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German Pages [389] Year 2020
Michel Borner
Das leidende Ich Eine Ethik des autobiographischen Erzählens am Beispiel von Christine Lavant und Thomas Bernhard
Michel Borner
Das leidende Ich Eine Ethik des autobiographischen Erzählens am B eispiel von Christine Lavant und Thomas Bernhard
Böhlau Verlag wien köln weimar
Michel Borner : Doktortitel im Jahr 2019 vergeben von der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern Erstgutachterin: Prof. Dr. Christine Abbt (Universität Luzern) Zweitgutachter: Prof. Dr. Dieter Thomä (Universität St. Gallen) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung : Lawinenverbauung am Walmendinger Horn, Klein Walsertal/Vorarlberg, 2015 (Foto: Dieter Hopf/imageBROKER/picturedesk.com) © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat : Ulrike Weingärtner, Gründau Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20990-4
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.
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11 16 18 19 21 23
Metaphilosophische Einbettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Zusammenhang von Philosophie und Literatur.. . . . . . . 2.1.1 Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Verhältnis von Philosophie und Literatur . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Leiden, die Krankheit und der Schmerz . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Krankheit, Schmerz und das Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Reaktionen auf das Leiden, Erkennen und Leiden, Sprache und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Reaktionsmöglichkeiten auf das Leiden . . . . . . . . . . . 2.3.2 Erkennen und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Sprache und Leiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Das erkennende Selbst, die Literatur und die Ethik .. . . . . . . 2.4.1 Das erkennende Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Erkennen, Literatur und Ethik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis . . . . 2.6.1 Therapeutisches Verständnis der Philosophie . . . . . . . . . . . 2.6.2 Therapeutisches Verständnis der Literatur . . . . . . . . . . . . . 2.7 Das erste Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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25 25 27 30 33 40 40 44
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50 50 59 63 70 71 77
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85 93 97 103 111
Das Erzählen und das Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 116
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2.
3.
3.1
Zu Christine Lavant und Thomas Bernhard . Zum Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . Die Hinwendung zum Individuum. . . . . . Zum Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . Zum Forschungsüberblick . . . . . . . . . .
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Das Erzählen – eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
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Inhalt
3.2 3.3 3.4 3.5
Funktionen des Erzählens.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erzählschemata und das autobiographische Schema . . . . Die Rolle des Erzählens im Leben sowie das Erzählen und das Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das zweite Zwischenspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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132 145
4.
Das Erzählen und die autobiographischen Schriften . . . . . . . . .
147 152 161 178 181
Wie das Ethische in das autobiographische Erzählen kommt . . . .
184 197 200 201 203 207 210 227
Christine Lavant und das autobiographische Erzählen . . . . . . . .
229 235 238 246 248 252
Thomas Bernhard und das autobiographische Erzählen . . . . . . .
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255 261 264 275
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277 279 279
4.1 4.2 4.3 4.4 5.
Die Gattungsfrage.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Abriss von autobiographischen Schriften . Autobiographische Schriften von Frauen.. . . . . . . . Das dritte Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Leiden, Erzählen, Schreiben und Ethik . . . . . . . . . 5.2 Schema des autobiographischen Erzählens und Ethik.. 5.2.1 Vertiefung des Inhalts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Vertiefung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Vertiefung der Form.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Ursachenforschung und Ethik . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Das vierte Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.
6.1 Vertiefung der ausgewählten Schriften . . . . 6.1.1 Die vier autobiographischen Erzählungen . . . 6.1.2 Die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Die Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Einbettung der autobiographischen Schriften . 7.
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7.1 Vertiefung der ausgewählten Schriften . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Die Autobiographie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Die Lyrik sowie der Bezug zum Autobiographischen . . . . . 7.1.3 Interview, Gespräche und Filmdokumente sowie der Bezug zum Autobiographischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Einbettung der autobiographischen Schriften . . . . . . . . . 7.3 Das fünfte Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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124 127
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Inhalt
8.
Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Christine Lavant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.1 Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben . 8.2 Das autobiographische Schema. . . . . . . . . 8.2.1 Vertiefung des Inhalts . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Vertiefung der Sprache . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Vertiefung der Form.. . . . . . . . . . . . . . 8.3 Ursachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . 9.
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Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Thomas Bernhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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283 283 293 293 297 300 303
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312 312 319 319 323 327 330 346 352
10.
Schluss.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
356
11.
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
362
9.1 Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben . . 9.2 Das autobiographische Schema. . . . . . . . . . 9.2.1 Vertiefung des Inhaltes . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Vertiefung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Vertiefung der Form . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Ursachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Exkurs und Abschluss : Humor und Narrentum . 9.5 Das sechste Zwischenspiel . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Ein Buch wie das vorliegende wäre ohne die Hilfe von aussen nicht möglich gewesen. Ich möchte mich an erster Stelle ganz herzlich bei Prof. Dr. Christine Abbt für ihre Unterstützung, für ihre Förderung und für die wichtigen Rückmeldungen bedanken, die für die Entstehung dieses Buches entscheidend waren. Ebenfalls gilt ein grosser Dank Herrn Prof. Dr. Dieter Thomä für seine kritischen Bemerkungen im Zusammenhang von Leiden und Erzählen sowie für die Erstellung des Zweitgutachtens. Weiter möchte ich Prof. Dr. Christian Benne danken. Seine Rückfragen und Kommentare an einem Kolloquium an der Universität Luzern halfen mir, vor allem das Kapitel zu den autobiographischen Schriften zu präzisieren. Ein besonderes Dankeschön richtet sich an Theres Galperin, Dr. Mathias Gredig sowie an Stefan Jetzer, die den Text hinsichtlich des Inhaltes, der Form und der Sprache kritisch gegengelesen haben. Zudem bin ich für wichtige Rückmeldung im Zusammenhang der Ethik und des autobiographischen Erzählens Dr. Peter Zimmermann sowie für die Unterstützung bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses Philipp Waeber zum Dank verpflichtet. Abschliessend soll an dieser Stelle der Klasse 18Wb des Gymnasiums Neufeld gedankt werden, die mit der kritischen Überprüfung der Frage, ob und inwiefern der Literatur ein Erkenntniswert zugesprochen werden kann, mir anregende Impulse für dieses Buch ermöglicht haben. Bern, den 21.10.2019
Michel Borner
1. Einleitung Der Kutscher kletterte fluchend vom Wagen und schlug mit dem Peitschenstiel wütend auf das arme Tier los. Der Soldat war aufgesprungen. Er war dunkelrot im Gesicht und zitterte vor Zorn. Seine Zigarette fiel zu Boden. Er wollte etwas rufen oder schreien, aber aus seinem Mund kam nur ein dumpfes Gurgeln. Er wandte sich an mich. Er wollte sprechen, erklären, anklagen, aber zum erstenmal versagten seine beredeten Hände und er stand hilflos, stumm und verzweifelt vor mir. Furchtbare und unauslöschliche Minute ! Nie werde ich vergessen, wie Zorn, Jammer und Empörung mit einemmal den Stummen sprachlos machten. (Auszug aus Gespräch mit einem Soldaten von Leo Perutz, 1918)1
Publius Ovidius Naso2 erzählt im fünfzehnten Buch seiner Metamorphosen von Pythagoras aus Samos, der von seiner Insel und ihren Machthabern auf italischen Boden geflüchtet ist und dort vor den « Scharen schweigender Zuhörer »3 über die Vergänglichkeit des Seins reflektiert : Auch unser eigener Leib wandelt sich ständig ohne Rast, und was wir gewesen oder noch nicht sind, morgen sind wir’s nicht mehr. Es gab eine Zeit, da wir – nur als hoff1 Perutz, Leo : Gespräch mit einem Soldaten. In : Herr erbarme dich meiner von ebd. Mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. 1985 ; 229 f. 2 Wenn ein Name in der vorliegenden Arbeit das erste Mal verwendet wird, werden sowohl der Vor- als auch der Nachname erwähnt ; im Anschluss in der Regel nur noch der Nachname (zwecks Einheitlichkeit wird in wenigen Fällen davon abgewichen). Eine grosse Ausnahme bilden Christine Lavant und Thomas Bernhard. Da die beiden in dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielen und wegen der Achtung vor ihnen, wird stets der Vorname mitverwendet, allerdings in Kurzform, nämlich Chr. Lavant und Th. Bernhard. 3 Ovid : Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Mit 30 Radierungen von Pablo Picasso und einem kunsthistorischen Nachwort von Eckhard Leuschner. 2010 ; 909.
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Einleitung
nungsvoller Same und erster verheissungsvoller Anfang eines Menschen – im Mutterleib wohnten. Dann rührte die Natur mit ihren kunstreichen Händen daran, wollte nicht länger den Körper vom Leibe der hochschwangeren Mutter beengen lassen und entliess ihn aus der Behausung an die Luft, ins Freie. Ans Licht getreten, lag das Kindlein kraftlos und sprachlos da ; bald bewegte es seine Glieder, vierfüssig, nach Art der Tiere ; erst allmählich, zitternd und mit noch unsicherer Kniekehle, hat es sich aufgerichtet und half seinen Sehnen mit irgendeiner Stütze auf. Dann ist der Knabe stark und schnell geworden. Er durchmisst die Spanne der Jugend, und nachdem auch die Jahre der mittleren Zeit ihren Dienst getan haben, gleitet er den abschüssigen Weg des hinfälligen Greisenalters hinab. Dieses untergräbt und zerstört die Kraft der früheren Lebenszeit, und es weint der gealterte Milon, sieht er jene Arme, die einst in der Fülle praller Muskeln denen des Hercules glichen, schlaff und kraftlos herabhängen. Es weint auch Helena, hat sie im Spiegel die Runzeln der Greisin erblickt, und fragt sich, warum sie wohl zweimal geraubt wurde. Zeit, die alle Dinge verzehrt, und du, neidisches Alter, alles zerstört ihr, benagt es mit eurem Zahn und lasst es allmählich in langsamem Tode hinsterben !4
In dieser Zeitspanne zwischen Leben und Tod gibt es viel Platz für menschliche Erfahrung. Und davon handeln die Erzählungen der Menschen5, weshalb es nicht erstaunt, wenn der Mensch als homo narrens, als ein Geschichten erzählendes Tier bezeichnet wird, wie es Alasdair MacIntyre tut.6 Der Inhalt solcher Geschichten kann das grosse Ganze thematisieren, beispielsweise die Entwicklung von Gesellschaften in den klassischen Mythen, bis hin zu den vordergründig unbedeutenden Alltagserfahrungen von einzelnen Menschen. Das Grundmuster, auf dem die Erzählung7 basiert, besteht aus einer Erzählerin oder aus einem Erzähler, die oder der etwas den Rezipierenden erzählt.8 4 Ebd. 5 Im Folgenden werden, ausser dort, wo aus philosophiehistorischen Gründen eine Unterscheidung notwendig ist, die Begriffe Mensch und Person als Synonym verwendet. Somit liegt grundsätzlich ein modernes Verständnis dieser Begriffe vor, ein Verständnis, das sich u. a. auch in den Menschenrechten finden lässt. 6 MacIntyre, Alasdair : Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen von Wolfang Rhiel. 2006 ; 288. 7 Der Begriff Erzählung bezieht sich in der Regel sowohl auf den Vorgang als auf das Produkt des Erzählten. Wenn hingegen die Gattung Erzählung gemeint ist, wird dort, wo es nötig ist, entsprechend darauf hingewiesen. Der Begriff der Erzählung wird in Kapitel 3 präzisiert und ausgeführt. 8 Dieses Grundmuster muss man sich nicht linear, sondern zirkulär vorstellen, das heisst, das Erzählte geht von der erzählenden Person zu den Rezipierenden über, diese antworten auf das Erzählte usw.
Einleitung
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Eine Möglichkeit, den Inhalt des zu Erzählenden zu füllen, sind Geschichten über sich selber. Eine besondere Form solcher Geschichten stellt die Autobiographie dar respektive literarische Texte, die sich stark an autobiographisches Material anlehnen. Wie aus der Geschichte der Autobiographie herausgearbeitet werden kann, gibt es verschiedene Intentionen, warum solche Schriften verfasst wurden, die zum Teil dem Zeitkontext geschuldet sind (z. B. die Bekenntnisschriften aus der Zeit des Pietismus im 17. Jahrhundert) und zum Teil über die Zeit hinweg konstant blieben. Eine solche Konstante für diese Art von Archivierungsarbeit hängt mit der Inschrift des Tempels zum Delphischen Orakel Erkenne-dich-selbst (gnothi seauton) zusammen und somit, modern gesprochen, mit dem Wunsch, ein aufgeklärtes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Diese Frage, « Wer bin ich ? », scheint dem Menschen inhärent zu sein, und die autobiographischen Schriften stellen eine Möglichkeit dar, dieser Frage in einer angemessenen Form nachzugehen. Die Idee bei der Verwendung einer solchen Form, die das Erzählen von zusammenhängenden Geschichten zulässt, besteht darin, wie es Charles Taylor formuliert, zu untersuchen, « who we are, we have to have a notion of how we have become, and of where we are going »9. Eng mit der genannten Intention des Erkenne-dich-selbst, weshalb autobiographische Schriften verfasst werden, ist auf der produzierenden Seite eine weitere eingeflochten. Diese besteht darin, einen Umgang mit dem Erlebten, insbesondere mit dem individuellen Leiden zu finden und dadurch sich selber und seinem Gegenüber ein Verstehen zu ermöglichen. So erstaunt es nicht, wenn Paul Ricœur in Anlehnung an Aristoteles Poetik festhält, dass jede Erzählung letztlich das Handeln und das Leiden von Menschen thematisiere.10 Ein alter Zeuge dieses Vorhabens ist Odysseus. Im 9. bis zum 12. Gesang in Homers Epos erzählt er Alkinos, dem König der Phäaken, von sich und seinen Irrfahrten und reflektiert so seine bisherigen Erfahrungen. Aus dieser Perspektive stellt das autobiographische Schreiben eine Selbsterforschung dar, wobei die individuelle Lebensgeschichte stets vor dem Hintergrund der sogenannten Rahmengeschichte der kulturellen Gemeinschaft mehr oder weniger bewusst mitreflektiert wird (so etwa wird verständlich, weshalb es Odysseus ist, der von seiner Reise erzählen kann und nicht Penelope). Die Idee dieser Art von Forschungstätigkeit ist mit der Herangehensweise des russischen Komponisten und Dirigenten Arseni Awraamow in seiner Dampfpfeifen-Symphonie vergleichbar. Awraamov schrieb diese Symphonie samt der theatralen Inszenierung fünf Jahre nach der Oktoberrevolution. Das verrückte 9 Taylor, Charles : Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. 1989 ; 47. 10 Ricœur, Paul : Zeit und Erzählung. Band 1. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. 1988 ; 92.
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Einleitung
Werk ist der Versuch, die Revolution auch musikalisch aufzuführen und nachzuinszenieren, indem die gesamte Stadt als eine Bühne betrachtet wird, der Komponist und Dirigent steht dabei auf einem Turm und orchestriert das Feld. Die Parallelen zur eigenen Geschichtsschreibung sind, zumindest was das Wunschbild betrifft, offensichtlich : Der Erzähler ist der vermeintliche Komponist und Dirigent über das eigene Material, welcher über den Erinnerungen thront und es nach seinen Anweisungen in Bewegung setzt sowie diese Erinnerungen in einer für ihn angemessenen Sprache artikuliert. Wenn der Dirigent, um bei diesem Bild zu bleiben, über das eigene Leben erzählt, wird auf Erlebnisse und Zeitpunkte zurückgegriffen, die in der Vergangenheit liegen, es wird auf bestimmte Räume verwiesen, Figuren werden eingeführt. So stellt das Erzählen von sich selber den Versuch dar, etwas wieder ins Bewusstsein zu holen, ein Ereignis nachzuspielen, das Erzählte in eine bestimmte Reihenfolge auszurichten und das Material allenfalls in ein neues Licht zu rücken. Gerne wird dabei ein Kanonenschlag gesucht, um Anfang und Ursprung zu benennen und um von da aus etwas Bestimmtes zu begründen. Es kann weiter gefragt werden, ob das Urteil von Awraamow in seiner Instruktionsschrift zur Symphonie, nämlich, dass « von allen Künsten […] die Musik über die grösste Kraft der sozialen Organisation [verfüge] »11 auch auf das autobiographische Schreiben angewendet werden kann. Es scheint gute Gründe für diese Parallele zu geben, denn, was die Musik für die soziale Organisation darstellt, könnte das autobiographische Schreiben für die individuelle Organisation von Lebenserfahrungen sein.12 Wenn diese Gründe zutreffen, wäre es ferner verständlich, warum zahlreiche Archivierungsarbeiten in den Buchläden aufliegen. Doch sollte der Eindruck entstehen, der Komponist und Dirigent sei im Umgang mit dem Erzählten frei, muss diesem Eindruck widersprochen werden, gerade aus ethischer Sicht. Da der Erzähler nicht alles erzählen kann, ist er aufgefordert, eine Auswahl der Erinnerungen zu treffen, sofern sie nicht als vergessen oder als verdrängt eingestuft werden müssen. Es gilt, die Reichweite der Sprache sowie die anerkannten Formen, wie über das Vergangene erzählt werden kann, zu berücksichtigen, und schliesslich müssen ebenfalls die Rezipierenden in diesen Prozess der Gestaltung des Erzählten eingebunden werden. Diese Rezipierenden steuern den Inhalt, die Form sowie die Sprache der Pro-
11 Zit. in : Seliger, Berthold : Klassik Kampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle. 2017 ; 270. 12 Vgl. dazu : Sloterdijk, Peter : Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. 1978 ; 6.
Einleitung
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duzierenden13 mehr oder minder bewusst mit. Weshalb sich die Rezipierenden solche Erzählungen anhören oder lesen, hängt mit verschiedenen Gründen zusammen. Sicher kann neben der Achtung vor dem Du ausserdem die Neugierde auf das menschliche Dasein genannt werden, aber es gilt auch, dem Bedürfnis nach Orientierung, gerade im Zusammenhang mit Leidenserfahrungen, sowie dem damit verbundenen Wunsche nach Selbsterkenntnis Rechnung zu tragen. Doch auch wenn Bezug auf die erwähnte Poetik von Aristoteles genommen wird, um zu rechtfertigen, warum der Fokus dieser Arbeit auf das Leiden zu liegen kommt, stellt sich berechtigterweise die Frage, weshalb nicht das Glück im Zentrum der Analyse der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens steht. Diese Frage ist deshalb relevant, weil die Frage nach dem Glück, wie es Thomas Bernhard formuliert, « die einzige ist, die uns lebenslänglich und immer beschäftigt, ohne Unterlass »14. Ein Grund, weshalb der Fokus auf dem Leiden liegt, hängt mit der alten These zusammen, Leiden ermögliche Erkenntnisgewinn. So funktioniert die Umkehrung der Perspektive, weg vom Glück, hin zum Leiden analog der gewählten Perspektive von Aischylos in seinem Drama Die Perser. Aischylos schildert den Krieg der Griechen gegen die Perser (490 v. Chr.) nicht aus der Sicht der Sieger, sondern aus jener des besiegten Feindes (aus der Perspektive von Aischylos und den Zuschauenden betrachtet), der Perser. Auch wenn die Zuschauenden sich auf zweiter Ebene über den Sieg gefreut haben mögen, mit Genugtuung sich in Erinnerung gerufen haben, dass sie die Sieger gegen den übermächtigen Feind waren, so stand doch das Mitgefühl und nicht der Triumph oder die Schadenfreude primär im Zentrum. Die Rezipierenden werden aufgefordert, sich mit den Erfahrungen und den Gefühlen der Perser auseinanderzusetzen, auch wenn die Sympathien bei Aischylos bei den Siegern respektive in dem vorliegenden Buch beim Glück liegen. Den Zuschauenden soll aufgezeigt werden, wie nah Leiden und Glück zusammenliegen, ein Gedanke, den der aus der Not der Unterwelt heraufgeholte ehemalige König der Perser, Dareios, äussert : « Leiden, weil’s dem Menschen wesenseigen, stösst den Sterblichen halt zu. »15 Und dasselbe kann über das Glück gesagt werden : Sieg oder Niederlage, Leiden und Glück gehören genauso zur menschlichen Welt wie der Orient und der Okzident. Mithilfe dieses Perspektivenwechsels weg vom 13 Der Begriff Produzierende wird in dieser Arbeit als Synonym für Erzählerin oder Erzähler verwendet, also diejenige Seite, die das Erzählte formuliert und an die Rezipierenden adressiert. 14 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 182. 15 Aischylos : Die Perser. Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. 2017 ; 67.
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Einleitung
Glück, hin zum Leiden wird es möglich sein – und dies ist die zweite These im Kontext der Fokussierung auf das Leiden – nachzuvollziehen, warum das Leiden für die Organisation von menschlicher Lebenserfahrung eine wichtige Ausgangsposition darstellt. Und so ist es drittens auch nicht erstaunlich, wenn die Menschen sich in ihren Leidensgeschichten auf den Weg der Selbsterforschung begeben. 1.1 Zu Christine Lavant und Thomas Bernhard In der folgenden Untersuchung spielen zwei Schreibende, die im 20. Jahrhundert viel Archivierungsarbeit geleistet haben, eine wichtige Rolle, nämlich Christine Lavant16 und Thomas Bernhard. Es wird sich zeigen, wie sowohl aus der produktions- als auch aus der rezeptionsästhetischen Perspektive die Auseinandersetzung mit den Strategien von Chr. Lavant und von Th. Bernhard neue Möglichkeiten eröffnen, um über sich selber zu erzählen. Weiter spricht für die Fokussierung auf die beiden, dass sie genau dorthin schauen, wo andere lieber wegsehen – ein Umstand, der ebenfalls für Ingeborg Bachmann wichtig ist, wie sie in der Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar am 17. März 1959 in der Hörfunk-Livesendung des WDR formulierte. Bachmann sagte, es könne « nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muss ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden »17. Es sind auch Chr. Lavant und Th. Bernhard, die diese Forderung aufgrund ihrer zahlreichen Leidenserfahrungen in ihrem unterschiedlichen literarischen Schaffen aufgegriffen und umgesetzt haben. Auch wenn Chr. Lavant und Th. Bernhard unterschiedliche Strategien anwenden, um sich selber zu thematisieren, stellt für beide das Schreiben eine Notwendigkeit dar, ja, die einzige Möglichkeit, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und so Deutungen für ihre Existenz zu finden und anzugeben. Es gibt weitere Gründe, die für eine Engführung der Untersuchung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens auf die beiden sprechen, drei davon sollen im Folgenden 16 Ihr richtiger Name lautet Christine Thonhauser. Das Pseudonym Christine Lavant bezieht sich auf den Fluss, der den Namen für das Tal gab, in dem sie viele Jahre wohnte. Das Pseudonym wurde von einer Journalistin am 12. August 1950 aufgedeckt (vgl. dazu : Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Kind » von Klaus Amann. Hrsg. von ebd. 2015 ; 65). 17 Bachmann, Ingeborg : Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften. 2011 ; 75.
Zu Christine Lavant und Thomas Bernhard
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genannt werden. Auch mit Blick auf Chr. Lavant und Th. Bernhard hält Wendelin Schmidt-Dengler fest, « dass die Autoren in Österreich gerade die Sprachreflexion im Schnitt intensiver betrieben haben als ihre deutschen Kollegen »18. Hinzu kommen biographische Gründe. Beide wurden nur 58 Jahre alt, beide begannen früh, sich mit dem autobiographischen Material auseinanderzusetzen und es zu veröffentlichen, und sie haben sich drittens gekannt und gelesen. Wenngleich Chr. Lavant unbekannter als Th. Bernhard ist (das zeigt sich auch in der Fülle an Forschungsliteratur), schmälert das den Stellenwert Chr. Lavants auch für Th. Bernhard nicht.19 Im Gegenteil, denn Th. Bernhard hat das Potential von Chr. Lavant weit früher als die Lesenden und die Forschenden erkannt. So betont er bereits in der Zeitschrift Morgen. Monatsschrift Freier Akademiker 1959 : « Die einzige deutschsprachige Dichterin von Rang, die er kennt, ist Christine Lavant. »20 Diese Achtung vor Chr. Lavant und ihrem Schaffen zeigt sich bis kurz vor seinem Tod, als er 1988 eine Christine-Lavant-Anthologie im Suhrkamp Verlag herausgab.21 Die Wertschätzung geht auch in die andere Richtung. Als Th. Bernhard noch ein paar Jahre von seinem literarischen Durchbruch entfernt war, erhielt er unterstützende Worte von Chr. Lavant. In einem Brief vom Juli 1955, den er kurz nach der für ihn schwer zu verkraftenden negativen Rezension erhielt, die in den Salzburger Nachrichten über seine Lesung an den Wochen österreichischer Dichtung (vom 18. Juli bis 19. September 1955) erschienen ist, schreibt Chr. Lavant : « Jedenfalls Thomas bitt ich Dich, Dich selbst nicht aufzugeben. Du kannst viel Du bist ein Dichter und wirst immer einer bleiben. »22
18 Schmidt-Dengler, Wendelin : Bruchlinien : Vorlesungen zur österreichischen Literatur. 2010 ; 132. 19 Wie die Rezeption in den Medien und die Neuauflagen der Werke von Chr. Lavant zeigen, rückt sie immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Leserschaft. In diesem Prozess hilft sicher auch der seit dem Jahre 2016 vergebene Christine Lavant Preis (vgl. dazu : Internationale Christine Lavant Gesellschaft : Christine Lavant Preis). 20 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.1. 2015 ; 577. 21 Vgl. dazu : Lavant, Christine : Gedichte. Hrsg. von Thomas Bernhard. 2011. 22 Zit. in : Schneider, Ursula A. und Steinsiek, Annette : Christine Lavant und die « Wochen österreichischer Dichtung » in Salzburg 1955. In : Praesent 2004. Das literarische Geschehen in Österreich von Juli 2002 bis Juni 2003. Hrsg. von Michael Ritter. 2003 ; 64 (der Brief von Chr. Lavant ist noch nicht veröffentlicht).
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Einleitung
1.2 Zum Ziel der Arbeit Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die ethische Dimension des autobiographischen Erzählens ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.23 Um dieses Ziel zu erreichen, werden drei Teilziele formuliert : Das eine Ziel besteht darin, aufzuzeigen, was mit einer ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens gemeint ist, zum anderen, warum es notwendig ist, eine solche zu entwickeln, und schliesslich drittens, wie diese Ethik, ausgehend von Chr. Lavant und Th. Bernhard, beschaffen ist. Bei der Erarbeitung der Ziele steht aus den oben genannten Thesen das Erzählen von Leidenserfahrungen im Zentrum, die anhand von Chr. Lavants und Th. Bernhards Schriften analysiert werden. Bei der Ausarbeitung der ethischen Dimension liegt der Fokus neben den Produzierenden auch auf den Rezipierenden, eine Perspektive, wie sich zeigen wird, die in der Forschung zu wenig berücksichtigt wird, gerade wenn es um die Artikulation von Leidenserfahrungen geht. Die Herangehensweise an das autobiographische Material ist somit anders geartet als bei Wilhelm Dilthey, bei Sigmund Freud und in Teilen bei Paul Ricœur und Emil Angehrn, die u. a. untersucht haben, wie die Hermeneutik des Selbst nachvollzogen werden kann, denn es geht im Folgenden weniger um einen erkenntnistheoretischen als um einen ethischen Zugang. Aus diesen Zielen können verschiedene Aspekte gefolgert werden. Sie leisten einen Beitrag, wie es möglich ist, angesichts des Leidens die alte philosophische Frage zu beantworten, nämlich wie zu leben sei. Dank der hier diskutierten Vorschläge hinsichtlich der genannten Ziele (Antworten wäre zu viel versprochen) wird es weiter möglich sein, auf ein therapeutisches Philosophieverständnis hinzuarbeiten, also die Idee, die Philosophie sei eine mögliche Therapieform, um menschliches Leiden zu minimieren. Somit geht es um die Zurückbindung der Philosophie an und in den Alltag der Menschen, frei nach Jean-Luc Godards Credo « das Leben dort einzufangen, wo es sich abspielt ». Dank dieser Fokussierung auf das Individuum wird es auch möglich sein darzulegen, inwiefern das 23 Da der Fokus bei dieser Untersuchung auf den Menschen liegt, erfüllt auch dieses Buch die Aufforderung Martha C. Nussbaums nicht, wenn sie in ihrem Artikel in der NZZ vom 13. November 2018 als Fazit schreibt : « Legen wir also den Narzissmus ab, der in Fragen liegt, die einzig uns selbst betreffen. Machen wir uns lieber auf in ein Zeitalter, in dem ein Mensch zu sein bedeutet, den anderen Spezies, die diese Welt bewohnen, mit Achtsamkeit und Sorge zu begegnen. » (Nussbaum, Martha C.: Was es heisst, ein Mensch zu sein ? Fragen Sie nicht. In : Neue Zürcher Zeitung vom 13. November 2018 ; 36). Ob und inwiefern die ausgearbeitete Ethik des autobiographischen Erzählens mit tierethischen Positionen in einen Zusammenhang gesetzt werden können, ist eine spannende Frage, die noch untersucht werden müsste.
Die Hinwendung zum Individuum
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Erzählen über sich selber auf der produzierenden Seite eine Stärkung der Autonomie des Menschen zu leisten vermag, die eigene Stimme (Stanley Cavell)24 zu finden oder, wie es Peter Bieri formuliert25, Autor und Subjekt zu werden. In dem Sinne stellt diese Arbeit auch ein Autonomieprojekt dar, ein Projekt, mit dem darauf hingewiesen werden kann, wo welche Räume vorhanden sind, die entsprechend bespielt werden können ; es geht darum, darzulegen, wo es möglich ist, in der Übermacht des Bedingten das Unbedingte herauszuarbeiten, oder wie es Bachmann formuliert : « Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. »26 Auf der rezipierenden Seite steht mithilfe des Erzählten auch ein Weg offen, die eigene Autonomie zu fördern, aber auch, das Gegenüber in seinem Anderssein wahrzunehmen und auf dieses dank der Auseinandersetzung mit der ethischen Reflexion autobiographischen Erzählens differenzierter zu antworten. Aus dem Interesse der Rezipierenden an den autobiographischen Erzählungen wird aus dieser Perspektive verständlich, weshalb es notwendig ist, eine Ethik des autobiographischen Erzählens zu entwickeln. Schliesslich soll diese Untersuchung dazu verhelfen, der vorurteilsbehafteten Zuschreibung, dass Frauen wegen ihres Leidens Bücher schreiben, entgegenzuwirken. Ja, es ist auch das Leiden, was Menschen (und nicht nur Frauen) an den Schreibtisch drängt, aber das Leiden ist viel mehr, als nur die eine Intention für das Erzählte. 1.3 Die Hinwendung zum Individuum Heinz Bude fragt in dem Einleitungskapitel eines Sammelbandes zur Biographieforschung, was bei dieser Art von Forschung, verstanden als Untersuchung zum menschlichen Lebensverlauf, aus historischer, soziologischer oder philosophischer Sicht herauskommen soll.27 Diese Frage ist auch in der vorliegenden Untersuchung auf mehreren Ebenen relevant. So stellt sich die Frage, weshalb auf Chr. Lavant und Th. Bernhard fokussiert wird (die Antwort wurde bereits 24 Cavell, Stanley : Wissen und Anerkennen. In : Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays. Hrsg. von Davide Sparti und Espen Hammer. 2002 ; 42. 25 Bieri, Peter : Wie wollen wir leben ? 2011 ; 11. 26 Bachmann, Ingeborg : Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften. 2011 ; 76. 27 Bude, Heinz : Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen – eine Antwort auf die Frage, was die Biographieforschung bringt. In : Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Martin Kohli und Günther Robert. 1984 ; 7–28.
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Einleitung
weiter oben gegeben). Auch kann gefragt werden, was « am Beispiel von » im Titel bedeutet. Können die daraus gewonnenen Erkenntnisse im Zusammenhang der ethischen Dimension verallgemeinert werden, das heisst, kann Chr. Lavants und Th. Bernhards Schreiben über sich selber als repräsentativ gelten ? Natürlich nicht.28 Bude warnt verständlicherweise vor der Idee, Gesetzmässigkeiten aus Einzelfällen ableiten zu wollen, zu sehr unterscheiden sich die einzelnen Biographien voneinander. Und doch gesteht es Bude den Sozialforschenden zu, eine « Rekonstruktion von Lebenskonstruktion »29 als Forschungsgegenstand zu formulieren und aus den gewonnenen Ergebnissen sich auf den Weg nach der Häufigkeit eines Typus zu machen.30 Noch aus einem anderen Grund als die Fokussierung auf einzelne Individuen ist diese Rekonstruktion sinnvoll, nämlich, weil die Konsequenzen der Untersuchung der ethischen Dimension weit über das Individuelle hinausreichen. So gilt es, die Rahmenbedingungen, in denen ein Subjekt agiert, mitzuberücksichtigen – nicht nur, weil erst dann ein einzelnes Individuum verstanden werden kann, sondern auch, weil ohne Verbindung des Persönlichen mit dem Politischen (im Sinne von Hannah Arendt) kaum sinnvolle Geschichten erzeugt werden. Denn sollte eine solche Verbindung fehlen, setzt man sich der Gefahr aus, ein Solipsist zu sein oder Propaganda zu betreiben, wie es Art Spiegelman in der Passage-Sendung, die von Radio SRF Kultur am 16. Februar 2018 ausgestrahlt wurde, festgehalten hat.31 Und aus dieser Perspektive wird auch die Idee von Sloterdijk, das Erzählen der Lebensgeschichte sei eine Form des sozialen Handelns, verständlich, eine Praxis, « in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden »32, und so wird die Notwendigkeit, die sozialphilosophische Perspektive bei der Rekonstruktion von Lebenserfahrungen mitzube28 Um mit Kant zu sprechen, geht es nicht um eine « bestimmende Urteilskraft », da es keine allgemeine Regel gibt, wie das Einzelne zum Allgemeinen steht. Auch kann es sich nicht um die « reflektierende Urteilskraft » handeln, weil es nach Bude nicht möglich ist, vom Besonderen etwas Allgemeines abzuleiten (Kant, Immanuel : Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Karl Vorländer. 1974 ; 17 ; XXVIII). Es muss etwas Drittes sein, nämlich soll, wie Bude es postuliert, die Häufigkeit eines Typus untersucht werden, allerdings ohne den Anspruch, die Ergebnisse in Gesetzform zu bringen. 29 Bude, Heinz : Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen – eine Antwort auf die Frage, was die Biographieforschung bringt. In : Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Martin Kohli und Günther Robert. 1984 ; 7. 30 Ebd.; 25. 31 Gasser, Christian : Im Schatten der Geschichte : Art Spiegelman. Sendung : Passage. Ausgestrahlt am Freitag, 16. Februar 2018. Schweizer Radio SRF, Kultursender ; 2.30 min–2.57 min. 32 Sloterdijk, Peter : Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. 1978 ; 6.
Zum Aufbau der Arbeit
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rücksichtigen, nachvollziehbar. Denn die Einbindung der sozialphilosophischen Perspektive kann auch die Ausschlussmechanismen aufgrund von Ethnie (race), Geschlecht (sex), Klasse (class), Alter (age) oder Behinderung (ability) reflektieren respektive aufzeigen, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit die Produzierenden erzählen und von den Rezipierenden gehört beziehungsweise gelesen werden. 1.4 Zum Aufbau der Arbeit Wie aus der Formulierung der erwähnten Ziele deutlich geworden ist, stellt die Ausarbeitung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens ein vielschichtiges Projekt dar, bei dem unterschiedliche Disziplinen beteiligt sind, nämlich vor allem die verschiedenen Teilgebiete der Philosophie, die Literaturwissenschaft und die Linguistik. Die Vielschichtigkeit des Projekts zeigt sich auch an den bereits implizit und zum Teil explizit im Titel erwähnten Begriffen, die in den jeweiligen Kapiteln untersucht und in Verbindung gebracht werden : Philosophie und Literatur, Leiden, Erzählen, Autobiographie, Erkennen, Sprache, Therapie und Ethik. Wie diese Begriffe mit dem Ziel und, davon abgeleitet, mit dem Aufbau der Arbeit zusammenhängen, soll nun detaillierter ausgeführt werden. Die Kapitel 2 bis 4 dienen als Grundlage, auf denen die Kapitel 5 bis 9 basieren. In Kapitel 2 werden die ersten Ausgangspunkte für die Untersuchung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens gesetzt. Dabei wird zum einen das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur geklärt, zum anderen der Zusammenhang zwischen Schmerz, Leiden und Sprache ausgearbeitet. Wenn dieser Zusammenhang freigelegt ist, wird es auch möglich sein, im nächsten Kapitel zu untersuchen, wie das Verhältnis zwischen Erkennen, Leiden, Ethik und Literatur beschaffen ist. Ebenfalls gilt es in diesem Kapitel, auf die Komplizenschaft zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden hinzuweisen und das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis zu erläutern. Im 3. Kapitel findet eine Annäherung an das weite Feld der Erzählung aus unterschiedlichen und für diese Arbeit relevanten Perspektiven statt. Dabei steht die Frage im Zentrum, warum Menschen von sich selber erzählen, wie sie es tun, wie Erzählen und Leben zusammenhängen und in welchem Verhältnis Erzählen und Leiden stehen. Da autobiographische Schriften eine zentrale Rolle in dieser Arbeit einnehmen, wird im nächsten Kapitel der ontologische Status von Autobiographie thematisiert. Wie diese Diskussion zeigen wird, ist es nicht möglich, diesen Status abschliessend zu klären. Deshalb wird dafür argumentiert,
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Einleitung
die Gattung Autobiographie nicht ins Zentrum dieser Arbeit zu stellen, sondern die abgeschwächte Form der autobiographischen Schriften. Gerade die Diskussion der Erzählbegriffe in Kapitel 3 und 4 zeigen auf, wie schwierig eine Abgrenzung von autobiographischen und literarischen Erzählungen ist, eine Schwierigkeit, die, wenn auch bis zum Ende dieses Buches nicht aufgelöst werden kann, so doch stets in der Auseinandersetzung mit den Texten von Chr. Lavant und Th. Bernhard mitberücksichtig werden muss. Weiter ist es wegen der Forschungslage in diesem Kapitel möglich (vor allem aus der Perspektive der Produzierenden), einen Exkurs zur Geschichte der autobiographischen Schriften auszuführen. Es wird sich zeigen, wie alt die Praxis des Verfassens von autobiographischen Schriften ist und welche Gründe und welche Strategien verwendet werden, um über sich selber zu erzählen, die auch das Verständnis für heutige (Leidens-)Erzählungen fördern. Im 5. Kapitel wird als Erstes ausgeführt, wie genau das Ethische in das autobiographische Erzählen hineinspielt. Danach liegt der Fokus auf drei zentralen Aspekten einer solchen Zusammenführung, wobei der erste Aspekt, die (ethische) Relevanz des Schreibens im Umgang mit dem Leiden kürzer, die anderen beiden (autobiographisches Schema und die Ursachenforschung) ausführlicher untersucht und dargestellt werden. Die knappere Vertiefung des ersten Aspektes hängt mit der Forschungslage zusammen, die in diesem Bereich schon weit fortgeschritten ist, weshalb das Augenmerk vor allem auf die Frage nach der ethischen Dimension des Konnexes Schreiben und Leiden gerichtet werden kann. Nachdem diese Grundlagen im 5. Kapitel erarbeitet wurden, geht es im 6. und 7. Kapitel darum, die (öffentlich zugängliche) Archivierungsarbeit von Chr. Lavant und Th. Bernhard zu sichten und die Textauswahl zu begründen. Während bei Chr. Lavant die vier Erzählungen Das Kind (verfasst 1945 ; veröffentlicht 1948), Das Wechselbälgchen (verfasst 1945–1949 ; veröffentlicht 1998), Das Krüglein (verfasst 1946 ; veröffentlicht 1949) und Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus (verfasst 1946, veröffentlicht 2001) sowie ihre Lyrik im Zentrum stehen, wird bei Th. Bernhard auf seine fünfbändige autobiographische Schrift (Die Ursache, 1975 ; Der Keller, 1976 ; Der Atem, 1978 ; Die Kälte, 1981 sowie Ein Kind, 1982), die 2004 erstmals in einem Band unter dem Titel Die Autobiographie veröffentlicht wurde, fokussiert. Ergänzend zu den Schriften von Chr. Lavant und von Th. Bernhard kommt textexternes Material wie Briefe oder Interviews dazu. Schliesslich wird in den beiden letzten Kapiteln analysiert, wie eine ethische Dimension des autobiographischen Erzählens im Konkreten beschaffen ist, wie diese Dimension mit der Leidensverminderung zusammenhängt und welche Vorgehensweise mit welchen Konsequenzen bei Chr. Lavant und bei Th. Bernhard im Vordergrund steht.
Zum Forschungsüberblick
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1.5 Zum Forschungsüberblick Es gibt zahlreiche Studien, die die ethische Dimension von fiktiver Literatur untersucht haben, so etwa die Konzeptionen von Paul Ricœur, Martha C. Nussbaum oder von Charles Taylor, um drei Sichtweisen zu nennen, die für dieses Buch wichtig sind. Überschaubar hingegen ist die Forschungssituation im Zusammenhang von Ethik und autobiographischem Erzählen. Die einzigen Quellen, in denen über Ethik und autobiographische Schriften auf systematischere Weise nachgedacht wird, allerdings vor allem aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive, ist der Sammelband The Ethics of Life Writing, herausgegeben von Paul John Eakin, sowie seine Monographie How Our Lives Become Stories und die Monographie von Angel Loureiro mit dem Titel The Ethics of Autobiography. Replacing the Subject in Modern Spain. Im Sammelband von Eakin werden anhand von philosophischen Konzeptionen Teilaspekte von autobiographischen Schriften untersucht. So geht es etwa in einer Studie von David Parker um die Verknüpfung zwischen der Selbstkonzeption Taylors mit Edmund Gosses’ Father and Son.33 In einer weiteren Studie, die die ethische Dimension betrifft, untersucht John D. Barbour anhand von drei klassischen autobiographischen Werken (u. a. Jane Austen) die dargestellte Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern.34 In seiner Monographie How Our Lives Become Stories geht Eakin ebenfalls in einem Kapitel auf die Ethik im Zusammenhang mit autobiographischem Schreiben ein. Es ist Eakins Leistung, anhand von verschiedenen literarischen Werken ethische Fragen aufzuzeigen. So etwa legt er dar, wie The Kiss von Kathryn Harrison aus dem Jahre 1997, in dem die Autorin ihre sexuellen Erfahrungen mit ihrem Vater reflektiert, bedeutend für die Entwicklung der Identität als Autorin ist.35 Worin genau die ethische Dimension dieser Entwicklung liegt, führt er nicht weiter aus, auch differenziert er nicht zwischen den Ebenen Produzierende-Erzähltes-Rezipierende, drei Ebenen, die einzeln, aber ebenso in Verbindung miteinander berücksichtigt werden müssen. Die Studie von Loureiro untersucht die ethische Dimension aus produktionsästhetischer Perspektive (u. a. 33 Vgl. dazu : Eakin, John Paul : The Ethics of Life Writing. Hrsg. ebd. 2004 ; 53–72. 34 Vgl. dazu : ebd.; 73–100. 35 Eakin, John Paul : How Our Lives Become Stories. 1999 ; 144. An einer anderen Textstelle zitiert Eakin sowohl den Ehemann als auch die Autorin selber, um aus einer textexternen Perspektive die Frage zu beantworten, warum Harrison diese autobiographische Schrift verfasst hat (vgl. dazu : Eakin, John Paul : How Our Lives Become Stories. New York : Cornell University Press. 1999 ; 152– 154). Aber auch an dieser Stelle wird nicht klar, inwiefern das Ethische in seiner Analyse eine Rolle spielt.
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die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft), vor allem unter Bezugnahme französischer Philosophen. Die Ergebnisse seiner Untersuchung wendet er im Anschluss an verschiedenen spanischsprachigen Autoren und einer Autorin an, doch auch er weist nicht nach, wie genau das Ethische in das Autobiographische hineinspielt und welche Konsequenzen mit Blick auf die Rezipierenden daraus folgen.36 Bei Chr. Lavant finden sich keine ethischen Reflexionen ihres Werkes. Hingegen wenden sich einzelne Autoren in der Forschungsliteratur der ethischen Implikationen der (autobiographischen) Schriften von Th. Bernhard zu und arbeiten diese aus. Bezugnehmend auf ein Zitat aus Die Kälte. Eine Isolation greift Olaf Kramer auf Gorgias zurück und folgert : « Th. Bernhard gerät damit ideologisch in die Nähe der Sophistik, vertritt einen radikalen Skeptizismus […]. »37 Eine weitere Arbeit, die sich im Zusammenhang mit der ethischen Dimension des Werkes von Th. Bernhard auseinandersetzt, ist jene von Gerald Jurdizinski. Er geht auf die Philosophie Arthur Schopenhauers ein, vor allem auf seine Mitleidsethik, und wendet diese auf den Roman Korrektur an.38 Auch Franz Eyckeler hält fest, dass die Prosa von Th. Bernhard von einer « radikalen Sprachskepsis und einem darauf beruhenden erkenntnistheoretischen Relativismus geprägt » sei, eine Sprachskepsis, die vor allem auf der Auseinandersetzung mit Michel de Montaigne, Friedrich Nietzsche und Ludwig Wittgenstein entstanden sei.39 Auch in den folgenden Kapiteln wird auf diese Studien Bezug genommen, doch, wie sich zeigen wird, gilt es, den Begriff des Ethischen im Zusammenhang mit dem autobiographischen Erzählen zu erweitern und anders auszurichten.
36 Vgl. dazu : Loureiro, Angel G.: The Ethics of Autobiography. Replacing the Subject in Modern Spain. 2000. 37 Kramer, Olaf : Wahrheit als Lüge, Lüge als Wahrheit. Thomas Bernhards Autobiographie als rhetorisch-strategisches Konstrukt. 2011 ; 116. 38 Jurdizinski, Gerald : Leiden an der « Natur ». Thomas Bernhards metaphysische Weltdeutung im Spiegel der Philosophie Schopenhauers. 2004. 39 Eyckeler, Franz : Reflexionspoesie : Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. 1995 ; 9.
2. Metaphilosophische Einbettung […] Do not all charms fly At the mere touch of cold philosophy ? There was an awful rainbow once in heaven : We know her woof, her texture ; she is given In the dull catalogue of common things. Philosophy will clip an Angel’s wings, Con quer all mysteries by rule and line, Empty the haunted air, and gnomèd mine – Unweave a rainbow, as it erewhile made The tender-person’d Lamia melt into a shade. (Auszug aus John Keats Lamia, 1820)1
Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, die Grundlagen für die Analysen der folgenden Kapitel zu erarbeiten. In einem ersten Schritt wird das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur thematisiert, im Anschluss zentrale Begriffe analysiert und in entsprechende Verbindung gesetzt, nämlich das Leiden, die Krankheit, der Schmerz, das (Selbst-)Erkennen, die Sprache und die Ethik. Weiter soll in Kapitel 2.5 die Komplizenschaft zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden untersucht und in Kapitel 2.6 auf das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis eingegangen werden. 2.1 Der Zusammenhang von Philosophie und Literatur Wie erwähnt, stehen im Folgenden Texte von Chr. Lavant und Th. Bernhard im Zentrum, die mit philosophischen Überlegungen in Beziehung gesetzt werden. So klar dieses Programm daherkommt, so anspruchsvoll ist es in der Tat. Denn mit diesem Programm werden implizit Aspekte aufgegriffen, die nur auf den ersten Blick unproblematisch zu sein scheinen. Da ist die Frage nach der Abgrenzung zwischen philosophischen und literarischen Texten. Ab wann gilt ein Text als literarisch, wann kann er als philosophischer Text gesehen werden ? Obwohl Th. Bernhard in vielen seinen Werken sich mehr oder weniger explizit auf Philosophen bezieht, stehen sie nicht in der Bibliothek des philosophischen Seminars. 1 Keats, John : Lamia. 1990 ; 41.
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Metaphilosophische Einbettung
Und unter der Annahme, eine Abgrenzung zwischen Philosophie und Literatur gelänge, stellt sich im Anschluss eine weitere Frage : Wie genau ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur beschaffen ? Wenn die Literatur nur als Medium dienen soll, eine philosophische Theorie darzustellen, oder umgekehrt, wenn die Philosophie nur als Medium auftritt, um Literatur zu generieren, so wird man weder der Literatur noch der Philosophie gerecht. Michael Erler erinnert uns in seinem historisch angelegten Beitrag zum Begriff Philosophie, der in dem Sammelband Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit veröffentlicht wurde, daran, wie untrennbar Philosophie und Literatur zumindest ursprünglich verschmolzen waren.2 Erler zitiert neben Homers Ilias das Gedicht Theogonie von Hesiod, um darzulegen, wie es anhand dieses Gedichtes möglich ist, erste Ansätze des abstrakten Denkens nachzuzeichnen, und wie die Ordnung der Welt und der Menschen reflektiert werden, beides Aspekte, die die Philosophie betreffen und auch in den frühesten Emanzipationsanfängen der Philosophie schon aufgegriffen werden.3 In die gleiche Richtung argumentiert Monika Schmitz-Emans. Zwar sei der Begriff der Philosophie viel älter als jener der Literatur, jedoch sei die Grenzziehung in der Antike kaum möglich, vor allem dann nicht, wenn beim Begriff Literatur die Verwendung von « rhetorisch-textgestalterische[n] Stilmittel[n] »4 miteinbezogen oder wenn berücksichtig werde, dass beide nach Wissen streben. Spätestens ab Aristoteles wird es möglich, klarer zwischen den literarischen und philosophischen Spielarten der Reflexion über sich und die Welt zu unterscheiden.5 Gerade diese enge Bindung zwischen Philosophie und Literatur ist auch ein Grund für die grosse Vielfalt an philosophischen Textsorten wie Briefe, Dialoge, Lehrbuch, Traktat usw.6 Für 2 Um die Diskussion der Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Literatur zu vereinfachen, wird im Folgenden nicht zwischen Dichtung, Poesie und Literatur differenziert, sondern Dichtung und Poesie werden im Begriff der Literatur subsumiert ; dadurch wird von den Schattierungen ihrer leicht verschobenen Bedeutungen abgesehen. 3 Erler, Michael : Philosophie. In : Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. Hrsg. von Bernhard Zimmermann unter Mitarbeit von Anne Schlichtmann. 2011 ; 254. Wie wichtig es ist, die europäische Philosophie- und Literaturgeschichte nicht erst in Altgriechenland anzusetzen, zeigt sich später in Kapitel 4.2 wieder. 4 Schmitz-Emans, Monika : Philosophie. In Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. von Thomas Anz. 2013 ; 397. 5 Ebd.; 396 f. 6 Wie Erler weiter ausführt, werden die Wörter Philosoph und Philosophie erst nach der Zeit von Homer und Hesiod verwendet und « bezeichnen zunächst intellektuelle Neugierde, Kultiviertheit […], intellektuelle Offenheit und Reiseerfahrung » (Erler, Michael : Philosophie. In : Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. Hrsg. von Bernhard Zimmermann unter Mitarbeit von Anne
Der Zusammenhang von Philosophie und Literatur
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das Selbstverständnis der Philosophie nimmt der Prozess der Verschriftlichung unter Verwendung der erwähnten Textsorten einen zentralen Stellenwert ein. Genau wie man die Erzählungen über historische Ereignisse oder fiktionalisierte Geschichten ursprünglich mündlich weitertradierte, wurde anfänglich mündlich philosophiert, wie sich bei Sokrates, dem bekanntesten Beispiel, aufzeigen lässt. Wenn nun die philosophischen Reflexionen verschriftlicht sind, ist es möglich, sich auf diese kritisch zu beziehen, unabhängig von Raum und Zeit, und so wird der Weg geebnet, eine eigenständige Disziplin herauszubilden. Anhand von einigen Vorsokratikern wie Xenophanes, die ihre philosophischen Reflexionen in Versform fassten, kann nachgewiesen werden, dass mit dem « Ü bergang von der Theogonie zur Kosmologie und von der Genealogie zur Ätiologie »7 (d. h. im 6. Jahrhundert v. Chr.) auch ein Wechsel der Form, nämlich von Dichtung zu Prosa, einhergeht. Doch, wie Erler weiter betont, bedeutet dieser Wechsel nicht, dass die Prosa die angemessenere Form sei, um rational und somit nicht mehr mythologisch zu argumentieren (Nietzsche wäre ein bekanntes Gegenbeispiel).8 Bevor das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur weiter vertieft wird, sind diese beiden Begriffe nun einzeln zu thematisieren. 2.1.1 Philosophie
Michael Baumgartner hält in seinem Beitrag zum Begriff Philosophie im Handbuch philosophischer Begriffe fest, « dass vor aller sinnvollen philosophischen Diskussion keine Übereinstimmung im Begriff der Philosophie bestehe ; dass weder ihr Begriff noch der Gegenstand, noch ihre Methode als explizit geklärt vorausgesetzt werden könnten »9. Und trotzdem wurde und wird in der Philosophie nach wie vor den Versuch (verständlicherweise) unternommen, sich diesem Begriff anzunähern. Es geht im Folgenden nicht darum, den Philosophiebegriff zu definieren, sondern es soll das Philosophieverständnis, welches dieser Arbeit zuSchlichtmann. 2011 ; 255). Wann genau der Begriff Philosophie als die heute verstandene Tätigkeit einer spezifischen Art der Erforschung des Menschen und seiner Umwelt sich zu etablieren begann, ist umstritten, sicher aber in der Zeit Platons oder gar mit ihm selbst. Hingegen kam die Idee, dass die Kunst (und somit auch die Literatur) eine eigenständige Sphäre darstellt, wie Nussbaum festhält, erst im Hellenismus und somit nach Platon auf (vgl. dazu : Nussbaum, Martha C.: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. 1990 ; 16). 7 Erler, Michael : Philosophie. In : Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. Hrsg. von Bernhard Zimmermann unter Mitarbeit von Anne Schlichtmann. 2011 ; 260. 8 Vgl. dazu : ebd. 9 Baumgartner, Michael et al.: Philosophie. In : Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Band II. Gesetz-Relation. Hrsg. von Hermann Krings et al. 1973 ; 1072.
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grunde liegt, offengelegt werden.10 Dieses Philosophieverständnis findet aus zwei Gründen seinen Ausgangspunkt bei Michael Hampes Konzeption. Erstens geht auch er von einem Philosophieverständnis aus, das sich am Alltag der Menschen zurückbinden lässt, ein Bestreben, welches er mit dem Pragmatismus teilt, und zweitens spricht er ebenfalls der (fiktionalen) Literatur in diesem Bestreben der Hinwendung zum Leben eine zentrale Rolle zu (wird in Kapitel 2.1.3 vertieft). Hampe führt sein Philosophieverständnis an mehreren Stellen aus, so auch in seiner zuletzt veröffentlichten Monographie mit dem Titel Die Lehren der Philosophie.11 Er zeigt sein Philosophieverständnis an der Pendelbewegung zwischen doktrinärer und nichtdoktrinärer Philosophie auf.12 Eine doktrinäre Philosophie sei eine, welche behauptet und sich eher mit dem Allgemeinen beschäftigt, unabhängig davon, ob es sich dabei um die praktische oder um die theoretische Philosophie handle.13 Den doktrinären Philosophen gehe es weniger um das Selberdenken als vor allem um das Auslegen von bereits Gedachtem. Da das dogmatische Denken nach Hampe vor allem in akademischen Kreisen stattfindet, folgt daraus, dass die Akademien kein Ort des Nachdenkens mehr seien, sondern « vor allem akademische Karriereprogramme »14, weswegen sie « weitgehend in der kulturellen Bedeutungslosigkeit versunken »15 sei. Auch wenn noch selbstständige Gedankengänge teilweise in den Akademien vollzogen würden, widmeten sich ihre Vertreterinnen und Vertreter etwa einer allgemeinen Bedeutungstheorie, einem Vorhaben, bei dem keine direkte Verbindung zum
10 Für eine systematische Annäherung an den Begriff Philosophie soll an dieser Stelle auf ein Buch und auf einen Artikel verwiesen werden : Rosenberg, Jay F.: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Übersetzt von Brigitte Flickinger. 1986 sowie Petrus, Klaus : Philosophische Probleme. In : Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1. 2002 ; 23–40. 11 Wichtige Inspirationsquellen des Philosophieverständnisses von Hampe findet sich im erwähnten Pragmatismus, einer philosophischen Strömung, die er in seinem Buch Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus untersucht (Hampe, Michael : Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus. 2006 ; hier 11–14). Während er in Die Lehren der Philosophie u. a. das erwähnte Verhältnis zwischen dogmatischer und nichtdogmatischer Philosophie thematisiert, geht er in seinem NZZ-Artikel vom 30. September 2016 noch einen Schritt weiter. Hier steht nicht mehr die Untersuchung der unterschiedlichen philosophischen Auffassungen im Zentrum, sondern er fordert eine « Kultur der Aufklärung » und konkretisiert das Ziel, das nichtdogmatische Denken in einer Gesellschaft einzuüben (vgl. dazu : Hampe, Michael : Gemeinsam für eine Kultur der Aufklärung. In : Neue Züricher Zeitung vom 30. September 2016 ; 12). 12 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 443. 13 Ebd.; 49. 14 Ebd.; 387. 15 Ebd.; 47.
Der Zusammenhang von Philosophie und Literatur
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Leben hergestellt werden könne, weshalb diese Projekte als « unsinnige »16 beschrieben werden müssten. Nichtdoktrinäre Philosophie hingegen « versucht zu verhindern, dass Menschen durch religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Dogmatismus unfrei werden »17, oder positiv formuliert, es gehe darum, dem Menschen aufzuzeigen, wie er sein Leben autonom gestalten könne.18 Um darzulegen, wie es überhaupt möglich sei, sich von Dogmen zu befreien, greift Hampe ausführlich auf Sokrates zurück. Der Weg des Sokrates war es, eben nicht zu behaupten, wie das Vertreterinnen und Vertreter der doktrinären Philosophie tun, sondern Aussagen oder Behauptungen zu prüfen, mit dem Ziel, das Bestehende zu hinterfragen und somit besser angeben zu können, was das entsprechende Subjekt will, allerdings ohne durch vermeintlich bessere Behauptungen das Gegenüber überzeugen zu wollen. Das für Sokrates zur Verfügung stehende Material sind Begriffe, welche, wenn sie entsprechend genutzt werden, in der Lage sind, auf die Erfahrungen « reflektierend zu reagieren und gegebenenfalls das menschliche Leben in der Kultur, in der man sich selbst entwickelt hat, zu verändern »19. Genauso wie es Hampe in seiner Kritik unterlässt, ein Gegenprogramm darzustellen, geht Sokrates vor, indem er die fixen, aber nicht begründeten Denkresultate des Menschen entlarvt, ohne die entstandenen Lücken mit einem Alternativprogramm füllen zu wollen. Die nichtdoktrinäre Philosophie steht ebenfalls einer bestimmten Art der Begriffsanalyse skeptisch gegenüber, die vor allem in der analytischen Philosophietradition verbreitet ist. Ein Begriff stellt für Hampe eine Unterscheidungsgewohnheit dar, über den reflektiert und variiert werden kann.20 Eine Begriffsanalyse macht für Hampe nur Sinn, « um die Fähigkeit zu erwerben, auf die eigenen Erfahrungen reflektierend zu reagieren und gegebenenfalls das menschliche Leben in der Kultur, in der man sich selbständig entwickelt hat, zu verändern »21. Eine abstrakte Begriffsdefinition, mit dem Ziel, einen Wahrheitsbegriff zu erarbeiten, wie dies eben die analytische Philosophie im Programm hat, interessiert Hampe nicht. Das Philosophieverständnis, von dem in dieser Arbeit ausgegangen wird, um es nun, ausgehend von den Ausführungen zu Hampe auf den Punkt zu brin16 Ebd.; 459. 17 Ebd.; 48. 18 Für Hampe steht eine besondere Art der Autonomie im Zentrum, nämlich die semantische, das heisst eine Autonomie hinsichtlich des Denkens und Sprechens. Was genau mit diesem Autonomiebegriff gemeint ist, wird in Kapitel 2.6.1 genauer ausgeführt. 19 Ebd.; 63. 20 Ebd.; 141. 21 Ebd.; 63.
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gen, besteht im Folgenden : Die Philosophie stellt eine Möglichkeit dar, uns in unserem alltäglichen Leben zu verordnen. Die zentralen Begriffe dieser Arbeit, etwa das Leiden, das (Selbst-)Erkennen oder die Ethik, werden analysiert ; die Reichweite dieser Analyse wird am konkreten Leben überprüft.22 Bei dieser Art der Verordnung des Lebens sind wir nicht allein, sondern wir haben Verbündete, nämlich die Literatur, hier die autobiographischen Schriften im Konkreten, die uns helfen, darzulegen, wie genau diese Verordnung passiert. Die Gefahr des Dogmatismus besteht in dieser Arbeit nicht, da nicht der Anspruch formuliert wird, darzulegen, wie ein gutes Leben23 auszusehen habe, im Gegenteil. Es sollen nur Wege aufgezeigt respektive diskutiert werden, was es auf diesem Weg im Umgang mit dem autobiographischen Erzählen zu berücksichtigen gilt. Wie eine solche Umsetzung im Konkreten auszusehen hat, ist jedem Einzelnen überlassen, denn, wie es Angehrn formuliert, « ‹Wer bin ich eigentlich›, ‹Was für ein Mensch bin ich›, ‹Was soll ich tun ?›, ‹Was will ich eigentlich›, ‹Wer will ich sein ?› »24 sind Fragen, « die der Einzelne an sich selbst richtet und die ihn selbst betreffen […] die nur er selbst, kein Erzieher, Priester oder Arzt an seiner Stelle, beantworten kann. »25 In diesem Sinne ist diese Arbeit auch Arbeit an dem Projekt der (semantischen) Autonomie, von der Hampe spricht. 2.1.2 Literatur
Hartmut Abendschein hat 2016 digital seine im Verlaufe eines Jahres gesammelten Einkaufszettel mit dem Titel Mein Jahr in Besorgungen veröffentlicht.26 In der Sendung Kultur kompakt auf dem SRF-Kultursender wurde u. a. die Frage aufgeworfen, ob es sich bei diesem Konvolut um Literatur oder um einen Sachtext handle.27 Unabhängig davon, in welche Kategorie sich dieses Konvolut einordnen lässt, ist klar, sowohl Sachtexte als auch literarische Texte sind auf die 22 Anhand der handlungstheoretischen Konzeptionen von Donald Davidson in Kapitel 5.3 wird ebenfalls auf die analytische Philosophie Bezug genommen, trotz der von Hampe formulierten Einwände hinsichtlich der begrenzten Reichweite dieser Philosophierichtung (vgl. ebd.; 454). Diese Ausführungen zu Davidson werden helfen, die Ursachenforschung differenzierter nachvollziehen zu können. 23 Zum Begriff des guten Lebens vgl. das Kapitel 5. 24 Angehrn, Emil : Das erzählte Selbst. In : Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Hrsg. Gabriela Brahier und Dirk Johannsen. Band 2. 2013 ; 92. 25 Ebd. 26 Abendschein, Hartmut : Mein Jahr in Besorgungen. 2016. 27 Herwig, Sarah : Ian McEwans neuer Roman « Nussschale ». Sendung : Kultur Kompakt. Ausgestrahlt am Mittwoch, 26. Oktober 2016. Schweizer Radio SRF, Kultursender ; 10.30 min–15 min.
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Sprache angewiesen, klar ist auch, beide beziehen sich auf etwas Bestimmtes. Was diese allgemeinen Überschneidungen betrifft, endet allerdings spätestens beim Kriterium der Fiktion die Klarheit. Wie der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton anhand der englischen und französischen Literatur aus verschiedenen Jahrhunderten darlegt, ist es schwierig, ja, gar unmöglich, eine Unterscheidung zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur zu treffen.28 Diese Schwierigkeit hänge vor allem damit zusammen, dass der Zeitkontext eine relevante Kategorie sei, um etwas als « wahr » (und somit nicht erfunden) zu klassifizieren. Edward Gibbon sei zweifellos überzeugt gewesen, sein mehrbändiges Werk zum Aufstieg und Fall des Römischen Reiches, das er in der Zeit von 1776–1789 veröffentlichte, ein Sachtext sei, der die historische Wahrheit darstelle. Aber heute rückt das Werk, wie Eagleton aufzeigt, wegen seines Prosastils oder weil er gerne « in Bildern menschlicher Korruption »29 schwelge, in den Bereich der Fiktion. Ein weiteres Beispiel, um diesen Wandel zu illustrieren, sind die Krankheitsgeschichten von Freud, etwa jene vom sogenannten Rattenmann. Auch wenn für Freud diese Geschichte primär als ein Teil seiner wissenschaftlichen Beweisführung dient, können diese Texte aufgrund der Form und der bildhaften Sprache als literarische Texte gelesen werden. Literatur könne, um eine weitere Möglichkeit der Annäherung zu nennen, auf die Eagleton hinweist, als eine spezifische Art der Sprachverwendung aufgefasst werden. Dieses Analysekriterium, das auf die Formalisten zurückgeht, findet Eagleton wenig überzeugend, denn die Unterscheidung setze voraus, es sei möglich, zwischen einer « besonderen » und einer « normalen » Art der Sprachverwendung zu unterscheiden. Die vermeintliche Verfremdung der Sprache als ein Alleinstellungsmerkmal für Literatur löst sich für Eagleton mit dem Hinweis auf Reklamesprüche oder Zeitungsüberschriften auf, die zwar die Sprache ebenfalls « verfremden », aber trotzdem nicht als Literatur bezeichnet werden könne.30 Die beiden weiteren Kriterien, die Eagleton zur Diskussion stellt, nämlich die Literatur erfülle zum einen keinen unmittelbar praktischen Zweck, weswegen sie « nicht-pragmatisch » sei, und zum anderen verwende sie eine selbst-referentielle Sprache, verwirft er ebenfalls. Das zweite Kriterium verliere seine argumentative Kraft wiederum mit dem Hinweis auf die Reklamesprüche, da ebenfalls 28 Auf diese schwierige Abgrenzung wird in Kapitel 4.1 wieder Bezug genommen, wenn es darum geht, autobiographische von nicht-autobiographischen Texten abzugrenzen. 29 Eagleton, Terry : Einführung in die Literaturtheorie. Aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. 2012 ; 8. 30 Ebd.; 4–6.
