicht? Wenn das Mädchen das vierzehnte und fünfzehnte Lebensjahr erreicht hat und sie ist körperlich in der Lage, sieht sie nicht wie 18 aus? Hh hh? Wichtig ist, ist, wie reif das Mädchen ist? Wenn es mit 14 oder 15 reif ist, teilt es dem Makhzen mit, dass es heiraten will (...) hhh, wenn das Mädchen 18, 20 erreicht hat, ist das zu spät, es soll mit 15, 16 versuchen zu heiraten, auch wenn sie das Heiratsalter auf 18 heraufgesetzt haben und das Mädchen mit 15 einen Heiratswilligen findet,

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

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wo ist das Problem? Es ist kein Problem, gegenwärtig heiraten sie mit 15, 16 ohne Probleme #00:51:04-9# In dieser Region? #00:51:07-2# Wo ist das Problem? Warum soll es nicht heiraten? #00:51:13-2# Sind das auch Fälle, die du gesehen und erlebt hast? #00:51:14-0# Ja, ja, es gibt ein Mädchen, das nicht mal 15 oder 16 erreicht hat und es wurde verlobt, danach haben sie beim Richter (...), es gibt ein Recht, der Richter hh, das bedeutet hh, unterstützt, er bescheinigt, dass das Mädchen reif ist, das Mädchen wird gefragt, ob es reif ist und das Mädchen bejaht und versichert, dass es heiraten will und reif ist, er hilft den Leuten und sie heiraten, Mädchen haben unter 18 geheiratet hier in dieser Region #00:51:55-1# Das heißt, das ist kein Einzelfall? #00:51:55-1# Ja, sie werden verheiratet, warum sollen sie über 18 sein? Warum? Wenn sie über 18 sind und noch nicht geheiratet haben, wenn das Mädchen bereits mit 15 eine Chance auf Verlobung bekommt, kann es ablehnen und sagen: »Nein, erst mit 18«? Er wird nach einem andern suchen, warum soll er noch 3 oder 4 Jahre warten? Das Mädchen denkt über das Angebot nach und am Ende nimmt es die Chance wahr, das ist alles, im Gericht teilt es dem Richter mit, es will diesen Mann, es will heiraten, und der Richter stimmt im Namen Gottes zu, er fragt es, ob es will, und wenn es zusagt, unterstützt der Richter ihr Vorhaben, sie bekommen ein Papier, ich habe den Namen, den juristischen Fachbegriff vergessen, sie bekommen ein Papier und sie heiraten, ja, weißt du darüber Bescheid? #00:52:57-5# Nein, nein #00:53:06-2#

Für den interviewten Dichter, zugleich Mitglied des informellen Milieurats, existiert trotz der Verabschiedung des positiven Familienrechts im Jahr 2004 kein expliziter oder impliziter Unterschied zwischen der vergangenen und der gegenwärtigen Form der Eheschließung und Scheidung. Hier wird von einem kategorialen Grenzfall, nämlich der staatlichen Verheiratung von Minderjährigen, berichtet. Diese habituelle Heiratsform stellt laut dem Interviewten keine Ausnahmeerscheinung, sondern die habituelle Norm dar. Sie wird durch latente Rechtskniffe und Bedeutungsbrüche, d.h. nicht durch eine lineare Bedeutungsübertagung zwischen dem staatlichen und gesellschaftlichen Rechtshorizont, generiert. Hierfür müssen zunächst die Eltern als gesetzliche Vertreter der Minderjährigen einen schriftlichen Heiratsantrag im Familiengericht bei dem entsprechenden Richter »als die zentrale Figur« (Zwingmann 1966, 4) in der positiven Rechtorganisation stellen5 . Die Famili5

Die Funktion der Richterin bzw. des Richters (arabisch: ‫ )ا ﻟﻘﺎ ﺿﯿﺔ & ا ﻟﻘﺎ ﺿﻲ‬stützt sich in Marokko auf das positive Recht und nicht auf eine sunnitische »Kadijustiz«, wie Max Weber postuliert; mehr hierzu im Kapitel Soziologische Rechtsbegriffe in der vorliegenden Dissertation. Denn sie absolvieren keine religionsrechtliche Ausbildung, wie es vor der Kolonialzeit der Fall war, sondern erhalten ihre Bildung in säkularen juristischen Universitäten. Außerdem

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

enrichter wissen durch internalisierte Routinen latent, genauso wie der Dichter und die Eltern der Minderjährigen, dass das amtliche Dokument, ein ärztliches Attest im juristischen Fachbegriff, von einer Ärztin bzw. einem Arzt im jeweiligen Krankenhaus ausgestellt und daraufhin dem Gericht der Beweiswert mitgeteilt wird. Im Gesundheitszeugnis wird dargelegt, dass die Minderjährige gesundheitlich »reif « sei, um die Ehe einzugehen, wobei die Heiratsreife der Minderjährigen am Körper gemessen wird und nicht nach ihrer psychologischen und mentalen Persönlichkeitsentwicklung. In diesem zirkulären – nicht linearen – Entscheidungszwang befindet sich erstens die richterliche Urteilsfindung unter der Doppelspannung: Zum einen müssen die Richter das neue positive Familienrecht anwenden und die Verheiratung von Minderjährigen in der Regel gesetzlich verbieten. Hierfür erhalten sie zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen, um eine entsprechende Rechtspraxis der neuen Familiengesetzgebung zu gewährleisten. Außerdem stehen sie bzw. ihre Anwendung des positiven Familienrechts unter wissenschaftspolitischer Beobachtung der Weltöffentlichkeit und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Zum andern kann das Familiengericht die Entscheidung nicht allein konstruieren und muss sich deshalb an das Medizinsystem oder das System der Krankenbehandlung wenden. Hier folgen neben dem richterlichen Entscheidungsprozess und der Leitdifferenz rechtmäßig/nicht rechtmäßig die systemfremde zweiwertige binäre Codierung gesund/krank und als erweiterte Leitdifferenz in diesem Kontext gesundheitlich reif/gesundheitlich nicht reif als primäre Orientierungsmuster, damit das neue positive Familienrecht auf die Erwartungen seiner gesellschaftlichen Umwelt und vor allem auf die Rationalität des habituellen Gewohnheitsrechts respondieren kann6 . Das Familiengericht kann somit die Entscheidung in der täglichen Praxis des positiven Rechtssystems nur mithilfe eines ärztlichen Attests übersetzen. Dass die Interpretation und der hermeneutische Zirkel sich von der Interaktionsebene zu der Makroebene bewegen muss, ist ein weiterer analytischer Befund. Auf dieser praktisch-performativen Ebene können die Ärzte den medizinischen Beweiswert für die Heiratsreife der Minderjährigen nicht durch die basale Codierung und eine systemspezifische Kommunikation ermitteln. Denn anhand einer Komplexitätsreduktion begutachten die funktional spezialisierten Ärzte in den Krankenhäusern lediglich den biologischen Körper des Mädchens, um die Relevanz der

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steht der Richterberuf in der postkolonialen Phase und nach einer liberalen Umformung der islamischen Staatslehre sowohl dem weiblichen als auch dem männlichen Geschlecht offen (El Guennouni 2010, 2017). Auch hier kann man dem Luhmannschen Prinzip der »operativen Geschlossenheit« (1984) nicht folgen, sondern es bildet sich eine Form der »Interpenetration als Bedeutungserhaltung«, die Funktionssysteme, Organisationen und Milieus füreinander leisten (Renn 2006, 138–141 in Bezug auf Parsons).

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

körperlichen Reife anschlussfähig für die zentrale Rechtsorganisation, nämlich das Gericht, zu präparieren. Zwar operiert das medizinische System auf der Grundlage des Codes krank/gesund und ohne ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (Luhmann 1983; 1990a; Fuchs 2006; Bauch 1996; Wolk 2004, 23)7 , aber seine Funktion wird in diesem Zusammenhang durch die empirische Untersuchung der Reife bzw. Nichtreife des minderjährigen Mädchens gefiltert, daraus wird das Übersetzungsverhältnis Arzt/Patient auf der Arzt-elterlichen Vertretung der Minderjährigen und indirekt auf ihre Umweltkorrelat bzw. ihr Interaktionsmilieu übertragen8 . Das ländliche Milieu selbst ist durch die Beschlussfassung des Arztes keineswegs irritiert, sondern diese wird ohne Einschränkungen rigoros erwartet, um einen Kollisionskonflikt mit dem positiven Recht zu vermeiden. Schließlich wird die medizinische Begutachtung des Arztes an das Familiengericht im Mittleren Atlas, in der Stadt Khmissat, weitergeleitet, um eine Rechtsentscheidung hervorzubringen. Denn die Entscheidung des Arztes vollzieht sich erstens unmittelbar durch die Familie der Minderjährigen in der kulturellen Lebensform und zweitens in diesem Fall indirekt >über den Köpfen< ihrer Angehörigen durch die Gmaa und das Interaktionsmilieu, das sich in diesem Fall durch zwei Gerichtszeugen artikuliert. Auf dieser strukturellen Übersetzungsebene wird die binäre Codierung des positiven Rechtssystems konkretisiert und umgangen: Der Minderjährigen wird die gerichtliche Zustimmung erteilt. Insofern muss sich die Übersetzung zwischen dem positiven Familienrecht, dem habituellen Milieu und den postkolonialen Individuen durch die Rechts- und Medizinorganisation hindurchziehen. Die latente Sinndeutung zeigt sich sowohl durch die interne Ausdifferenzierung des multiplen Familienrechts als auch in der immanenten Angleichung des Gerichtsamtes mit dem Makhzen im Mittleren Atlas, der politischen Organisation schlechthin9 , auch wenn beide Organisationen unter Bedingungen der Spätmoder7

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Auch der Erziehungsprozess im Erziehungssystem kommt in der Systemtheorie Luhmannschen Prägung ohne einen Code aus, und seine Ausdifferenzierung hängt an einem »Symbol« (Kieserling 2005, 434; Luhmann 2004). Wegen der Differenz zwischen Sinnhorizonten kann sich Indirektheit als Bedeutungsbruch im Übergang zwischen Ordnungen manifestieren (Renn 2018, 199). Die politische Organisation bzw. der Makhzen ist strukturell hierarchisch geordnet und beinhaltet eine asymmetrische Rollendifferenzierung, die von dem König, der Regierung und dem Militär bis zu den diversen und winzigsten Machtfunktionen reicht, mehr hierzu im Kapitel »Recht und Politik« in der vorliegenden Dissertation. Historisch bedeutet der Begriff Makhzen »aufbewahren« (arabisch: khazana) und beschreibt kreativ eine Schatzkammer (arabisch: Makhzen), in der spätestens seit dem 16. Jahrhundert bis zu den Anfängen der Kolonialzeit öffentliche Steuern, Getreide, Geld und Wertunterlagen etc. sicher verwahrt wurden und dem politischen System, v.a. dem politischen und wirtschaftlichen Umfeld der Dynastie, zugutekamen. Zum politischen System und zur Makhzensemantik kurz vor der Kolonialzeit siehe Aubin, E. (1912). Le maroc d’aujourd’hui. Paris. Sowie El Harwi, El. H. (2005). Der Stamm, der Feudalismus und Al Makhzen. Eine soziologische Untersuchung zu der mo-

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ne weder eine strukturelle Sinnverwandtschaft bilden noch die gleiche Bedeutung konstruieren, sondern zwei funktional differenzierte Integrationseinheiten sind, zwischen denen übersetzt wird. Aber die prägnante Erzählung des interviewten Dichters in der hier zitierten Interviewpassage zu der Verheiratung von Minderjährigen beinhaltet explizit, dass die Eltern des minderjährigen Mädchens der politischen Organisation, Al Makhzen, vor Ort mitteilen, dass es heiraten wolle, wenn es körperlich dazu in der Lage sei (was nur mit Hilfe der Medizinorganisation geschieht, wie wir verdeutlicht haben). Hier werden die Systemgrenzen zwischen dem Politischen und dem Rechtlichen praktisch nicht durch Übersetzung überschritten, sondern sie werden auf der Ebene des pragmatisch-habituellen Wissens durch eine Kontextverschmelzung schlechthin verwischt. Diese charakteristische Differenzgleichung der beiden funktionalen Organisationen, die der Dichter auf den ersten Blick durch seine performative Sprache und »praktische Logik« (Bourdieu 1988) konstituiert, ist ein semantisches Ergebnis erster Ordnung der regionalen Gesellschaftsdifferenzierung, dass eine scheinbar äquivalente postkoloniale Verbundenheit impliziert. In der Erzählung des Interviewten deutet sich latent an, dass das positive Rechtssystem und seine zentrale Organisation nur dem komplexen Politischen angehört, aber nicht dem postkolonialen Berbermilieu, das über das habituelle Gewohnheitsrecht verfügt. Überdies birgt diese tiefen- makrohermeneutische Implikation einen sozialstrukturellen Prozess, der primär mit der kolonialen Zeit zusammenhängt und keineswegs eine Form der Vergangenheit darstellt, sondern omnipräsent im kollektiven Unterbewusstsein des weltgesellschaftlichen Berbermilieus paradigmatisch inkorporiert ist. Die Konsequenzen dieses kulturellpraktischen Verinnerlichungsprozederes sind im multipel differenzierten Familienrecht bis heute wirksam. Denn mit der Kolonialisierung wurden die autonomen Berberstämme in den modernen Nationalstaat als postkoloniales Milieu, das intern ausdifferenziert ist, durch gewaltige Auseinandersetzungen inkludiert (mehr hierzu in Kapitel 4.2.: Umstellung der soziologischen Begrifflichkeiten). In diesem historischen Prozess, der bis heute semantisch auswirkt, kollidierte die nichtlokale Gesetzbarkeit des gesellschaftlichen Familienrechts nicht mit dem positiven weltgesellschaftlichen Recht. Das nichtlokale normative Recht wurde durch asymmetrische »relationale Machtverhältnisse« (Elias 2009) weder assimiliert noch weggestoßen, es wurde weder durch moderne Zusammenbrüche dekonstruiert noch als Versöhnungsfolge globaler funktionaler Differenzierung untergeordnet, sondern es entstanden neue Formen der multiplen Differenzierung: Die vorkoloniale normative Ordnung wurde unter besonderen Bedingungen

dernen marokkanischen Gesellschaft. 1844–1943. Casablanca. (auf Arabisch), insbesondere S. 142–158. Und zum Makhzenbegriff in der postkolonialen Phase siehe Daadaoui, M. (2011). The Makhzen and the State Formation in Morocco. In: Moroccan Monarchy and the Islamist Challenge. Maintaining Makhzen Power. Palgrave Macmillan US, insbesondere S. 41–79.

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

beendet, aber die Übersetzungsverhältnisse zwischen den Integrationseinheiten in dieser empirischen Welt wurden unterbrochen und epistemologisch neugeformt. Es bildete sich daraus ein multipel differenziertes Familienrecht, das das posttraditionelle habituelle Gewohnheitsrecht und das religiöse Recht integriert. Die Konsequenzen dieser tiefen sozialstrukturellen Umwandlung finden sich in der latenten Sinndeutung des interviewten Dichters wieder, wenn er aus seiner Sicht explizit das positive Recht einer operativ gekoppelten zentralen Organisation, dem Familiengericht, und dem multipel ausdifferenzierten Politischen als eine strukturelle Einheit zuschreibt, was allerdings nicht der Fall ist. In der Spätmoderne herrscht Konsens darüber, dass nicht das politische System über die Verheiratung (von Minderjährigen) oder Scheidung entscheidet, sondern einzig und allein das Familiengericht, oder mit Luhmann formuliert (1993, 321), die »zentrale Organisation des positiven Rechtssystems«. Denn die abstrakte Integrationseinheit des nationalstaatlichen Politischen kann nicht direkt in internen Rechtsentscheidungen des Familiengerichts intervenieren, sondern sich nur indirekt durch eine »operative Kopplung« in die symbolische Rechtssprache durch Bedeutungsbrüche übersetzen lassen (Renn 2006). Kein Wunder, dass in der Gesellschaftsstruktur daraus semantische Grenzziehungen ohne gemeinsame Leitbilder entstanden sind, die durch performativ sprachliche Gegenüberstellungen »Araber vers. Berber« oder »arabisch marokkanische Sprache vers. Berberische Sprache usw.« artikuliert werden. Auf der Übersetzung zweiter Ordnung treffen in diesem Gerichtsprozess nach dem Filterungsprozess der Medizinorganisation das positive Familienrecht und das habituelle Gewohnheitsrecht wieder aufeinander. Die Entscheidung des Gerichtamtes ist weder nur durch systemisch festgelegte Heiratsgesetze vorbestimmt, noch beansprucht sie als normative Tatsache, dass das Mädchen in der Regel erst mit der Volljährigkeit heiraten darf. Der normative Anspruch der Verheiratung ist nicht nur an das Wissen der zentralen Gerichtsorganisation und ihre Entscheidung gebunden, sondern auch an das pragmatische Handeln des Interaktionsmilieus. Dies belegen u.a. die vorletzten Paraphrasen des oben zitierten Interviewausschnitts zu der Verheiratung von Minderjährigen; dort heißt es u.a.: [...] Das Mädchen denkt über das Angebot nach und am Ende nimmt es die Chance wahr, das ist alles, im Gericht teilt es dem Richter mit, es will diesen Mann, es will heiraten, und der Richter stimmt im Namen Gottes zu [...]. Laut dem interviewten Dichter wägt das minderjährige Mädchen zuerst das Heiratsangebot ab und übermittelt danach seine Entscheidung dem Richter im Familiengericht. Allerdings muss man hinzufügen oder gar revidieren, dass die Eltern und die Gmaa hinter der Rechtsentscheidung der Minderjährigen stehen. Denn das Mädchen steht unter der Vormundschaft seiner Eltern und kann sich weder für seine Rechtshandlungen in Heiratsfragen eingehend verantworten noch