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bei diesen Texten, um einen aktualisierten Begriff des « selbstreferentiellen » zu verwenden, eine hohe Literarizität nachgewiesen werden kann. Der Vorschlag des « nicht-pragmatischen » überzeugt Eagleton ebenfalls nicht. Nur weil aus der produktionsästhetischen Perspektive intendiert wurde, einen praktischen Zweck zu erfüllen, wie es bei Gibbon (oder in den Krankengeschichten Freuds) der Fall war, heisst das noch lange nicht, dass die Rezipierenden dieser Intention auch folgten.31 Entsprechend kommt Eagleton zum Schluss : « So etwas wie ein ‹Wesen› der Literatur gibt es schlichtweg nicht »32, wir sollten uns von der Illusion befreien, die « Kategorie ‹Literatur› ‹objektiv’ im Sinne von ewig und unveränderbar »33 definieren zu wollen. Um auf die Einkaufszettel zurückzukommen und unter der Annahme, es handle sich wegen des direkten Bezugs zum Alltag um Sachtexte, könnte ein weiteres Argument formuliert werden, um darzulegen, dass es sich doch um einen literarischen Text handle (und somit einen weiteren Beleg für die These von Eagleton liefern). So kann der Einkaufszettel laut vorgelesen werden, indem einzelne Silben mehr oder weniger bewusst betont werden (dann handelt es sich um Lyrik), dieser Zettel kann auf der Bühne des Supermarktes aufgeführt werden, indem er den Rezipierenden Anweisungen erteilt, wie sie sich im Supermarkt zu bewegen haben (die Zettel werden zum Drama), oder es wäre möglich, ausgehend von einer Einkaufsliste, sich das Leben dieses Menschen zu imaginieren und zu erzählen (hier kommt die Epik zum Zuge).34 Somit sind nicht nur die Grenzen zwischen einem Sachtext und einem literarischen Text fliessend, sondern auch ihre Gattungen. Auch wenn, wie Eagleton betont, es nicht möglich ist, das Wesen der Literatur festlegen zu können, ist es unbefriedigend, keinen Unterschied etwa zwischen den Gedichten von Chr. Lavant oder den epischen Texten von Th. Bernhard auf der einen, und einem wissenschaftlichen Artikel auf der anderen Seite zu machen. Eine Möglichkeit, sich dem Begriff Literatur aus einer anderen Richtung anzunähern, ist der Rückgriff auf das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Dieses Lexikon unterscheidet zwischen sechs verschiedenen Bedeutun31 Ebd.; 8 f. 32 Ebd.; 9. 33 Ebd.; 11. 34 Vgl. dazu : Herwig, Sarah : Ian McEwans neuer Roman « Nussschale ». Sendung : Kultur Kompakt. Ausgestrahlt am Mittwoch, 26. Oktober 2016. Schweizer Radio SRF, Kultursender ; 10.30 min– 15 min. Die schwierige Grenzziehung zwischen Gattungen zeigt sich weiter in zahlreichen Werken. So finden sich in romantischen Texten wie bei Josef von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts epische wie auch lyrische Momente, weswegen die literarische Zuordnung des Textes, auch wenn « Novelle » im Untertitel steht, erschwert wird.
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gen, was Literatur sei : 1) Gesamtheit des Geschriebenen bzw. Gedruckten überhaupt, 2) die Sekundärliteratur, das heisst die Gesamtheit des zu einem Thema Geschriebenen bzw. Gedruckten, 3) als Synonym zur Primärliteratur, die den Gegenstand der Literaturwissenschaft darstellt, also Texte, die als literarisch bezeichnet werden, 4) als Qualitätsmerkmal, um sich gegen Trivialliteratur oder gar Kitsch abzugrenzen, 5) die Gesamtheit der von einer Person geschriebenen literarischen Texten und schliesslich 6) ein System gesellschaftlicher Handlung.35 Die Bedeutungen 1) und 6) setzen einen zu weiten Literaturbegriff für diese Arbeit voraus, da im Endeffekt unklar bleibt, was genau einen lyrischen Text von einer Einkaufsliste unterscheidet. Die zweite fällt weg, weil in dieser Arbeit zwischen den autobiographischen Erzählungen auf der einen und den wissenschaftlichen Texten auf der anderen unterschieden wird und somit diese Differenzierung nicht relevant ist. Die vierte Bedeutung ist deshalb wenig hilfreich, weil es in diesem Kontext nicht relevant ist, ob ein Text von Chr. Lavant oder von Th. Bernhard als Trivialliteratur oder nicht bezeichnet werden kann. Auf die fünfte Annäherung wird deshalb nicht zurückgegriffen, weil nicht klar ist, ob so die Briefe von Chr. Lavant oder die Preisreden von Th. Bernhard nicht auch als « literarisch » bezeichnet werden können respektive müssen, arbeiten sie doch mit ähnlichen rhetorisch-stilistischen Mitteln. Doch ebenso die dritte Annäherung ist nur bedingt sinnvoll. Es droht zum einen ein Zirkelschluss, und zum anderen ist diese Definition zu offen, denn in der Literaturwissenschaft wird praktisch alles, was Menschen mit Sprache machen, wissenschaftlich untersucht, auch wenn es Bereiche gibt wie die Gebrauchstexte, welche die Wissenschaft deutlich weniger prominent behandelt. Obwohl Bedeutung 3) nur eine bedingt sinnvolle Annäherung ist, soll im Folgenden in einem ersten Schritt auf sie zurückgegriffen werden. So stellt die Literatur das dar, womit sich die Literaturwissenschaft beschäftigt. Diese Annäherung stellt eine begriffliche Hilfestellung dar, die solange relevant bleibt, bis in Kapitel 4 der Fokus auf das autobiographische Erzählen gerichtet wird. Ab diesem Zeitpunkt wird die eine Annäherung durch eine andere ersetzt. 2.1.3 Verhältnis von Philosophie und Literatur
Nachdem zu Beginn des Kapitels 2.1 auf den gemeinsamen Ursprung von Philosophie und Literatur hingewiesen und in einem zweiten Schritt die beiden Be35 Weimar, Klaus : Literatur. In : Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Harald Fricke, Band II. 2000 ; 443.
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griffe separat untersucht wurden, gilt es nun, ausgehend vom erarbeiteten Wissen, die Verbindung von Philosophie und Literatur zu präzisieren. Wie bereits in a) erwähnt, beschreibt Hampe das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur als ein enges. Was die beiden Begriffe verbindet respektive verbinden sollte, ist die « Suche nach Konkretion »36, wobei die Literatur « die Philosophie darin übertrifft, die konkreten Individuen der Welt sprachlich zu thematisieren »37. In dieser Konkretion zeigt die Schriftstellerin beziehungsweise der Schriftsteller auf, wie in der erzählten Welt dieselbe Gegenwart unterschiedlich aufgefasst werden kann, und dieser Umstand sei es auch, den die Philosophie zu interessieren habe. Für die Literatur stelle diese Suche selten ein Problem dar, da in der Regel von konkreten Individuen erzählt wird. Hingegen für die Philosophie ist diese Forderung nicht selbstverständlich. Für Hampe sind die Erziehung, das Regieren und der Tod die einzigen entscheidenden Themen, auf die sich eine Philosophie, die an der Rückbindung ans Leben interessiert sei, zu fokussieren habe.38 Gerade aufgrund der Verknüpfung mit der Suche nach dem Konkreten in der Philosophie erstaunt es nicht, weshalb Autoren wie Simone de Beauvoir oder Jean-Paul Sartre sowohl literarische als auch philosophische Werke geschrieben haben (oder umgekehrt, Literaten, die philosophisch schrieben, wie etwa Robert Musil oder Hermann Broch), indem sie aufzeigten, wie ihre philosophischen Theorien in die Literatur und somit ins Konkrete transformiert werden können und dadurch eine Synthese vollzogen. So ist es wenig überraschend respektive konsequent, wenn sich Hampe in seinem philosophischen Schaffen ebenfalls dem literarischen Schreiben annähert.39 Um die erwähnte Suche nach dem Konkreten auszuführen, soll der Begriff der Selbstreflexion im Zusammenhang der Literatur eingeführt werden.40 Die Literatur kann helfen, was es heisst, dieser oder jener Leidensquelle ausgesetzt zu sein, oder was es bedeuten würde, als Mensch mit einer bestimmten Behinderung geboren worden zu sein, oder welcher Konsequenzen ein Subjekt ausgesetzt 36 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 30. 37 Ebd.; 30. 38 Ebd.; 212. 39 Vgl. dazu : Hampe, Michael : Tunguska oder Das Ende der Natur. 2014 und Hampe, Michael : Das vollkommene Leben. 2009. Eine Mischform stellt seine Untersuchung über den Zufall dar ; vgl. dazu : Hampe, Michael : Die Macht des Zufalls. Über den Umgang mit dem Risiko. 2006). Dieser Text ist zwar wissenschaftlich aufgebaut und vorwiegend argumentativ geschrieben, und doch kann der Text aufgrund der auch vorhandenen narrativen Struktur als ein Vorläufer der Hinwendung zum Konkreten in der Werkbiographie Hampes angesehen werden. 40 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 288. Dieser Punkt wird ausführlicher in Kapitel 2.3 dargelegt.
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wäre, wenn es nicht in Bern, sondern in Mumbai wohnen würde.41 Es geht in der Literatur eben nicht primär um das Festhalten der Frage, was das Wesen von Leiden ist, sondern ganz konkret, wie sich dieses Leiden an einem einzelnen Menschen manifestiert, wie es sich im Alltag auswirkt, welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, wie die Umwelt auf den Protagonisten reagiert, inwiefern die Rahmengeschichte Einfluss nehmen oder inwiefern auch von einem Leidensgewinn gesprochen werden kann. Die von den Figuren gemachten Erfahrungen können dann an das eigene Leben zurückgebunden werden, um vielleicht da und dort neue Justierungen vorzunehmen oder aber die innere Freiheit zu erweitern, weil einem bewusst wurde, dass es vielleicht doch keine gute Idee ist, weiterhin in Bern zu wohnen, und es nun an der Zeit sei, wieder nach Mumbai zu ziehen. Die Literatur fördert allerdings nicht nur selbstreflexive Momente, sondern auch die Empathie (oder die « éducation sentimentale », wie es Hampe nennt42), also auch die Hinwendung zum Anderen, weil eben auf die Innenperspektive fokussiert werden kann. Aus diesen Überlegungen folgt für Hampe, dass « die Einzelwesen nicht einfach als ‹Träger› oder ‹Substrate› von abtrennbaren Generalisten in den Blick [kommen], sondern als ‹Reagierende›, die eine bestimmte Geschichte haben »43. Dies ist schliesslich der Grund, weshalb die Literatur nicht darauf angewiesen sei, « die Termini « biologisch » « sozial » oder « kulturell » zu verwenden »44, es gehe nicht um die « Universalisierung bestimmter Erlebnisperspektiven »45, die in einer Theorie aufgelöst werden sollen, sondern um die Hinwendung zum Individuum.46 Ein weiterer wesentlicher Vorzug, den Hampe der Literatur einräumt, zeigt sich dort, wo die Philosophie ins Stottern komme, nämlich bei den « jeweiligen individuellen Anfänge[n] philosophischen Denkens und Argumentierens, über begriffliche Grundentscheidungen »47, wo also keine argumentative Annäherung an den Gegenstand möglich ist ; an dieser Stelle kann das Erzählen einspringen, indem es die Entstehungsbedingungen von Argumenten rekonstruiert. Eine Möglichkeit, die Hampe ausführt, wie 41 Inwiefern der Literatur einen Erkenntniswert zugesprochen werden kann, wird ausführlich in Kapitel 2.4.2 untersucht. 42 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 320. 43 Ebd.; 224. 44 Ebd.; 182. 45 Ebd.; 319. 46 Hampe illustriert diese Gedanken am Beispiel des Romans Elisabeth Costello von John Maxwell Coetzee ausführlicher in seinem Artikel Fiktion als in Die Lehre der Philosophie. Eine Kritik (vgl. dazu : Hampe, Michael : Fiktion. In : Philosophische Kehrseiten. Eine andere Einführung in die Philosophie. Hrsg. von Natalie Pieper und Benno Wirz. 2014 ; 102–117). 47 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 22.
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dieses Ziel des Nachaussentragens geschehen könnte, ist die Beschreibung des Innenlebens des Protagonisten, indem auf seine entsprechenden Erfahrungen eingegangen wird, von denen sein Gang in der Welt geprägt wurde. Das heisst also, mithilfe der Erzählung ist es möglich, dieses Stottern aufzufüllen, verständlich zu machen, indem die Voraussetzungen für die Prämissen sich abzeichnen und somit klar wird, wie das Argument zustande gekommen ist. Es geht also, um diesen Gedanken nochmals zu formulieren, nicht um das Behaupten, eine Methode, wie sie eben u. a. in der (dogmatischen) Philosophie anzutreffen ist, sondern um das Erzählen von Erfahrung. Einige Kritiker an dem Buch Lehren der Philosophie überzeugt diese Analyse des Verhältnisses von Philosophie und Literatur nicht. So etwa sehen Jasper Liptow/Gerson Reuter in Hampes Monographie einen weiteren Versuch, « die kognitive Funktion der Philosophie, zum Weltwissen beizutragen, zu leugnen »48. Auch Holm Tetens und Gottfried Gabriel argumentieren in die ähnliche Richtung. Tetens hält fest, bei der Lektüre des Buches von Hampe stosse er immer wieder auf die implizite Aussage, die er folgendermassen zusammenfasst : « Je narrativer ein philosophischer Text, je stärker er sich der Literatur annähert, desto besser für die Philosophie […]. »49 Und Gabriel meint, « die Philosophie wird nicht nur auf die Seite der Literatur gezogen, sondern sie wird in ihrer argumentativen Form gegenüber der Literatur abgewertet »50. Diese Kritiker rufen wieder die schwierige, aber relevante Abgrenzung von Philosophie und Literatur in Erinnerung. Klar ist, wie ausgeführt wurde, es gibt den gemeinsamen Ursprung, klar ist, sowohl die Philosophie als auch die Literatur sind abhängig vom Wort, und sie sind auf eine entsprechende Darstellungsform angewiesen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Literatur und die Philosophie vorschlagen, modifizieren und begründen, wie das Verhältnis zur Welt beschaffen ist. Sie greifen somit auf die reale Welt zurück, ohne allerdings die empirische Objektivität zu erreichen, wie dies in den Naturwissenschaften der Fall ist. So prüft die Philosophie u. a. die Richtigkeit beziehungsweise die Falschheit von Behauptungen und versucht Bedeutungen, die wir nicht oder nur bedingt verstehen, verständlich zu machen. Die Literatur dagegen vergegenwärtigt konkrete, teilweise im fiktiven Kontext, Erfahrungen. 48 Liptow, Jasper und Reuter, Gerson : Eine kurze Verteidigung philosophischer Erklärungen. In : Michael Hampe : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 434. 49 Tetens, Holm : Es sind immer Individuen, die philosophieren. In : Michael Hampe : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 432. 50 Gabriel, Gottfried : Behaupten und Unterscheiden und Erzählen. In : Michael Hampe : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 395.
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Christiane Schildknecht und Dieter Teichert arbeiteten ein Schema heraus, welches ermöglicht, das bis jetzt dargestellte Verhältnis aus einer historischen Perspektive zu beschreiben und darzulegen, wie mit den Überschneidungen respektive mit den Differenzierungen zwischen Philosophie und Literatur umgegangen werden kann. Dabei unterscheiden sie zwischen dem Disjunktivmodell, der Komplementaritätsthese sowie dem Entgrenzungsmodell.51 Der Ausgangspunkt, um das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur zu bestimmen, ist auch hier die griechische Antike. Platon wollte die Dichter aus seinem Idealstaat verbannt haben, weil diese, verkürzt dargestellt, nicht die Wahrheit sagten und nicht der Gewinnung der Erkenntnis dienten und somit einen negativen Einfluss auf diejenige hätten, die diese Schriften lesen.52 Somit zog Platon eine Grenze zwischen Philosophie und Literatur, wobei er der Philosophie klar den Vorrang gab. Dieses Verhältnis bezeichnen Schildknecht und Teichert als das platonische Disjunktivmodell.53 Moderne Vertreter dieses Modells sind Arthur C. Danto und Richard Kuhn, allerdings mit dem Unterschied, dass sie zwar eine klare Grenzziehung zwischen der Philosophie und Literatur vornehmen, aber keine Hierarchisierung. 54 Vor allem Danto vertritt prominent die These, die Philosophie könne 51 Eine andere Möglichkeit, die ohne Mühe in das Modell von Schildknecht und Teichert integriert werden könnte, um sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie anzunähern, besteht darin, die möglichen Verhältnisse der Disziplinen zu systematisieren mithilfe der Unterscheidungen zwischen Philosophie der Literatur, Philosophie über Literatur, Philosophie und Literatur, Philosophie wie/als Literatur sowie Philosophie in Literatur (vgl. dazu : Danneberg, Lutz : Wie kommt die Philosophie in die Literatur ? In : Philosophie in Literatur. Hrsg. von Christiane Schildknecht und Dieter Teichert. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 1996 oder auch Schmitz-Emans, Monika : Philosophie. In : Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. von Thomas Anz. 2013 ; 396–406). Schliesslich kann als ein weiteres Differenzierungsmodell jenes von David Rudrum beigezogen werden, ein Modell, das versucht, anhand von geographischen Orten das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur zu bestimmen (vgl. dazu : Rudrum, David : Literature and Philosophy. A Guide to Contemporary Debates. 2006). 52 Platon : Der Staat (Politeia). Deutsch von Rudolf Rufener. Mit einer Einleitung von Thomas Alexander Szlezák und Erläuterungen von Olof Gigon. 2007 ; 10. Buch, hier 595a-c. Allerdings, wie Martin Warner ausführt, ist es auch hier wichtig, den Kontext zu berücksichtigen, denn Platon will nicht alle Dichter aus dem Land verbannt haben, etwa Homer nicht, « the educator of Hellas » (Warner, Martin : Philosophy and Literature : Yesterday, Today and Tomorrow. In : RATIO. An international journal of analytic philosophy. Hrsg. von John Cottingham. XXII. Dezember 2009 ; 488). 53 Schildknecht, Christiane und Teichert, Dieter : Einleitung. In : ebd.: Philosophie in Literatur. 1996 ; 11. 54 So kann in diesem Kontext folgende Stelle bei Richard Kuhns als Beleg ausgeführt werden : « Here we confront the difference between philosopher and poet, the difference for which Platon argued in so many ways : the poet is forever a maker of worlds ; to him language can never be exhausted. The philosopher is the analyzer of one world, the structure of consciousness, and when that has
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keine Gattung der Literatur sein, wie dies etwa die Dekonstruktivisten behaupten (vgl. die Entgrenzungsthese weiter unten). Um seine These zu stützen, stellt er einen Vergleich zwischen Philosophie als Literatur und Bibel als Literatur an. Anhand dieses Vergleiches wird gemäss Danto deutlich, inwiefern Philosophie mehr sei, als dass gewissen philosophischen Texten ein literarischer Wert zukomme. Denn zwar könne die Bibel so gelesen werden, als sei sie ein literarisches Werk, ihre Poesie betont oder die evozierten Bilder hervorgehoben werden. Doch wenn die Bibel ausschliesslich aus dieser Perspektive betrachtet werde, gehe viel verloren, nämlich die Offenbarungen, die rettenden Wahrheiten sowie die ethischen Gewissheiten. Und genau eine solche Engführung ist für Danto nicht zulässig. Was also auf dem Spiel steht, ist der Wahrheitsanspruch, der der Bibel respektive der Philosophie inhärent ist, und diesen Aspekt, so Danto, haben die Dekonstruktivisten übersehen.55 Das Gegenprogramm, welches ebenfalls eine Spielart des Disjunktivmodells ist, stellt das nietzscheanische Modell dar, das zwar auch eine klare Trennung zwischen Philosophie und Literatur vollzieht, allerdings wird die Reichweite der Philosophie, was die Erklärungskraft betrifft, deutlich negativer bewertet und die der Dichtung, ja, der Künste überhaupt, « von dem Zwang nach Wahrheitssuche »56 befreit. Wie der Name dieses Modells verrät, ist vor allem Nietzsche als Beispiel anzuführen. Vor allem mit Blick auf den späten Wittgenstein und mit seiner Aussage, dass man Philosophie « eigentlich nur dichten »57 dürfe, ist es möglich, ihn ebenfalls zu diesem Modell zu zählen. Denn auch in seinem Werk, vor allem im späten, wendet er sich von der direkten, argumentierenden Auffassung ab, hin zum Darstellenden respektive zum Zeigenden. Eine moderne Vertreterin dieses Modells ist (zumindest die junge) Ingeborg Bachmann. Sie versucht in ihrer Dissertation u. a. die « deutschen Kritiken zu Heideggers Existentialphilosophie » darzustellen. Als Beispiel, um dem « nichtende[n] Nichts » von Heidegger zu begegnen, empfiehlt Bachmann, das Bild Kronos verschlingt seine Kinder von Francisco de Goya zu betrachten oder das Gedicht Le gouffre von Charles Baudelaire zu lesen.58 Allerdings ist dieser Ansatz sowohl für been exhaustively explored, there is nothing left but its negation, the end of that world. Of course philosophy must end in silence, as the Tractatus asserts : ‹Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.› The poet sings throughout the night. » (Kuhns, Richard : Literature and Philosophy. Structures of Experience. 1971 ; 272). 55 Danto, Arthur C.: The Philosophical Disenfranchisement of Art. 1986 ; 135–138. 56 Schildknecht, Christiane und Teichert, Dieter : Einleitung. In : ebd.: Philosophie in Literatur. 1996 ; 11. 57 Wittgenstein, Ludwig : Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass. Hrsg. von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. 1994 ; 53. 58 Bachmann, Ingeborg : Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Disser-
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die Philosophie wie für die Kunst und somit ebenso für die Literatur unbefriedigend. Für die Philosophie deshalb, weil aus dieser Perspektive ein grosser Teil ihrer Disziplin gemäss den strengen Kriterien des logischen Empirismus, von denen Bachmann in ihrer Dissertation ausgeht, in andere Bereiche ausgelagert werden müsste, etwa in die Kunst. Für die Kunst ist diese Situation unbefriedigend, weil sie implizit zur Stätte der Scheinwelt wird, dort, wo auch vermeintlich Irrationales und Hirngespinste Platz haben. Das zweite Modell, welches Schildknecht und Teichert einführen, um das Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie zu systematisieren, ist die Komplementaritätsthese. Diese These stellt eine abgeschwächte Form des Disjunktivmodells dar. Im Kern drückt dieser Ansatz aus, dass « sowohl Philosophie als auch Literatur jeweils eigentümliche Weisen der Erkenntnisgewinnung und Wissensvermittlung sind »59, das heisst, die beiden Dimensionen sind eigenständig, auch wenn sie sich aufeinander beziehen respektive ergänzen. Allerdings, wie es die Philosophiegeschichte zeigt, gibt es zwar die Betonung auf der Eigenständigkeit, und doch wird entweder der Philosophie (etwa Immanuel Kant oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel) oder der Literatur (Martin Heidegger oder Theodor W. Adorno) ein stärkeres Gewicht beigemessen. Der Unterschied zwischen dieser These und dem platonischen Modell liegt vor allem darin, dass in der Komplementaritätsthese die Beziehung zu und im Disjunktivmodell die Abgrenzung von Literatur betont wird. Eine zeitgenössische Philosophin, die, was ihr Verständnis des Verhältnisses der Philosophie und der Literatur betrifft, der Komplementaritätsthese zugerechnet werden kann, ist Martha C. Nussbaum, auf die in Kapitel 2.4.2 weiter Bezug genommen wird, aber ebenfalls Hampe kann als Vertreter dieser These gezählt werden.60 Schliesslich bezweifeln die Vertreterinnen und Vertreter des Entgrenzungsmodells die Möglichkeit, zwischen Philosophie und Literatur überhaupt eine Grenze ziehen zu können. In Anlehnung an den Dekonstruktivismus nach Derrida wird die Philosophie zu einer literarischen Spielart reduziert, die aber dank der Leugnung der Literarizität sich für selbstständig hält. Somit ist es aus dieser Perspektive auch nicht sinnvoll zu fragen, was zuerst da war, die Literatur oder die Philosophie, und somit werden die Grenzen zwischen den beiden Bereichen fliessend.61 tation Wien 1949). Aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlass herausgegeben von Robert Pichl. Mit einem Nachwort von Friedrich Wallner. 1995 ; 116. 59 Schildknecht, Christiane und Teichert, Dieter : Einleitung. In : ebd.: Philosophie in Literatur. 1996 ; 11. 60 Nussbaum, Martha C.: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. 1990 ; 3–53. 61 Schildknecht, Christiane und Teichert, Dieter : Einleitung. In : ebd.: Philosophie in Literatur. 1996 ; 12.
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Ausgehend von der Differenzierung von Schildknecht und Teichert kann abschliessend das für diese Arbeit geltende Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur festgelegt werden. Wie die Ausführungen zu den Begriffen der Philosophie und der Literatur aufgezeigt haben, wird ihnen Eigenständigkeit zugesprochen, die sich hinsichtlich der Methode als auch in Bezug auf die Reichweite der Aussagekraft unterscheidet. Wie anhand des hier zugrunde liegenden Philosophieverständnis dargelegt wurde, bleiben die Philosophie und die Literatur wegen ihres Interesses am Menschen allerdings eng aufeinander bezogen. Auch wenn die erwähnten Einwände von Liptow/Reuter, Tetens und Gabriel an die Adresse von Hampe ebenso in der vorliegenden Arbeit erhoben werden könnten, so ist es doch möglich, wie es im Folgenden zu belegen sein wird, für die Komplementaritätsthese und gegen das Entgrenzungs- respektive das Disjunktivmodell zu argumentieren. 2.2 Das Leiden, die Krankheit und der Schmerz Es wurde in der Einleitung darauf hingewiesen, dass das Leiden im Zusammenhang der Frage nach der ethischen Dimension von autobiographischem Erzählen eine zentrale Stellung einnimmt. Um sich dem Leiden anzunähern, wird nun der Begriff eingegrenzt und zu seinen Nachbarbegriffen in Beziehung gesetzt, nämlich zu jenem der Krankheit und jenem des Schmerzes. 2.2.1 Das Leiden
Susan Sontag führt in ihrem Essay Regarding the Pain of Others aus, wir Menschen hätten ein ähnliches Bedürfnis nach Bildern, die uns mit Leiden konfrontieren, wie mit solchen, welche nackte Körper darstellen.62 Sontag verweist, um ihre These zu stützen, auf die lange Tradition der Höllendarstellung in der
62 Etymologisch lassen sich zwei unabhängige Wurzeln von Leiden nennen, zum einen « leid », was mit hässlich, unangenehm und betrübend in Verbindung gebracht werden kann, respektive die nominalisierte Version « Leid », was ein Synonym für Bedrückung, Schmerz, Kummer und Plage, und zum anderen « leiden », das ursprünglich « gehen, fahren, reisen », später dann mit « dulden und ertragen » in Verbindung gesetzt werden kann (vgl. dazu : Angehrn, Emil : Leiden und Erkenntnis. In : Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins. 2003 ; 27). Im Folgenden wird, um der Verständlichkeit willen, auf das Nomen « Leid » verzichtet und dafür die entsprechenden Leidensquellen explizit als solche erwähnt.
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christlichen Kunst hin.63 Es scheint, dass wir genau so, wie das Leiden uns abstösst, uns gleichzeitig von ihm angezogen fühlen. Vielleicht ist diese Anziehung mit jener vergleichbar, wenn wir von einem hohen Turm aus in die Tiefe (und somit Richtung Lebensende) blicken. Bei diesem Anblick führt der Erzähler im Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan Kundera aus, entstehe ein Schwindelgefühl, welches dadurch erklärt werden könne, indem darauf verwiesen wird, dass das Sterben einen kurzen Augenblick überhand über uns gewinne. Dieses drohende, uns zu überwältigende Gefühl lässt uns aufschrecken, eben in Form des Schwindels.64 Und so könnte es auch mit dem Leiden sein : Wir blicken für einen Moment in einen Zustand, der uns in die Nähe des Lebensendes (oder zumindest in einen leidensvollen Zustand) bringt, und wir erfreuen uns aus der Distanz, dass es uns gut geht, dass wir nicht ganz so übel vom Leben gezeichnet sind wie andernorts. Ein weiterer Grund, weshalb das Leiden gemäss Sontag uns anzieht, sei sein ästhetischer Reiz : « That a gory battlescape could be beautiful – in the sublime or awesome or tragic register ft he beautiful […]. »65 Als ein Beispiel nennt Sontag den brasilianischen Fotografen Sebastião Ribeiro Salgado (oder ergänzend könnte der amerikanische Fotograf James Nachtwey erwähnt werden). Neben der Neigung und dem Ästhetischen gibt es sicher noch einen weiteren Aspekt, weshalb wir uns dem Leiden aussetzen, ja, aussetzen müssen, nämlich aufgrund seiner universalistischen Komponente. Es ist nicht möglich, ihm auszuweichen. Um diese These zu verstehen, ist es notwendig, den Begriff des Leidens auszuführen. Allgemein stellt das Leiden einen mentalen Zustand dar, der in der Regel vom Subjekt vermieden werden möchte. Sein Gegenbegriff ist die Lust. Während die Lust, um das klassische utilitaristische Diktum aufzugreifen, gesteigert, soll das Leiden vermieden werden. Es gibt beim Leiden graduelle Unterschiede, das betroffene Subjekt nimmt sein Leiden verschieden wahr. Es gibt Leiden, die so stark für den betroffenen Menschen sind, dass er meint, er könne diesem nur durch Suizid entkommen. Meist sind aber der Lebenswunsch und das Streben nach Gesundheit sowie das Streben nach Lust stärker, weshalb das Leiden, auch ein schweres, den Lebenswillen des Menschen nicht derart herauszufordern vermag, sich vom Leben zu trennen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich dem Begriff des Leidens zu nähern, indem die Leidensphänomene in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Die folgenden Möglichkeiten 63 Sontag, Susan : Regarding the Pain of Others ; 36 f. 64 Kundera, Milan : Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. 1994 ; 59. 65 Sontag, Susan : Regarding the Pain of Others. 2003 ; 67.
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zeugen von einer solchen Kategorisierung, wo zwar eine Abgrenzung vorgeschlagen, aber nicht durchgezogen werden kann, da die Ränder sich nicht klar abgrenzen lassen. Ein Versuch besteht darin, zwischen den Leidensquellen auf der Mikro- (Individuum oder Alltag), auf der Meso- (Familie/nahes soziales Umfeld oder das ganze Leben eines Menschen) und auf der Makroebene (Rahmengeschichte oder die Epoche) zu unterscheiden. Eine andere Annäherung bestünde darin, die Zeitstruktur der Leidensquelle zu berücksichtigen, indem auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart und auf die Zukunft fokussiert wird. Oder es könnten die Kriterien Freuds aufgegriffen werden, nämlich die Benennung der folgenden Leidensquellen : das Leiden an der Übermacht der Natur, das Leiden an der Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und das Leiden an der Unzulänglichkeit der Einrichtungen, die die Beziehung zwischen den Menschen regeln, sei es auf der Ebene der Familie, des Staates oder im Zusammenhang der Gesellschaft.66 Einen anderen Zugang wählt Angehrn. Auch er unterscheidet drei verschiedene Formen des Leidens, die sich in Teilen mit den oben genannten Differenzierungen überschneiden. Er stützt sich bei seiner Konzeption auf Aristoteles Ausführungen in seiner Metaphysik. Als erste Unterscheidung geht er auf das passive Erleben, das « Hinnehmen eines dem Subjekt Zustossenden »67 ein. Als Beispiele nennt Angehrn die sinnliche Empfindung und Wahrnehmung, Gefühle und Leidenschaften, aber auch die ästhetische Offenheit sowie die Empfänglichkeit für zwischenmenschliche Beziehungen. Es ist diese passive Art der Weltzugewandtheit, die es dem Menschen ermöglicht, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und somit Anteil am Leben des Anderen zu nehmen. Das Erleiden von etwas, im Gegensatz zum Tätigsein, muss keineswegs zum Leiden führen. Das Betrachten einer blühenden Kornblume oder das Beisammensein mit Freunden können als Quellen des Glücks beschrieben werden. Das Erleiden wird dann als Mangel empfunden, wenn das Subjekt sich hinsichtlich seiner Selbstermächtigung « gegenüber seinem Willen, über die eignen Lebensumstände zu verfügen »68 eingeschränkt wird. Dann verspürt das Subjekt eine Ohnmacht, da es nicht in der Lage ist, tätig zu sein, sondern im passiven 66 Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur. In : Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Hrsg. von Sigmund Freud. 2007 ; 52. Eine weitere Quelle könnte die Kränkung genannt werden, die die Ursache, aber auch eine Folge des Leidens sein kann (vgl. dazu : Caduff, Corina : Kränken und Anerkennen. 2010 ; hier 25–44). 67 Angehrn, Emil : Leiden und Erkenntnis. In : Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins. Hrsg. von Martin Heinze et al. 2003 ; 26. 68 Ebd.; 28.
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Zustand die Welt erdulden muss. Zweitens beschreibt Angehrn das Leiden als Erleben von Schmerz, Schädigung und Unglück. Der Unterschied zum passiven Erleben scheint nicht eindeutig zu sein, da bei beiden Aspekten von einem Erleiden ausgegangen wird und somit etwas Passives vorliegt. Wenn eine Differenz zwischen diesen beiden Leidensformen beschrieben werden kann, dann besteht sie hinsichtlich des auslösenden schmerzhaften Erleidens. Es sind jene Einflüsse von aussen, die das Subjekt zu vermeiden versucht, es versucht, einen Schaden an sich, das Unglück und somit Schmerzen zu verhindern. Angehrn greift in diesem Punkt die Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Leiden auf und legt dar, wie schwierig es ist, eine solche vorzunehmen. Wenn auch nicht abschliessend erfolgreich, aber als eine Annäherung an eine Differenzierung dient die Lokalisierung der Krankheit. So etwa könne bei einer schweren Krankheit die genaue und begrenzte räumliche Quelle des Schmerzes angegeben werden, während das psychische Leiden den ganzen Körper bis in den innersten Kern des Selbst betreffe. Die Schwierigkeit, die genaue Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Leiden zu definieren, hängt zudem mit der dritten Art von Leiden zusammen, die Angehrn unterscheidet. Diese Art des Leidens geht nicht im direkten Erleben auf, sondern ist über eine Interpretation vermittelt. Das bedeutet, das Leiden kann sich auf die existentielle Befindlichkeit und auf die Sinnfrage beziehen, das heisst weiter, das Leiden wird aus dieser Perspektive als eine reflexive Tätigkeit verstanden. Das einem von aussen Zugestossene wird interpretiert, und das Subjekt wird herausgefordert, sich entsprechend zu verhalten.69 Das Leiden in diesem Modus von Menschsein tritt dann ein, wenn es nicht möglich ist, das Leiden in ein bestimmtes, wie auch immer geartetes Weltverständnis zu integrieren, ein Umstand, der von Menschen, welche Opfer von Gewalt wurden, etwa von Folter, oftmals beschrieben wird.70 Wie sich später noch zeigen wird, spielen für die Auseinandersetzung mit Chr. Lavant und Th. Bernhard in der vorliegenden Arbeit alle drei Formen des Leidens, die Angehrn unterscheidet, eine relevante Rolle. An dieser Stelle sollen vier Bemerkungen genügen : Zum einen zeigt sich im passiven Erleben die Komplizenschaft zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden (darauf wird in Kapitel 2.5 ausführlich eingegangen), zum anderen muss das Leiden als Erleben von Schaden, Unglück und Schmerz eng mit der Sinnfrage zusammen gedacht werden, eine 69 Ebd.; 26–34. 70 Vgl. dazu : Améry, Jean : Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 1977 ; 55 f. Auf diese möglichen Interpretationsformen von Leiden wird im nächsten Kapitel 2.3 nochmals genauer eingegangen werden.
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Verknüpfung, die vor allem Chr. Lavant immer wieder aufnimmt. Drittens sind aus philosophischer Sicht vor allem die Auswirkungen des passiven Erlebens und das schmerzhafte Erleiden auf das reflexive Leiden interessant, weil bei den ersten beiden Leidensformen primär andere Disziplinen zuständig sind, allen voran die naturwissenschaftlichen wie Medizin und Biologie, und weil beim reflexiven Leiden der Fokus auf das Innere des Subjekts gerichtet wird, welches mit Bedeutungs- und Rechtfertigungsfragen konfrontiert werden kann, ein Zugang also, der sich zwar empirisch erschliessen lässt, aber nicht nur. Schliesslich viertens sollte nun auch klar geworden sein, dass beim Leiden ein objektiver und ein subjektiver Aspekt vorhanden ist, um zu beurteilen, wie intensiv gelitten wird. Wenn nun im Folgenden das Leiden thematisiert wird, dann ist damit gemeint, dass die oben erwähnten Kriterien aufgegriffen werden ; somit werden kleinere Leidensquellen, die bald überwunden sind, oder Quellen, die einzig dazu dienen, etwas anderes zu rechtfertigen, ausgeklammert (und so spielen autobiographische Schriften, die solche Leidenserfahrungen aufgreifen, für die Untersuchung der ethischen Dimension keine Rolle). 2.2.2 Krankheit, Schmerz und das Leiden
Für den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich drückt der Begriff der Gesundheit den Umstand aus, dass der Mensch in der Lage ist, alle « L ebensstätte », mit denen er sich auseinandersetzt, aktiv bewältigen zu können. Dabei ist die Gesundheit von der Vererbung abhängig wie auch von der « Atmosphäre, in die ein Mensch körperlich, seelisch, geistig hineingestellt wird »71. Ausgehend von dieser Definition kann der Gegenbegriff, das Kranksein, als ein Zustand aufgefasst werden, in dem es nicht mehr möglich ist, sich diesen (Lebens-)Aufgaben zu stellen, der Mensch ist in seiner Lebensführung geschwächt. Zwar ist der Mensch in der Lage, dank seiner Willensfreiheit, diese « Atmosphäre » aktiv zu gestalten, doch kann die körperliche (und, als Ergänzung zu Mitscherlich, die psychische) Leistungsfähigkeit nicht ignoriert werden, diese « unterliege mannigfachen Rhythmen der Lebensvorgänge, ist für viele Zu- und Unfälle blosse widerständige Materie »72. Hinzu kommt, dass, wenn auch der biologische Prozess für den Menschen zeitweise als unendlich wahrgenommen wird, im Un-
71 Mitscherlich, Alexander : Gesammelte Schriften I. Psychosomatik I. Hrsg. von Tilman Allert. 1983 ; 126. 72 Ebd.; 78.
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bewussten Kräfte wirken, die ihn an Krankheit und Tod erinnern.73 Somit ist in dem Begriff der Gesundheit sein Gegenbegriff, jener der Krankheit, integriert, die Gesundheit ist ohne die Krankheit nicht zu denken. Eine wichtige Aufgabe von Ärztinnen und Ärzte besteht darin, Krankheiten zu diagnostizieren. Wie der Psychiater Carl Frederick Redlich ausführt, wird für die Diagnose von physischen wie auch von psychischen Krankheiten auf drei verschiedene Methoden zurückgegriffen, wobei die erste Vorgehensweise in der psychiatrischen Praxis ein grösseres Gewicht erhält. Zum einen werden die subjektiven Beschreibungen in Bezug auf Symptome und Beobachtungen zusammengetragen. In einem zweiten Schritt folgt die Untersuchung von objektiven physischen Merkmalen und diese werden schliesslich drittens durch Laboruntersuchungen ergänzt.74 Der grosse Vorteil der biologischen Medizin ist, dass sie eher in der Lage ist, ausgehend von der vorgenommenen Analyse der Merkmale, zu entscheiden, ob eine Person krank sei oder nicht. Hingegen, auch wenn es internationale Klassifikationsstandards gibt (z. B. ICD 11 der WHO), um psychische Symptome einzuordnen : Es bleibt ein schwieriges Unterfangen, diese Symptome zu objektivieren und eine Person als krank oder als gesund einzustufen. Für den Vorwurf, der oftmals von betroffenen Personen geäussert wird, die Klassifikation entspreche nicht immer nur deskriptiven Kriterien, sondern sie enthalte ebenso Werturteile, gibt es in der Medizingeschichte zahlreiche Belege (man denke etwa an das Krankheitsbild der Hysterie, das im 20. Jahrhunderts vor allem Frauen zugeschrieben wurde).75 Der Unterschied zwischen Leiden und Krankheit, wie Mitscherlich ausführt, bestehe sowohl in gradueller als auch in kategorialer Hinsicht. Bei der Beschreibung einer Krankheit könne der Fokus auf eine gestörte Funktion gerichtet werden, welche vorübergehen möge und von dem sich das Subjekt erholt (gradueller Aspekt). Wird hingegen ein Mensch als « leidend » beschrieben, sei es selbst- oder fremdbeschreibend, dann liege die Betonung auf der Unheilbarkeit dieses Zustandes. Das Leiden, und dies im Gegensatz zur Krankheit, zeichne sich durch eine psychophysische Gleich73 Ebd.; 126. 74 Redlich, Frederick Carl : Der Gesundheitsbegriff in der Psychiatrie. In : Der Kranke in der modernen Gesellschaft. Hrsg. von Alexander Mitscherlich et al. Band 29. 1984 ; 91–93. 75 Vgl. dazu : Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. 1994 ; 145–174. Eine weitere Studie, die darlegt, inwiefern Diagnosen auch Werturteilen unterliegen, können die Vorlesungen von Foucault, die unter dem Titel Die Macht der Psychiatrie veröffentlicht wurden, genannt werden (Foucault, Michel : Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974. Hrsg. von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. 2005).
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zeitigkeit aus, es sei nicht möglich, dem Körperlichen oder dem Seelischen den Vorrang zu geben, vielmehr bewegten sich diese beiden Ebenen durcheinander (kategorialer Aspekt).76 Ein weiterer Begriff, der im Kontext von Leiden eine Rolle spielt, ist jener des Schmerzes. Es handelt sich genauso wie bei der Krankheit um einen Begriff, der vor allem die Medizin und ihre angrenzenden Wissenschaften beschäftigt. Wie der Arzt René Leriche in seinem für die Schmerzforschung zentralen Beitrag in der 1937 auf Französisch und 1957 auf Deutsch erschienenen Schrift Chirurgie des Schmerzes betont, mache der Schmerz, sofern er nicht chronisch sei, nicht die Krankheit aus. Zwar werde oftmals behauptet, er sei eine Abwehrreaktion respektive eine günstige Warnung. Doch beiden Auffassungen seiner Kollegen erteilt er eine Absage. Es seien gerade die ernsten und oftmals tödlichen Krankheiten, bei denen der Schmerz viel zu spät uns auf die Krankheit aufmerksam mache, weshalb von einer günstigen Warnung überhaupt nicht die Rede sein könne. Dazu sei der Schmerz keine Abwehrreaktion, denn, so fragt er rhetorisch : Wogegen wehre sich der Schmerz bei einem Karzinom oder bei der Tuberkulose ? Weiter beklagt sich Leriche über die Philosophen und Dichter, welche dem Menschen einen Begriff des Schmerzes näherbringen würden, der nicht zutreffe. Der Schmerz sei keineswegs die heilende Kraft für eine moralische Ordnung, vielmehr zeugten diese Aussagen von einem Verkennen der « grenzenlose Tiefe »77, in der sich die unter Schmerzen leidenden Menschen befänden. Diese Tiefe bestehe nicht nur aus dem physischen Leiden, sondern der Schmerz füge dem Menschen auch psychischen Schaden zu, er konzentriere sich nur auf « sein Übel », er werde « egoistisch » und « indifferent allen und allem gegenüber, beständig gequält von der Furcht vor schmerzhaften Rückfällen »78.79 Weshalb gemäss Leriche das Gegenüber keine Möglichkeit hat, sich vorzustellen, was es heisst, im Zustand der leidenden Person zu sein, hängt mit dem subjektiven Charakter des Schmerzes zusammen, bei dem « nichts […] messbar »80 sei, und weiter hält er fest : « Was wir nicht persönlich empfunden haben, können wir uns kaum vorstellen, und was uns die Leidenden sagen, richtet sich nur an unsere Einbildungskraft. »81 Und so kann aus Leriches Analyse geschlossen werden, dass sich 76 Mitscherlich, Alexander : Gesammelte Schriften I. Psychosomatik I. Hrsg. von Tilman Allert. 1983 ; 127. 77 Leriche, René : Chirurgie des Schmerzes. Aus dem Französischen übersetzt von E. Fenster. 1958 ; 4. 78 Ebd.; 5. 79 Ebd.; 3–7. 80 Ebd.; 6. 81 Ebd.
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nicht nur die betroffene, leidende Person in der « grenzenlose[n] Tiefe » befindet, sondern teilweise auch das Gegenüber, weil es gemäss der Analyse des Arztes keinen Zugang zum Leiden des Anderen hat. Was sagt uns diese Annäherung an den Begriff des Schmerzes, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelt worden ist, gespeist durch jahrzehntelange Erfahrung und weniger durch das Studium von Fachliteratur, wie Leriche in seinem Vorwort betont ? Zum einen hilft dieses Verständnis, den Zusammenhang zwischen Schmerz und Leiden festzuhalten, ein Umstand, den Leriche in seinem Buch nur am Rande thematisiert, und wenn, dann auch nur implizit. So betont er : « Nicht jedermann hat eine Feuerseele, und in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens bedeutet selbst für die grossen Mystiker der Kampf gegen den Schmerz eine Abnutzung. Dem Leiden zuzustimmen ist eine Art von langsamem Selbstmord. »82 Da Leriche bei seiner Untersuchung den Schwerpunkt vor allem auf den Körper legt, ist es angemessen, von einem Schmerz, bei psychischen Symptomen infolge der fehlenden Lokalisierbarkeit (vgl. dazu die Ausführungen zu Angehrn in 2.2.1) jedoch passender von einem Leiden zu sprechen. Es erstaunt deshalb auch nicht, wenn der Schmerz bei Leriche in ein Leiden übergeht, also weg vom Körper hin zur Psyche, somit wird indirekt auf die enge Wechselwirkung zwischen Physis und Psyche verwiesen. Die zitierten Erkenntnisse von Leriche lassen einen weiteren Schluss zu. Ohne Ursache scheint es kein Leiden zu geben, oftmals ist es ein Schmerz, wie auch immer dieser geartet ist und woher er herrührt, welcher den Ausgangspunkt darstellt. Zudem, was nun ebenfalls klar geworden ist, dürfen Krankheit und Schmerz nicht gleichgesetzt werden. Eine Krankheit verursacht Schmerzen und somit ein Leiden, hingegen stellt nicht jeder Schmerz eine Krankheit dar. So kann beim Schneiden von Karotten, wenn das Messer aus Unachtsamkeit in den Finger fährt, nicht von einer Krankheit gesprochen werden, auch wenn dieser Schnitt Schmerzen hervorrufen wird. Und noch eine weitere Einschränkung ist wichtig : Nur weil jemand Schmerzen empfindet, heisst dies nicht, die Person leide. Wenn nun etwa bei einem Schnitt in den Finger von einem Leiden gesprochen würde, fände eine unzulässige Bedeutungserweiterung des Begriffes Leiden statt, mit der Konsequenz, dass dieser an Klarheit verlöre. Stattdessen genügt es beim Schnitt in den Finger auf die entsprechende Körperstelle hinzuweisen, um so auf den Schmerz aufmerksam zu machen. Wo aber die Grenze des Überganges vom Schmerz zum Leiden auszumachen ist, ist eine graduelle Frage, die zum einen von der Intensität und von der Dauer der Heilung abhängt, zum anderen aber 82 Ebd.; 5.
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ebenso eine kulturelle, eine subjektive sowie eine sprachliche Dimension enthält (alle drei letztgenannten Dimensionen werden im Folgenden wieder aufgegriffen und vertieft). Die Philosophie interessiert sich für den Schmerz (und weniger für die Krankheit) schon seit langer Zeit. Vor allem bei den hedonistischen, den eudämonistischen und später bei den utilitaristischen Positionen nimmt der Schmerz eine wichtige Stellung ein. Im 20. Jahrhundert spielt der Schmerz nicht nur in der Ethik eine Rolle, sondern auch in der Phänomenologie Edmund Husserls und Maurice Merleau-Pontys, in der zeitgenössischen Philosophie vor allem im Kontext der Philosophie des Geistes. Für die Philosophie und für diese Arbeit ist vor allem die These von David B. Morris, die er 1991 in einer umfangreichen und breit abgestützten Studie zur Geschichte des Schmerzes veröffentlichte, relevant. Seine These besagt, in der heutigen westlichen Kultur werde der Schmerz fast ausschliesslich als ein medizinisches Problem dargestellt und nicht, wie es nach seiner Auffassung sein sollte, am Schnittpunkt von Körper, Gehirn und Kultur verortet.83 Denn, so Morris, es komme neben der medizinischen Perspektive auf das Phänomen des Schmerzes der « persönliche und soziale Sinn […], den ihm die herrschende Kultur »84 verleihe, hinzu.85 Der persönliche Sinn komme deshalb hinzu, weil der Schmerz einen stark subjektiven Charakter habe, da er « nur in der Abgeschiedenheit eines individuellen Geistes »86 erfahrbar sei. Der soziale Sinn des Schmerzes zeige sich in dem « Netz schon bestehender Bedeutungen »87, sobald wir einem Schmerz ausgeliefert seien. Dieser Deutungsprozess erfordert viele Kenntnisse, weshalb er vornehmlich an Spezialistinnen und Spezialisten delegiert wird. Auch müssen bei diesem Deutungsprozess bestimmte Kategorien wie Geschlecht, die religiöse Zugehörigkeit oder die soziale Herkunft mitberücksichtig werden. Schliesslich findet bei dieser Deutungsarbeit eine Wertung statt, indem bestimmte Schmerzen anerkannter (etwa nach einer Operation) als andere (etwa bei Schleudertrauma) sind. Endlich gilt es noch drei Aspekte zu erwähnen, auf die Morris ebenfalls hinweist und die für die philosophische Auseinandersetzung des Konnexes Schmerz und Leiden für diese Arbeit relevant sind. Der erste Aspekt bezieht sich auf Chr. Lavant. Es geht um die chronischen Schmerzen im Kontrast zu den akuten. Wie Morris fest83 Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. 1994 ; 10 f. 84 Ebd.; 26. 85 Die medizinische Perspektive des Schmerzes führt Morris vor allem auf S. 213–219 aus (ebd.). 86 Ebd.; 26. 87 Ebd.; 32.
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hält, hat der akute Schmerz den Vorzug, wenn von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, darin, dass dieser mentale Zustand das Weltvertrauen nur bedingt tangiert. Diese Art von Schmerz ist zwar für den Moment unangenehm, aber er wird wieder verschwinden. Der chronische Schmerz hingegen « zerstört unsere normalen Erwartungen an die Welt »88 und, wie Morris weiter betont, « er lockert niemals seinen Griff und frustriert permanent die Hoffnung auf allmähliche Besserung »89.90 Der zweite Aspekt betrifft die Auseinandersetzung mit Th. Bernhard. Morris hat dem Zusammenhang zwischen Schmerz und Komik ein eigenes Kapitel gewidmet, um auf die enge Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen hinzuweisen. Die gemeinsame Basis von Komödie und Schmerz ist das Angewiesensein auf den Körper (man denke etwa an die Figur « Adam » in Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug). Zu diesem Dreieck kommt die Verkettung der Komödie mit dem Schmerz hinzu. Hätte die Figur Adam keinen Klumpfuss, das Stück würde an Komik einbüssen. Zum anderen gilt festzuhalten, ohne auf die historische Herleitung, die in der Auseinandersetzung zwischen Platon und Aristoteles ihren Anfang nahm, an dieser Stelle eingehen zu wollen, dass die Komik eine zentrale Bewältigungsstrategie für den Umgang mit Schmerzen darstellt.91 Obwohl im Detail nicht klar sei, wie genau die Komik über die Schmerzen obsiegt, sicher sei, dass das Lachen, wegen einer komischen Situation etwa, zu einer Furchtlosigkeit, auch wenn zeitlich beschränkt, führen könne. Diese Furchtlosigkeit sei allerdings nur eine mögliche Quelle, weshalb das Lachen wichtig sei. Eine andere, mit Verweis auf Freud und Hobbes, besteht für Morris in der Macht, die wir empfinden, wenn wir über das Leiden der Anderen lachen. So kann mithilfe des modernen englischen Bühnenschriftstellers Christopher Fry der Konnex zwischen Komödie und Schmerzen passend zusammengefasst werden : « In der Tragödie erleiden wir Schmerz ; in der Komödie ist der Schmerz ein Scherz, der gern gelitten ist »92. Wie wichtig der Humor für Th. Bernhard ist, gerade im Umgang mit dem eigenen biographischen Material, davon zeugen seine Werke.93 Drittens wohnt dem durch eine Krankheit ausgelösten Schmerz auch ein positives Moment inne, wie Th. Bernhard in einem 88 Ebd.; 102. 89 Ebd. 90 Dieser Aspekt wird in Kapitel 6.1 wieder aufgegriffen und in Kapitel 8.1 vertieft. 91 Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. 1994 ; 121. 92 Ebd.; 143. Die Satire hingegen vollzieht den umgekehrten Weg, das heisst, in der Satire geht es nicht darum, den Schmerz aufzulösen, sondern diesen zu erzeugen, mit dem Ziel, ähnlich wie im Strafrecht, die Menschen von bestimmten Taten abzuschrecken (vgl. dazu : ebd.; 247–249). 93 Dieser Aspekt wird in Kapitel 7 aufgegriffen und in Kapitel 9.4 vertieft.
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Interview mit Kurt Hoffmann ausführt : « Eine Krankheit ist ja auch immer ein Kapital. Jede überstandene Krankheit ist eine tolle Geschichte, denn es kann ihnen niemand in irgendeiner Weise Ähnliches in die Tasse hineinfallen lassen. »94 Dieser Krankheitsgewinn, eine Idee, die auf Freud zurückgeht, ist nicht zu unterschätzen, sie hilft nicht nur hinsichtlich der Themensetzung in einem Gespräch, wie Th. Bernhard im obigen Zitat klarmacht, sondern dient ebenso dazu, das eigene Tun respektive Nicht-Tun für sich und für Andere zu begründen. In Abgrenzung zu Leriche kann an dieser Stelle insofern von einem weiteren « Gewinn » gesprochen werden, indem auf ein Beispiel mit einem « wertvollen » Schmerz hingewiesen wird. So können die Halsschmerzen, welche auch aufgrund von Rauchen verstärkt werden, uns daran erinnern, mit dem Rauchen aufzuhören, ohne das Leben gleich als « bedroht » zu sehen.95 2.3 Reaktionen auf das Leiden, Erkennen und Leiden, Sprache und Leiden Nachdem nun der Leidensbegriff im vorhergehenden Kapitel dargelegt und in Beziehung zu Krankheit und Schmerz gesetzt wurde, stellt sich die Frage, welche möglichen Reaktionsweisen auf diese Zustände vonseiten der leidenden Person vorstellbar sind. Ein weiterer Aspekt in diesem Kapitel, der für die ethische Untersuchung des autobiographischen Erzählens am Beispiel von Chr. Lavant und Th. Bernhard relevant ist, besteht in der Frage nach dem Verhältnis zwischen Leiden und Erkennen sowie zwischen Leiden und Sprache. 2.3.1 Die Reaktionsmöglichkeiten auf das Leiden
Eine Folge der Ausführungen in Kapitel 2.2 besteht darin, wie Hampe in seiner Untersuchung zu Freuds Seelenbegriff festhält, dass das Leiden nicht etwas sei, das als eine « seltene Störung das organische oder seelische Leben von aussen beträfe, sondern es ist die notwendige Folge der internen Komplexität, der Geschichtlichkeit und Endlichkeit organischer und seelischer Strukturen und insofern unvermeidbar »96. Die Frage ist nun, wie auf das Leiden reagiert werden 94 Hofmann, Kurt : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Mit Photographien von Sepp Dreissinger und Emil Fabjan und einer Vorbemerkung des Verlags. 1988 ; 33. 95 Inwiefern es möglich ist, durch Schmerzen oder durch Leiden zu erkennen, wird in Kapitel 2.3.2 vertieft. 96 Hampe, Michael : Innere und äussere Fremdheit. Freuds Theorie seelischer Komplexität. In : Über die Seele. Hrsg. von Katja Crone et al. 2010 ; 345. Wie Hampe an dieser Textstelle weiter darlegt, wi-
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kann, denn gegen diese Unvermeidbarkeit wird sich nichts machen lassen, ausser die Wahrscheinlichkeit, an einer bestimmten Krankheit zu leiden, zu minimieren, indem auf eine entsprechende Lebensführung geachtet und somit versucht wird, auf die Geschichtlichkeit des Leidens Einfluss zu nehmen. Auf der empirisch wahrnehmbaren Ebene gibt es verschiedene Möglichkeiten, auf das Leiden zu reagieren. Eine bereits erwähnte Möglichkeit ist die Komik respektive die dadurch ausgelöste Regung des Menschen, das Lachen. Wie die Philosophin Elisabeth List in Anlehnung an Frederik Buytendijk betont, können drei weitere Typen, wie der Mensch auf Schmerzen reagiert, die sich in vielen Krankengeschichten nachweisen lassen und oftmals in der folgenden Reihenfolge auftreten, festgehalten werden : Zum einen geht es um das Weinen als ohnmächtige Kapitulation vor der Situation, dann zweitens, vor allem in einem klassischen Sinne den Männern vorbehalten, um den Widerstand gegen den Schmerz und schliesslich drittens um das Dulden, also das Akzeptieren der Situation, um so die Schmerzen zu lindern.97 Für Morris hingegen ist das Schweigen die häufigste Reaktion, vor allem in Bezug auf chronische Schmerzen.98 Im Folgenden werden drei zusätzliche Reaktionsmöglichkeiten auf das Leiden thematisiert, die die Motive bilden können, weshalb die Menschen so agieren, dass diese Reaktionsweisen von aussen wahrnehmbar werden, nämlich eben die Trauer, der Widerstand und die Duldung. Zum einen soll ein Blick auf das christliche Leidensverständnis geworfen werden, um primär den Kontext der autobiographischen Erzählungen Chr. Lavants nachvollziehen zu können, zum anderen gilt es, das schopenhauersche und das nietzscheanische Verständnis darzulegen. Auf Schopenhauer und auf Nietzsche soll deshalb Bezug genommen werden, weil einerseits Th. Bernhard nachweislich sich intensiv mit beiden Philosophen auseinandergesetzt hat und diese Autoren auch in seinen Werken nennt, andererseits, wie sich zeigen wird, ist das Leidensverständnis Schopenhauers und in Teilen Nietzsches für die Analyse des Werkes von Chr. Lavant ebenfalls hilfreich. Ein Buch, in dem das menschliche Leiden sehr präsent ist, das vielleicht gar als das Buch des Leidens bezeichnet werden kann, ist die Bibel. Es treten zahlreiche Krankheiten, Unfälle, Seuchen, Umweltkatastrophen auf, oder es wird von menschlichem Leiden erzählt, das von anderen zugeführt wurde, etwa als derspricht Freud aufgrund der Unvermeidbarkeit des Leidens dem kantischen Mythos der « funktionalen Vollkommenheit ». 97 List, Elisabeth : Schmerz – Manifestation des Lebendigen und ihre kulturelle Transformation. In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47. 1999 ; 777. 98 Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. 1994 ; 103.
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Moses mithilfe von Gott das Heer Ägyptens im Meer überflutete.99 Zwar, wie Winkler in seinem Beitrag zum Leiden in der theologischen Realenzyklopädie festhält, verfüge das Alte Testament über keinen Begriff für das Leiden, vielmehr wird dieses Leiden mithilfe von Bitterkeit, Bedrängnis oder Krankheit umschrieben.100 Warum die Menschen mit dem Leiden konfrontiert werden, wie überhaupt das Leiden in die Welt kam, hängt mit der Wirkmächtigkeit Gottes und seinen Sanktionsmöglichkeiten zusammen. Die Sünde aller Sünden, die Erbsünde, stellt bekanntlich den verbotenen Genuss des Apfels dar und die daraus resultierenden Sanktionen gegen Eva (« unter Schmerzen gebierst du Kinder »), gegen Adam (« im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen »), ja, gar gegen Tiere (die Schlange muss von da an auf dem Bauch kriechen) wird leidvolle und folgenschwere Vergeltung ausgesprochen.101 Die meisten anderen Strafen, welche von Gott im Alten Testament ausgesprochen werden, sind, im Gegensatz zu jenen gegen Eva und Adam, nur selten auf persönliche Sünden zurückzuführen, sondern wurden gegen das Fehlverhalten des Königs oder des Stammesvaters verhängt. Unter diesen Strafen hatte dann das ganze Volk zu leiden. Somit dienen die Strafen nicht primär dazu, das Volk kollektiv zu sanktionieren (auch wenn genau dies im Endeffekt passiert), sondern um den König oder den Stammesvater entsprechend zu schwächen.102 Die von den Sanktionen betroffenen Menschen in der Bibel nehmen das Leiden nicht immer stoisch zur Kenntnis, sondern sie beklagen sich zum Teil bei Gott, vor allem bei unverdientem Leide ; so zum Beispiel Abraham, als er vor Gott trat und auf das mögliche und ungerechte Leiden hinwies, wenn Gott über Sodom und Gomorra das von ihm beabsichtigte strenge Urteil spreche (was dann ja auch geschieht).103 Allerdings ist Gott nicht immer so auf das Gegenüber bezugnehmend einge 99 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. 1980 ; Gen 14.26. Eine weitere bekannte Stelle sind die zehn Plagen, die Gott als Strafe gegen den König von Ägypten verhängte (ebd.; Exo 7-11). 100 Winkler, Klaus : Leiden. In : Theologische Realenzyklopädie. Kreuzzüge – Leo XIII. Band 20. Hrsg. von Horst Robert Balz et al.1990 ; 670. 101 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. 1980 ; Gen 3. 102 Als Beispiele führt Winkler Gen 9.25 oder Gen 49.3-7 an (Winkler, Klaus : Leiden. In : Theologische Realenzyklopädie. Kreuzzüge – Leo XIII. Band 20. Hrsg. von Horst Robert Balz et al. 1990 ; 670). Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass im Alten Testament bei einzelnen Vergehen auch Individuen bestraft werden können, so etwa in Lev 5 (ebd.). 103 Ebd.; Gen 18.23-25.
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stellt, wie es sich im Buch Ijob zeigen lässt.104 Wie bei Ijob ausgearbeitet werden kann, muss sich der Mensch im Leiden in der Prüfung bewähren, und er muss Gottvertrauen haben, dass dieser schon wisse, was er wie will. Und wenn den Menschen die Antworten von Gott im Diesseits nicht verständlich sind, es bleibt ihnen die Hoffnung auf ein leidensfreies Leben im Jenseits, welches durch ein frommes Leben zu erreichen sei.105 So vertröstet der Erzähler im Buch der Weisheit die Menschen mit folgendem Vers : « Die Gerechten leben in Ewigkeit / der Herr belohnt sie, der Höchste sorgt für sie. »106 Im Neuen Testament, wo das Leben und das Wirken von Jesus im Zentrum steht, nimmt das Leiden ebenfalls eine wichtige Funktion ein. Es sei Jesus, der den « Entfremdungszustand zwischen Gott und den Menschen [beseitige] und Gottes heilvolle Schöpfungsordnung wieder auf[-richte], indem er den Leidenden wieder in dessen ihm schöpfungsmässig bestimmte Integrität des Lebens einsetzt »107. Somit dient Jesus den Menschen, was die Leidenserfahrung betrifft, als Vorbild und soll dadurch den Menschen helfen, ihre Leidensgeschichte entsprechend zu ertragen. Wie Winkler weiter ausführt, gibt es zahlreiche Stellen, die die Menschen nicht nur über das Leiden belehren wollen, sondern die Leidensdeutung gelte ausserdem der Leidensbewältigung. Es ist Gott, der mithilfe Jesus oftmals in die leidensvollen Situationen eingreift, um die Menschen zu trösten, indem er sie zum Beispiel auf das Schicksal des auserwählten Volks hinweist.108 Wird das Alte mit dem Neuen Testament in Bezug auf die Rechtfertigung des Leidens und hinsichtlich der Reaktion auf das Leiden verglichen, kann festgehalten werden, dass Gott sowohl die Ursache als auch deren Erlösung darstellt.109 Es ist Freud, der diese Art von Fixierung auf das Göttliche als eine zwanghafte 104 Ebd.; zum Beispiel Ijob 9. 105 Winkler, Klaus : Leiden. In : Theologische Realenzyklopädie. Kreuzzüge – Leo XIII. Band 20. Hrsg. von Horst Robert Balz et al. 1990 ; 670-672. 106 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. 1980 ; Weish 5. 107 Winkler, Klaus : Leiden. In : Theologische Realenzyklopädie. Kreuzzüge – Leo XIII. Band 20. Hrsg. von Horst Robert Balz et al. 1990 ; 677. 108 Vgl. dazu : Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. 1980 ; Joh 16,33. 109 Diese Idee der Allmacht des Metaphysischen ist keine Erfindung des Christentums, wie anhand von Quellen aus der griechischen Antike belegt werden kann, etwa im Zusammenhang mit dem Fluch der Labdakiden, ein Fluch, der die treibende Kraft bei König Ödipus oder bei Antigone von Sophokles darstellt.
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Störung beschreiben wird. Der Gewinn dieser Fixierung besteht zwar in der Externalisierung des Leidens, allerdings ist der Preis hoch, nämlich die leidende (und gläubige) Person unterwirft sich Gott.110 Eine andere, nicht pathologische Perspektive auf die Fixierung des Göttlichen führen Carel van Schaik und Kai Michel in ihrem Buch Das Tagebuch der Menschheit aus. Die Bibel diente den Menschen, so ihre zentrale These, als ein Hygiene- und Sozialgesetzbuch, gerade auch, um menschliches Leiden zu minimieren, indem sie den Menschen vorschrieb, was erlaubt sei und was nicht, und so konnte sich das angebrochene neolithische Zeitalter konfliktfreier ausdehnen. Van Schaik und Michel halten fest, dass « vieles von dem, was heute als ‹Religion› verstanden wird, […] seinen Anfang als Teil dieses kulturellen Schutzsystems [nahm] »111. In dieser Lesart stellt die Bibel eine Art Arznei dar, um menschliches Leiden, wenn nicht zu verhindern, so doch zu minimieren, und sollte es trotzdem auftreten, kann es mithilfe der Sünde erklärt und dadurch rationalisiert und gerechtfertigt werden. Gegen das Leidensverständnis der christlichen Lehre hat sich neben Freud in der Geistesgeschichte weiterer zahlreicher Widerstand formiert. Ein Beispiel aus dem 19. Jahrhunderts steht in dem Drama Dantons Tod aus dem Jahre 1835 von Georg Büchner. In einem Gespräch zwischen den Gefangenen Payne, Mercier und Chaumette führt Payne Argumente gegen die Existenz Gottes an, mit dem Ziel, Chaumette von seinem Leiden an den Gedanken des Todes zu befreien. Payne sagt : Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren, Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz ; nur der Verstand kann Gott beweisen das Gefühl empört sich dagegen. Merke dir es, Anaxagoras [Chaumette bezeichnet sich als Philosoph Anaxogoras], warum leide ich ? Das ist der Fels der Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten.112
Was hier Payne kritisiert, ist die Idee, das Leiden habe einen Sinn, wie dies die christliche Lehre nahezulegen versucht. Doch das Leiden hat für ihn keinen 110 Dank dieser Unterwerfung des Subjekts unter die Schirmherrschaft Gottes kann, wenn auch oftmals nur vorübergehend, der entsprechenden Person eine Neurose erspart werden (vgl. dazu : Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur. In : Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Hrsg. von Sigmund Freud. 1994 ; 51). 111 Van Schaik, Carel & Michel, Kai : Das Tagebuch der Menschheit : Was die Bibel über unsere Evolution verrät. 2016 ; 16. 112 Büchner, Georg : Dantons Tod. Ein Drama. 2000 ; 52.