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

gesellschaftlich eine Familie mit einer rationalen Sinnhaftigkeit gründen. Stattdessen müssen seine Angehörige aufgrund der gesetzlichen Vertretungsmacht eine verbindliche Einverständniserklärung ablegen (was vom Dichter im Interview nicht erwähnt wird). Hierfür inspizieren sie zunächst den finanziellen Status und das symbolische Ansehen des Heiratswilligen und seiner Familie. Daraufhin folgt die Verheiratung des minderjährigen Mädchens, in der Regel nach Überlegungen ihrer Familie in der Gmaa-Gemeinschaft, die auf der Übersetzung erster Ordnung hinter dem Heiratsgeschehen stehen und das habituelle Gewohnheitsrecht anwenden. Somit ist die Verheiratung vor der offiziellen Ehemündigkeit des pubertären Mädchens von ihren Eltern bzw. ihren Angehörigen in der sozialen Lebensform bereits vorentschieden. Erst danach erscheinen sie vor Gericht im Mittleren Atlas, um den systemischen Imperativen des positiven Familienrechts nachzugehen bzw. auf der Übersetzung zweiter Ordnung – die funktionale Übersetzung von Handlungsübersetzungen latent umzugehen und ein zweites Mal zu heiraten. Hierfür müssen sie ein ärztliches Attest vorlegen, das nur die physiologische und körperliche Reife, nicht aber die mentalen und geistigen Fähigkeiten des Mädchens begutachtet, wie bereits verdeutlicht wurde. In der makrohermeneutischen Gesellschaftsanalyse besitzt das multiple differenzierte Familienrecht also weder lediglich eine strukturell entkoppelte Dimension, die »Recht als Kultur« handlungstheoretisch im Medium einer implizit geteilten Lebenspraxis typisiert, noch kann man das Recht nur kommunikationstheoretisch als Epiphänomen organisationaler und systemischer Makroregeln für alle Individuen festlegen. In dieser »Rahmendeutung« und diesem Interpretationsschemata (Goffman) muss man stattdessen einen systemischen und einen kulturell-praktischen Rechtstyp der Handlungskoordination qualitativ unterscheiden, die durch Übersetzungen ineinander übergehen und eine Übersetzung dritter Ordnung hervorbringen: Zum einen die Rechtshandlungen, die im Medium der Interaktion im Mittleren Atlas – inklusive einer weltgesellschaftlichen Interaktion – rangieren und latente hermeneutische Interpretationen von einer Mikrolage in der Dorfgemeinschaft (Ait Lahssan) bis zu einem indirekten und in der Makroanalyse untersuchten postkolonialen Milieu liefern, zum andern die funktionale Rechtkommunikation, die das Familienrechtssystem, seine binäre Codierung und in diesem Kontext die erweiterte Leitdifferenz sowie die zentrale Rechtsorganisation inkludiert. Beide sozialen Differenzierungsmuster der multipel differenzierten Weltgesellschaft sind mit einer methodischen Komplexität und latenten hermeneutischen Auslegung verbunden (der Interviewer wurde hier von dem Interviewten nicht einmal über dessen latente Vorgehensweise aufgeklärt). Seine Erzählungen basieren auf inkorporierten Handlungen und sind grosso modo nicht auf die Territorialität eines postkolonialen Milieus oder deren Zugehörigkeit zu einer mannigfaltigen regionalen Differenzierung fixiert. Diese handlungspraktische Differenzierungsform ist – wie gezeigt wurde – durch ein Mikro- Makroverhältnis aus der makrosoziologischen Perspek-

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tive erschließbar. Denn die Trajektorie und die Distanzlänge zwischen beiden vertikalen Basiseinheiten im hermeneutischen Zirkel wird überbrückt und verläuft indirekt durch eine Mesoebene der Sinn-Rekonstruktion, hier u.a. durch die symbolischen Grenzen eines sozialen Milieus sowie der zentralen Rechts- und Medizinorganisation (Gericht und Krankenhaus in Mittleren Atlas). Die gegenseitigen Bedingtheiten auf diesen drei strukturellen Teilkontexten der Mikro-Meso-Makro-Ebenen schlagen somit einen »Umweg durch Sinn-Transformation« ein (Renn 2018, 165). Auf diese spätmodernen Meso- und Makroebenen ist die Mikrowelt des Interviewten in Ait Lahssan angewiesen, die mittelbar oder unmittelbar durch weitreichende Interdependenzen transzendiert. Und nur durch diese hermeneutische Netzverbindung und Meso-Umwege (v.a. durch das postkoloniale Milieu sowie die zentralen Rechts- und Medizinorganisationen) und darüber hinaus kann die ethnographische Feldforschung im Maghreb – die immer noch von der segmentären Differenzierung der Berberstämme ausgeht–den großen analytischen Abstand überwinden und die Mikro-Makro-Integrationseinheiten empirisch-fassbar analysieren. Dann können die Mikrohandlungen des habituellen Gewohnheitsrechts durch die latente und makroanalytische Sinndeutung nicht ausreißen, sondern dehnen sich latent von den handlungspraktischen Kleineinheiten bis zu ihren Interpretationen in den multipel differenzierten Makrorechtskontexten aus. Diese methodologische Vorgehensweise einer soziologischen Rechtsforschung, insbesondere des Familienrechts, zielt außerdem auf eine kritische Überbrückung der Gräben zwischen der interaktionistisch geprägten »Logik der Felder« und den »relationalen Techniken der Datenanalyse« (Bourdieu & Wacquant 1996, 124ff.)10 mit der makrotheoretischen System/Umwelt-Grunddifferenz (Luhmann 1984, 60–78), die die Milieuforschung und personale Übersetzungsverhältnisse in ihrer strukturell gekoppelten Umwelt verlagert und durch eine »enge Verzahnung« organisatorischer und weltgesellschaftlicher Prozesse (Hasse & Krücken 2005, 186f.) verschiebt11 . Als Zwischenfazit kann man durch die latente Interviewführung festhalten, dass in dieser Region der multipel differenzierten Weltgesellschaft weder eine segmentäre Differenzierung der Gesellschaftsstruktur noch eine strukturelle Einheit von positivem Recht und politischem System impliziert wird, sondern sowohl makrotheoretisch als auch empirisch von einer postkolonialen speziellen Milieuform und

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Dies gilt ebenso für die soziologische Milieuforschung, die Bezug auf Bourdieu nimmt. U.a. die dokumentarische Methode einer »praxeologischen Wissenssoziologie« (Bohnsack 1995; 2010) oder eine »Habitus-Hermeneutik« (Bremer und Teiwes-Kügler 2013). Dass sich beide Theorien auch wechselseitig komplettieren, hat u.a. Weinbach (2016, 57–84) in Bezug auf die »Geschlechterdifferenz« gezeigt, indem sie den Luhmannschen Weltgesellschaftsbegriff und die systemtheoretische Form »Person« verwendet und durch den ungleichen und geschlechtlichen Habitusbegriff ergänzt.

2. Das latente Interview mit einem Dichter und Mitglied des informellen »Milieurats«

spätmodernen Individuen auszugehen ist. In dieser regionalen Differenzierung wird laut dem interviewten Dichter die Zweitehe oder die Mehrehe eingegangen und die systemischen Imperative des positiven staatlichen Familienrechts können die Polygamie keineswegs einschränken. Denn das funktional differenzierte Familienrecht muss durch die kulturelle Differenzierung, das heißt durch das postkoloniale performative Milieu und die spätmoderne Person, übersetzt werden. Überdies kann man zusammenfassen, dass diese empirisch-habituelle Heiratsform, die laut dem Interviewten in der Regel die Verheiratung von Minderjährigen einschließt, nicht von der »Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« oder von einer leidenschaftlichen amour passion abhängt, die strukturell lediglich mit den primär funktional differenzierten Systemstrukturen gekoppelt sind (Luhmann 2008, 10ff.; 1999a, 344ff.). Diese kollektive handlungspraktische und funktionale Vernunftehe in der Spätmoderne ist nicht durch eine einverleibte Freiheit der Selbstentfaltung, individuellen Sinnbestimmung und formalen Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdifferenziert, indem Braut und Bräutigam über ihre Singularität selbst entscheiden und ihre intime Kommunikation – mit dem Ego, das geliebt wird – als Grundlage des gemeinsamen Handelns wahrscheinlicher strukturieren. Die gesellschaftliche Ehe im habituellen Gewohnheitsrecht ist nicht durch die Programme individualisiert; stattdessen beruht diese Heiratsform auf inkorporierten Ritualen und kollektiven habituellen Normvorstellungen, die wiederum nicht auf den eigenen individuellen Idiosynkrasien, sondern auf dem Postgemeinschaftshandeln beruhen und durch pragmatische Übersetzungen mit dem positiven staatlichen Familienrecht operativ rückgekoppelt werden. In diesem kategorischen Grenzfall als einer Form der ambivalenten Vertrautheit und »desperaten Vergemeinschaftung« (Renn 2014, 173–195) ist – wie dargestellt wurde – eine Reihe von Rechtshandlungen direkt und indirekt involviert, die in Rechtskommunikationen durch Bedeutungsbrüche und Rechtskniffe übergehen, dort vertikal koexistieren und sich auf der Übersetzung dritter Ordnung verwandeln. Insofern hat das latente Eindringen in die Innenstruktur des Interviewten im Mittleren Atlas aus der Makroperspektive gezeigt, dass die Einführung des neuen positiven Familienrechts nicht zu einer demokratischen Gleichberechtigung der sozialen Geschlechter beigetragen hat. Denn das systemische Familienrecht gegen das Patriarchat balanciert sich zwar in Richtung der Symmetrie der Geschlechter aus, aber das positive Recht muss über die »Übersetzungskaskaden« (Renn 2006) fließen und wird dabei unter Umständen auf Milieu- und Personalebene informell geschwächt. Es kann passieren, dass die soziologische Rechtstheorie und Rechtspraxis auseinanderklaffen, weil die Reform des Familienrechts von den Kaskaden der Übersetzung getragen wird und nicht nur systemimmanent erfolgt, wie die Systemtheorie postuliert.

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3. Das latente Interview mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Fes

Die Interpretation des zweiten in der kulturellen Hauptstadt durchgeführten Musterinterviews bringt uns auf neue latente makrohermeneutische Spuren und eröffnet qualitative Vergleichsmöglichkeiten mit dem vorherigen Interview im Mittleren Atlas. Denn zwar variieren a). die Idealtypen, wie Stadt & Land, Rechtsanwalt & Mitglied des Milieurats, islamisches Recht & habituelles Gewohnheitsrecht b). die latente Vorgehensweise v.a. der Feldzugang sowie die empirischen Koordinationsformen mit den Interviewten und schließlich c). einige erzielten Forschungsergebnisse, die damit zusammenhängen. Aber die methodologische Affinität und die zunehmende unlinearen »Komplexität« als »eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit« (Luhmann 1984, 13) von den Interaktions- und Organisationsmustern bis zu den makrohermeneutischen Deutungen sind erhalten geblieben, was einen Zusammenhang zwischen den multiplen, kulturell- praktischen und funktional differenzierten Analyseebenen impliziert (siehe hierzu Renn 2004a; 2018). Diese mikro-/makrostrukturell differenzierten Ebenen der Theoriebildung benötigen einen analytischen Umweg über die Mesoebene, damit die InterdependenzUnterbrechungen makrohermeneutisch analysiert werden können. Denn das positive Familienrecht kann sich nicht direkt in die gesellschaftlichen Rechtsordnungen und personalen Übersetzungsverhältnisse (oder auch umgekehrt) einschalten, sondern es kann lediglich gefiltert und modifiziert über die symbolischen Systemgrenzen in die jeweiligen Rechtssprachen über die Mesoebene intervenieren, um überhaupt ein gesellschaftliches Rechtsgeschehen und qualitative Sinntransformation nach der eigenen Logik zu bearbeiten. Der Mesoebene kommt somit eine feste Basis im hermeneutischen Zirkel zu, da sich die Übersetzungen zwischen den systemischen Rechtsimperativen, den postkolonialen Milieus und spätmodernen Individuen durch die zentral integrierte Rechtsorganisation stetig unlinearen bewegen müssen. Aber wie werden diese makrotheoretischen Prinzipien auf der Praxisebene angewandt und übersetzt? Dieser Frage wird mit der hermeneutischen Interpretation des zweiten Interviews nachgegangen. Hier dauerte die latente Interviewführung nicht lange, bis der interviewte Rechtsanwalt, der auch in einer zivilgesellschaftlichen Organisation ehrenamtlich tätig war, das multipel differen-

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

zierte Familienrecht thematisierte. Denn durch seine funktionale Spezialisierung konnte er die Oberbegriffe und Einführungsfragen schnell zuordnen, anders als der interviewte Dichter, der in seiner kulturellen Lebensform zunächst von einer primären segmentären Differenzierung und danach von einer Gleichzeitigkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzählte. Interessant in der einleitenden Antwort des Rechtsanwalts auf die empirische Frage: Wie können Sie ihre alltägliche Arbeit beschreiben? #00:01:37-6#, ist, dass er zwischen dem »Traum« und der »Realität« bei der Ausübung des Rechtanwaltsberufs unterscheidet. Selbstverständlich verbindet er mit dem Traumbegriff keine unbewussten Symbole, Idealbilder oder (sexuellen) Triebe während eines verdrängten Traumsinnes in seiner ausdifferenzierten Psyche im »Unbewussten und im Es« (Freud). Es ist weniger das psychoanalytische Apparat einer »Traumdeutung« (Freud 2018), das sich in der Innenwelt des Rechtsanwalts codiert und während einer Psychotherapie dem Analytiker zur Diagnostizierung mitgeteilt wird, indem der Träumer eine Kausalität zwischen seinen verbannten psychischen Aktivitäten und der außenstehenden Lebenswelt hervorbringt, um einen Traum-Bericht herzustellen. Stattdessen werden mit dem Traumbegriff metaphorische Vorstellungen und Herausforderungen im Wachleben während des Jurastudiums assoziiert, bevor er begann, den ausgewählten Beruf auszuüben. Dazu gehören ausreichende Finanzen, um die anfallenden Kosten der Kanzlei (und überhaupt) zu decken oder die symbolischen Konkurenzverhältnisse als Produkt des »rechtlichen Kraftfeldes« (Bourdieu 1986) rational und systematisch durch eine professionelle Vertretung im Gericht auszugleichen. Dementsprechend muss man laut dem Interviewten zwischen dem Beruf als Einkommensquelle und der Traumdeutung im übertragenen Bedeutungssinn balancieren1 . Danach wurde dem Interviewten die Frage gestellt: »Wie sehen Sie den Beruf des Rechtsanwalts in Marokko? #00:03:19-7#«, ohne dass der Interviewer das multipel differenzierte Familienrecht thematisierte. Daraufhin antwortet der Interviewte, dass sein Beruf in Wahrheit nicht nur eine Einkommensquelle darstellt, sondern den Personen dient. Um seine Thesen zu bestätigen, führt er den symbolischen und mate-

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Siehe hierzu auch das Gespräch mit dem Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychoanalytiker Félix Guattari (1977) in: Rhizom, über ihr Buch Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie, in dem »die Schizoanalyse« in kritischer Anlehnung an den Psychiater Jaques Lacan eingeführt und die Psychoanalyse analytisch in ihrer Theorie und Praxis umgeformt wird. Im Gespräch auf Seite 53 heißt es: »Freud entdeckt den Wunsch als Libido, den Wunsch, der produziert; und er hat nichts Eiligeres zu tun, als die Libido wieder zu entfremden in der familialen Repräsentation (Ödipus)«. Oder Foucaults Kritik der Medizin und danach der Psychiatrie u.a. in »histoire de la folie à l’âge classique« (1972, 375ff.) Paris; oder in »Sexualität und Wahrheit 1« (1983, 43ff.), Frankfurt a.M. Siehe u.a. auch Brückner, B.; Iwer, L. & Thomas, S. (2017). Die Existenz, Abwesenheit und Macht des Wahnsinns. Eine kritische Übersicht zu Michel Foucaults Arbeiten zur Geschichte und Philosophie der Psychiatrie. In.: N.T.M. 25, 69–98. https://doi.org/10.1007/s00048-017-0164 -9.

3. Das latente Interview mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Fes

riellen Kampf um Menschenrechte und politische und gesellschaftliche Partizipation seit der Unabhängigkeit ein2 . Er fügt hinzu, dass die Rechtsanwälte sich für die politischen Gefangenen und Freiheitsdenker eingesetzt hatten. Sie waren in den »bleiernen Jahren das Licht in der Dunkelheit der damaligen Zeit«. Manche Rechtsanwälte spielten ehrenamtlich rechtlich und politisch eine signifikante Rolle für den Fortschritt Marokkos auf demokratischer Ebene. Nach diesen einleitenden Charakterisierungen tauchte in der Erzählung des Interviewten indirekt das positive Familienrecht auf. Auf die Frage, »...Äh, und was sind die Themen sowie Anfragen, die Sie erhalten?« #00:06:17-5#, antwortete er, dass in Marokko weder eine funktionale Spezialisierung im positiven Rechtssystem noch spezialisierte Richter und Anwälte in den Rechtsorganisationen existieren. Der Rechtsanwalt übernimmt Rechtsfälle im Bereich der Familie, im Strafrecht, im Zivilrecht, im Verwaltungsrecht und im Wirtschaftsrecht. Diese fehlende Spezialisierung wird vom Interviewten negativ bewertet, denn das positive Rechtssystem ist ihm zufolge vielschichtig geworden, und seine immanente Entwicklung muss mit einer Ausdifferenzierung der Rechtsbereiche begleitet werden, um in den Gerichtsprozessen eine spezifische Qualität zu gewährleisten. Auf der negativen Seite seiner binären Codierung und in seiner Programmierung beobachtet der Interviewte eine fehlende Rechtssicherheit und Verhaltenssteuerung auf drei strukturellen Horizonten, nämlich: Das Unrecht in den Gesetzen und erarbeitenden Entscheidungen, die herkömmliche Interpretation der Richter, um Konflikte im neuen positiven Familienrecht zu absorbieren und drittens eine Geschlechterungleichheit auf der habituellen Praxisebene des positiven Rechts. Der Interviewte führt zunächst ein, dass im positiven Familienrecht Eigenschaften der Ungerechtigkeit in den Gesetzen vorherrschen, wie beispielsweise, dass die Richter über die Verheiratung von Minderjährigen oder die Mehrehe entscheiden können. Dieser Spielraum der Richter muss laut dem interviewten Rechtsanwalt gesetzlich eingeschränkt werden. Man findet eine weitere Form der Geschlechterungleichheit auf der Praxisebene des positiven Familienrechts, die mit traditionellen Interpretationen der Richter zusammenhängt, z.B., wenn die Entscheidungsorgane in der zentralen Rechtsorganisation fortschrittliche Familiengesetze zwar vorliegen, aber nicht in die Praxis umgesetzt werden können. Dieser funktional spezialisierte Widersand hängt laut

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Mehr hierzu: Siehe in der vorliegenden Dissertation den dritten Grenzfall Kritische Öffentlichkeit im Kapitel »Das Recht und die Zivilgesellschaft«; sowie u.a. Kastner, F. (2015). Transitional Justice in der Weltgesellschaft. Hamburg, in dem sie die weltgesellschaftliche Verbreitung von »Transitional Justice« in Anlehnung an Luhmann und Meyer untersucht und beide Ansätze um einen lokalen Grenzfall, nämlich »die marokkanische Wahrheitskommission« im Jahr 2004 ergänzt. Ziel dieser Kommission war es, die Menschenrechtsverletzungen in der Zeit von König Hassan II. – 1956–1999 – zu bewältigen.

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

dem Interviewten mit dem kulturell-praktischen Hintergrund der Richter zusammen, die das neue Familienrecht praktizieren. Makrohermeneutisch zeigt sich auf der funktionalen Organisationsebene spätestens hier, dass eine latente Hintertür für das islamische Recht und habituelle Gewohnheitsrecht eröffnet wird. Die basal nichtlineare Tragweite des positiven Familienrechts muss also notwendig durch die zentrale Rechtorganisation und Operationen der funktional spezialisierten Richter von der Ebene der funktionalen Differenzierung auf der Ebene der kulturellen Differenzierung transzendieren. Der Familienrichter (und der parlamentarische Gesetzgeber) multiplizieren durch die traditionellen Normendeutungen – laut dem Interviewten – die dynamische Latenz der herkömmlichen Selektionen. Sie umhüllen das neue Recht mit alten Interpretationsschemata der Familiengesetzgebung, um sie weiterhin in der gesellschaftlichen Praxis anzuwenden. Somit reduzieren sie die Komplexität der neuen Rechtsprogramme auf die operativ gekoppelten Milieus und Personen, um ihre Koordinationseffektivität durch die normativen Rechte zu entfalten. An dieser systemischen zentralen Organisationsebene entfaltet sich – hier – die makrohermeneutische Gesellschaftsanalyse. Grund hierfür ist die traditionelle Interpretation des multipl differenzierten Familienrecht. Anschließend werden die systemischen Rechtsimperative indirekt in die nichtlokalen Lebensformen und Interaktionsmilieus integriert. Dafür muss auf der Übersetzung zweiter Ordnung eine Reihe von Spurschritten stattfinden, die auf der Interaktionsebene im Gericht als funktionale Institution sowohl die Familienrichter (im Hintergrund die parlamentarischen Gesetzgeber) und die Rechtsanwälte als auch die Individuen und Interaktionsmilieus einschließt. Denn die individuelle Interpretation des Richters muss zunächst in der Form eines Urteils übersetzt werden, das sein kulturell-praktischer, patriarchalischer Hintergrund und seine Inkompatibilität mit dem neuen positiven Familienrecht artikuliert. Das Richterrecht, zu dem kaum makrosoziologische Forschung im gesamten Maghreb existiert, beschränkt sich im Einzelfall keinesfalls ausschließlich auf die Anwendung des neuen positiven Familienrechts, sondern das Richterrecht überschreitet die positive Normengeltung und wirft sie in übertragener Bedeutung auf die gesellschaftlichen Rechte und das alte Familienrecht zurück. Ein Beispiel hierfür bietet die neu eingeführte Scheidung auf der Grundlage des Zerrüttungsprinzips »Scheitern der Ehe«. Laut dem interviewten Rechtsanwalt hat die richterliche Übersetzung der Programme in die Rechtspraxis jenes Systems diese Scheidungsform immer abgewiesen, gerade wenn die Anklage von der Ehefrau – nicht vom Ehemann – beantragt wurde. Weil ein traditionell argumentierender Richter sich nicht vorstellen kann, dass eine (emanzipierte) Frau sich scheiden lassen kann (!), auch wenn er aus rechtlich-inhaltlichen Gründen des neuen positiven Familienrechts gezwungen ist, die Scheidung durchzuführen. Diese Ambivalenz der Rechtsdogmatik (lex lata) lässt sich an der Praxis in der Rechtsorganisation nachweisen, die mit dem

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islamischen Recht und habituellen Gewohnheitsrecht operativ verbunden ist: Denn während des alten Familienrechts wurde die Verstoßung der Ehefrau als gängige Rechtspraxis gesellschaftlich inkorporiert, trotz des empirischen Widerstands zivilgesellschaftlicher Organisationen. Eine von der Ehefrau gewollte Scheidung wurde streng geregelt: Zulässig war sie nur 1). im Falle der Nichtversorgung durch den Ehemann, 2). weil er schwere physiologische Mängel hatte oder, 3). im Falle seiner langen Abwesenheit von zu Hause. Im Gegensatz dazu hat das neue positive Familienrecht formell die Möglichkeit der Scheidung aufgrund des Zerrüttungsprinzips eingeräumt. Die Ehefrau muss nun keinen dieser drei Gründe mehr vortragen, stattdessen muss sie dem Richter schlicht und kurz mitteilen, dass sie die Ehe auflösen will. Allerdings verlangte der operierende Richter trotzdem von der Ehefrau, Beweise und Gründe für die Scheidung vorzulegen, weil die Entscheidung der Ehefrau sein »kreatives« Denken und die habituelle Vorstellungskraft des traditionellen Richterrechts übersteigt (vor kurzem wurde laut dem Interviewten dieser Nachweiszwang zurückgezogen). Ein weiterer »soziologischer Tatbestand« (Durkheim) in diesem internen Zusammenhang betrifft die Kosten der Scheidung, die einen existenziellen Seins Charakter im nicht sozial Statthaften haben können. Im alten Familienrecht war die Ehefrau von den gerichtlichen Kosten befreit, sowohl während der Scheidung als auch in Bezug auf den Unterhalt. Im neuen positiven Familienrecht muss sie diese tragen, auch wenn sie die Scheidung aufgrund des »Scheiterns der Ehe« beantragt. Sie kann sich nicht davon befreien, auch wenn sie einem einkommensschwachen Milieu zugeordnet wird. Hierfür existiert keine allgemeingültige Regel zwischen den nationalen Familiengerichten, die faktisch eine »Erwartungssicherheit« (Luhmann) der Staatsbürgerinnen und der Staatsbürger gewährleisten sollen. Der empirische Beobachter kann schlichtweg erkennen, dass im neuen positiven Familienrecht der Ehemann weiterhin als Familienoberhaupt fungiert, ferner auch dann, wenn beiden Eheleuten die rechtliche Verantwortung über die Familie übertragen wurde. Hierfür nennt der interviewte Rechtsanwalt den Grenzfall »der Vollmachterteilung«. Der Ehefrau wird die Kinderbetreuung zugesprochen, aber was die Finanzen betrifft, wird der Ehemann als Zuständiger in der Familie wahrgenommen, auch wenn beide Eheleute geschieden sind. Die Ehefrau hat das Recht, als Erziehungsberechtigte zu fungieren, aber wenn es um finanzielle Angelegenheiten handelt, hat der Ehemann die Obrigkeit. Das bedeutet, dass im neuen positiven Familienrecht die geschlechtliche Ungleichheit auf dieser patriarchalischen Ebene weiterhin existiert. An dieser Stelle weist der Interviewer auf einen Disput hin, der von der Frauenbewegung vorgebracht und mittlerweile ganz öffentlich geführt wird, nämlich die Debatte über »das Erbrecht«, die mit der finanziellen Verteilungsgerechtigkeit verbunden ist, dass die Frau die Hälfte von dem erbt, was der Mann besitzt. In diesem Rechtsbereich existieren offensichtlich verschiedene Ungleichheitsformen, und die Gesetze werden weiterhin vom islamisch-maliki-

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tischen Recht übernommen, obwohl die Auseinandersetzung über eine Reform auch systemimmanent unter islamischen Rechtsgelehrten stattfindet. Laut dem Interviewten existieren »Igtihadat« (Anm. Übersetzer Rechtsinterpretationen, siehe hierzu das Kapitel über das Familienrecht und die Zivilgesellschaft: Erster Idealtyp), die neue normativ-interpretative Grundlagen aufzeigen. Die islamische Fiqh-Grundlage im Erbrecht wird weiterhin im multipel differenzierten Familienrecht angewandt. Diese religiöse Legitimationsgrundlage wird im säkularen Verfassungsrecht, im öffentlichen Recht, im Handelsrecht und im Strafrecht, z.B. im islamischen Hudud-Recht, wie das Auspeitschen aufgrund eines Ehebruchs oder das Abhacken der Gliedmaßen bei Dieben, nicht mehr praktiziert3 . Nur im Bereich des habituellen Gewohnheitsrechts und des positiven Familienrechts wird das islamisch-malikitische Erbrecht mobilisiert und seine herkömmliche Interpretationsweise oktroyiert. Dieses religiöse Rechtssegment, das seit der vorkolonialen Epoche koexistiert, wird weder soziologisch mit den anderen Rechtsordnungen übersetzt, noch transzendiert es mit dem Typus der Gesellschaftsstruktur. Hier wird der performativ »unübersetzbare Rest« (Benjamin 1963; Derrida 2007; Ricoeur 2006) rechtssoziologisch manifest, der trotz der symbolischen Grenzübergänge mit den anderen Integrationseinheiten identisch bleibt. Das alte staatliche Familienrecht, das in der postkolonialen Phase zum großen Teil dem islamisch-malikitischen Recht entnommen wurde (El Guennouni 2010; 2017), lebt in der Praxis des neuen positiven Rechtssystems auf der funktionalen Organisationsebene durch die Rechtsurteile der herkömmlichen Richter weiter, um sie in die gesellschaftlichen Rechte zu übersetzen. Denn durch die makrohermeneutische Interpretation zeigt sich, dass das alte Familienrecht auf der Praxisebene weder ganz abgeschafft noch mit dem neuen Recht je nach regionaler Differenzierung parallelisiert wurde, sondern durch den Strukturwandel eine neue Form angenommen hat. Diese Rechtsform muss auf der Grundlage von Kommunikations- und Handlungszusammenhängen über die inkorporierte symbolische Grenze mit dem habituellen Gewohnheitsrecht und dem islamischen Recht, die Rechtskniffe mit pragmatischen Nuancen einzusetzen, konfrontiert werden. Dies wird im Folgenden durch eine weitere praktisch-patriarchalische Ebene des neuen positiven Familienrechts auf der Übersetzung zweiter Ordnung verdeutlicht: F: Und wie sehen die Unterschiede auf der Praxisebene zwischen... #00:53:43-0# A: ...zwischen dem neuen und alten Recht? #00:53:43-0# 3

Wobei die Hudud-Vorschriften im Islam strenger gehandhabt wurden als die Vorschriften, die die Familie organisierten; trotzdem wurden sie abgeschafft. Der zweite islamische Kalif »Omar ibn al-Chattāb« (634–644) legte den Finger in die Wunde und verbot die praktische Anwendung des Hududsrechts, indem die islamischen Rechtsgelehrten seiner Zeit Igtihad betrieben und dieses Recht im Koran deaktivierten bzw. einfroren.

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F: Nein, zwischen Stadt und Land aus? #00:53:43-3# A: ahh, äh man kann sagen, es gibt Probleme äh die mit dem sozialen Umfeld zusammenhängen. Als signifikantes und wichtiges Beispiel kann ich die Verheiratung von minderjährigen Frauen nennen. Nach dieser Eheschließung folgt in der Regel eine Scheidung. Warum? Diese Heiratsform finden Sie insbesondere in ländlichen Regionen und nicht so oft, ja sogar kaum in Städten. Auf dem Land verheiraten sie ihre Frauen vor der Volljährigkeit, mit 15, 16, 17 Jahren. Diese Heirat kann nicht direkt bei den Oudoul angemeldet werden. Man braucht die Genehmigung eines Richters, damit eine Minderjährige verheiratet werden kann. Leider hätte das neue Familienrecht diese Lücke schließen müssen. Diese Frau ist noch ein Mädchen, unter 18 Jahren, sie kann gar nicht die Verantwortung einer Ehefrau übernehmen. Erstens kann ein Kind nicht selber entscheiden und ihr Vormund oder Vater trifft an ihrer Stelle die Entscheidungen. Somit wird sie in eine Beziehung geführt, in der sie keine Entscheidungen treffen kann. Sie ist noch nicht volljährig. Das ist eine Ebene. Die zweite Ebene betrifft die Entscheidung des Richters. Wenn die Familien den Antrag stellen, begutachtet der Richter nur die Physiologie des Mädchens. Er schickt sie zu einem medizinischen Gutachter und im Gutachten wird bestätigt, dass sie den physiologischen Belastungen einer Ehe gewachsen ist und dann erhält die Familie die Genehmigung. #00:55:51-4# Für den Interviewten stellen die Unterschiede zwischen Stadt und Land in diesem Bereich ein soziales Problem dar. Als signifikantes Beispiel führt er die Verheiratung von minderjährigen Mädchen an, die sowohl die Regel als auch den Hauptunterschied zur Stadt darstellt. Daraufhin thematisiert er die rechtlichen Rahmenbedingungen dieser in der ländlichen Region typischen Eheschließung. Denn aufgrund der Minderjährigkeit der Frau kann diese informelle Verheiratung nicht unmittelbar im Standesamt angemeldet werden. Das neue Familienrecht erlaubt in der Regel eine Heirat erst ab der Volljährigkeit einer Frau und eines Mannes und reglementiert die Heirat der Minderjährigen. Solch eine Heirat kann erstmal nur mit vorheriger Genehmigung des Richters stattfinden (wie im Interview mit dem Dichter und Mitglied des informellen Milieurats veranschaulicht wurde). Falls dies nicht erfolgt, nutzt man einen Rechtskniff, die vom Interviewten wie folgt beschrieben wird: Die künftigen Eheleute werden in Anwesenheit beider Familien und Vertreter der Gmaa informell verheiratet. Im Anschluss wird dann die Ehe im Gericht anerkannt, und zwar ohne Eheurkunde und ohne Genehmigung des Richters. Es reicht aus, wenn die Familien und die Vertreter der Gmaa diese informelle Ehe vor dem Richter bezeugen. Diese Möglichkeit wird dadurch eingeräumt, dass das neue Familienrecht immer noch vom Beweis der Eheschließung spricht. Die Aussagen des Interviewten beschreiben nicht nur ein Rechtsphänomen, sie signalisieren auch eine Lesart eigener Ordnung. Mit der makroanalytischen Tiefenhermeneutik als Bezugspunkt kann