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Sinn, somit stellt sein Zweifel einen Felsen des Atheismus dar, da mit dem sinnlosen Leiden eine zentrale Stütze des Gedankengebäudes der christlichen Kirche zusammenbricht. Zwei weitere prominente Kritiker des christlichen Heilsversprechens sind Schopenhauer und Nietzsche. Schopenhauers Bestreben in seiner Ethik besteht darin, nachzuweisen, dass die Hölle gar nicht in eine künftige Welt projiziert werden müsse, sie liege ja vor uns, was seine trostlose und melancholische Philosophie rechtfertige.113 Die Hölle besteht für Schopenhauer in seiner Wahrnehmung des menschlichen Lebens, welches trübselig und kurz verlaufe, mit ungezählten kleineren und grösseren Widerwärtigkeiten, mit den unerfüllten Hoffnungen, ein Leben, welches nur das Alter und später den Tod zum Ziel habe. Ebenfalls die Anstrengungen der Stoiker mit dem Hinweis auf die Tugenden könne an dieser Verlorenheit des Menschen nichts ändern, « die Erfahrung schrie laut dagegen »114. Aus dieser Perspektive auf das menschliche Leben würden auch die Bemühungen der Philosophie und jene des Christentums nicht erstaunen, welche so viel Energie in die Betrachtung des Leidens und in den Tod verwendet haben, auch erstaune der Ausweg, den das Christentum für gläubige Menschen im Jenseits offenlässt, nicht.115 Das Leiden, um es konkreter zu fassen, zeigt sich für Schopenhauer nicht nur in den bekannten Phänomenen wie Krankheit oder Unfall, sondern auch an dem Wegfallen des Gewohnten. So nehmen wir die drei grössten Güter des Lebens für Schopenhauer, die Gesundheit, die Jugend und die Freiheit, erst dann wahr, wenn wir nicht mehr über sie verfügen. Es sei die Erinnerung an diese ehemaligen Zustände, die nun fehlen, welche Leiden verursachen.116 Schopenhauer diskutiert verschiedene Möglichkeiten, wie mit all dem Leiden umgegangen werden kann. Ein Weg bestehe darin, sich dem Weltlauf anzupassen und die individuellen Wünsche, eine zentrale Leidensquelle, zurückzustellen, da wir den Lauf der Welt nicht beeinflussen könnten.117 Dieser Weg hängt eng mit einer weiteren Möglichkeit zusammen, nämlich mit der Einsicht der Menschen in ihre eigene Natur und der Unmöglichkeit, sich in etwas anderes zu transzendieren : Aber ohne Mythos zu reden : solange unser Wille derselbe ist, kann unsere Welt keine andere sein. Zwar wünschen alle erlöst zu werden aus dem Zustande des Leidens und 113 114 115 116 117
Schopenhauer, Arthur : Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Band II. 1986 ; 744. Ebd.; 772. Ebd.; 207 f. Vgl. dazu : ebd.; 733–744. Ebd.; 203.
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des Todes : sie möchten, wie man sagt, zur ewigen Seligkeit gelangen, ins Himmelreich kommen ; aber nur nicht auf eigenen Füssen ; sondern hingetragen möchten sie werden durch den Lauf der Natur. Allein das ist unmöglich. Denn die Natur ist nur Abbild, der Schatten unsers Willens. Daher wird sie zwar uns nie fallen und zu nichts werden lassen : aber sie kann uns nirgends hinbringen als immer nur wieder in die Natur. Wie misslich es jedoch sei, als ein Teil der Natur zu existieren, erfährt jeder an seinem eigenen Leben und Sterben.118
Wir haben zwar den Wunsch, in den Himmel getragen zu werden und so dem Lauf der Natur auszuweichen, indem wir ein Leben im Jenseits projizieren, doch, so Schopenhauer, müssen wir uns von dieser Vorstellung verabschieden, es ist eine Vorstellung, die nicht zutreffe, die nicht in der Natur vorhanden sei. Etwas Positives leitet Schopenhauer mit Blick auf das Leiden und auf den Tod ab, indem er, ausgehend von dieser anthropologischen Beschreibung, seine Mitleidsethik begründet. Denn wir Menschen seien mit dem Leiden nicht alleine, wir würden über die Möglichkeit verfügen, uns in das Gegenüber hineinzuversetzen. Da das Leiden den Menschen primär auszeichne, sei es auch dieser Umstand, welcher uns verbinde und ermögliche, uns selber im Gegenüber wiederzuerkennen. Denn es sei das « gränzenlose Mitleid mit allen lebenden Wesen »119, welches « der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten »120 sei. Somit grenzt sich Schopenhauer von der deontologischen Ethik Kants ab ; es ist eben das Mitleid und nicht die universelle Vernunft, das einen intersubjektiven Zugang zum Gegenüber ermöglicht und so in der Lage ist, für ein möglichst konfliktfreies Miteinander zu sorgen. Dieser Ansicht allerdings widerspricht Morris aufgrund seines Studiums der griechischen Tragödien : « V ielleicht ist es die bitterste Erkenntnis der griechischen Tragödie, dass Leid nicht geteilt werden kann : nur bezeugt »121. Doch wie genau das Leiden mit dem Erkennen zusammenhängt, wird im nächsten Kapitel 2.3.2 dargelegt werden. Ebenfalls in Nietzsches Arbeiten nimmt das Leiden eine zentrale Position ein. Zwar denkt Nietzsche, ähnlich wie Schopenhauer, beim Leiden auch an die Leidensquellen wie Krankheit oder Umweltkatastrophen, doch die zentrale 118 Ebd.; 775. 119 Schopenhauer, Arthur : Über die Freiheit des menschlichen Willens. Über die Grundlage der Moral. Kleinere Schriften II. 1977 ; 275. 120 Ebd. 121 Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes. Aus dem Amerikanischen von Ursula Gräfe. 1994 ; 350.
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Leidensquelle stellt für ihn das Leiden « des Menschen am Menschen, an sich »122 dar. Als Ursache für diese Art des Leidens führt er die Emanzipierung des Menschen aus der Tierwelt an, der Mensch wolle sich nicht mehr zu den Tieren zählen, und doch fühle er sich ihnen durch die Instinkte verbunden, eine These, auf die Freud später zurückgreifen wird, indem er zwischen Lust- und Realitätsprinzip unterscheidet. Es ist nicht das Leiden an sich, das den Menschen verstört, er will diesem in Teilen nicht ausweichen, er suche es gar. Doch das Empörende für Nietzsche ist die Sinnlosigkeit des Leidens. Dass sich der leidende Mensch gegen diese nietzscheanische Auffassung der Sinnlosigkeit auflehnt, ist sehr gut verständlich. Wie Daniel C. Dennett ausführt, zeichne sich der Mensch durch seine intentionale Grundhaltung aus, der überall den Drang verspüre, Absichten und einen Willen in etwas hineinzuinterpretieren.123 So suche der leidende Mensch, um wieder auf Nietzsche zurückzukommen, stets nach einer Ursache des Leidens, er frage nach dem Woher und Wozu, einem Täter gar, « irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann »124. Um auf diese Gründe zu stossen, seien die Leidenden bereit, die gesamte Vergangenheit und Gegenwart zu durchforsten. Sie würden sich so auf die Suche nach Antworten machen, bei denen es ihnen dann freistünde, aus möglichen Gründen eine passende Erklärung zu finden, auch mit dem Ziel, sich darin zu schwelgen.125 Für die Versuche, dem Leiden einen Sinn zu verleihen, wie es prominent das christliche Heilsversprechen tut, indem ein ganzes metaphysisches Gebäude errichtetet wird, um das Leiden aufzuheben und einzubetten, dafür hat Nietzsche nur Spott übrig : « Das Christentum in Sonderheit dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes, Narkotisierendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährliches und Verwegenes zu diesem Zweck […]. »126 Ja, da der Mensch überhaupt keinen Sinn habe und die Frage « wozu Mensch überhaupt » nicht beantwortet werden könne, bleibt er ein hoffnungsloses Tier.127 Deshalb 122 Nietzsche, Friedrich : Zur Genealogie der Moral. Götzen-Dämmerung. 2013 ; 79. 123 Vgl.dazu : Dennett, Daniel C.: Intentional Systems. In : The Journal of Philosophy 68, No. 4. 1971 ; 90–93. 124 Ebd.; 128. 125 Ebd. 126 Ebd.; 131. 127 Freud wird an dieser Stelle später implizit Bezug auf Nietzsche nehmen, indem er ausführt, die Religion sei die einzige Instanz, welche die Frage nach einem Zweck des Lebens zu beantworten in der Lage sei (Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur. In : Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Hrsg. von Sigmund Freud. 1994 ; 42).
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würde Nietzsche Payne zustimmen, wenn dieser behauptet, das individuelle Leiden sei der Fels für den Atheismus, gerade weil wir Menschen sinnlos leiden und somit die Heilsversprechen der christlichen Lehre verneinen, müssen wir uns konsequenterweise dem Atheismus zuwenden. Doch hat das Leiden wirklich keinen Sinn ? Zumindest Freud würde Nietzsche an diesem Punkt, wenn es um das psychische Leiden geht, widersprechen. Es sind die Psychoanalytikerinnen und -analytiker, die in der Lage sind, das Leiden zu dekonstruieren und somit zu rationalisieren. Aus ihrer Sicht ist das Leiden nicht zufällig entstanden, sondern es hat seine Gründe. Es geht darum, mithilfe der Abwehrmechanismen oder der Ersatzhandlungen, aber auch der Träume, diesem Leiden auf die Spur zu kommen. Dank der psychoanalytischen Methode ist es für Freud möglich, dem Leiden so einen entsprechenden Sinn zu verleihen, wie er in seinen Krankengeschichten, etwa im sogenannten Rattenmann, aufzeigt (was ihm zurecht die Kritik einbrachte, wegen der vermeintlichen Allmacht seines Erklärungsansatzes zu dogmatisch zu sein128). Auch wenn Freud einzelne Leidensquellen offenlegen kann, ohne auf ein metaphysisches Konzept zurückzugreifen, bleibt ebenfalls bei ihm das Leiden an sich unverstanden. Im Unterschied zur christlichen Heilslehre, die den Menschen aufzeigt, dass das Leiden einen Sinn hat, und Schopenhauer, der das menschliche Leiden als hoffnungslos bezeichnet, geht Nietzsche einen dritten Weg, indem er eine positive Neubewertung des Leidens formuliert, wie er in Jenseits von Gut und Böse ausführt129 und so im deutlichen Widerstreit mit der ausgeführten Position von Leriche steht.130 Nietzsche zeigt auf, wie es möglich ist, mithilfe des Leidens die menschliche Entwicklung voranzutreiben, eine Umkehrung der traditionellen Einstellung. Es geht nicht darum, wie es Schopenhauer getan hat, Mitleid mit den Leidenden zu haben, sondern Mitleid mit dem Mitleid. Denn es sei das Leiden, das uns antreibe : « […] wir wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als es je war ! Wohlbefinden, wie ihr es versteht – das ist ja kein Ziel, das 128 Eine prominente Kritik stammt von Karl Popper (vgl. dazu : Popper, Karl R.: Conjectures and refutations : the growth of scientific knowledge. London : Routledge and Kegan Paul. 1969 ; 33–38). 129 Vgl. dazu : Nietzsche, Friedrich : Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Nachwort von Volker Gerhardt. Stuttgart : Reclam. 1998 ; 140 f. 130 Fuchs geht zwar in seinem Aufsatz Die Zeitlichkeit des Leidens in Kapitel Die Zeitlichkeit von Verzweiflung, Hoffnung und Geduld nicht auf die christliche Heilslehre, auf Schopenhauer sowie auf Nietzsche ein, doch können die Reaktionsweisen der von Leiden betroffenen Menschen auch mit seinen drei Stichworten in der eben erwähnten Systematisierung verwendet werden, nämlich Verzweiflung (Schopenhauer), Hoffnung (christliche Heilslehre) und Geduld (Nietzsche). Vgl. dazu : Fuchs, Thomas : Die Zeitlichkeit des Leidens. In : Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins. 2003 ; 72–76).
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scheint uns ein Ende ! »131 Es ist das Leiden, das es den Menschen ermöglicht, sich zu entwickeln.132 Welcher Weg letztlich gewählt wird, um in einem individuellen Rahmen mit dem Leiden fertig zu werden, ist jedem Subjekt überlassen. Vielleicht hilft das von Freud in Das Unbehagen in der Kultur formulierte Diktum auf die Frage, wie ein glückliches Leben zu bewerkstelligen sei, auch auf die Reaktionsmöglichkeiten auf das Leiden anzuwenden : « W ie der vorsichtige Kaufmann es vermeidet, sein ganzes Kapital an einer Stelle festzulegen, so wird vielleicht auch die Lebensweisheit raten, nicht alle Befriedigung von einer einzigen Strebung zu erwarten. »133 Auf die verschiedenen Reaktionsweisen auf das Leiden wird in Kapitel 8 und 9 wieder Bezug genommen. 2.3.2 Erkennen und Leiden
Das Leiden ist deshalb für uns Menschen so unangenehm, weil es zumindest verhindert, wenn nicht gar verunmöglicht, das Gute anzustreben. So ist das Leiden auf der einen Seite ein Stachel, eine Provokation, ja, gar ein aktiver Sinnvernichter, auf der anderen Seite stellt es eine Ausgangslage der Selbsterforschung dar. Während der Ursprung der Lust meist in sich selber vermutet wird, muss das Leiden, wie in Kapitel 2.3.1 ausgeführt wurde, interpretiert werden, weil es ein Zustand ist, der nicht gewünscht wird. So kann der leidende Mensch gar nicht anders, als wissen zu müssen, woher das Leiden kommt, er kann es nicht stehen lassen, es braucht eine Ursache. Wenn nun die Ursache gegeben ist, kann vielleicht gar der Ursprung freigelegt werden, und ein Verstehen ist möglich. Aufgrund dieses erkenntnistheoretischen Imperativs stellt das Leiden eine wesentliche Quelle dar, wie Menschen ihr Leben organisieren. Zum einen geht es darum, diese Leidensforschung zu betreiben, zum anderen, ausgehend von den Ergebnissen und den entsprechenden Schlüssen, sie im Leben umzusetzen, das heisst zum Beispiel bestimmte Erfahrungen zu vermeiden. Beim Erforschen des Leidens findet eine Bewegung vom Hier ins Damals zum Morgen statt. Es ist diese Bewegung, die auch die Literatur seit der griechischen Antike interessiert, und aus dieser Perspektive wird auch verständlich, wa131 Nietzsche, Friedrich : Zur Genealogie der Moral. Götzen-Dämmerung. 2013 ; 148 f. 132 Wie Leiden und Erkennen zusammenhängt, wird in b) in diesem Kapitel ausgeführt. 133 Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur. In : Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Hrsg. von Sigmund Freud. 1994 ; 50.
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rum die Dichtung, aber auch die Philosophie das Leiden zum Teil mit positiven Eigenschaften versehen (wie vorhin die Ausführungen zu Nietzsche zeigten). So gibt es verschiedene Quelle, die darauf hinweisen, dass das Leiden der Menschen einen wichtigen Weg darstelle, sich selber zu erkennen (ein Umstand, auf den sich Leriches Kritik bezieht). Zum Beispiel hält der Chor im ersten Teil der Orestie Agamemnon von Aischylos fest, es sei möglich, durch Leiden zu lernen.134 Oder in seiner Komödie Der Menschenfeind legt Menander den folgenden Satz in den Mund des jungen Bauern Gorgias : « Es scheint, allein das Unglück vermag uns zu erziehen. »135 Dazu könnten zahlreiche Beispiele aus der Erfahrungswelt von heute aufgeführt werden, um die Richtigkeit der Aussagen des Chores und des Gorgias darzulegen, dass Menschen aufgrund einer Leidenserfahrung lernen können, etwa wenn es darum geht, Gebäude erdbebensicherer zu machen, oder indem Vorsätze formuliert werden, was jemand in einer neuen Partnerschaft anders machen könnte. Doch es gibt Leiden, ausgelöst durch den Tod von nahestehenden Personen oder durch chronische Schmerzen, bei denen es ohne ein metaphysisches Konzept nichts zu verstehen gibt, hier kommt das Erkennen an seine Grenzen, aus solchem Leiden kann wenig bis nichts gelernt werden. Leidensquellen wie die erfahrene Sinnlosigkeit, Unfall, Krankheit, Gewalt oder Ungerechtigkeit, aber auch das Ausgeliefertsein an die Kontingenz sind Erfahrungen, die der reflektierenden Person die Möglichkeit nehmen, ein oben erwähntes Verstehen von sich und der Welt zu erlangen. Zu diesen Leidensquellen kommt das « Sichverfehlen » hinzu, das durch die « Unwahrhaftigkeit, Selbstlüge, Selbsttäuschung »136 verursacht wird. Das Problem in Bezug auf das Verstehen ist, die Person bleibt sich selber fern ; was übrigbleibt ist, wie Meister Anton am Ende des Dramas Maria Magdalena festhält : « Ich verstehe die Welt nicht mehr »137. Und wenn es nicht mehr möglich ist, sich selber zu verstehen aufgrund 134 Vgl. dazu : Aischylos : Die Orestie. Agamemnon. Die Totenspende. Die Eumeniden. Deutsch von Emil Staiger. Mit einem Nachwort des Übersetzers. 1958. Hier das erste Stück Agamemnon ; 1958 ; 10. 135 Allerdings spricht Gorgias nur zum Publikum, nicht aber zum eigentlichen Adressaten, nämlich zu Knemon (Menander : Dyskolos. Der Menschenfeind. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Horst-Dieter Blume. 2007 ; 69). Th. Bernhard betont ebenfalls diesen Zusammenhang zwischen Leiden und Erkennen, wenn er im dritten Teil seiner autobiographischen Schrift Der Atem schreibt : « Der Kranke ist der Hellsichtige, keinem anderen ist das Weltbild klarer. » (Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 250). 136 Angehrn, Emil : Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. 2010 ; 382. 137 Hebbel, Friedrich : Maria Magdalena. 2006 ; 76.
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des erlebten Leides, kommt es einer « Selbstverunmöglichung des gelingenden Lebens »138 gleich.139 Bestimmte Leiden stellen also eine Bedrohung des Verstehens dar. Doch was genau ist damit gemeint ? Wie Angehrn ausführt, heisst Verstehen « ursprünglich und zuletzt Sichselbstverstehen »140. Um zu diesem Selbstverständnis zu kommen, gilt es, von der anthropologischen Annahme auszugehen, nämlich dass der Mensch ein Wesen sei, welches sich um ein Verständnis von sich selber und seiner Welt bemüht. Die Menschen wollen « nicht nur (was auch Tiere tun) irgendwie mit der Wirklichkeit und ihrem Leben zurechtkommen, sondern diese erkennen und ihren Sinn erfassen »141, auch mit dem Ziel, in Anlehnung an Ricœur, eine « Hermeneutik des Selbst »142 zu entwickeln. Diese Hermeneutik des Selbst lässt sich in drei Teile gliedern. Zum einen bezieht sich der Verstehensprozess auf eine « unvertretbare Singularität » sowie auf eine « radikale Reflexivität »143. Mit « unvertretbare Singularität » ist gemeint, dass das Subjekt sich in seinem Menschsein sowie als konkretes Wesen verstehen will, mit « radikale Reflexivität » soll deutlich werden, der Mensch will ein Verständnis für sich selber erlangen, er will keinen Stellvertreter dafür einsetzen, er will dieses Verstehen selber erarbeiten. Obwohl für das Verstehen die Singularität sowie Radikalität entscheidend sind, ist der Mensch trotzdem auf die anderen Menschen angewiesen. Diese beiden Konstitutionen können nur daraus resultieren, weil es die anderen gibt, die die einzelne reflektierende und handelnde Person einbetten, herausfordern oder inspirieren. Der zweite Punkt thematisiert die Frage, was eigentlich genau ver138 Angehrn, Emil : Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. 2010 ; 383. 139 Dieses Verstehen-Wollen ist der zentrale Zugang, um das sich ein Ziel der Sozialwissenschaften (und sicher teilweise auch der Philosophie), von dem Bourdieu ausgeht, dreht : « Die nach hippokratischen Massgaben ‹echte Medizin› beginnt beim Erkennen unsichtbarer Krankheiten, d. h. bei Tatbeständen, von denen der Kranke nicht spricht, sei es, weil sie ihm unbewusst sind, sei es, weil er sie mitzuteilen vergisst. Dies gilt auch für die Sozialwissenschaft, welche die wirklichen Ursachen des Leidens kennen und verstehen will, die sich nur in Gestalt schwer zu interpretierender, da scheinbar allzu transparenter gesellschaftlicher Zeichen zum Ausdruck bringt. Ich denke etwa an die Ausbrüche blinder Gewalt in Sportstadien oder anderswo, an rassistische Gewaltakte oder die Wahlerfolge jener Beschwörer des Unglücks, die eilfertig die primitivsten Ausdrucksformen moralischen Leidens ausbeuten und verstärken, Leiden, welches mindestens ebenso sehr einen Niederschlag all der sanften Gewalt und der kleinen Nöte des Alltages wie ein Symptom des Elends und der strukturellen Gewalt und der ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen darstellt. » (Bourdieu, Pierre : Das Elend der Welt. 2006 ; 429). 140 Angehrn, Emil : Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. 2010 ; 338. 141 Ebd.; 352. 142 Ebd. 143 Ebd.; 356.
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standen werden soll. Wie Angehrn ausführt, geht es nicht nur darum, bestimmte Handlungen nachzuvollziehen und somit die Frage zu beantworten, was ich tun soll, sondern es geht dem Menschen auch um die Erkenntnis, « woher er kommt und wohin er geht, was ihn als Menschen auszeichnet und was ihn als Individuum von anderen unterscheidet »144. Drittens vertieft Angehrn, um die Hermeneutik des Selbst auszuarbeiten, die bereits erwähnte Abhängigkeit des Selbst vom Anderen. Dabei geht es um das Wechselspiel zwischen Immanenz und Transzendenz. Transzendiert wird dabei auf drei verschiedenen Ebenen. Zum einen wird auf die Welt Bezug genommen, das heisst, die Person bewegt sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern diese Welt ermöglicht « die Gerichtetheit der Existenz »145 und sie gibt ihr Halt. Zum anderen geht es darum, sich selber zu erkennen und zu finden, die Herkunft muss durchdrungen werden, es muss also der Grund des Selbst festgehalten werden. Das transzendierende Moment besteht nun darin, dass sich die Person zwar zum einen auf den Ursprung bezieht, zum anderen aber auf die Welt und auf die Anderen angewiesen ist. Es ist ein Oszillieren zwischen dem Ursprung und dem, womit sich die Person in der Gegenwart auseinandersetzen muss. Schliesslich findet insofern eine Transzendenz statt, als dass sich die Person mit dem Negativen, dem « Bedrohtsein durch Destruktion und Nichtsein »146 konfrontiert sieht, eine Konfrontation, die nicht über die Selbstreflexion erschlossen werden kann, wie Angehrn ausgehend von Ricœur darlegt, sondern vor allem mithilfe der Auseinandersetzung mit Mythen, Erzählungen, aber auch mit Bildern stattfindet.147 Zusammengefasst ist also Verstehen dem Menschen inhärent, mit dem Ziel, eine Hermeneutik des Selbst zu entwerfen. Bei dieser Art des Entwerfens gilt es, den Fokus auf das Was zu richten, das heisst, auf das, was eigentlich verstanden werden soll ; dabei wird die Subjektivität sowie das Oszillieren zwischen diesem Subjekt und dem Darüberhinausreichenden des Verstehensprozesses fokussiert. Dank dieser Ausführung zur Notwendigkeit des Verstehens wird klarer, weshalb wir uns beim Leiden auf den Weg machen, dieses zu interpretieren. Doch da es Leidensformen gibt, bei denen nichts zu finden ist (und wie sich gleich in Kapitel 2.3.3 zeigen wird, auch weil die Reichweite der Sprache begrenzt ist),
144 Ebd.; 358. 145 Ebd.; 372. 146 Ebd.; 377. 147 Ebd. Auf die Verbindung zwischen Erkennen und Selbsterkenntnis wird im nächsten Kapitel 2.4.1 eingegangen.
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bleibt eine Leerstelle. An diesen Leerstellen arbeiten sich, wie ab dem Kapitel 6 ausgeführt wird, Chr. Lavant und Th. Bernhard ab. 2.3.3 Sprache und Leiden
In diesem Kapitel 2.3 wurde mehrmals teils implizit, teils explizit die Frage nach der Mitteilbarkeit von Schmerz und Leiden formuliert. Leriche ist, wie bereits ausgeführt wurde, der Auffassung, dass ein Gegenüber, so lange es nicht ähnliche Schmerzen durchlebt habe, sich kaum eine Vorstellung von diesen machen könne. Auch Morris teilt diese Ansicht über den subjektiven Charakter eines Schmerzes, indem er darauf hinweist, der Schmerz sei nur über die « Abgeschiedenheit eines individuellen Geistes » erfahrbar, weshalb die erwähnte, weit verbreitete Reaktion von Betroffenen, nämlich das Schweigen, wenig überrasche. Morris spitzt die Frage nach der Mitteilbarkeit des Leidens mit dem Verweis auf die griechischen Tragödien noch zu, indem er festhält, das Leiden könne nicht geteilt, sondern nur bezeugt werden. Um diese Art der Skepsis an der Mitteilbarkeit von Schmerzen und Leiden, wie es Leriche und Morris formulieren, zu systematisieren, ist es hilfreich, die Konzeption von Bodo Müller, die er im Anschluss an Charles Morris ausgearbeitet hat, heranzuziehen. In seiner Konzeption unterscheidet Müller zwischen pragmatischer, semantischer und metaphysischer Sprachkritik. Der pragmatische Zweifel zeichnet sich dadurch aus, dass zwischen dem, was die Sprecherin sagt, und dem, was beim Hörer ankommt, eine Lücke entsteht. Pragmatisch ist diese Art der Sprachkritik deshalb, weil es an dieser Stelle um das « dialogische Wort »148 geht, das heisst, der Fokus liegt auf der Interaktion. Um diese Sprachkritik zu veranschaulichen, greift Müller auf eine Tagebuchnotiz von Christian Morgenstern zurück : « Wenn einer sagt : Ich glaube dies oder das, und sein Nachbar hört das, so kann das sein, als ob der eine sagte : Himalaya, und der andere hörte : Schneehaufen. »149 Das Auseinander- oder Nebeneinandervorbeireden zeigt sich vielleicht im Alltag nicht immer so drastisch wie im Beispiel von Morgenstern, und doch liegt an dieser Stelle eine häufig zu beobachtende Quelle von Missverständnissen vor. Die semantische Sprachkritik betrifft den Bruch zwischen dem Referenten auf der einen und, um mit Saussure zu sprechen, dem Zeichen auf der anderen Seite. Zwar existiert für die Referentin respektive für den Referenten nach wie vor ein 148 Müller, Bodo : Der Verlust der Sprache. Zur linguistischen Krise in der Literatur. In : Germanisch-Romanische Monatsschrift. Hrsg. von Franz Rolf Schröder. Band XLVII. 1966 ; 231. 149 Ebd.
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Zeichen, welches sich aus dem Bezeichnenden und Bezeichneten zusammensetzt, doch ist dieses Verhältnis gestört. Die Alltagssprache, die im Grunde nur mit « Wortleichen, Klischees »150 hantiere, führe zu einer Interaktion zwischen Zeichen und Referent in einem « fortwährenden Hin und Her », die abgenutzt und verschlissen sei.151 Als ein Beispiel zitiert Müller Eugène Ionesco und seine Dramen. Ein aktuelles Beispiel, um diesen semantischen Sprachzweifel zu konkretisieren, zeigt sich in der Suche nach einem passenden Begriff für Menschen, die aus ihren Herkunftsländern fliehen müssen. Ist es angemessen, sie als Flüchtlinge, als Geflüchtete, als Migranten, als Einwanderer oder gar als Eindringlinge zu bezeichnen ?152 Die metaphysische Sprachkritik geht noch einen Schritt weiter. Die Verbindung zwischen Zeichen und Referent ist nicht abgenutzt, wie dies bei der semantischen Ebene vorausgesetzt ist, sondern die Verbindung hat gar nie oder nur bedingt existiert, zum Beispiel bei traumatischen Erlebnissen, die nicht versprachlicht werden können, da der entsprechende Wortschatz fehlt, sodass das Schweigen eine zentrale Folge aus diesem Umstand ist. Oder bei bestimmten Themen zeigt sich, dass der Wortschatz fehlt, vor allem deshalb, weil die Umstände in der Vergangenheit und zum Teil bis heute nicht derart beschaffen waren und sind, einen solchen auszubilden, ebenfalls mit der Folge, dass geschwiegen wurde oder nach wie vor wird. Beispielsweise in Bezug auf Sexualität im Allgemeinen, Homosexualität im Spezifischen oder auch in Bezug auf Krankheiten wie Krebs gelangten die Menschen (und zum Teil noch immer) ans Ende der Mitteilfähigkeit. Dazu könnten an dieser Stelle Ereignisse angeführt werden (man denke an einen unerwarteten Erfolg), die einen in einem positiven Sinne derart überwältigen, dass wir sie nur als Laute und nicht in Sprache äussern können. Knapp zusammengefasst geht es beim metaphysischen Zweifel also um die Grenze des Sagbaren. Deshalb erstaunt es wenig, weshalb die Lyrik mit ihren verdichteten Möglichkeiten ein zentraler Ort ist, wo diese Grenzen (etwa in Hugo von Hofmannsthals Frage oder etwas später Rainer Maria Rilke im Gedicht Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort) ausgelotet und Wege aufgezeigt wurden und werden, wie mit dieser Sprachnot umgegangen werden kann. Doch darf von der Lyrik nicht zu viel erwartet werden, denn wie das folgende 150 Ebd.; 236 151 Ebd. 152 Auch die radikale Sprachkritik Nietzsches, die 1873 und posthum unter dem Titel Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne veröffentlicht wurde, kann der semantischen Ebene nach Bodo zugeschrieben werden (vgl. dazu : Nietzsche, Friedrich : Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In : Über Wahrheit und Lüge. Ein Essay, Aphorismen und Briefe. Hrsg. von Steffen Dietzsch. 2000 ; 9–27).
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Zitat von Wolfgang Borchert zeigt, gibt es auch aus formaler Hinsicht Grenzen des Sagbaren : « Wer weiss einen Reim auf das Röcheln einer zerschossenen Lunge, einen Reim auf einen Hinrichtungsschrei, wer kennt das Versmass, das rhythmische, für eine Vergewaltigung, wer weiss das Versmass für das Gebell der Maschinengewehre ? »153 Zu allen Ebenen der Sprachkritik gibt es Wege, die Reichweite der Sprache und somit die Mitteilbarkeit zu erweitern. So kann beim pragmatischen Zweifel der Fokus, wie es ebenfalls Karl Kraus in seinem Text Die Sprache 1932 formulierte, weg von der Kritik der Sprache hin zur Sprecherkritik verlagert werden, nämlich an die Verantwortung der sprechenden Person zu appellieren, oder wie es Kraus im Imperativ formuliert : « Der Mensch lerne, ihr [gemeint ist die Sprache, MB] zu dienen ! »154 Dabei müssen auch die Rezipierenden ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie zum einen das Gegenüber um eine klare Sprache ersuchen, zum anderen sind sie aufgefordert, aktiv zuzuhören und bei Unklarheiten Rückfragen zu stellen. Beim semantischen Aspekt kann wieder an Kraus und an seinen Appell, die Sprache sorgfältig zu benutzen, erinnert werden. Es ist schon viel erreicht, wenn sich die Produzierenden über « verschlissene Begriffe » (wie der erwähnte Begriff « F lüchtling ») bewusst sind. Dieselbe kritische Haltung können ebenso die Rezipierenden einnehmen. Auch wenn wir im Endeffekt auf die Sprache, die die Sprachgemeinschaft verwendet, angewiesen sind, hilft es, ab und an, sprachliche Stolpersteine einzubauen, um die Rezipierenden daran zu erinnern, wie notwendig eine Reflexion auf der semantischen Ebene ist, etwa wenn ein passender Begriff für Menschen, die sich auf der Flucht befinden, gesucht wird.155 In Bezug auf den metaphysischen Zweifel bestünde eine Therapiemöglichkeit vonseiten der Produzierenden darin, auf diese Lücke explizit hinzuweisen und natürlich viel zu lesen, vor allem literarische Texte, denn es sind vor allem die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in der Lage sind, unseren Wortschatz zu erweitern und auf neue oder andere Formen aufmerksam zu machen, wie es möglich wäre, das vermeintlich Unsagbare sagbar zu machen.156 Die Rezipierenden sind bei dieser Art der Sprachkritik insofern gefordert, als sie den Produzierenden genügend Zeit und Raum lassen, sich zu artikulieren. 153 Müller, Bodo : Der Verlust der Sprache. Zur linguistischen Krise in der Literatur. In : Germanisch-Romanische Monatsschrift. Hrsg. von Franz Rolf Schröder. Band XLVII. 1966 ; 236 f. 154 Kraus, Karl : Die Sprache. 1997 ; 373. 155 Auch wenn der Begriff Geflüchtete im Unterschied zum Flüchtling rechtlich nicht gesichert ist, er stellt eine Möglichkeit dar, die Rezipierenden auf die Relevanz der Sprache, um sich seine Umgebung zu erschliessen, zu sensibilisieren. 156 Vgl. dazu die erwähnten Gedichte von Hofmannsthal oder von Rilke.
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Es sind bescheidene Vorschläge, sich an der begrenzten Reichweite der Sprache abzuarbeiten, vielleicht verhält es sich so wie mit der Rübe, dem Reiter und dem Pferd. Unabhängig davon, wer oder was der Reiter ist, das Pferd wird die Rübe nicht erreichen, vielmehr geht es darum, in Bewegung zu bleiben. Ausgehend von der ausgeführten und erweiterten Konzeption von Müller wird es nun möglich sein, die erwähnte Kritik der Mitteilbarkeit von Leriche und Morris einzubetten, aber auch deren Grenze aufzuzeigen. In Bezug auf Morris stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Aussagen, nämlich jene von der « Abgeschiedenheit des subjektiven Charakters » und jene, dass das Leiden nicht geteilt, aber doch bezeugt werden könne, zueinander stehen. Es scheint ein Widerspruch vorzuliegen : Wie kann ein mentaler Zustand sowohl abgeschieden als auch bezeugt werden ? Eine Möglichkeit, um diesen Widerspruch aufzulösen, bestünde darin, genauer anzugeben, was mit « bezeugt » gemeint ist. Der Begriff « bezeugen » ist vielschichtig, wie vielschichtig, zeigen die zahlreichen Fragen, die Carolin Emcke zu Beginn ihres Buches Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit formuliert.157 Unabhängig davon, wie die Antwort auf diese Frage lautet, liegt im Kontext der Arbeit der Fokus auf dem leidenden Subjekt, das heisst, ein Subjekt bezeugt sein Leiden, indem es davon erzählt. Damit aber dieses Subjekt überhaupt erzählen kann, muss das Zu-sagen-Wollende sagbar sein (metaphysischer Aspekt), es braucht ein Gegenüber, das in der Lage ist, zuzuhören (pragmatischer Aspekt), und es muss sich auf einen Wortschatz stützen können, der es einigermassen ermöglicht, zwischen Zeichen und Referent eine Verbindung herzustellen (semantischer Aspekt). Wenn nun eine oder mehrere Sprachkritik(en) auf die betroffene Person zutrifft bzw. zutreffen, dann überrascht es wenig, wenn sie schweigt, eine Kommunikationsform, die gemäss Morris, wie erwähnt wurde, häufig in diesem Kontext auftrete. Nur auf den ersten Blick scheint ein Widerspruch der beiden Aussagen von Morris vorzuliegen, denn zwar besteht das Potential, das Leiden zu bezeugen, allerdings führt oft eine der Kritiken (oder mehrere) zum Verstummen. Ebenfalls hier wieder kommt den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, aber auch etwa journalistisch tätigen Personen eine wichtige Bedeutung zu, da sie als Stellvertreter für die Betroffenen eintreten können, um ihnen zur Sprache zu verhelfen und sie so in ihrem Bezeugen zu unterstützen. Anders liegt die Sache bei der Kritik von Leriche und von Morris hinsichtlich der individuellen Erfahrung des Schmerzes, der nicht, wie beide festhalten, mitteilbar sei, weil es von aussen nicht möglich sei, ihn nachzuempfinden, weil nicht 157 Vgl. dazu : Emcke, Carolin : Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. 2013 ; 22–29.
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nachvollziehbar sei, was es heisst, akute oder chronische Schmerzen zu haben, vor allem dann nicht, wenn das Gegenüber noch nie einer derartigen Leidensquelle ausgesetzt war. Diese Art der Nichtmitteilbarkeit kann sicher zum einen mit der metaphysischen Sprachkritik erklärt werden, da die betroffene Person der Unaussprechbarkeit des Zustandes gewahr wird, weil eben der Wortschatz fehlt. Auch könnte es daran liegen, dass das Problem gar nicht an der metaphysischen Kritik liegt, sondern an der Schwierigkeit der betroffenen Person, den Schmerz zu verstehen, weshalb sie nicht in der Lage ist, ihn auch zu artikulieren. Wenn der Schmerz durch eine Operation ausgelöst wurde und der Genesungsprozess sich in die Länge zieht, ist es deutlich einfacher, über das entstandene Leiden Auskunft zu geben, als wenn die dritte Art von Angehrns Unterscheidung von Leiden zutrifft, nämlich wenn er ausgelöst ist durch die Reflexion über die Unvermeidlichkeiten des Lebens an sich. Wenn nun die leidende Person aufgrund reflexiver Tätigkeit gefragt wird, weshalb sie leide, dann könnte sie sagen, sie wisse es auch nicht, womit ihr Zustand zusammenhänge, sie habe doch schon einiges im Leben erreicht, sei erfüllt in der Partnerschaft und in der Arbeit und so weiter, und doch sei sie seit Wochen niedergeschlagen. Das Problem der Artikulation hängt nun nicht damit zusammen, dass die Person über keinen entsprechenden Wortschatz verfügt, sondern sie versteht das Leiden (noch) nicht, ihr fehlt entweder die Distanz oder der Zugang zu ihrem Leiden. Leriche und Morris scheinen aber etwas anderes zu meinen, wenn sie von dem subjektiven Charakter des Schmerzes sprechen, der allenfalls geteilt werden könne, sofern das Gegenüber ähnliche Schmerzen einmal erlebt hat. Sie sprechen die begrenzte Reichweite der Sprache an, nämlich das Wechselspiel zwischen Wahrnehmen, Denken und Sprechen, eine Sprache, die es zwar möglich macht, sich über gemeinsame Erfahrungen auszutauschen, nicht aber dann, wenn existentielle Erfahrungen gemacht werden, die das Gegenüber nicht kennt. Die Sprache, so Leriche und Morris reformuliert, versagt dort, wo es um einen Austausch des Psychischen geht, das also nicht so eingeholt werden kann, wie wenn von einem Urlaub mit dem Verweis auf Fotografien erzählt wird. Greifen Leriche und Moris implizit auf das Problem der Privatsprache zurück, eine Kritik, die alle drei von Müller erwähnten Elemente vereint ? Wenn auf die Idee der Privatsprache zurückgegriffen wird, geht man davon aus, dass nur die Produzierenden, sofern sie überhaupt einen Zugang zu ihrem Zustand haben, die Bedeutung der Wörter kennen. Dieses sogenannte Privatspracheargument greift René Descartes auf, eine zentrale Erneuerung erlebte es durch Wittgenstein. Er legt in seinem Argument dar, welches er vor allem in den Philosophi-
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schen Untersuchungen (PU)158 ausführt, dass, wenn ihm gefolgt werde, es zu einer reductio ad absurdum führe. Von § 243–255 werden vorbereitende Betrachtungen ausgeführt, in einem zweiten Schritt von § 258–280 wird der erste Nachweis und in einem dritten Schritt von § 293–315 der zweite Nachweis der Unmöglichkeit einer privaten Sprache ausgeführt.159 An dieser Stelle soll auf die Einbettung in die PU verzichtet und direkt die Frage beantwortet werden, wie sich Wörter auf Empfindungen beziehen können. Wittgenstein weist in § 244 auf eine mögliche Antwort hin : « […] werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt ». So lernt ein Kind für einen Schmerz, der etwa durch einen Bienenstich ausgelöst wurde, das Wort « Aua » oder die Wörter « an dieser Stelle tut es mir weh », wobei das Wort « Aua » nicht das Schreien ersetzt, sondern eine andere Art der Artikulation ist, die nach dem Regelwerk eines Sprachspiels funktioniert. Die Idee, es könne keine Privatsprache geben, erläutert Wittgenstein mit einer Annahme, nämlich, indem er sich vorstellt, es gebe eine Person, welche über eine solche Sprache verfüge. In § 258 führt Wittgenstein eine solche Person ein, die für eine bestimmte Empfindung das Zeichen « E » verwendet. Jedes Mal, wenn eine solche Empfindung auftritt, dann sagt die Person « E ». Wie die Aussage dieses wiederholten Zustandes « E » gemeint ist, braucht uns an dieser Stelle nicht zu kümmern, zentral ist, eine solche Beschreibung gewinnt für den mentalen Zustand keine Bedeutung, da ein Wort erst dann eine Bedeutung gemäss des Sprachspiels Wittgensteins hat, wenn ein solches Spiel existiert und es somit möglich ist, zwischen einer richtigen und einer falschen Anwendung zu unterscheiden (so hätte das Kind mit dem Bienenstich, das anstelle von « Aua » « Juhe » sagen würde, das Sprachspiel der Artikulation des Schmerzes noch nicht verstanden).160 Es kann 158 Zum Teil führt Wittgenstein die Problematik des Schmerzes auch im Werk Das blaue Buch aus (vgl. dazu : Wittgenstein, Ludwig : Das Blaue Buch. In : Werkausgabe Band 5. 1984 ; vor allem 81–93). In dieser Textstelle diskutiert er vor allem anhand der Positionen des Realismus, des Idealismus und des Solipsismus den Zusammenhang des Schmerzes. Weil an dieser Stelle das Problem der Aussenwelt nur am Rande relevant ist, wird auf diese Diskussion verzichtet. 159 Candlish, Stewart : Wittgensteins Privatsprachenargumentation. In : Ludwig Wittgenstein : Philosophische Untersuchung. Hrsg. von Eike von Savigny. 2011 ; 111–128 sowie : Lange, Ernst Michael : Ludwig Wittgenstein : Philosophische Untersuchungen. 1998 ; hier 261. 160 Zwei Textstellen bei Wittgenstein, die diesen Gedanken zusammenfassen : « Wenn man sagt ‹Er hat der Empfindung einen Namen gegeben›, so vergisst man, dass schon viel in der Sprache vorbereitet sein muss, damit das blosse Benennen einen Sinn hat. » (Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchung. In : Werkausgabe Band I. Hrsg. von Joachim Schulte. 2006 ; § 257) sowie : « Nehmen wir an, ich irre mich beständig bei ihrer Identifizierung [gemeint ist « E », MB], so macht es garnichts [sic !]. Und das zeigt schon, dass die Annahme dieses Irrtums nur ein Schein
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also keine Privatsprache geben, da sich eine Sprache stets auf die Sprachgemeinschaft, die Konvention, bezieht, weshalb Verstehen möglich wird. Deshalb kann sich eine Person, welche eigene Begriffe für ihr Innenleben verwendet, nie sicher sein, ob diese auch zutreffen, da es eben an der Abgleichung mit der Konvention fehlt und deshalb eine reductio ad absurdum vorliegt. Privat ist für Wittgenstein nur dann eine Sprache, wenn der mentale Zustand verheimlicht wird (§ 249) oder dann, wenn die Person etwas vorheuchelt (§ 250). Ausgehend von diesem Exkurs zu Wittgenstein kann nochmals zu Leriche und Morris zurückgekehrt werden. Leriche und Morris lokalisieren das Problem der unmöglichen Mitteilbarkeit des Schmerzes, der zu diesem subjektiven Charakter führt, nicht in der Sprache, sondern in der fehlenden Erfahrung des Gegenübers. Präventiv könnte dann, sollte eine Person das Leiden nicht mit dem Hinweis auf eine private Sprache artikulieren, auf Wittgensteins Argumentation verwiesen werden. Doch gibt es wirklich keine Privatsprache ? Sind nicht gerade Menschen, die ausserordentlich viel in ihrem Leben gelitten habe, was auf Chr. Lavant und Th. Bernhard zutrifft, genötigt, eine eigene Sprache zu entwickeln, wie bereits im Zusammenhang der metaphysischen Sprachkritik dargelegt wurde, weil die Sprachgemeinschaft ein Wort für einen entsprechenden mentalen Zustand nicht zur Verfügung gestellt hat ? Sind nicht gerade diese Menschen genötigt, eigene Wörter zu erfinden und neue Zusammenhänge im Kontext des Leidens herzustellen, das Leiden auf eine neue Art zu erzählen, auch mit dem Ziel verknüpft, die Sprache der Sprechgemeinschaft zu erweitern ? Ebenfalls Th. Bernhard scheint diese Lesart zu unterstützen : « Ich spreche die Sprache, die nur ich allein verstehe, sonst niemand, wie jeder nur seine eigene Sprache versteht […]. »161 Sollte die Aussage Th. Bernhards zutreffen, hätte diese Art der Isolation grosse ethische Konsequenzen, gerade was die Mitteilbarkeit seiner selbst und der Welt betrifft. Es würde bedeuten, dass es eine kategoriale Abgrenzung zwischen Ich und Du gibt, eine wesentliche Brücke zum Gegenüber ; die Empathie (und nicht das Mitleid, wie Schopenhauer postuliert) müsste zumindest teilweise als illusorisch bezeichnet werden, nämlich dann, wenn die Rezipierenden bis dahin keinen analogen Schmerz erlebt haben. Auch wenn die Kritik an der Sprache, sei es aus pragmatischer, semantischer, metaphysischer Perspektive (und nicht aufgrund des widerlegten Privatsprachewar. » (Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchung. In : Werkausgabe Band I. Hrsg. von Joachim Schulte. 2006 ; § 270). 161 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 205.
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argumentes) oder aus dem Grund, weil die betroffene Person (noch) nicht in der Lage ist, das Leiden zu artikulieren : Es muss der Versuch unternommen werden, trotzdem den mentalen Zustand nach aussen zu tragen und dem Solipsismus entsprechend entgegenzusteuern, gegen die von Leriche formulierte und oben zitierte Einsicht anzugehen, nämlich : « […] was wir nicht persönlich empfunden haben, können wir uns kaum vorstellen, und was uns die Leidenden sagen, richtet sich nur an unsere Einbildungskraft. » Obwohl, wie aufgezeigt wurde, die Kritik an der Sprache zum Teil fundamental ist, es führt kein Weg daran vorbei, sich zu artikulieren und somit ein Verstehen zu ermöglichen. Wenn daran nicht geglaubt wird, resultieren Verstummen und Isolation, die weder dem Betroffenen noch dem Gegenüber gerecht werden, welches Anteil an der Geschichte nehmen möchte. Denn, wie Veena Das es formuliert, verstummt die Sprache dann, « wenn das menschliche Verstehen wegbricht »162 ; und wenn wir nicht mehr verstehen wollen, verstummen wir und, so könnte angemerkt werden, es gilt auch für den umgekehrten Weg, das heisst, ohne die Artikulation durch die Sprache ist ein Verstehen nicht möglich. Diese drohende Schlussfolgerung wird der Grund sein, weshalb Th. Bernhard sich widersprüchlich verhält (was sicher auf einer poetologischen Ebene gewollt ist). Einerseits setzt er sich für (s)eine Privatsprache ein, andererseits schreibt er eine mehr als 500 Seiten umfassende autobiographische Schrift in einer Sprache, die sicher verstanden werden will und ja auch wird. Ebenso Chr. Lavant schrieb lange Zeit gegen die Nichtmitteilbarkeit des Leidens an, jedoch nahm in den letzten elf Jahren das Schreiben, auch gegen das Leiden, immer mehr ab, bis sie dann doch verstummte.163 2.4 Das erkennende Selbst, die Literatur und die Ethik Ausgehend von den Überlegungen in Kapitel 2.2 und 2.3 geht es im Folgenden darum, den Gedanken, dass ein zentrales Bestreben der Menschen darin bestehe, ein autonomes Leben zu führen, wieder aufzunehmen und zu vertiefen. Dabei spielt in einem ersten Schritt das Erkenne-dich-selbst eine zentrale Rolle, welches durch das Leiden gefördert, aber auch herausgefordert wird. In einem zweiten 162 Das, Veena : Die Anthropologie des Schmerzes. In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 47/5. 1999 ; 823. 163 In den letzten elf Jahren veröffentlichte sie nur noch den Erzählband Nelly (die Texte stammen allerdings aus den fünfziger Jahren). Auch ihre Briefkontakte nahmen in dieser Zeit deutlich ab (vgl. dazu : Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 253 f ).
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Schritt gilt es, die erkenntnistheoretische und die ethische Dimension der Literatur auszuarbeiten und auszuloten, inwiefern dabei die Literatur die Menschen in diesem Prozess des Sich-selbst-erkennens unterstützen kann. Auch diese beiden Schritte dienen dazu, Vorarbeit für die kommenden Kapitel zu leisten. 2.4.1 Das erkennende Selbst
Wie sähe ein Leben aus, in dem keine Selbsterkenntnis164 angestrebt werden würde, in dem etwa durch Suchtmittel oder durch die mehr oder weniger explizite Verweigerung, sich mit sich selber auseinandersetzen zu wollen, keinerlei von Erkenntnis resultiert ? Es wäre ein fragmentiertes Leben, eines, in dem die Teile in einer losen und nicht bewussten Beziehung zueinanderstehen, es wäre ein Leben wie ein Ball im Flipperkasten, ein Leben in Reaktion und nicht in Aktion. Aus dieser Konsequenz heraus erstaunt es auch nicht, dass die Mehrheit der Philosophinnen und Philosophen dafür argumentieren, sich selber zu erkennen sei ein erstrebenswertes Gut. Die Stimmen, die sich (zumindest in Teilen) gegen diese Art von Selbsterkenntnis erheben, gibt es, aber sie sind rar. Eine prominente ist Immanuel Kant. Als Begründung, weshalb er es nicht erstrebenswert findet, sich selber zu « belauschen »165, führt er wie folgt aus : Denn es ist mit jenen inneren Erfahrungen nicht so bewandt, wie mit den äusseren von Gegenständen im Raum, worin die Gegenstände nebeneinander und als bleibend festgehalten Erfahrungen abgeben. Der innere Sinn sieht die Verhältnisse seiner Bestimmungen nur in der Zeit, mithin im Fliessen, wo keine Dauerhaftigkeit der Betrachtung, die doch zur Erfahrung notwendig, stattfindet.166
Das heisst, was Kant an der Introspektion kritisiert, ist die fehlende epistemische Gewissheit dieser Art der Betrachtung. Wenn ein physischer Raum betreten wird, um das Bild von Kant aufzugreifen, ist es möglich, die dort sich befindenden Gegenstände anzufassen und nach objektiven Kriterien zu beschreiben. Hingegen das psychische Material, allen voran der Inhalt von Erinnerungen, entzieht sich der Empirie.167 Die Philosophin Valerie Tiberius geht noch einen 164 Dem Selbst wird im Folgenden nicht aus ontologischer, sondern aus erkenntnistheoretischer Perspektive angenähert, das heisst, es geht um Teilaspekte der personalen Identität, nämlich im Konkreten um die Fragen, wie und was ich von mir wissen kann. 165 Kant, Immanuel : Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. von Reinhardt Brandt. 2000 ; 18. 166 Ebd. 167 Diese von Kant aufgeworfene Problematik wird uns weiter in Kapitel 5.3 beschäftigen, nämlich
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Schritt weiter, indem sie auf die negativen Folgen dieser Art der Selbsterforschung hinweist, wenn sie schreibt : « The effort to acquire self-knowledge can veer into a narcisstic preoccupation with oneself or an unhealthy self-consciouness. »168 Aufgrund von empirischen Studien aus der Psychologie führt sie aus, in welcher Hinsicht es sinnvoll ist, sich nicht so gut mit sich selber auszukennen. So etwa sei es gar nicht schlecht, seine persönliche Reichweite zu überschätzen bezüglich der Selbstkontrolle oder der Prognose, was von der eigenen Zukunft zu erwarten sei. Dann seien wir in der Lage, ein ruhigeres und gelasseneres Leben zu führen, wir gewännen dadurch vermehrt Ressourcen, sich auch um andere zu kümmern. Dazu hätten Studien gezeigt, wie sinnvoll Selbsttäuschungen in Liebesbeziehungen sind, wenn nämlich in das Gegenüber mehr hineinprojiziert werde, als effektiv vorhanden sei. Die von Tiberius vorgebrachten Argumente können mit dem Verweis auf die aristotelische Tugendethik (beim ersten Argument) respektive mithilfe der utilitaristischen Perspektive (beim zweiten Argument) gerechtfertigt werden. Hingegen ist beim dritten Argument von Tiberius diese moralische Rechtfertigung deutlich schwerer zu formulieren. Hier geht sie soweit, dass sie der Auffassung ist, es sei in Ordnung, sich selber etwa über die wahren Gründe einer Scheidung zu täuschen, um so die daraus entstandene Wut und den Kummer überwinden zu können.169 Auf kurze Sicht mag dieses Beispiel einleuchten, da es darum geht, Unlust zu vermeiden, doch es stellt sich die Frage, wie nachhaltig eine solche Selbsttäuschung sowohl für die betroffene Person als auch für die Personen innerhalb ihres nahen Systems ist, und zweitens verhindert die Täuschung die persönliche Weiterentwicklung ; das Ich verpasst die Chance, sich der Realität anzupassen. Eine weitere Grenze des Erkenne-dich-selbst hängt mit dem Wunsch der Perfektionierung des Menschen zusammen. James A. Montmarquet definiert Perfektionismus als « an ethical view on which individuals and their actions are judged by a maximal standard of achievement – specifically, the degree to which they approach ideals of aesthetic, intellectual, emotional, or physical ‹perfection›. »170 In diesem Kontext ist der Drang der Selbsterforschung vor allem hinsichtlich des intellektuellen und emo-
dann, wenn die Ursachenforschung thematisiert wird. 168 Tiberius, Valerie : The Reflective Life. Living Wisely with our Limits. 2012 ; 112 f. 169 Ebd.; 113-115. Auch argumentiert Marcia Baron für einen gelasseneren Umgang mit der Selbsttäuschung (vgl. dazu : Baron, Marcia : What is Wrong with Self-Deception ? In : Perspectives on Self-Deception. Hrsg. von Brian P. McLaughlin und Amélie Oksenberg Rorty. 1988 ; 443 f ). 170 Montmarquet, James A.: Perfectionism. In : The Cambridge Dictionary of Philosophy. Third Edition. Hrsg. von Robert Audi und Paul Audi. 2015 ; 772.
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tionalen Perfektionismus relevant.171 Diese Art des Strebens setzt eine Bewegung voraus, nämlich die Abwendung vom Kollektiv und gleichzeitige Hinwendung zum Individuum.172 Die Entwicklung der Fokussierung auf das Einzelne hat eine lange Geschichte. Nach den Perserkriegen im 5. Jahrhundert vor Christus nahm die Verstädterung zu und Athen wurde zur mächtigsten Stadt Griechenlands. Damit ging eine grössere Partizipation des einen Teils der Bevölkerung von Athen einher. Die Theater wurden eine Erfahrungswerkstatt, indem sie zwar auf die alten Mythen zurückgriffen, sie aber so auslegten, dass die Gegenwartsprobleme diskutiert werden konnten.173 Davon zeugen die grossen Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides. Man denke etwa an den Konflikt in Antigone von Sophokles, ein Konflikt zwischen, modern gesprochen, dem materiellen und dem moralischen Recht oder, um ein weiteres Drama aufzugreifen, die unterschiedliche Fremdheitserfahrung Medeas im gleichnamigen Drama von Euripides. Wichtige Impulse für den Perfektionismus kamen von Aristoteles, viel später wieder von Vertretern der Renaissance (u. a. Leonardo da Vinci) sowie der Aufklärung (u. a. Jean-Jacques Rousseau). Aufgrund dieser Impulse hat sich die Erfahrungswerkstatt der Menschen ins Individuelle verlagert, es braucht in dieser Hinsicht keine Theaterbesuche mehr. Die drängenden politischen Fragen werden vornehmlich delegiert, während die individuellen, allen voran die Frage, wie zu leben sei, in den Fokus des Einzelnen rückt. Der Perfektionswille der Menschen zeigt sich nicht zuletzt in den zahlreichen autobiographischen Publikationen, weswegen es nicht vermessen ist, diese Art der Auseinandersetzung mit sich und seiner Geschichte als eine massive Archivierungsarbeit zu beschreiben ; Michaela Holdenried spricht gar von einer « inflationäre[n] Erinnerung »174. Es erstaunt auch nicht, weshalb auf diese Form zurückgegriffen wird, da autobiographische Schriften, wie es in Kapitel 4 noch ausführlich zu belegen gilt, eine direkte und anerkannte Möglichkeit darstellen, die Selbsterforschung zwecks des Erkenne-dich-selbst voranzutreiben. Dieser Wille, sich noch besser bei 171 Wie Bernward Gesang in seinem Buch Perfektionierung des Menschen aufzeigt, ist die Frage nach der ethischen Bewertung des Strebens nach physischem Perfektionismus angesichts des grossen technischen Fortschritts eine zentrale Herausforderung für die zeitgenössische Philosophie (Gesang, Bernward : Perfektionierung des Menschen. 2007). 172 Es sei, hält Sloterdijk fest, die Vertikalspannung, also das Streben nach oben, was dazu führte, dass der Mensch « zu dem aufsteigenden Tendenztier [sich] hat entwickeln können, als das die Befunde der Ideenhistoriker und der Weltreisenden ihn mehr oder weniger unisono beschreiben » (Sloterdijk, Peter : Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. 2009 ; 29). 173 Kotte, Andreas : Theatergeschichte. 2013 ; 33–43. 174 Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 9.
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sich selber auszukennen, seine eigenen Grenzen noch mehr in eine bestimmte Richtung verschieben zu wollen, stellt insofern ein Problem dar, dass der Fokus stets auf sich selber gerichtet ist, das Gegenüber wird vergessen oder als Mittel für das Streben nach Perfektion instrumentalisiert. Eine weitere Schwierigkeit des Erkenne-dich-selbst ist methodischer Art. Das zu erforschende Ich ist sowohl das Agens als auch der Reflexionsgegenstand. Da man selber mitten im Leben steht, ist es nur bedingt möglich, die Aussenperspektive einzunehmen. So kann man sich zwar bilden, man kann auf Briefe oder auf Notizbücher zurückgreifen, ebenfalls können wichtige Bezugspersonen befragt werden, doch es bleiben Annäherungen, das Ich bleibt in seine Welt verstrickt. Auf zwei weitere Gefahren soll an dieser Stelle nur hingewiesen werden, da diese in Kapitel 5 noch ausführlich diskutiert werden. Zum einen wird beim Erkenne-dich-selbst vorausgesetzt, es sei möglich, Gründe für Handlungen oder Denkweisen anzugeben. Allerdings, wie es sich zeigen wird, resultieren aus diesem von Descartes prominent vertretenen Ideal, dank der Introspektion zur Erkenntnis zu gelangen, Schwierigkeiten. Eine zweite Gefahr hängt eng mit der eben genannten zusammen und fand sich in Teilen schon bei Tiberius, nämlich die unterschätzten Kräfte des Unbewussten sowie der Selbsttäuschung und der Willensschwäche, alles Phänomene, die Menschen daran hindern, sich selber zu erkennen. Obwohl es Grenzen und Schwierigkeiten des Erkenne-dich-selbst gibt, bedeutet dieser Umstand nicht, dass es sich nicht lohnt, sich anzustrengen, sich über die handlungsleitenden Gründe einer Handlung, etwa einer Scheidung wie Tiberius ausführte, bewusst zu werden. Um zu begründen, weshalb ein solches Streben sinnvoll ist, wird im Folgenden die zweite Frühlingsvorlesung von Peter Bieri herangezogen, die er 2011 in Graz gehalten und im selben Jahr unter dem Titel Warum ist Selbsterkenntnis wichtig ?175 in Buchform herausgegeben hat. Weshalb diese Art von Erkenntnis relevant ist, hat gemäss Bieri verschiedene Gründe.176 Für ihn ist die Selbsterkenntnis ein sehr hohes Gut, eines, das, wenn es erreicht wird, zu Autonomie und Glück führen kann. Auch wenn der Prozess des Erkenne-dich-selbst nie abgeschlossen ist, verhilft es dazu, einen Umgang mit der Vergangenheit zu finden, das Ich kann besser seine Bedürfnisse im Jetzt artikulieren, und es weiss, was es in Zukunft machen möchte. Gerade mit Blick auf 175 Bieri, Peter : Wie wollen wir leben ? 2011 ; 35–60. 176 Wolfram Ette führt in seinem Beitrag im Handbuch Literatur und Philosophie mit dem Titel Die Tragödie als Medium philosophischer Selbsterkenntnis aus, es seien die Tragödien, welche diejenige literarische Gattung darstelle, die über « die höchste philosophische Dignität » (Ette, Wolfram : Die Tragödie als Medium philosophischer Selbsterkenntnis. In : Handbuch Literatur und Philosophie. Hrsg. von Hans Feger. 2012 ; 87) verfüge.
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die Zukunft ist es wichtig, sich mit seinen Wünschen, Leidenschaften, Sehnsüchten, Kränkungen, seinem Denken und seinem Wahrnehmen auseinanderzusetzen. In Bezug auf das Gegenüber ist die Selbsterkenntnis insofern relevant, dass ein reflektierendes Ich den Anderen weniger Leiden zuführt, Leiden, die oftmals deshalb entstehen, weil « wir unseren Neid, unsere Missgunst, unsere verborgene Schadenfreude und unseren verleugneten Hass nicht kennen »177. Und aus diesen Gründen wird auch klar, weshalb die erwähnte Archivierungsarbeit in den letzten Jahrzehnten derart intensiv betrieben wurde und nach wie vor wird. Nachdem nun knapp dargelegt wurde, weshalb die Selbsterkenntnis ein hohes und damit ein erstrebenswertes Gut ist, und die Aspekte genannt wurden, die dieses Gut herausfordern kann, stellt sich im Anschluss die Frage, wie es möglich ist, die Selbsterkenntnis zu erreichen. Das methodische Vorgehen, sich selbst zu erkennen, ist vielschichtig. Dabei sind drei Dinge zu beachten. Zum einen gilt es, nicht nur das Individuelle, sondern auch die Rahmengeschichte mitzuberücksichtigen, also das Verhältnis respektive die schwierige Verflechtung zwischen Ich und Welt. Aus dieser Sichtweise kann das Reflektieren über sich selber und das Materialisieren in autobiographischen Texten als ein soziales Handeln beschrieben werden, da das Einzelne mit dem Allgemeinen verwoben wird ; doch auch hier resultiert das nicht überwindbare Hindernis der Abgrenzung von innen und aussen ; es lässt sich kaum festhalten, was bei einer Person von innen, was von aussen herrührt und welche Rolle dabei die Interaktion zwischen diesen Dimensionen spielt. Es stellt sich in diesem Kontext des sozialen Handelns die Frage, wer, was, wie und wo bei sich erforschen und artikulieren darf. Die Artikulationsfähigkeit scheint bei den allermeisten von uns vorhanden zu sein, doch sie reicht nicht aus, um die Selbsterforschung voranzutreiben, allenfalls zu erzählen, und um gehört zu werden. Die Ausschlussmechanismen in einer Gesellschaft sind zahlreich. Zwar können, wie es sich zeigen wird, autobiographische Schriften einen Ausweg darstellen, um diesen Mechanismen zumindest teilweise zu entkommen, doch damit ist eben noch nicht gewährleistet, auch gehört zu werden. Ein solcher Ausschlussmechanismus griff geschichtlich gesehen erfolgreich im Zusammenhang mit der Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts (vgl. dazu Kapitel 4.3). Zum andern gilt es neben der Sensibilisierung der Ausschlussmechanismen zwei Blickrichtungen zu aktivieren. Beim Blick nach innen findet die reflektierende Person Erinnerungen, Stimmungen, aber auch Tagträume. Dieser Blick ist unbestritten wichtig und oftmals wird dieser Weg als der entscheidende beschrieben, wie es möglich ist, sich selber zu erkennen. Doch der wichtigere 177 Bieri, Peter : Wie wollen wir leben ? 2011 ; 59.
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Blick für Bieri ist jener, den wir nach aussen zu richten haben, denn « wenn wir wissen wollen, was wir über eine Sache denken – ein Gesetz etwa oder einen Krieg –, so müssen wir nicht nach innen blicken, sondern nach aussen »178. Hinzu kommt beim Blick nach aussen die Unterstützung, aber ebenfalls die Kontrollinstanz der Anderen, die für unsere Selbstwerdung von grosser Bedeutung ist.179 Zwar werden bei Bieri die beiden Blickrichtungen auf das eigene Leben mit plausiblen Beispielen illustriert, jedoch ist es wesentlich, auf die Wechselwirkung zwischen den beiden Richtungen explizit hinzuweisen. Das Ich ist ein durchfluteter Raum, wo zwar die Haut und der Körper eine klare Abtrennung gegen aussen und innen ermöglichen, nicht aber was das Denken und die Wahrnehmung betrifft. Drittens hängt der Erfolg der Selbsterkenntnis davon ab, ob es für die forschende Person möglich ist, zumindest partiell von sich Abstand zu nehmen, nicht nur in Bezug auf den Inhalt der Wünsche oder Sehnsüchte, sondern auch, um den Inhalt sprachlich zu artikulieren. Bei der Artikulation verfügen wir über Variationsmöglichkeiten, sowohl auf der Satz- als auch auf der Wortebene (vgl. dazu Kapitel 5.2.2). So macht es einen Unterschied, ob eine Person ihr Leben in Fachbegriffen aus der Betriebswissenschaft beschreibt, wie es Herr Bihler im Rollenspiel mit Herrn Tschudi in Top Dogs von Urs Widmer tut180, oder ob es die Person schafft, sich von dem Sprechautomaten181 zu distanzieren, um sich selber auf den Weg nach der passenden Sprache zu machen. Zusammengefasst und auf das Leiden angewendet kann zweierlei festgehalten werden. Obwohl es notwendig ist, der Selbsterkenntnis Grenzen zu setzen, ist das Erkenne-dich-selbst essentiell für uns Menschen, was uns, wie Bieri ausführt, zu Autonomie und zu Glück führt (so erstaunt es nicht, wenn diese Forderung als Inschrift am Apollotempel in Delphi stand). Auf der anderen Seite ist es das Leiden, welches den Weg zur Selbsterkenntnis erzwingt, da es das Leiden ist, das interpretiert werden will, und wir so bedrängt werden, uns mit uns selber auseinanderzusetzen. Doch das Leiden fördert nicht nur die Art der Forschung, 178 Ebd.; 37-41 179 Auch Eric Schwitzgebel argumentiert in seinem Aufsatz The Unreliability of Naive Introspection dafür, die Introspektion nur als begrenzte Methode zu verwenden, um sich selber zu erkennen (vgl. dazu : Schwitzgebel, Eric : The Unreliability of Naive Introspection. In : The Philosophical Review. 2008). 180 Vgl. dazu : Widmer, Urs : Top Dogs. 2016 ; 19–24. Auf den Zusammenhang der Sprache und dem Denken wird in Kapitel 5.2.2 sowie in Kapitel 8.2 und Kapitel 9.2 Bezug genommen und ausgeführt. 181 Hier handelt es sich um einen Begriff von Hampe (vgl. dazu Kapitel 2.6.1).
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sondern es kann uns auch derart herausfordern, dass angesichts des Leidens, zum Beispiel ausgelöst durch chronische Schmerzen, unsere normalen Erwartungen an die Welt zerstört werden (wie es Morris formulierte, vgl. Kapitel 2.2.2), wir innerlich verstummen und es uns hindert, erfolgreich am Prozess der Autonomie und des Glücks zu arbeiten. 2.4.2 Erkennen, Literatur und Ethik
Obgleich das Streben nach dem Erkenne-dich-selbst für den Menschen eine zentrale Bedeutung einnimmt, es bleibt, wie vorhin aufgezeigt worden ist, ein schwieriges Unterfangen. Im Folgenden soll nun dargelegt werden, welche Rolle bei diesem Streben der Literatur zukommen kann und soll. Diese Frage nach der Rolle lässt sich noch präzisieren, nämlich erstens, inwiefern es möglich ist, mithilfe der Literatur zu erkennen, und zweitens, inwiefern sie in der Lage ist und sein soll, uns zu moralischen Wesen zu erziehen. Auch wenn das Können und das Sollen getrennt behandelt wird, es zeigt sich, die beiden Modalverben sind in diesem Kontext eng aufeinander bezogen. Um den weiten Fächer der erkenntnistheoretischen und der ethischen Dimension, die in Beziehung mit der Literatur gesetzt werden, nicht zu weit zu öffnen, soll im Folgenden dafür argumentiert werden, dass a) es möglich ist, mithilfe der Literatur bestimmtes Wissen zu gewinnen, und b) die Literatur dem Menschen helfen kann, ein moralisches Wesen zu werden. Weil die Forschungsliteratur zur Untersuchung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie, Ethik und Literatur vor allem auf die fiktionale Literatur gerichtet ist, wird in der Argumentation zu a) und b) immer wieder ausgeführt, ob und inwiefern die Erkenntnisse ebenso auf nichtfiktionale (im Spezifischen autobiographische) Texte angewendet werden können. Die Spannweite der Frage, ob mithilfe von Literatur Wissen gewonnen werden kann (a), ist gross. Auf der einen Seite stehen verschiedene Positionen, die die « Fähigkeiten und Ressourcen der Literatur zur Erkenntnisvermittelung »182 verneinen, so etwa der Emotivismus. Die Literatur, so die Auffassung, wecke höchstens Gefühle, die zur Unterhaltung bis hin zu einem politischen Aktionismus münden könne, mehr nicht. Auf der anderen Seite sind die Kognitivistinnen und Kognitivisten der Meinung, dass der Literatur sehr wohl ein Erkenntnis182 Ferran, Ingrid Vendrell : Die Vielfalt der Erkenntnis. Eine Analyse des kognitiven Werts der Literatur. 2018 ; 71. Vendrelli legt sechs Positionen dar, die der Literatur den Erkenntniswert absprechen (vgl. ebd.; 72–104).
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wert zugeschrieben werden könne und sie somit einen hohen Stellenwert einnehme, gerade was die moralische Erziehung des Menschen betreffe.183 Diesen Standpunkt vertritt Hampe, auf den bereits auch in diesem Kontext in Kapitel 2.1.3 eingegangen wurde. Hampe legt dar, um seine Gedanken nochmals auf den Punkt zu bringen, der Literatur gehe es nicht primär darum, Wahrheiten zu transportieren, etwa über Einzeldinge oder historische Begebenheiten, sondern ihr Erkenntniswert hänge mit der « Ü bertragung von Erfahrungen »184 zusammen.185 Diese Übertragung von Erfahrung kann nicht nahtlos vollzogen werden. Ausgehend von der rudimentären Unterscheidung zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Literatur besteht der Übergang für das Erkennen im Zusammenhang von fiktionaler Literatur darin, die « als-ob »-Rede186 zu berücksichtigen. Wenn die Rezipierenden das Erzählte so lesen, als ob es sich wirklich so zugetragen hätte, öffnet sich das Potential, etwas erkennen zu können, also zum Beispiel die Auswirkungen von Leidenserfahrungen. Auch wenn für die nichtfiktionale Literatur diese « als-ob-Rede » nicht notwendig ist, da der Zusammenhang zwischen dem Erzählten in der Literatur und der Welt deutlich enger ist, heisst es nicht, der Übergang von Erfahrungen könne reibungslos vollzogen und ein direktes propositionales Wissen abgeleitet werden, denn die epistemischen Schwachstellen sind doch beträchtlich, wenn man, worauf bereits mehrmals hingewiesen wurde, an die Selbsttäuschung oder an die Wirkmächtigkeit des Unbewussten denkt. Um die literarische Erkenntnis von fiktionalen Texten weiter auszuarbeiten, unterscheidet Gabriel in seiner sprachphilosophischen Analyse drei Funktionen sprachlichen Zeichens, nämlich das Verweisen (Bezugnehmen, 183 Gabriel, Gottfried : Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. 1991 ; 2. 184 Hampe, Michael : Fiktion. In : Philosophische Kehrseiten. Eine andere Einführung in die Philosophie. Hrsg. von Natalie Pieper und Benno Wirz. 2014 ; 104. 185 In die gleiche Richtung wie Hampe, was das Erkenntnispotential der Literatur betrifft, argumentiert Danto. Die Literatur kann gemäss Danto als eine Art Spiegel betrachtet werden. Allerdings gibt sie nicht einfach die äussere Wirklichkeit wieder, sondern etwas, was für jedes Selbst, das hineinsieht, mit sich selbst konfrontiert und dabei jedem etwas zeigt, was ihm ohne Spiegel unzugänglich wäre. In diesem Sinne wirkt Literatur verklärend, sie kreuzt zudem zwischen Fiktion und Wahrheit. Metaphorisch ist die Literatur deshalb, weil sich die Lesenden mit dem Inhalt des Werkes identifizieren. So ist das « Ich », welches den Text liest, ein « Ich », das sich etwa mit Ödipus oder Leopold Blum identifiziert, natürlich metaphorisch gemeint, wie Danto festhält. Und dies mache genau die Literatur aus : « It is literature when, for each reader I, I is the subject of the story. The work finds it subject only when read. » (Danto, Arthur C.: The Philosophical Disenfranchisement of Art. New York : Columbia University Press. 1986 ; 155). 186 Gabriel, Gottfried : Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. 1991 ; 4.
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Hinweisen) auf Gegenstände, das Mitteilen (Sagen) von Inhalten, insbesondere das Aussagen und das Aufweisen (Darstellen, Zeigen) von Allgemeinem und Sinn. Sowohl in wissenschaftlichen Texten (man könnte ebenso andere nichtfiktionale Texte, etwa autobiographische Schriften, ergänzend hinzufügen) als auch in alltäglichen Gesprächen stünden die Funktion des Mitteilens sowie des Verweisens im Zentrum. Für literarische Texte sei nun, führt Gabriel aus, charakteristisch, dass das Verweisen auf Gegenstände fehle, dafür aber die Aufweisfunktion hinzukomme, der vom Verstehensprozess der Rezipierenden abhänge.187 Da nun die fiktionalen Texte nicht direkt auf die Wirklichkeit Bezug nehmen, sondern « über sich hinaus weisen und den Zusammenhang mit der Wirklichkeit indirekt herstellen, kann für sie eine Umkehrung der Richtung des Bedeutens geltend gemacht werden »188. Diese Umkehrung zieht nun zweierlei nach : Zum einen bleibt die Bedeutung offen, das heisst, es ist nicht möglich, die Bedeutungen abschliessend festzulegen und den literarischen Text mit einem handfesten Sinn zu versehen. Zum anderen, und damit eng mit dem ersten Punkt in Verbindung stehend, stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich sei, das zu Bedeutende zur Sprache zu bringen. Wenn die Interpreten dies tun, setzen sie sich oftmals dem Paradox aus, nämlich « sagen zu wollen, was sich zeigt »189, einem Paradox, dem nicht ausgewichen werden kann, wie Gabriel anhand von Tolstojs Bemerkung ausführt. Tolstoj hat auf die Frage, was denn der « Hauptgedanke » in Anna Karenina sei, geantwortet, wenn er mit Worten all das sagen wolle, was er durch den Roman habe ausdrücken wollen, er müsste den gleichen Roman nochmals schreiben.190 Somit wird klar, die literarische Erkenntnis wird vermittelt, « d. h. sie ist kein fertiges Gebilde, das es aufzusuchen gilt, sondern sie entfaltet sich im Verstehensvorgang »191. Diese Schlussfolgerung hat eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffes zur Folge, dass neben propositionalem auch nicht-propositionales Wissen möglich ist.192 Diesen erweiterten Erkenntnisbegriff gilt es nicht nur auf fiktionale, sondern auch auf nichtfiktionale Texte anzuwenden. Wie in Kapitel 4 im Generellen und dann in Kapitel 6 und 7 anhand von Chr. Lavant und Th. Bernhard im Spezifischen aufgezeigt wird, ist die Grenzziehung 187 Ebd.; 10. 188 Ebd. 189 Ebd.; 13. 190 Ebd.. 191 Ebd.; 9. 192 Vgl. auch dazu : Gabriel, Gottfried : Literarische Formen und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie. In : Literarische Formen der Philosophie. Hrsg. von Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht. 1990 ; 1–3.
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zwischen faktenbezogenem und fiktionalem Erzählen nicht immer klar. Die fehlende Klarheit hängt vor allem mit dem Material zusammen, auf das Bezug genommen wird, nämlich die Erinnerungen. So fehlt teilweise die Funktion des Verweisens, genauso wie in den literarischen Texten. Doch nur weil die Funktion fehlt oder eingeschränkt ist, bedeutet dies nicht, es könne kein Wissen aus dem Umgang mit den Erinnerungen gewonnen werden, im Gegenteil. Wie es sich in Kapitel 2.5 zeigen wird, ist es für die Produzierenden wie auch für die Rezipierenden sehr wohl möglich, aus dem Erzählten Erkenntnisse zu gewinnen. Um verstehen zu können, inwiefern der Literatur ein ethischer Wert zukommt (b), ist es wichtig, das Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik zu klären. Während aus der ästhetischen Perspektive traditionell die Frage nach der Schönheit thematisiert wird, geht es bei der ethischen darum, ein künstlerisches Werk hinsichtlich des Guten zu bewerten.193 Das Spannungsfeld zwischen Ethik und Ästhetik besteht darin, dass in beiden Sphären vor allem seit der Aufklärung ein Autonomieanspruch herrscht, der aber von der Ethik bis zur Aufklärung nicht zugestanden oder danach immer wieder infrage gestellt wurde und wird.194 Ab der Aufklärung, vor allem dank dem Zurückweichen der Kirche in den privaten Bereich, konnte sich die Kunst immer weiter emanzipieren, soweit gar, dass sie sich ganz von der Ethik löste, wie es die Strömung des Ästhetizismus im 19. Jahrhundert mit der Losung « l’art pour l’art » auf den Punkt gebracht hat.195 Um ein Werk als ästhetisch gelungen einzustufen, führt Dagmar Fenner drei Merkmale ein, wobei sie sich bewusst ist, wie kontrovers diese Punkte sind. Erstens die Selbstzweckhaftigkeit, das heisst, der Zweck des Werkes liegt nicht in einer moralischen Botschaft oder in einem allfälligen Zugewinn von Erkenntnis begründet, sondern nur bei sich selber. Zweitens der Aspekt der Reflexivität, das heisst, ein Kunstwerk ist in der Lage, den Rezipierenden eine besondere ästhetische Erfahrung zu ermöglichen, mit der Folge der Eröffnung neuer Perspektiven auf sich und auf die Welt. 193 Wie Fenner zu Recht anmerkt, geht es in einem engeren Sinne nicht um die beiden philosophischen Disziplinen (Ästhetik und Ethik), sondern es geht um die beiden unterschiedlichen Gegenstandsbereiche, nämlich auf der einen Seite die Philosophie und auf der anderen das künstlerische Werk (Fenner, Dagmar : Was kann und darf Kunst ? Ein ethischer Grundriss. 2013 ; 42). 194 Anne Wescott Eaton gibt einen guten Überblick über die verschiedenen Spielarten zwischen Ästhetik und Ethik (Eaton, Anne Wescott : Literature and Morality. In : The Routledge Companion to Philosophy of Literature. Hrsg. von Noël Carroll und John Gibson. 2016 ; 433–450). Eine Verteidigung des Ethicism formuliert Berys Gaut (Gaut, Berys : The Ethical Criticism of Art. In : Philosophy of Literature : Contemporary and Classic Readings. An Anthology. Hrsg. von Eileen John et al. 2004 ; 355–363). 195 Fenner, Dagmar : Was kann und darf Kunst ? Ein ethischer Grundriss. 2013 ; 39–41.
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Schliesslich drittens der ästhetische Genuss : Dieser Genuss grenzt sich von der Sinneserfahrung ab, die zum Beispiel durch Riechen an einer Glyzinie gewonnen wird. Der ästhetische Genuss, von dem Fenner spricht, erfordert die Aktivität von Phantasie und Denken, indem etwa untersucht werden kann, wie sich die Teile zum Ganzen verhalten oder wie das Wechselspiel zwischen Form, Sprache und Inhalt changiert.196 Dass diese drei Kriterien (die Selbstzweckhaftigkeit, die Reflexivität und der ästhetische Genuss) keineswegs der Kunst seit jeher zugestanden wurden, zeigt sich nicht nur in der erwähnten Aneignung der Kunst vonseiten der Kirche, sondern schon viel früher. So wird Literatur seit der griechischen Antike auch aus ethischer Perspektive reflektiert. In vorklassischer Zeit war die Dichtung, vor allem jene von Homer und Hesiod, ein « W issensreservoir für alle Bereiche des Lebens »197. Spätestens seit Platon wurde das künstlerische Schaffen aus ethischer Perspektive kritisch reflektiert und negativ bewertet. So etwa wollte er, wie in Kapitel 2.1.3 erwähnt, die Dichter aus seinem Idealstaat verbannt haben. Aristoteles dagegen rehabilitierte die Dichtung in seiner Poetik wieder, indem er darauf hinwies, wie nützlich doch die Kunst sei, nämlich in einem medizinischen Sinne, da sie gefährliche Emotionen zutage fördere (Konzept der Katharsis).198 Dieser Konflikt um die Frage nach dem ethischen Wert von Kunstwerken, in diesem Fall vor allem der fiktiven Literatur, wird auch noch im 21. Jahrhundert diskutiert, wie die Ausführungen im Zusammenhang des platonischen Disjunktivmodells zeigten.199 Hinzu kommt die Öffnung und die Hinwendung in den letzten Jahrzehnten der in der Universität dominierenden Ausrichtung der Philosophie, nämlich der analytischen Philosophie, zur Literatur. Dieser Wandel hängt mit dem wachsenden Stellenwert der Ethik zusammen. Ein bedeutender zeitgenössischer Philosoph, der zu dieser Entwicklung beigetragen hat, ist Stanley Cavell. So zeigt Cavell anhand von Film und Literatur auf, welches Verhalten und warum dieses zu einer Tragödie führen kann und was wir daraus lernen könnten.200 Eine andere zeitgenössische prominente Vertreterin, Martha C. Nussbaum, beschäftigt sich ausführlich mit literaturethischen Aspekten und traut der Literatur gar zu, uns 196 Ebd.; 44–47. 197 Erler, Michael : Philosophie. In : Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. Hrsg. von Bernhard Zimmermann unter Mitarbeit von Anne Schlichtmann. 2011 ; 254. 198 Aristoteles : Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. 1994 ; 1452b-1456a. 199 Vgl. ergänzend dazu : Korthals Altes, Liesbeth : Narratology, Ethical Turns, Circularities, and a Meta-Ethical Way out. In : Narrative Ethics. Hrsg. von Jakob Lothe und Jeremy Hawthorn. 2013 ; 31. 200 Cavell, Stanley : Cities of Words. Ein moralisches Register in Philosophie, Film und Literatur. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und eingeleitet von Maria-Sibylla Lotter. 2010
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zu world citizenship zu erziehen, weshalb die (fiktionale) Literatur für die Philosophie unentbehrlich sei.201 Nussbaum gehört neben MacIntyre und Rorty zu den prominentesten zeitgenössischen Vertretern der sogenannten Narrativen Ethik.202 Dieser Sammelbegriff für unterschiedliche Positionen, zu der auch Hampe gezählt werden kann, zeichnet sich dadurch aus, dass, wie bei Nussbaum ausgeführt wurde, der vornehmlich fiktionalen Literatur ein hoher Stellwert beigemessen wird, wenn es darum geht, Menschen ethische Werte zu vermitteln. Dabei soll der Fokus eben nicht auf dem Allgemeinen liegen, sondern auf dem Konkreten.203 Was Nussbaum mit Konkretion meint, führt sie an mehreren Stellen aus, so auch in der folgenden : 201 Vgl. dazu das dritte Kapitel The Narrative Imagination, besonders S. 107–111 in : Nussbaum, Martha C.: Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education. 2000 ; oder Nussbaum, Martha C.: The Fragility of Goodness. 2001. Es ist das Problem bei diesen Ansätzen, wenn es darum geht, zu begründen, inwiefern die Literatur in der Lage sei, uns zu moralischen Wesen zu erziehen, dass keine empirischen Untersuchungen, so auch bei Nussbaum, bei der Argumentation hinzugezogen werden. Solange die Literaturphilosophie bei dieser Fragestellung nicht empirische Untersuchungen berücksichtigt, bleiben die Ausführungen Behauptungen, die zwar plausibel sein können und doch den Anschein erwecken, als spreche die Autorin resp. der Autor vor allem von sich selber. Eine Möglichkeit, diese Argumentationslücke zu schliessen, bietet das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik unter Gründungsdirektor Winfried Menninghaus, der u. a. diesen Konnex untersucht (Menninghaus, Winfried : The Distance-Embracing model of the enjoyment of negative emotions in art reception. In : Behavioral and Brain Sciences, 40 : e347, 2017). Eine aussagekräftige empirische Studie, die die Bedeutung der (fiktiven) Erzählungen für das Leben herausgearbeitet hat, ist jene von Melane C. Green Green und Timothy C. Brock (Green, Melanie C. und Brock, Timothy C.: Persuasiveness of Narratives. In : Persuasion. Psychological Insights and Perspectives. Hrsg. von ebd. 2005). Eine weitere Studie, die sich mit dem Erkenntniswert von Literatur befasst, ist jene von Andrea Migliano Bamberg et al., auf die am Ende des Kapitels 3.2 Bezug genommen wird. Hingegen hat eine viel beachtete Metastudie von Colin F. Camerer et al. mit dem Titel Evaluating the replicability of social science experiments in ‹Nature› and ‹Science› between 2010 and 2015 u. a. dargelegt, dass die Studie von C. Kidd und E. Castano (in Science am 3. Oktober 2013 erschienen) zur These, die Literatur sei in der Lage, Menschen emphatischer zu machen, nicht repliziert werden könne (Camerer, Colin F. et al.: Evaluating the replicability of social science experiments in Nature and Science between 2010 and 2015. In : Nature Human Behaviour. Vol 2. September 2018 ; 637–644). Was daraus folgt, ist weiterer Forschungsbedarf. 202 Wie das Verhältnis der narrativen Ethik zu der klassischen normativen Ethik beschaffen ist vgl. dazu Joisten, Karen : Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen. In : Narrative Ethik : Das Gute und das Böse erzählen. Hrsg. von ebd. 2007 ; 9–24 sowie Hofheinz, Marco : Narrative Ethik als « Typfrage ». Entwicklungen und Probleme eines konturierungsbedürftigen Programmbegriffs. In : Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik. Hrsg. von Marco Hofheinz, Frank Mathwig und Matthias Zeindler. 2009 ; 11–68. 203 Vgl. dazu : Nussbaum, Martha C.: « Finely aware and richly responsible » : Moral attention and the moral task of literature. In : The Journal of Philosophy. Vol. 82, Nr. 10. 1985 ; 521 f.
Das erkennende Selbst, die Literatur und die Ethik
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To bring novels into moral philosophy is not – as I understand this proposal – to bring them to some academic discipline which happens to ask ethical questions. It is to bring them into connection with our deepest practical searching, for ourselves and others, the searching in connection with which the influential philosophical conceptions of the ethical were originally developed, the searching we pursue as we compare these conceptions, both with one another and with our active sense of life.204
Es geht also Nussbaum nicht darum, ausgehend von einem Roman, irgendwelche, um auf Hampe zurückzugreifen, dogmatische Philosophie zu betreiben. Vielmehr soll anhand des Romans das Konkrete, das heisst, unser Leben angesprochen werden, um dieses ethisch zu überprüfen. Warum es nicht möglich ist, das direkte Leben zu untersuchen und der Umweg über die fiktive Literatur (Nussbaum greift in ihrer Analyse nicht nur auf Romane, sondern auch auf Dramen zurück, vor allem aus der Antike) zu machen ist, begründet Nussbaum damit, dass unser Leben zu « confined »205 und zu « parochial »206 sei. Es sei die Literatur, die in der Lage ist, das Leben auszuweiten, sie lasse uns prüfen, wie es wäre, eine Handlung zu vollführen, ja, gar ein anderes Leben zu leben.207 Zudem bringe uns die Literatur in Positionen, die wir auch im Alltag kennen : Wir sind emotional involviert, wir agieren in Bezug auf die Mitmenschen. Gerade weil die Distanz zur Reflexion oftmals fehle, da wir eben ein Teil der Handlung seien, hätten wir stets nur eine unvollkommene Perspektive. Dank der Literatur sei es möglich, auf allenfalls ähnliche Umstände zu stossen, die wir aber, da wir nun eine aussenstehende Person sind, vollständiger, tiefer, deutlich präziser und ohne Neid oder persönlicher Interesse die Handlung empfinden sowie nachvollziehen und somit verstehen könnten.208 Die Kritik von Fenner an der narrativen Ethik besteht zum einen darin, dass sie ihren Vertretern vorwirft, sie fokussierten sich auf fiktionale Literatur, welche vor allem aus der Antike respektive aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert stammten. Fenner führt aus, diese « tradi204 Nussbaum, Martha C.: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. 1990 ; 24. 205 Ebd.; 47. 206 Ebd. 207 Auch Hilary Putnam weist auf den grossen Verdienst der Literatur hin. Gleich wie Nussbaum ist er der Auffassung, die Literatur ermögliche, Dinge in unterschiedlicher Weise zu sehen, und zwar nicht primär rational, sondern vor allem durch die Fülle von emotionalen Details, die darlegen können, wie ein Leben in verschiedenen Gesellschaften, in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Perspektiven aussehen könnte. Dabei komme der Imaginationsfähigkeit der Menschen eine bedeutende Rolle zu (Putnam, Hilary : Meaning and the moral sciences Meaning and the Moral Sciences. 1979 ; 83–94). 208 Nussbaum, Martha C.: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. 1990 ; 47 f.
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tionellen Erzählstrukturen mit chronologischer und kausaler Reihenfolge und einem auktorialen, also allwissenden Erzähler sind heute längst nicht mehr die Regel »209. Nur weil der Fokus auf der von ihr erwähnten Literatur liegt, heisst das jedoch nicht, es sei unmöglich, neuere Literatur beizuziehen. Wie sich zeigen wird, ermöglicht gerade die sogenannte postmoderne Literatur, zu der auch Chr. Lavant und Th. Bernhard gezählt werden, dem modernen Subjekt Rechnung zu tragen. Der zweite Kritikpunkt Fenners ist hingegen wichtiger, nämlich der Aspekt, ob aufgrund dieses Verständnisses von Ethik und Ästhetik die (fiktionale) Literatur instrumentalisiert und somit dem Kunstwerk nicht gerecht wird. Wie dieser Konflikt gelöst werde könnte, führt Fenner später aus, allerdings ohne explizit Bezug auf die narrative Ethik zu nehmen. Grundsätzlich gelte es, « die Autonomie von ästhetischem und ethischem Wertsystem zu respektieren und das eine nicht auf das andere zu reduzieren »210.211 Allerdings müsse dann die Autonomie der ästhetischen Dimension eingeschränkt werden, wenn diese mit der ethischen kollidiere. Als Beispiel greift sie auf eine Situation zurück, bei der eine Person das Ertrinken eines Kindes deshalb zulässt, weil sie diesen Todeskampf « ästhetisch […] geniesse […] »212. Wie schwierig es ist, eine solche Grenze zu ziehen, in der es angebracht ist, der ethischen Dimension einen höheren Stellwert zuzumessen, zeigen zahlreiche Beispiele zeitgenössischer Werke.213 Klar ist, dass jeder Fall einzeln geprüft werden muss ; es ist sowohl aus juristischer als auch aus ethischer Perspektive nicht möglich, der Ethik pauschal den Vorrang vor der Ästhetik zu geben. Aber klar ist auch, die Literatur unterstützt die Menschen, ein moralisches Wesen zu werden. Im nächsten Kapitel 2.5 wird nun dargelegt, ausgehend von literarischen Texten, wie genau dieser Prozess beschaffen ist, um zu erkennen und zu ethisch relevanten Einsichtigen zu gelangen, nämlich indem die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden untersucht wird.
209 Fenner, Dagmar : Was kann und darf Kunst ? Ein ethischer Grundriss. 2013 ; 59. 210 Ebd.; 66. 211 Dieser Konflikt wurde in Kapitel 2.1.3 ausführlich dargestellt und mithilfe der Komplementaritätsthese ein Weg aufgezeigt, wie er gelöst werden kann. 212 Fenner, Dagmar : Was kann und darf Kunst ? Ein ethischer Grundriss. 2013 ; 66. 213 So kann der Film The Death of Stalin des Regisseurs Armando Iannucci, der 2018 in der Schweiz im Kino lief, als ein Beleg gelten, über den im Westen grossteils gelacht wurde, der jedoch in Russland aufgrund des ästhetischen Moralismus der Behörde nicht gezeigt werden durfte.
Die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden
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2.5 Die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden In der bereits in der Einleitung zitierten Rede Bachmanns zum Hörspielpreis weist sie darauf hin, wie eng die Beziehung der Schriftsteller zu den Rezipierenden sei : Der Schriftsteller – und das ist auch in seiner Natur – ist mit seinem ganzen Wesen auf ein Du gerichtet, auf den Menschen, dem er seine Erfahrung vom Menschen zukommen lassen möchte (oder seine Erfahrung der Dinge, der Welt und seiner Zeit, ja von all dem auch !), aber insbesondere vom Menschen, der er selber oder die anderen sein können und wo er selber und die anderen am meisten Menschen sind.214
Doch nicht nur die Schriftsteller sind angewiesen auf die Rezipierenden, sondern auch umgekehrt. Worin genau die gegenseitige Abhängigkeit besteht, wird im Folgenden erläutert. Dabei wird in einem ersten Schritt auf einen Teil der Vorlesungen von Judith Butler unter dem Titel « Wer bist du ? » zurückgegriffen, die sie im Rahmen der Adorno-Vorlesungen 2002 gehalten hat und in ihrem Buch Giving an Account of Oneself 2005 veröffentlicht wurde (auf Deutsch erschien das Buch zwei Jahre später unter dem Titel Kritik der ethischen Gewalt). Der Untersuchungsgegenstand von Butler in den Adorno-Vorlesungen ist ein anderer als jener, der in dieser Arbeit im Zentrum steht, sie geht nämlich der Frage nach, was eine Theorie der Anerkennung auszeichnet. Weshalb es trotzdem sinnvoll ist, sich auf diese Vorlesung zu beziehen, hängt mit der Auseinandersetzung mit dem Anderen zusammen. Autobiographische Schriften schweben nicht im luftleeren Raum, sondern es ist eine Kommunikationsform zwischen einem Ich und einem Du. Dabei ist das Ich nicht einfach die autonome und aktive und das Du die reaktive Seite. In Anlehnung an die Studie Relating Narratives der italienischen Philosophin Adriana Cavarero hält Butler zwei Punkte fest, anhand derer sie dieses Verhältnis zwischen Ich und Du präzisiert.215 Der erste Punkt ist, dass wir nicht fragen sollten, « Was sind wir ? » respektive « Wer bin ich ? », sondern « Wer bist du ? ». Es ist diese Frage, die den Fokus auf den Anderen verschiebt, sie zeigt auf, wie wir einander in unserer « Verwundbarkeit und Einzigartigkeit 214 Bachmann, Ingeborg : Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften. 2011 ; 76. 215 In die gleiche Richtung argumentiert auch Taylor, ohne dass Butler allerdings an dieser Stelle auf ihn Bezug nimmt (vgl. dazu : Taylor, Charles : Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. 1989 ; etwa 34 f ).
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notwendig ausgesetzt sind »216. Der zweite Punkt präzisiert den ersten. Nur weil wir alle auf Anerkennung aus sind, sind wir deshalb nicht alle gleich. Diese einleuchtende Einschränkung der Andersartigkeit zeigt sich vor allem in den verschiedenen Geschichten, die wir von uns erzählen und uns somit voneinander abgrenzen. Um es kurz zu sagen : Auch wenn wir « durch unsere Unterschiede, d. h. durch unsere Singularität, aneinander gebunden »217 und so auf das Gegenüber angewiesen sind, verfügen wir trotzdem über einen irreduziblen Kern, nämlich diesen Körper, « der einer Öffentlichkeit ausgesetzt ist, die einmal intim und einmal anonym ist »218. Die Autonomie des Subjekts wird allerdings nicht nur aufgrund des Angewiesenseins auf Anerkennung von anderen eingeschränkt, sondern auch in den Geschichten, die jemand von sich erzählt. Noch in dem Moment, indem die Person eine Antwort gibt, werden ihr die Worte genommen, « ins Wort fällt mir die Zeit eines Diskurses, die nicht dieselbe ist wie die Zeit meines Lebens »219. Das bedeutet, die Person kann zwar aufzeigen, wer sie ist, doch in ihrer Antwort ist sie in dem, was sie erzählt und wie sie es erzählt, nicht frei. Dieses Was und Wie ist geprägt durch die Rahmengeschichte, die Normen, durch die Perspektive, aus der erzählt wird. Hinzu kommen die Erwartungen von aussen, was eine gute Geschichte sei und wie sie genau aufgebaut zu sein habe.220 Ein weiterer Punkt schränkt die Reichweite der Autonomie des Subjektes ein, nämlich indem Geschichten erzählt werden, sind sie an ein Gegenüber adressiert, und indem die Geschichte adressiert wird, setzt sich diese Person dem Gegenüber aus. So kommt Butler zum Schluss, dass die Rechenschaft von mir selber, und darum geht es ebenfalls beim Erkenne-dich-selbst, nur eine partielle sein könne. Das Ziel, so Butler weiter, bestünde darin, herauszufinden, wie es möglich ist, mit dem steten Ausgesetztsein umzugehen, dem wir nicht ausweichen können ; davon handelt auch die vorliegende Untersuchung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens.221 Und wie nun klar geworden ist, sind das Ich und das Du eng aufeinander bezogen, weswegen im Folgenden, wenn von diesem Verhältnis die Rede ist, von einer Komplizenschaft gesprochen wird. Was diese Komplizenschaft weiter auszeichnet, wird in einem zweiten Schritt präzisiert. 216 Butler, Judith : Kritik der ethischen Gewalt. Aus dem Englischen von Reiner Ansén und Michael Adrian. 2007 ; 46. 217 Ebd.; 49. 218 Ebd. 219 Ebd.; 51. 220 Diese Perspektivierung des Erzählens wird in Kapitel 3.1 aufgegriffen und ausgeführt. 221 Butler, Judith : Kritik der ethischen Gewalt. Aus dem Englischen von Reiner Ansén und Michael Adrian. 2007 ; 46 sowie 56 f.
Die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden
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Wie in Kapitel 2.2 und 2.3 dargelegt wurde, hängt das Leiden mit der Selbsterkenntnis zusammen. Doch dieses Leiden ist nicht nur für die Selbsterkenntnis wichtig, sondern es ist auch für den daraus entstehenden Imaginationsraum zwischen der erzählenden Person von Leidensgeschichten und den Rezipierenden zentral (gemäss der ersten Form von Angehrn, vgl. Kapitel 2.2.1). Die Beziehung zwischen dem erzählenden Subjekt und den Rezipierenden bildet eine besondere Komplizenschaft, die sich auf verschiedenen Ebenen zeigt. Eine Ebene hängt mit dem erwähnten Imaginationsraum des Erzählten zusammen, einem Raum, der durch die Thematisierung des Leidens gefüllt werden kann.222 Während die Rezipierenden sich durch das Leiden mit dem Erzähler verbinden, vielleicht gar anteilnehmen und eigene Leiderfahrungen mitreflektieren, zwingt das Leiden den Erleidenden zur Distanznahme, es zwingt ihn, sich mit sich selber auseinanderzusetzen, und kann so zu essentiellen Einsichten über sich selber sowie zu neuen Verhaltensweisen führen. So wird auch aus dieser Sicht nachvollziehbar, weshalb die Literatur, da sich dort die Welt widerspiegelt, für die moralische Erziehung von Menschen eine wichtige Rolle einnimmt. Um diese Komplizenschaft gerade im Zusammenhang des erarbeiteten Konnexes von Leiden und Selbsterkenntnis zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden vertiefter analysieren zu können, wird im Folgenden auf die verschiedenen Stufen der narrativen Konzeption von Paul Ricœur, die er in Temps et récit ausführlich beschrieben hat, zurückgegriffen. Anhand von drei Begriffen Ricœurs, welche er in Kapitel Die dreifache Mimēsis im ersten Band von Temps et récit entwickelt, nämlich der Präfiguration, der Konfiguration (sie stellt für Ricœur den Angelpunkt der Analyse dar) und der Refiguration, wird die erwähnte Komplizenschaft in Rückbezug auf das Leiden ausgearbeitet. Obschon Ricœur bei der Erarbeitung seiner Konzeption sich vor allem auf Aristoteles und dessen Untersuchung von Fabeln fokussiert, ist es, wie es sich zeigen wird, ohne Schwierigkeiten möglich, sie ebenso auf nichtfiktionale Texte anzuwenden.223
222 Ein berührendes Beispiel, wie ein solcher Imaginationsraum beschaffen sein kann, ist die Begegnung zwischen König Priamos und Achill im Zelt von Achill in Homers Ilias. Achill trauert um seinen Freund Patroklos, der durch die Hand von Hektor starb, der König Priamos hingegen trauert um seinen Sohn Hektor, der nach der Tötung Patroklos aus Rache von Achill getötet wurde. In diesem Imaginationsraum des Leidens wird es gar möglich, dass Achill Priamos, seinem Erzfeind, die Leiche Hektors aushändigt (vgl. Homer : Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voss. 2002 ; Vers 472-676). 223 Ricœur, Paul : Zeit und Erzählung. Band 1. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. 1988 ; 88.
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Den Ausgangspunkt stellt die Präfiguration dar. Damit ist gemeint, wir (also die Produzierenden wie auch die Rezipierenden) können in unserem Alltag auf ein Vorverständnis zurückgreifen, um Handlungen nachzuvollziehen, und zwar hinsichtlich des Erkennens der Strukturmerkmale, der symbolischen Vermittlung und der zeitlichen Abfolge. Mit dem Begriff Strukturmerkmal soll deutlich gemacht werden, dass die Produzierenden und die Rezipierenden Ziele und Motive aus Handlungen herleiten, um zu begründen, warum jemand etwas Bestimmtes tut. Mit der symbolischen Vermittlung greift Ricœur einen Mechanismus auf, der es uns ermöglicht, etwa einen Ritus zu verstehen, indem wir diesen in die « Gesamtheit der Konvention, Glaubensvorstellungen und Institutionen »224 einbetten. Diese Gesamtheit liefert uns einen Beschreibungskontext. So etwa kann die Geste des Armhebens je nach Kontext als Gruss, als Ruf nach einem Taxi oder als Stimmabgabe aufgefasst werden. Schliesslich setzen wir die zeitliche Struktur voraus, die eng mit den Strukturmerkmalen sowie mit der symbolischen Vermittlung gedacht werden muss, nämlich dann, wenn die Gründe, die für eine Handlung angegeben werden, mit den entsprechend gemachten Erfahrungen zusammenhängen.225 Die Konfiguration ist jener dynamische Charakter, welcher zwischen Konkordanz und Diskonkordanz vermittelt. Während die Konkordanz ein Ordnungsprinzip, wie es Ricœur nennt, darstellt, das durch Abgeschlossenheit, Totalität und angemessenen Umfang beschrieben werden kann, steht die Diskonkordanz für das Umschlagen, für die Veränderung, all das, was das Subjekt bedroht.226 Die Konfiguration ist jenes Prinzip, welches eine « Synthese des Heterogenen »227 herstellt, es ist eine Vermittlungsinstanz zwischen der Vielfalt der Ereignisse und der zeitlichen Einbettung. Dank diesem Prinzip ist es möglich, einen Sinn hinter dem Verschiedenen zu erkennen, es wird Bedeutung generiert, indem Nichterklärbares oder Widersprüchliches miteinander verbunden und somit eine mehr oder weniger stringente Erzählung erzielt wird. Besonders nachvollziehbar wird die Relevanz dieses Prinzips im Zusammenhang mit dem Leiden. Das Umschlagen in einen nicht gewünschten Zustand, das Eintreffen eines Schicksalsschlages oder des Zufalles, je nach Les224 Ebd.; 95. 225 Ebd.; 90–113. 226 Ricœur, Paul : Narrative Identität. In : Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970– 1999) von Paul Ricœur. Übersetzt und herausgegeben von Peter Welsen. 2005 ; 212. Alle drei Begriffe « Abgeschlossenheit », « Totalität », « angemessener Umfang » haben ihren Ursprung bei Aristoteles (vgl. dazu : Aristoteles : Poetik. 1994 ; 19–25). 227 Ricœur, Paul : Narrative Identität. In : Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970– 1999) von Paul Ricœur. Übersetzt und herausgegeben von Peter Welsen. 2005 ; 214.
Die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden
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art, stellt die Diskonkordanz dar, einen Zustand, welcher interpretiert werden will. Dazu braucht es die Konfiguration. In diesem Zusammenhang wird auch eine Sinnkrise dank dieser Konzeption verständlich. Die Krise entsteht dann, wenn es nicht möglich ist, zwischen der Konkordanz und der Diskonkordanz zu vermitteln, es bleibt eine Leerstelle. Gerade das Moment der fehlenden Aushandlung im Kontext des Leidens und die Frage, ob und inwiefern der Zustand ausgedrückt werden kann und soll, ist für die Untersuchung der ethischen Dimension von besonderer Relevanz. Während die Konfiguration vor allem aus der Perspektive der Produzierenden gedacht werden muss, stellt die Refiguration, ähnlich wie die Präfiguration, die Verbindung zu den Rezipierenden her. Auf die Frage, wie diese Refiguration beschaffen ist, nennt Ricœur zwei Überlegungen, wobei diese beiden so eng miteinander gedacht werden müssen, dass sie im Folgenden zu einem Gedankengang verschmolzen werden. Dank der (fiktiven) Erzählung offenbart die Refiguration « einen Aspekt der Selbsterkenntnis »228, bei dem das Selbst über den Umweg des Anderen sich selber erkennt, einer Idee, die ebenfalls von Angehrn formuliert wird (allerdings dachte er an reale Personen). Er hält fest, dass, wenn ein Mensch sich nicht von anderen affizieren lassen könne, « ein lebendiges Verhältnis zu sich, zur Welt und zu anderen Menschen verschlossen »229 bleibe. Wie die Idee der Aneignung der Erzählung auf das refigurierte Ich gedacht werden soll, erklärt Ricœur wie folgt : Sich eine Figur durch Identifikation aneignen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden. Durch dieses Spiel bestätigt sich das berühmte Wort von Rimbaud (das mehr als einen Sinn hat !) : Ich ist ein anderer.230
Diese Erklärung mag auf den ersten Blick irritieren ; es schiebt sich, um sich selber zu erkennen, eine (fiktive) Figur dazwischen.231 Dieser Umstand macht Rimbauds Satz erst verständlich. Es handelt sich dabei um denselben Mechanismus, auf den 228 Ebd.; 222. 229 Angehrn, Emil : Leiden und Erkenntnis. In : Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins. 2003 ; 27 f. 230 Ricœur, Paul : Narrative Identität. In : Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970– 1999) von Paul Ricœur. Übersetzt und herausgegeben von Peter Welsen. 2005 ; 222 f. 231 Auch Bourdieu schreibt in seiner Studie Das Elend der Welt von der Notwendigkeit eines Stellvertreters, um das Leiden der Anderen zu verstehen, der einem hilft, die Lücke des Fremden zu füllen (vgl. dazu : Bourdieu, Pierre et al.: Das Elend der Welt. 2006 ; vor allem 397 f ).
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Th. Bernhard in seinen (vor allem fiktiven) Texten immer wieder zurückgreift. So etwa beim Ich-Erzähler in Holzfällen. Während dieser Ich-Erzähler auf seinem Ohrensessel sitzt, reflektiert er über den Suizid von Joana, und indem er über das Leben von ihr nachdenkt, reflektiert er auch sich selber kritisch. Weil sich dieses Ich auf das Gegenüber verschiebt, kann der von Butler anhand von Cavarero ausgeführte Perspektivenwechsel nachvollzogen werden. Das Spiel zwischen Figuration und Refiguration macht deutlich, wie sich eine Erzählung auf den Rezipierenden auswirkt, wie sie ihn spiegelt, was soweit führen kann, dass er das eigene Denken und Handeln anpasst. Während der Rezipierende sich in einem ersten Schritt mit dem dargestellten Leiden auseinandersetzt, folgt in einem zweiten die Bezugnahme auf sich selber. Ausgehend von dem dargestellten Leiden kann der Rezipierende die ihm zugestossene Leidenserfahrung reflektieren. Dank der Leidenserfahrung des Gegenübers werden bestimmte Erfahrungen des Rezipierenden aktiviert, diese Erfahrungen werden gegenübergestellt und verglichen und somit erhält das Leiden einen Platz in der Biographie des Rezipierenden. Das refiguriende Moment geht noch weiter, nämlich indem der Rezipierende dem Anderen zuhört, bringt auch er in Erfahrung, wie über das Leiden erzählt werden kann, sowohl was die Sprache als auch die Form und den Inhalt betrifft. Und wie anhand von Butler aufgezeigt wurde, verläuft diese Refiguration nicht nur in die eine Richtung. Denn der Produzierende ist auf das Andere angewiesen, insofern, als dass er sich verständlich artikulieren muss, wobei es gilt, die Form und die Sprache entsprechend zu verwenden, um einen Inhalt so oder so zu transportieren. Und genau das dargestellte Verständnis ist es auch, welches nachvollziehbar macht, wie genau der Prozess, von dem die Vertreterinnen und Vertreter der narrativen Ethik sprechen (vgl. Kapitel 2.4.2), vonstattengeht. Im dritten Band führt Ricœur diese Refiguration noch weiter aus.232 Ausgehend von der These, ein Text könne nicht ausschliesslich textimmanent interpretiert werden, sondern er transzendiere sich stets « auf eine Welt hin »233, spielen die Rezipierenden für die Art und Weise, wie ein Werk transzendiert wird, eine zentrale Rolle. Um diesen Prozess der Refiguration zu systematisieren, unterscheidet Ricœur wiederum drei Prozesse, die sich vom Produzierenden hin zu den Rezipierenden bewegen. Im ersten Prozess geht es darum, wie die Produzierenden die Refiguration beeinflussen. Der Einfluss auf die Rezipierenden kann gar soweit führen, dass sie auf sich 232 Bei dieser weiteren Ausführung greift Ricœur auf verschiedene Rezeptionsästhetiken zurück (vgl. dazu : Ricœur, Paul : Zeit und Erzählung. Band III. Aus dem Französischen von Andreas Knop. 1991 ; vor allem 278–283). 233 Ebd.; 255.
Die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden
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selber zurückgeworfen werden, weil « die Lektüre nicht mehr eine vertrauensvolle Reise in Begleitung eines zuverlässigen Erzählers »234 darstellt. Wie wirkmächtig eine solche Irritation sein kann, gerade aufgrund des Authentizitätsanspruches an eine autobiographische Schrift, nämlich wenn sich Widersprüche oder gar Unwahrheiten auftun, wird sich in Kapitel 7 bei Th. Bernhard zeigen. Im zweiten Prozess geht es um die Rhetorik zwischen dem Text und den Rezipierenden. Wie ein Werk gelesen werden sollte, können die Produzierenden teilweise steuern, indem sie den Rezipierenden entsprechend Vorgaben machen, ja, die Werke können gar « eine Theorie ihrer eigenen Lektüre enthalten »235, in welche Richtung sich das Verständnis der Lektüre bewegen soll, sei es in Form eines Prologs oder sei es, dass der Text selber die Deutung nahelegt. Solche Elemente des Textverständnisses gibt es bei den hier bearbeitenden Texten von Chr. Lavant nicht, dafür aber bei Th. Bernhard, nämlich in den metatextuellen Passagen, die in seiner fünfbändigen autobiographischen Schrift zahlreich vorhanden sind (bei diesen Passagen von einer Theorie zu sprechen, ist allerdings übertrieben). Wenn bei dem Wechselspiel der Rhetorik zwischen dem Text und den Rezipierenden, um diesen Punkt von Ricœur zu ergänzen, hingegen noch textexternes Material hinzugezogen wird, etwa Briefe, wird es allerdings ebenfalls möglich, die hier thematisierten vier Erzählungen von Chr. Lavant in den Prozess einzubetten. Denn es sind Lavants Briefe, die es erlauben, Einblicke zu erhalten, warum und wie das zu erzählende Material in Gang gesetzt wurde. Beim dritten Prozess geht es um die Antwort der Rezipierenden auf den Text, die bei Chr. Lavant und Th. Bernhard unterschiedlich ausfallen wird. Diese Antwort steht vor drei Herausforderungen, die Ricœur « dialektale Aspekte »236 des Lesens nennt. Beim ersten Aspekt geht es um die Erwartung der Rezipierenden an eine Konfiguration des Dargestellten und darum, dass die Lektüre eine Suche nach Kohärenz darstellt. Da sowohl die Konfiguration als auch die Suche nach Kohärenz sich in den modernen Romanen als schwer, wenn nicht gar als eine Unmöglichkeit darstellt (Ricœur zitiert an dieser Stelle Joyces Ulysses), zeigt, dass die Rezipierenden zwischen Konfiguration und fehlender Konfiguration sowie zwischen Kohärenzsuche und fehlender Kohärenz oszillieren. Auf den Punkt gebracht, wie Ricœur anhand von Northrop Frye ausführt, wird die Lektüre « zu einem Picknick, zu dem der Autor die Worte und der Leser die Bedeutung mitbringt »237. Zudem weist die Lektüre insofern 234 Ebd.; 265. 235 Ebd. 236 Ebd.; 274. 237 Ebd.
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einen dialektischen Aspekt auf, weil nicht nur « ein […] Mangel an Bestimmtheit, sondern zugleich ein […] Überschuss an Sinn »238 in ihr vorliegt. So können die Rezipierenden zwischen einer Fülle an Interpretationsaspekten eines Werkes wählen oder von der Lektüre nur « eine [einzige] Vorstellung gewinnen »239. Schliesslich besteht der dritte Aspekt, wieder dialektisch, darin, das Unvertraute auf der einen Seite vertraut zu machen, auf der anderen Seite geht es darum, eine « Strategie des Unvertrautmachens »240 zu praktizieren. Wenn nun in Kapitel 5 und 7 die ethische Dimension des autobiographischen Schreibens untersucht wird, gilt es neben der Präfiguration, Konfiguration und der Refiguration zusätzlich diese drei Prozesse im Spezifischen der Refiguration mitzuberücksichtigen. So wird es möglich, der anspruchsvollen Komplizenschaft zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden auch gerecht zu werden. Um die Komplizenschaft abzuschliessen, gilt es auf zwei Gefahren respektive Schwierigkeiten, die vor allem auf der produzierenden Seite mit diesem Spiel verbunden sind, hinzuweisen (auch sie gehen auf Ricœur zurück).241 Die eine Gefahr besteht in der Selbsttäuschung, das heisst, das präfigurierende Subjekt projiziert ein trügerisches Bild von sich selber.242 Wenn allerdings Davidsons Konzeption der irrationalen Phänomene hinzugezogen wird, sollte nicht nur die Selbsttäuschung, sondern es sollten ebenso die Willensschwäche, der Selbstbetrug und die Fehlschlüsse bei dieser Gefahr mitberücksichtigt werden, denn auch diese Phänomene erschweren eine Refiguration.243 Bei der zweiten Gefahr ist die produzierende Seite dem Konflikt mit verschiedenen Identifikationsmodellen ausgesetzt, einem Konflikt, der dazu führt, sich selber im Gewirr von Angeboten zu verlieren, und so verpasst sie es, das präfigurierende Moment anzugeben (weil die Absichten und die Ziele von Handlungen unerkannt bleiben), oder die Konfiguration ist aufgrund der Fülle an Angeboten nicht imstande, vermittelnd zwischen Konkordanz und Diskonkordanz zu treten. Dieser Konflikt 238 Ebd. 239 Ebd. 240 Ebd.; 275. 241 Weitere Schwierigkeiten werden vor allem in Kapitel 8 und 9 ausgeführt. 242 Ricœur verweist an dieser Stelle auf den Roman Madame Bovary von Gustave Flaubert. Er bezieht sich auf die Protagonistin, die aufgrund ihrer Projektionen beim Gegenüber (vor allem Rudolpho, später dann Léon) sich stets in Situationen vorfindet, die sie immer weniger zu kontrollieren vermag (vgl. dazu : Ricœur, Paul : Narrative Identität. In : Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999) von Paul Ricœur. Übersetzt und herausgegeben von Peter Welsen. 2005 ; 223 f ). 243 Für die Differenzierung dieser Begriffe vgl. dazu : Davidson, Donald : Problems of Rationality. 2004 ; 213–230.
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kann sich so äussern, wie es einer Schilderung Heinrich von Kleists mit seinem Spaziergangsgefährten passiert ist, in der Christa Wolf Kleist und Karoline von Günderrode in der Erzählung Kein Ort. Nirgends begegnen lässt. Kleist greift dabei auf ein Erlebnis mit dem Hund von Georg Christian Wedekind, jenem Arzt, bei dem sich (auch der reale) Kleist gesundpflegen liess, zurück. Kleist hatte, als er bei Wedekind wohnte, die Gewohnheit, auf seinen Spaziergängen diesen Hund mitzunehmen. Einmal pfiffen Kleist, der sich am Hoftor befand, und die Frau von Wedekind, die in der Küche stand, gleichzeitig nach dem Hund. Nun sei der Hund zwischen Küchenfenster und Hoftor hin- und hergelaufen, er sei « offenbar von diesem Konflikt überwältigt worden », er « habe sich genau in die Mitte zwischen des Hofrats Frau und Kleist gelegt und sei auf der Stelle eingeschlafen »244. Auch wenn die Konflikte der Menschen im Konkreten anders beschaffen sind, zum Beispiel im Zusammenhang von Identifikationsmodellen (berufliches Engagement oder Familie), der Mechanismus des Hin- und Hergerissenseins zwischen den Angeboten respektive den Herausforderungen ist uns vertraut. Beiden Gefahren (dem Phänomen der Irrationalität sowie dem Aspekt der verschiedenen Identifikationspotentiale) ist gemeinsam, um auf Butler zurückzugreifen, dass die Begegnung zwischen Ich und Du (zusätzlich) gestört wird, und es droht auf der produzierenden Seite das Gegenteil, was angestrebt war, nämlich das Ich wird nicht erkannt, sondern verfehlt. 2.6 Das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis Dort, wo es möglich ist, bestünde der einfachste Umgang mit dem Leiden darin, es gar nicht erst zuzulassen. So gelte es, Präventionsmassnahmen zu ergreifen, analog zu Lawinenschutzbauten. Der Fotograph Kaspar Thalmann hat in seinem Band mit dem Titel Oder das Tal aufgeben. Die Lawinenschutzbauten von St Antönien solche Bauten zusammengetragen.245 Um das Leiden zu minimieren, hat der Mensch im Verlaufe der Kulturgeschichte, wie in Kapitel 2.3.1 ausgeführt wurde, zahllose Lawinenverbauungen errichtet. Eine zweite Parallele zu den von Thalmann fotografierten Lawinenschutzbauten kann die Ausführungen in Kapitel 2.3.2 genannt werden : Die Menschen sind hinsichtlich der äusseren 244 Wolf, Christa : Kein Ort. Nirgends. 2006 ; 55. Anstelle des Hundes von Wedekind könnte an dieser Stelle auch auf Buridans Esel Bezug genommen werden. 245 Thalmann, Kaspar : Oder das Tal aufgeben. Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien. 2015.
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wie auch der inneren Gefahren in der Lage, aus Leidenserfahrungen zu lernen, wie auch das folgende Zitat des Forstingenieurs und Gebirgstopographen Joann Coaz (1822–1918) belegt : Lawinenverbaute älterer Zeit waren abwehrender Natur, man liess den Feind an sich herankommen, und erst vor dem Haus oder Stall suchte man seinen Angriff zurückzuschlagen. Endlich ging man radikaler vor, man begab sich an den Ursprung der Lawinen und verhinderte wenn möglich ihren Ausbruch.246
Bei dieser Präventionsarbeit gibt es Wege, die vielleicht auf den ersten Blick attraktiv scheinen, etwa die Flucht in eine Neurose ; dann gibt es Möglichkeiten, auf die Aristoteles verwies, nämlich sich in das Studium der Natur zu vertiefen, weil es « unermessliche Freuden »247 bereite und es dadurch auch helfen könne, über die eigene Begrenztheit hinwegzusehen.248 Wie in Kapitel 2.4.1 ausgeführt wurde, besteht ein weiterer Weg darin, sich möglichst gut in sich selber auszukennen. Auf diesem Weg haben wir wichtige Verbündete, die Philosophie und die Literatur, die uns helfen, nicht nur uns selber besser zu erkennen, sondern uns aufzeigen, wie ein Umgang mit Leidenserfahrungen aussehen kann. Im Folgenden soll nun fokussierter untersucht werden, inwiefern es möglich ist, im Zusammenhang der Philosophie und Literatur gar von einem therapeutischen Potential zu sprechen, das menschliche Leiden zu minimieren. Vorgängig gilt es, vier allgemeine Bemerkungen zu formulieren, die sowohl die Philosophie als auch die Literatur in diesem Zusammenhang betreffen. Erstens muss geklärt werden, was überhaupt mit Therapie gemeint ist. Therapie wird als eine Form verstanden, die es ermöglicht, menschliches Leiden zu minimieren mit dem Ziel, dem einzelnen Menschen zur grösstmöglichen Autonomie zu verhelfen. Zweitens stellt sich die Frage, was genau therapiert werden soll. Im Zentrum des folgenden therapeutischen Verständnisses steht nicht, wie bei Nietzsche, das ganze Leben, welches einer Therapie bedarf, im Fokus, sondern es sind einzelne oder kombinierte Leidensformen.249 Dank der Fokussierung auf die zweite Lesart ist es möglich, nicht dogmatisch zu werden und so keine Heilsversprechungen 246 Ebd.; 83. 247 Aristoteles : Über die Teile der Lebewesen. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Kullmann. Band 17. Zoologische Schriften II. Teil 1. 2008 ; 645a. 248 Mit Freud kann diese Überlegung von Aristoteles mit einem Begriff zusammengefasst werden, nämlich mit Sublimierung. 249 Nietzsche, Friedrich : Die fröhliche Wissenschaft ; Wir Furchtlosen. Mit Nachworten von Claus-Artur Scheier. 2013 ; 218 f.
Das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis
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äussern zu müssen. Dafür ist weder die Philosophie noch die Literatur zuständig. Zu diesem Was kommt Folgendes hinzu : Auch wenn es Überschneidungen gibt, wie sich noch zeigen wird, es bleibt die primäre Aufgabe der Medizin, der Psychologie und ihrer angrenzenden Wissenschaften, Menschen mit Krankheiten und Schmerzen zu therapieren. Der Spielraum, der für die Philosophie und für die Literatur in diesem therapeutischen Kontext besteht, hängt mit dem Gedanken von Morris (vgl. Kapitel 2.2.2) zusammen, nämlich, dass das durch den Schmerz ausgelöste Leiden neben einem primären medizinischen auch noch einen persönlichen und einen sozialen Kontext hat. Und in diesem persönlichen und sozialen Kontext können die Philosophie und die Literatur in verschiedener Hinsicht, wie es sich zeigen wird, eine wichtige (therapeutische) Funktion einnehmen. Es geht also nicht darum, Knochenbrüche oder Depressionen mithilfe von Philosophie und Literatur zu heilen, sondern es soll aufgezeigt werden, welchen Beitrag die Philosophie respektive die Literatur zu leisten in der Lage ist, auf ein autonomes Leben hinzuarbeiten, gerade im Umgang mit dem Erzählen von (leidensvollem) autobiographischem Material. Drittens ist der zentrale Vorläufer des hier zugrunde liegenden therapeutischen Verständnisses zu nennen, nämlich Freud. Freud therapierte seine Patientinnen und Patienten mit der sogenannten « Seelenbehandlung »250. Die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen dem therapeutischen Verständnis von Freud und jenem, von dem hier ausgegangen wird, besteht in dem Angewiesensein auf das Wort. Wie Freud ausführt, steht bei ihm « vor allem das Wort »251 im Zentrum, denn es seien die Worte, die « das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung »252 darstellten. Freud fügt an, dass es sich dabei allerdings nicht um etwas Neues handle, was er in seiner Heilkunde eingeführt hat, um Krankheit zu therapieren, sondern, mit dem Verweis auf die Zauber- oder die Orakelsprüche, um eine sehr alte Technik.253 Als Beleg für die These Freuds kann der Merseburger Zauberspruch zitiert werden, welcher im 10. Jahrhundert im Kloster Fulda schriftlich festgehalten wurde.254 Gleich wie bei gewissen Kinderliedern (etwa jenem bekannten « Heile heile säge ») wird mithilfe von Sprache versucht, die Schmerzen (hier des verrenkten Fusses des
250 Freud, Sigmund : Schriften zur Behandlungstechnik. Hrsg. von Alexander Mitscherlich et al. Studienausgabe. 1975 ; 17. 251 Ebd. 252 Ebd. 253 Ebd.; 26. 254 Lutz, Bernd : Mittelalterliche Literatur. In : Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Auflage. Hrsg. von Wolfgang Beutin et al. 2013 ; 9 f.
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Fohlens) zu mildern und die Heilung voranzutreiben, indem auf Stabreime, auf Endreime oder auf Anaphern zurückgegriffen wird. Fol und Wodan zum Walde ritten, Da ward dem Fohlen Balders sein Fuss verrenkt. Da besprach ihn Sinthgunt, der Sunna Schwester, Da besprach ihn Frija, der Volla Schwester, Da besprach ihn Wodan, wie er’s wohl konnte : Wie die Beinrenke, so die Blutrenke, So die Gliedrenke : Bein zu Beine, Blut zu Blute, Glied zu Gliede, als sei’n sie geleimt !255
Der Sprache wird zugetraut, sie sei in der Lage, auf die materielle Welt Einfluss zu nehmen.256 Dahinter verbirgt sich die Idee, die Sprache solle nicht nur einen positiven Einfluss auf die Psyche, sondern eben gar auf die gebrochenen Knochen oder Wunden und somit auf die Physis haben. Auf dieser Erfahrung der Reichweite der Sprache basiert auch die « Redekur » Freuds, die, wie Hampe nachweist, einen weiteren Vorläufer bei den maieutischen Gesprächen des Sokrates und bei der platonischen Idee, « dass das Gespräch eine Wiedererinnerung bewirken könne »257, hat.258 Doch während ein Teilziel der Therapie Freuds darin besteht, das Verdrängte in Worte zu fassen, geht es beim therapeutischen Philosophie- und Literaturverständnis eben darum, den persönlichen und sozialen Kontext des Leidens zu thematisieren und den Raum des Unbedingten zu erweitern. Viertens muss auch im therapeutischen Kontext, wenn auf die Philosophie oder auf die Literatur Bezug genommen wird, zwischen den Produzierenden und Rezipierenden unterschieden werden. Diese Differenzierung ist deshalb wichtig, weil aus beiden Perspektiven ein therapeutisches Potential beschrieben werden kann, das heisst, sowohl beim Erzählen als auch beim Rezipieren ist Heilung möglich.259 Ausgehend von diesen Überlegungen wird im Folgenden zuerst das 255 Echtermeyer : Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neugestaltet von Benno von Wiese. 1966 ; 26. 256 Doch nicht alle sind dieser Heilskräfte mächtig, denn die Versuche von Sinthgunt und von Frija misslingen, erst als Wodan spricht, wird Heilung möglich. 257 Hampe, Michael : Psychoanalyse als antike Philosophie : Stanley Cavells Freud. In : Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 2. Auf der Suche nach der eigenen Stimme. 2005 ; 105. 258 Ebd. 259 Vgl. zum Verhältnis zwischen Produzierenden und Rezipierenden das Kapitel 2.5.
Das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis
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therapeutische Verständnis der Philosophie, im Anschluss jenes der Literatur ausgearbeitet. 2.6.1 Therapeutisches Verständnis der Philosophie
Es war Aristophanes in seinem Drama Die Wolken, der auf die überhöhte Bedeutung der Philosophie für das tägliche Leben hinwies, indem er Sokrates als Figur darstellt, welche mit bohrenden Fragen den normalen Verstand des Gegenübers unnötigerweise verwirrt. So erzählt ein Schüler Sokrates, wie sein Lehrer auf besonders « schlaue Weise » darlegte, wie weit ein Floh springen könne, nämlich indem die Füsse der Flöhe in das Wachs eingetaucht, nach dem Sprung die « persischen Stiefel » abgelöst und im Anschluss die Entfernung gemessen würde.260 Auch wenn diese Art der Erkenntnisgewinnung empirischer und nicht philosophischer Natur ist, stellt sie eine Parodie auf die von Sokrates gewonnene Einsicht dar, unterstützt durch die ironischen Brechungen weiterer Figuren, etwa von Strepsiades, der in seiner Not die « Denkerbude », in der Sokrates lebt, aufsucht und auf Sokrates Erkenntnis mit Staunen reagiert, als er sagt « O König Zeus, welche Subtilität des Geistes ! »261. Auf der anderen Seite gab es seit der Antike zahlreiche Philosophen, die überzeugt waren, die Philosophie sei in der Lage, den Menschen dabei zu unterstützen, ein gutes Leben zu führen, eines, das mit möglichst wenigen Leidensquellen auskomme, und so könne der Philosophie ein therapeutisches Potential zugesprochen werden, ja, gar müsse, wie Epikur es formulierte, denn die Philosophie habe nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie das Leiden der Seele vertreibe, ansonsten sei « die Rede jenes Philosophen leer »262. Bruno Contestabile, der für das an der ETH Zürich angesiedelte Programm Socethics (Zusammenschluss von Sokrates und Ethik)263 verantwortlich ist, hält fest, dass das Ziel eines therapeutischen Philosophieverständnisses darin liege, Menschen von Leiden zu heilen oder zumindest das Leiden zu minimieren.264 Wie Contestabile weiter ausführt, gibt es zahlreiche Ursprünge für ein solches Verständnis von Philosophie, so etwa die bereits erwähnte griechische (u. a. Sokrates und Epikur) und römische (u. a. Seneca) Antike. Diese Ursprünge können noch weiter zurückverfolgt werden, etwa im alten 260 Aristophanes : Die Wolke. Übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. 2014 ; 13. 261 Ebd. 262 Epikur : Epicurea. Hrsg. von Hermannus Usener. 1966 ; 221. 263 Contestabile, Bruno : Philosophy as Therapy – Beyond the Medical Model. 2017. 264 Zur Differenz zwischen Philosophie und Psychotherapie vgl. dazu : Renz, Ursula : Philosophie als ‹medicina mentis› ? In : Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 2010 (58) ; 23.