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eine andere Lesart vorschlagen werden. Dabei lässt sich das Rechtshandeln nicht den einzelnen Personen allein zuschreiben, da es nicht als individualistisches Handeln gedeutet werden kann. Vielmehr ist es überindividuell bestimmt und hängt unmittelbar von zwei ungleichen Rechtssprachen (staatliches kodifiziertes Recht und mündliches Gewohnheitsrecht) mit ihren jeweiligen Integrationskriterien ab. Beide Rechtssprachen definieren die Identität und die Bedeutung der Handlung, um sie in den Zusammenhang weiterer Handlungsketten zu integrieren. Es handelt sich also um ein Differenzverhältnis zweier Sinnwelten, die sozialstrukturell nicht aufeinander reduzierbar sind. Gerade im geschilderten Grenzfall tritt das Spannungsverhältnis von Identität und Differenz, vom Eigenen und Fremden, deutlich hervor. Denn die habituelle Eheschließung bedeutet für die Gmaa-Angehörigen nicht bloß eine Interaktion unter Anwesenden, sie ist das Ergebnis der pragmatischen Geschichte und akkumulierten Erfahrungen in einem habituellen Tauschsystem von Gaben und Gegengaben (Maus 1968) in einer multikomplexen Sozialstruktur4 . Das neue positive Familienrecht zwingt latent die Gmaa-Angehörigen, die sinnhaften Grenzen des sozialen Milieus zu überschreiten. Dies liegt zunächst einmal daran, dass mit einer informellen Fatiha-Ehe systemische Inklusionserwartungen bei signifikanten gesellschaftlichen Anlässen nicht erfüllt werden können (z.B. bei der Geburt eines Kindes aus dieser informellen Ehe). Somit geraten die Handelnden in Bewegung zwischen diesen beiden normativen Ordnungen, was unmittelbar zu einer Umstellung der Interaktionsordnung führt. Dabei würde eine lineare Übertragung des Familienrechts beide Ordnungen destabilisieren und die kulturelle ländliche Lebensform ganz von ihrer nichtlokalen Rechtssprache trennen, ja sogar den Sinn atomisieren (Benjamin 1963). Daher greifen die Gmaa-Angehörigen auf kreative Rechtskniffe im Rahmen der allgemein formulierten und nicht expliziten Rechtsregeln (»Beweis der Ehe«) zurück, um beide Rechtsordnungen zu stabilisieren. Denn die genannte allgemeine Rechtsregel beabsichtigt weder, die Rechtspraxis festzulegen noch konkret zu artikulieren, was konformes Heiratsverhalten determiniert. In diesem Sinne bleiben die Handelnden nicht in der Logik von Identität und Differenz gefangen. Sie nehmen Grenzüberschreitungen zwischen beiden normativen Ordnungen in Kauf, mit all ihren strukturellen Folgen für die Systemintegration und die formale Inklusion, insbesondere auf der zentralen Organisationsebene. Für diese Interpretationsmöglichkeit gibt es Anzeichen im Interview. Es ist zu beobachten, dass die Gmaa-Angehörigen in den Institutionen des positiven Rechts pragmatisch handeln müssen, sodass die eigenen Rechtsrituale innensystemisch zurückgewiesen werden, ohne die Differenz konflikthaft zu lösen. Sie können überdies weder die Strukturen bestimmen noch die Rechtsrituale festlegen. Denn im Gericht 4

Maus untersucht die Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, während hier eine Übersetzung des habituellen Gewohnheitsrechts mit dem staatlichen positiven Recht staatfindet und makrohermeneutisch analysiert wird.

3. Das latente Interview mit einem Rechtsanwalt in der Stadt Fes

kann die Gmaa das Heiratsverfahren nicht mehr bestimmen. Sie wird selbst in die abstrakte Rolle der Zeugen in das Richterrecht integriert. Diese interne hierarchische Struktur bildet einen typischen Fall weltgesellschaftlicher Rechtskonstellationen. Hier nehmen traditionelle Institutionen mittels pragmatischer Übersetzung die Überordnung binärer Codierung situativ an, d.h. sie spielen das hegemoniale Sprachspiel mit, um die eigene funktionale Äquivalenz nicht zu gefährden. Die kreativen Rechtkniffe harmonisieren beide Rechtssprachen, indem sie bei ihrer Begegnung dazu beitragen, zwei ungleiche Rationalisierungskriterien und Differenzierungsgrade kompatibel zu machen. Daher kann eine Eheschließung zugleich in zwei normative Ordnungen integriert werden; sie kann zugleich zwei sein und diese Region der multipel differenzierten Weltgesellschaft ist besonders dadurch gekennzeichnet. Derlei Rechtspraktiken erscheinen keinesfalls als einzelne Phänomene. Sie stellen kollektive, sich wiederholende Einheitsübersetzungen dar, in denen solche Handlungen in sozialen Milieus immer wiederkehren. Dies impliziert auch, dass in der Weltgesellschaft die Geltung des Rechts nicht auf einer universellen Legitimationsgrundlage beruhen kann. Die Moderne wird im lokalen Rahmen adaptiert und ganz verschieden kombiniert (Eisenstadt 2000). Sie präsentiert sich in jener Weltregion nicht als strukturelle Auflösung von Rechtstradition durch die Bildung eines positiven selbstreferenziellen Funktionssystems (Luhmann 1995; Habermas 1992; Bourdieu 1986; Weber 2006; Durkheim 1977). Die dynamische Rechtspraxis als Einheit der sozialen Lebensform wird nicht durch primäre funktionale Differenzierung abgeschafft, sondern wird im Gegenteil dadurch gerade aufrechterhalten, nämlich in der Form »multipler Differenzierung« (Renn 2006)5 . Die Teilrechtsordnungen umfassen somit differente Sinnhorizonte und praktische Welterschließungen. Die zentrale Rechtsorganisation und das vertikale Richterrecht gehen aus der makrohermeneutischen Interpretation nicht als die einzigen 5

Die Verheiratung von Minderjährigen ist nicht nur – wie der Interviewer postuliert – auf das habituelle Gewohnheitsrecht in ländlichen Regionen beschränkt, sondern ist durch das islamische Recht in den Städten u.a. in den Städten Fes, Meknes, Sefrou, weitverbreitet und stellt keine »Ausnahme« dar, wie empirische Studien belegen (siehe u.a. die offizielle Studie des marokkanischen Justizministeriums im Jahr 2014, in dem 51,79 % der Anträge in den Städten und 48,21 % in ländlichen Regionen gestellt wurden. Laut der Studie hat die Verheiratung von minderjährigen Mädchen zugenommen, von 38710 Anträge im Jahr 2007 auf 43508 im Jahr 2013, wobei 92 der Anträge von männlichen Minderjährigen und 43416 von weiblichen Minderjährigen bzw. deren Eltern gestellt wurden. S. 40–46 (auf Arabisch). Zudem stellt diese Heiratsform kein regional maghrebinisches Phänomen dar, sondern sie ist in der ganzen arabisch-islamischen Welt omnipräsent. Siehe hierzu: Saleh Khalid Saleh Schqirat (2017). Die Verheiratung von Minderjährigen zwischen dem islamischen Recht und dem positiven Recht. Minnesota, USA. (Auf Arabisch): https://www.sharjah.ac.ae/en/Research/spu/Journalsharia/ Documents/V16/Issue%202/5.pdf. Oder die Forschungsgruppe »Das Recht Gottes im Wandel«, die das Familienrecht in islamischen Ländern am Max-Plank-Institut untersucht.

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Übersetzer des staatlichen und globalen Familienrechts hervor, sondern das gesellschaftlich horizontale islamische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht spielen das Übersetzungsspiel mit. Durch den kreativen und arrivierten Vollzug der Übersetzung zweiter Ordnung manövrieren sie praktisch im Familiengericht das positive Recht und entwickeln eine multikomplexe und interaktive dritte Gesellschaftsschicht. Sie sind durch die systemische Imperative in eine nichtlineare Bewegung zwischen den differenzierungsabstrakten und handlungspraktischen Einheiten geraten und transitieren durch eine ›interaktive Überlappung‹ (in einem anderen Kontext: Renn 2006, 329) die vertikal gebaute multiple Rechtwelt, ohne assimiliert zu werden oder zu kollidieren. Die normativen Rechtstypen taktieren auf der gemeinsamen Bühne – dem Gericht – durch die Einbeziehung weiterer Organisationen, wie der medizinischen, pragmatisch die Programme des positiven Rechts, um sich allmählich praktisch in eine Übersetzung dritter Ordnung zu transzendieren. Sie überqueren die kommunikativen Grenzspuren und transformieren latent ihre traditionelle Gebrauchsbedeutung zu einem posttraditionellen Integrationshorizont von einer Übersetzung erster Ordnung zu einer Übersetzung zweiter und dritter Ordnung. Auf dieser Ordnungsebene wird die Übersetzung zwischen den gesellschaftlichen Rechtsordnungen und dem neuen positiven Recht nicht abgeschlossen, sondern sie wird im hermeneutischen Zirkel mit weiteren Individuen (explizit hier die Minderjährigen), deren Familien und indirekt mit dem Interaktionsmilieu fortgesetzt. Denn »das Tor der Ausnahmen« wurde im internationalen Familienrecht ratifiziert und gleichzeitig im neuen positiven Familienrecht (Artikel 20, 21, 22) latent geöffnet, das durch die Rechtskniffe und eine multiple Triangulationszustimmung der Eltern, des Interaktionsmilieus und des Familienrichters zu einer »Regel« (Interview mit dem Rechtsanwalt: #00:59:57-8#) geworden ist, um ihr pragmatisches Hintergrundwissen zu praktizieren. Aus dieser vertikalen Ehe mit Minderjährigen, die auf der pragmatischen Übersetzung erster Ordnung »Gmaa-Heirat« und zweiter Ordnung »Gericht-Heirat« empirisch wiederholt wird und eine gesellschaftliche Integration von handlungspraktischen Einheiten und systemischen Imperativen impliziert, entstehen soziale Probleme und Konflikte. Denn diese weitverbreitete Ehe-Form ist eine Explikation der Nichtbeachtung von Kinderrechten: Das Mädchen ist nicht volljährig und kann dementsprechend keine Heiratsentscheidung treffen, insbesondere, wenn das minderjährige Mädchen – wie dargestellt wurde – doppelt verheiratet und mit ein oder zwei Kindern geschieden wird, was empirisch keinen seltenen problematischen Grenzfall darstellt. Das minderjährige Mädchen ist in spättraditionellen Milieugebundenheiten psychologisch und mental noch nicht in der Lage, zu arbeiten und familiäre Verantwortung zu übernehmen. In diesem Grenzfall ergibt sich daraus ein sozialer und ökonomischer Zustand, der die ausgelieferte Lebensgrundlage sowohl der

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Minderjährigen als auch von deren Kindern verstärkt. Denn der Ehemann heiratet das Mädchen, und sie leben in der Regel weiterhin in einem Zimmer bei seiner Großfamilie. Vor diesem Hintergrundwissen kann man ahnen, welche Konflikte und sozialen Probleme durch diese desperate »Interaktionsordnung« (Goffman 1971; 2019) entstehen können, die auf der Übersetzung zweiter Ordnung empirisch das Risiko einer Scheidung in der zentralen Rechtsorganisation erhöhen. Es kann in der empirischen Welt sogar passieren, dass der Ehemann der Eheschließung in seinem sozialen Milieu auf der Übersetzung erster Ordnung in einer informellen »Gmaa- Heirat« zustimmt, um sie dann auf der Übersetzung zweiter Ordnung vor Gericht zu leugnen, damit er der juristischen Gewährleistung entgeht. Die vertikale Integration des positiven Rechts mit den beiden gesellschaftlichen Rechtsordnungen kann in diesem Grenzfall konflikthaft verlaufen, da die minderjährige Ehefrau bzw. ihre Familie und das indirekte Interaktionsmilieu verpflichtet sind, die Eheschließung in der zentralen Rechtsorganisation – vor Gericht – nachzuweisen. Aber wenn die Großfamilie keinen Antrag auf Tubut, Anerkennung der Eheschließung durch Zeugen, stellt oder das postkoloniale Interaktionsmilieu, die Gmaa, das Spiel nicht mitspielt und die Eheschließung nicht auf der Übersetzung zweiter Ordnung bezeugt, ergeben sich wiederum Konflikte dabei, sowohl die Abstammung als auch die Eheschließung rechtlich zu beweisen. Daher muss das neue positive Familienrecht die »relationale Macht«6 dieser spättraditionellen Institutionen, die die »Komplizenschaft« von Frauen mit der patriarchalischen Dominanz von Männern (Connell 1999, 94) impliziert, durch die Staatgewalt unterbinden. Die Gmaa-und Fatiha-Ehe mit Minderjährigen muss rechtlich in der Regel verboten und ihre herkömmlichen Legitimationsgrundlagen müssen zurückgezogen werden. Sie darf nicht mehr durch Rechtskniffe praktiziert und als legal deklariert werden; hierzu müssen weitere Institutionen eingreifen. Der Wali, der die Minderjährige verheiratet, muss in der Regel eine Gefängnisoder Geldstrafe erhalten. Wenn man die Anwesenheit der Gmaa bei einer informellen Ehe beweisen kann, muss sie sanktioniert werden, um solchen Phänomenen entgegenzuwirken. Denn das neue positive Familienrecht kann die Verheiratung von Minderjährigen nicht allein deshalb unterbinden, weil sie differente gesellschaftliche und staatliche Rechtsordnungen in der Gesellschaftsstruktur berührt. Was den rechtlichen Beweis einer informellen Ehe auf der Übersetzung zweiter Ordnung betrifft, so hat das positive Familienrecht für diese Grenzfälle eine Frist von 5 Jahren

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Der Grundbegriff der relationalen Macht wird von vielen Klassikern verwendet: Zur soziologischen und methodologischen Verwandtschaft zwischen Elias’ Figurationsbegriff, dem Machtbegriff von Foucault, der mit dem Subjekt und Wissen in einer Triade zusammensteht, und Simmels Ansatz der Wechselwirkungen vgl. u.a. Rosa, Strecker & Kottmann, Soziologische Theorien, 2018, 211. Siehe hierzu auch die soziologische Verwandtschaft von Bourdieu und Elias in: Bourdieu 1989, 35 und Willems 2008, 69.

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zur Legalisierung dieser Ehen eingeräumt. Diese Regelung wurde im Jahr 2004 verkündet, und eigentlich wäre die Frist für die Legalisierung aller informellen Ehen in Marokko im Jahr 2009 abgelaufen. Daher dürfte diese Sonderregelung eigentlich nicht mehr existieren. Aber im Jahr 2009 war das Phänomen auf der handlungspraktischen Ebene immer noch weit verbreitet. Im Jahr 2014 wurde die Frist weiterhin verlängert, weil die Ehe mit Minderjährigen ein zentrales Element der gesellschaftlichen Rechtsordnungen impliziert. Das positive Recht übt kaum Kontrolle über diese posttraditionellen Institutionen aus, und im multipel differenzierten Familienrecht herrscht ein Konflikt vor, der auf der Übersetzung zweiter Ordnung gelöst werden muss (Hierzu auch der interviewte Rechtsanwalt, #01:04:17-9#)7 . Ein weiteres gravierendes soziales Problem betrifft die Kinder, die aus einer sog. »Scharia- Eheschließung« hervorgehen. Das positive Familienrecht erkennt zwar die auf der Übersetzung erster Ordnung auftretenden Scharia-Ehen an, sie müssen aber unilinear auf der Übersetzung zweiter Ordnung durchgezogen und legalisiert werden, damit die Kinder, die aus dieser informellen Ehe stammen, rechtlich anerkannt werden und nicht als »Haram- Kinder«, verbotene Kinder oder Kinder der Sünde (im 21 Jahrhundert!) gelten. Das neue positive Familienrecht hat dieses Übersetzungs-Eltern-Kinder-Verhältnis nicht geregelt, denn im Artikel 16 des positiven Familienrechts wird die Heiratsurkunde als der einzige rechtliche Nachweis vom Standessamt anerkannt. Somit werden Millionen von Kindern, die außerhalb der Institution der formellen Ehe existieren, aus juristischen Gründen ausgeschlossen. Diese Kinder haben keine Straftat begangen, aber sie werden mit den Eltern rechtlich sanktioniert und es bleibt die sozialstrukturelle Bezichtigung, die ein ›uneheliches Kind‹ sein Leben lang erleidet. Das Abstammungsrecht bezweckt nicht die Registrierung des Kindes im Familienbuch und darf daher nicht den Namen seines biologischen Vaters übernehmen. Denn die Übersetzung zweiter Ordnung impliziert, dass die Abstammung nur im Rahmen der formellen Scharia- Eheschließung anerkannt werden kann. Auch im Falle einer DNA-Untersuchung wird das Kind nicht dem biologischen Vater zugerechnet, falls er das sexuelle Verhältnis mit der Frau vor Gericht leugnet, um von den Unterhaltszahlungen befreit zu werden. Dabei muss das Rechtsspiel in der Praxis umgedreht werden und der Vater, der diese Straftat begeht, zur Rechenschaft gezogen

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Dieser empirische Zusammenhang des multipel differenzierten Familienrechts und die Verheiratung von Minderjährigen in Marokko und in der islamisch-arabischen Welt rufen in manchen Punkten die Erinnerung an »Die Geständnisse des christlichen Fleisches« hervor, die Foucault (2019, 468ff.) in Sexualität und Wahrheit 4 über die christliche Verheiratung niedergeschrieben hat, die eine inhaltliche Strukturerhaltung der Ehe-Formen in der gesellschaftlichen Entwicklung und sozialen Differenzierung der gesellschaftlichen Rechtsordnungen verdeutlichen, allerdings ohne ihren pragmatischen Übersetzungen in multiplen Ordnungen nachzugehen.