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Indien und im Mittleren Osten, also in Regionen, von denen wichtige Impulse für die griechische und römische Antike ausgingen.265 Contestabile führt weiter aus, der Therapiebegriff könne nicht nur auf einzelne Menschen oder auf Gruppen von Menschen, sondern auch auf eine ganze Kultur angewendet werden, eine Perspektive, die sicher auch Platon oder Aristoteles im Fokus hatten, denn sie bezogen stets die Polis als Ganzes in ihren Überlegungen mit ein.266 Wie die Philosophiegeschichte zeigt, gab es über die Antike hinaus zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder Bestrebungen, die Philosophie explizit an das Leben zu binden, von Anicius M. S. Boethius zu Baruch de Spinoza über Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Friedrich Nietzsche bis hin zu Ludwig Wittgenstein. Auch heute arbeiten Philosophinnen und Philosophen das therapeutische Potential aus. Dabei greifen sie auf verschiedene Methoden zurück, die sich hinsichtlich der Qualität stark unterscheiden ; auf der einen Seite mit hohem wissenschaftlichem Anspruch, auf der anderen Seite durch Ausführungen, die der Populärwissenschaft zugeordnet werden können. Ausgehend von Lou Marinoff soll im Folgenden etwas ausführlicher dargelegt werden, wo die Grenzen eines philosophischen therapeutischen Ansatzes liegen.267 In einem zweiten Schritt werden anhand von Pierre Hadot und Michael Hampe Wege dargelegt, wie es möglich ist, die Philosophie, in einem therapeutischen Sinne verstanden, an den Lebensalltag der Menschen zurückzubinden, ohne Einbussen hinsichtlich inhaltlicher Qualität und ohne dass das in Kapitel 2.1 ausgeführte Philosophieverständnis unnötigerweise strapaziert wird. Der Philosoph Marinoff preist die Philosophie als « Medizin für die Seele », wie es in seinem Buch « Bei Sokrates auf der Couch »268 im Untertitel heisst. Im ersten Kapitel legt er dar, es gehe bei ihm darum, « die eigene Philosophie »269 zu finden. Er grenzt sich von der Psychotherapie dadurch ab und weist darauf hin, dass das, was die Philosophie in diesem Kontext anzubieten habe, nur für gesunde Menschen gedacht sei. An einem Modell, welches er als « PEACE-Prozess »270 265 Contestabile, Bruno : Philosophy as Therapy – Beyond the Medical Model. 2017 ; 3 f. 266 Ebd.; 7 267 Auch wenn Alain de Bottons Buch Trost der Philosophie. Eine Gebrauchsanweisung mit den Quellen der von ihm zitierten Philosophien etwas sorgfältiger als Marinoff umgeht, hätte auch an dieser Stelle dieses Buch als Beispiel herangezogen werden können (vgl. dazu : De Botton, Alain : Trost der Philosophie. Eine Gebrauchsanweisung. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. 2004). 268 Marinoff, Lou : Bei Sokrates auf der Couch. Philosophie als Medizin für die Seele. Aus dem Englischen von Axel Monte und Hubert Pfau. 2002. 269 Ebd.; 17. Um es weniger pathetisch und auch präziser zu formulieren (im Sinne von Cavell), geht es darum, die eigene Stimme zu finden. 270 Dieses Modell besteht aus fünf Schritten, mit denen Marinoff in der philosophischen Beratung
Das therapeutische Philosophie- und Literaturverständnis
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bezeichnet, zeigt er auf, wie die Philosophie auf das menschliche Leben in einem positiven Sinne einwirken könne, jedoch räumt er ein, keinen wissenschaftlichen Anspruch zu erheben, denn die « philosophische Beratung ist eher Kunst als Wissenschaft und verläuft bei jedem einzelnen in einzigartiger Form »271. Der Hauptteil seines Werkes besteht darin, dass er an konkreten Lebenssituationen aufzeigt, zum Beispiel bei Problemen am Arbeitsplatz, bei Familienkonflikten oder beim Beenden von Beziehungen, wie die Philosophie mithilfe des « PEACE-Prozesses » weiterhelfen könne. Dabei greift er auf zahlreiche Zitate von Philosophen zurück und überwindet in Kürze grosse zeitliche und räumliche Distanzen. So bezieht er sich auf die Bhagavadgita, auf Laotse, auf Mark Aurel, auf Jean-Jacques Rousseau oder auf Henry David Thoreau.272 Als Leser fühlt man sich angesichts der willkürlich scheinenden Auswahl von Philosophen in einem Supermarkt der Ideen, in dem man sich je nach Leiden respektive je nach Rezeptur bedienen kann, ohne darauf achten zu müssen, woher die Ideen kommen und in welchem Kontext sie eingebettet waren. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit : Es ist auch nicht klar, warum Marinoff überhaupt diese Philosophen braucht, wenn er am Ende seiner Ausführungen meint : « Sie können sich Zeit und Ärger sparen, indem Sie Verstand und Erfahrung benutzen, um Ihren eigenen Weg zu finden. »273 Um zu einer solchen Schlussfolgerung zu kommen, ist es nicht nötig, auf die Philosophiegeschichte zurückzugreifen. So darf stark bezweifelt werden, ob er mit seinem Vorgehen den von ihm formulierten Anspruch, Menschen ohne Pille zu therapieren, wie es auf dem Buchdeckel steht, zu erfüllen vermag. Die Intention von Marinoff kippt in die andere Richtung : Statt dass die Philosophen dem Menschen helfen, stellen sie eher eine Behinderung dar. Die von ihm zitierten Philosophen werden als Autoritätsargumente missbraucht und stehen im Widerspruch zum Therapieziel, nämlich dem Menschen zur Autonomie zu verhelfen. Der Philosoph und Historiker Pierre Hadot, der für Foucault ein geschätzter Lehrer war und ihm wichtige Impulse für seine Studien der Antike gab, hat in mehreren Büchern die Wirkungsweise der Philosophie im Alltag der Menschen untersucht. Wie Marinoff geht auch er von den griechischen und römischen antiken Philosophen aus, auch er greift auf die bekannten Protagonisten zurück, Probleme zu lösen versucht : « Problem, Emotion, Analyse, Contemplation oder Betrachtung und Equilibrium oder seelisches Gleichgewicht » (ebd.; 51). 271 Ebd. 272 Vgl. dazu : ebd.; 161–179. 273 Ebd.; 166.
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so auf Sokrates, Platon, Aristoteles, auf die hellenistischen Schulen sowie die philosophischen Schulen der Kaiserzeit, um dann die Ausläufer antiken Denkens im Mittelalter und in der Neuzeit darzulegen (es werden wie bei Marinoff ausschliesslich Männer genannt).274 Ein wichtiges Bestreben, ohne die analytische Philosophie zu leugnen, besteht für Hadot darin, die Idee der Philosophie als Lebensform in der heutigen Zeit wieder zu aktualisieren. Es geht für Hadot darum, die Philosophie (zumindest teilweise) von der Universität zu emanzipieren, denn die zeitgenössische Philosophie stelle « doch vor allem einen Diskurs dar, den man in den Lehrveranstaltungen entwickelt und in Büchern verzeichnet »275. Es könne für die Philosophie nicht darum gehen, eine Wissenschaft für Spezialistinnen und Spezialisten zu sein, sie dürfe sich nicht immer weiter davon entfernen, was eigentlich ihr zentrales Bestreben war, nämlich den Menschen dabei behilflich zu sein, anzugeben, worin ein gutes Leben bestünde. Somit sollte die Philosophie wieder weg aus den universitären Seminaren hinaus zu den Menschen führen, denn « sie [gemeint ist die Philosophie] ist eine Aufforderung an jeden Menschen, sich selbst umzuformen. Die Philosophie bedeutet Umkehr, Transformation der Seinsweise und Lebensweise, Suche nach Weisheit. »276 Um diesen Anspruch erfüllen zu können, sei es notwendig, den Fokus wieder auf die Ursprünge der Philosophie zu richten, also auf die Lehren der antiken Philosophie. Hadots Bestreben unterscheidet sich von Marinoffs. Der grosse Unterschied besteht in der Zielsetzung und in der Methode. Während Marinoff, ausgehend von konkreten Leidensquellen, den Menschen Hilfe aus der Philosophen-Apotheke verabreicht, lässt Hadot diese konkrete Umsetzung weg und überträgt die Verantwortung für diesen Schritt den Rezipierenden. Zweitens führt er die philosophischen Theorien mit wissenschaftlicher Genauigkeit aus, was es ermöglicht, seine Quellen und seine Ausführungen entsprechend einzubetten.277
274 Auch könnte an dieser Stelle Nussbaum als prominentes Beispiel aufgeführt werden. Ihr Buch Therapy of Desire greift auf die hellenistischen Schulen zurück, um darzulegen, inwiefern diese Schulen in der Lage sind, menschliches Leiden zu lindern, so etwa « the fear of death, love, and sexuality, anger and aggression » (Nussbaum, Martha C.: The Therapy of Desire. 1994 ; 3 f ). 275 Hadot, Pierre : Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Aus dem Französischen von Ilsetraut Hadot und Christiane Marsch. 1991 ; 172. 276 Ebd.; 176. 277 Auf diese Bedeutung weist Hadot explizit hin, wenn er schreibt : « Ausserdem darf man niemals vergessen, die Werke der antiken Philosophen im Zusammenhang mit dem Leben der Schule, der sie angehören, zu sehen. » (ebd.; 314).
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Wie bereits in Kapitel 2.1.1 erwähnt, ist auch Hampe seit Jahren darum bemüht, die Philosophie wieder zurück ins Leben zu integrieren. Es geht ihm im Konkreten darum, den Menschen Wege aufzuzeigen, wie sie die « semantische Autonomie »278, wie er sie nennt, erreichen können, eine Autonomie, bei der das Subjekt in seinem Wahrnehmen, Denken und Handeln die Selbstständigkeit anstrebt, zu der niemand anders ihm verhelfen könne.279 Semantisch ist diese Autonomie insofern, dass wir dabei vor allem auf die Sprache angewiesen sind, mit der wir bestimmte Begriffe aufnehmen und dadurch Differenzierungen einführen oder andere fallenlassen. Zu der begrifflichen Ebene kommt für Hampe die entscheidende Fähigkeit des Menschen, auf die Erzählung zurückgreifen zu können (ein Aspekt, der in Kapitel 3 wichtig sein wird), weshalb auch aus dieser Perspektive der Sprache entsprechend grosser Raum zukommt.280 Das Ziel der semantischen Autonomie ist deshalb erstrebenswert, weil wir so in die Lage kommen, genauer anzugeben, was wir warum wollen oder, was manchmal noch wichtiger ist, warum wir etwas nicht wollen – es geht also auch um die Selbsterkenntnis. Um an dieser Autonomie zu arbeiten, sind wir nicht alleine. Ebenfalls Hampe greift auf Schriften aus der Philosophiegeschichte zurück, die uns bei der Erreichung dieses Ziels unterstützt. Zentral für Hampe ist allerdings, diese Denker nicht in der erwähnten dogmatischen Philosophie zu suchen, also bei den « Sprechautomaten »281, die « die Begriffe nicht als Instrumente der Erkenntnis »282 verwenden, sondern, um den anderen « fröhlich zuzuwinken oder zu drohen »283. Deshalb sollen antidogmatische Philosophinnen und Philosophen beigezogen werden, die uns dazu verhelfen, uns selber auf den Weg zu machen, um so das Ziel der semantischen Autonomie zu erreichen.284 Wie Hadot greift Hampe auf antike Verbündete zurück, vor allem auf Sokrates, auf den er im 278 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 368. 279 Vgl. dazu auch Angehrns Konzeption der « radikalen Reflexivität » in Kapitel 2.3. 280 Vgl. dazu das Kapitel 10 in Die Lehren der Philosophie von Hampe (Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 291–337). Auch in der sprachlichen Fokussierung auf die Autonomie deckt sich Hampes Position mit jener des späten Wittgensteins, wenn Wittgenstein in der PU schreibt : « Uns interessiert der Begriff und seine Stellung in den Erfahrungsbegriffen » (Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchung. In : Werkausgabe Band I. Hrsg. von Joachim Schulte. 2006 ; 518). 281 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 454. 282 Ebd. 283 Ebd. 284 Diese Rückbindung an das Leben stellt für Hampe eine wichtige Möglichkeit dar, um dem beklagten Relevanzverlust der Philosophie etwas entgegenzuhalten (vgl. dazu : Hampe, Michael : Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus. 2006 ; 11–22).
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zweiten Kapitel seiner Lehre der Philosophie ausführlich eingeht. Das Therapeutische der sokratischen Philosophie besteht darin, sich weder den Trieben (wie die Kynikern) noch der Illusion der doktrinären Glaubenssätze (wie die Sophisten) hinzugeben, sondern sich kritisch und somit reflektierend um das Wohl der eigenen Seele, aber auch um das Wohlbefinden der anderen zu kümmern. Die Qualität von Hampe (wie von Hadot) zeigt sich darin, das Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis überbrücken zu wollen, indem sie mit wissenschaftlichem Anspruch versuchen, auf das therapeutische Potential der Philosophie hinzuarbeiten, ohne allerdings konkrete Vorschläge zur Lösung von Alltagsproblemen anzubieten. Obwohl dem Einzelnen viel zugemutet wird bei der Anwendung ihrer Konzeption, ein anderer Weg kommt nicht infrage, denn, wie in Kapitel 2.3.1 erwähnt, kann uns die Verantwortung für das eigene Leben niemand abnehmen, auch wenn wir es manchmal wünschen, sie zu delegieren. Die Philosophie ist kein metaphysisches Ersatzprogramm, wie das zumindest in Teilen bei Marinoff unterstellt werden kann, die Philosophie stiftet an sich keinen Sinn ; sie dekonstruiert, stellt Fragen, führt Differenzierungen aus ; die Philosophie macht das Leben nicht einfacher, aber reicher. Weiter stellt sich die Frage, sofern das Ziel, den Menschen zu mehr Autonomie zu verhelfen, nicht ausser Acht gelassen werden soll, welche Rolle dabei der empirische Beleg der Wirkungsweise eines solchen Philosophieverständnisses spielen soll. Wie ausgeführt wurde, wäre und ist es bei Marinoff möglich, aufgrund der konkreten Anwendung von philosophischen Lehren auf Alltagsbeispiele, diesen Nachweis zu erbringen. Bei Hadot und bei Hampe kommt diese Art von Rechtfertigung ihrer Lehre auch deshalb nicht infrage, da sie auf wissenschaftlichem Niveau Philosophie betreiben und sich dadurch von Nachbardisziplinen, etwa der Psychologie, klar abgrenzen. Die Spannung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der Suche nach der Nähe zu den Rezipierenden ist auch deshalb schwierig aufzulösen, da, wie Cavell ausführt, die Philosophie « in ganz besonderem hohem Masse unsicher [ist], wessen Interesse sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu fesseln sucht »285. Ist es die Wissenschaft, die kein grösseres Publikum kennt, da sich mit ihr vor allem jene beschäftigen, welche in diesem Bereich auch arbeiten, oder ist es in diesem Fall die sogenannte Populärwissenschaft bis hin zur Kunst, die zwar ein grosses Publikum erreicht, allerdings von der Wissenschaft nicht als primäre Erkenntnisquelle zugelassen ist ? Vielleicht mag diese Spannung ein Mitgrund sein, weshalb Philosophinnen und 285 Cavell, Stanley : Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie. Aus dem Amerikanischen von Anje Korsmeier. 2002 ; 27.
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Philosophen, die in der Theorie eine Anbindung ans Leben suchen und in der Literatur die entsprechende Ausführung vollziehen (man denke dabei an die im gleichen Kontext in Kapitel 2.1.3 erwähnten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre). Denn dank der klaren Trennung zwischen Philosophie als Wissenschaft auf der einen und der Literatur auf der anderen Seite wird eine Vermischung von verschiedenen Ansprüchen, wie dies Marinoff tut, vermieden. 2.6.2 Therapeutisches Verständnis der Literatur
In der Inszenierung der Die Dreigroschenoper von Dani Levy, die am 8. Februar 2018 am Theater Basel Premiere feierte, führte der Regisseur zu Beginn des Stückes eine Rahmenhandlung ein. In dieser Rahmenhandlung befand sich das Publikum mitten in einem « Kongress für humane Psychiatrie ». Die Klinikleiterin und der Chefarzt erklärten, sie würden in ihrer Klinik einen neuen Ansatz verfolgen, um schwer erkrankte Kapitalisten zu heilen, mit offenbar grossem Erfolg. Der therapeutische Ansatz bestand darin, dass die Patientinnen und Patienten Die Dreigroschenoper spielen sollten. Dieses von Levy inszenierte Prinzip funktioniert dem Konzept nach gleich wie das Buch von Ella Berthoud und Susan Elderkin mit dem Titel The Novel Cure. An A-Z of Literary Remedies ; einfach kann bei Levy die konkrete Umsetzung auf der Bühne nachvollzogen werden. Berthoud und Elderkin zeigen auf, wie sich Menschen mit bestimmten Leiden dank der Literatur heilen können. So etwa wird Menschen, die wegen « age gap between lovers » leiden, der Roman A Short History of Tractors in Ukrainian von Marina Lewycka empfohlen oder, wenn jemand seine Nase unausstehlich findet, ist es möglich, Hilfe von dieser geistigen Apotheke zu erhalten (in diesem Fall empfehlen die Autorinnen Das Parfum von Patrick Süskind).286 Die Idee von Berhoud und Elderkin ist eine alte, die sich bis ins alte Ägypten zurückverfolgen lässt, nämlich die Literatur besitze eine Heilkraft.287 Mit Blick auf die Rezipierenden hält Hubert Herkommer weiter fest, die Menschen hätten bis ins 18. Jahrhundert das Bücherlesen ebenfalls als einen körperlichen Vorgang betrachtet, indem die Texte auf und abschreitend laut vorgelesen wurden.288 Diese 286 Im St. Galler Volksmund wird die Klosterbibliothek als « Seelenapotheke » bezeichnet (vgl. dazu : Herkommer, Hubert : Das Buch als Arznei. Von den therapeutischen Wirkungen der Literatur. In : Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Hrsg. von Henriette Herwig et al. 1999 ; 98). 287 Ebd.; 97. 288 Diese Art von Lektüre zeigt sich bei den orthodoxen Juden auch heute noch, wenn sie Texte aus der Tora rezitieren.
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umfassendere Art der Aneignung eines Textes erlaubt es, über den Klang der Sprache den Inhalt bewusster wahrzunehmen und gar zu verkörperlichen. Wie genau diese Art von Bibliotherapie sich auswirkt, kann auch in der Fiktion, anhand von Tristan und Isolde, die in ihrem leidenden Zustand Ovid rezitieren, belegt werden.289 Doch wie ist es möglich, dass Literatur (und in diesem Fall auch die dargestellte) überhaupt in der Lage sein soll, ein therapeutisches Potential zu entfalten ? Um die Frage beantworten zu können, ist es notwendig, den Kontext von Literatur und Therapie auszuführen. Mit Blick auf die Produzierenden wird das therapeutische Potential der Literatur unterschiedlich eingestuft. Auf der einen Seite steht Alfred Döblin, der die Dichter nicht als « Seelsorger » im engeren Sinne versteht, auch wenn ihre Produkte als Medikamente aufgefasst werden können. Doch wofür diese Medikamente hilfreich sein sollen, ist für Döblin nicht klar : Der Dichter ist von Haus aus kein Seelsorger ! Er strömt meist richtungslos und dumpf sein Vermögen aus, das Gestalten, Begebenheiten heraussetzt, hinstellt ; er versieht diese unwirklichen Dinge mit Lockungen, Reizen. Der Seelsorger wird manche Dichter lieben, aber die meisten als irreführend, irregeführt, ja direkt gefährlich und verwirrend ablehnen. Die Erkenntnisse des richtenden Philosophen, – Theologen, Seelsorger, Priesters – sind keine Dichtungen, sondern Einsichten in Weltzusammenhänge und Wahrheiten. Dichtungen rangieren unter die Medikamente, betäuben, lähmen, erfreuen, reizen ; der Dichter steht also auf einer Ebene mit dem Arzt, ist eine Art gewöhnlicher Psychotherapeut. Die meiste Dichtung ist Opium, Alkohol, Kampfer, unter Umständen eine Fahne, man weiss nicht recht, wofür. Seelsorge – die Leistung des Philosophen, Theologen, Religiösen, Priesters – ist klare Führung und Bewegung auf Ziele, die sich aus der Erkenntnis von Weltzusammenhängen ergeben. – Ich kann nicht umhin, am Schluss zu bemerken, dass ich die meisten heutigen « priesterlichen » Seelsorger auch für nichts anderes als gewöhnliche Psychotherapeuten oder Religionsbeamte halte.290
Auf der anderen Seite, und mit Blick auf die Rezipierenden, kann die bereits zitierte Vorlesung von Bieri herangezogen werden, in der er aufzeigt, wie wichtig die Literatur für die Rezipierenden ist, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. 289 Vgl. dazu : Herkommer, Hubert : Das Buch als Arznei. Von den therapeutischen Wirkungen der Literatur. In : Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Hrsg. von Henriette Herwig et al. 1999 ; 91–95. 290 Döblin, Alfred : Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. 1989 ; 212 f.
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Denn auf der rezipierenden Seite gibt es auch in der Literaturgeschichte Verbündete, die uns zu einem solchen Leben verhelfen können. Wie anhand der narrativen Ethik dargelegt wurde (vgl. dazu Kapitel 2.4.2), kann die Literatur aufzeigen, wie wir uns Selbstbestimmung aneignen können, oder, wie es Adolf Muschg formuliert, die Literatur (man müsste die Kunst überhaupt nennen) stelle eine « Befähigung zum eigenen Leben »291 dar. Diese Befähigung kann dadurch erreicht werden, indem wir, um wieder Bieri zu zitieren, uns mit unterschiedlichen Lebensläufen konfrontieren, wir setzen uns mit dem Scheitern und dem Gelingen von Biographien auseinander, erweitern zumindest gedanklich mögliche Handlungen, die wir allenfalls gar in die Realität umsetzen.292 Es wäre für Freud kein Zufall, dass Bieri die Literatur als Verbündete beizieht, da es die Dichter seien, die in der « Seelenkunde » uns Alltagsmenschen weit voraus eilen, da sie « aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben » 293. Schliesslich ist es auch die Literatur, die uns hilft aufzuzeigen, wie wir über uns erzählen können. Das Produzieren von Geschichten stuft Bieri noch höher ein als das Rezipie ren, es ermögliche, « das eigene Leben zu bestimmen und es im Sinne einer klaren Identität zu verändern »294, ja, nachdem man einen Text verfasst habe, sei man nicht mehr derselbe, der man vorher gewesen sei. Bieri, der ja nicht nur Philosophieprofessor war, sondern auch mehrere umfangreiche Romane verfasst hat, kennt diese Art von « Therapie » aus der eigenen Erfahrung. Es sei diese Suche nach Wörtern, die einem dazu verhelfe, die eigene Stimme zu finden. Genauso wie die Lektüre von Texten es ermöglicht, sich mit anderen Welten auseinanderzusetzen, kann man beim Schreiben von solchen Texten sich in Laborbedingungen begeben, um zu untersuchen, wie es ist, in diesem oder jenem Raum, zu dieser oder jener Zeit, diese oder jene Figur zu sein. So etwa zeigt Bieri am Beispiel des Protagonisten Philipp Perlmann in seinem Roman Perlmanns Schweigen, was es bedeutete, die kriminellen Energien an sich selber zu entdecken. Oder, um ein Beispiel auf der formalen Ebene aufzugreifen, verweist Bieri darauf, was es für die Wahrnehmung des Fremden, des Anderen heisst, wenn von einem neutralen Erzähler hin zu einem personalen gewechselt wird, vor allem 291 Muschg, Adolf : Literatur als Therapie ? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen. 1981 ; 203. 292 Bieri, Peter : Wie wollen wir leben ? 2011 ; 24f. Mithilfe der Begrifflichkeit von Ricœur kann dieser Punkt von Bieri der Refiguration zugeschrieben werden. 293 Freud, Sigmund : Der Wahn und die Träume in W. Jensens « Gradiva ». 1999 ; 33. 294 Bieri, Peter : Wie wollen wir leben ? 2011 ; 25.
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bei Figuren, die sich weit weg von der eigenen Lebenswelt befinden.295 Wie man sich diese Suche vorstellen sollte, darüber verrät Bieri nichts, vielleicht deshalb, weil es zu dieser Methode, an der eigenen Selbstbestimmung zu arbeiten, nichts mehr weiter zu sagen gibt. Auch wenn Bieri die Lesenden nicht direkt auffordert, implizit deutet er es mehrmals an : Es gilt, sich selber an die Arbeit zu machen und einen Roman zu schreiben, doch, wie es in Kapitel 7.1.1 anhand des Romans Die Mittellosen von Szilárd Borbély aufgezeigt wird, hat die Forderung von Bieri auch ihre Grenzen. Bieri bezieht sich in den zitierten Vorlesungen vor allem auf fiktive Texte, doch was die Selbsterkenntnis und die Selbstbestimmung betrifft, können ebenso nichtfiktive Textsorten, allen voran Tagebücher, Briefe oder autobiogra phische (Kurz-)Erzählungen, genannt werden.296 Um das therapeutische Potential dieser Textsorten verstehen zu können, ist es wichtig, die drei gesondert zu analysieren, wobei der Brief und das Tagebuch nachfolgend, die autobiographischen Erzählungen dann in Kapitel 4 untersucht werden. Allen drei ist gemeinsam, dass beim Schreiben ein « Aufseher über sich selber »297 fungiert, dass es gegen die Zerstreuung hilft und Vergangenheit schafft sowie, wie es im nächsten Kapitel 3 noch ausführlich belegt wird, eine Subjektivierung durch die Homogenisierung von heterogenem Material ermöglicht.298 Das Schreiben von Briefen stellt im Gegensatz zu Th. Bernhard für Chr. Lavant wegen ihrer geographischen Abgeschiedenheit und ihrer körperlichen und psychischen Verfassung einen wichtigen Platzhalter für die direkte Begegnung dar.299 Dieser Umstand erstaunt nicht, denn Briefe helfen nicht nur gegen die Anachorese, wie Foucault festhält, sondern sie dienen auch dazu, eine Distanz zwischen sich und dem Erfahrenem zu schaffen auf dem Umweg der Erzählung.300 Diese Distanz schafft die Möglichkeit, sich mit den positiven Ereignissen, vor allem aber mit dem erlebten 295 Ebd.; 50. 296 Das Schreiben über sich selber, wie dann in Kapitel 4 noch auszuführen ist, erhielt erst während der römischen Kaiserzeit (27 v. Chr.–284 n. Chr.) eine grössere Bedeutung ; allerdings darf noch nicht mit der gleichen Offenheit und Vollständigkeit über sich selber geschrieben werden wie ab dem 19. Jahrhundert (vgl. dazu : Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. 2003 ; 352). 297 Ebd.; 365 298 Ebd.; 356 f. 299 Vgl. dazu : Moser, Doris und Hafner, Fabjan : Nachworte. In : « Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte » von Christine Lavant. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2014 ; 668. 300 Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. 2003 ; 351.
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Leiden sprachlich auseinanderzusetzen, das Erinnerte festzuhalten, und wie es Bieri formuliert, eine eigene Sprache zu entwickeln, mit dem Ziel, die eigene Stimme zu finden. Foucault weist zwar auf die wichtige Stellung der Innensicht für das Verfassen eines Briefes hin, doch sie darf « nicht als Entschlüsselung des eigenen Selbst […], sondern [muss] als Öffnung gegenüber einem anderen »301 verstanden werden. Es geht also darum, sich vom Ich zum Du zu bewegen. Als Inhalt bietet sich seit jeher das Reden über den Gesundheitszustand sowie das Festhalten der Erlebnisse aus vergangener Zeit an (und hier nähert sich der Brief dem Tagebuch).302 Für die Rezipierenden bietet sich die Möglichkeit, am Gegenüber Anteil zu nehmen und allenfalls auf es zu reagieren. Auch können die Rezipierenden sich wappnen, sollten sie selber einmal in leidensvolle Situationen geraten, ähnlich wie Foucault aus dem Studium des Briefwechsels zwischen Seneca und Lucilius schliesst : « Dank des Schreibens bzw. Lesens dieses Briefes [Foucault bezieht sich hier auf einen Brief in dem Seneca ausführt, warum der Tod kein Unglück sei] werden Seneca und Lucilius sich besser auf den Fall vorbereitet haben, dass ihnen Ähnliches widerfährt. »303 Tagebücher ermöglichen einen direkten, unvermittelten Zugang zu sich selber, da die zeitliche Spanne zum Notierten gering ist. Sie stellen eine Art Protokoll der momentanen Verfassung dar, um sich in Extremsituationen zu orientieren, sei es bei Krankheit (z. B. Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur304), bei Tod (z. B. Roland Barthes Tagebuch der Trauer305), bei Verfolgung (z. B. Das Tagebuch der Anne Frank) oder bei Krieg (z. B. Polina Scherebzowa Polinas Tagebuch306). Doch Tagebücher (oder 301 Ebd.; 362. Chr. Lavant widerspricht dieser These von Foucault, wie es sich in Kapitel 6.1 zeigen wird. 302 Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. 2003 ; 363–365. 303 Ebd.; 360. 304 Inwiefern ein Blog als ein modernes Tagebuch aufgefasst werden kann, wird an dieser Stelle nicht vertieft. 305 Barthes führt in seinem Tagebuch der Trauer aus, wie wichtig das Schreiben ist, nicht nur, um wieder zur Sprache zu kommen, sondern auch, um sich gegen den Schmerz des Vergessens zu wehren, wenn er schreibt : « Schreiben, um sich zu erinnern ? Nicht um mich zu erinnern, sondern um den Schmerz des Vergessens zu bekämpfen, insofern er sich absolut ankündigt. Das, was – bald – ‹spurlos verschwunden›, nirgendwo, bei niemandem mehr ist. » (Barthes, Roland : Das Tagebuch der Trauer. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. 2009 ; 124). 306 Das Tagebuch, welches Polina während des Ersten Tschetschenienkrieges 1994 zu schreiben begonnen hat, ist für sie ein Gesprächspartner, einer, der immer da ist, unabhängig von den Bomben draussen und unabhängig von den Schlägen der Mutter drinnen im Haus. So übernimmt dieses Tagebuch die Rolle des Gefährten (Scherebzowa, Polina : Polinas Tagebuch. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olaf Kühl. 2015 ; hier 66 oder 378).
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andere autobiographische Schriften) haben nicht nur die Funktion, Träger von Leidenserfahrungen aufzufangen, sondern die Autorinnen und Autoren wollen auch Zeugnis von gemachten (Leidens-)Erfahrungen ablegen. So schreibt Primo Levi an den Übersetzer seines Buches Ist das ein Mensch ? : Ich glaube nicht, dass das Leben des Menschen notwendigerweise ein bestimmtes Ziel hat ; aber wenn ich an mein Leben denke und an die verschiedenen Ziele, die ich mir bisher gesetzt habe, so erkenne ich nur eines als festumrissen und bewusst an, und es ist gerade dieses, Zeugnis abzulegen, das deutsche Volk meine Stimme hören zu lassen und dem Kapo, der sich die Hand an meiner Schulter säuberte, dem Doktor Pannwitz, denjenigen, die den Letzten erhängten, und ihren Erben zu ‹antworten›.307
Das Bedürfnis von Levi, Zeugnis abzulegen, hat seinen Ursprung darin, dass er, der bezeugt, mehr weiss als andere ; er hat Erfahrungen gemacht, die andere Menschen nicht gemacht haben. Und zweitens schreibt er sich eine Verantwortung zu, diese Erlebnisse mittzuteilen, vor allem (aber nicht nur) mit Blick auf die Täter und auf die Mitläufer. Von der rezipierenden Seite sind solche Schriften nicht nur deshalb wichtig, weil sie darlegen, wie über das Geschehene gesprochen werden kann, sondern auch, weil sie uns aufzeigen, was es heisst, ein Kind im Krieg zu sein, was es heisst, misshandelt und erniedrigt zu werden, wie das Levi beschreibt. Nicht nur helfen solche Texte, sich dem Damals anzunähern, sondern ebenfalls Krieg, Misshandlung oder Ausgrenzungen heute besser zu verstehen. Doch man darf sich mit Blick auf den Zustand der Welt keine Illusionen über die Reichweite von persönlichen Erzählungen für die Rezipierenden machen ; der Radius ist beschränkt, und die Wirkung hält oftmals nicht lange an. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die über die Einzelfalluntersuchung von Foucault hinausgehen, welche belegen, dass die Literatur vor allem für die Produzierenden eine grosse Bedeutung hat, wenn es darum geht, das eigene Leiden zu minimieren. Besonders gut ist die Wirkungsweise der Literatur im psychotherapeutischen Kontext und teilweise auch bei gesunden Menschen erforscht.308 Ebenso konnte der Nachweis erbracht werden, dass das Schreiben 307 Levi, Primo : Ist das ein Mensch ? Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. 2007 ; 7. 308 Vgl. dazu die Studie von David Lätsch, der sich vor allem mit der Wirkung von fiktionalem Erzählen auf den Heilungsprozess auseinandergesetzt hat (Lätsch, David : Schreiben als Therapie ? Eine psychologische Studie über das Heilsame in der literarischen Fiktion. 2011). Drei Arbeiten, die den (empirischen) Nachweis in Bezug auf nichtfiktive Texte erbringen, sind die Bücher von Klaus W. Vopel (Vopel, Klaus W.: Schreiben als Therapie : ein Handbuch mit 230 Schreibübungen. 2014), von Stefanie Schramm & Claudia Wüstenhagen (Schramm, Stefanie und Wüstenhagen,
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von solchen Texten nicht nur für die Psyche, sondern auch für das körperliche Wohlbefinden bis hin zur Stärkung des Immunsystems relevant ist.309 Hingegen fehlen für die Wirkung auf die Rezipierenden Untersuchungen weitgehend, was primär mit dem Fokus auf die leidenden Personen zu tun hat, aber sicher auch mit der schwierigen Anlagesituation, um diese Frage zu erforschen.310 Ob die Wirkung der Literatur von Levys Inszenierung am Theater Basel so weit reicht, Patientinnen und Patienten mithilfe von Brechts Die Dreigroschenoper vom Kapitalismus zu heilen, blieb an jenem Abend eine offene Frage. Aber vielleicht, wenn auf die Ausführungen Ricœurs im Zusammenhang der Verflechtung zwischen Produzierenden, dem Erzählten und den Rezipierenden Bezug genommen wird, um auf die eingangs zum Kapitel 2.6.2 gestellte Frage zurückzukommen, wird verständlich, inwiefern es möglich ist, von einem therapeutischen Potential der Literatur zu sprechen. Was bedeuten die in diesem Kapitel erarbeiteten Erkenntnisse für den Fortlauf dieser Arbeit ? In Kapitel 2.4.1 wurde ausgeführt, warum es erstrebenswert ist, ein autonomes Leben zu führen und welche Rolle dabei die Selbstreflexion spielt. Das Streben nach Selbsterkenntnis erfährt vor allem dort eine Grenze, wo es Leidenserfahrungen macht. Wie nun in diesem Kapitel dargelegt wurde, sind die Claudia : Das Alphabet des Denkens. Wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt. 2015 ; hier 241–266) sowie von Carmen C. Unterholzer (Unterholzer, Carmen C.: Es lohnt sich, einen Stift zu haben. Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung, 2017 ; hier 183–197). Einem grösseren Publikum wurde die Wirkmächtigkeit des Schreibens über sich selber im Kontext von Leidenserfahrungen vor allem dank des Filmes Freedom Writers des Regisseurs Richard LaGravenese aus dem Jahre 2007, der auf dem gleichnamigen Buch von Erin Gruwell basiert, bewusst. Aufgrund dieser empirischen Lage erstaunt es auch nicht, weshalb Seneca Lucilius riet, er solle nicht nur lesen, sondern auch schreiben (vgl. dazu : Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. 2003 ; 352). 309 Vgl. dazu : Schramm, Stefanie und Wüstenhagen, Claudia : Das Alphabet des Denkens. Wie Sprache unsere Gedanken und Gefühle prägt. 2015 ; 246 und 262. Auch Werner Siefer betont diesen Zusammenhang (Siefer, Werner : Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt. 2015 ; 214 f ). 310 Ohne den Anspruch auf empirische Genauigkeit zeigt Adolf Muschg aufgrund seiner Erfahrungen an der Universität Zürich (und somit aus der Sicht des Rezipienten), inwiefern die Literatur in der Lage ist, menschliches Leiden zu minimieren (Muschg, Adolf : Literatur als Therapie ? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. 1981 ; 35–46). Die Frage nach der therapeutischen Reichweite der Literatur ist bei Muschg nicht nur aus wissenschaftlicher Perspektive relevant, sondern ebenso in seinen fiktiven Texten (vgl. dazu : Gölz, Peter : Von Ödipus zu Parzival : Interund Intratextualität bei Adolf Muschg. In : Neue Perspektiven zur deutschsprachigen Literatur der Schweiz. Hrsg. von Romey Sabalius. Amsterdam : Editions Rodopi B.V. 1997 ; 215–-225).
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Menschen im Umgang mit Leidenserfahrungen nicht allein, sondern sie können sich auf philosophische und auf literarische Texte abstützen, die beide zwar inhaltlich, methodisch und sprachlich eigene Wege gehen, aber doch eng aufeinander bezogen sind, wie auch in dem dargelegten therapeutischen Kontext wieder klar geworden ist.311 Das therapeutische Philosophieverständnis vor allem mit Blick auf die Rezipierenden besteht darin, dass die Philosophie, zumindest so, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, Angebote für den Menschen zur Verfügung stellt, um ihn zu einem eigenständigen, bewussten Subjekt heranzubilden, das in der Lage ist, ihre respektive seine eigene Stimme wahrzunehmen und entsprechend zu artikulieren.312 Die Philosophie wird dadurch an das zurückgebunden, was sie seit jeher beschäftigt, nämlich die Erforschung dessen, was ein gutes Leben ist. Diese Suche soll nicht im Abstrakten, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Alltag geschehen, oder, wie es Cavell in Anlehnung an Wittgenstein formuliert, im « Gewöhnlichen »313. Das Ziel kann noch weiter präzisiert werden. Es soll keine Philosophie in einem überhöhten Idealismus noch in der kompletten Verneinung derselben, wie es beim Nihilismus der Fall ist, ausgearbeitet werden, sondern es soll ein neues Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Idealen erarbeitet werden, also einen Weg, den auch der Pragmatismus beschreitet.314 Zweitens lässt sich aus den Ausführungen zum therapeutischen Philosophieverständnis ableiten, dass es nicht darum geht, wie es teilweise in den Naturwissenschaften der Fall ist, menschliche Handlung auf neurobiologische Modelle zu reduzieren, sondern die Handlungen müssen, wie in Kapitel 3 dargelegt wird, aus der Lebensgeschichte der Menschen verstanden werden.315 Für das therapeutische Literaturverständnis ist vor allem der Umstand zentral, dass die Literatur die erwähnte Konkretion ermöglicht ; die Rezipierenden können die Figuren begleiten und beobachten, die Umstände, in denen sie sich bewegen, erforschen. Doch genauso wie in der Philosophie ist es ebenso im Zusammenhang der Literatur wichtig, nicht nur viel zu lesen und das Gelesene zu 311 Vgl. dazu die Komplementaritätsthese in Kapitel 2.1.3. 312 Auf diesen praktischen Aspekt der Philosophie verweist auch Wittgenstein vielfach ; in diesem Kontext sind die Paragraphen 255 und 593 in den PU relevant (vgl. dazu : Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchung. In : Werkausgabe Band I. Hrsg. von Joachim Schulte. 2006 ; 360 und 459). 313 Cavell, Stanley : Cities of Words. Ein moralisches Register in Philosophie, Film und Literatur. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und eingeleitet von Maria-Sibylla Lotter. 2010 ; 34. 314 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 276. 315 Auch Hampe argumentiert an mehreren Stellen für diese Art von Abgrenzung (vgl. dazu : Hampe, Michael : Die Theorieunabhängigkeit von Tatsachen und Wahrheiten. Zur Relevanz einer Philosophie des Gewöhnlichen. In : Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. Jahrgang 34. 2009 ; 61).
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reflektieren, sondern auch, selber zu schreiben. Dadurch bleibt man nicht nur Rezipient, sondern ist auch Produzent, und entsprechend ist die von Ricœur dargestellte Komplizenschaft von beiden Seiten her in Bewegung zu setzen. Ob dabei vor allem fiktionale oder nichtfiktionale Texte gelesen oder geschrieben werden, ist zweitrangig, letztendlich kommt es vor allem darauf an, sich und alles, was alles damit zusammenhängt, zum Thema zu machen. Auf den Punkt gebracht zeigte dieses Kapitel auf, dass und wie es möglich ist, sich bei der Ausarbeitung der Ethik des autobiographischen Erzählens auf die Philosophie und auf die Literatur zu stützen. 2.7 Das erste Zwischenspiel Das Ziel dieses Kapitels war es, die Begriffe und ihre Zusammenhänge für den weiteren Verlauf der Untersuchung zu klären. Da in der vorliegenden Arbeit sowohl philosophische als auch literarische Texte thematisiert und in Beziehung gesetzt werden, stellte sich in einem ersten Schritt die Frage, was unter Philosophie, was unter Literatur in dieser Arbeit verstanden werden soll und wie das Verhältnis zwischen diesen Begriffen beschaffen ist. Das hier zugrunde liegende Philosophieverständnis basiert auf einer Hinwendung zum Leben, wobei die Begriffsanalyse einen wichtigen Bestandteil des methodischen Vorgehens betrifft, allerdings nicht in einem analytisch verstandenen Sinne, bei dem die Wahrheit am Ende zum Vorschein kommen soll, sondern die Analysen sollen dazu dienen, nur begriffliche Klärung zu schaffen. Bis zum Kapitel 4, wo der ontologische Status von autobiographischen Schriften untersucht wird, soll unter Literatur, trotz der erheblichen Schwierigkeiten, die mit diesem Verständnis verbunden sind, all das gezählt werden, was die Literaturwissenschaft als Gegenstand ihrer Untersuchung im Fokus hat. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Philosophie und Literatur wurde für die Komplementaritätsthese argumentiert, das heisst, dass zwar sowohl die Philosophie als auch die Literatur zwei eigenständige und gleichwertige Wege beschreiten, aber doch eng aufeinander bezogen sind. In Kapitel 2.2 standen die Begriffe Leiden, Krankheit und Schmerz und ihre Zusammenhänge im Zentrum der Untersuchung. Eine wesentliche Konklusion dieses weiten Feldes an Begriffen besteht in dem organisatorischen Potential des Leidens für die Gestaltung des Lebens von Menschen, nicht nur, wenn es darum geht, Leiden zu vermeiden, sondern auch, im Leiden selber einen Umgang zu finden. Im nächsten Kapitel gilt es in einem ersten Schritt die für den weiteren Verlauf der Arbeit relevanten Reaktionsmöglichkeiten auf das Leiden
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darzulegen, zum einen die christliche Heilslehre, zum anderen die Konzeptionen von Schopenhauer und von Nietzsche. Zudem wurde in diesem Kapitel begründet, weshalb das chronische Leiden nicht interpretiert werden kann, obwohl wir Menschen dieses Leiden verstehen möchten, ja, gar müssen, und es ging darum, zu untersuchen, wie Leiden und Sprache zusammenhängen und weshalb das Sprechen über Leidenserfahrungen, ausgehend von den Analysekriterien von Müller, so anspruchsvoll ist. In Kapitel 2.4 wurde begründet, weshalb das Streben nach dem Erkenne-dich-selbst wichtig für die Erweiterung der Autonomie ist, trotz und gerade wegen des Leidens. Weiter wurde der Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis, der Frage nach Erkenntniswert und ethischem Wert der Literatur untersucht. Dabei wurde klar, ebenso nicht-propositionales Wissen kann als Wissen bezeichnet werden, und so wurde für eine Spielart des Kognitivismus, nämlich für die narrative Ethik, argumentiert, die davon ausgeht, dass aus der Literatur moralische Erkenntnisse gewonnen werden können. Um die Wirkmechanismen besser zu verstehen, die zwischen Produzierenden und Rezipierenden vorhanden sind, wurde in Kapitel 2.5 diese Komplizenschaft genauer untersucht und so ein Fundament für das therapeutische Literatur- und Philosophieverständnis gelegt. Als Ergebnis kann, wie im Kapitel 2.6 ausgeführt, auf die lange Tradition verwiesen werden, die in Teilen auch empirisch belegt ist, wie philosophische und literarische Texte den Menschen unterstützen können, seine Autonomie zu erweitern, ohne allerdings dabei ihm die Entscheidung, die der einzelne Mensch in seinem Leben zu treffen hat, abzunehmen zu wollen oder zu können, denn weder die Philosophie noch die Literatur vermitteln einen Sinn-an-sich.
3. Das Erzählen und das Leiden Ich hab allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft hab ich noch keine gefunden. Ich weiss nicht, was ich anzügliches für die Menschen haben muss, es mögen mich ihrer so viele, und hängen sich an mich, und da tut mirs immer weh, wenn unser Weg nur so eine kleine Strecke miteinander geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind ? Muss ich dir sagen : wie überall ! Es ist ein einförmig Ding ums Menschengeschlecht. (Auszug des Briefes von Werther an seinen Freund Wilhelm vom 17. Mai aus dem Roman Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfang von Goethe)1
Die Frage, weshalb Chr. Lavant und Th. Bernhard sich in ihren Schriften selber thematisieren, ist eine vielschichtige. Eine mögliche Antwort hängt mit der in der Einleitung bereits erwähnten Vergänglichkeit zusammen, von der Pythagoras in melancholischem und anklagendem Ton spricht. Im Buch 15 der Metamorphosen lässt Ovid Pythagoras weitersagen : Und da ich nun schon auf hoher See fahre und die vollen Segel dem Wind ausgesetzt habe : Es gibt im ganzen Weltkreis nichts Beständiges. Alles ist im Fluss, und jedes Bild wird gestaltet, während es vorübergeht. Ja, auch die Zeiten gleiten in ständiger Bewegung dahin, nicht anders als ein Strom. Denn stillstehend kann weder der Fluss noch die flüchtige Stunde, sondern wie die Woge von der Woge getrieben wird und im Herankommen zugleich gedrängt wird und die Vorgängerin verdrängt, so fliehen die Zeiten und folgen zugleich. Stets sind sie neu ; denn was vorher gewesen ist, das ist vorüber ; es wird, was nicht war, und jeder Augenblick entsteht neu.2
1 Goethe, Johann Wolfgang : Die Leiden des jungen Werthers. Erste Fassung von 1774. 2009 ; 10. 2 Ovid : Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Mit 30 Radierungen von Pablo Picasso und einem kunsthistorischen Nachwort von Eckhard Leuschner. 2010 ; 907.
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Wie seine Sphragis belegt, war sich Ovid über den Erfolg der Strategie, mithilfe des Erzählens die Vergänglichkeit auszuhebeln, bewusst, in der er festhält, « nun habe ich ein Werk vollendet, das nicht Iuppiters Zorn, nicht Feuer, nicht Eisen, nicht das nagende Alter wird vernichten können »3, ein Werk, das ihm ermögliche, sich « hoch über die Sterne empor[zu]schwingen »4, ein Ziel, welches er, wie ein Blick in die Rezeptionsgeschichte zeigt, erreicht hat. Ausgehend von der Reflexion des Pythagoras wird im folgenden Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Erzählen fokussiert. Bevor nun die einzelnen Aspekte ausgeführt werden, gilt es auf vier Punkte hinzuweisen. Erstens soll in diesem Kapitel der Begriff des Erzählens, verstanden als jener Vorgang, der einen Inhalt von den Produzierenden hin zu den Rezipierenden übermittelt, möglichst breit gefasst werden, bevor dann im nächsten Kapitel der Fokus auf das autobiographische Erzählen verengt wird. Der breite Erzählbegriff umfasst die mündliche und die schriftliche Erzählung, dazu sind sowohl Erzählungen, die auf Fakten, basieren als auch fiktionale mitgemeint. Zudem soll von einer Öffnung der Gattungen, die Erzählungen transportieren können, ausgegangen werden, das heisst, auch die Lyrik wird in die Analyse miteinbezogen, eine Gattung, die in dieser Arbeit besonders für die Auseinandersetzung mit Chr. Lavant relevant sein wird.5 Mithilfe des breiteren Begriffes wird es möglich, auf philosophischer Ebene den Modus des Erzählens im Wechselspiel von Erfahrung, Wissen und Handlung zu untersuchen. Aus dieser Perspektive wird weiter verständlich, warum das Erzählen zwar seinen Ursprung in der Konkretion hat, aber auf den sozialen Austausch abzielt und von dort bestimmte Praktiken mitnimmt (etwa wie Minderheiten oder marginalisierte Gruppen wahrgenommen und von ihnen erzählt wird). Die philosophische Ebene wird durch eine literaturwissenschaftliche Methode ergänzt, indem auf die formalen Prinzipien der Organisation einer Erzählung (z. B. Raum, Zeit oder Erzählperspektive) zurückgegriffen wird. Zudem spielt die psychologische Dimension u. a. deshalb eine Rolle für das Erzählen, weil, wie bereits mithilfe von Freuds Redekur hingewiesen wurde, gerade im Zusammenhang des Leidens das Erzählen eine zentrale Stellung für die Heilung einnimmt. Zweitens gilt es, auf den Begriff der Narratologie einzugehen. Auch wenn das Verhältnis zwischen Erzählen (in diesem 3 Ebd.; 953. 4 Ebd. 5 Vera Nünning argumentiert ebenfalls für eine Öffnung der Erscheinungsformen von narrativen Texten (vgl. dazu : Nünning, Vera : Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. 2013 ; 9). Ein wichtiger Impuls, um die Lyrik als mögliche Form anzuerkennen, wie von sich selber erzählt werden kann, stellt Mischs Studie Geschichte der Autobiographie dar (vgl. dazu Kapitel 4.1).
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Kontext mit Narration gleichgesetzt) und Narratologie ein Vielschichtiges ist, soll hier davon ausgegangen werden, dass die Narratologie wissenschaftlich über das Erzählen nachdenkt.6 Der Begriff Narratologie wird oftmals mit einem Bündel von formalen und thematischen Merkmalen umschrieben. Dieses Bündel wurde in der Forschung zahlreich untersucht7 und kann sowohl auf der Makroebene, also wenn es darum geht zu untersuchen, welche Erzählungen wichtig sind, um Gemeinschaft zu erzeugen, als auch auf der Mikroebene, wenn analysiert wird, wie individuelle narrative Identitäten entstehen, beschrieben werden. Auf den dritten relevanten Punkt hat Albert Koschorke aufmerksam gemacht. Wenn im Folgenden von Erzählen die Rede ist, ist damit nicht nur die Retroperspektive gemeint, das heisst, dass das Erzählen nach dem Ereignis erfolgt. Es gibt zahlreiche Kontexte, in denen gerade der umgekehrte Weg bestritten wird, nämlich das Bezeichnete ordnet sich nach der Sprache.8 Dieser Mechanismus ist nicht nur in der Mikrogeschichte von Menschen zu beobachten, sei es, wenn bestimmte Reiseerlebnisse « hinzugedichtet » werden, sondern auch auf der Mesoebene, wenn in einer Familiengeschichte entsprechende Ereignisse beschönigend dargestellt werden, bis hin zu den grossen Erzählungen auf der Makroebene, in denen sich Gesellschaften über eine « angepasste » Schöpfungsgeschichte ihrer Nation verständigen. Schliesslich viertens werden anhand von Dieter Thomä, Peter Strawson und Peter Lamarque kritische Argumente gegen die Reichweite des Erzählens diskutiert. Doch auch wenn es Argumente gibt, die diese Reichweite einschränken, die Stossrichtung dieses Kapitels und des Buches überhaupt werden sie nicht erschüttern können, dass das Erzählen eine bestimmende Bedeutung für das Leiden und für das Selbst hat, eine Bedeutung, die Paul John Eakin folgendermassen auf den Punkt bringt : « […] narrative plays a central, structuring role in the formation and maintenance of our sense of identity »9. 6 Wie Jan Christoph Meister ausführt, kann der Begriff « Narratologie » nicht einfach dadurch von Narration abgegrenzt werden, indem festgehalten wird, dass die Narratologie über die Narration nachdenke (etwa so wie die Ethik über die Moral), sondern das Verhältnis ist vielschichtiger (Meister, Jan Christoph : Narratology. In : Handbook of Narratology. Volume 2. Hrsg. von Peter Hühn et al. 2014 ; 623). Zudem erhält man einen guten Forschungsüberblick über die Vielschichtigkeit des Narratologie-Begriffes bei Neumann, Birgit : Narrativistische Ansätze. In : Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 2008 ; 527. 7 Vgl. dazu : Nünning, Vera : Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. 2013. 8 Koschorke, Albrecht : Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. 2012 ; 22–24. 9 Eakin, John Paul : How Our Lives Become Stories. 1999 ; 123.
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3.1 Das Erzählen – eine Annäherung Wie der (fiktive) Physiker Erwin Weinberger im essayistischen Roman Das vollkommene Leben. Vier Mediationen über das Glück von Hampe ausführt, kennen wir drei prinzipiell unterschiedliche Zugangs- und Darstellungsweisen der Wirklichkeit ; es sind drei verschiedene Möglichkeiten, wie wir ein und dasselbe Phänomen beschreiben können.10 So etwa kann das Körpergewicht mithilfe von mathematischen Skalen gemessen (der empirische oder galileische Zugang), es kann als « Normalgewicht » kategorisiert (der rationale oder aristotelische Zugang) oder es kann erzählt werden (der homerische Zugang), wie es zu diesem Gewicht gekommen ist, indem u. a. darauf hingewiesen wird, was gegessen wurde und wie viel sich der Körper in den letzten Wochen bewegte.11 Wie der Physiker en detail vorgeht, um zu begründen, warum zwar die homerische Auffassung relevant, aber weshalb die aristotelische und die galileische für die Welterschliessung des Individuums wichtiger sei, können wir an dieser Stelle ausklammern und den Fokus im Folgenden auf die Erzählung richten.12 Erzählen ist etymologisch gesehen ein Kompositum zum ahd. zellen, also zählen.13 Dieses Zählen ist eine Ausdrucksform der Menschen, die sich in der Bibel an einigen Stellen nachweisen lässt, etwa dort, wo die zahlreichen genealogischen Verbindungen aufgezählt werden, erstmals in Gen 4.17-4.22 und ausführlicher etwas später in Gen 5.1-5.33.14 Wie Roland Barthes in seiner Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen festhält, ist das Erzählen ein Phänomen, das international, transhistorisch, transkulturell und damit einfach da ist, so wie 10 Diese drei Differenzierungen können in Beziehung mit der Unterscheidung zwischen dem narrativen und dem paradigmatischen Modus des Denkens nach Bruner gesetzt werden. Während der paradigmatische Modus durch die deduktive Logik ausgezeichnet ist (erste und zweite Differenzierung von Hampe), beschäftigt sich die Narration vor allem mit den Intentionen, der Realisierung und dem Scheitern von menschlichen Handlungen (vgl. dazu : Bruner, Jerome S.: Actual Minds, Possible Worlds. 1986 ; 12). 11 Hampe, Michael : Das vollkommene Leben. 2009 ; 97 f. 12 Ein gewichtiges Argument für das Erzählen als primären Zugang zur Welt stellt das berühmte Experiment von Fritz Helder und Marianne Simmel aus dem Jahre 1944 dar, das zeigt, dass es nicht möglich ist, nicht Geschichten zu erzählen (vgl. dazu : Helder, Fritz und Simmel, Marianne : An Experimental Study of Apparent Behavior. In : The American Journal of Psychology. Vol. 57, No. 2. Apr., 1944. Hier S. 258 f ). 13 Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart (DWDS) : Erzählen. 14 Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreich, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. 1980 ; 8–10.
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das Leben. Somit ist eine Universalität vorhanden, was das Erzählen ausmacht, eine anthropologische Konstante.15 In Abgrenzung zum Argumentieren geht es beim Erzählen, wie Jerome S. Bruner festhält, um die Wahrscheinlichkeit, um die Realitätsnähe, um das Einzelne respektive um das Konkrete, um rhetorische Stilfiguren und um die Kriterien der Güte und der Qualität. Beim Argumentieren stehen die Wahrheit, ein bestimmter Abstraktionsgrad, der empirische und logische Nachweis, der universelle Fokus sowie die Kategorien der Richtigkeit und Adäquatheit im Zentrum. Wir verfügen über ein grosses Wissen darüber, wie genau beim Argumentieren vorzugehen ist, beim Erzählen fehlt hingegen ein allgemeingültiges Rezept.16 Auf die Fokussierung des Konkreten wurde schon mehrmals hingewiesen, vor allem in Kapitel 2.1 Auch Walter Benjamin verweist in seiner berühmten Studie Der Erzähler von 1936 darauf hin, dass die Erzählung, hier verstanden als das Produkt des Erzählens17, nur wenig Interesse habe, « das pure ‹an sich› der Sache zu überliefern, wie eine Information oder ein Rapport »18, sondern es gehe ihr eben um das Konkrete. Dieses Konkrete ist sicher ein Mitgrund, weshalb Erzählungen leichter und direkter handlungswirksam sein können, etwa dann, wenn eine Politikerin eine Geschichte erzählt, um die Wählerschaft zu überzeugen, sie zu wählen. Der klassische Fall des Erzählens ist jener, bei dem von einem vergangenen Ereignis erzählt wird. Dabei greift ein Produzierender auf Ereignisse zurück, sie werden geordnet, indem ihnen eine Bedeutung gegeben und eine Kohärenz hergestellt wird. Mit Blick auf die Gegenwart wird ihnen ein Wert beigemessen, und das Material wird auf die Zukunft hin auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet und an die Rezipierenden formuliert.19 Somit sind zum einen die drei wesentlichen Instanzen für das Erzählen genannt, also die produzierende Seite, das Erzählte und die Rezipierenden.20 Bevor das Erzählte genauer analysiert 15 Barthes, Roland : Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 1988 ; 102. 16 Bruner, Jerome S.: Actual Minds, Possible Worlds. 1986 ; 11–14. 17 Zum vielschichtigen Begriff der Erzählung vgl. dazu : Lamarque, Peter : The Opacity of Narrative. 2014 ; 52 f. 18 Benjamin, Walter : Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskow. In : Walter Benjamin. Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold. 2007 ; 111. 19 Vgl. dazu : Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In : Gesammelte Schriften. VII. Band. 1927 ; 201. 20 Heinz Antor nennt diese drei Bedingungen für das Erzählen das « epische Trio » (Antor, Heinz : Erzählung. In : Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 2008 ; 179). Ein schönes und anschauliches Beispiel für dieses
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wird, soll ein Punkt, der für die produzierende als auch für die rezipierende Seite relevant ist, ausgeführt werden, nämlich die Perspektivierung des Erzählten.21 Es wurde schon mehrfach implizit und zum Teil explizit darauf hingewiesen, dass die erzählende Person sich nicht in einem objektiven und luftleeren Raum befindet. Das Erzählte ist, wie bereits in Kapitel 2.5 im Zusammenhang mit Butler dargelegt wurde, von einem Blick getränkt, welcher sich aus verschiedenen Faktoren herausgebildet hat. Ein solcher Blick ist von Zufällen, aber auch von Determinanten wie der soziale Klasse, dem Geschlecht, der Ethnie, der Religion, dem Alter oder der Gesundheit abhängig, die zum Teil in engem Verhältnis stehen können. Und je nach Perspektive des Produzierenden werden auch unterschiedliche Erinnerungsstrukturen generiert, die vor allem für das In-Bewegung- Setzen des autobiographischen Materials von grosser Relevanz sind.22 Je nachdem, welcher Instanz die Produzierenden eine lebensbestimmende Rolle zuweisen, sei es die göttliche Vorsehung oder seien es die geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände oder die inneren Anlagen, werden die entsprechenden Ereignisse und Erlebnisse unterschiedlich interpretiert und anschliessend erzählt. Oder anders formuliert : Je nach Erinnerungsstruktur können Handlungen oder Nicht-Handlungen anders begründet werden, weswegen je nach Struktur das menschliche Leben anders organisiert wird.23 Allerdings müssen, wenn beim Erzählen des autobiographischen Materials auf solche Erinnerungsstrukturen zurückgegriffen wird, die Rezipierenden mitberücksichtigt werden. Denn je nach Kontext wird die produzierende Seite unterschiedliche Geschichten erzählen. Wie de Bruyn eindrücklich anhand von sechs Lebensläufen Fontanes ausführt, passte Fontane seine Texte jeweils an die möglichen Erwartungen des Gegenübers an. In einem hob er seine publizistischen Erfahrungen hervor, in einem anderen bestimmten entsprechende Freundschaften das Schreiben. Auch schreckte er vor Unwahrheiten nicht zurück, um sein Leben möglichst p assgenau Trio ist die Geschichte Sindbad der Seefahrer in Tausendundeine Nacht. Ohne Sindbad, den Lastenträger, könnte Sindbad, der Seefahrer, seine Geschichte nicht erzählen. 21 Christine Abbt differenziert u. a. zwischen Perspektive (eine Sichtweise auf etwas) und der Perspektivität (eine entsprechende Sichtweise ist an einen bestimmten Standort gebunden). In der folgenden Ausführung geht es gemäss ihrer Definition um die Perspektivität (Abbt, Christine : Mit anderen Augen. Perspektive und Pluralismus aus differenzanalytischer Sicht. In : Perspektivismus. Neue Beiträge aus Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik. Hrsg. von Hartmut von Sass. 2019 ; 232-250). 22 In Anlehnung an Goethe und an Dilthey präzisiert Günter Niggl diese Erinnerungsstrukturen (Niggl, Günter : Studien zur Autobiographie. 2012 ; 44). 23 Sloterdijk, Peter : Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. 1978 ; 317.
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auf das Gegenüber auszurichten.24 Neben der Gesundheit respektive deren Mangel, welcher, wie sich in Kapitel 2.2.1 zeigte, eine wesentliche Quelle für das Leiden darstellt, sind für die Auseinandersetzung mit den Erinnerungsstrukturen bei Chr. Lavant und bei Th. Bernhard vor allem zwei Kategorien relevant. Auf der einen Seite betrifft es die soziale Klasse. Eine Möglichkeit, den Blick in Bezug auf die soziale Klasse differenzierter zu beschreiben, bietet Bourdieus Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kapitalien an. Er unterscheidet zwischen dem ökonomischen, dem kulturellen, dem sozialen Kapital und als Resultat dieser Kapitalien, das symbolische.25 Je nachdem, wie die Ausgestaltung der Kapitalien beschaffen ist, charakterisiert sich auch der Blick auf die Welt. Eine Person mit akademischem Hintergrund, die als Anwältin tätig ist, hat sich andere Unterscheidungsgewohnheiten angeeignet als jemand, der nach einer Lehre in einem Supermarkt arbeitet. Aus dieser Perspektive wird klar, was Bourdieu meint, wenn er dafür argumentiert, dass die (vermeintliche) Subjektivität wesentlich sozial gesteuert sei, eine Steuerung, die so weit geht, uns den Geschmack zu diktieren.26 Es soll hier nicht darum gehen, die einen Gewohnheiten gegen die anderen auszuspielen, sondern es soll aufgezeigt werden, dass die soziale Herkunft verschiedene Lebensformen, wie es Bourdieu ausdrückt, zur Folge hat. Und diese unterschiedlichen Lebensformen führen zu verschiedenen 24 De Bruyn, Günter : Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. 1995 ; 10–13. Wie anhand von Zimmermann ausführt werden kann, lässt sich diese Fokussierung auf die Rezipierenden von Fontane bereits in der Odyssee von Homer nachweisen : « Was in den Apologen und in den ersten beiden ‹Kurzgeschichten› vorliegt, entspricht genau der Hauptintention neuzeitlicher Autobiographien : der Suche nach der eigenen Identität in einer die Rezeption lenkenden Darstellung, in der einzelne Episoden des Lebens als sinnhaft und charakteristisch für die Entwicklung oder den schon ausgebildeten Charakter des Erzählers ausgewählt werden. Je nach Adressatenkreis werden bestimmte Ereignisse ausführlich erzählt, andere dagegen ausgelassen : so ist es kein Zufall, dass Kalypso in den an Nausikaa und an Penelope gerichteten Erzählungen nicht vorkommt. » (Zimmermann, Bernhard : Anfänge der Autobiographie in der griechischen Literatur. In : Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des internationalen Kongresses vom 26.–29. Juli 2006 in Würzburg. Hrsg. von Michael Erler und Stefan Schorn. 2007 ; 6). 25 Bourdieu, Pierre : Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Übersetzung von Reinhard Kreckel. In : Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse. Hrsg. von Heike Solga et al. 2009 ; 111–125. 26 Besonders eindrücklich ist die graphische Darstellung einer gross angelegten empirischen Studie aus den 1970er Jahren, die den Zusammenhang zwischen dem Raum, der sozialen Position und jenem der Lebensstile untersucht. Aus dieser Darstellung wird auch ersichtlich, dass der Geschmack nichts Individuelles ist, sondern ein Produkt der Klasse (vgl. dazu : Bourdieu, Pierre : Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. 1993 ; 212 f ).
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Geschichten über sich selber und generieren entsprechende Handlungen, die die nähere, aber auch die weitere Umgebung mitbeeinflussen (etwa bei politischen Abstimmungen). Die zweite relevante Kategorie ist das Geschlecht.27 Wie Vera und Ansgar Nünning in zahlreichen Studien nachgewiesen haben, besteht zwischen dem Erzählen von Geschichten und der Geschlechterkonstruktion ein enger Zusammenhang. Dieser enge Zusammenhang zeigt sich nicht nur in der Art und Weise, wie in fiktionalen und nichtfiktionalen Texten « Weiblichkeit » und « Männlichkeit » dargestellt, sondern auch, wie die gesellschaftlichen Vorstellungen in der Erzählung aufgegriffen werden.28 Die Freilegung dieser Mechanismen ist in diesem Kontext weniger für die Auseinandersetzung mit Th. Bernhard als bei Chr. Lavant relevant, da für Chr. Lavant die Tatsache, dass sie eine Frau ist, eine nachweisliche Leidensquelle darstellt und in ihren Werken ebenfalls thematisiert wird. Um die berechtigte Kritik von Nünning, dass in der feministischen Literaturwissenschaft der Fokus weniger auf dem discourse als vielmehr auf die story gelegt wird und somit die Aspekte der feministischen Narratologie vernachlässigt wurden und werden, zu entkräften, sollen bei der Analyse der Texte von Chr. Lavant ebenfalls beide Dimensionen berücksichtigt werden.29 Allerdings wird die Forderung, dem Wie mehr Raum in der feministischen Literaturwissenschaft zuzugestehen, im Folgenden angepasst, da sich bei der Gattung der Autobiographie, wie es sich zeigen wird, andere Fragestellungen in Bezug auf die Erzählweise ergeben, als dies bei fiktiven Texten der Fall ist, in denen es sich sehr wohl als notwendig erweist, das Geschlecht zum Beispiel von heterodiegetischen Erzählinstanzen im Spezifischen zu problematisieren und genauer zu untersuchen.30 Hingegen ist an dieser Stelle die Frage von grösserer Relevanz, wie es bei der Darstellung von menschlichen Leiden (Fokus auf story) möglich ist, von einer spezifisch weiblichen Sichtweise auszugehen. Um dieses Was der vier autobiographischen Erzählungen von Chr. Lavant aus der weibli27 Einen guten historischen Überblick über Gender und Narrative gibt der Artikel von Susanne S. Lanser (Lanser, Susanne S.: Gender und Narrative. In : Handbook of Narratology. Volume 1. 2014 ; 206–218) sowie über die feministische Narratologie vgl. dazu Ansgar Nünning (Nünning, Ansgar : Feministische Narratologie. In : Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 2008 ; 194 f ). 28 Nünning, Ansgar und Nünning, Vera : Making Gendered Selves. Analysekategorien und Forschungsperspektiven einer gender-orientierten Erzähltheorie und Erzähltextanalyse. In : Narration und Geschlecht. Texte-Medien-Episteme. Hrsg. von Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick. 2006 ; 26. 29 Nünning, Ansgar : Gender and Narratology. Kategorien und Perspektiven einer feministischen Narrativik. In : Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik. 42/1994 ; 102–104. 30 Nünning, Ansgar und Nünning, Vera : Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hrsg. von ebd. 2004 ; 15 f.
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chen Sicht differenziert auszuarbeiten, soll im Weiteren die Konzeption von Marion Gymnich, basierend auf den vier Analysekriterien Stimme, Blick, Körper und Handlungsermächtigung zurückgegriffen und ausgeführt werden. Beim Kriterium Stimme geht es vor allem darum zu untersuchen, was, wann, wo und wie die weibliche Stimme spricht und wann sie schweigt. Mithilfe dieses Analysekriteriums ist es im Spezifischen möglich, sich weiterführende Gedanken zum Konnex Macht und Geschlecht zu machen. Beim Kriterium Blick wird erforscht, wer von wem wie gesehen wird, um somit auszuarbeiten, ob und inwiefern Subjekt- und Objektpositionen mit entsprechenden Implikationen vorliegen. Wenn die Darstellung von weiblichen und männlichen Körpern untersucht wird, steht das Körperkonzept im Zentrum. Wichtig dabei ist nicht nur den Aspekt, wie die Körper der Figuren dargestellt werden, sondern auch, wie sie sich in welchen Räumen (Raumsemantik) bewegen und ob und inwiefern sie mit anderen Körpern in Kontakt kommen. Schliesslich die Konzeption der Handlungsermächtigung : Um die Frage zu beantworten, wann, warum, welche Handlungen ausgeführt werden, ist es von Bedeutung, den Handlungsverlauf wie auch die Wendepunkte genauer zu untersuchen.31 Dieses Raster, es wird sich in Kapitel 8 zeigen, lässt sich ohne Anpassungen auf die vier autobiographischen Erzählungen von Chr. Lavant anwenden. Für die enger an das autobiographische Material angelehnten Briefen sind diese Kriterien ebenso hilfreich, obschon sie leicht anzupassen sind. Während die Kriterien der Stimme und des Blicks insbesondere für die Fremdwahrnehmung hinzugezogen werden können, sind die beiden Kriterien des Körpers und der Handlungsermächtigung vor allem ausgehend von ihren eigenen Beschreibungen zu analysieren (als Selbstwahrnehmung). Und gerade bei der letzten Konzeption, der Handlungsermächtigung, zeigt sich die Überschneidung zwischen den Kategorien Klasse und Geschlecht, da Frauen in der Vergangenheit unterschiedlichen Voraussetzungen, was die sozioökonomische Ausstattung betrifft, ausgesetzt waren, was ebenfalls ihr Handlungsspektrum oftmals verkleinerte, selten vergrösserte. Nachdem auf die Perspektivierung der Produzierenden und der Rezipierenden fokussiert wurde, gilt es, einige Anmerkungen zum dritten wesentlichen Element einer Erzählung zu machen, nämlich zum Erzählten. Das Erzählte besteht aus dem Stoff, aus den Figuren sowie aus einer zeitlichen und aus einer räumlichen Dimension. Um das Erzählte zu artikulieren, braucht es eine ent31 Gymnich, Marion : Methoden der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies. In : Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Hrsg. von Vera Nünning und Ansgar Nünning. 2010 ; 257–259.
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sprechende Form und eine Sprache, die sich zwar nicht ausschliesslich verbal manifestieren muss ; doch aufgrund des Schwerpunktes dieser Arbeit wird auf die verschriftlichte verbale Sprache fokussiert. Das Erzählte wird im Folgenden hinsichtlich der zeitlichen Dimension sowie der Form untersucht, um zwei wesentliche Elemente (auch für das autobiographische Erzählen) herauszugreifen. Der Stoff der Erzählung wird an dieser Stelle ausgelassen. Diese Auslassung hängt mit der Ausrichtung dieser Arbeit zusammen, denn der Stoff besteht nämlich aus dem autobiographischen Material, auf das in Kapitel 4 im Allgemeinen und in Kapitel 6 und 7 anhand von Chr. Lavant und Th. Bernhard im Spezifischen ausführlich eingegangen wird. Eine wichtige Dimension in einer Erzählung hängt mit der erwähnten zeitlichen Ausrichtung zusammen.32 Nünning differenziert diese Dimension der Ereignisdarstellung in Linearität, Sequenzialität und Kontinuität.33 Die Linearität zeigt sich darin, dass Ereignisse in einer bestimmten Reihenfolge erzählt werden, wobei diese Ereignisse nicht ausschliesslich chronologisch erzählt werden müssen, sondern wir greifen in unserem Alltag immer wieder auf analeptische und proleptische Momente zurück. Somit wird verständlich, weshalb der Beispielsatz « The sun shone and the grass grew » für Lamarque ein erzählender ist, nicht aber der zweite « Bill kicked the ball and the ball was kicked by Bill », weil im zweiten Satz die zeitliche Dimension fehlt.34 Die Sequenzialität wird oftmals mithilfe des Dreischritts – Anfang der Erzählung, Mitte der Erzählung und Ende der Erzählung – gekennzeichnet. Auf die Kontinuität geht Nünning nicht näher ein. Zum einen könnte damit auf den Umstand verwiesen werden, dass Ereignisse eines nach dem anderen erzählt werden, vom Anfang bis zum Schluss (wobei, wie eben ausgeführt wurde, nicht nur oder nicht ausschliesslich chronologisch erzählt werden muss) ; oder aber mit Kontinuität könnte Folgendes gemeint sein : Ein Ereignis, von dem eine Person gestern erzählte, könnte sie auch heute wieder so oder ähnlich erzählen, mit der Folge, damit eine Art Identität zu generieren. Der zweite Aspekt, der an dieser Stelle thematisiert werden soll, hängt mit der Form zusammen, von der es abhängt, wie erzählt wird. Dabei ist der Formbegriff mehrdeutig. Auf der einen Seite legt die Form das « Gefäss » fest, in das das Erzählte hineingegossen wird. Es gibt verschiedene Formen von Erzählun32 Ausgehend von den drei Perspektiven der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft arbeitet Dilthey die Zeitlichkeit des Lebens, wie er sie nennt, heraus (vgl. dazu : Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In : Gesammelte Schriften. VII. Band. 1927 ; 192–196). 33 Nünning, Vera : Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. 2013 ; 6. 34 Lamarque, Peter : The Opacity of Narrative. 2014 ; 52.
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gen. Eine Form sind Erzählungen über uns selber, etwa in der mündlichen Rede, beispielsweise wenn eine Person einer anderen erzählt, was sie am Wochenende erlebt hat, oder wie sie im Stillen in schriftlicher Form von diesem Ereignis berichtet, etwa in Tagebucheinträgen, in Briefen oder, wie das Th. Bernhard tut, in seinen Preisreden, die eine Mischform darstellen. Was die Systematik und den Umfang betrifft, sind wiederum Memoiren und Autobiographien besonders ausführliche Arten, von sich selber zu erzählen. Und je nach verwendetem « Gefäss » der Erzählung werden die Produzierenden ihre Erzählung verschieden strukturieren, unterschiedliche Schwerpunkte festsetzen, die Räume, die Zeit oder die Figuren anders beschreiben. Und je nachdem, welche Form gewählt wird, verknüpfen sich damit unterschiedliche Erwartungen der Rezipierenden. Die zweite Bedeutung des Formbegriffes hängt mit der erwähnten Differenzierung zwischen story und discourse zusammen. Es ist dieser Unterschied, der es ermöglicht, differenzierter die Intentionen des Produzierenden nachzuzeichnen, denn es macht einen Unterschied, ob ein Ereignis aus der Sicht eines Opfers oder eines Täters beschrieben, ob eine Zeitraffung verwendet wird oder ob bei der Schilderung auf parataktische Satzstrukturen zurückgegriffen wird, um die Wirkung zu erhöhen, indem das Tempo der Erzählung gesteigert wird. Und ein wichtiges Element des Wie, gerade auch mit Blick auf das autobiographische Erzählen, ist die Kohärenz, die durch die Verwendung von Kohäsionsmitteln erzeugt oder eben ausgelassen wird. Zu dieser Differenzierung zwischen story und discourse fügt Nünning noch ein drittes Element hinzu, nämlich jenes der abstrakten Ebene auf der Seite der Rezipierenden.35 Diese abstrakte Ebene zielt weniger auf spezifische Sequenzen einer Erzählung, sondern vielmehr auf das Textganze. Erst wenn das Textganze in den Fokus der Rezipierenden gelangt ist, wird es möglich, bestimmte Phänomene genauer zu erkennen, etwa jenes der Funktion des Erzählers. Genau in diesem Wechselspiel zwischen story, discourse und der abstrakten Ebene positionieren sich die Rezipierenden, mit diesem mehr oder weniger bewussten Erklärungswissen bewerten sie die Erzählung, es löst bei ihnen eine entsprechende Emotion aus, etwa Mitgefühl oder Ablehnung. Mit dieser Differenzierung wird es auch möglich sein, eine Quelle von Missverständnissen zwischen Produzierenden und Rezipierenden freizulegen, indem genauer angegeben werden kann, auf welcher Ebene sich die Dissonanz abspielt.
35 Nünning, Vera : Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. 2013 ; 8.
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3.2 Funktionen des Erzählens Bereits zu Beginn dieses Kapitels wurde die Frage aufgeworfen, warum wir Menschen Geschichten erzählen, reale oder fiktive, komplexe oder einfache, das Selbst oder das Gegenüber betreffende. Auch wenn wir in unserem Alltag oftmals banalen Ereignissen gegenüberstehen, bei denen wir die Hauptadressaten sind, Ereignisse, die sich ähneln oder gar gleichen, und diese wiederholen, darf der Wert dieser Erzählungen nicht unterschätzt werden. Solche Erzählungen, und das ist ein Grund, weshalb Menschen von sich erzählen, hängen mit der Stabilisierung des Selbst zusammen, indem die entsprechende Person sagen kann : « Das passiert mir immer wieder. » Solche Erzählungen sind vor allem durch die Modaladverbien « nie » oder « immer » leicht identifizierbar und gerade für die Kontinuität der erzählenden Person von grosser Wichtigkeit.36 Eng mit der Konstituierung des Selbst hängt eine weitere Funktion des Erzählens zusammen, welche, wie Bruner bemerkt, « ganz oben auf dem Programm »37 steht : Erzählungen handeln nämlich davon, Gründe für das Tun der Menschen anzugeben. Deshalb ist es kein Zufall, warum MacIntyre den Konnex zwischen Handlung und Erzählung genauer beschrieben hat und zum Schluss kommt, die « narrative Geschichte einer bestimmten Art erweist sich als die grundlegende und wesentliche Gattung der Charakterisierung menschlichen Handelns »38. Was MacIntyre mit « bestimmte Art » (certain kind) meint, führt er nicht aus. Plausibel scheint, er beziehe sich auf nichtfiktive Erzählungen, da Geschichten zuerst gelebt, bevor sie erzählt werden, ausser, wie er sagt, in der Fiktion (das heisst für ihn vor allem in Romanen).39 Wie genau die Handlung mit den Gründen und den Ursachen zusammenhängt, soll uns an dieser Stelle nicht interessieren, darauf wird in Kapitel 5.3 ausführlich Bezug genommen. Hier ist die Bedeutung der Erzählung von Handlungen wichtig, ein Umstand, der dann in Kapitel 5 entscheidend sein wird, nämlich dann, wenn für eine Erweiterung des Gegenstandsbereiches der Ethik argumentiert wird. Um diese Bedeutung zu plausibilisieren, ist es hilfreich, auf ein Beispiel zurückzugreifen. Wenn ein Lehrer 36 Zur Vertiefung der Konstituierung des Selbst siehe : Angehrn, Emil : Das erzählte Selbst. In : Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Hrsg. von Gabriela Brahier und Dirk Johannsen. Band 2. 2013 ; 89–108. 37 Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In : Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hrsg. von Jürgen Straub. 1998 ; 55. 38 MacIntyre, Alasdair : Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen von Wolfang Rhiel. 2006 ; 279. 39 Ebd.; 283.
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die verspätete Schülerin nach dem Grund der Verspätung fragt, dann erzählt die Schülerin von dem Personenunfall auf ihrer Zugstrecke oder davon, warum sie verschlafen habe. Dank dieser Erzählung werden die Gründe artikuliert, und es ist somit für die Schülerin wie für den Lehrer verständlich, weshalb sie sich verspätet hat. An diesem Beispiel kann noch etwas anderes verdeutlicht werden, nämlich wie das Normative mit dem Deskriptiven zusammenhängt. Je nachdem, welche Gründe die Schülerin für ihre Verspätung angibt (sofern sie die Wahrheit sagt), wird sie unterschiedlich zur Verantwortung gezogen. Sie für den Personenunfall, der zur Verspätung geführt hat, zu sanktionieren, ergibt wenig Sinn, hingegen für das Verschlafen wegen des nicht gehörten Weckers sehr wohl. Erst durch das Freilegen der (Nicht-)Handlung durch die Erzählung wird es möglich sein, auf die Situation entsprechend angemessen zu reagieren. Doch die scheinbare Unwiderstehlichkeit der Suche nach Handlungsgründen hat auch ihre Grenzen. Wie wir bei den Ausführungen vor allem zu Th. Bernhard sehen werden, ist es nicht unumstritten, die Begriffe der Erzählung und Handlung so eng zu denken, wie es MacIntyre oder Bruner tun. Das menschliche Leben besteht zwar aus Handlungen, dies ist unbestreitbar, doch die Erzählungen darüber verfälschen sie, bringen sie in eine vereinfachte Reihenfolge, stellen Kohärenz her, wo keine besteht, oder sie vereinfachen. Sicher ist, und dies ist eine weitere wichtige Funktion des Erzählens, dass das Erzählte ein Verstehensangebot darstellt, sowohl für die Produzierenden als auch für die Rezipierenden. Indem die Produzierenden das angehäufte Material in eine entsprechende Form giessen und dabei verschiedene Kriterien berücksichtigt werden, wie die erwähnte Formulierung von Handlungsgründen, die Linearität oder die Kohärenz, wird Verstehen möglich. Wie Taylor festhält, bietet das Erzählen in dieser Lesart für die Rezipierenden eine Möglichkeit, Einblick in Handlungsursachen, in Werte, Charaktere oder alternative Daseinsweisen zu erhalten.40 Durch das Mitteilen eines Erlebnisses oder eines Gedankenganges wird das zu Erzählende aus seiner Isolation gehoben, die Rezipierenden werden eingebunden, sie werden ein Teil der Geschichte, es entsteht durch das Verstehen eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Bei diesem Verstehensprozess spielt die Sprache die entscheidende Rolle. Es sind die Wörter, die nach bestimmten Regeln aneinandergereiht werden, die es ermöglichen, mithilfe dieses Systems von Symbolen uns in der Welt zu orientieren.41 Dank der Artikulation des Erzählten durch 40 Taylor, Charles : The language animal. The full shape of the human linguistic capacity. 2016 ; 291 f. 41 In Kapitel 5.2 wird noch genauer zu untersuchen sein, inwiefern die Reichweite der Sprache im Erzählen eingeschränkt wird. An dieser Stelle reicht es aus, auf den engen Zusammenhang zwischen Sprache und Verstehen hinzuweisen.
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die Produzierenden und der Möglichkeit des Nachfragens oder der Paraphrase können die Rezipierenden dem Gegenüber zumindest einen Verstehenswillen entgegenbringen. Weshalb wir überhaupt verstehen wollen, hängt zum einen, um nochmals auf Angehrns Verstehenskonzeption, die in Kapitel 2.3.2 ausgeführt wurde, zurückzugreifen, damit zusammen, « mit der Welt vertraut werden zu können, wie wir mit anderen Menschen und Lebenszusammenhängen vertraut sind, die uns etwas bedeuten, die nicht nur Gegenstände unseres Erkennens und Beherrschens sind, sondern mit denen wir leben und kommunizieren, die den Raum unserer Existenz ausmachen. »42 Zum anderen geht es beim Erzählen auch darum, dem Gegenüber ein ernsthaftes Interesse zu bezeugen, ihm Empathie zu vermitteln bis hin zur Bereitschaft, den Standpunkt des Gegenübers einzunehmen und eigene Überzeugungen zu revidieren. Zahlreich wurde aus dieser Perspektive der Wert der Literatur für die moralische Erziehung des Menschen begründet, indem dafür argumentiert wird, wie mithilfe von fiktiven Geschichten den Rezipierenden eine Möglichkeit geschaffen wird, sich mit Lebensverhältnissen und der Vielfalt von Handlungsgründen auseinanderzusetzen (vgl. dazu Kapitel 2.4.2). Zudem hängt eine weitere wichtige Funktion des Erzählens mit der Gemeinschaft zusammen, in der sich die Menschen bewegen. So konnte eine empirische Studie, die u. a. von Andrea Migliano Bamberg erarbeitet und veröffentlicht wurde, den Stellenwert der Erzählung für eine Gemeinschaft anhand des Agta-Stammes auf den Philippen nachweisen.43 Mithilfe von verschiedenen Experimenten konnten die Forscher darlegen, dass das Erzählen von Geschichten die Kooperation, die Gleichberechtigung unter Geschlechtern und die soziale Gleichheit fördere. Ausgehend von den erzählten Mythen und Legenden (zum Beispiel der Geschichte um den Widerstreit über die Vorherrschaft bei der Frage nach der Beleuchtung der Welt zwischen der Mondfrau und dem Sonnenmann mit dem bekannten Kompromiss zwischen Tag und Nacht) konnte belegt werden, wie solche Art der Geschichtenerzählung eine Gleichheit zwischen den Geschlechtern im Alltag des Stammes fördern und fordern. Ein weiteres Experiment von ihnen zeigte, dass in jenen Dorfgemeinschaften am meisten kooperiert wird, in denen sich die besten Geschichtenerzähler befanden. Zudem profitierte nicht nur die Gemeinschaft von diesen Produzierenden, sondern auch sie selber, indem sie über einen signifikant höheren Reproduktionsvorteil verfügten.44 Ob und inwiefern solche Ergebnisse 42 Angehrn, Emil : Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. 2010 ; 29. 43 Migliano Bamberg, Andrea et al.: Cooperation and the evolution of hunter-gatherer storytelling. In : Nature communications. 2017 ; 1–9. 44 Aus dieser Perspektive ist der Schluss der Forschungsgruppe plausibel, dass nämlich die Religion
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ebenso in den westlichen Kulturkreis integriert werden können, ist an dieser Stelle nicht relevant. Hingegen ist diese enge Verbindung zwischen Erzählen und der Organisation von Gemeinschaften von Interesse. Aus dieser Perspektive werden die Ausführungen in Kapitel 3.3 und 5.3 im Zusammenhang des autobiographischen Schemas verständlicher. Denn nicht nur die fiktiven Geschichten wie jene von der Mondfrau und dem Sonnenmann, sondern auch die autobiographischen Erzählungen dienen zur Organisation des individuellen Lebens. Die Reichweite dieses Schemas geht darüber hinaus und verweist so tief ins Soziale hinein. Eine Funktion soll an dieser Stelle abschliessend erwähnt werden, die sicher bei Th. Bernhard nachgewiesen werden kann. Das Erzählen von Geschichten erzeugt ebenfalls Lust, weswegen Koschorke die These formuliert, ob die Motivierung des Erzählens nicht primär damit zusammenhänge, dass Menschen gerne erzählen. Um seine These zu stützen, zeigt er anhand der Geschichte der menschlichen Kommunikation auf, wie sich die Mitteilungsarten über die Gestik bis hin zu der symbolischen und arbiträren Sprache nicht nur deshalb hatte weiterentwickeln können, weil die Menschen besser kooperieren, sondern auch der lustvollen Geselligkeit wegen.45 Hinzu kommt, dass es ebenfalls angemessen ist, von einer Lust der Befreiung zu sprechen, wenn Dinge zur Sprache kommen, die einen belasten, gerade wenn es um Leidenserfahrungen geht (ein Phänomen, das der Psychoanalyse vertraut ist). In diesem Sinne kann das Erzählen als etwas Biologisches beschrieben werden, analog dem Bedürfnis des Hungers ; das Essen stillt den Hunger und löst beim Menschen ein Lustgefühl aus. So auch das Erzählen. 3.3 Die Erzählschemata und das autobiographische Schema Gergen und Gergen untersuchten in der Studie Narrative and the Self as Relationship, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Erzählung in Westeuropa glaubwürdig erscheint. Um zu ihren Ergebnissen zu gelangen, haben sie zum einen verschiedene Studien zusammengetragen, zum anderen haben sie eigene empirische Untersuchungen durchgeführt. Sie haben ihre Ergebnisse in eine grosse Supergeschichte darstellt, als eine Art Regelwerk, um möglichst kooperative Zustände herbeizuschaffen (ebd.; 5). Somit unterstützen sie die Lesart von van Schaik und Michel, die die Bibel als Hygiene- und Sozialgesetzbuch bezeichnen (vgl. dazu Kapitel 2.3.1). 45 Koschorke, Albrecht : Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. 2012 ; 107f. Aus der Perspektive der Rezipierenden vgl. dazu die Monographie von Werner Siefer, der auf die Lust beim Lesen hinweist, um die Frage zu beantworten, weshalb wir Menschen zum Buch greifen (Siefer, Werner : Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt. 2015 ; 68).
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fünf Punkten festgehalten : A) Erstens braucht es einen sinnstiftenden Endpunkt der Erzählung, etwa « wie ich knapp dem Tod entging » oder « und da habe ich mich verliebt ». B) Zweitens müssen relevante Vorkommnisse ausgewählt werden. Was für Vorkommnisse dies sind, hängt jeweils vom Endpunkt der Erzählung ab. Die Auswahl der Ereignisse kann sehr unterschiedlich ausfallen, was dann zu unterschiedlichen Erzählungen führt. C) Wenn das Ziel bestimmt und die plausiblen Ereignisse, die zu diesem Ziel führen, ausgewählt sind, werden diese Ereignisse zeitlich geordnet (« eins nach dem anderen »). Welches Kriterium gewählt wird, um diese Ordnung herzustellen (etwa nach Interesse, nach Aktualität, nach Wichtigkeit etc.), hängt jeweils vom kulturellen und historischen Kontext ab. Wie an Dilthey ausgeführt werden kann, setzt an dieser Stelle die Bedeutung ein, indem die einzelnen Erlebnisse sich nicht monadisch in einer entsprechenden Person bewegen, sondern sie werden in Beziehung zum Lebensverlauf gesetzt. Und so wirkt der Erzähler, der eben die Bedeutung der singulären Erlebnisse hervorhebt und sie in einen Zusammenhang stellt. Bei diesem Prozess tragen wir nicht einen Sinn der Welt in unser Leben, dieser Sinn, hält Dilthey fest, existiert nicht, sondern wir sind es, die dem Leben Bedeutung und Sinn geben.46 D) Viertens werden im Anschluss Kausalverhältnisse hergestellt, das heisst, die Ereignisse werden miteinander verknüpft. E) Schliesslich werden Grenzzeichen (demarcation signs) verwendet, um den Anfang (zum Beispiel « Did you hear this one… ») oder das Ende (zum Beispiel : « So, now you know what happened … ») zu markieren.47 Ausgehend von diesen fünf Charakteristika formulieren Gergen & Gergen drei Typen von Erzählungen, nämlich die Stabilitätserzählung, die progressive und die regressive Erzählung. Die Stabilitätserzählung zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Person im Verlaufe der Zeit wenig ändert, typische Formulierungen für diese Art von Erzählung sind in der positiven Selbstbeschreibung « I am still as attractive as I used to be », die negative Beschreibung in einer Formulierung wie « I continue to be haunted by feelings of failure ». Und je nachdem, welche Selbstbeschreibung vorliegt, hat die Person eine andere Erwartungshaltung hinsichtlich der zukünftigen Ereignisse, weswegen sie sich deshalb entsprechend anders verhalten wird. Bei der progressiven und der regressiven Erzählung geht es vor allem darum, zum Ausdruck zu bringen, inwiefern sich die Person entwickelt hat. So zeugt der Satz « I am really 46 Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In : Gesammelte Schriften. VII. Band. 1927 ; 74/234/291. 47 Gergen, Mary M. & Gergen, Kenneth J.: Narrative and the self as relationship. In : Advances in Experimental Social Psychology. Volume 21. Hrsg. von Leonard Berkowitz. 1988 ; 20–22.
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learning to overcome my shyness and be more open and friendly with people » von einer progressiven, während « I can’t seem to control the events in my life anymore » von einer regressiven Erzählung.48 Wichtig bei diesen drei Typen der Erzählung ist, sich bewusst über ihre Wechselwirkung zu sein. So ist es kein Zufall, wenn in Tragödien (z. B. in Antigone von Sophokles) auf die progressive eine regressive Erzählung und bei einer Komödie die umgekehrte Bewegung (z. B. in Kleists Amphitryon) vorherrscht. Ebenfalls folgen autobiographische Schriften oft dem Muster aus der Komödie : Nach dem Sturm und Drang mit vielen Progressionen und Regressionen der Jugendzeit folgt die ruhigere See im Erwachsenenalter, die sich auch in der Stabilitätsnarration manifestiert. Auf diesen Prozess wirken die Rezipierenden, schon bevor er niedergeschrieben ist, denn wer ist schon bereit, sich ausschliesslich die Stabilitätserzählung anzuhören ? Deshalb ist es sicher kein Zufall, wenn in Märchen vor allem die progressiven sowie regressiven Erzählungen im Zentrum stehen und sie mit der kurzen Stabilitätserzählung « Und wenn sie noch nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute » enden, denn es gibt nichts mehr zu erzählen, das für die Rezipierenden von Interesse wäre. Koschorke untersucht in seiner erwähnten Untersuchung ebenso die Bedingungen des Erzählens.49 In Ergänzung zu den Untersuchungen von Gergen & Gergen soll an dieser Stelle auf zwei Operationen, wie Koschorke sie nennt, ausführlicher eingegangen werden, da auch sie für den weiteren Verlauf der Untersuchung von Bedeutung sind. Das erste Element hängt mit der Reduktion des Materials zusammen. Weil nicht alles Wissen mitgeteilt werden kann, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Reduktion geschieht. Koschorke hält fest, sie hänge jeweils vom Handlungsablauf ab, der dann ein bestimmtes Schema (F) zur Folge hat. So etwa gibt es ein Schema « autobiographisches Erzählen », bei dem auf eine bestimmte Art entsprechendes Material aneinandergereiht werden sollte und die einzelnen Teile in einem bestimmten Verhältnis auf das Ganze sich zu beziehen haben. Dabei wird inhaltlich vom Ursprung ausgegangen (also Kindheit, Jugendzeit, Erwachsenenalter), thematisiert werden Familie, Schule, Erwerbsarbeit, soziale Beziehung oder die Wohnsituation usw.; es werden formal Kausalbezüge hergestellt, je nach Kontext wird chronologisch oder episodisch erzählt ; schliesslich wird auf der sprachlichen Ebene das zu erzählende Material artikuliert. Abweichungen von diesem Schema, wie es ebenfalls bei Chr. Lavant und bei Th. Bernhard der Fall ist, erzeugen bei den Rezipierenden eine
48 Ebd.; 24–26. 49 Vgl. dazu die Einführung in dieses Kapitel 3.
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Irritation, die entsprechend interpretiert werden will.50 Dank dem (impliziten) Zurückgreifen auf Schemata wissen die Produzierenden ungefähr, was von ihnen erwartet wird, respektive die Rezipierenden können abschätzen, was herauskommen könnte. Doch die Schemabildung (auch bei ganz einfachen Schemata, etwa wenn es nach den Ferien darum geht, zu erzählen, wie die arbeitsfreie Zeit erlebt wurde, wenn u. a. auf das Wetter und auf das Essen fokussiert wird) hat nicht nur Vorteile. Zwar bildet das Schema für die Erzählenden nur ein Gerüst, doch auch wenn eine vermeintliche Gestaltungsfreiheit angenommen wird, wie dieses Gerüst individuell ausgefüllt werden kann, übt es einen Anpassungsdruck aus. So etwa greifen die Produzierenden je nach Situation und zeitlichen Ressourcen auf Stereotypen, auf Generalklauseln, auf Abkürzungen und auf Auslassungen zurück – Wege also, die dem Verständnis für beide Seiten des Erzählten selten dienlich sind. Die zweite Operation von Koschorke, auf die hier verwiesen werden soll, besteht im Wechselspiel zwischen Redundanz und Variation. Mit Redundanz ist das Zurückgreifen auf und die Erfüllung eines bestimmten Schemas gemeint (also nicht das einfache Wiederholen eines Schemas) ; die Varianz hingegen bezieht sich auf die individuelle Abweichung vom Schema. Koschorke stellt die Vermutung auf, dass die Redundanzrate von Kommunikation (er denkt dabei an Alltagsgespräche über den politischen Diskurs bis hin zu wissenschaftlichen Texten) « in allen Fällen bei weit über 90 Prozent »51 liege. Unabhängig davon, ob diese hohe Zahl zutrifft, können sicher drei Funktionen beschrieben werden, die die Redundanz in der Kommunikation einnimmt. Aus psychologischer Sicht geht es um das Wiedererkennen von narrativen Mustern, aus der kommunikativen Perspektive steht die Konsensbildung im Zentrum. Bei der systematischen Funktion schliesslich greift Koschorke auf die « segmentäre Differenzierung » der systemtheoretischen Ausführungen von Uwe Schimank zurück, um zu veranschaulichen, wie das Erzählen auf eine « unbeherrschbare, hochgradig turbulente Umwelt »52 reagiere, eben, indem die Produzierenden auf entsprechende Schemata zurückgreifen. Damit es möglich wird, sich diesen komplexen Prozess der Redundanz vorzustellen, führt Koschorke ein Schema ein, auf das in unterschiedlichem Kontext (und so auch im autobiographischen Erzählen) immer wieder Bezug genommen wird : 50 Der Aspekt des Zwanges zur Materialreduktion beim Erzählen wird zu Beginn des nächsten Kapitels anhand von Thomä weiter vertieft. 51 Koschorke, Albrecht : Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. 2012 ; 44. 52 Ebd.; 46.
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1. Der Held überschreitet die Grenze des Gewöhnlichen. 2. a) Er wird dadurch stigmatisiert. b) Er wird dadurch ausgezeichnet. 3. Er findet Mitstreiter, Helfer, Bewunderer. 4. Ein Widersacher stellt sich ihm entgegen. 5. a) Der Held wird besiegt. Er muss sich den herrschenden Normen beugen. b) Der Held überwindet den Widersacher und verändert die Normen.53 Dieses Schema « modelliert und remodelliert die Grenze zwischen dem, was gewöhnlich, normal und richtig ist, und jener Zone der Ungewöhnlichkeit und des Normverstosses, ohne die das Normale nicht gedacht werden kann ».54 Wie wirkmächtig das Schema ist, lässt sich auch bei Chr. Lavant und bei Th. Bernhard nachweisen, wobei vor allem bei Th. Bernhard der Aspekt des Widerstandes ein wesentliches strukturierendes Merkmal seiner Erzählung über sich selber ist. Unabhängig von Chr. Lavant und Th. Bernhard lässt sich sagen, dass die Bedingungen nicht immer so idealtypisch erfüllt sind. Sicher sind gerade moderne Autorinnen und Autoren bestrebt, eine solche Art der Erzählung zu durchbrechen, etwa weil das Endziel fehlt oder weil die Ereignisse nicht kausal wiedergeben werden. Hingegen unbestreitbar ist für die Produzierenden die Notwendigkeit, auf Ereignisse zurückzugreifen, um sich für sich selber, aber auch für die Rezipierenden verständlich zu machen.55 Denn ein Schrei wird in der Regel erst dann verständlich, wenn das schreiende Ich auf die Vergangenheit verweist, um das Jetzt zu erklären. Zusammenfassend greifen die Menschen in ihren Erzählungen auf Schemata zurück, hier im Konkreten auf das autobiographische Schema. Dabei handelt es sich um mögliche Strukturen des Erzählens, auf das sich sowohl Produzierende als auch Rezipierende beziehen. Je nach Intention und Kontext stehen unterschiedliche Formen im Zentrum (mündlich/schriftlich ; Tagebuch, Brief etc.). Diese Schemata sind kulturell bedingt und haben zur Folge, dass die Produzierenden ihr zu erzählendes Material auf eine ganz bestimmte Art und Weise in Bewegung setzen.
53 Ebd.; 48 f. 54 Ebd.; 49. 55 Gergen, Mary M. & Gergen, Kenneth J.: Narrative and the self as relationship. In : Advances in Experimental Social Psychology. Volume 21. Hrsg. von Leonard Berkowitz. 1988 ; 19.
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3.4 Die Rolle des Erzählens im Leben sowie das Erzählen und das Leiden Nachdem nun die Relevanz des Erzählens untersucht wurde, geht es in einem nächsten Schritt darum, darzulegen, welche Spielarten unterschieden werden können, um das Verhältnis Erzählen und Leben zu klären. Dieter Thomä unterscheidet in seinem Buch Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (ist es ein moderner, erneuerter Spruch von Delphi ?) vier verschiedene Formen, vier Formen, die er aus unterschiedlichen philosophischen Positionen ableitet. Bevor nun die einzelnen Rollen genauer beschrieben werden, ist es notwendig, zwei Spezifitäten von Thomäs Konzeption zu erwähnen : Erstens liegt der Fokus bei Thomä beim einzelnen Menschen, da für ihn die Frage im Zentrum steht, wie zu leben sei, und diese Frage, wie schon mehrmals festgehalten wurde, eng mit dem einzelnen Individuum verknüpft wird. Zweitens verbindet Thomä seinen Begriff der Erzählung mit jenem der Autobiographie : der Akt der Erzählung an sich (Erzähler in der Autobiographie), das, was erzählt wird (der Protagonist in der Autobiographie) sowie die Geschichte an sich (zum einen die reale Person, zum anderen die « Fähigkeit, das eigene Leben zu leben oder zu führen, so-oder-anders zu leben »56). Diese Verbindung zwischen dem Erzähler, dem Protagonisten und der Person nennt Thomä die « autobiographische Triade »57. In Rückbezug auf John Lockes Definition, was eine Person auszeichnet (eine Person ist für Normen zugänglich, ist auf die Qualität ihres Lebens orientiert und versteht sich als Urheber von Handlungen), unterscheidet Thomä drei verschiedene Arten, in denen die Erzählung für die Person in ihrem Leben relevant ist, nämlich die Selbstbestimmung/Selbstverantwortung (Fokus auf der Person), die Selbstfindung (Fokus auf den Protagonisten) sowie die Selbsterfindung (Fokus auf den Erzähler). Die erste Variante zeichnet sich dadurch aus, dass Personen sich dann auf diese Art von Erzählung berufen, wenn « man zur Rechenschaft gezogen wird, Handlungsalternativen abwägt, Erinnerungen mobilisiert etc. »58. Somit ist die Person bei dieser Art der Herstellung von Zusammenhang auf den Erzähler wie auch auf den Protagonisten angewiesen, indem die Person mithilfe des Erzählers berichtet, was man in der Erzählung als Protagonisten erlebt. Die 56 Thomä, Dieter : Erzähle dich selbst. 2015 ; 26. 57 Ebd.; 27. Während der Begriff « Protagonist » gleich aufzufassen ist wie bei Lejeune, wird jener des Erzählers sowie der Person umgedeutet. Der Erzähler ist bei Thomä auch eine Instanz, die auf den Text zurückgreift, und der Autor bei Lejeune wird als Person aufgefasst, welche über den Text hinaus von Bedeutung ist (ebd.; 279). 58 Ebd.; 28.
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Person geht bei dieser Variante davon aus, es sei möglich, etwas zu wollen und sich danach zu verhalten. Die Erzählung kommt « dadurch ins Spiel, dass das, was getan wird und geschieht, erwähnt werden muss »59. Doch durch diese Vorgehensweise ist die Person stark herausgefordert. Um seinen Gedanken auszuführen, greift Thomä zurück auf Taylors Unterscheidung zwischen einer Person, die planen kann und diese Planung auf Ziele ausrichtet, und einer Person, welche sich auf « Standards » bezieht. Das Problem hängt nun mit der Vergangenheit der Person zusammen, die zu Einschränkung ihrer Freiheit führt, da die Planung, von der Taylor spricht, von früher gesetzten Standards bedingt wird (Differenz zwischen in actu und post hoc).60 Treffend hat Thomä diese Schwierigkeit bei der Zuschreibung von Handlungen mit einem Vers aus Goethes Ballade Der Fischer zusammengefasst und auf den Punkt gebracht : « Halb zog sie ihn, halb sank er hin. »61 Und so wird die Person schliesslich vom Protagonisten in dieser Art der Erzählung angefochten.62 Im Gegensatz zum Modell der Selbstbestimmung/ Selbstverantwortung, die eben auf die Lebensgeschichte zurückgreift, um Intentionen auszuarbeiten, gehen die Vertreter der Selbstfindung davon aus, die Person sei auf den Protagonisten zurückzubinden. Diese Position setzt also beim Einwand ein, der beim ersten Modell erläutert wurde, indem die Person der « L ebensgeschichte nicht mit befreiender, sondern mit bindender Wirkung »63 versichert, denn, wie MacIntyre, ein prominenter Vertreter dieser Position, festhält, sind die Personen nicht in der Lage, sich von der Erzählung des Lebens zu distanzieren. Der Mensch kann nicht, wie im ersten Modell behauptet, gegenüber seiner Tradition selbstbestimmt auftreten, er ist auf die Gemeinschaft und auf deren Geschichte bezogen.64 Doch ein entscheidendes Problem dieser Position ist, wie Thomä nach seiner Analyse zu MacIntyre zum Schluss kommt, dass ein nicht auflösbarer Widerspruch besteht zwischen der « Fokussierung in der Interaktion, in der man mit seinen Qualitäten gefragt ist »65, und auf der anderen Seite eine solche Suche gar nicht relevant ist ; oder einfacher auf den Punkt gebracht : « Wer sich finden will, kann nicht behaupten, herauszufinden, wie er selbst ist »66, denn beim « Leben handelt es sich – anders als bei den Postwertzeichen aus 59 Ebd.; 40. 60 Ebd.; 32 resp. 168. 61 Ebd.; 42. 62 Ebd.; 32. 63 Ebd.; 33. 64 Ebd.; 84. 65 Ebd.; 119. 66 Ebd.; 168.
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DDR-Produktion – nicht um ein abgeschlossenes Sammelgebiet »67. Die dritte Möglichkeit besteht darin, den Erzähler ins Zentrum zu rücken, eine Position, die Thomä « Selbsterfindung » nennt und dabei auf die Konzeptionen von Rorty und von Nietzsche zurückgreift. Die Macht des Erzählers rührt daher, dass er weniger auf Fakten angewiesen ist, als es beim Protagonisten der Fall ist. Er kann sich zwar auf sie zurückberufen, doch sein Umgang damit ist viel freier, er ist in dieser Lesart in der Lage, sein Material frei zu gestalten, ja, gar zu erfinden. Während der Protagonist davon ausgeht, die Zukunft sei offen, ist der Erzähler der Ansicht, dies träfe auf die Vergangenheit zu. Da der Erzähler sich somit nicht ausschliesslich auf die Fakten beziehen muss, kann er das Material nach ästhetischen Kriterien ausrichten, und so erstaunt es nicht, weshalb in diesem Modell die literarische Erzählung als mögliche Form einen grossen Stellenwert einnehmen kann (und es erstaunt auch nicht, wenn Th. Bernhard beim Erzählen von sich selber zumindest in Teilen auf dieses Modell zurückgreift). Das Problem, welches sich der Erzähler einhandelt, ist u. a. auf zwei Ebenen angesiedelt. Zum einen wird die Zuschreibung von Handlungen erschwert, da die Gründe, die für eine Handlung angegeben werden, nicht mehr die erklärende Kraft zu haben brauchen, wie es für den Protagonisten der Fall ist, das Selbst wird zum « ‹Produkt› von Erzählungen erklärt »68. Die Folge wäre eine Kontingenz des Selbst, welches sich von einem Selbst, das aus einer bestimmten Geschichte erwachsen und ausgebildet ist, verabschiedet hat, von einem Ich, welches im Widerstreit mit einem Selbst steht, « das qualitativ reicher ist als eine bloss vorausgesetzte Handlungsinstanz, und dabei rechtfertigen kann, dass bestimmte Qualitäten « ‹sie selbst› ausmachen »69. Zum anderen ist der Erzähler in seiner Kreativität nicht so frei, wie er es sich wünschen mag, da auch er auf das sprachliche Material angewiesen ist.70 Weil alle drei ausgearbeiteten Varianten von Thomä mit Problemen behaftet sind, schlägt er als Alternative die « Selbstliebe » vor, eine Konzeption, bei der es darum geht, « ein Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln, das der Auslieferung des Lebens an die Erzählung, die nicht stringent durchzuführen ist, widerspricht, ohne doch in eine Position zu geraten, die sich gegen das Leben, in das man immer schon hineingeraten ist, sperrt ».71 Es geht um ein gelockertes Verhältnis zwischen Erzählung und Leben, denn « zur Erzählung 67 Ebd.; 120. 68 Ebd.; 123. 69 Ebd.; 163. 70 Ebd.; 37. 71 Ebd.; 38.
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gehört, dass man sich der Welt aussetzt : der Welt, in der man lebt, und der Welt, in der man erzählt »72, also frei von « findender Ohnmacht »73, frei von « erfindender Allmacht »74 und frei von den unrealistischen Erwartungen an das eigene Subjekt. Es scheint gerade der leidenden Person diese « Selbstliebe » abhandengekommen zu sein, sie muss sich, wie wir gesehen haben, um die Vergangenheit kümmern, um das Leiden zu interpretieren, denn, wie Thomä festhält, « wer seiner Sache sicher ist, muss sich um biographische Einbindung nicht bemühen »75, ein Umstand, der auf den leidenden Menschen nicht zutrifft. Auf der anderen Seite scheint gerade die Selbstliebe einen Weg zu eröffnen, einen Umgang mit dem Leiden zu finden, weil sie sich gegen die Angebote der Erzählung für das Leben zur Wehr setzt und sich somit gegen verkürzte Wege versperrt. Es liege, so Thomä, in der Selbstliebe die Bereitschaft, « sich dem Schmerzhaften der Vergangenheit und der Geschichte, in die man verwickelt ist, zuzuwenden »76. Beide, Chr. Lavant und Th. Bernhard, wendeten sich dem Leiden zu, allerdings mehr aus Not als aus Selbstliebe heraus. Vielleicht bestünde eine Lösung darin, sich ein « anti-narratives Vergessen »77 anzueignen, um so die leidvolle Vergangenheit zu vergessen und sich von der « narrativen Identifizierung des Menschen »78 zu verabschieden ? Sicher ist, an dieser Stelle kann Folgendes festgehalten werden : In der Diskussion des Verhältnisses zwischen Erzählen und Leben geht es weniger darum, ob die Person auf das Modell der Selbstbestimmung, der Selbstfindung oder der Selbsterfindung zurückgreifen kann (dass es möglich ist, sich auf diese Modelle zu beziehen, bezeugen die von Thomä diskutierten Autoren, auch wenn daraus Probleme folgen), sondern um die Frage, ob sie sich auf eines der Modelle abstützen soll. Es steht also die ethische Perspektive im Zentrum. In Kapitel 8 und 9 wird nochmals auf die Ausarbeitung Thomäs Bezug genommen. Bei diesem Rückgriff soll der Fokus der Rezipierenden, der Sprache wie auch die Frage, in welcher Form die Erzählung zu erfolgen hat, stärker berücksichtigt werden. 72 Thomä, Dieter : Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben. In : Narrative Ethik : Das Gute und das Böse erzählen. Hrsg. von Karen Joisten. 2007 ; 93. 73 Thomä, Dieter : Erzähle dich selbst. 2015 ; 174. 74 Ebd. 75 Ebd.; 262. 76 Ebd.; 271. 77 Ebd.; 262. Thomä diskutiert am Ende seines Buches ein Beispiel mit einem Arzt, der sich darüber beklagt, er habe bis zum heutigen Zeitpunkt nur das gemacht, was die Eltern von ihm gewünscht hätten. Als Konklusion hält Thomä fest, bei ihm sei eben die Selbstliebe verloren gegangen ; es folgt daraus eine innere Unruhe, der Arzt fühlt sich unfrei (ebd.; 252). 78 Ebd.; 267.
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Basierend auf der Diskussion bei Thomä gilt es nun, die Frage nach der Bedeutung des Erzählens für das Leben weiter auszuführen. Die Ausgangslage für diese Konkretisierung bilden zwei Positionen, die die Verknüpfung zwischen Leben und Erzählen entweder negieren (Galen Strawson) oder zumindest abschwächen (Peter Lamarque). Um das weite Feld der Wissenschaften, die sich mit dem Erzählen und der Erzählung auseinandersetzen, zu strukturieren, führt Strawson in seinem Aufsatz Against Narrativity die Unterscheidung zwischen der psychologischen Erzählung (psychological Narrativity) und der ethischen Erzählung (ethical Narrativity) ein.79 Die psychologische Erzählung weist auf den Umstand hin, dass wir Menschen das Leben als eine narrative Geschichte erleben. Die ethische ist eng mit der psychologischen verbunden, die von uns fordert, um ein gutes Leben führen zu können, auf die Erzählung zurückzugreifen. Ausgehend von der psychologischen (also deskriptiven) und der ethischen (also normativen) Unterscheidung der Erzählung können nun vier Kombinationen abgeleitet werden, indem entweder nur die psychologische oder nur die ethische Erzählung bejaht wird, oder es werden beide verneint respektive bejaht, wobei die letzte Variante die dominierende an der Universität sei, wie Strawson festhält. Strawson verneint nun diese dominierende Auffassung, denn nach seiner Meinung trifft weder die psychologische noch die ethische Erzählung zu.80 Um seine Position zu begründen, führt er die Unterscheidung zwischen einer diachronischen und einer episodischen Perspektive auf das Leben ein. Die diachronische Perspektive definiert er folgendermassen : « One naturally figures oneself, considered as a self, as something that was there in the (further) past and will be there in the (further) future. »81 Im Kontrast dazu die episodische : « One does not figure oneself, considered as a self, as something that was there in the (further) past and will be there in the (further) future. »82 Somit seien Personen, die der diachronischen Perspektive folgen, narrative Personen, Personen also, die das Leben als eine Selbst-Erzählung begreifen, während dies für die Personen, die das Leben als Episoden verstehen, eben nicht zutreffe.83 Auch wenn es Überschneidungen zwischen die-
79 Unter Narration versteht Strawson eine gewöhnliche Geschichte, die in Worten erzählt wird (Strawson, Galen : Against Narrativity. In : Ratio XVII, vom 4. Dezember 2004 ; 439). 80 Auf die Unmöglichkeit, von einer deskriptiven auf eine normative Aussage zu schliessen, geht Strawson nicht ein. 81 Strawson, Galen : Against Narrativity. In : Ratio XVII, vom 4. Dezember 2004 ; 430. 82 Ebd. 83 Die Beziehung zwischen Narration und Diachronie präzisiert er später (vgl. ebd.; 439).
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sen Positionen gebe, weist Strawson auf ihre grosse Gegensätzlichkeit hin.84 Um seine Auffassung, wie ein episodisches Leben zu verstehen sei, darzulegen, führt er eine allgemeine Bestimmung ein, indem er darlegt, die Vergangenheit könne be present or alive in the present without being present or alive as the past. The past can be alive […] in the present simply in so far as it has helped to shape the way one is in the present, just as musicians’ playing can incorporate and body forth their past practice without being mediated by any explicit memory of it.85
Diese Auffassung über den (geringen) Stellenwert der Vergangenheit bezieht er dann auf sein eigenes Leben, indem er betont : « I have absolutely no sense of my life as a narrative with form, or indeed as a narrative without form. Absolutely none. Nor do I have any great special interest in my past. Nor do I have a great deal of concern for my future. »86 Um sein Narrationsverständnis weiter auszuführen, führt Strawson drei häufig genannte Mechanismen ein, die in einer Erzählung eine Rolle spielen sollen. Zum einen die Formfindungstendenz (form-finding tendency), bei der nach der Kohärenz sowie nach grösseren Zusammenhängen im Leben gesucht wird. Zum anderen die geschichtenerzählende Tendenz (story-telling tendency), eine Unterart der formfindenden Tendenz, welche darin besteht, die eigene Erfahrung in eine anerkannte Erzählform zu giessen (vgl. dazu auch das Kapitel 3.3). Schliesslich folgt der dritte Bestandteil, die Revisionsthese (revision thesis), das heisst, die oftmals unbewusste Anpassung der Erzählung an neue oder veränderte Begebenheiten.87 Strawson lehnt alle drei Tendenzen für sich selbst ab, wobei er einräumt, dass die dritte Tendenz am schwierigsten zu vermeiden sei (weil sie eben oftmals unbewusst vollzogen werde).88 Wenn nun diese drei Tendenzen nicht verneint werden, bedeutet dies, sich immer weiter von sich selber zu entfernen. Je mehr Erinnerungen wiederholt und wiedererzählt werden, desto mehr bewegt sich das erzählende Subjekt von sich selber weg. Hinzu kommt die Schwierigkeit, wenn Erinnerungen wiedererzählt werden, dass diese mit der Zeit ein Eigen84 Als Beispiel für Überschneidungen führt Strawson eine Erinnerung an, die einen in Verlegenheit bringe und so die Relevanz der diachronischen Lesart stütze, oder er verweist bei den diachronischen Personen auf Erinnerungen, die sie nicht mit ihrer Geschichte verbinden können, was dann eben für die episodische Lesart spreche (vgl. ebd.; 430 f ). 85 Ebd.; 432. 86 Ebd.; 433. 87 Ebd.; 441–443. 88 Ebd.; 447.
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leben annehmen, geglättet, erhöht oder verdrängt werden (alles Phänomene, die spätestens seit Freud bekannt sind). Somit kommt Strawson zum Schluss, dass Menschen sich entwickeln können, ohne sich auf narrative Reflexionen zu beziehen, indem er meint « the business of living well is, for many, a completely non-Narrative project »89, weswegen es äusserst unklar (most unclear) sei, ob das geprüfte Leben, wie es Sokrates vorschwebte, überhaupt angestrebt werden solle.90 Philosophen wie MacIntyre oder Taylor, die die psychologische und die ethische Erzählung bejahen, sprächen vor allem von sich selber. Für einen selber möge es zutreffen, so Strawson, die These könne aber nicht verallgemeinert werden. Mit der Position von Strawson sind mehrere Probleme verbunden. Wie muss man sich einen Menschen vorstellen, der « any great or special interest in my past. Nor do I have a great deal of concern for my future »91 ? Ein zentrales Argument gegen diese Marginalisierung der Erzählung, sowohl der psychologischen als auch der ethischen, zeigt sich bei Menschen, die sich in einer seelischen Krise befinden. Um diesen Punkt zu vertiefen, ist es hilfreich, auf MacIntyre und auf Taylor zurückzugreifen. Für MacIntyre sind gerade jene Menschen anfällig für Suizid, die sich darüber beklagen, das Leben sei bedeutungslos. Für sie sei die Erzählung des Lebens unverständlich geworden.92 In dieselbe Richtung argumentiert Taylor. Ein Mensch befinde sich dann in einer Identitätskrise, wenn er die Orientierung verloren habe, oder, wie es Taylor formuliert : « […] lack of frame or horizon within which things can take on a stable signifiance »93. Die Aufgabe einer entsprechenden psychologischen Therapie besteht nun darin, das angehäufte Material des Lebens so zu ordnen, dass es wieder möglich wird, die verschiedenen Selbst-Bilder auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart und auf die Zukunft zu beziehen, um für sich wieder stimmige Ziele zu formulieren.94 89 Ebd.; 448. 90 Somit nähert sich diese Position von Strawson jener von Tiberius an, die weniger Selbsterkenntnis fordert (vgl. dazu Kapitel 2.4.1). 91 Strawson, Galen : Against Narrativity. In : Ratio XVII, vom 4. Dezember 2004 ; 433. 92 MacIntyre, Alasdair : Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen von Wolfang Rhiel. 2006 ; 290. 93 Taylor, Charles : Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. 1989 ; 27 f. 94 In die gleiche Richtung formuliert es Georg Christoph Lichtenberg : « Wenn man jung ist, so weiß man kaum daß man lebt. Das Gefühl von Gesundheit erwirbt man sich nur durch Krankheit. Daß uns die Erde anzieht merken wir wenn wir in die Höhe springen, durch Stoß beim Fallen. Wenn sich das Alter einstellt, so wird der Zustand der Krankheit eine Art von Gesundheit und man merkt nicht mehr, daß man krank ist. Bliebe die Erinnerung des Vergangenen nicht, so würde man die Änderung wenig merken. Ich glaube daher auch daß die Tiere auch nur in unsern Augen alt
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Zwar räumt Strawson ein, auch eine Episodikerin oder ein Episodiker erinnere sich manchmal an bestimmte Ereignisse, mit der zitierten Einschränkung, dass « the past can be present or alive in the present without being present or alive as the past »95. Wie, so stellt sich die Frage, kann man sich diese Art von Erinnerung vorstellen ? Es ist nicht möglich. Denn wie wichtig die diachronische Einbettung für uns Menschen nicht nur im Kontext von Leidenserfahrungen ist, macht Taylor an mehreren Beispielen verständlich, angefangen bei alltäglichen Handlungen. Wenn ich jemanden bitte, in meinem Wohnzimmer zu überprüfen, ob das Bild gerade hängt, sucht das Gegenüber den passenden Abstand, richtet die Aufmerksamkeit aus und beurteilt die Situation. So angewendetes Erfahrungswissen basiert auf Wissen, welches seit der Kindheit entwickelt wurde.96 Das Diachronische zeigt sich allerdings nicht nur in solchen Alltagshandlungen, sondern auch bei grösseren und gewichtigeren Entscheidungen. Wenn eine Person sich überlegt, wo sie in diesem Jahr die Ferien verbringen möchte, greift sie auf gemachte Erfahrungen zurück und kommt am Ende der Überlegungen zu einem entsprechenden Schluss. Das Freilegen von solchen Bezügen in der Vergangenheit macht gerade den Reiz und die Notwendigkeit von autobiographischen Schriften aus. Und diese diachronische Einbettung wird durch die Erzählungen einsichtig gemacht. Es ist die Fähigkeit von uns Menschen, von uns zu erzählen und uns so einen Zugang zu uns selbst und der Welt herzustellen. Oder, wie es Taylor formuliert : « It is through story that we find or devise ways of living bearably in time »97, und deshalb ist die Erzählung für ihn « unsubstitutable »98. Um den Standpunkt innerhalb des Rahmens (« framework »99) zu erkennen, ist es notwendig, auf die Erzählung zurückzugreifen, wobei die Erzählung nicht nur als ein Hilfsmittel zur Strukturierung der Gegenwart verstanden werden darf, sondern es ist für Taylor die Erzählung, die es ermöglicht, überhaupt über sich selber nachzudenken, eine einheitliche Geschichte zu erzählen. Ob es dabei notwendig ist, diese Einheit auf das Gute auszurichten, wie es Taylor fordert, soll werden. Ein Eichhörnchen, das an seinem Sterbe-Tage ein Auster-Leben führt, ist nicht unglücklicher als die Auster. Aber der Mensch der an drei Stellen lebt, im Vergangnen, im Gegenwärtigen und in der Zukunft, kann unglücklich sein, wenn eine von diesen dreien nichts taugt. Die Religion hat sogar noch eine vierte hinzugefügt, die – Ewigkeit. » (Lichtenberg, Georg Christoph : Sudelbücher I. 2005 ; 920). 95 Strawson, Galen : Against Narrativity. In : Ratio XVII, vom 4. Dezember 2004 ; 432. 96 Taylor, Charles : The language animal. The full shape of the human linguistic capacity. 2016 ; 300–302. 97 Ebd.; 319. 98 Ebd.; 292. 99 Taylor, Charles : Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. 1989 ; 26.
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uns an dieser Stelle nicht interessieren.100 Vielmehr scheint hier ein gewichtiger Einwand an Strawsons Auffassung gegen die diachronische Leseart des Lebens vorzuliegen. Unsere Bedürfnisse und Wünsche oder Leidenschaften fallen uns nicht einfach zu, wir befinden uns ja nicht in einem geschichtslosen und perspektivlosen Raum. Zwar können wir uns mit Verhaltensweisen und Bedürfnissen konfrontieren, die wir nicht prima facie mit dem Rückgriff auf unsere Geschichte erklären können, aber das heisst noch nicht, dass es nicht auch möglich wäre. Ein solches anscheinend nicht motiviertes Verhalten zu motivieren, war eine Quelle von Freuds Bestreben, das in seinem Werk einen grossen Raum eingenommen hat, nämlich den Nachweis zu erbringen, es gebe keinen Zufall, alles menschliche Verhalten sei erklärbar. Sofern ein nicht erklärbares Verhalten vorliegt, dann wurden noch nicht die richtigen Fragen gestellt respektive es wurde zu wenig Zeit in die Erforschung des Verhaltens investiert. Sollte eine Intention der Argumentation von Strawson darin liegen, was er aber nicht expliziert, den Nachweis zu erbringen, es sei nicht immer notwendig, alles menschliche Verhalten rationalisieren zu wollen, mag dies für alltägliche Handlungen stimmen, nicht aber, wenn man wissen will, was die Quelle eines Leidens sein könnte (Blick in die Vergangenheit) oder ob es sinnvoll ist, sich für ein bestimmtes Ziel (Blick in die Zukunft) einzusetzen. Dann ist es sehr wohl hilfreich, ja, gar vonnöten, sich auf seine eigene Geschichte zurückzubesinnen, zu wissen, who I am by defining where I speak from, in the family tree, in social space, in the geography of social statues and functions, in my intimate relations to the ones I love, and also crucially in the space of moral and spiritual orientation within which my most important defining relations are lived out.101
Und dieses von Taylor formulierte Wissen über mich selber kann ich mir nur dadurch erarbeiten, indem ich mich eben als ein diachronisches Wesen betrachte. Hampe spitzt diesen Gedanken zu, wenn er schreibt : « […] ohne Erinnerung und ohne Erzählungen gibt es keine lebensgeschichtliche Reflexivität. Einzelwesen sind nichts anderes als ihre Lebensgeschichten, und sie besitzen ohne Erinnerungen und Erzählungen kein lebensgeschichtliches Selbstbewusstsein, keine Reflexionsfähigkeit. »102 So sind wir auf eine diachronische Lesart von uns angewiesen, gerade in Bezug auf das Erzählen von Leidenserfahrungen. 100 Ebd.; 47. 101 Ebd.; 35. 102 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 288.
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Schliesslich sind zwei weitere Probleme mit der Position von Strawson verbunden.103 Da Strawson in seinen Überlegungen vor allem auf die Produzierenden fokussiert (manchmal weist er am Rande auf die Rezipierenden hin, etwa wenn er schreibt, « […] they take it that they must also be fundamental for everyone else »104), unterschätzt er den Einfluss auf das Selbst-Erzählen, der von den Rezipierenden ausgeht (wird im Kapitel 5 ausführlich analysiert). Denn wenn der gesamte Rahmen berücksichtigt wird, in dem die Erzählungen eingebettet sind, können diese drei von ihm genannten Tendenzen, allen voran die formfindende und die geschichtenerzählende, nicht einfach so leicht verneint werden, wie Strawson dies vorschwebt. Schliesslich ist die Aufteilung der Produzierenden in zwei Klassen (Diachronie und Episode), wie Thomä festhält, grundsätzlich nicht plausibel, denn zwar treffe es zu, dass Stendhal, Virginia Wolf oder Marcel Proust ihr Leben nicht in einer diachronen Lesart erzählen, « doch halte ich es für absurd, diese Autoren aus dem Raum des ‹Narrativen› auszuschliessen »105. Trotz der erwähnten Kritik an Strawson bleibt abschliessend sein Verdienst zu betonen, nämlich die Relevanz des Erzählens für das Leben kritisch zu hinterfragen. Doch genauso wie die sehr enge Verknüpfung zwischen (dem guten) Leben und Erzählung, die MacIntyre formuliert und von Thomä kritisiert worden ist, leuchtet die Lesart von Strawson nicht ein, wenn er die Erzählung aus dem Leben verbannen will. Im Gegensatz zu Strawson verneint Lamarque die Bedeutung des Erzählens für das menschliche Leben nicht, sondern er schränkt seine Reichweite in seiner zuletzt veröffentlichten Monographie The Opacity of Narrative ein. Die Kritik hängt mit unserem Verständnis des Erzählens zusammen, welches sich eng an die literarische Erzählung anlehne, ja, diese Form der Erzählung könne gar als « archetypal »106 aufgefasst werden.107 Die Folge sei, dass wir dadurch mit einer Reihe von Mythen konfrontiert seien, welche dem Antirealismus in die Hände spielen. In seinem Kapitel On Not Expecting Too Much form Narrative 103 Auf den folgenden Einwand soll an dieser Stelle verwiesen werden : Den Vorwurf, den Strawson an MacIntyre oder an Taylor formuliert, nämlich sie sprächen nur von sich, kann auch auf ihn selber angewendet werden, wenn er schreibt « I’ll use myself as an exemple » (Strawson, Galen : Against Narrativity. In : Ratio XVII, vom 4. Dezember 2004 ; 433). 104 Ebd.; 439. 105 Thomä, Dieter : Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben. In : Narrative Ethik : Das Gute und das Böse erzählen. Hrsg. von Karen Joisten. Berlin : Akademie. 2007 ; 81. 106 Lamarque, Peter : The Opacity of Narrative. 2014 ; 65. 107 Wie Michel de Certeau nachweist, greift auch Freud in seinen Fallgeschichten auf das « Vorbild » der literarischen Erzählung zurück (De Certeau, Michel : Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse. Übersetzt von Andreas Mayer. 2006 ; 81-106).
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führt er mehrere Argumente auf, um diesen Mythen entgegenzuwirken. Auf ein Argument soll im Folgenden etwas näher eingegangen werden. Es hängt mit der Kritik von Lamarque an MacIntyre zusammen. Wie schon mehrmals erwähnt wurde, geht MacIntyre davon aus, die Einheit des Lebens bestehe im Erzählen.108 Und genau an dieser Stelle wirft Lamarque MacIntyre vor, er drifte in die fiktionale Erzählung ab, da er personale Identität mithilfe der Terminologie der literarischen Erzählung beschreibe. Als weiteren Beleg für diese Parallelisierung verweist Lamarque auf die literarischen Gattungen, auf die MacIntyre zurückgreift, mit dem Ziel, Gespräche einzuordnen : Wir ordnen Gespräche bestimmten Gattungen zu, so wie wir es mit literarischen Erzählungen tun. Tatsächlich ist ein Gespräch ein dramatisches Werk, wenn auch nur ein sehr kurzes, in dem die Beteiligten nicht nur die Schauspieler sind, sondern auch gemeinsam Autoren, die in gegenseitiger Übereinstimmung oder in fehlender Übereinstimmung die Form ihrer Produktion ausarbeiten.109
MacIntyre geht gar so weit, das Leben in eine der literarischen Gattungen einzuordnen, nämlich in jene der Tragödie.110 Diese Verknüpfung zwischen der Einheit des Lebens mit der Erzählung ist zum einen deshalb nicht plausibel, weil, wie Lamarque in Anlehnung an die empirischen Untersuchungen von Bruner ausführt, wir zwar Geschichten erzählen, diese aber oft stumpfsinnig, fragmentiert und inkonsequent seien. Nur wenige Menschen erzählen in Form einer vollen Biographie oder Autobiographie ihr ganzes Leben. Hinzu komme, die meisten Menschen hätten mehr als eine Variante eines Ereignisses zu erzählen, je nach Standpunkt variierten die Schilderungen, was zu der Schwierigkeit führe, ja gar unmöglich sei, von einer Einheit des Lebens mittels der Erzählung zu sprechen. So folgert Lamarque, nicht die Erzählung produziere unsere personale Identität, sondern « the narration presupposes this unity »111. Doch über diese Einheit verfügten nur Menschen mit einem starken Selbstbewusstsein, alle anderen, und dies sei die grosse Mehrheit, zögerten aufgrund der Inkonsistenz sowie ihrer multiplen Persönlichkeit, ihr Leben als eine grosse Selbsterzählung zu beschreiben.112 Aus den Überlegungen von Lamarque ist ein Punkt entscheidend : 108 MacIntyre, Alasdair : Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen von Wolfang Rhiel. 2006 ; 292. 109 Ebd.; 282. 110 Ebd.; 284. 111 Lamarque, Peter : The Opacity of Narrative. 2014 ; 64. 112 Ebd.
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Das reale Leben schwingt in den hier zu untersuchenden autobiographischen Schriften stets mit, also gilt es, sich der Gefahr bewusst zu sein, dass das Leben nicht mit der Literatur verwechselt werden darf. Die Literatur hat ihre inhaltlichen, formalen und sprachlichen Eigenheiten, die sich von den autobiographischen Erzählungen im realen Leben unterscheiden. Wenn nun aber trotzdem auf die literarischen Erzählungen von Chr. Lavant und Th. Bernhard eingegangen wird, um die ethische Dimension des autobiographischen Erzählens auszuführen, dann deshalb, weil anhand von diesen über die literarischen Eigenheiten hinausgehende Überlegungen formuliert werden können (Stichworte sind die Präfiguration auf der Seite der Produzierenden und die Refiguration sowie die narrative Ethik auf der Seite der Rezipierenden). Abschliessend werden zwei weitere Argumente ausgeführt, die über die Positionen von Strawson und von Lamarque hinausgehen, welche bei Selbsterzählungen in diesem Kontext der Grenzen des Erzählens mitberücksichtigt werden müssen. Das erste Argument hängt mit dem Zufall zusammen. Wie Hampe in seiner Studie Die Macht des Zufalls aufzeigt, wird die Rolle des Zufalls in unserem Leben unterbewertet. Erzählungen würden häufig dazu dienen, Zufälligkeiten zu unterschätzen, wobei gerade das Gegenteil angebracht wäre, nämlich zu erkennen, wie stark unser Leben von scheinbar belanglosen Zufällen abhängig ist.113 Wenn also der Aspekt des Zufalls genügend berücksichtigt würde, wäre es nur unter grossen Anstrengungen möglich, von einer Einheit des Lebens zu sprechen, denn eine solche Einheit setzt eine mehr oder minder bewusste Setzung von Zielen und von planbaren Schritten voraus. Da der Zufall bekanntlich nicht eingeplant werden kann, aber grossen Einfluss auf unsere Gestaltung des Lebens einnimmt, ist diese Einheit stark gefährdet. Es mag Grenzfälle geben, in denen jemand dafür argumentieren kann, es sei zum Beispiel kein Zufall gewesen, derjenigen Person, die später zur Lebensgefährtin geworden ist, begegnet zu sein, aber in anderen Fällen müsste eingestanden werden, es sei der Zufall gewesen, welcher zu dieser oder jener Entscheidung geführt habe. Die Verlockung, sich selber zu täuschen, indem man den Urheber einer Handlung bei sich selber sucht und findet, ist gross. Das zweite Argument hängt mit dem eingangs dieses Kapitels formulierten Unterschied zwischen Argumentieren und Erzählen zusammen. Wie Bruner (vgl. dazu Kapitel 3.2) hält auch Hampe richtigerweise fest, die Erzählung komme dann zum Einsatz, wenn nach der Annahme eines Arguments gefragt wird (vgl. dazu Kapitel 2.1.3). Die Annahmen können zwar weiter begründet werden, doch wenn man nicht daran glaubt, « dass die Begründungen 113 Hampe, Michael : Die Macht des Zufalls. Über den Umgang mit dem Risiko. 2006 ; 206.