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werden. Im Gegensatz dazu wird er sowohl vom Unterhalt als auch von der Abstammung entbunden. Ein solcher Grenzfall kann nicht nur durch ein uneheliches Sexualverhältnis entstehen, in dem beide sozialen Geschlechter sich einig sind, sondern auch durch eine Vergewaltigung verursacht werden. Die Frau kann dadurch ungewollt schwanger werden, und trotzdem wird der biologische Vater nicht durch das positive Familienrecht bestraft. Denn er wird von dem Unterhalt und der Abstammung entlastet und nur im Rahmen des Strafrechts, nicht des Familienrechts, zur Rechenschaft gezogen. Die Organisation der Gesetzgeber umgeht somit pragmatisch eine explizite Konfrontation mit den spättraditionellen gesellschaftlichen Rechtsordnungen auf der Praxisebene, was unmittelbar die positive Rechte der Kinder berührt. Stattdessen könnte die Abstammung des Kindes unmittelbar von der Frau und nicht vom Mann abgeleitet werden. Denn im Fiqh wird postuliert, dass die Abstammung von einer Frau sicher ist, aber die von einem Mann nur wahrscheinlich. Auch wenn beide verheiratet sind, bleibt sie rechtlich konstant, nur wahrscheinlich. Es kann sein, dass der Vater ein anderer ist, aber bei der Mutter ist die Abstammung – ohne eine DNA-Untersuchung – gewiss. Bis auf diese Interpretationsebene werden die islamisch-malikitischen Rechtsgelehrten aufgrund ihres gegenwärtigen religiösen Wissens nicht argumentieren. Eine pragmatische Lösung hierfür kann vorgeschlagen werden, die aber aus den jetzigen Interpretationsformen der Scharia und ihrer Ausprägungen heraus (noch) nicht umgesetzt werden kann. Sie impliziert einen immanenten religiös »pragmatischen Diskurs« (Renn 2016), der aus einer dreidimensionalen Makroperspektive geführt wird, nämlich eine historisch-soziologische makrohermeneutische Interpretation der Koran- und Hadithtexte bzw. den politischen und gesellschaftlichen Willen zu einer spätmodernen Deutung dieser religiösen Texte. In dieser makrohermeneutischen Interpretation sollte der »latente Sinn« als strukturelle Vermittlung zwischen der Mikro-, Meso- und Weltgesellschaftsebene sichtbar werden. Daran anschließend sollte diese immanente reflexive Aufklärung der islamischen Religion zunächst als Übersetzung zwischen den handlungspraktischen und operativ gekoppelten systemischen Imperativen in dieser regionalen Differenzierung der multiplen Weltgesellschaft verstanden werden. Dabei ist zu bedenken, dass Koranund Hadithtexte fortexistieren, die aus epistemologischen Gründen mit einem bestimmten Kontext bzw. einem historischen Zeithorizont verbunden sind und daher keine Aktualität im spätsäkularen Nationalstaat haben (z.B. bestimmte Verse zum islamischen Familienrecht, zur Mehrehe und der Verheiratung von Minderjährigen, zum Erbrecht oder zur Sklaverei). Dies auch dann, wenn das Ausschalten oder das Einfrieren solcher Koran- und Hadithtexte gegen den patriarchalischen Konsens (Igmaa als dritte Quelle im islamischen Recht) der Mehrzahl heutiger Rechtsgelehrten bzw. gegen eine spätkonservative, männlich dominierte Auslegung der Koran- und Hadithtexte und die latente Komplizenschaft des weiblichen Geschlechts verstieße. Ein immanenter deliberativer und weit gefasster »Igmaa« sowie die Integration

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diverser islamischer Rechtgelehrtinnen wäre ein Ansatzpunkt, um diesen spätmodernen Igmaa in einen islamischen Igtihad und geistig-religiöse Anstrengung zu übersetzen.

4. Das latente Interview in der Kleinstadt Khmissat

Die Durchführung von »latent makrohermeneutisch« qualitativen Interviews (Renn 2013; 2018) mit verschiedenen Individuen und an drei verschiedenen nichtlokalen Orten – auf dem Land im Mittleren Atlas, in der kulturellen Hauptstadt in Fes und in der ›Berberstadt‹ Khmissat – wurde vor dem Hintergrund makrotheoretischer Überlegungen als fundamental für die Erhebung der horizontalen und vertikalen Übersetzungen des multipel differenzierten Familienrechts betrachtet. Die Strukturhorizonte und Integrationseinheiten des empirisch untersuchten Familienrechts können durch »Bedeutungsbrüche« (ebd.) und Rechtskniffe nicht assimiliert werden; stattdessen sind sie operativ gekoppelt und überschreiten symbolisch die »vermittelten Interaktionen« (Mead) einer sozialen »Lebensform« (Wittgenstein) und regionaler Differenzierung. Seine soziologischen Grundbegriffe bestehen weder nur aus »systemischen Kommunikationen« (Luhmann) des positiven Rechts, noch sind sie nur »kulturtheoretisch« (Gephart) als Elemente der gesellschaftlichen Rechtsordnungen geformt, sondern sie sind in multipel differenzierten Rechtsübersetzungen synchronisiert (Übersetzung zweiter Ordnung). Diese makrotheoretischen Vorannahmen bei der Planung und Durchführung der empirischen Forschung, oder diese »theoretische Empirie« (Kalthoff & Hirschauer & Lindemann 2008), wurden in der Entwicklung des latenten Leitfadeninterviews eingesetzt. Denn die Forschungsfragen und latenten Interpretationen können – wie bereits dargelegt – keineswegs schlicht und einfach lediglich aus der empirischen interaktionistischen Forschung entwickelt werden, sondern sie benötigen einen indirekt gefilterten multipel differenzierten weltgesellschaftlichen Bezugsrahmen, um die praktisch-performativen Einzelheiten oder Mikrometapherwelten paradigmatisch von »unten« (interaktionsebene) nach »oben« (multipel differenzierte Gesellschaftsebene) zu entfalten, die wiederum in umgeformten lokal-pragmatischen Übersetzungen orchestrieren (siehe hierzu Renn 2018, 158–167), ohne eine »Kollision« der normativen Ordnungen hervorzubringen, wie Fischer-Lescano und Teubner (2006) postulieren (siehe auch Kirchhof in Bezug auf das islamische Recht 2019, 365–373). Das dritte Makrohermeneutische Interview dokumentiert – genau wie die anderen qualitativen Interviews – kreativ die symbolischen Grenzüberschreitungen des multipel differenzierten Familienrechts und kam durch persönliche Feldkon-

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takte und die Bedingungen des Feldzugangs in dieser regionalen Differenzierung der multipel differenzierten Weltgesellschaft zustande, die in einem Extrakapitel analysiert wurden. Es wurde im Juli 2013 mit einem Rechtsanwalt in der Kleinstadt Khmissat geführt, der gleichzeitig als Vertreter der NRO »Jeunes Avocats du Maroc« tätig war. Diese zivilgesellschaftliche Organisation wurde im Jahr 2006 gegründet. Sie ist mit nichtlokal operierenden Organisationen wie »Rechtsanwälte ohne Grenzen« vernetzt und arbeitet u.a. über die Themen »Gewalt gegen Frauen«, »Die Verheiratung von Minderjährigen« und »Die Mehrehe«. Außerdem bietet sie Aus- und Weiterbildungen für nationale Rechtsanwälte an, wie die Weiterbildung: »Die praktische Umsetzung des globalen Rechts in den nationalen Gerichten« (eigene Übersetzung), die am 2. März 2020 im »Haus der Rechtsanwälte« in der Hauptstadt Rabat organisiert wurde. Das latente Interview fand in der Geschäftsstelle dieser global operierenden zivilgesellschaftlichen Organisation in der Stadt Khmissat statt. Dieser Ort diente außerdem als zentraler Dreh- und Angelpunkt der wenigen vorhandenen »öffentlichen Räume« (Benhabib 1991, 147ff.) in dieser Kleinstadt, um die differenten Veranstaltungen zu organisieren, wie im transkribierten Interview und in einem informellen Gespräch mitgeteilt wurde (siehe hierzu auch Rachik 2012). Wie in den anderen Interviews, war das angekündigte Thema auch in dieser qualitativen Erhebung allgemein und kreiste um »Die marokkanische Familie«. Das Hauptziel dieser empirischen Forschungsmethode war es, die latenten Sinndeutungen des Interviewten auszuloten, um die Grenzfälle des positiven Familienrechts und der gesellschaftlichen Rechtsordnungen in einer Übersetzung multipler Ordnung makrohermeneutisch zu interpretieren. In diesem internen Prozess kann man die latente Bedeutung eines »Sprachgebrauchs« (Wittgenstein), wie eines Buchstabes eines Wortes oder Satzes, als Metapher nur aus den Übersetzungsverhältnissen mit ihrem lokal- pragmatischen Kontext, hier das indirekt eingebaute soziale Milieu, erschließen, die in der Umgebung von interaktiven und alltäglichen Fallstrukturen operieren (mehr hierzu siehe oben, die methodologischen Reflexionen und die sprachpragmatische Auseinandersetzung mit der postmodernen Dekonstruktion Derridas). Hierfür muss man den qualitativen Spuren im hermeneutischen Zirkel der empirischen Weltgesellschaftsanalyse analytisch folgen und sie ständig als »performative Form der permanenten Revision der generalisierenden soziologischen Theorie« ausbilden (Renn 2018, 239f.). Das Interview beginnt – wie die anderen Interviews – mit einer allgemeinen Frage: »F: Wie bist du auf die Idee gekommen, als Rechtsanwalt zu arbeiten? #00:00:087#«. Darauf antwortete der Befragte, dass für diese wesentliche Entscheidung zwei charakteristische Hautgründe vorlägen: Zum einen die funktionale Spezialisierung im rechtswissenschaftlichen Studium und zum anderen seine habitualisierte Wissbegierde in Bezug auf die global operierenden Menschenrechte. Dieses realistische Weltbild der individuellen Erfahrungen impliziert zwei Sinnorientierungen: Eine

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formal-systemische, die in der zentralen Rechtsorganisation durchgeführt wird und pragmatisch nur an das positive Recht gebunden ist, sowie eine zivilgesellschaftliche Tätigkeit, mittels derer versucht wird, die Bahnen der gesellschaftlichen Rechtsordnungen durch eine habituell-performative Arbeit in ein positives Recht zu lenken. Beide Integrationseinheiten bilden ein klares Muster und eine eindeutige Ordnungsform im öffentlichen Leben des interviewten Rechtsanwalts, und sie verbinden auf der Integration zweiter Ordnung routiniertes Organisationswissen mit postkolonialen Milieuerkenntnissen. Denn die zivilgesellschaftliche Organisation »Jeunes Avocats du Maroc« und ihre Mitglieder organisieren in der Rechtspraxis Veranstaltungen und Workshops im Mittleren Atlas und in der Umgebung auf dem Land, um die Bevölkerung und insbesondere die Frauen über die Möglichkeiten des neuen positiven Familienrechts aufzuklären. Entscheidend ist, dass der Rechtsanwaltsberuf Entfaltungsmöglichkeiten der fachlichen Kompetenz einräumt, um sich in anderen operativ gekoppelten Integrationseinheiten zu engagieren, neue Rechtsauskünfte über die Programme (Verfahren und Gesetze) mitzuteilen und diese über weite diskontinuierliche Strecken in die Praxis zu übersetzen. Diese strukturellen Einheiten sind nicht mit dem Individuum durch »Irritationen und ein internes Vorbereitsein strukturell gekoppelt«, wie Luhmann im Falle des operativ geschlossenen Rechtssystems mit den psychischen Systemen postuliert (1993, 440–495). Das Bewusstseinssystem des figurativen Rechtsanwaltes schließt zwar an die strukturdeterminierte Kommunikation der Sozialsysteme an und löst durch eine Komplexitätssteigerung Irritationen aus, bleibt jedoch in der multiplen Differenzierung nicht autopoietisch geschlossen. Das Gericht und die zivilgesellschaftliche Organisation können sich ihrerseits durch kommunikative Strukturen operativ auf das Individuum beziehen, lassen sich aber nicht durch das autopoietische Formel mit den Umweltreizen – hier der Rechtsanwalt – binden. Stattdessen korrelieren die symbolischen Grenzziehungen zwischen den drei Integrationseinheiten indirekt miteinander und werden somit ohne eine Auflösung der Differenz überschritten. Später mehr hierzu. Daran anschließend wurde die Frage gestellt: »Wie beschreiben Sie Ihre tägliche Arbeit«? #00:00:50-0#. Bereits hier wurde das positive Familienrecht von dem Interviewten thematisiert. Anders als das durchgeführte Interview mit dem Dichter und Mitglied des Interaktionsmilieurats »die Gmaa«, dauerte es auch in diesem Interview nicht lange, bis der Rechtsanwalt das positive Familienrecht thematisierte, auch wenn offiziell die »marokkanische Familie« als zentrales Thema des Interviews angekündigt wurde. Darauf antwortete der Befragte, dass in Marokko keine Spezialisierung in seinem Beruf existiert. Er kann alle Rechtsbereiche vertreten, wie das positive Familienrecht, das Verwaltungsrecht oder das Strafrecht. Durch diese Verallgemeinerung können – laut dem Interviewten – soziale Probleme entstehen, die allgemein mit dem normativen Gerechtigkeitsbegriff und mit der Praxis des Rechtssystems verbunden sind. Das

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sind manifeste Gründe, warum er sich zivilgesellschaftlich engagiert. Gerechtigkeit ist in den alltäglichen Deutungen des Befragten weniger in einem philosophischen Diskurs der Moderne als Gedankenmodell eingebettet, sondern sie hat einen empirisch pragmatischen Charakter, der mit faktischen Horizonten und einer multipel differenzierten Rechtsordnung interagiert. Konkrete Ungerechtigkeiten, wie die Verheiratung von Minderjährigen oder die Mehrehe, die bis heute als Grenzfälle im gottgegebenen islamisch-malikitischen Recht und im habituellen Gewohnheitsrecht verwurzelt sind, stellen für den interviewten Rechtsanwalt eines der zivilgesellschaftlichen Arbeitsfelder dar1 . In diesem Sinne müssen sowohl der Gerechtigkeitsbegriff, der intern mit der Natur der Gesetze und juristischem Analphabetismus zusammenhängt, als auch der Anwaltsberuf in Bezug auf die funktionale Spezialisierung modernisiert werden. Denn in der praktischen Umsetzung des funktional differenzierten Rechts kann man beobachten, dass die Bestimmungen und Neuordnungen des positiven Familienrechts Beeinträchtigungen auf der kulturellperformativen Ebene verursachen. Dies betrifft sowohl das Nichtwissen der spätmodernen Individuen in dieser primär nichtlokalen Region der multipel differenzierten Weltgesellschaft, die viele Rechtsparagraphen bei der Eheschließung oder Scheidung nicht kennen und ihre Obliegenheiten nicht in einem positiv modernen Rechtskontext fusionieren, als auch die habituell pragmatischen und islamischen Rechtsordnungen, die auf der postkolonialen Milieu- und Igtihadebene zu beobachten sind (Anm. des Interviewers: Im islamischen Recht bedeutet Igtihad die selbstständige hermeneutische Interpretation jedes Rechtsfalls in Anlehnung an die Hauptquellen der Scharia). Zusätzlich fügt der interviewte Rechtsanwalt die positive Rechtsprechung und Rechtsurteile ein, die das Richterrecht auf der systemischen Organisationsebene beinhaltet. Diese implizieren in der praktischen Übersetzung die geschlechtsspezifische Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Frauen, die eine zögerliche Haltung der Gerichtsbarkeit erfahren. Auch im Bereich des Sorgerechts für das Kinderwohl findet, wie der Interviewte aus der Beobachtung erster Ordnung ergänzt, eine soziale Nichtübersetzung der internationalen Übereinkommen statt, die u.a. im Artikel 3 verankert sind. Die globalen Vereinbarungen, die die Rechte der Kinder vorschreiben, werden zwar im positiven Recht institutionalisiert, aber sie werden nicht in den gesellschaftlichen Rechtsordnungen angewandt. Dementsprechend wird die subjektive Weltanschauung des Kindes oder des Jugendlichen als gebrochener Wille wahrgenommen; sie gelten immer noch als meinungslos, wie der Interviewte mitteilte.

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Auf dem Land verdoppeln sich die latenten Grenzfälle, wie u.a. eine Soziologieprofessorin für Geschlechterstudien oder ein Professor für islamische Studien an der Universität Sidi Mohamed Ben Abdellah in Fes, in den Interviews im Oktober 2015 mitteilten.