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von Annahmen irgendwann zu einem Satz führen, der sich selbst begründet oder selbstevident ist »114, muss eben die Erzählung einspringen, um bei Bedarf die Lücken zu füllen. Diesen Gedanken führt Hampe anhand des Romans von John Maxwell Coetzee Elisabeth Costello aus. Das Interessante bei dieser Perspektive von Hampe ist, dass er uns anhand des Romans wieder in Erinnerung ruft, woher die Voraussetzungen für die Argumente primär genährt werden, nämlich von den Lebenserfahrungen. Wie er präzisiert, ist es eben gerade die Fiktion, also unsere Imaginationsfähigkeit, die einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen, Argumenten, Handlungen sowie den sozialen und politischen Umständen herstellt. Somit werden Argumente erst dann vollends einsichtig, wenn ich die Erfahrungen meines Gegenübers, sofern dies möglich ist, kenne. Dank dieser Lesart wird auch verständlich, warum manche Menschen gewissen Argumenten zustimmen können, da sie die gleichen Lebenserfahrungen teilen respektive auf Ablehnung stossen, weil eben andere Erfahrungen zugrunde liegen. Die grosse Herausforderung für die Philosophie besteht darin, « nicht nur die Existenz von Erfahrungen untereinander und von Erfahrungen und Handlungen »115 zu berücksichtigen, die weder rein kausaler noch rein rationaler Art sind, denn die grundlegenden Erfahrungen stossen einem zu und werden gemacht oder eben nicht. Doch auch wenn die Argumente stets in einen komplexen Kontext eingebettet werden müssen, gilt es trotzdem manchmal, sich vom subjektiven Charakter der Erzählung zu distanzieren. Das kann an einem Beispiel erläutert werden, das von Nünning stammt, wo er, ausgehend von einer Studie von Gerhard Dannecker, die Relevanz der Erzählung im Gerichtssaal ausführt. Im Gerichtssaal werden zwei Erzählungen angehört, die Seite der Anklage und jene der Verteidigung, die dem « Richter als Grundlage dienen, seine eigene (Master-)Erzählung zu verfassen, die dem Urteilsspruch zugrunde liegt und zu dessen Begründung dient »116. An dieser Stelle allerdings, wenn der Richter eine « (Master-)Erzählung » erstellt, liegt eine Verwechslung vor. In einem Gerichtssaal, bei dem Recht und Unrecht gesprochen wird, geht es um Argumentation, es geht um eine Rechtfertigung der Anklage respektive der Verteidigung mittels Prämissen, die sich zwar, wie eben erwähnt, auf Erzählungen stützen können, doch da es bei der Erzählung im Gegensatz zum Argumentieren nicht um Wahrheit, sondern um Authentizität geht, eignet sich die Erzählung nicht für den Gerichtssaal. Überhaupt dort, wo 114 Hampe, Michael : Fiktion. In : Philosophische Kehrseiten. Eine andere Einführung in die Philosophie. Hrsg. von Natalie Pieper und Benno Wirz. 2014 ; 102–117. 115 Ebd.; 116. 116 Nünning, Vera : Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. 2013 ; 3.
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zwischen Recht und Unrecht aus einer objektiven Perspektive entschieden werden muss, also nicht nur im Gerichtssaal, stösst eine Erzählung an ihre Grenzen. So kann der Vertreter eines Staates, der Menschen verfolgt, die sich etwa für die freie Meinungsäusserung einsetzen, sich nicht auf den Standpunkt beziehen, sie hätten ein anderes Narrativ von den Menschenrechten, und sich dadurch mit diesem subjektiven Rückgriff der Verantwortung entziehen. Diese Diskussion der Rolle des Erzählens für das Leben und seine Grenzen zeigt für die Frage nach der ethischen Dimension von autobiographischen Erzählungen auf, dass es notwendig ist, sowohl aus der Sichtweise der Produzierenden als auch aus dem Blickwinkel der Rezipierenden zu prüfen, welche Rolle das Erzählen im Leben einer Person einnimmt. Denn, wie diese Ausführungen ebenfalls zeigten, ist es nicht möglich, weder von einer Einheit auszugehen noch eine klare Grenze zu ziehen. Eine besondere Situation liegt vor, wenn von Leidenserfahrungen erzählt wird, weil es das Leiden ist, das interpretiert werden will ; es ist deshalb auf die Erzählung angewiesen. Und je nach Erinnerungsstrukturen und der Perspektive der leidenden Person greifen sie auf verschiedene Varianten von Leben und Erzählung zurück, die daraus folgenden Schwierigkeiten kümmern sie in diesem Moment wenig. Der Wunsch, sich selber wieder zu ermächtigen, wird in den Vordergrund gestellt. 3.5 Das zweite Zwischenspiel Das Erzählen stellt eine Möglichkeit dar, uns die Welt zu erschliessen. Beim Vorgang des Erzählens, das nur aus einer interdisziplinären Perspektive vollständig beschrieben werden kann, gilt es, drei Ebenen zu unterscheiden, nämlich die produzierende Ebene, die Erzählebene und die Ebene der Rezipierenden. Ein besonderer Fokus in diesem Kapitel wurde bei den Produzierenden und bei den Rezipierenden auf die Erinnerungsstrukturen, beim Erzählten auf die zeitliche Dimension sowie auf ihre Form gelegt. Im Anschluss wurde erläutert, welche Funktionen Erzählungen annehmen können. Dabei stellt die von Ovid in seiner Sphragis formulierte Aussage nur eine Möglichkeit dar, wenn auch eine wichtige, wenn es darum geht, sich gegen die von Pythagoras beklagte Vergänglichkeit des Seins zur Wehr zu setzen. Es ist das Erzählen von Leidenserfahrungen, das sowohl für die Produzierenden als auch für die Rezipierenden ein Verstehen möglich macht, es ist das Erzählen, bei dem die Handlungsgründe transparent werden, und so ist das Erzählen ebenfalls in der Lage, ein Selbst zu konstituieren. Im nächsten Schritt ging es darum, auf die Erfüllungsbedingungen von
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Erzählungen hinzuweisen. Dank dieser Bedingungen, die in der Regel für eine gelungene Erzählung vorliegen müssen, wird es möglich, nachzuvollziehen, was mit dem erwähnten Begriff des « autobiographischen Schemas » in Kapitel 5.2 gemeint ist und was diese Erfüllungsbedingungen des Erzählens für die Produzierenden beziehungsweise für die Rezipierenden hinsichtlich des Verstehens bedeuten. Mithilfe dieser Ausführungen kann in Kapitel 8 und 9 untersucht werden, inwiefern Chr. Lavant und Th. Bernhard mit welchen Konsequenzen, gerade für das Erzählen über das Leiden, von diesen Bedingungen abweichen beziehungsweise sich distanzieren. Abschliessend wurde die Rolle der Erzählung für das Leben thematisiert. Ausgehend von den drei Typen, die Thomä diskutiert, wurden entsprechende Schwierigkeiten zwischen Erzählen und Leben thematisiert. Das von Thomä formulierte respektive aktualisierte und auf die Erzählung angewendete Konzept der Selbstliebe wird in Kapitel 8 und 9 wieder aufgegriffen. Mithilfe von Strawson und Lamarque wurde die Reichweite der Relevanz für die Erzählung weiter eingeschränkt, aber nicht aufgehoben. Denn es ist gerade die Erzählung, die für den Umgang mit dem Leiden von zentraler Bedeutung ist, obschon aus dem Können nicht notwendigerweise ein Sollen oder gar ein Müssen folgt.
4. Das Erzählen und die autobiographischen Schriften Ich wäre gern ein anderer geworden, Du auch ? Aber damit hätten wir früher beginnen müssen, jetzt ist es zu spät. Nicht so übel wäre es auch, gar nicht erst geboren zu sein, aber das kommt immer seltener vor, ich könnte dir da kaum irgendwelche Fälle nennen, es sei denn auf Anhieb, aber das willst Du gewiss nicht, mit Recht übrigens, ich mag so etwas auch nicht. (Auszug aus der Festschrift von Wolfgang Hildesheimer anlässlich des 70. Geburtstags von Max Frisch)1 Autobiographie Ich bin. Ich habe. Ich wollte. Ich könnte. Ich hätte müssen. Ich werde nie wieder. (Gedicht von Beat Sterchi, 2018)2
Während im vorhergehenden Kapitel das Erzählen thematisiert wurde, geht es im Folgenden um eine spezifische Form, wie das Erzählte transportiert werden kann, nämlich die autobiographischen Schriften. Wie Dilthey betont, ist die « Selbstbiographie […] nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf »3, es ist für ihn « die vollkommenste Explikation »4 des eigenen Lebens und der « direkteste Ausdruck der Besinnung »5 über das Leben. Die Vollkommenheit hängt nicht nur mit dem 1 2 3 4 5
Hildesheimer, Wolfgang : Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes. 1983 ; 17. Sterchi, Beat : Aber gibt es keins. 2018 ; 6. Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 1927 ; 200. Ebd.; 204. Ebd.; 198.
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Umfang der Selbstbiographie zusammen, sondern auch mit der Art, wie über das menschliche Leben reflektiert wird, es ermöglicht, die Einbettung des Selbst in die Rahmengeschichte darzulegen, « wie eine Monade von Leibniz [,] das geschichtliche Universum »6. Das Bestreben von Dilthey zeugt von einem Geschichts- und Subjektverständnis, welches sich aus der Perspektive des Historismus herleitet, einer Strömung, die allerdings keineswegs selbstverständlich und unproblematisch ist, wie die Abgrenzung Nietzsches mit seinem Subjektivismus oder wie die Diskussion Thomäs von seinem Verständnis der Erzählung für das Leben (Stichwort Selbstfindung, vgl. Kapitel 3.4) zeigen. Unabhängig davon, ob die Selbstbiographie oder Autobiographie, wie die Literaturwissenschaft solche Texte nennt, der Königsweg für die Darstellung des eigenen Lebens ist, sie ist nicht die einzige Form, über sich selber vertieft zu reflektieren, wie die folgenden Ausführungen aufzeigen. Wie gross das Bedürfnis der Menschen ist, sich selber zu thematisieren und wie vielseitig die Ausdrucksformen sind, diesem Bedürfnis in einer entsprechenden Form nachzugehen, zeigt ein Blick in die Geschichte der Künste. Es kann zum Beispiel auf die Heptalogie Licht von Karlheinz Stockhausen verwiesen werden, oder in der bildenden Kunst können die Selbstbildnisse – um einen möglichst grossen Kontrast aufzuzeigen – von Rembrandt von Rijn7, von Paula Modersohn-Becker8 oder die Skizzen von Paul Cézanne, jene Skizzen, die Cézanne fertigte, um seinen Alltag einem Tagebuch gleich, wie Anita Haldemann festhält, zu protokollieren9, genannt werden. Besonders eindrücklich und berührend ist das umfangreiche Werk von Charlotte Salomon Leben ? Oder Theater ? Ein Singspiel10. Dieses mehr als 1300 Blatt umfassende Gesamtkunstwerk mit Bild, Text und einer Anleitung, welche Musik zu den einzelnen Bildern gehört werden sollte, um sich entsprechend einzustimmen, schuf Salomon im südfranzösischen Exil in weniger als zwei Jahren von 1940 bis 1942, bevor sie, im fünften Monat schwanger, denunziert, am 7. Oktober 1943 nach Auschwitz de 6 Ebd.; 199. 7 Wie Ernst van de Wetering ausführt, hat Rembrandt sich mehr als 40-mal vor dem Spiegel gemalt (vgl. dazu : Van de Wetering, Ernst : The Multiple Functions of Rembrandt’s Self Portraits. In : Rembrandt by himself. Hrsg. von White, Christopher und Buvelot, Quentin.1999 ; 10). 8 Eine Auswahl unterschiedlicher Selbstbildnisse, in denen sich auch die ändernde Bildsprache im Verlaufe der Zeit gut nachvollziehen lässt, kann im folgenden Buch nachgesehen werden : Schneede, Uwe M. und Baumstark, Kathrin : Paula Modersohn-Becker. Der Weg in die Moderne. 2017 ; 132–147. 9 Haldemann, Anita : Der verborgene Cézanne. In : Der verborgene Cézanne : vom Skizzenbuch zur Leinwand. Hrsg. von Anita Haldemann. 2017 ; 16. 10 Salomon, Charlotte : Leben ? Oder Theater ? Ein Singspiel. Hrsg. von Frédéric Martin. 2015.
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portiert und kurz darauf, am 10. Oktober 1943, vergast wurde.11 In diesem Werk thematisiert Salomon ihr Leben von der Geburt 1917 bis zur Bekanntschaft und Liebe zu ihrem Mann Alexander Nagler. Ausgehend von der Reflexion des autobiographischen Materials durch die Künste wird auch klar, weshalb Sloterdijk in Anlehnung an Georg Mischs Geschichte der Autobiographie festhält, dass « das Autobiographische eine Grundstruk tur des menschlichen Wissens »12 sei und eine Grundform der menschlichen Kommunikation darstelle, wie sie in unserem Alltag beobachtet werden könne, sei es im öffentlichen oder im privaten Raum, wo wir Gelegenheit haben, von unserem Leben zu erzählen.13 An dieser Aussage sind die beiden von Sloterdijk erwähnten Punkte bedenkenswert. Der eine Punkt bezieht sich auf die « Grundstruktur des menschlichen Wissens », was das Autobiographische auszeichne. Dabei stehen für die Produzierenden vor allem die Antworten auf die Reflexionen über sich selber, im Besonderen und hier relevant über das Leiden, im Vordergrund, wie in Kapitel 2.3 ausgeführt wurde. Die « Grundstruktur des menschlichen Wissens » zeigt sich für die Rezipierenden hingegen darin, dass solche Schriften, aber auch Reden, neben anderen Aspekten, darlegen können, wie eine entsprechende Person zu einer bestimmten Einschätzung gekommen ist. Zum anderen spricht Sloterdijk von einer « Grundform der menschlichen Kommunikation ». Gerade wenn die grosse Bandbreite von autobiographischen Erzählungen berücksichtigt wird, nämlich sowohl die mündlichen als auch die schriftlichen, zeigt sich diese Grundform. In der mündlichen Rede, die nicht in irgendeiner Form für die Dauer festgehalten wurde, sei es als Transkription oder als Tonaufnahme, können kurze Zwischengespräche gemeint sein, etwa wenn jemand von den Ferien in den Bergen berichtet, bis hin zu einem längeren Gespräch, bei dem das Gegenüber erzählt, weshalb sie diesen und nicht jenen Bildungsweg gewählt und welche Konsequenzen diese Entscheidung von damals für heute habe. Allerdings können auch Kurzgespräche der mündlichen Rede gemeint sein, die eher der phatischen Funktion der Kommunikation zuzurechnen sind. Denn in diesen Gesprächen, zum Beispiel über das Wetter, geben wir mehr von uns selber preis, als wir vielleicht vordergründig vermuten – so etwa in der Themensetzung, in der Art, wie die Geschichte erzählt wird, in der Wort11 Martin, Frédéric : Note de l’éditeur. In : Charlotte Salomon : Leben ? Oder Theater ? Ein Singspiel. Hrsg. von Frédéric Martin. 2015 ; 7. 12 Sloterdijk, Peter : Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. 1978 ; 21. 13 Ebd.
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wahl und in der Satzstruktur – und bieten so den Rezipierenden die Möglichkeit, u. a. Rückschlüsse auf das kulturelle Kapital des Produzierenden zu ziehen. Tagebücher, aber auch Briefe stellen einen Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Rede dar, da sie oftmals eine ähnliche subjektive Befindlichkeit reflektieren, wie dies in der mündlichen Rede der Fall ist. Ebenso am Schreibstil, der sich oft an die mündliche Rede anlehnt, lässt sich ein solcher Übergang nachweisen. Der grosse Vorteil der Verschriftlichung hängt für Aussenstehende mit der Materialisierung zusammen. So besteht die Möglichkeit, Schriften aufzubewahren und zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückzugreifen. Für die Materialisierung stehen zahlreiche Textsorten zur Verfügung, die Autobiographisches mit unterschiedlicher Akzentuierung enthalten können, je nachdem, ob das Geschriebene für den privaten oder für den öffentlichen Bereich gedacht ist (man denke dabei etwa an die erwähnten Tagebücher, aber auch an persönliche Briefe, Leserbriefe, Notizbücher, Reden, Interviews, Zeitungsartikel, Preisreden, therapeutische Gespräche und Ähnliches).14 Doch unabhängig davon, ob das Erzählte in schriftliche oder mündliche Form gefasst wird, beide Formen sind mit grossen Schwierigkeiten verbunden, wenn über sich selber erzählt wird, Schwierigkeiten, die nicht nur aus der erkenntnistheoretischen, sondern auch aus der ethischen Perspektive, wie es sich im nächsten Kapitel zeigen wird, relevant sind. Thomä führt aus, dieser Rückgriff auf die Erinnerungen leide an Materialmangel, da die Produzierenden nur aus ihrer jeweiligen Perspektive auf diese Erinnerungen zurückgreifen können, es fehle die Aussensicht auf das eigene Leben, wie das bei einem Biographen der Fall wäre. Zum anderen habe diese Person auf ihre dunklen Seiten nur bedingt Zugang, weil Selbsttäuschung, Willensschwäche oder andere irrationale Phänomene Platz greifen ; und es kommt noch die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Erinnerung erschwerend hinzu, oder, wie es Levi prominent formuliert, « die menschliche Erinnerung ist ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument »15. Zweitens haben die Produzierenden einen privilegierten Zugang zu ihrem Material, sie herrschen darüber, dem Komponisten und Dirigenten Awraamow gleich (vgl. dazu die Einleitung). Diese Herr14 In der Studie Der Einfall des Lebens von Thomä et al. wird an zahlreichen Beispielen (u. a. Ludwig Wittgenstein, Michail Bachtin oder Susan Sontag) aufgezeigt, wie eng die Theorie an die Autobiographie geknüpft ist. Auch wenn von der Theorie grundsätzlich eine objektive Perspektive erwartet wird, zeigen die Einzelstudien auf, wie stark das Leben und die damit verbundenen Erfahrungen sowie der Umgang damit die entsprechenden Theorien nähren (Thomä, Dieter ; Kaufmann, Vincent und Schmid, Ulrich : Der Einfall des Lebens : Theorie als geheime Autobiographie. 2015). 15 Levi, Primo : Die Untergegangenen und die Geretteten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. 2015 ; 19.
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schaft, wie wir alle wissen, kann von verschiedenen bewussten und unbewussten Faktoren beeinflusst werden, die zu Anpassung des Materials führen. Drittens muss aufgrund der Fülle an Material ausgewählt und, was bei Thomä noch zu ergänzen wäre, entsprechend angeordnet werden, denn aus dem Archiv wird das hervorgeholt, woran man sich erinnern kann oder will, und das, was für diese Person, gerade auch mit Blick auf die Rezipierenden, relevant zu sein scheint. Dieser Rückgriff und die entsprechende Anordnung bringt ebenfalls Schwierigkeiten mit sich, denn : Nach welchen Kriterien wird ausgewählt, was wird weggelassen ? Schliesslich viertens besteht das Problem in der Zeitlichkeit der zu erzählenden Ereignisse, die ich nicht mehr einholen kann, oder, wie Thomä es formuliert : « Man entwischt sich immer schon selbst. »16 Das bedeutet, dass das Leben, welches im autobiographischen Kontext schreibend erzählt wird, weniger nach dem Prinzip der Mimikry geschrieben wird, als vielmehr umgeschrieben, nachgeschrieben und vielleicht gar überschrieben.17 Um ein weiteres Merkmal kann diese Annäherung Thomäs an den Begriff des Erzählens von Autobiographischem noch ergänzt werden, nämlich hinsichtlich der « Aufschichtung der Historie »18. Diese Bezeichnung umfasst das Phänomen, dass im Leben nicht eine Geschichte nach der anderen erzählt, sondern die Erlebnisse aneinander gehäuft werden, was es dann u. a. für die Psychoanalyse so anspruchsvoll macht, die einzelnen Schichten wieder freizulegen, um den Menschen von seinem Leiden zu befreien.19 Die Geschichten können sich in bestimmter Weise ähneln, was den Zeitraum, den Ort oder die vorkommenden Figuren betrifft, und sich von den vorhergehenden nur wenig unterscheiden, weshalb dann die entsprechenden Erzählungen abgekürzt oder gar als nicht nennenswert klassifiziert werden.
16 Thomä, Dieter : Erzähle dich selbst. 2015 ; 11. 17 In diesem Zusammenhang nennt John Hardwig ebenfalls vier Schwierigkeiten, wenn auf das autobiographische Material zurückgegriffen wird, allerdings mit einer anderen Akzentuierung : ignorance ; innocent mistake ; self-deception und lies (vgl. dazu : Hardwig, John : Autobiography, Biography, and Narrative Ethics. In : Stories and Their Limits. Narrative Approaches to Bioethics. Hrsg. von Hilde Lindemann Nelson. 1997 ; 52). 18 Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In : Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hrsg. von Jürgen Straub. 1998 ; 73. 19 Wie die erwähnte « Aufschichtung der Historie » von Bruner in einem psychoanalytischen Kontext durchdrungen werden kann, führt Freud an verschiedenen Krankengeschichten aus, besonders eindrucksvoll im sogenannten « Rattenmann » sowie im sogenannten « Wolfsmann » (Freud, Sigmund : Zwei Krankengeschichten. « Rattenmann », « Wolfsmann ». Einleitung von Carl Nedelmann. 2008 ; 53–246).
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Ausgehend von diesen Überlegungen werden im folgenden Kapitel verschiedene Ziele verfolgt. Zum einen geht es darum, sich dem ontologischen Status der Autobiographie anzunähern. Mithilfe dieser Untersuchung wird begründet, weshalb auf die Terminologie Autobiographie verzichtet und stattdessen der Begriff autobiographische Schriften verwendet wird. Weiter soll mithilfe der historischen Auseinandersetzung mit der Gattungsgeschichte aufgezeigt werden, welche Intentionen für das Verfassen von solchen Schriften vorliegen. Es ist hier der historische Blick, der dazu verhelfen soll, das Heute besser zu verstehen, indem untersucht wird, wann, wie und warum die Menschen von sich erzählen und welche Schlüsse für die Auseinandersetzung mit Chr. Lavant und Th. Bernhard gezogen werden können. Dieser Blick ermöglicht es auch, die Ausführung über die Bedeutung des Erzählens für das Leben (vgl. dazu Kapitel 3.4) zu vertiefen. Schliesslich soll mit einem Exkurs auf die Problematik von weiblichem autobiographischem Schreiben hingewiesen werden. All diese Untersuchungen dienen dazu, die autobiographischen Schriften von Chr. Lavant und Th. Bernhard in Kapitel 6 und 7 einzubetten und für die Untersuchung der ethischen Dimension von solchen Erzählungen in Kapitel 8 und 9 die Voraussetzung zu schaffen. 4.1 Die Gattungsfrage Der Begriff Autobiographie taucht gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf, in einem Brief von Jakob Michael Reinhold Lenz an Johann Wolfgang von Goethe im September 1776.20 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert diesen Begriff folgendermassen : Eine Autobiographie ist ein nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches, dessen Gegenstand innere und äussere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind. Diese werden im Rahmen einer das Ganze überschauenden und zusammenfassenden Schreibsituation sprachlich so artikuliert, dass sich der Autobiograph sprachlich handelnd in ein je nach Typus verschiedenes (rechtfertigendes, informierendes, unterhaltendes u. a.) Verhältnis zu seiner Umwelt setzt. Durch diese besondere Form der Bezugnahme auf Sachverhalte unterscheidet sich die Autobiographie von den ebenfalls lebensgeschichtliche Fakten artikulierenden Gattungen Tagebuch, Brief und Biographie. Memoiren verzichten im Gegensatz zur Autobiographie auf die detailreiche Wiedergabe innerer Erfahrungen 20 Vgl. dazu : Niggl, Günter : Studien zur Autobiographie. 2012 ; 39.
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und berichten vornehmlich über (häufig histographisch relevante) Erlebnisse in Beruf und Gesellschaft sowie mit Begegnungen mit bekannten Zeitgenossen.21
Diese Definition ist dreigeteilt. Zum einen wird formal (nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches), inhaltlich (innere und äussere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors) und sprachlich (der Autobiograph setzt sich sprachlich handelnd in ein je nach Typus verschiedenes Verhältnis zu seiner Umwelt) angegeben, was eine Autobiographie ausmacht. In einem zweiten Teil der Definition wird diese Gattung von anderen abgegrenzt, etwa von den Memoiren, mit dem Hinweis auf die unterschiedliche Gewichtung, was den Einbezug der Aussenwelt betrifft. Allerdings, wie die folgende Diskussion aufzeigen wird, ist die zitierte Definition umstritten. Ein wichtiger Wegbereiter der Autobiographie-Forschung ist Georg Misch und seine monumentale Geschichte der Autobiographie, welche, einem komparatistischen Ansatz folgend, nicht nur altgriechische, lateinische und deutsche Schriften analysiert, sondern sowohl englische (z. B. Hobbes) als auch französische (z. B. Descartes) mitberücksichtigt. Misch schreibt in der Einleitung seines ersten Bandes, die Selbstbiographie (der Terminologie Diltheys folgend) sei keine Literaturgattung wie die anderen, da ihre Grenzen fliessender seien.22 Auch sei ihr fast keine Form, wie das autobiographische Material transportiert werden könne, fremd. So zählt er als mögliche Formen Gebet, Selbstgespräch, Tatenbericht, fingierte Gerichtsrede, rhetorische Deklamation, wissenschaftlich oder künstlerisch beschreibende Charakteristik, Lyrik, Beichte, Brief, literarisches Portrait, Familienchronik, höfische Memoiren oder gar das Drama auf. Diese Liste könnte noch erweitert werden, indem Interviews oder Preisreden dazugezählt würden. Aufgrund dieser Offenheit der Gattung kommt Misch zum Schluss, es sei nicht möglich, sie zu definieren, sie lasse sich « kaum näher bestimmen als durch Erläuterungen dessen, was der Ausdruck besagt : die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto) »23. Diese nur auf den Inhalt bezogene Definition ist eine deutliche Einschränkung gegenüber derjenigen, die im Reallexikon verwendet wird, da auf das formale und auf das sprachliche Kriterium verzichtet wird.24 Die Auffassung, es 21 Lehmann, Jürgen : Autobiographie. In : Reallexion der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. Von Klaus Weimar et al. 1997 ; 169. 22 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Erste Hälfte. 1949 ; 6. 23 Ebd.; 7. 24 Diese Offenheit der Gattung, was die Form betrifft, betont auch Langer (vgl. dazu : Langer, Daniela : Autobiographie. In : Handbuch Literaturwissenschaft. Methoden und Theorien. Band 2. Hrsg.
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sei möglich, den Begriff Autobiographie auch formal und sprachlich zu definieren, hat hingegen der Literaturwissenschaftler Philipp Lejeune am prominentesten vertreten. Er grenzt den Begriff Autobiographie in seiner berühmten Definition folgendermassen ein : « Rückblickender Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt »25. Wie Lejeune weiter ausführt, umfasst diese Definition die Form (Bericht und Prosa), den Gegenstand (individuelles Leben), die Situation des Autors (Identität des Autors und des Erzählers) sowie die Position des Erzählers (Identität des Erzählers mit der Hauptfigur und rückblickende Perspektive des Berichts). Diese im Gegensatz zu Misch engere Definition des Begriffes Autobiographie ermöglicht es Lejeune, die Autobiographie als eine Gattung zu klassifizieren, auch mit dem Ziel, die Nachbargattungen wie Memoiren, Biographien, Ich-Roman, autobiographisches Gedicht, intimes Tagebuch oder Selbstportrait von der Autobiographie abzugrenzen.26 Entscheidend für Lejeune, ob eine Autobiographie vorliegt oder nicht, ist, dass ein sogenannter autobiographischer Pakt geschlossen wurde. Ein solcher Pakt besteht dann, wenn die Figur innerhalb der Erzählung keinen Namen trägt, die Autorin respektive der Autor zum Beispiel den Untertitel Autobiographie setzt oder durch eine Selbstbekundung im Vor- oder Nachwort die Einheit von Autor, Erzähler und Figur gewährleistet.27 Lejeune weist somit auf die zentrale Funktion der Rezipierenden für die Autobiographie hin, denn sie sind es, die mit der Autorin und dem Autor gemeinsam einen solchen Identitätsvertrag abschliessen.28 Auch wenn es Kritiker der Definition der Autobiographie von Thomas Anz. 2013 ; 179). Da in diesem Kapitel zur Frage nach dem ontologischen Status der Autobiographie die literaturwissenschaftliche Perspektive im Vordergrund steht, wird von einer philosophischen Reflexion der Lexeme « auto », bio » und « graphie » abgesehen. 25 Lejeune, Philippe : Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. 1994 ; 14. 26 Zur Unterscheidung zwischen Biographie, Autobiographie und Memoiren vgl. dazu : Šlibar, Neva : Biographie, Autobiographie – Annäherung, Abgrenzung. In : Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hrsg. von Michaela Holdenried. 1995 ; 390–401 oder Wuthenow, Ralph-Rainer : Autobiographie. In : Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. 1992 ; 1267–1280. 27 Allerdings, wie Lejeune am Beispiel von Jean-Paul Sartres autobiographischer Schrift Die Wörter ausführt, kann dieser Pakt auch mitten im Text geschlossen werden. So erwähnt Sartre zu Beginn seines Buches nicht, dass es sich um eine Autobiographie handelt, sondern erst im Verlaufe des Textes wird den Lesenden bewusst, dass das « Ich » Jean-Paul Sartre ist, etwa dann, wenn er sich auf seine Werke bezieht (vgl. dazu : Lejeune, Philippe : Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. 1994 ; 32). 28 Ebd.; 36.
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von Lejeune gibt, übt sie nach wie vor grossen Einfluss auf die Gattungsbestimmung aus.29 Ein solcher Kritiker der engen Gattungsdefinition von Lejeune ist Roy Pascal. Wie bereits zu Thomä ausgeführt, betont ebenso Pascal die Notwendigkeit, von dem angehäuften Material eine Auswahl treffen zu müssen ; weiter müssten wir Akzente legen und diese entsprechenden Ereignisse miteinander in Verbindung setzen. Somit enthüllten wir weniger eine Vergangenheit, sondern gäben unsere heutige Perspektive auf eben dieses Material preis. Daraus folge weiter, dass die Autorinnen und die Autoren nicht Tatsachen, sondern eben Erfahrungen berichteten, also das, was sich in der Interaktion zwischen den Menschen und der Welt ereigne.30 Diesen Umstand würde Lejeune nicht bestreiten, doch Pascal geht noch einen Schritt weiter, wenn er festhält, dass « die Verfälschung der Wahrheit durch den Akt der erinnernden Besinnung »31 ein inhärentes Merkmal der Autobiographie aufgreift und somit den autobiographischen Pakt zwar nicht infrage stellt, aber doch deutlich eingeschränkt. So kommt Pascal, was die erkenntnistheoretische Reichweite der Autobiographien betrifft, zu folgendem Schluss : « Was die Autobiographie tun kann, ist zu zeigen, wie Menschen, die im Kampf mit gewaltigen Kräften in sich selbst und ihren äusseren Umständen stehen, zu einer Art Ausgleich mit ihnen gelangen und aus sich selbst heraus eine Art positive Leistung entstehen lassen können. »32 Und weiter sagt er, das « Ziel der Autobiographie […] liegt eher im Bereich der Lebensweisheit »33. Damit zweifelt Pascal nicht an der Existenz der Gattung, auch misst er dieser einen hohen ethischen Wert zu, allerdings werden solche Texte als eine Art Ratgeberliteratur verstanden. Pascals Verkennung des formalen, des sprachlichen, aber auch des inhaltlichen Reichtums der Gattung ist ein Mitgrund, weshalb sie in der Literaturwissenschaft nach wie vor eine Randexistenz führt. Eine stärkere Kritik am Gattungsbegriff formuliert Paul de Man. Er ist der Auffassung, da alle Versuche bislang fehlgeschlagen seien, die Gattung der Autobiographie zu definieren, weil « jeder Einzelfall […] eine Ausnahme von der Regel zu sein [scheint] »34, solle man von einer Definition absehen. Neben der kaum 29 Vgl. dazu : Kronsbein, Joachim : Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie. 1984 ; 10 oder Scheitler, Irmgard : Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970. 2001 ; 149. 30 Pascal, Roy : Die Autobiographie. Übersetzt von M. Schaible. 1965 ; 20–29. 31 Ebd.; 90. 32 Ebd.; 206. Anhand von Ricœur kann dieser erfolgreiche Prozess der Konfiguration zugeordnet werden. 33 Ebd. 34 De Man, Paul : Die Ideologie des Ästhetischen. Übersetzt von Jürgen Blasius. Hrsg. von Christoph Menke. 1993 ; 132.
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möglichen Bestimmung von Gattungsmerkmalen komme noch eine weitere Schwierigkeit hinzu, das heisst die unklare Unterscheidung zwischen fiktionalem und faktenbezogenem Erzählen. Es gebe kein verlässliches Kriterium, um zwischen Fiktion und Fakten zu unterscheiden, das heisse, wir könnten nicht angeben, worin genau die Differenz zwischen einem Roman, der sich auch auf Fakten bezieht, und einer Autobiographie, die fiktionale Elemente enthält, liege, weshalb es gar keinen Sinn mache zu versuchen, sich aus dieser Drehtür, eine Metapher, die auf Gérard Genette zurückgeht, zu befreien.35 Um seinen Einwand zu verdeutlichen, greift de Man auf die Fotografie zurück und fragt sich, woher wir die Gewissheit haben, die Autobiographie hänge von ihrer Referenz genauso ab wie die Fotografien von ihrem Objekt, und hält im Anschluss an diesen Vergleich fest, dass die Art und Weise, wie der Autobiograph seinen Text verfasst, durch sein Medium bestimmt sei, in diesem Fall durch die Sprache und die Erzählform. Es könnte ja ebenso gerade der umgekehrte Umstand zutreffen, nämlich dass das autobiographische Vorhaben bestimmt, was das Leben sein soll, da das Material vom Leben in die Form gedrängt werde und herauskomme eben die Auto-bio-graphie.36 Der von Ruth Klüger diskutierte mögliche Ausweg, die Autobiographie könne graduell zwischen Geschichtswerk und Roman verordnet werden, scheint nur vordergründig eine Möglichkeit zu sein, die Gattung hinreichend zu definieren.37 Während die Biographie näher am Geschichtswerk liege, so Klüger, da die Biographin oder der Biograph sich u. a. auf empirisches Material stützen muss, bewege sich die Autobiographie in Richtung Roman, 35 Vgl. zur Drehtür-Metapher : ebd.; 133. 36 Ebd. 37 Klüger, Ruth : Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In : Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hrsg. von Magdalene Heuser. 1996 ; 407. Wie schwierig die u. a. von Klüger vorgeschlagene Abgrenzung zwischen Geschichtsschreibung und Autobiographie ist, zeigt die Forschungsliteratur. So hält Humboldt in seiner Rede vom 12. April 1821 über die Aufgabe des Geschichtsschreibers fest : « Das Geschehene aber ist nur zum Theil in der Sinnenwelt sichtbar, das Übrige muss hinzu empfunden, geschlossen, errathen werden » (Von Humboldt, Wilhelm : Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers. In : Über die Sprache. Reden vor der Akademie. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Trabant. 1994 ; 33). Ebenfalls auf die fliessenden Grenzen zwischen Fiktion und Fakten verwies der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White : « Wie eine bestimmte historische Situation anzuordnen ist, hängt von der Geschicklichkeit des Historikers ab, mit der er eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, der er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpasst. Das ist im wesentlichen [sic !] ein literarisches, d. h. fiktionsbildendes Verfahren. » (White, Hayden : Auch Klio dichtete oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann. 1986 ; 106).
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nicht nur der Quellenlage wegen, sondern auch deshalb, weil die Distanz zum Beschriebenen deutlich kleiner sei.38 Durch diese Trennung zwischen Geschichtsschreibung (also der Quelle) und der Dichtkunst (also der Möglichkeit der Zuordnung einer Gattung zur Literaturwissenschaft) scheint Klüger in der Autobiographie die Synthese zwischen einem Geschichtsschreiber und einem Dichter – ein Unterschied, den schon Aristoteles macht – zu sehen.39 Doch auch die Position von Klüger würde de Man verwerfen, mit dem Verweis auf das Graduelle sei noch nicht klar, was eine Autobiographie auszeichne und inwiefern sich die Gattung von den Nachbargattungen unterscheide. Aus dieser Perspektive stellt de Man folgerichtig die Frage, ob wir deshalb davon ausgehen müssten, es gebe gar keine Texte, die autobiographisch seien, und gibt gleich die Antwort selber : Autobiographien als Gattung gebe es nicht, solche Texte seien eine « L eseoder Verstehensfigur »40, indem das autobiographische Moment « der Prozess einer wechselseitigen Angleichung der beiden am Leseprozess beteiligten Subjekte, bei der sie einander gegenseitig durch gemeinsame reflexive Substitution bestimmen »41. Die Bedeutung der Autobiographie liege darin, dass sie « auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit und der Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden textuellen Systeme »42 demonstriere. Weil nicht klar ist, was Fiktion und was Autobiographie sein sollen, so könne nur auf den nichtabschliessbaren Prozess verwiesen werden, und weil die Abgrenzung nicht klar sei, sei es zudem nicht möglich, sich selber in dieser Form zu erkennen. Die Kritik von de Man an Lejeune besteht in dessen unplausibler Definition, was eine Autobiographie auf der ontologischen Ebene sein soll, denn die vertragliche Vereinbarung zwischen den Lesenden und dem Autobiographen stelle nur eine Kaschierung des Problems dar.43 Doch, wie Niggl festhält, hat der Vorschlag des Dekonstruktivisten de Man nur wenige überzeugt. Die Kritiker der Dekonstruktivisten halten, wie Misch oder Pascal es tun, am Referenzcharakter der Autobiographien fest, wenn auch mit unterschiedlichen
38 Auch Ralph-Rainer Wuthenow argumentiert dafür, die Autobiographie nähere sich dem Roman an (Wuthenow, Ralph-Rainer : Autobiographie. In : Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. 1992 ; 1267). 39 Aristoteles : Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. 1994 ; 29/31. 40 De Man, Paul : Die Ideologie des Ästhetischen. Übersetzt von Jürgen Blasius. Hrsg. von Christoph Menke. 1993 ; 134. 41 Ebd. 42 Ebd.; 134 f. 43 Ebd.; 135.
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Einschränkungen.44 Diese Einschränkungen zeigen sich etwa, wie ausgeführt wurde, hinsichtlich der Fokussierung auf den Inhalt (Misch) oder indem der autobiographische Pakt Lejeunes eingeschränkt wird (Pascal). Trotz dieser Einschränkungen ist es möglich, an der Blickrichtung Diltheys, nämlich die Autobiographie stelle den Königsweg für die menschliche Reflexion dar, festzuhalten, wenn auch in abgeschwächter Form. Wie schwierig die Festlegung dessen ist, was eine Autobiographie auszeichnet, zeigte die oben ausgeführte Diskussion. So reicht die Spannweite von der Möglichkeit, eine solche Gattung zu definieren (Lejeune) bis hin zur Forderung, auf eine solche Definition zu verzichten (de Man). Wie soll mit dieser Spannung für den weiteren Verlauf der Untersuchung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens umgegangen werden ? Eine Möglichkeit, um den Gedanken von Klüger der graduellen Abstufung der Autobiographien weiterzuführen und so zu versuchen, zwischen den verschiedenen Konzeptionen auszubalancieren, besteht darin, die Prototypensemantik auf die Autobiographie anzuwenden. Dieses Modell, welches auf die Kognitionspsychologin Eleanor Rosch sowie auf den Linguisten George Lakoff zurückgeht, kann durch mehrere Merkmale charakterisiert werden, auf zwei davon soll an dieser Stelle verwiesen werden.45 Zum einen gibt es Prototypen, die als beste Beispiele dienen, das heisst, welche am meisten Merkmale im Hinblick auf das zu Definierende vereinen, allerdings ohne sich auf notwendige Bedingungen festzulegen, es genügt eine Familienähnlichkeit. Weiter ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie graduell bestimmt, und es gibt keine klaren Grenzen.46 Doch ebenso bei diesem Modell ist die Reichweite beschränkt. Wenn von der Familienähnlichkeit ausgegangen wird und so die fliessenden Grenzen der Autobiographie berücksichtigt werden können, stellt sich jedoch im Anschluss die Frage, wo diese Grenzen sind, worin genau die Ähnlichkeiten bestehen. Damit verknüpft kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. In der Forschungsliteratur wird immer wieder auf einzelne Prototypen von Autobiographien hingewiesen, allen voran auf die Bekenntnisse von Augustinus und von Rousseau sowie auf Goethes Dichtung und Wahrheit.47 Doch die Fokussierung auf diese 44 Niggl, Günter : Studien zur Autobiographie. 2012 ; 50 f. 45 Dieselbe Idee liegt dem Konzept der Familienähnlichkeit von Wittgenstein zugrunde, ein Konzept, das er in der PU ausführt (Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchung. In : Werkausgabe Band I. Hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 2006 ; § 66–72). 46 Löbner, Sebastian : Semantik. Eine Einführung. 2003 ; 265. 47 Holdenried, Michaela : Einleitung. In : Geschriebenes Leben : Autobiographik von Frauen. Hrsg. von ebd. 1995 ; 9 oder Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 242.
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Werke basiert weniger auf Kriterien, die objektivierbar sind, was eine Autobiographie ausmacht, sondern sie hängt mit unterschiedlichen Faktoren zusammen, zum Beispiel mit der Bekanntheit des Autors und mit der Rezeptionsgeschichte, weshalb diese Werke als Ausgangspunkt dienen. Weiter scheint die Definition der Autobiographie, etwa auch jene des Reallexikons, die eingangs zitiert wurde, genau auf jene Werke dieser Autoren abgestimmt zu sein, weshalb von einem Zirkelschluss gesprochen werden kann. Deshalb kann zwar mithilfe der Prototypensemantik auf die Gründe für die Fokussierung auf sogenannte Klassiker der Autobiographie hingewiesen werden, doch für die Klärung des ontologischen Status der Autobiographie ist sie nicht dienlich. Eine weitere Möglichkeit wäre, auf den Begriff des autobiographischen Romans auszuweichen, um so einem zentralen Einwand von de Man Rechnung zu tragen, nämlich der Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen fiktionalem und faktenbasiertem Erzählen.48 Implizit gibt Ernst Jandl eine Antwort auf die Frage, was ein autobiographischer Roman ist, indem er festhält, dass ein Autor « Inhalte [ihres resp.] seines eigenen Lebens drängend in sich verspürt, aber kein Verlangen nach Autobiographie »49 habe. Wie an dieser Aussage von Jandl abgelesen werden kann, geht ein autobiographischer Roman zwar vom eigenen Leben aus, dieses wird allerdings entsprechend literarisch verfremdet, und zwar in Form eines Romans. Doch, wie Niggl zurecht festhält, ist eine Abgrenzung zwischen der Autobiographie und dem autobiographischen Roman höchstens auf der ontologischen Ebene möglich.50 Die Autobiographie bleibt aufgrund der Identität zwischen der Autorin respektive dem Autor und der Protagonistin beziehungsweise dem Protagonisten an eine textexterne Realität gebunden, hingegen ist bei einem autobiographischen Roman die Protagonistin oder der Protagonist mit dem Erzähler identisch, nicht aber mit der Autorin oder dem Autor ; also bleibt 48 Der Ausdruck « autobiographischer Roman » ist die deutsche Übersetzung des Begriffes « autofiction », der erstmals von Serge Doubrovsky im Jahre 1977 verwendet wurde (vgl. dazu : Benne, Christian : Was ist Autofiktion ? Paul Nizons ‹Erinnerte Gegenwart›. In : Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 2 : Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Hrsg. von Christoph Parry und Edgar Platen. 2006 ; 293–298). Wie fliessend die Grenzen zwischen Autobiographie und Fiktion ist, zeigt die zurzeit grosse Popularität der (neuen Gattung ?) literary autobiography ; dabei wird die Authentizität nur vorgespielt, so etwa in dem Roman Moonglow von Michael Chabon (vgl. dazu : Spichiger, Britta : Michael Chabon über die « Wahrheit » in Familiengeschichten. Sendung : Kontext. Künste im Gespräch – von Mut, von Erinnerung und von der Wahrheit. Ausgestrahlt am 12. April 2018. Schweizer Radio SRF, Kultursender). 49 Jandl, Ernst : Autobiographie und Literatur mit autobiographischen Zügen. In : Gesammelte Werke 3. Stücke und Prosa. 1990 ; 354. 50 Niggl, Günter : Studien zur Autobiographie. 2012 ; 45.
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die Erzählung, auch wenn textexternes Material aus der Biographie des Schreibenden verwendet wird, trotzdem auf der Ebene der Fiktion, das heisst, aufgrund der fehlenden Referenz geht der autobiographische Roman nicht in die Autobiographie über.51 In diesem Sinne stimmt Niggl mit der Differenz von Lejeune überein. Die Differenz zwischen Autobiographie und autobiographischem Roman könnte leicht mithilfe des autobiographischen Paktes formuliert werden, denn im autobiographischen Roman gibt es neben der historischen Wirklichkeit auch eine « potentielle Wirklichkeit », und dieser Roman verfügt über eine grössere narrative Freiheit, etwa was die Erzählperspektive oder die Erzählhaltung betrifft.52 Diese Abgrenzung, sofern der Argumentation von Niggl gefolgt wird, überzeugt nur bedingt. Um eine Abgrenzung zwischen Autobiographie und autobiographischem Roman vornehmen zu können, muss vorausgesetzt werden, was eine Autobiographie ist. Und wie aufgezeigt wurde, ist dies eben nicht abschliessend möglich. Aufgrund dieser Ausführung zum ontologischen Status der Autobiographie ist klar geworden ; egal an welcher Schraube gedreht wird, sei es inhaltlich oder formal, der Begriff der Autobiographie bleibt ambigue. Eine mögliche Konsequenz, nämlich auf eine Begriffsfestlegung zu verzichten, ist angesichts des grossen Stellenwertes des Erzählens über sich selber in dieser wie auch immer genau gearteten Form nicht plausibel und somit nicht erstrebenswert. Als Annährung an eine Begriffsfestlegung für die folgenden Kapitel wird auf die Definition von Misch zurückgegriffen und diese entsprechend ergänzt. Genauso wie die Autobiographie das Beschreiben des Lebens eines Menschen durch sich selber darstellt, so muss ebenso die einzelne Schrift geprüft werden (gemäss der Forderung von de Man), wie der Zusammenhang des Lebens und des Werkes mit welcher Intention und welcher Wirkung beschaffen ist. Dank der Fokussierung auf das Konkrete (in diesem Fall auf Chr. Lavant und Th. Bernhard) wird es möglich sein, angeben zu können, wo fiktionales und wo faktenbasiertes Erzählen vorliegt. Hinzu kommen die verschiedenen Textsorten (analog zu Misch) wie Notizen, Briefe, Interviews, Preisreden, aber auch autobiographische Erzählungen oder 51 Vgl. dazu : ebd ; 45 f. 52 Diese Annäherung der Autobiographie an den Roman ordnet Wuthenow zeitlich im Lauf des 18. Jahrhunderts ein, in einer Zeit, in der sich die Literaturformen immer mehr öffneten (vgl. dazu : Wuthenow, Ralph-Rainer : Autobiographie und autobiographische Gattungen. In : Literatur. Das Fischer Lexikon. Band 1. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. 2002 ; 183). Allerdings, wie etwa die Werke Friederike Mayröckers zeigen, geht es auch in die andere Richtung, nämlich wie autobiographische Muster in Romanen nachgewiesen werden können (vgl. dazu : Holdenried, Michaela : Einleitung. In : Geschriebenes Leben : Autobiographik von Frauen. Hrsg. von ebd. 1995 ; 18 f ).
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autobiographische Lyrik, welche nun ins Zentrum der folgenden Untersuchung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens rücken. Weshalb ist es nicht mehr möglich, sinnvollerweise von einer Autobiographie zu sprechen ? Zum einen deshalb, weil der Begriff derart strapaziert wird, dass nicht klar ist, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um von einer Autobiographie zu sprechen, und zweitens, eng mit dem ersten Punkt in Verbindung stehend, weil die damit verbundenen Implikationen, ausgelöst durch den Begriff der Autobiographie, vor allem wegen des grossen Einflusses der Konzeption von Lejeune nicht oder nur bedingt zutreffende Erwartungen hervorrufen. Aus diesen Gründen soll im Folgenden nicht von Autobiographie die Rede sein, sondern von autobiographischen Schriften, Schriften, die es eben gilt, anhand von konkreten Beispielen zu illustrieren und entsprechend einzubetten.53 Wenn nun im Folgenden auch vom autobiographischen Erzählen die Rede ist, wird auf die Differenz zwischen der Intention, die den Prozess über sich selber zu erzählen ausgelöst hat (autobiographisches Erzählen), und dem Produkt an sich (autobiographische Schrift) aufmerksam gemacht. 4.2 Historischer Abriss von autobiographischen Schriften Ein Blick in die Geschichte der autobiographischen Schriften zeigt, warum es nicht vermessen ist zu behaupten, diese Schriften stellen eine anthropologische Konstante dar. Wenn die Geschichte der autobiographischen Schriften erzählt wird, wird stets mit der griechischen Antike begonnen. Diese Festlegung hat vor allem mit dem erwähnten Standardwerk Die Geschichte der Autobiographie von Misch zu tun, der seine Geschichte mit der griechischen Antike beginnt, obwohl bereits in der altägyptischen Zeit autobiographische Schriften zu finden sind. Deshalb wird auf diese Zeit knapp verwiesen, bevor ausführlicher auf die Antike, das Mittelalter, die Renaissance und dann auf das 17. Bis zum 20. Jahrhundert eingegangen wird, mit dem Ziel, die wichtigsten Stationen, warum und wie über sich selber erzählt wurde, festzuhalten. Neben methodischen Schwierigkeiten kommt die Fülle der überlieferten Dokumente von autobiographischen Schriften hinzu, was zur Folge hat, dass es nicht möglich ist, ein vollständiges Bild einer bestimmten Zeitspanne zu zeichnen. Mithilfe des Rückgriffs auf einige wenige Schriften wird versucht, wenigstens die groben Linien nachzuzeichnen. 53 In eine gleiche Richtung argumentiert Wagner-Egelhaaf (vgl. dazu : Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 196).
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Aufgrund des offenen Begriffes autobiographische Schriften ist es möglich, vom Umfang her kleine Schriften wie Grabinschriften als autobiographisches Erzählen in die Analyse einzubinden, um Rückschlüsse auf das Verständnis, weshalb Menschen solche Schriften verfassen, zuzulassen, Rückschlüsse, die bis in die heutige Zeit reichen und deshalb auch im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Chr. Lavant und Th. Bernhard relevant sind. Auch kann anhand der Geschichte der autobiographischen Schriften eine Geschichte des Selbstbewusstseins der Menschen, wie dies Misch festhält, geschrieben werden, das heisst, es wird auch verständlich, wie sich im Verlaufe der Zeit der Subjektbegriff verändert hat, bis er zu dem geworden ist, den wir u. a. bei Chr. Lavant und Th. Bernhard antreffen, mit allen Brüchen und Weiterentwicklungen.54 Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die Auseinandersetzung mit der Geschichte des autobiographischen Schreibens legitimiert. Mit Blick auf die griechisch-römische Antike hält Niggl fest, dass mithilfe des Wechsels von der Demokratie zur Monarchie im 4. Jahrhundert v. Chr. Und somit der veränderte Fokus, nämlich weg vom Kollektiv hin zum einzelnen Menschen, der Aufschwung der Selbstbeschreibungen in unterschiedlichen Formaten erklärt werden kann.55 Dieser veränderte Fokus auf die Gesellschaft, ausgelöst durch die Rahmengeschichte, kann als Beispiel dazu verwendet werden, um aufzuzeigen, wie eng das autobiographische Schreiben mit der Rahmengeschichte verzahnt ist, ein Umstand, der auch für die weiterführende Untersuchung von Relevanz ist. Bereits im sogenannten Alten Reich der altägyptischen Zeit (ca. ab 2707 v. Chr.) gibt es Spuren von autobiographischen Schriften. Es sind dies vor allem Grabund Widmungsinschriften. Hinzu kommen sogenannte « Idealbiographien », welche einen Grabinhaber als einen « tugendhaften, beim König, bei den Göttern und den Menschen in hoher Gunst stehenden Mann »56 ausweisen. Wie Assmann festhält, findet diese Art der autobiographischen Schrift bis weit in die Antike Anwendung. Dabei handelt es sich « wohl um die charakteristischste Textgattung der altägyptischen Kultur »57. Ein besonders beeindruckendes Beispiel für eine « Idealbiographie » ist jene des Ptah-Schepses, eines hohen Beam54 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Erste Hälfte. 1949 ; 11. 55 Niggl, Günter : Studien zur Autobiographie. 2012 ; 55. 56 Burkard, Günter und Thissen, J. Heinz : Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte. Band 1. Altes und Mittleres Reich. 2004 ; 37. 57 Assmann, Jan : Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten. In : Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann und Christof Hardmeier. 1983 ; 71.
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ten, der in der Übergangszeit von der 4. Zur 5. Dynastie lebte. Jeweils auf der linken und auf der rechten Seite der Scheintür zu seinem Grab befinden sich vier Strophen mit je sechs Versen, am Ende jedes Verses, eine Art Refrain, wird sein Name wiederholt. In diesen Strophen erzählt er von seiner Herkunft, von seiner Kindheit, von seiner Gattin und von seiner beruflichen Karriere. Beendet wird die Inschrift, indem er zum wiederholten Male das asymmetrische Verhältnis zwischen dem König und ihm, dem Beamten, betont ; der König ist der Gebende und er der Empfangende, und dadurch hebt er auch seine Sonderstellung beim König hervor.58 Der Grabinsasse stellt einen idealen Menschen der Zeit dar, einen Menschen, der sich in ein bestimmtes Gefüge einordnet, einen Menschen, der in der Lage ist, sich entsprechend seiner Funktion in einem Ganzen einzufügen. Bernhard Zimmermann verweist auf den Anfang des Über-sich-selber-Erzählens in der griechischen Antike hin, indem er auf die Odyssee von Homer eingeht.59 So kann die im 7. Gesang formulierte Frage von Arete « Wer bist du und woher ? »60 als zentrale Ausgangslage für die Reflexion des Ich betrachtet werden, welche eine Verfasserin respektive ein Verfasser von autobiographischen Schriften zu beantwortet hat. Odysseus selber nimmt zu dieser Frage in den Gesängen 9–12 ausführlich Stellung.61 Die dort beschriebene Darstellung des eigenen Ich kann als eine Art Selbstvergewisserung aufgefasst werden, als eine, modern gesprochen, Suche nach der eigenen Identität. Die Odyssee stellt noch in anderen Aspekten einen wichtigen Ausgangspunkt für die Erforschung von autobiographischen Schriften dar. So kann in den (Trug-)Reden des Odysseus (etwa im 23. Gesang nach der Rückkehr nach Ithaka, als er im Gespräch mit Penelope wichtige Details seiner Reise auslässt und andere ergänzt) schon die Schwierigkeit, zwischen fiktionalem und auf faktenbasierendem Erzählen zu unterscheiden, problematisiert werden. Wenn versucht wird, die Frage nach dem Vorsatz der Auslassungen Odysseus’ zu beantworten, kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. Denn bei der Rede von Odysseus wird nicht klar, ob er sich in diesen 58 Burkard, Günter und Thissen, J. Heinz : Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte. Band 1. Altes und Mittleres Reich. 2004 ; 40 f. 59 Zimmermann, Bernhard : Anfänge der Autobiographie in der griechischen Literatur. In : Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit. Akten des internationalen Kongresses vom 26.–29. Juli 2006 in Würzburg. 2007 ; 3. 60 Homer : Odyssee. Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe. 1979 ; Vers 238. 61 Für Ralf Wuthenow sind die Fragen « Wer bin ich ? Wo komme ich her ? Wie bin ich zu dem geworden, der ich nun bin ? Kann ich mich selbst begreifen, wenn ich den Gang meines Lebens mir vergegenwärtige ? » diejenigen, die in einer Autobiographie im Zentrum stehen (vgl. dazu : Wuthenow, Ralph-Rainer : Autobiographie und autobiographische Gattungen. In : Literatur. Das Fischer Lexikon. Band 1. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. 2002 ; 170).
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Momenten nicht erinnern will oder nicht kann. Hier würde ein Hinweis auf den autobiographischen Pakt kaum ausreichen, da der Erzähler seine Zuhörerin (je nach psychologischer Lesart) täuscht. Mit dem Verweis auf die kritische Selbsterzählung Odysseus›, als er nicht nur von seinen Vorzügen spricht, sondern auch seine Ängste und Unsicherheiten erwähnt, kann das Epos als ein Vorläufer der stark selbstreflexiven autobiographischen Schriften ab dem 17. Jahrhundert bezeichnet werden.62 Eine erste poetische Autobiographie63, wie Michael von Albrecht sie nennt, also eine Schrift, die zwar auf autobiographischem Material basiert, aber in dichterischen Form geschrieben wurde, ist in den Metamorphosen von Ovid zu finden.64 Die bei Ovid ebenfalls anzutreffende, aber zuvor bei Odysseus beobachteten psychologischen Momente nehmen in der römischen Antike noch zu, das heisst, es wird nicht nur die äussere Handlung beschrieben, sondern auch deren Motivierung, wie anhand der Selbstzeugnisse von Marcus Tullius Cicero oder von Marc Aurel nachzuweisen ist. Je weiter sich das Christentum etabliert, desto mehr werden diese psychologischen Momente an Gott geknüpft, und somit ist das einzelne Leben nicht mehr nur aus sich selber zu verstehen, sondern es steht mit einer höheren Instanz in Verbindung.65 Ausgehend von diesen drei Beispielen können die ersten Gründe aus produktionsästhetischer Perspektive freigelegt werden, weshalb Menschen von sich erzählen, es geht nämlich um Selbstvergewisserung im Sinne von Selbstfindung nach Thomä (Ptah-Schepses), und es geht um das Erkenne-dich-selbst, also gemäss Thomä um die Selbstbestimmung (Odysseus). Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls bereits in der Antike angelegt ist und der mit der Selbstbestimmung zusammenhängt, ist die Selbstrechtfertigung, vor allem gegen aussen ; die Rechtfertigung nach innen wird erst später, sicher seit den Confessiones von Augustinus thematisiert.66 62 Als ein Beispiel kann die von Odysseus beschriebene Furcht bei der Flucht aus der Höhle des Kyklopen genannt werden (Homer : Odyssee. Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe. 1979 ; Vers 389-416). 63 Von Albrecht, Michael : Geschichte der römischen Literatur. 2012 ; 395. 64 Vgl. dazu : Ovid : Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht. Mit 30 Radierungen von Pablo Picasso und einem kunsthistorischen Nachwort von Eckhard Leuschner. 2010 ; 953. 65 Niggl, Günter : Studien zur Autobiographie. 2012 ; 70 f. 66 Eine Textstelle, die diese Art von Rechtfertigung Augustinus illustriert, befindet sich zu Beginn des 10. Buches in Bekenntnisse, als er schreibt : « D u [gemeint ist Gott] aber, mein Arzt im Innersten, kläre mir Sinn und Zweck, warum ich das [gemeint ist das Verfassen seiner Bekenntnisse] tue. – Das Bekenntnis über mein vergangenes Schlechtes, das Du erlassen und zugedeckt hast, um mich zu beseligen in Dir, da Du Wandel schufst in meiner Seele durch den Glauben und Dein Sakrament, – wenn man es liest und hört, rüttelt das Herz auf, damit es nicht, in den Schlaf der Verzweif-
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Wie Stefan Schorn anhand von Beispielen bei Antiphon oder bei Demosthenes ausführt, greifen Autoren gerade dann auf autobiographische Elemente zurück, wenn sie sich gegen Vorwürfe verteidigen müssen.67 Als ein weiterer Beleg für die These von Schorn kann die Selbstverteidigungsrede des Antidosis oder Über den Vermögensaustausch von Isokrates genannt werden (die Misch als erste Autobiographie überhaupt klassifiziert68), einer fiktiven Gerichtsrede, in der sich Isokrates u. a. gegen den Einwand, er habe die Jugend verführt, wehrt. So hält er zu Beginn seiner Rede fest : Bei meinen Überlegungen fand ich heraus, dass ich mein Ziel wahrscheinlich nur erreichen würde, wenn ich eine Rede schriebe, gleichsam als ein Bild meiner Gesinnung und meiner Lebensführung insgesamt. Ich hoffe nämlich, dass dadurch alles, was meine Person angeht, am besten geklärt werden könnte und dass mit dieser Rede ein weit schöneres Denkmal von mir zurückbliebe als dies etwa mit Bronzestatuen der Fall wäre.69
Als weiteres Beispiel wäre in diesem Zusammenhang der Siebte Brief von Platon zu nennen, in dem er begründet, weshalb seine Konzeption der Einrichtung eines Philosophenstaates in Syrakus scheiterte. Er schloss seinen Brief mit den Worten, dass die Rezipierenden nun über genügend Informationen verfügten, um seine Position nachzuvollziehen, « dann dürfte das jetzt Ausgeführte für uns angemessen und ausreichend sein »70. Auch die Hypomnemata können zu den autobiographischen Schriften gezählt werden, also philosophische Kommentare, Zitate oder Alltagsbeobachtungen, die « gewöhnlich zielgerichtete Werke waren, in denen rückblickend ein klar definierter Zeitraum politischen Handelns in oft sehr ausführlicher Weise beschrieben wurde »71. Diese Art von Rechenschafts-
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lung sinkend, sein ‹Ich kann nicht› sage, sondern aufwache unter der Liebe Deiner Erbarmung, dem Trost Deiner Gnade, durch die zu Kraft kommt jeder Schwache, der an ihr sich seiner Schwäche bewusst wird. » (Augustinus : Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück. 1955 ; 489–491). Schorn, Stefan : Autobiographie. In : Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Hrsg. von Bernhard Zimmermann und Antonios Rengakos. Zweiter Band. 2014 ; 727. Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Erste Hälfte. 1949 ; 158. Isokrates : Antidosis oder Über den Vermögensaustausch. In : Isocrates. Sämtliche Werke. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Eingeleitet und erl. von Kai Brodersen. 1997 ; 118. Knab, Rainer : Platons Siebter Brief. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar. 2006 ; 118. Zur Diskussion, ob der Brief überhaupt Platon zugeschrieben werden kann vgl. dazu : ebd.; 1–7. Schorn, Stefan : Autobiographie. In : Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Hrsg. von Bernhard Zimmermann und Antonios Rengakos. Zweiter Band. 2014 ; 732 f.
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berichten kann deshalb als ein Beispiel für frühe Memoiren genannt werden.72 In der römischen Antike wurde auf dieses Muster der Verteidigung und Rechtfertigung zurückgegriffen (zum Teil explizit auf Platons Apologie des Sokrates), wie von Albrecht anhand von Cato oder Cicero ausführt, wobei die Grenze zur Selbstdarstellung und zur Eitelkeit in der römischen wie auch in der griechischen Antike (was sich in der Rede Isokrates› zeigt) schwer zu ziehen ist.73 Klar zur Selbstdarstellung hingegen gehören das sowohl seit der altägyptischen Zeit (vgl. dazu die « Idealbiographien » weiter oben) als auch in der griechischen und der römischen Antike verbreitete Format der Lob- und Preisgedichte (sogenannte Auto-Enkomions), also Gedichte, in denen der Produzent sich selber lobt. Als eine Variante des Lobgedichts kann eine Exilelegie (die trotz der Bezeichnung Elegie kein Trauerlied ist) von Ovid erwähnt werden. Ovid preist gleich zu Beginn der Elegie 10 im Buch 4 der Tristia sich selber : « Wer ich war, ich, der spielfreudige Dichter von Geschichten über zarte Liebe, vernimm, damit du weißt, wen du liest, Nachwelt. »74 Im weiteren Verlauf greift er auf seinen Heimatort und auf seine Kindheit zurück, begründet, wie er zur Dichtkunst kam, berichtet über seine Gattin und seine Kinder und kommt gegen Schluss auf seine Verbannung zurück, « dass der Grund für das mir befohlene Exil ein Irrtum war, kein Verbrechen »75 und nur die Dichtung ihn von dieser schmerzhaften Lage ablenken könne. Gerade dieser Schluss weist auf die Nähe zum Format der Rechtfertigung hin, was aufzeigt, dass sich diese beiden Intentionen durchaus überschneiden können.76 Schliesslich kann auf eine weitere Intention verwiesen werden, weshalb in der Antike auf Selbstbeschreibungen zurückgegriffen wird. Sie hängt mit der Authentifizierung des Autors am Ende seines Werkes zusammen (die bereits erwähnte Sphragis), wie es oben zu Ovid und seinen Metamorphosen ausgeführt 72 Vgl. dazu die Ausführungen von Foucault (Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. 2003 ; 353–358). 73 Von Albrecht, Michael : Geschichte der römischen Literatur. 2012 ; 394 f resp. 400. 74 Ovid : Gedichte aus der Verbannung. Eine Auswahl aus « Tristia » und « Epistulae ex Ponto ». Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. 2013 ; 91. 75 Ebd.; 99. 76 In dem Artikel Rechtfertigung durch Identität – Über eine Wurzel des Autobiographischen zeigt Fuhrmann in Anlehnung an die Verteidigungsrede Sokrates sowie mithilfe der Antidosis von Isokrates plausibel auf, dass eine wesentliche Quelle der Autobiographie die Rechtfertigung darstelle (Fuhrmann, Manfred : Rechtfertigung durch Identität – Über eine Wurzel des Autobiographischen. In : Identität. Hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle. 1979 ; 685–690). Ebenfalls weist Lehmann auf den Zusammenhang von autobiographischem Erzählen und Verteidigung hin (vgl. dazu : Lehmann, Jürgen : Autobiographie. In : Reallexion der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar et al. 1997 ; 170).