4. Das latente Interview in der Kleinstadt Khmissat

Auf der Beobachtung zweiter Ordnung, oder der Beobachtung von Beobachtungen, implizieren im Hintergrundwissen die Kinderrechte indirekt die Heirat von Minderjährigen, die im Gericht erster Instanz auf der vertikalen Übersetzung zweiter Ordnung zwischen dem positiven Familienrecht und dem islamisch-malikitischen sowie dem habituellen Gewohnheitsrecht durch Rechtskniffe umgegangen wird. In diese Heiratsform ist nicht nur das multipel differenzierte Familienrecht involviert, sondern auch andere Institutionen wie das Gesundheitssystem oder das Wissenschaftssystem – hier die Sozialarbeiter – sind daran beteiligt (siehe hierzu ausführlich die beiden vorherigen makrohermeneutischen Interpretationen des latenten Interviews mit dem Mitglied des postkolonialen Rats, der Gmaa, im ländlichen Interaktionsmilieu und das latente Interview mit dem Rechtsanwalt in der Stadt Fes). Bereits am Anfang dieses dritten latent entworfenen qualitativen Interviews kann man feststellen, dass der Rechtsanwalt praktische Aspekte der Einheit von Rechtstypen strukturell dekonstruiert, die latent auf ein multipel funktionales und kulturell-praktisches Horizont hindeutet. Beide Integrationseinheiten berühren bestimmte Rechtssphären, die symbolisch die Theorie des Rechts und die Praxis der malikitischen Scharia sowie des habituellen Gewohnheitsrechts anfechten. Die operative Abweichung dieser gesellschaftlichen Rechtsordnungen von den systemischen Rechtsprogrammen und zentral-organisationalen Imperativen des Familiengerichts wird indirekt von den postkolonialen nichtlokalen Interaktionsmilieus und den spätmodernen praktischen Individuen in dieser regionalen Differenzierung der multiplen Weltgesellschaft getragen. Ihr hochrationalisiertes performatives Handeln ist das Produkt der kolonialen und postkolonialen Geschichtserfahrung und restrukturiert latent und/oder manifest die positiven Rechtsnormen nach ihren pragmatischen Erfordernissen. Sie übersetzen in der makrohermeneutischen Gesellschaftsanalyse vertikal die Umweltmechanismen und verweben sie strategisch mit handlungspraktischen Sinneinheiten. Sie transformieren die explizit objektiven Strukturen in »implizit« (Ryle 2009, 222–236) inkorporiertes Rechtswissen und akzentuieren grenzüberschreitend die multiple Differenzierung des Rechts. Ihre strukturellen Besonderheiten werden nicht durch eine »interkulturelle Kollision« (Fischer-Lescano & Teubner 2006) marginalisiert, assimiliert oder gar aufgegeben, denn dadurch würden ihre historisch-originellen »Lebensformen« (Wittgenstein) und ihre interaktiven Privatheiten verloren gehen. Überdies existieren beide gesellschaftliche Rechtsformen nicht als Folklore oder nur als Attraktionen für das Fremde fort, sondern sie markieren ein leibhaftiges kulturell- praktisches Lebensverständnis, aus dem die nichtlokalen normativen Ordnungen hervorgehen und taktisch mit dem positiven und internationalen Familienrecht interagieren. Ihre habituellen Sprachspiele überleben die Übersetzungen mit dem geltenden staatlichen und internationalen Recht, die nicht aus ihren impliziten Sinnvorstellungen und kodifizierten bzw. nicht verschriftlichten Handlungsregeln hervorgehen. Sie überstehen das »hegemoniale« (Gramsci; in einer

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geschlechtsspezifischen Analyse u.a. Connell 1999) Wirkungsvermögen einer positiven strukturdezidierenden Teilordnung der Weltgesellschaft und metamorphosieren sie grenzüberschreitend auf der Übersetzung zweiter und dritter Ordnung. Deshalb ist das Rechtsübersetzen eine Typizität der spätmodernen multipel differenzierten Weltgesellschaft. Die Konfiguration des internationalen Familienrechts und seine funktionale Übersetzung in das supranationale (wie die europäische Union) und dann in das nationalstaatliche Recht bildet nur ein Netz der Verkettungen eines kommunikativen Weltinnenrechts, das durch die gesellschaftlichen Rechtsordnungen verdichtet wird. Diese strukturelle Verschiedenheit der gesellschaftlichen und positiven Rechtswelten signalisieren eine weitere qualitative Spur, die wegen der pragmatischen nationalstaatlichen Rechtsinteressen instrumentalisiert wird. Denn es kann passieren, dass das internationale Familienrecht nicht nur doppelt übersetzt wird, im Sinne der Übersetzung und Rückübersetzung einer handlungstheoretischen Einheit in funktionale Systemimperative, wie die Verheiratung von Minderjährigen, sondern das supranationale Familienrecht kann in den Wirkungskreis der multiplen differenzierten nationalstaatlichen Rechtseinheiten geraten. Dadurch werden die inkorporierten Rationalitäten nicht umgeformt, wie die weitere Interviewpassage verdeutlicht: F: Und in der alltäglichen Praxis, hier, in der Region Khmissat [...] #00:06:34-9# A: [...] Hh, ja #00:06:34-9# F: Hh, wie sehen Deine Erfahrungen mit den Institutionen auf der Ebene der Rechtsumsetzung aus? #00:06:43- 3# A: Hh, es gibt (...), immer noch im Bereich der Familie? #00:06:49-9# F: Ja #00:06:51-7# A: Im Bereich der Familie gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Institutionen, und, hh, das Problem wird nicht immer durch das Gericht gelöst, insbesondere wenn es sich um die Umsetzung eines Rechtsurteils handelt, hh, das bedeutet, die verantwortlichen Institutionen sind kaum in der Lage [...], ich kann dir eine Erfahrung erzählen, die ich gegenwärtig und seit ungefähr 8 oder 9 Monaten erlebe, sie betrifft die internationale Ehe und das Sorgerecht; das Gericht hat angeordnet, dass das Haager Übereinkommen bezüglich ziviler Kindesentführung anzuwenden ist, dieses Gerichtsurteil wurde nach der Berufungsklage bestätigt, aber nach dem Gerichtsurteil wird immer noch nach dem Ehemann gefahndet, er hat zwei Kinder aus Finnland entführt und hier in Marokko untergebracht, aber bis heute suchen wir, wir haben sogar eine Annonce auf Facebook veröffentlicht, eine Annonce, und Privatdetektive engagiert und das alles hängt mit [...], denn die verantwortlichen Behörden, die für die Umsetzung solcher Gerichtsurteile zuständig sind, übernehmen ihre Aufgaben nicht, hh, und das verursacht enorme Probleme, sowohl für die Ehefrau als auch für die Kinder; bis jetzt gehen sie nach unseren Recherchen nicht zur Schule und

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der Vater hat sie irgendwo versteckt, das alles deutet auf die Verbindung der Institutionen hin, die ihre Rolle in diesem Bereich übernehmen müssen. Ich habe dir nur ein Musterbeispiel genannt, ein Gerichtsurteil, das viel Aufmerksamkeit nach sich gezogen hat, nicht nur auf medialer Ebene, sondern auch auf supranationaler Ebene zwischen dem marokkanischen und dem finnischen Staat #00:08:54-6# Dieses empirische Musterbeispiel betrifft, wie der interviewte Rechtanwalt mitteilt, einen Konfliktfall des internationalen Familienrechts und des »Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ)« von 1980, das Marokko im Oktober 2010 ratifiziert hat (mehr hierzu in der Einleitung). Diese multilaterale Konvention ist überdies im Artikel 3 der europäischen Union festgeschrieben. Sie bietet einen privaten Schutz für Kinder, die nach einer innerfamiliären Trennung oder Scheidung auf der funktionalen Organisationsebene des jeweiligen positiven Rechtssystems widerrechtlich in Obhut genommen werden, indem sie eigenmächtig durch einen Elternteil auf der handlungspraktischen Ebene in einem anderen Nationalstaat untergebracht werden, ohne dass eine rechtliche Sorgerechtsreglung vorliegt. Somit berührt dieses internationale Übereinkommen angesichts der »globalen Migration« (vgl. u.a. aus einer primär einseitigen systemtheoretischen Perspektive Stichweh 2000) und weltweiten Auswanderungsbevölkerung aufgrund der Familienzusammenführung, der Arbeitsmigration oder des Studiums keine lokale Rechtserscheinung2 . Das spätmoderne Recht ist überkontinental und veranschaulicht die weltgesellschaftliche Ausbreitung und Interaktion eines »primären multipel differenzierten Rechts« (Nell 2020), das durch eine interdependente Übersetzung zweiter Ordnung zwischen den funktionalen und handlungspraktischen Integrationseinheiten vollzogen wird. Daher steht die zitierte Interviewstelle in der makrohermeneutischen Gesellschaftsanalyse nicht primär als korrelativer Einzelfall des dritten Interviews im Wirkungskreis des supranationalen Rechts. Stattdessen vermittelt sie, wie die zwei latenten Interviews mit dem Dichter und Mitglied des informellen postkolonialen Milieurats »die Gmaa« im Mittleren Atlas und mit dem Rechtsanwalt in

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Diese Zielgruppe umfasst sowohl die aus dem Ausland eingereisten ausländischen Studierenden als auch die Studierenden, die zur sogenannten »zweiten oder gar dritten Generation« gezählt werden. Zwar handelt es sich bei Letztgenannten m.E. nicht um eine »Migrantengruppe«, jedoch wird diese im öffentlichen Bewusstsein meist als solche wahrgenommen. Generell schließe ich mich jedoch Pierre Bourdieus und Jean- Pierre Alaux’ Argumentation an, die eine solche Bezeichnung für fragwürdig hält: »(...) Wie kann man Menschen als ›Immigranten‹ bezeichnen, die von nirgendwo ›emigriert‹ sind und von denen man zudem sagt, sie gehören der ›zweiten Generation‹ an?« (Alaux & Bourdieu 1995, 25). Einen guten Überblick über die Schwerfälligkeiten des Migranten- und Ausländer-Begriffs liefert zudem der Text »Im Irrgarten der Ausländerstatistik« (2002) von Beck-Gernsheim.

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der Stadt Fes, strukturelle Anhaltspunkte und bereichert die weltgesellschaftliche Gesamtanalyse, wie eine gefilterte und feinkörnige Tropfenform, die sich zu einer kaskadischen Kohäsion im gesamten hermeneutischen Zirkel vermehrt. Es gibt neben dem internationalen Familienrecht nationalstaatliche Rechtsordnungen, die sich supranational interagieren. Folgt man empirisch und theoretisch oder makrohermeneutisch nur dem positiven Rechtssystem und blendet die Praxis der zentralen Rechtsorganisation – das Gerichtsamt – und die konstituierten handlungspraktischen Interaktionseinheiten, die postkolonialen Milieus und die Individuen aus, dann wird man in der qualitativen Interpretation der geschilderten Interviewpassage (und überhaupt) nicht weiterkommen. Der funktionsspezifische Code und die organisationalen Rechtsprogramme bilden nur zwei regulierende Typen der systemischen Handlungskoordination »über den Köpfen« (Renn 2006, 247ff.), die die Handlungsformate generalisieren und operativ mit den handlungspraktischen Integrationsformen gekoppelt werden. Weitere makrotheoretische Horizonte, die für die Analyse des paradigmatischen geschilderten Falls von immanenter Bedeutung sind, stellen die spätmodernen Mikrofamilien der beiden entführten Kinder und ihre indirekten Interaktionsmilieus in Finnland und Marokko dar, die latent »hinter dem Rücken« (ebd. und 2018, 210) operieren und sich nicht direkt, sondern indirekt durch Brüche in die Makrohorizonte übertragen lassen. Das bedeutet, in der zeitlichen Chronologie findet zunächst eine manifeste supranationale Übersetzung zweiter Ordnung zwischen dem marokkanischen staatlichen Familienrecht und dem finnischen positiven Rechtssystem statt, das angeordnet hat, das zivile Hager Kindesentführungs-Übereinkommen anzuwenden. Dementsprechend wurde das Gerichtsurteil der ersten Instanz nach der Berufungsklage bestätigt, denn für das marokkanische Rechtssystem und die zentralen Rechtsorganisationen ist nichts anders übriggeblieben, als die globale Konvention anzuwenden, um der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass das Land die Übersetzung des globalen Privatrechts tatsächlich in seinem systemischen Imperativen beschlossen hat. Beide funktionale Sinnstrukturen müssen aber vertikal die strukturelle Hierarchie durchdringen und empirisch das Gerichtsurteil anwenden. Konkret müssen sie selektiv die handlungspraktischen Integrationseinheiten, das heißt das performative Handeln des marokkanischen Ehemanns, der finnischen Ehefrau und ihrer indirekten Kleinformate, der Interaktionsmilieus, praktisch transformieren, die nicht nur strukturelle Irritationen für die Rechtsorganisationen in den beiden Nationalstaaten hervorrufen, sondern auch das soziale Handeln koordinieren. Das war nicht zu realisieren, wie der interviewte Rechtsanwalt in der zitierten Interviewpassage artikuliert: »[...] aber nach dem Gerichtsurteil wird immer noch nach dem Ehemann gefahndet, er hat zwei Kinder aus Finnland entführt und hier in Marokko untergebracht, aber bis heute suchen wir [...] » #00:08:53-6#

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Überdies kann der international ausgedehnte Umweg von der globalen makrosoziologischen Ebene bis zu den involvierten teilautonomisierten Individuen nicht brückenlos und symmetrisch sein. Stattdessen muss die sinnhaft-relative Distanzierung der unregelmäßigen Rhythmen zwischen den beiden kommunikationstheoretischen positiven Rechtssystemen und den Rechtsorganisationen in den beiden Nationalstaaten einerseits sowie den indirekten Interaktionsmilieus und Individuen anderseits durch ein Dualsystem mit sprachpragmatischen Metaphern durch Transitionsprozesse überbrückt werden, um zeitliche (Handlung vers. kommunikative Zeit) und soziale Diskontinuitäten zu bewältigen. In dieser apriorischen transnationalen Distanz versucht das globale Familienrecht die Interdependenzen jenseits von lokalen symbolischen Grenzen zu bestimmen und die operativen Verbindungen zu vereinheitlichen bzw. zu universalisieren, was jedoch nicht möglich ist. Denn diese Konstellation assistiert die Transformationen der manifesten systemischen Imperative in latente kleinförmige Sinneinheiten, die zumindest außerhalb der zitierten Textpassagen liegen. Die global interagierenden Individuen haben nach dem letzten Gerichtsurteil in der marokkanischen Rechtsorganisation nicht nur durch das implizite Hintergrundwissen gehandelt, sondern folgten darüber hinaus latent unterschiedlichen qualitativen Spuren, insbesondere, als die finnische Mikrofamilie und auf Umwegen die finnischen Institutionen eine Annonce in den Social Media veröffentlichten, die jedoch ergebnislos blieb, und anschließend einen Privatdetektiv engagierten. Wie der Rechtsanwalt und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation »Jeunes Avocats du Maroc« im Interview zu Recht erzählte, hing dieses Musterbeispiel, das viel öffentliche Aufmerksamkeit auf supranationaler und medialer Ebene erfuhr, nachdem beide zentralen Rechtsorganisationen in Finnland und Marokko diesen Rechtsfall nicht lösen konnten, nicht nur mit dem marokkanischen Ehemann zusammen. Hinter ihm standen sein Interaktionsmilieu und eine Reihe von Gemeinschaftseinrichtungen und Intuitionen (die die Praktiken der Funktionssysteme betreffen, wie die Gerichtsgutachter, die Ärzte im Krankenhaus oder die Schulleitung), die die nötigen logistischen Schachzüge für diese Operation ausführten. Insgesamt kann man aus dieser geschilderten Fallrekonstruktion schlussfolgern, dass die Individuen und die indirekten Interaktionsmilieus sich im Schatten der systemischen Kommunikation aufhalten und die organisationale Entscheidung des Gerichtsamtes durch Rechtskniffe milieuintern transformieren3 . Erst

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Der Typus des sozialen Milieus verweist nicht unmittelbar auf reale Gruppen, sondern ist eher als eine konkretere Integrationsform zu verstehen, die sich in systemischen Differenzierungsformen transzendiert (Renn 2018, 208 und daran anschließend siehe das vorliegende Kapitel: Vom Segmentierungsbegriff zur Milieutheorie).

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nach diesem dualen Prozess, der laut dem Interwieten Rechtsanwalt handlungspraktische und kommunikative Zeit (siehe hierzu: Die Übersetzung zweiter Odnung) in Anspruch genommen hat und keineswegs durch eine Linearität zwischen den zentralen Rechtsorganisationen, den Interaktionsmilieus und Individuen gekennzeichnet war, wurde der Rechtsfall extern und jenseits der positiven Familienrechte gelöst. Hierfür wurden der Sinnbegriff und die Logik der funktionalen supranationalen Ereignisse durch kulturell-praktische Handlungsmuster umgeformt. Die Strukturbestimmenden Typen der sinnhaften Kommunikationen konnten das indirekte Eindrängen der sozialen Lebensformen und Interaktionsmilieus in beiden Nationalstaaten mit einer operativen Verschiebung folgen. Danach wurde das Interview fortgeführt und die Frage gestellt: F: Wie hat das neue Familienrecht das Handeln der Männer und Frauen geändert? Haben die Menschen ihr Rechtshandeln geändert? #00:10:41-9# Diese Frage implizierte die Sinn- und Handlungsgrenzen des neuen positiven Familienrechts. Daraufhin antwortete der interviewte Rechtsanwalt ausführlich und pointierte den (juristischen) Analphabetismus und die handlungspraktischen Rationalitäten, die das neue positive Recht umwälzen, und das islamische malikitische Recht sowie das habituelle Gewohnheitsrecht erneuerte Existenzformen gewähren. In seinen Erzählungen thematisierte er wieder »die Verheiratung von Minderjährigen«, die latenten Bedeutungen der Sinntransformationen in sich tragen: A: ...[...] Die Verheiratung von Minderjährigen existiert, hh, existiert in einer enormen Form, und es gibt Orte [...], hh, und es gibt Möglichkeiten, durch Kniffe die Gesetze zu umgehen und diese Heiratsform zu ermöglichen, im Rahmen des sog. »Aufrufs zur Ehe«, hh, im Rahmen [...], das bedeutet, dieses Problem ist eines der gravierenden Probleme und verursacht Schlaflosigkeit, insbesondere die Verheiratung von Minderjährigen, die auf juristischer Ebene konsequent zu verbieten ist, ohne Ausnahmen, das ist eine Forderung und das Familienrecht muss die Verheiratung von Minderjährigen konsequent verbieten, darüber hinaus müssen wir Aufklärungskampagnen organisieren; es gibt hier Regionen, die immer noch mit der »Fatiha« heiraten, und hh, und daraus entstehen viele Opfer, die Verheiratung von Minderjährigen ist das große Problem #00:13:47-4# In dieser Interviewpassage ist deutlich zu konstatieren, dass die Verheiratung von Minderjährigen in einer »enormen Form« existiert. Sie wird durch »Kniffe«, wie der interviewte Rechtsanwalt hinzufügt, durchgesetzt. Um diese gesellschaftliche und positiv- rechtliche Heiratsform zu unterbinden, muss man zivilgesellschaftliche »Aufklärungskampagnen« organisieren oder die Rechtkniffe gesetzlich verbieten. Diese interaktiven Kommunikationen bringen uns auf hermeneutisch-qualitative Spuren, die genau wie in den zwei ersten latenten Interviews mit dem Dichter im

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Mittleren Atlas und dem Rechtsanwalt in Fes ausführlich analysiert wurden. Denn diese strukturellen Hintertüren, die »Kniffe«, sind elementar für die Übersetzung zweiter Ordnung zwischen den gesellschaftlichen Rechtsordnungen und dem positiven Familienrecht. Auf dieser Übersetzungsebene implizieren die Rechtskniffe latent die Mittäterschaft der Ärzte im jeweiligen Krankenhaus und der Sozialarbeiter. Das bedeutet, dass die expliziten Aussagen des interviewten Rechtsanwalts in einer allgemeinen Form von funktional spezialisierten Imperativen und Schemata der Handlungen artikuliert worden sind, die nicht als solches, wie bereits oben makrohermeneutisch dargelegt, für die Bestimmung der faktischen Praktiken ausreichen (Renn 2018, 169; und 2006, 260ff.). Die expliziten Deutungen des interviewten Rechtsanwaltes verbergen latente prozedurale Sinneinheiten, die durch seinen verwendeten Begriff der »Kniffe« signalisiert wurden. Kurz nochmal nachgebildet, beginnt dieser Prozess auf der Übersetzung erster Ordnung mit dem Willen einer Minderjährigen zu heiraten. Hierfür treffen sich beide Familien mit ihren Interaktionsmilieus, auf dem Land oder in der Stadt, um die ›Zeremonie‹ durch eine islamische »Fatiha-Eheschließung« nach speziellen Riten zu feiern. Danach gehen die gesellschaftlich verheirateten mit ihren Familien und zwei Zeugen aus den Interaktionsmilieus oder postkolonialen Milieurat ins jeweilige Gericht, um eine »Anerkennung der Ehe« zu beantragen und ein zweites Mal staatlich zu heiraten. Hierfür muss ein Arzt das minderjährige Mädchen untersuchen und eine Bescheinigung erstellen, indem nur organische und physiologische Charakteristika ohne ihre mentale und psychologische Entwicklung stehen. Der Sozialarbeiter muss wiederum – in der Regel – eine empirische Befragung der beiden Familien durchführen und abschließend einen Bericht für die zentrale Rechtsorganisation erstellen. Diese Grenzfälle sind nicht nur durch die makrohermeneutische Erhebung, sondern auch in anderen Studien festgestellt worden, ohne jedoch auf der Übersetzung zweiter Ordnung mit den latenten Sinnumdeutungen zu argumentieren: »L’écoute des parents de l’enfant ou son représentant légal se croise avec l’enquête sociale dans le fait qu’ils sont considérés comme des moyens permettant au juge de fonder sa propre conviction à travers la constatation et l’écoute directe de la personne concernée. Mais la différence qu’on trouve entre les deux réside dans le fait que le premier se penche sur les parents du mineur ou son représentant légal, tandis que la deuxième procédure concerne le mineur lui-même. La première procédure est obligatoire, tandis que l’enquête sociale n’est qu’une procédure facultative relevant de la compétence du juge chargé du mariage. (2017, 26f.)4

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Auch statistisch ist die Verheiratung von Minderjährigen, die in den Rechtsparagraphen 20, 21 und 22 des neuen positiven Familienrechts, als Ausnahme deklariert wurde, eher die Regel. Denn es wurden 30 Tausend im Jahr 2009 und 35 Tausend der Anträge im Jahr 2013 bewilligt. Siehe die Homepage der zivilgesellschaftlichen Organisation »Recht und Gerechtigkeit«

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Der multiple rechtsoziologische Prozess bei der Verheiratung von den Minderjährigen ist eine latente Sinnumdeutung. Die Richter praktizieren das neue positive Familienrecht nicht beliebig, sondern in Übereinstimmung mit den Gesetzgebern, der unmittelbar nach der Verabschiedung der Familiengesetzgebung über diese Heiratsform wissen und das Recht ändern sollten, was (noch) nicht stattgefunden hat. Die Ärzte wissen auch latent, dass die jeweilige medizinische Untersuchung des Mädchens auf Volljährigkeit nicht die Richtige ist. Trotzdem stellen sie wiederholt – trotz der vertretenen klinischen Prävention im Medizinsystem – die Heiratsbescheinigung aus. Sie realisieren nicht die gravierenden Probleme, die aus einer solchen Heirat entstehen. Die kulturell-praktischen Individuen und die Interaktionsmilieus haben diese Heiratsform inkorporiert und übersetzen sie in anderen sinnhaften Kontexthorizonten. Daher müssen beide Integrationseinheiten zusammenarbeiten, um die Verheiratung von Minderjährigen entgegenzuwirken. Es laufen mindestens zwei Seiten der Arbeitsteilung hindurch: eine kulturellpraktische Milieuspezifische und eine funktional Systemische, die ineinander grenzüberschreitend durch Übersetzungsschritte übergehen. Danach erzählte der interviewte Rechtsanwalt von einem besonderen Fall, den er ehrenamtlich übernommen hat, nämlich die »Vergewaltigung eines achtjährigen Mädchens (...) durch einen 36-jhärigen Mann«. Dieser Fall wurde im Berufungsgericht in Rabat, im Strafgericht, verhandelt. Im Gericht wurden keine Rechtskniffe auf der Übersetzung zweiter Ordnung angewandt. Denn die Kniffe werden lediglich im multipel differenzierten Familienrecht praktiziert. Insgesamt kann man aus den drei makrohermeneutischen Interviews folgern, dass das neue positive Familienrecht kaum Gerechtigkeit und Gleichberechtigung der sozialen Geschlechter durchsetzen kann. Denn neben den globalen Aufforderungen der Menschenrechte spiegelt das neue Familienrecht zwei soziale Kräfte in Marokko, die nach seiner Verabschiedung auf der Straße in Casablanca und Rabat demonstriert haben. Die erste Demonstration fand in Rabat von der »Nationalen Strategie der Integration der Frau in die Entwicklung« und weitern liberalen Akteuren statt. Die Gegendemonstration wurde von den Islamisten in Casablanca organisiert, indem sie ihre Ablehnung der Modernisierung des Rechts ausdrückten. Sie betrachten das Familienrecht als ein unantastbares Grundprinzip. Dieser Konflikt zwischen den beiden Rationalitäten ist bis heute allgegenwärtig.

(Übersetzt aus dem Arabischen): https://www.droitetjustice.org/ar/‫اﻟﻘﺎﺻﺮات‬20‫زواج‬/. Abgerufen 18.05.2019

5. Die Einheit des Rechts in der regional differenzierten Weltgesellschaft?

In der latenten makrohermeneutischen Gesellschaftsanalyse des multipel differenzierten Familienrechts und seiner internen kreativen, horizontalen und vertikalen Übersetzungen zwischen dem positiven Recht und den gesellschaftlichen Rechtsordnungen hat sich eine regionale, kaum erforschte strukturelle Ebene abgezeichnet, die in der Weltgesellschaft neben der funktionalen und kulturellen Differenzierung koexistiert. In der multipel differenzierten Weltgesellschaft wachsen die Interdependenzen und »die globale Moderne wird dezentriert« (Kreide & Niederberger 2010, 5). Denn noch nie gab es so viele global operierende Organisationen und über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg bindende Rechtskonventionen (ebd.: 7; Rittberger & Zangl & Kruck 2013; siehe ausführlich die Einleitung), die in der regionalen Differenzierung übersetzt werden. Daher steht gegenwärtig im soziologischen Diskurs der Spätmoderne nicht die historische Genese des Rechts im Okzident im Mittelpunkt der Forschung, sondern dessen globale Ausbreitung (vgl. Nell 2020; Boyle & Meyer 2005, Luhmann 1993). Eine solche Forschungsperspektive macht einen neuen Blick auf den Weltgesellschaftsbegriff notwendig. Zunächst existieren theoretische und methodologische Unterschiede in der Auffassung der Weltgesellschaft, die in einem epistemologischen Viereck zusammengefasst werden: aus Münster um Joachim Renn, der die multiple Weltgesellschaftsforschung paradigmatisch weiterentwickelt; und laut Wobbe (2000, 14–96) drei weitere globale soziologische Ansätze. Diese fokussieren aber lediglich eine Teilordnung der Weltgesellschaft, die in Zürich theoretisch um Peter Heintz kreisen, in Standford um John Meyer und in Bielefeld um Niklas Luhmann. Diese Makroansätze, die Übersetzungstheorie, der Neoinstitutionalismus, die Systemtheorie und das strukturtheoretische Konzept unterscheiden sich zudem von den Globalisierungstheorien, die sich durch nationalstaatliche Kategorien und eine weltweite Ordnungsebene auszeichnen. Diese theoretische Entwicklung in der ausdifferenzierten makrosoziologischen Literatur hebt hervor, dass eine gegenwärtige Erforschung von Recht nicht auf den lokalen Kontext beschränkt bleiben darf, sondern eine globale bzw. weltgesellschaftliche Perspektive einnehmen muss (vgl. Nell 2020; Kastner 2009; Meyer et al. 2005; Gephart 2000; Luhmann 1993).

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Diese Annahme bedeutet, dass andere Rechtssysteme und Rechtskulturen als die des Okzidents in der soziologischen Forschung höchste Aufmerksamkeit verdienen, was jedoch bislang nur marginal erfolgte. Beispielsweise stellt Gephart (2010, 17) in seiner Kultursoziologie unmissverständlich fest, dass die Erforschung von Recht im Globalisierungsprozess ein »gravierendes Defizit der gegenwärtigen Diskussion« darstellt. Die unzureichende Forschungslage ist auch für den marokkanischen Nationalstaat zu konstatieren und betrifft insbesondere das multipel differenzierte Familienrecht. Zwar hat die geisteswissenschaftliche positive Rechtsforschung über den Maghreb im französischen und angelsächsischen Raum eine lange Tradition und reicht bis zur Kolonialisierung zurück. Fragen nach den Transformationsprozessen des multiplen Familienrechts im globalen Kontext und deren Auswirkungen auf den Alltag von Frauen sind hingegen bisher kaum konkretisiert worden. Im letzten Abschnitt der Dissertation werden zunächst die neoinstitutionalistische und systemtheoretische Weltgesellschaftsforschung kritisch beleuchtet, um paradigmatisch in Anlehnung an die vorherigen makrohermeneutischen Interpretationen von diesen Teilordnungsebenen zur multipel differenzierten Weltgesellschaft zu wechseln. In der Fachliteratur wird die Forschung des Neo-Institutionalismus programmatisch unter den Begriffen Weltgesellschaft und Weltkultur zusammengefasst. Darunter wird zunächst allgemein eine globale rationalisierte kulturelle Ordnung verstanden, die explizit Ursprünge in der westlichen Gesellschaft identifiziert (vgl. Meyer et al. 2005, S. 94). Damit schließt der Neoinstitutionalismus in zentraler Hinsicht an die Weberische Tradition und insbesondere an den Begriff der Rationalisierung an. Insbesondere Webers Vorstellung zur Rationalitätssteigerung in der westlichen Moderne, also nicht nur das zweckrationale Handeln, sondern vor allem der Begriff der formalen Rationalität wird verfolgt und inhaltlich erweitert (vgl. Wobbe 2000, 30)1 . Zum einen wird »der unabgeschlossene Rationalisierungsprozess als Globalisierungsprozess konzipiert und mündet in eine Globalisierungsthese. Zum anderen wird die These der Diffusion kultureller Grundüberzeugungen durch Rationalisierung weiter gefasst. Dabei kommt dem Universalismus der Werte und dem Wert der Individualität eine zentrale Bedeutung zu« (vgl. Krücken 2005, 301). Globalisierung wird also im neo-institutionalistischen Verständnis in Zusammenhang mit umfassender gesellschaftlicher Rationalisierung gesehen. In deren Verlauf verbreiten sich drei grundlegende okzidentale Elemente und formieren die globale Gesellschaft; nämlich das rationale Individuum als Handlungsträger, die formale Organisation als grundlegende soziale Einheit, schließlich die Nationalstaatsform und das damit verbundene universalistische Rechtssystems (vgl. Meyer & Jepperson 2000). 1

Wie wir in »Soziologische Rechtsbegriffe« gesehen haben, schließt auch Bourdieu aus einer völlig anderen soziologischen Perspektive an den Begriff der Rationalisierung von Max Weber und Sigmund Freud an.

5. Die Einheit des Rechts in der regional differenzierten Weltgesellschaft?

Nach dem Jahr 1945 wird die kulturelle Globalisierung – wie in der Einleitung dargestellt wurde – durch global operierende Regierungs- und Nichtsregierungsorganisationen und vor allem durch den modernen Nationalstaat beschleunigt. In dieser Hinsicht werden globale Organisationen als Ausdrucksformen einer (unabgeschlossenen) gemeinsamen Moderne identifiziert, die sich als aktive Verfechter zentraler Bestandteile der Weltkultur – wie Geschlechterdemokratie – einsetzen. Der Nationalstaat hingegen avanciert zum zentralen Akteur territorial gebundener Gemeinschaften in der Weltkultur (vgl. Meyer et al. 1997). Denn einerseits bildet der Nationalstaat ein Element der internen bzw. segmentären Differenzierung der Weltgesellschaft. Andererseits greift er als legitimierte Handlungseinheit (z.B. als Mitglied in den Vereinten Nationen) auf globale Erwartungshaltungen zurück und institutionalisiert sie im lokalen Kontext (wie z.B. die Ratifizierung der UN-Frauenrechtskonvention »CEDAW«). Insofern werden viele Merkmale des modernen Nationalstaates – im Neoinstitutionalismus – von außen aus globalen Modellen abgeleitet. Da die Nationalstaaten – dem Ansatz zufolge – sich am Modell der externen Kultur orientieren, kommt es zur »Isomorphie und Entkopplung« (Meyer et al. 2005) zwischen den allgemein verkündeten Werten und dem praktischen Handeln. Dies hängt damit zusammen, dass (1.) globale Modelle sich nicht einfach komplett und als voll funktionsfähige Systeme importieren lassen und (2.) viele Modelle entweder nicht den lokalen Traditionen und Ritualen entsprechen oder sich finanziell schwer umsetzen lassen. Dementsprechend errichten Nationalstaaten Formalstrukturen, um gegenüber hegemonialen Kräften »den Anschein der Rationalität« zu erwecken und Legitimität gegenüber der Weltöffentlichkeit zu gewinnen (vgl. Meyer et al. 1997, 144f.). Für die eben skizzierten Tendenzen des Wandels von Staatlichkeit durch kulturelle Globalisierung werden zumeist Entwicklungsländer als Beleg herangezogen. Hier gelten die übergreifenden universalistischen und rationalen Prinzipien nicht nur für den Staat, sondern auch für sämtliche Bereiche der Gesellschaft, insbesondere für das Rechtssystem sowie die daran beteiligten Organisationen und Individuen. Laut dem Neo-Institutionalismus orientieren sich die einzelnen Rechtssysteme peripherer Länder sehr stark am globalen Recht als am jeweiligen regionalen Entstehungskontext, was durch die makrohermeneutische Gesellschaftsanalyse der Übersetzung multipler Ordnung widerlegt wurde. Früher als der Neoinstitutionalismus und vor der autopoetischen Wende im Jahr 1984 schreibt Habermas (1971, 226), dass Luhmann auf metatheoretischer Ebene eine soziologische Systemtheorie der Weltgesellschaft auf originelle Weise ausgearbeitet und somit den soziologischen Übergang vom »modernisierungstheoretischen Paradigma zur Theorie des Weltsystems« entscheidend mitgeprägt hat (Heintz & Greve 2005, 91ff.). Diese Makrofaktizität entwickelt Luhmann zum ersten Mal in »Soziologische Aufklärung 2«, indem er davon ausgeht, dass »in der heutigen Zeit die Gesellschaft Weltgesellschaft ist« (1975 [1971], 12). Diese neue Gesellschaftsform setzt er als Gegensatz

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

zur alteuropäischen Tradition, in der der Gesellschaftsbegriff nicht alle Handlungen (gemeint sind Kommunikationen) umfasste und die Grenzen der Gesellschaft mit dem politisch-rechtlichen Nationalstaat oder mit einem normativen Gesellschaftsbegriff von Comte und Durkheim bis Bourdieu und Parsons systematisiert wurde. Trotz der Abstraktionshöhe und paradigmatischen Komplexität sind die Konstruktionsprobleme dieser Theoriebildungen in Bezug auf die Weltgesellschaft erkennbar. Hingegen zeichnet sich in der Luhmannschen Systemtheorie der heutige Typus Gesellschaft durch Erreichbarkeit und strukturelle Anschließbarkeit über die funktionalen Systemgrenzen nationalstaatlicher und regionaler Kommunikation aus. Der Kommunikationsbegriff ist in der primär funktionalen Gesellschaft zentral und umfasst systemisch die ganze erreichbare Welt. Er beinhaltet eine zweiseitige Selektion, die weitere Sozialsysteme, Organisations- und Interaktionssysteme, operativ über symbolische und materielle Grenzziehungen strukturiert. Ein Schlüsselunterschied zwischen den Sozialsystemen liegt – laut Luhmann – darin, dass Interaktionssysteme und Organisationen den gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandel nicht überleben können. Nur Gesellschaftssysteme, die in der »Gesellschaft der Gesellschaft« (1999, Band II) eindrucksvoll analysiert und oben in »Soziologische Rechtsbegriffe« kritisch schematisiert wurden, sind »träger evolutionäre Prozesse« (Luhmann 1975, 13). In dieser evolutionären Abfolge liegt bereits der zentrale Kritik- und Ergänzungspunkt, der in der »multiplen Differenzierung » (Renn 2006) neugeformt wird, um daran anschließend die Übersetzungen des multipel differenzierten Familienrechts theoretisch und makrohermeneutisch zu analysieren. Denn die strukturelle Umstellung des primär funktionalen Differenzierungsprinzips führt nicht nur zu einer Steigerung der »Systemkomplexität« wie Luhmann (1984; 1980, 296) postuliert, sondern zu einer Neuschöpfung der kulturell-praktischen und performativen Komplexität, die in der postkolonialen Phase zu neuen Verflechtungen und Übersetzungskonstellationen figuriert und durch die makrohermeneutischen Interpretationen methodisch reduziert wurde. Mit dieser methodischen Komplexitätsreduzierung wurden zugleich methodologische und theoretische Grundbegrifflichkeiten im hermeneutischen Zirkel erschlossen, die in den vorherigen Kapiteln mehrfach und im weitesten Sinne verwendet wurden und nicht ohne Weiteres auf symbolische Grenzen der weltgesellschaftlichen Teilordnungen stoßen. Dies betrifft die Systemtheorie – und den Neoinstitutionalismus –, die paradigmatisch einäugig die globale Sozialordnung reflektieren. Denn Luhmann erkennt zwar andere Differenzierungen in der primär funktionalen Differenzierung an, diese werden aber als »sekundäre Differenzierungen« abgeleitet, wie die segmentäre Differenzierung des weltpolitischen Systems in Nationalstaaten (Luhmann 1999, Erster Band; Heintz & Greve 2005, 107). Die Einheit des multipel differenzierten Familienrechts kann aber nicht als sekundäre Differenzierung oder nur als eine teilsystemische, autopoietisch ausdifferenzierte Einheit im Rechtssystem ausgeführt werden, das in einem selbstreferenziellen, operativ geschlossenen,

5. Die Einheit des Rechts in der regional differenzierten Weltgesellschaft?

sich selbst programmierenden und kommunikativ operierenden Weltgesellschaftssystem koexistiert. Die primär funktional differenzierte Gesellschaft in der Systemtheorie – als eigene Systemebene – beschränkt die Anschlussoperationen auf interne Kommunikationen, genau wie die ausdifferenzierte familienrechtliche codierte Kommunikation, die wiederum nur strukturell mit ihrer innergesellschaftlichen Umwelt – hier dem Weltgesellschaftssystem – gekoppelt ist. Denn auch wenn das positive Familienrecht innerhalb der Gesellschaft operiert, setzt es die binäre Codierung, Recht/Unrecht und rechtmäßiges/rechtswidriges Verhalten, ein und grenzt sich somit von seiner Umwelt ab (siehe hierzu ausführlich Luhmann 1993, 550–586). In diesem Sinne ist das funktional auf das Familienrecht spezialisierte Sozialsystem in seiner immanenten Struktur positiv; diese zeichnet sich – anders als in der stratifikatorischen Sozialordnung – durch eine Beschränkung auf Rechtskommunikationen und durch eine »konditionale Programmierung« aus, die sich in der Gesetzgebung und zentralen Rechtsorganisation bemerkbar machen (ebd.: 1981, 113–135). Denn die evolutionäre Rechtspositivierung und die volle Verantwortung für ein relativ autonomes Teilsystem der primär funktional differenzierten Weltgesellschaft hat – im Sinne Luhmann – die gesellschaftlichen Rechtsordnungen, das religiöse Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht, aufgelöst. Übersetzt werden auf dieser systemtheoretischen Grundlage nur die systemischen Integrationseinheiten, das positive Familienrecht, seine zentralen und peripheren Organisationen und die funktional differenzierte Weltgesellschaft. In dieser Explikation werden die gesellschaftlichen Rechtsordnungen in der Moderne im Sinne der Systemtheorie nicht nur bagatellisiert, sondern einer alteuropäischen Semantik zugeschrieben, als ob sie nicht mehr existieren (Luhmann 1981; 1993). Um diesen Fehlschluss und die Reduzierung seiner theoretischen Kalkulation auf die primäre funktionale Differenzierung zu korrigieren, postuliert nun Stichweh (2017, 549), sein damaliger Assistent an der Universität Bielefeld, »dass es auf der Erde nur (noch) ein einziges Gesellschaftssystem gibt, das alle Kommunikationen und Handlungen in der Welt in sich einschließt«. Er fügt in der globalen Systemtheorie zwar den Grundbegriff kulturell- praktische »Handlungen« in einem einseitigen Schematismus der Weltgesellschaft hinzu, jedoch ohne die gesamte primär funktionale Theoriearchetektur umzuformen und auf die multiple Differenzierung abzustellen, die die gesamten Sozialeinheiten durchzieht (s. hierzu v.a. die ausführende Kritik von Nell 2020)2 . Stattdessen wird die ›Zweitwelt‹ der handlungstheoretischen Integra-

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Es existieren kritische Weiterentwicklungen der systemtheoretischen und neoinstitutionalistischen Weltgesellschaftstheorien, sie fokussieren aber nur ein Segment der weltweiten Entgrenzung wie Organisationen (wie Hasse & Krücken 2005) oder Interaktionen (wie Heintz & Greve 2005 oder Heintz et al. 2006, die zwar für eine Ausweitung der Weltgesellschaftsebene postulieren), aber sich nicht für die gesamte Ordnungsbildung der Weltgesellschaft einsetzen.

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tionseinheiten assimiliert und ihre operativen Kopplungen mit den systemischen Imperativen nicht weiterentwickelt. Stattdessen wurde in einer Übersetzung multipler Ordnung theoretisch und makrohermeneutisch analysiert, dass die multipl differenzierte Weltgesellschaft die systemischen Imperative, Systeme und Organisationen, mit den handlungsinteraktiven latenten und manifesten Praktiken, Milieus, Netzwerken und Personen, durch Rechtskniffe einschließt. Diese multiple Theoriearchitektur erlaubt es zudem methodologisch und empirisch, das multipel differenzierte Familienrecht in der regionalen Differenzierung durch eine makrohermeneutische Gesellschaftsanalyse zu erforschen. Denn die gesellschaftlichen Rechtsordnungen, das habituelle Gewohnheitsrecht und das islamisch-malikitische Recht, sind weder durch einen historisch-epistemologischen Bruch vergangen (wie Durkheim, Weber, Habermas, Luhmann und Bourdieu postulieren), noch werden sie durch eine »interkulturelle Kollision« (Teubner) mit dem positiven und weltgesellschaftlichen Recht verbannt. Stattdessen folgen die Rechtsordnungen multiplen Rechtsspuren, um durch Kniffe auf der Übersetzung zweiter Ordnung das positive und internationale Familienrecht zu umgehen. Die Einheit des Familienrechts erstreckte sich bereits in der vorkolonialen Epoche auf die Einheit des multipel differenzierten Familienrechts. Und die Autoren der operativen Geschlossenheit können nicht die Dezentrierung des positiven Familienrechts westlichen Ursprungs und die empirischen Ergebnisse regionaler Differenzierung der multiplen Weltgesellschaft erkennen. Denn trotz des Paradigmenwechsels der Systemtheorie, der sich aus dem ersten soziologischen Blick manifestiert hat, bleibt sie an die Erbschaft der alten Theorien des Rechts gebunden. Ihre Erbmasse aus den klassischen Paradigmen ist nicht abstrakt und komplex genug, um einen Umbau der Theoriearchetektur auszuarbeiten und in eine »Dezentrierung westlicher Selbstbeschreibungen« (Koenig 2005, 60; zitiert nach Bohmann & Niedenzu 2013, 327) in Anlehnung an eine »multiple Modernität« (Eisenstadt 2000) einzuwilligen. Das Primat »multipler Differenzierung« (Renn 2006) schließt den Gesellschaftsbegriff und die globalen Organisationen mit ein und fügt sie durch die internationale Arbeitsteilung in einer Regionalisierung der spättraditionsbedingten Pfade hinzu. Diese multikomplexe Integration drängt die postkolonialen Milieus und die Individuen zu einer symbolischen Konfrontation mit dem positiven Recht, um ihren historisch existierenden Pragmatismus weiterzuleben. Die Interdependenzen und operativen Spannungen in dieser Region der spätmodernen multipel differenzierten Weltgesellschaft sind gerade die Grundlagen, die den Rechtspluralismus in der Sozialstruktur aufrechterhalten und nicht zu einer Homogenisierung des Familienrechts führen. Denn das multiple differenzierte Familienrecht vereinigt, wie wir Makrohermeneutisch rekonstruiert haben, systemische und handlungspraktische Integrationseinheiten. Ihre dreidimensionale Übersetzung mit Rechtkniffen fungiert wie eine Balance, um die Integration der Sozialstruktur in die Weltgesellschaft nicht zu ge-

5. Die Einheit des Rechts in der regional differenzierten Weltgesellschaft?

fährden. Diese strukturellen Stufen der nachgebildeten vertikalen Wechselverhältnisse verbergen keine Äquivalenzvorstellungen oder »Auflösung des Rechts und seine Zersplitterung in der postmodernen Theorie« (Röhl 2005, 1161–1166), sondern implizieren eine hierarchische Ausdifferenzierung von relativ autonomen postkolonialen Milieus und Individuen sowie Organisation und Systeme.

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Fazit und Ausblick

In der Dissertation wurde u.a. von den folgenden Arbeitsthesen ausgegangen: dass das neue positive Familienrecht nicht zur Gleichstellung der sozialen Geschlechter beiträgt, und dass das islamische malikitische Recht und das habituelle Gewohnheitsrecht im Rechtspluralismus immer noch eine immanente Rolle spielen. Diese habituell-pragmatischen Handlungshorizonte wurden weder als primär segmentär differenzierte Sozialeinheiten einer nordafrikanischen Gesellschaftsordnung noch im Rahmen einer Theorie der geschichtssoziologischen primären Stratifikation der Sozialordnung konzipiert. Sie wurden als spätmoderne lebensweltliche Integrationseinheiten unter dem Primat »multipler Gesellschaftsdifferenzierung« konzipiert (Renn 2006; 2014; 2016) und bilden eine theoretische Umstellung auf einer Übersetzung multipler Ordnung. Die methodologische Umstellung der sozialstrukturellen Gleichzeitigkeit verschiedener Rechtsordnungen reagierte überdies auf klassische Soziologien in der Moderne (Durkheim, Weber, Habermas, Luhmann und Bourdieu) und auf kulturanthropologische sowie ethnologische Zugänge der Theorien im Maghreb, die die Sozialordnung mit einer segmentären oder stratifikatorischen Differenzierung beschreiben, wie Gellner, Bourdieu, Pascon oder Berques. Beide kulturell-praktischen Integrationseinheiten wurden zudem nicht mit dem Lokalitätsbegriff analysiert, sondern als Nichtlokalitäten entwickelt, die mit einer weltweiten Reichweite und Interdependenzen mit dem positiven nationalstaatlichen und globalen Familienrecht interagieren. Erst nach diesen methodologischen Vorentwicklungen und theoretischen Auseinandersetzungen wurde mittels tiefenhermeneutischer Makroanalyse der Übersetzungstheorie gezeigt, dass die Reform des modernen staatlichen Familienrechts in Marokko, das indirekt in einem weltgesellschaftlichen Recht integriert ist, nicht zur Gleichstellung der sozialen Geschlechter beiträgt, sondern latent und informell die Verstärkung des Patriarchats begünstigt (z.B. im Eherecht). Es wurde sichtbar, dass Änderungen an habituellen Gendernormen (islamisches Recht und habituelles Gewohnheitsrecht) lediglich durch Bedeutungsbrüche und Rechtskniffe bewirkt werden können, und dass eine Rechtshandlung in den spätmodernen postkolonialen Milieus – und nicht in den sog. Berberstämmen – durch pragmatisches Handeln zwei Dinge zugleich sein können und in funktionaler und kulturell-prak-

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Teil C – Makroanalytische Interpretation und Theoriebildung

tischer Differenzierung integriert werden können. Auf dieser Grundlage wurde dann dargelegt, dass das multiple differenzierte Familienrecht durch eine indirekt ausbalancierte Übersetzungskette von den strukturbestimmendensystemischen Imperativen und den handlungspraktischen Integrationsformen konstituiert ist. Diese operativ gekoppelten Einheiten – auf der funktionalen Integrationsebene das positive Rechtssystem und die Rechtsorganisationen und auf der kulturell-praktischen Ebene die postkolonialen Individuen und die Milieus – prallen weder auf der Übersetzung zweiter Ordnung zusammen noch werden sie durch eine Dysfunktionalität zerlegt. Überdies verharrt die Einheit des Rechts nicht in einer primären funktionalen Differenzierung oder in einem funktionalen Rechtspluralismus. Die Anhaltspunkte für diese Schlussfolgerungen sind durch die Makrohermeneutische Tiefenanalyse anhand von drei latenten qualitativen Interviews im Mittleren Atlas, in der Kleinstadt Khmissat und in der kulturellen Hauptstadt Fes entfaltet worden. Sie betreffen die Praxis des positiven Rechtssystems auf den organisationalen Rechtsprogrammen, die operativ mit den handlungspraktischen Rechtseinheiten gekoppelt sind und makrohermeneutische Belege für die strukturellen Geschlechterungerechtigkeiten liefern, wie die Verheiratung von Minderjährigen, die Mehrehe und die Eigentumsverwaltung nach einer Scheidung. Diese Übersetzung multipler Ordnung des pluralen Familienrechts wird nicht durch einen staatlichen Zwang oder die Instanzen sozialer Kontrolle oktroyiert, sondern sie wird mit den multiplen Integrationseinheiten des Politischen überlappt und operativ in gleichzeitigen multivertikalen Übersetzungen gekoppelt. Solche Multiübersetzungen gelten auch für den Bereich des Religiösen und des Zivilgesellschaftlichen. Insbesondere hier wurde gegenüber Habermas (1990; 1992) nachvollziehbar, dass die ausdifferenzierte Öffentlichkeit von einer Gleichzeitigkeit der monarchischen, kritischen und deliberativen Handlungsrationalitäten abhängt, und nicht nur von einer deliberativen Öffentlichkeit, die ausschließlich mit dem positiven Recht interagiert. Somit ist die multiple Differenzierung nicht nur im Familienrecht festzustellen, sondern sie existiert in allen drei ausdifferenzierten Makroteilen dieser regionalen Differenzierung der Weltgesellschaft. Dementsprechend wäre es für die soziologische Forschung, insbesondere für die Rechtsforschung, von immanenter Bedeutung, empirisch und makrohermeneutisch zu untersuchen, wie in weiteren Kontinenten der multipel differenzierten Weltgesellschaft, insbesondere auf dem europäischen Kontinent – hier in Deutschland –, die Konstellationen des positiv staatlichen Familienrechts mit dem religiösen Recht und dem habituellen Gewohnheitsrecht verbunden sind.

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