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wurde. Wenn diese Intentionen in der Antike miteinander verglichen werden, zeigt sich, dass es dann legitim ist, von sich selber zu erzählen, wenn das Ich sich in eine Ordnung eingliedert und deshalb auf seinen vorbildlichen Charakter verweist (wenn auch in pathetischer Form), wenn es sich kenntlich zeigt oder sich gegen etwas verteidigen oder rechtfertigen muss : alles Intentionen, die bis heute noch relevant sind im Zusammenhang mit der Frage, weshalb wir von uns erzählen. Im sehr heterogenen Mittelalter (damit ist der Zeitraum von 500 bis 1500 gemeint) gilt das in der Spätantike um 400 n. Chr. Veröffentlichte und bereits erwähnte Werk Confessiones von Augustinus als uneingeschränktes Vorbild : Es vollzieht eine Verschränkung zwischen dem eigenen Leben und dem Religiösen und etabliert so eine neue Form von autobiographischem Erzählen. Wie Misch festhält, steht dieses Werk von Augustinus für einen langsamen Prozess weg vom rhetorischen Duktus, wie er in der Antike die Regel war, hin zur erzählenden Prosa.77 Andere autobiographische Schriften, welche sich der antiken Tradition der Herrscherchronik verpflichten, gibt es auch, wie das Beispiel der Vita Caroli quarti imperatoris (14. Jahrhundert) zeigt, doch der zentrale Referenzpunkt bleibt Augustinus mit seinen Confessiones. Der religiöse Ton in den autobiographischen Schriften kann im Mittelalter zahlreich nachgewiesen werden.78 Neben diesen christlich geprägten Schriften über sich selber und den Hagiographien dominieren die Herrscherdarstellungen und die ebenfalls aus der Antike bekannten Schlusssignaturen. Eine grosse Rolle spielen ebenso autobiographische Reisebeschreibungen, vor allem von Pilgerreisen oder, in weltlicher Ausprägung, die Handelsreisen (der berühmteste Bericht stammt von Marco Polo79). Mithilfe solcher Berichte wird das Erlebte primär verarbeitet. So auch in einer von Felix Fabri geschilderten Pilgerreise im Jahre 1480 ins Heilige Land, in der er chronologisch die Abreise, die Ankunft und die Rückreise erzählt, wobei er fast ausschliesslich äussere Ereignisse, vor allem die Strapazen, die er auf der langen Reise von Ulm nach Palästina erlebte, thematisiert.80 Dabei setzt er sich nicht nur mit diesen Strapazen und dem Aufenthalt im Heiligen Land auseinander (von dem 32-seitigen Bericht sind gerade einmal anderthalb Seiten dem Aufenthalt in Palästina 77 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Erste Hälfte. 1949 : 19 f. 78 Lehmann, Paul : Autobiographien des lateinischen Mittelalters. In : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. 1989 ; 284–296. 79 Vgl. dazu : Polo, Marco : Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard. Mit 14 Farbtafeln. 1994. 80 Fabri, Felix : Galeere und Karawane. Pilgerreise ins Heilige Land, zum Sinai und nach Ägypten. Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Herbert Wiegandt. 1996 ; 11–43.
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gewidmet, obwohl er sich dort immerhin neun Tage aufhielt), sondern er löst ein Versprechen an seine zuhause gebliebenen Ordensbrüder ein, « sorgfältigst und genauestens besichtigen und beschreiben und euch, wenn Gott mich zurückkehren liesse, treulich davon Bericht geben »81. Im sogenannten « Hohen Mittelalter » (ca. 11. Bis 13. Jahrhundert), nach jahrhundertelanger Einbindung in die Religion, beginnen die Menschen sich von diesen Vorstellungen zu distanzieren, indem sie sich mit der neuen Idee der Liebe (minne) und des Aventiure-Ritters auseinandersetzen.82 Die Fokussierung auf weltliche Themen nimmt dann im Spätmittelalter weiter zu, wie die Schriften von Adligen und Rittern zeugen. Autobiographische Schriften dienen nun auch als Beweisführung, um einer bestimmten Frau oder einem Fürsten auf seine Besonderheiten hinzuweisen, analog zu Ptah-Schepses. Das Motiv der Rechenschaftsablegung ist entscheidend, allerdings in einer neuen Form, nämlich der Beichte. Interessant im Kontext der Beichte ist, dass ab dem 12. Jahrhundert nicht nur Handlungen, sondern auch Handlungsabsichten sanktioniert werden und somit von einer gesteigerten Aufmerksamkeit hinsichtlich des Innenlebens gesprochen werden kann. So gewinnt der Akt der Selbstkontrolle eine immer grössere Bedeutung für den Alltag der Menschen, der durch Fremdkontrolle in Form eines Priesters noch verstärkt wird.83 Schliesslich kann eine weitere Parallele zur Antike genannt werden, die sicher in Platons Siebter Brief schon angelegt ist, nämlich das Verwenden von autobiographischen Schriften, um politische Anliegen durchzusetzen, wie die überlieferten Denkwürdigkeiten (1439) der Helene Kottanerin zeigen.84 Gemessen am Umfang von Mischs Untersuchung der autobiographischen Schriften im Mittelalter (insgesamt fünf von acht Bänden sind dem Mittelalter gewidmet) ist diese Zeit für die Autobiographik von grosser Bedeutung. Aus literatursoziologischer Sichtweise gelten die autobiographischen Schriften als Geburtsstätte des neuzeitlichen Individuums, als der einzelne Mensch sich seiner bewusst wird und aus der Masse heraustritt. Es waren die Humanisten der 81 Ebd.; 9. 82 Müller, Ulrich : Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter. In : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. 1989 ; 302 resp. 315 f. Allerdings vollzieht sich der Wechsel langsam, da zum Beispiel auch im Parzival von Wolfram von Eschenbach deutliche religiöse Motive vorhanden sind. 83 Hahn, Alois : Identität und Selbstthematisierung. In : Selbstthematisierung und Selbstzeugnis : Bekenntnis und Geständnis. Hrsg. von Alois Hahn und Volker Kapp. 1987 ; 18-22. 84 Müller schreibt gar : « V iele Autobiographien besitzen einen eindeutig politischen Propagandazweck […] » (Müller, Ulrich : Thesen zu einer Geschichte der Autobiographie im deutschen Mittelalter. In : Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günter Niggl. 1989 ; 319).
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Renaissance, welche sich intensiv mit autobiographischen Schriften beschäftigten, mit dem Ziel, sich mit der Lebensgeschichte bedeutender Persönlichkeiten aus der Antike auseinanderzusetzen. Anhand der Schrift Odeporicon (1506) des Mönchs Johannes Butzbach zeigt Martina Wagner-Egelhaaf auf, wie stark diese Zeit von der antiken und der mittelalterlichen Tradition des Autobiographischen geprägt ist und somit keineswegs von einem radikalen Umbruch die Rede sein kann. So treten in der Schrift von Butzbach die Selbstreflexion in christlichem Ton und das neuartige Moment der Bildung parallel auf.85 In einer weiteren Ausführung zum Autobiographischen in der Frühen Neuzeit untersucht Wagner-Egelhaaf die Schrift De vita propria (1575/76) des Medizinprofessors Girolama Cardano. Sie kommt zum Schluss, dass Cardano seine Schrift als Reflexionsmedium verwendet, bei « dem es nicht primär darum zu tun ist, ein gelebtes Leben in der Schrift mitzuteilen, sondern das nach den Grundlagen und den Spielräumen des Ichs fragt […] »86. Dieses Ausloten des individuellen Handlungsspielraumes und der daraus entstehenden Selbstvergewisserung ist ein moderner Gestus, welcher auch im 21. Jahrhundert nichts an Aktualität verloren hat. Aus dieser Sichtweise wird auch verständlich, warum das Buch von Cardano (mit jenem von Benvenuto Cellini zwischen 1158 und 1566 geschriebenen und 1728 erschienen Werk mit dem Titel Leben des Benvenuto Cellini florentinischen Goldschmieds und Bildhauers von ihm selbst geschrieben) am Ausgangspunkt der modernen Auseinandersetzung mit autobiographischen Schriften steht.87 So dienen ab der Renaissance autobiographische Schriften, modern gesprochen als Reflexionsmedium, und somit der Selbstvergewisserung (also ganz ähnlich, wie dies in den Gesängen 9–12 von Odysseus in der Odyssee geschieht), das heisst, es geht darum, dass solche Schriften eine wesentliche Form darstellen, um sich selber zu thematisieren, sich auf den Weg zum Erkenne-dich-selbst zu machen. Als weiterer Beleg für das Erstarken des Individuums können die Selbstreflexionen von de Montaigne in den Essais erwähnt werden. In seinem Vorwort erläutert er den Lesenden sein Programm und weist auf die begrenzte Reichweite seiner Reflexionen hin. Es gehe nicht darum, sein ganzes Leben abbilden zu wollen, sondern es sollen « einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsstimmung »88 angesprochen werden. Auch sollen die Fehler thematisiert werden, sofern es « die öffentliche Schicklichkeit erlaubt »89. 85 Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 134. 86 Ebd.; 143. 87 Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 102 88 De Montaigne, Michel : Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy. 1953 ; 51. 89 Ebd.
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Im 17. Und 18. Jahrhundert rückten autobiographische Schriften vermehrt in ganz Europa in den Fokus, nicht zuletzt deshalb, weil sie als ein wertvolles pädagogisches Hilfsmittel für die Erziehung angesehen wurden.90 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stehen vor allem autobiographische Schriften im Zusammenhang des Pietismus im Zentrum. Nicht nur nimmt in dieser Zeit die Selbstprüfung in Form von Tagebüchern rege zu, sondern es setzt eine « typologische[…] ‹Säkularisation› »91 ein, das heisst, neben Bekenntnisschriften im Stile Augustinus kommen ebenso Berufs- und Gelehrtenautobiographien dazu. Die zweite wichtige Tendenz neben der typologischen ist die psychologische Säkularisierung. Aufgrund der genauen Selbstbeobachtungen in den Tagebüchern wird der Weg für die Briefe und die Romanliteratur bereitet – konkret im umfangreichen Prosawerke Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, einem Repräsentanten der Strömung der Empfindsamkeit.92 Das 18. Jahrhundert ist stark geprägt von den Auswirkungen des veränderten Subjektbegriffes.93 Diese Veränderung der Konzeption des Ich lässt sich u. a. auf die Erstarkung des Empirismus zurückführen, was sich auch in der Methode der Selbstanalyse nachweisen lässt (etwa in Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769). Gerade Rousseaus umfangreiches, mit dem Titel Confessions versehenes und so auf Augustinus autobiographische Schrift anspielendes Werk aus den Jahren 1782–1789 belegt, dass nicht nur die positiven Eigenschaften nach aussen getragen werden, sondern auch die negativen (etwa seine grosse Niedergeschlagenheit zu Beginn des sechzehnten Lebensjahres oder seine materielle Not, die er u. a. in Lyon erlebte)94, was sogar auf die Form eine Auswirkung hat, denn je weiter er mit der Erzählung voranschreitet, desto mehr gehen die Ereignisse durcheinander, da sie « zu zahlreich, zu sehr untereinander verbunden, zu unangenehm »95 gewesen seien. Das neue Moment in dieser autobiographischen Schrift besteht darin, dass es nur einen wesentlichen Grund gab, weshalb diese Schrift entstand, näm90 Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 19. 91 Dieser Ausdruck geht auf Niggl zurück, wie Holdenried ausführt (vgl. dazu : Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 128 f ). 92 Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 127–132. 93 Wagner-Egelhaaf greift an dieser Stelle auf die Bezeichnung « Jahrhundert der Anthropologie » zurück (Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 153). 94 Vgl. zur beschriebenen Krise im 16. Lebensjahr die S. 45 sowie zur beschriebenen Armut in Lyon S. 168 in : Rousseau, Jean-Jacques : Die Bekenntnisse. Übersetzt von Alfred Semerau, durchgesehen von Dietrich Leube. Mit einem Nachwort und Anmerkung von Christoph Kunze. Mit 15 Kupferstichen. München : Deutscher Taschenbuch Verlag. 1981. 95 Ebd.; 611.
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lich der Wunsch, über sich selber und seine unverwechselbare Individualität zu schreiben.96 Im 19. Jahrhundert steht, wie die Confessiones von Augustinus im gesamten Mittelalter, vor allem ein Werk im Zentrum : Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (entstand zwischen 1808 und 1831) von Goethe, das als Höhepunkt der Autobiographik im deutschsprachigen Raum gilt. Es sei die erste Autobiographie, so der lange Zeit herrschende Tenor, welche eine nahezu vollständige Darstellung des Ich darlege, indem die schwierige Balance zwischen Ich und Welt beschrieben wird.97 Die geschichtliche Auffassung von Ich und Welt stellt eine Erweiterung des Gegenstandsbereiches in der Reflexion des Ich dar, das heisst, die « Dialektik des Subjektiven und des Objektiven » wie Klaus-Detlef Müller ausführt, rückt ins Zentrum der Autobiographie und trägt so dem Anspruch an die Autonomie eines Individuums damals, aber auch heute noch Rechnung.98 Wie Jürgen Lehmann betont, verschmelze die autobiographische Schrift von Goethe drei Aufgaben : Erstens werde ein Autorenleben abgerundet, zweitens weise sie auf die Vielfalt der eigenen Arbeiten als historisch gewachsene Einheit hin, und schliesslich drittens habe diese Einheit den Anspruch, stellvertretend für das menschliche Handeln und Erleben zu stehen.99 Zwar wird ebenfalls in dieser autobiographischen Schrift auf die Resultate des Lebens fokussiert, womit diese Schrift eine Art Rechtfertigung des eigenen Lebens darstellt ; das Neue aber ist, wie Wagner-Egelhaaf betont, eine « so explizite Reflexion der autobiographischen Verfahrensweise bzw. die Tatsache, dass jemand so ausdrücklich im Bewusstsein einer Darstellungsmethode schreibt »100. An dieser Stelle müssen auch die beiden autobiographischen Bücher Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreissig (1895) von Theodor Fontane genannt werden. Er wählt eine Vorgehensweise, wie über sich erzählt werden kann, die im 20. Jahrhundert erneut relevant sein wird, er verabschiedet sich vom Anspruch, den grossen Zusammenhang respektive das Allgemeine abbilden zu wollen, was bei Goethe sicher noch im Zentrum stand.101 Diesem grossen Ganzen setzt Fontane das Kleine, das scheinbar Unbe 96 Allerdings wurde dieser Fokus auf die Selbstbeobachtung nicht nur mit Wohlwollen beobachtet, wie in Kapitel 2.4.1 u. a. anhand von Kant ausgeführt wurde. 97 Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 139. 98 Müller, Klaus-Detlef : Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. 1976 ; 333–335. 99 Lehmann, Jürgen : Autobiographie. In : Reallexion der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar et al. 1997 ; 171 100 Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 172. 101 Ebd.; 184.
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deutende entgegen. Am Ende seiner autobiographischen Schrift Meine Kinderjahre blickt er zwar auf die angeeignete Bildung zurück und doch geht er darüber hinaus, wenn er auf sein Stückwerk zu sprechen kommt, wenn er schreibt : Das war, einschliesslich einiger lateinischer Brocken, so ziemlich alles, und im Grunde bin ich nicht recht darüber hinausgekommen. Einige Lücken wurden wohl zugestopft, aber alles blieb zufällig und ungeordnet, und das berühmte « Stückwerk » traf auf Lebenszeit buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit bei mir zu.102
Die Antwort auf die Frage, was die Menschen auch noch antrieb, von sich zu erzählen, kann anhand eines Beispiels aus dem 18. Und eines aus dem 19. Jahrhundert ausgeführt werden ; es ist die pure Lust am Schreiben (vgl. dazu Kapitel 3.2). Ulrich Bräker schreibt in der Vorrede in der 1789 erschienenen Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg : Obschon ich die Vorreden sonst hasse, muss ich doch ein Wörtchen zum voraus sagen, ehe ich diese Blätter, weiss noch selbst nicht mit was vor Zeug überschmiere. Was mich dazu bewogen ? Eitelkeit ? – Freilich ! – Einmal ist die Schreibsucht da. […] Und wenn auch nicht [Bräker bezieht sich hier auf die vorhin erläuterte Hoffnung, dass seine Kinder die Lebensgeschichte von ihm kennenlernen wollen], so macht’s doch mir eine unschuldige Freude und ausserordentliche Lust, so wieder einmal mein Leben zu durchgehen.103
Ebenfalls Goethe erwähnt die Schreiblust. Im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit begründet er, weshalb er eine solche Schrift verfassen will. Diese Motivation hänge mit dem Brief eines nicht näher genannten Freundes zusammen, der ihn gebeten habe, die inneren Beziehungen geordneter Dichtwerke in einer chronologischen Folge auf[zu] führen und sowohl die Lebens- und Gemütszustände, die den Stoff dazu hergegeben, als auch die Beispiele, welche auf Sie gewirkt, nicht weniger die theoretischen Grundsätze, denen Sie gefolgt, in einem gewissen Zusammenhang vertrauen möchten.104 102 Fontane, Theodor : Autobiographische Schriften. Meine Kinderjahre. Von Zwanzig bis Dreissig. Kriegsgefangenen. 1987 ; 219. 103 Bräker, Ulrich : Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg. Mit einem Nachwort herausgegeben von Werner Günther. 1965 ; 9. Vgl. zudem zu diesem Aspekt der Lust : Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 159. 104 Goethe, Johann Wolfgang von : Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 1985 ; 10.
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Goethe reagiert auf diesen Brief mit den Worten : « Dieses so freundlich geäusserte Verlangen erweckte bei mir unmittelbar die Lust es zu befolgen. »105 Die erwähnte Reflexivität in der Methode, von der Wagner-Egelhaaf im Zusammenhang mit Goethes Schrift spricht, wird ebenso im 20. Jahrhundert wichtig sein, auch wenn sie, wie später bei Th. Bernhard nachgewiesen wird, eine andere Ausrichtung erhält. Seit dem 20. Jahrhundert erleben die autobiographischen Schriften eine noch stärkere und bis heute anhaltende Popularität als im 17. Und 18. Jahrhundert.106 Allerdings haben sich diese Schriften deutlich gewandelt, was auch mit dem stark veränderten Subjektbegriff zu tun hat : Es rückte das auto in der Autobiographie im 20. Jahrhundert ins Zentrum. Wo es bis ins 19. Jahrhundert noch möglich schien, von einem homogenen Subjekt auszugehen, wurde im Verlaufe des 20. Jahrhunderts diese Konzeption immer mehr infrage gestellt, spätestens durch die Sprachkritik von Hugo von Hofmannsthal und durch die Subjektkritik von Nietzsche und von Freud. Es gibt zahlreiche Beispiele von autobiographischen Werken, wie mit der neuen Subjektkonzeption umgegangen wurde (und wird). Prominent zu nennen sind die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert von Walter Benjamin und Über mich selbst (wie es in der deutschen Übersetzung heisst) von Roland Barthes. Beide erzählen anekdotisch von ihrem Leben, somit wird die Linearität nicht eingehalten ; es fehlt die Kohärenz, das heisst, es gibt weder einen Anfang noch ein Ende. Benjamin arbeitet mit Stichworten, anhand derer er seine Vergangenheit durchforstet, indem er zum Beispiel über das Telefon und dessen Rolle in seiner Kindheit nachdenkt, oder er schildert einen Schultag, zu dem er sich verspätet hatte.107 Die von Barthes verfasste Schrift beginnt mit ein paar Bildern, ausgewählt nach dem Kriterium : « […] die mich versteinert liessen, ohne dass ich wüsste warum »108, und im Anschluss folgen ebenfalls zahlreiche, scheinbar zufällig ausgewählte Stichworte
105 Ebd. 106 Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 9. Auf die erwähnte Popularität des autobiographischen Schreibens weist auch die von Erich Bohli gegründete und geleitete Internetseite meet-mylife.net, welche seit 2014 online geschaltet ist und wissenschaftlich von Alfred Messerli begleitet wird. Diese Seite unterstützt Menschen, die vorhaben, selber autobiographische Texte zu schreiben. Seit 2018 gibt es sogar einen Schweizer Autobiographie-Award zu gewinnen (Bohli, Erich : Meet-my-life. Erzähle hier Dein Leben.). 107 Benjamin, Walter : Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. In : Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Gesammelte Schriften. Band IV 2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 1991 ; 242f resp. 247. 108 Barthes, Roland : Über mich selbst. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. 1978 ; 7.
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wie « Das Adjektiv »109 oder « Die Ausschliessung »110, anhand derer er Episoden aus seinem Leben erzählt, nicht frei von Humor. Von einem homogenen Subjekt, wie dies bei Goethe zutrifft, kann weder bei Benjamin noch bei Barthes gesprochen werden ; bei beiden zeigen sich Risse der Subjektkonstruktion, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auftaten. Um die grosse Anzahl von autobiographischen Schriften im 20. Jahrhundert einzuordnen, schlägt Holdenried vor, diese grob in drei Tendenzen aufzuteilen. Die erste Tendenz umschreibt sie mit der « Fiktionalisierung des Autobiographischen », das heisst, die autobiographischen Schriften nähern sich dem Roman an. Als Beispiele führt sie Marcel Prousts Werk A la recherche du temps perdu von 1913–1927 an sowie James Joyce’ A Portrait of the Artist as a Young Man (1914–1915). In der zweiten Tendenz geht es um die skeptische Distanzierung der Autobiographie bis hin zur Ablehnung der Gattung. Mit Blick auf die umfangreichen Tagebuchwerke von Franz Kafka, Gerhart Hauptmann, Robert Musil oder Hermann Bahr steht nach Holdenried zwar nach wie vor die Selbstanalyse im Zentrum, allerdings gehe es nicht mehr darum, grosse Bögen herzustellen, das heisst, die Tagebücher seien « anders als der (autobiographische) Roman aufgrund ihrer Lebenssimultaneität nicht zur Apotheose eines vielleicht sinnlosen und dennoch glücklichen Lebens imstande »111. Schliesslich besteht die dritte Tendenz in der « Trivialisierung durch Nachahmung historisch abgelebter Formen »112, also in der Tendenz, auf ein altes Konzept des autobiographischen Schreibens zurückzugreifen, ungeachtet dessen, ob sich der Subjektbegriff geändert hat oder nicht. Als Beispiel für diese Art von autobiographischer Schrift ist jene mit dem Titel Eine Kindheit (1922) von Hans Carossa zu nennen : Er bedient sich der Konzeption Goethes Dichtung und Wahrheit und erzielte damit grossen Erfolg.113 Eine weitere Spezifität des 20. Und 21. Jahrhunderts, weshalb autobiographische Schriften geschrieben wurden und werden, hängt mit der Erforschung der Erinnerung und der Abhängigkeit von der Sprache zusammen (die autobiographische Erzählung Montauk (1975) von Max Frisch gehört in diesen Zusammenhang). Zwar gibt es nach wie vor den Rechtfertigungsgestus (u. a. in Gottfried Benns Doppelleben aus dem Jahre 1950), doch der Schwerpunkt hat sich hin zur Frage nach der Reichweite der Sprache verlagert. Ab den 60er Jahren kommt der Anspruch hinzu, die Zeitläufte doku109 110 111 112 113
Ebd.; 47. Ebd.; 93. Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 214. Ebd.; 207. Vgl. dazu : ebd.; 207–223.
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mentarisch festzuhalten (u. a. Erika Runges Bottroper Protokolle).114 Im 21. Jahrhundert setzt sich die intensive Archivierungsarbeit fort. Eine Folge davon ist, dass auch das therapeutische Potential empirisch untersucht und nachgewiesen wurde (vgl. dazu Kapitel 2.6), weshalb autobiographische Schriften auch im Zusammenhang traumatischer Erfahrungen eingesetzt werden.115 Um den Fokus dieses historischen Abrisses, der primär auf der Seite der Produzierenden lag, grob zusammenzufassen, können drei wesentliche Momente genannt werden. Der erste Gestus, weshalb wir von uns selber erzählen, betrifft die Rechtfertigung (sei es politischer oder religiöser Natur, manchmal mit dem Streben nach Ruhm getränkt), dieser Aspekt blieb über alle Zeiten konstant. Eng mit dem Gestus der Rechtfertigung hängt der zweite zusammen : Autobiographische Schriften sind eine angemessene Form, um dem Imperativ Erkenne-dich-selbst zu folgen. So geht es im weiteren Sinne um die Ich-Herstellung oder, wie es Titchener formuliert, « to find a deeper truth and unity in one’s life, to define one’s place in the greater scheme of things »116. Neben der Rechtfertigung und der Selbstbestimmung, die sich mit der Analyse von Thomä decken, ist drittens die Selbstfindung der Aspekt, der bis in die heutige Zeit hineinwirkt (von Ptah-Schepses zu den religiösen Schriften ab dem Mittelalter), weshalb Menschen von sich erzählen. Hingegen scheint die Selbsterfindung, also die Vorstellung, nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit sei offen, ein Phänomen zu sein, welches sich vor allem ab dem 20. Jahrhundert nachweisen lässt, so bei Benjamin, später bei Barthes (und bei Th. Bernhard). Vielleicht lässt sich die vierte von Thomä ausgearbeitete Kategorie, nämlich die Selbstliebe, auf die vielen autobiographischen Schriften anwenden, die nie veröffentlicht wurden, die oftmals für gar keine Rezipierenden bestimmt sind oder kein Gegenüber haben, das sich für den Produzierenden interessieren würde. So bietet sich die Literatur an, in der Einsamkeit sich auf den Weg zu sich selber zu machen, auch, um neue Gestaltungspotentiale in sich selber zu erkennen.
114 Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 195. 115 Ein Beispiel für das Aufarbeiten von traumatischen Ereignissen ist die folgende Radiosendung : Enkeler, Christiane und Walser, Dagmar : Nach der Flucht : Schreiben im Exil. Moderation : Brigitte Häring, Redaktion Dagmar Walser. Sendung : Kontext. Ausgestrahlt am Montag, 7. August 2017. Schweizer Radio SRF, Kultursender. 116 Titchener, Frances B.: Autobiography and the Hellenistic Age. In : The Eye Expanded. Life and the Arts in Greco-Roman Antiquity. Hrsg. von Frances B. Titchener und Richard F. Moorton, Jr. 1999 ; 161.
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Was in diesem historischen Abriss fehlt, ist die Frage nach Relevanz des Leidens für das Produzieren autobiographischer Schriften. Das Leiden wird zwar in Schriften thematisiert (in der Odyssee oder bei Ovid), doch in keiner der hier zurückgegriffenen Forschung wird das Leiden als eine mögliche Intention ausgeführt, weshalb Menschen von sich erzählen. Dabei stellt das Leiden einen wesentlichen Organisationsmechanismus des Lebens dar, es zu thematisieren wurde in Kapitel 2.2 und 2.3 als notwendig beschrieben ; ja, man kann so weit gehen festzuhalten, dass das Leiden einen wesentlichen Ausgangspunkt darstellt, um überhaupt das Wort zu ergreifen, was sich bei Chr. Lavant und bei Th. Bernhard zeigen wird (vgl. Kapitel 6 und 7). Wie in Kapitel 2.5 ausgeführt wurde, besteht auf der Seite der Rezipierenden, was die Lesererwartung betrifft, ein Unterschied zu der Lektüre eines Romans. Wenn eine autobiographische Schrift vorliegt, erwarten die Rezipierenden, dass das, was erzählt wird, der Realität entspricht ; die Rezipierenden reagieren also zum einen als Lesende und zum anderen auch als Richter über das Leben der realen Person. Aus diesem Grund ist es oft wichtig, die einleitenden Worte oder den Anfang der autobiographischen Schrift genau zu lesen (so zum Beispiel in dem besprochenen Werken von Goethe oder Fontane), da dort explizit Bezug auf die Lesererwartung genommen wird. Als Antwort auf die Frage, warum Menschen autobiographische Schriften lesen, hält Titchener fest, dass « people read autobiography for many ft he same reasons that people write them »117. Allerdings, um Titchener zu präzisieren, in umgekehrter Richtung. Denn die Rezipierenden lesen ja nicht die Rechtfertigung von Isokrates, um sich selber zu rechtfertigen, sondern um nachzuvollziehen, wie Isokrates in seiner Schrift Antidosis vorgeht, um sich zu rechtfertigen. Dasselbe gilt ebenso für die anderen Gründe, weshalb eine solche Schrift verfasst wird, zum Beispiel bei der Selbstvergewisserung. Die Rezipierenden setzen sich mit einem fremden Leben auseinander, um in einem zweiten Schritt sich selber zu reflektieren (das refigurierende Moment nach Ricœur), eine Vorgehensweise, die auch die grosse Popularität von autobiographischen Schriften zur Zeit der Humanisten erklärt (vgl. die Ausführungen zur Renaissance in diesem Kapitel). Diese Art Modellfunktion erlaubt es den Rezipierenden, verschiedene Lebensformen zu überprüfen und allenfalls mögliche Aspekte herauszugreifen und für das eigene Leben fruchtbar zu machen. Somit fördern uns diese Schriften in unserer Entwicklung, sei es als warnendes, sei es als belehrendes Beispiel, beides Aspekte, die bereits in Kapitel 2.4.2 im Kontext der narrativen Ethik ausgeführt wurden. Wegen der Forschungslage, wo 117 Ebd.; 160.
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vor allem der Fokus auf die Produzierenden und nicht auf die Rezipierenden gelegt wird (vgl. dazu Kapitel 2.6.2), können zwar nicht empirisch erhärtete, aber doch weitere gut begründete Aspekte genannt werden ; so das Bedürfnis nach Orientierung, gerade im Zusammenhang von Leidenserfahrungen, aber auch die menschliche Neugierde auf das Leben des Anderen wirkt als Triebfeder für die Lektüre oder der Wunsch, aus historischer Perspektive zu erfahren, wie Menschen aus anderen Zeiten sich artikuliert haben. Wie zuvor die Schreiblust muss zudem die Leselust erwähnt werden, die solche Schriften wecken und deshalb gelesen werden. Abschliessend kann festgehalten werden, dass sowohl auf der Seite der Produktion als auch auf der Seite der Rezeption die Aussage von Misch zutrifft, die Autobiographien gehörten « zum Wesen menschlicher Existenz, dass wir das, was in dunklen Tiefen uns bewegt, zur Klarheit des Bewusstseins erheben können ».118 Wir Menschen haben somit eine Neigung zum « Ideologen des eigenen Lebens »119, wenn zumindest einige sich auf die Suche nach einem (Lebens-) Sinn machen, indem sie das angehäufte Lebensmaterial zu erklären, zu strukturieren und mit einer entsprechenden Logik zu versehen versuchen, ja sogar, falls das Material für die Rezipierenden zugänglich ist, es zur Diskussion stellen. Es gehört dazu ebenso das Angewiesensein auf ein Gegenüber, sei es auch nur die fiktive Kitty, an die Anne Frank sich richtet. Schliesslich scheint eine letzte Triebfeder für autobiographische Schriften zu sein (bisher wurde nur implizit davon gesprochen), nämlich, dass die Gescheiterten das Bedürfnis haben, sich zu äussern. Misch schreibt dazu : Es ist dem Menschen natürlich, im Siege zu frohlocken. Aber noch mehr drängt es die Gescheiterten, sich über das Leben zu äussern. Sie möchten aus dem Schiffbruch ein ideales Bild von sich retten, das sie der Welt zeigen oder auch sich selbst verhalten mögen, sei es, um sich über ihr Scheitern hinwegzutäuschen, sei es mit dem sittlichen Willen, dem Ideal nachzuleben, da das Leid den Charakter stärkt. […] So erscheint die Autobiographie sowohl im Hinblick auf ihre Quellen im Selbstbewusstsein des Menschen, als auch in Anbetracht ihrer Leistung, die im Verstehen des Lebens besteht, nicht bloss als eine eigene Literaturgattung, sondern auch als Mittel zur menschlichen Selbsterkenntnis.120 118 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Erste Hälfte. 1949 ; 11. 119 Bourdieu, Pierre : Die biographische Illusion. In : Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Hrsg. von ebd. 1998 ; 76. 120 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Erste Hälfte. 1949 ; 12 f.
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Und so scheint im Gestus der Rechtfertigung mit Blick auf die Rezipierenden ein pädagogisches Interesse zumindest implizit zu wirken, als Beispiel der Mahnung, aber auch als Vorbild. 4.3 Autobiographische Schriften von Frauen Kommunikation, und dazu gehört ebenso das Schreiben und Lesen, ist bekanntlich keine neutrale Tätigkeit. Es spielen dabei verschiedene Faktoren eine Rolle, auch der durch die Unterscheidungskategorien von Klasse und Geschlecht (vgl. dazu Kapitel 3.1) beeinflusste Blick auf sich und seine Welt. Wie im historischen Abriss deutlich geworden ist, steht vor allem die männliche Oberschicht im Zentrum. Mit den männlichen Verfassern autobiographischer Schriften geht die männliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit solcher Art von Schriften einher (vgl. Misch, Niggl, Müller u. a. m.). Wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Kay Goodman festhält, folgt daraus, dass die Probleme, welche mit der Gattung der autobiographischen Schriften für schreibende Frauen aufgeworfen sind, kaum berücksichtigt worden seien.121 Es gibt zwar ebenfalls eine lange Tradition von weiblichen autobiographischen Schriften, doch diese Tradition wurde erst spät im 20. Jahrhundert von der Wissenschaft wahrgenommen. Wenn die Geschichte der Autobiographie von Misch im Hinblick auf die Frage, wie viele Frauen es in seinen Kanon geschafft haben, untersucht wird, stellt man fest, dass Frauen erst im vierten Band im Kontext der mystischen Bewegung des 13. und 14. Jahrhundert vorkommen, etwa Elisabeth von Schönau oder Mechthild von Magdeburg.122 Im letzten Band von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts werden autobiographische Schriften von Frauen ein wenig häufiger untersucht.123 Dass das nicht nur mit der Quellenlage zu tun hat, zeigt etwa der Band Autobiographien von Frauen von Gudrun Wedel.124 Auch Goodmann verweist auf die lange Tradition von Frauen hin, die autobiographische Schriften verfasst haben. Dabei hebt sie, wie Niggl, die Wichtigkeit des Typus 121 Vgl. dazu : Goodman, Kay : Weibliche Autobiographien. In : Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. 1989 ; 299. 122 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Vierter Band. Zweite Hälfte. 1969 ; 91–111. 123 Misch, Georg : Geschichte der Autobiographie. Vierter Band. Erste Hälfte. Aus dem Nachlass hrsg. von Dr. Leo Delfoss. 1967. 124 Wedel, Gudrun : Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon. 2010.
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der religiösen Bekenntnisse hervor, vor allem für das 17. und 18. Jahrhundert.125 Den Ursachen der Verbreitung dieses Typus geht Goodmann nicht nach. Aber gut vorstellbar ist, dass Frauen mithilfe eines üblichen Schemas im Rahmen der gesellschaftlich gültigen Religiosität ihr Innenleben reflektieren, denn innerhalb dieses Schemas griffen sie weder die Autorität von Gott noch das patriarchale System an. Die ersten systematischen Untersuchungen zu den deutschsprachigen autobiographischen Schriften von Frauen erfolgten erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, sie stammen von der erwähnten Goodman (1977 respektive 1986) sowie von Marianne Vogt (1981).126 Im Folgenden sollen drei für diese Arbeit relevante Probleme und Eigenheiten von weiblichen autobiographischen Schriften, im Unterschied zu den männlichen, eingegangen werden ; es ist das Ziel, die zu untersuchenden Schriften von Chr. Lavant in einen historischen Kontext einzubetten und um darzulegen, wie sie die Organisation ihres Lebens vollzogen hat, gerade auch in Bezug auf wesentliche Aspekte ihrer Leidensquellen, die über das Individuelle hinausgehen. Der erste Punkt betrifft die Schwierigkeit, bei der Erarbeitung solch spezifischer Merkmale von weiblichen autobiographischen Schriften nicht in den « Essentialismus zurückzufallen, aber auch nicht in [poststrukturalistischer] Textualität zu verschwinden »127. Der Vorschlag von Gisela Binkler-Gabler, wie mit dieser Schwierigkeit umzugehen sei, ist der Mittelweg, das heisst der Weg zwischen Leben und Literatur. Diesem schwierigen Spannungsverhältnis folgt auch Holdenried in ihren vergleichenden Studien. Sie untersucht zum Beispiel den Briefwechsel zwischen Peter Abaelard und seiner Geliebten Héloise aus dem 12. Jahrhundert, die autobiographischen Texte der Mystikerin Margaretha Ebener aus dem 14. Jahrhundert, der Heiligen Teresa von Avila aus dem 16. Jahrhundert sowie der Gelehrten Friderica Baldinger aus dem 18. Jahrhundert. Als Konklusion ihrer Untersuchung hält sie fest : Während Männer ihre Taten durch den Beweis ihrer Identität als Entität rechtfertigen (wodurch die Autobiographie zur Apologie wird), müssen Frauen sich dafür rechtfertigen, dass sie die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen überschreiten und in männliche Domänen eindringen. Sie tun dies, indem sie die ihnen zugeschriebene 125 Goodman, Kay : Weibliche Autobiographien. In : Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. 1989 ; 290. 126 Niethammer, Ortrun : Autobiographien von Frauen im 18. Jahrhundert. 2000 ; 26. 127 Brinker-Gabler, Gisela : Metamorphosen des Subjekts. In : Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hrsg. von Magdalene Heuser. 1996 ; 399.
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partikulare weibliche Identität vordergründig anerkennen, ja sogar unterstreichen. So widerspruchsvoll diese Anpassungsleistung auch vor sich gehen mag – begleitet von durchaus ernst gemeinten Akten der Selbstherabsetzung –, so sehr ist doch die Annahme dieser partikularen Identität der Brückenkopf für eine « Landnahme » im Geschlechterkampf gewesen.128
Ähnlich wie in den männlichen Autobiographien ist auch hier das Moment der Rechtfertigung entscheidend, allerdings wird es anders motiviert. Von den Frauen wird bis ins 20. Jahrhundert hinein erwartet, Liebe und Familie ins Zentrum zu stellen, sich für die Selbstverwirklichung des Mannes einzusetzen ; es geht also um das Private und nicht um das Öffentliche, wie dies bei den Männern der Fall ist. Wenn sich die Frauen von ihren engen Aufgaben zu lösen versuchen, kommen sie gezwungenermassen in einen Rechtfertigungszwang. Sie suchen nach Begründungen für die Grenzüberschreitungen und wenden dabei, wie im Zitat von Hodenried deutlich wird, verschiedene Strategien an. Je mehr sich die Frauen von den klassischen Bildern und Erwartungen an ihr Geschlecht lösen können, desto mehr glichen sich ihre autobiographischen Texte im 19. Jahrhundert denen der Männer an, was aber nicht bedeutet, es gebe keine Geschlechterdifferenz mehr, sondern es liege, wie Wagner-Egelhaaf ausführt, an der Nachahmung des Kanons, nämlich dem Streben, sich der Erzählweise der Männer anzupassen.129 Eng hängt damit der zweite grosse Unterschied zu den autobiographischen Schriften von Männern zusammen. In den autobiographischen Werken wird « höchst selten in beruhigter Retroperspektive ein in sich gerundetes Leben betrachtet »130. Es handelt sich bei diesen Werken oftmals um ein « fragmentarisch-unruhiges, abbrechendes, schweifendes, irritierendes Suchen nach Lebenslösungen »131, ein Suchen, das sich ebenfalls während des Schreibprozesses fortsetzt. Auch wenn die Frau, wie Goodmann festhält, erst um die Mitte und gegen das Ende des 19. Jahrhunderts einen Beruf sowie ein politisches Engagement beschreiben kann ; es wird noch bis ins 20. Jahrhundert dauern, bis die Frau selbstbewusster nach möglichen Lösungen suche, nicht nur in Bezug 128 Holdenried, Michaela : « Ich, die schlechteste von allen. » Zum Zusammenhang von Rechtfertigung, Schuldbekenntnis und Subversion in autobiographischen Werken von Frauen. In : Geschriebenes Leben : Autobiographik von Frauen. Hrsg. von ebd. 1995 ; 419 f. 129 Welche möglichen psychologischen Gründe für die Mimikry eine Rolle spielen, führt Wagner-Egelhaaf aus (vgl. dazu : Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie. 2005 ; 99 f ). 130 Holdenried, Michaela : Einleitung. In : Geschriebenes Leben : Autobiographik von Frauen. Hrsg. von ebd. 1995 ; 10. 131 Ebd.
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auf den Inhalt, sondern auch hinsichtlich der Form ihres Schreibens.132 Drittens soll schliesslich auf die Relevanz des Briefes hingewiesen werden. Goodman bringt mit dem Kompositum « Briefautobiographie »133 zum Ausdruck, dass das Briefschreiben für Frauen vor allem im 18. und im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielte. Sobald eine bürgerliche Frau geheiratet hatte, « war es selbstverständlich, dass sie ihrem Mann ihr Selbst schenkte »134, denn sie verfügte weder über persönliche noch über ökonomische Rechte, die sie gegenüber dem Mann geltend machen konnte.135 So hatte der Brief nicht nur die Funktion, die familiäre und gesellschaftliche Integration zu gewährleisten, sondern er bot zudem einen Reflexionsraum ihrer Subjektivität, und zwar in Form von Dialogen mit den Briefpartnern, also analog zu den Gesprächen in den Salons der damaligen Zeit. Diese skizzierte Linie macht die Notwendigkeit für das Schreiben von Briefen deutlich, die sich ebenfalls bei Chr. Lavant nachweisen lässt. Aus diesen Ausführungen zum autobiographischen Schreiben von Frauen wird verständlich, weshalb es nötig ist, spezifische Analysekriterien zu entwickeln, wie in Kapitel 3.1 ausgehend von Gymnich mit Blick auf die Schriften von Chr. Lavant vorgestellt wurden, um klarer darstellen zu können, was für Hindernisse Frauen zu überwinden hatten und teilweise nach wie vor haben. 4.4 Das dritte Zwischenspiel Wie in der Diskussion in diesem Kapitel aufgezeigt wurde, ist nicht klar, was die Gattung der Autobiographie auszeichnet. Die Ausgangslage für die Diskussion des Begriffes war die Definition aus dem Reallexikon. Wie die Ausführungen u. a. zu Lejeune und zu de Man aufzeigten, ist der Begriff keineswegs eindeutig und je nachdem, ob und inwiefern er definiert werden kann, wird auch klar, welche Textsorten in die Gattung gehören respektive ausgeschlossen werden. Obwohl der Begriff autobiographische Schrift, was seine Reichweite betrifft, ebenfalls mit Unklarheiten behaftet ist, wird im Folgenden auf ihn zurückgegriffen. Die 132 Goodman, Kay : Weibliche Autobiographien. In : Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. 1989 ; 297 sowie Holdenried, Michaela : Einleitung. In : Geschriebenes Leben : Autobiographik von Frauen. Hrsg. von ebd. 1995 : 10. 133 Goodman, Kay : Weibliche Autobiographien. In : Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. 1989 ; 294. 134 Ebd. 135 Ebd.
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Untersuchung in diesem Kapitel zeigte auch, wo die Ursprünge solcher Schriften liegen. Es gibt welche, die einem bestimmten Zeitkontext zuzuordnen sind, etwa was die Bekenntnisschriften im Zusammenhang des Pietismus im 17. Jahrhundert betrifft, andere, etwa der Rechtfertigungsgestus, scheint eine Triebfeder zu sein, die bis in die heutige Zeit reicht. Wiederum andere Intentionen, man denke an die hier relevanten Leidenserfahrungen, wurden bisher in der Forschung zu wenig berücksichtigt. Erst wenn diese Quelle der Motivation von autobiographischen Schriften freigelegt ist, wird es ebenfalls möglich, die ethische Dimension solcher Schriften differenzierter auszuarbeiten. Wie in der Behandlung der autobiographischen Schriften von Chr. Lavant und Th. Bernhard noch deutlicher werden wird, bedeutet eine solche Auseinandersetzung mit sich selber auch die Neuinterpretierung seiner selbst. Auch wenn die Möglichkeit der inneren Distanznahme zum Material besteht, bedeutet es nicht, dass das Verhältnis zwischen dem Geschriebenen und dem tatsächlich gelebten Leben auf dem Prinzip der Mimikry basiert, es nähert sich höchstens diesem Prinzip an. Eine autobiographische Schrift ist nicht geschriebenes Leben, sondern das Leben wird beschrieben, zum Teil umgeschrieben oder gar überschrieben. Der Wahrheitsgehalt und die Frage nach der Reichweite von Erinnerungen sind Themen, die seit dem Aufkommen solcher Schriften vorhanden sind. Seit dem Beginn des Sichselberthematisierens, das bis hin zu den alten Ägyptern reicht (und sicher darüber hinaus, wie die Höhlenmalereien etwa in der El-Castillo-Höhle zeigen), geht es um die Handlungsmächtigkeit des Menschen, die Spannung zwischen Freiheit und Determination, die Anspannung zwischen Ich und Du im Spezifischen sowie Ich und der Welt im Allgemeinen. Zudem zeigen die Idealbiographien aus dem alten Ägypten, dass Menschen nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart im Blick haben, wenn sie sich selber thematisieren, sondern auch die Zukunft (ein Umstand, der uns ebenso im Kontext der Werkpolitik in Kapitel 7 beschäftigen wird). Schliesslich können anhand der Geschichte der autobiographischen Schriften die Ausschlussmechanismen einer Gesellschaft gut nachvollzogen werden. Die klassischen Fragen der politischen Theorie, wer, was, wo, wann sagen darf, helfen zur Klärung, weshalb Frauen auch im Kontext des autobiographischen Erzählens so lange nicht wahrgenommen wurden. Autobiographische Schriften stellen damit eine Art Zeugenaussage dar, über sich selber im Zusammenspiel mit der Rahmengeschichte, in der der Einzelne gefangen bleibt. Somit geben solche Schriften nicht nur preis, wer der Produzierende ist, sondern die Schriften ermöglichen einen Einblick in die damalige Zeit. Es war Dilthey, der im 20. Jahrhundert besonders prominent darauf hinwies (und Misch, der sich als sein Schüler darauf bezog) : Jedes einzelne Leben
Das dritte Zwischenspiel
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hat einen eigenen Sinn und das Dasein wird individuell vollzogen ; gleichzeitig repräsentiert jeder Mensch « das geschichtliche Universum »136.137 Ein einzelner Mensch lebt nicht für sich isoliert, sondern er steht in einer Wechselwirkung zu den Dimensionen von Zeit und Raum, in denen er sich bewegt.
136 Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 1927 ; 199. 137 Schon vor Dilthey hat Herder diese Verschränkung von Individuum und Gesellschaft in den autobiographischen Schriften besonders betont (vgl. dazu : Finck, Almut : Subjektbegriff und Autorschaft : Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. In : Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos et al. 1995 : 284 f ).
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5. Wie das Ethische in das autobiographische Erzählen kommt Wie lange werden unsere Hände ineinander sein ? Es gibt so viele Zwangstrennungen von innen her bedingt, ohne dass die Hände oder deren Eigentümer daran eigentlich schuld sind. Menschen sind überhaupt das Loseste und Verwehendste unter den Winden. (Auszug eines Briefes von Chr. Lavant an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 6. April 1951)1
Auf die Relevanz der Ethik wurde im Zusammenhang des Erzählens im Allgemeinen und der Literatur im Kontext der narrativen Ethik im Spezifischen schon mehrmals hingewiesen. Im Folgenden geht es darum, ausgehend vom erarbeiteten Material in den Kapiteln 2 bis 4, zu untersuchen, wie das Ethische in das autobiographische Erzählen kommt, bevor dann diese Überlegungen in den Kapiteln 8 und 9 anhand von Chr. Lavant und Th. Bernhard konkretisiert werden. Um das Ethische einzugrenzen, gilt es zuerst, den Begriff der Ethik auszuführen. In einem zweiten Schritt wird der Bezug zum autobiographischen Erzählen dargelegt. Das Resultat dieser beiden Schritte wird sein, dass klar wird, weshalb es notwendig ist, den Fokus auf die ethische Dimension des autobiographischen Erzählens zu richten. Im Regelfall stehen in der Ethik Handlungen im Zentrum der Analyse. Doch wie sieht es bei der Erzählung von Handlungen aus ? Ist es überhaupt möglich, von einer ethischen Dimension zu sprechen, wenn es gar nicht um Handlungen selber geht, sondern um das Erzählen davon ? Ohne den Begriff der Handlung an dieser Stelle zu präzisieren (er wird in Kapitel 5.3 ausführlich thematisiert), ist das Erzählen respektive das Argumentieren, je nach Kontext, das Medium, wie über die Handlung berichtet wird. Anhand von MacIntyre, Bruner und Hampe wurde aufgezeigt, wie eng Erzählen und Handlung zusammenhängen (vgl. dazu Kapitel 3). Erst wenn die handelnde Person begründet hat, weshalb sie nach wie 1 Zit. in : Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894–1959). Mediator Between the Englishand German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 384.
Wie das Ethische in das autobiographische Erzählen kommt
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vor Fleisch isst, weshalb sie mit dem Flugzeug verreist oder weshalb sie lügt, wird es möglich, die Beweggründe zu erfahren, und erst dann kann die Handlung entsprechend bewertet werden. Und aus diesem Grund ist es auch möglich, das Erzählen von Handlungen (und in Ergänzung die Denkweisen) einer ethischen Prüfung zu unterziehen, allerdings, wie es sich in diesem Kapitel zeigen wird, müssen für diese Art der Reflexion spezifische Analysekriterien ausgearbeitet werden. Wird zwischen Moral und Ethik unterschieden, wird oftmals festgehalten, wie dies ebenso Matthias Lutz-Bachmann tut, dass bei der Moral « das intersubjektive, soziale und institutionelle Gefüge von Handlungen, Handlungsregeln und Handlungspräferenzen »2 im Zentrum stehe ; in der Ethik hingegen gehe es darum, « die Moralität der Moral »3 zu reflektieren und so auf eine der kantianische Frage, nämlich « Was soll ich tun ? » zu antworten. Wenn der Fokus von einzelnen Handlungen weggewendet wird, hin zu den allgemeinen Fragen des Lebens, etwa was ich in den nächsten fünf, zehn oder zwanzig Jahren erreicht oder erlebt haben möchte, stehen nicht mehr einzelne Handlungen im Zentrum, sondern die Frage « W ie soll ich leben ? ».4 Doch diese Grenzziehung zwischen den Fragen « Was soll ich tun ? » und « W ie soll ich leben ? » ist nicht einfach zu ziehen. Denn auch eine einzelne Handlung ist oftmals im Kontext zu betrachten, isoliert bleiben Handlungen ohne Sinnzusammenhang, wie etwa das von MacIntyre verwendete Beispiel zeigt, bei dem ohne Kontextwissen während einer Vorlesung zu Kant plötzlich in einer Schüssel Eier zerschlagen sowie Mehl und Zucker dazugeben werden.5 Und aus dieser Perspektive wird verständlich, falls über die Ziele für die kommende Zeit reflektiert wird, weshalb die Frage « W ie soll ich handeln ? » von der Frage « W ie soll ich leben ? » abhängt. Auch wenn die Ziele in einem bestimmten (oder in allen) Bereich(en), sei es Arbeit, Wohnen oder Beziehung, klar sein mögen, heisst das nicht, sich in jeder Handlung bewusst zu sein, in welchem Verhältnis sie zum jeweiligen Leben im Allgemeinen stehen. Deshalb ist es notwendig, eine graduelle Unterscheidung vorzunehmen ; 2 Lutz-Bachmann, Matthias : Grundkurs Philosophie. Band 7. Ethik. 2013 ; 19. 3 Ebd. 4 Ricœur unterscheidet zwischen Handlungen, die zu komplexen Einheiten zusammengefügt werden (die Praktiken), dann die Lebenspläne und schliesslich die Erzählung, die über das ganze Leben gelegt wird, und es somit möglich wird, über die Frage nach dem « guten Leben » zu reflektieren (vgl. dazu : Ricœur, Paul : Das Selbst als ein Anderer. Aus dem Französischen von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Brigit Schaaff. 1996 ; 188–200). 5 MacIntyre, Alasdair : Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen von Wolfang Rhiel. 2006 ; 279.
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nicht alle Handlungen und Überlegungen sind gleich stark mit der Frage « W ie soll ich leben ? » verknüpft. Wenn nun die Frage « W ie soll ich leben ? » im Zentrum steht, verschiebt sich das Verhältnis von Moral und Ethik. Von einer solchen Verschiebung zeugen die Ausführungen von Ronald Dworkin : « Moralische Normen schreiben vor, wie wir andere behandeln sollen, während ethische Standards sich darauf beziehen, wie man sein eigenes Leben führen soll. »6 Um bei diesem Verständnis der Begriffe Moral und Ethik zu bleiben, da es in der Ausarbeitung einer Ethik des autobiographischen Erzählens auch um die Frage nach dem « W ie soll ich leben ? » geht, kann eine Gemeinsamkeit zwischen « moralischen Normen » und « ethischen Standards » festgehalten werden : Beide zielen auf das Gute ab. Bei den « moralischen Normen » besteht das Gute im normativ Richtigen, im Vorgeschriebenen, also darin, wie die Menschen ihre Handlungen ausrichten sollen. Von diesem Verständnis geht die klassische Position der deontologischen Ethik aus. Im Gegensatz zur Sozialethik, wie sie Fenner nennt, zielen « ethische Standards » auf das Individuelle ab, die die Bedürfnisse, die Wünsche, letztlich das Glück des Einzelnen ins Zentrum rücken.7 Bei diesen Standards geht es nicht um objektive Urteile, was es zu tun gelte, sondern sie sind immer abhängig von der handelnden Person, das heißt, « im Sinne des vernünftigen Eigeninteresses oder der Klugheit des Betroffenen [ist es] ratsam, so zu handeln »8. Es ist die Konzeption von Aristoteles, worauf die Position zurückgeht. Auch wenn im Kontext des Leidens vor allem die individuelle Perspektive im Zentrum steht, spielt in der Auseinandersetzung um das autobiographische Erzählen die deontologische Ethik Kants und somit seine Auffassung des guten Lebens trotzdem eine Rolle. Wie genau die sozialethische mit der individualethischen Perspektive zusammenhängt, soll nun im Folgenden genauer ausgeführt werden. Bei der erwähnten Frage « Was soll ich tun ? » werden bereits einige Annahmen vorausgesetzt. Eine solche Annahme besteht darin, dass wir Menschen in der Lage seien, entscheiden zu können, was wir tun wollen und was nicht. So verfüge der Mensch, wie Kant prominent ausführt, nicht nur über die sinnliche Natur, sondern er nehme an einer « transzendentalen Idee »9 der Freiheit teil.10 6 Dworkin, Ronald : Gerechtigkeit für Igel. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva Engels. 2012 ; 323. 7 Vgl. dazu : Fenner, Dagmar : Das gute Leben. 2007 ; 10 f. 8 Ebd.; 9. 9 Kant, Immanuel : Kritik der reinen Vernunft. 1998 ; B 561. 10 In KpV schreibt Kant auch im Zusammenhang der Freiheit von einer « übersinnlichen Natur » (Kant, Immanuel : Kritik der praktischen Vernunft. 1990 ; 74).
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Transzendental sei die Freiheit erstens deshalb, weil sie von der Natur unabhängig ist, und zweitens in der Lage ist, sich der Kausalität, wie sie in der Natur vorliegt, zu entziehen, sie hält sich die Idee der « Spontaneität » offen.11 Im Gegensatz zur Natur sei der Mensch somit in der Lage, etwas von « selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht »12. Weiter führt Kant aus, bestehe die Freiheit in der « Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit »13. Die sinnliche Willkür differenziert Kant noch, indem er auf der einen Seite die « pathologisch affizierte » und zum anderen die « pathologisch necessitierte », die in der Tierwelt vorkomme, unterscheidet. Da der Mensch eben nicht nur der sinnlichen Welt angehöre, sondern auch über Freiheit verfüge, sei er diesen sinnlichen Kräften nicht ausgeliefert, er könne sich diesen entgegensetzen, weswegen er in der Lage sei, dasjenige zu tun, was er will.14 Doch nur wenn das « Wollen » genannt wird, ist die kantianische Frage « Was soll ich tun ? » noch nicht beantwortet, denn wollen kann ein Mensch ganz viel, doch nicht alles soll auch gewollt werden. Bei dieser Steuerung des Wollens ist bei Kant deshalb neben dem Freiheitsbegriff vor allem noch ein weiterer Begriff relevant. In dem folgenden Zitat hält Kant fest, dass zu der Freiheit eben noch ein weiteres Vermögen hinzukommen muss, um den Menschen vollständig zu beschreiben, nämlich die Fähigkeit, mittels der Vernunft, unabhängig von den Sinnen, Überlegungen anzustellen und Entscheidungen zu treffen : Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch blosse Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Teils Phänomen, anderen Teils aber, nämlich in Ansehnung gewisser Vermögen, ein bloss intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft, vornehmlich wird die letztere ganz eigentlich und vorzüglicher Weise von allen empirischbedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloss nach Idee erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der denn von seinen (und zwar reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht.15 11 Kant, Immanuel : Kritik der reinen Vernunft. 1998 ; B 561. 12 Ebd. 13 Ebd.; B 562. 14 Ebd. 15 Ebd.; B 574 f.
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Nur der Mensch, wie Kant festhält, sei aufgrund seiner Freiheit und seiner Vernunft in der Lage, ein Sollen hervorzubringen, unabhängig davon, wie viele « Naturgründe » vorlägen ; es sei die Vernunft, die dem unendlichen Wollen « Mass und Ziel, ja Verbot und Ansehen »16 entgegensetzt, indem sie dem Verstand entsprechend bestimmt, was eine « gute » Handlung ist, und so festlegt, was es umzusetzen gilt. Die Person handelt dadurch nicht aus Neigung, sondern infolge des kategorischen Imperativs pflichtgemäss. Diese knappe Skizze der deontologischen Ethik ist nun aus zwei Gründen für die Ethik des autobiographischen Erzählens wichtig. Der eine Punkt hängt mit dem erwähnten Streben nach Autonomie zusammen, das vom Leiden stark infrage gestellt wird. Es ist jenes Streben, das als etwas in sich Erstrebenswertes und somit Gutes aufgefasst wird. Und um dieses Streben geht es in der Auseinandersetzung mit dem autobiographischen Material primär. Der zweite Punkt hängt mit der stärkeren Fokussierung der Konzeption Kants auf das Gegenüber zusammen. Wenn wir auf das autobiographische Material zurückgreifen, um von uns zu erzählen, werden auch nähere oder weiter entfernte Personen miteinbezogen und ihre Handlungen nach gewissen Massstäben bewertet. Wie Th. Bernhard in seinen autobiographischen Schriften Werturteile fällt, wie es dazu kommen konnte, dass er im Verlaufe seines Schaffens von Teilen der Rezipierenden immer wieder so sehr abgelehnt und angefeindet wurde, dass er vor Gericht erscheinen musste, wird erst verständlich, wenn das Gute, verstanden als das normativ Richtige, miteinbezogen wird. Aristoteles führt an den Liebhabern der Pferde, der Schauspielerei oder der Gerechtigkeit aus, dass die Menschen ihr Handeln nach unterschiedlichen Kriterien ausrichten.17 Was diese Liebhaber verschiedener Aspekte verbindet, ist ihre individuelle Suche nach dem Glück. Doch die « Selbstinteressen, Wünsche, Ziele und Grundhaltungen des Individuums »18 spiegeln nicht einen ethischen Subjektivismus wider, sondern das Streben der Menschen wird mithilfe ihres Vernunftvermögens reflektiert, auch mit dem Ergebnis, das Gegenüber mit in die Überlegung einzubeziehen, wie die Ausführungen zu den verschiedenen Tugenden bei Aristoteles zeigen.19 Der Vorzug dieser individualethischen Position im Kontext einer Ethik des autobiographischen Erzählens hängt mit der klassischen Umkehrung des Glücks, nämlich mit dem Leiden zusammen. Das Leiden, wie 16 Ebd.; B 576. 17 Aristoteles : Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. 2006 ; 1099a. 18 Fenner, Dagmar : Das gute Leben. 2007 ; 9. 19 Wie eng das Vernunftvermögen mit dem Streben nach dem Glück zusammenhängt, zeigen Aristoteles’ Ausführungen zu seinen Tugenden (vgl. dazu : Aristoteles : Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. 2006 ; hier vor allem das sechste Buch).
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bereits in Kapitel 2.2 bis 2.4 ausgeführt wurde, ist eine Bedrohung für das Streben nach Autonomie, es ist, wie es genannt wurde, ein aktiver Sinnvernichter. In einem leidenden Zustand ist das Können gefährdet, die Voraussetzung für ein Sollen (vgl. dazu die Ausführen zu Kant von vorhin) ist nicht mehr gewährleistet, weswegen die Möglichkeit auf die Frage « Was soll ich tun ? » respektive « W ie soll ich leben ? » zu antworten zwar nicht obsolet, je nach Leidenszustand und je nach Disposition der leidenden Person jedoch zumindest gefährdet ist. Diesem Sinnvernichter wird versucht, mittels der Selbsterforschung, insbesondere durch die Ursachenforschung, entgegenzusteuern und sie allenfalls in Form einer Erzählung zu transportieren. Und wie es die Selbsterforschung impliziert, der Fokus verschiebt sich weg von der Gemeinschaft hin zum Einzelnen, es ist die einzelne Person, die sich mit dem Leiden auseinandersetzen muss, ihr Glück ist gefährdet. Obwohl das Normative in der Diskussion über das Leiden in den autobiographischen Schriften mitreflektiert werden muss, so gilt es dennoch, diese Perspektive zugunsten einer individualethischen Position abzuschwächen. Der umgekehrte Weg sollte allerdings auch berücksichtigt werden, nämlich die Individualethik auf eine Sozialethik anzupassen, ein Vorgehen, das Aristoteles vorschwebt, wenn er sich auf eine delische Inschrift des Glücks bezieht : « Das Werthafteste ist das Gerechte, das Beste ist die Gesundheit, das Erfreulichste ist, das zu bekommen, was man möchte. »20 Als Folgerung dieser Inschrift hält er im Anschluss fest : « Denn alle diese Eigenschaften kommen den besten Tätigkeiten zu ; diese aber, oder eine – die beste – von ihnen, ist, so sagen wir, das Glück. »21 Und so scheint im Glücksbegriff von Aristoteles ebenso jener der Gerechtigkeit enthalten zu sein, ein Begriff, welcher für die deontologische Ethik (ebenfalls) entscheidend ist. Doch diese abgeschwächten Formen sollen nicht darüber hinwegtäuschen : Sie können sich auch im Widerstreit befinden, etwa dann, wenn Th. Bernhard in seinen Erzählungen nicht die Wahrheit wiedergibt (etwa der Austritt aus dem Gymnasium, vgl. dazu weiter unten sowie Kapitel 7) oder wenn er die Ereignisse so und so ausrichtet, um einen möglichst grossen Effekt bei den Rezipierenden zu erzielen (etwa sein Entschluss, im Sanatorium « weiteratmen » zu wollen, vgl. dazu ebenfalls Kapitel 7). Aus einer sozialethischen (deontologischen) Perspektive müssen solche Erzählung negativ bewertet werden, hingegen aus einer individualethischen können mit Blick auf die Leidensverminderung gute Gründe vorliegen, um den Inhalt der Erzählung zu rechtfertigen. Wie genau der Widerstreit beschaffen ist und wie darauf aus der produktionsästhetischen oder auch 20 Ebd.; 1099a. 21 Ebd.
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aus der rezeptionsästhetischen Sicht geantwortet werden kann, wird in Kapitel 9 weiter ausgeführt. Nachdem nun die Verbindung der « moralischen Normen » und der « ethischen Standards » bei der Frage nach der Ausgestattung des Guten im Kontext des Leidens dargelegt wurde, gilt es, dieses Verständnis auf die Ethik des autobiographischen Erzählens hin zu präzisieren. Wie oben erwähnt, aber auch schon in Kapitel 3.2 und 4.2 ausgeführt wurde, hängt ein Grund, weshalb Menschen von sich erzählen, damit zusammen, Handlungen zu begründen. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist jener des Erkenne-dich-selbst und das Leiden. Unabhängig davon, welche Intention für das Erzählen von autobiographischem Material vorliegt, das Modell Produzierende erzählen Rezipierenden gilt. Ein Konzept, das als Ausgangslage dient, um die ethische Dimension dieses Modells mit dem Fokus auf das autobiographische Erzählen auszuarbeiten, ist jenes von James Phelan. Was für dieses Konzept spricht, sind zwei Dinge. Zum einen ist er ein Vertreter der narrativen Ethik, und zum anderen zieht er in seine Überlegungen die Rezipierenden mit ein. Wie Ricœur hat er zwar die fiktive Literatur im Fokus, doch es wird sich zeigen, dass sein Konzept ebenfalls auf das autobiographische Erzählen angewendet werden kann. Phelan unterscheidet vier Ebenen der Ethik im Zusammenhang der Literatur, vier Ebenen, die er aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen hat :22 Mithilfe der Konzeption von Ricœur können die Ebenen von Phelan in die Komplizenschaft zwischen Produzierenden und Rezipierenden eingebettet werden. Dank dieser Einbettung wird es möglich, die ethische Dimension des autobiographischen Erzählens in Ricœurs Komplizenschaft systematisch einzuführen, und auf der anderen Seite kann die Konzeption Phelans vertieft werden, da mithilfe von Ricœurs Ausführungen die anspruchsvolle Verflechtung zwischen Produzierenden-Erzähltem-Rezipierenden deutlicher wird. Während nun die ethics of writing sich primär auf das präfigurierende Moment der Produzierenden bezieht, die ethics of told und ethics of telling auf die Konfiguration im Kontext des Erzählten fokussiert sind, steht die ethics of reading beim refigurierenden Moment der Rezipierenden im Zentrum. Auch wenn eine klare Grenze zwischen writing, told, telling, reading gezogen wird, so klar sind diese Begriffe nicht, die Reflexionen sind voneinander abhängig. Zum Beispiel besteht zwischen dem Was (also der ethics of told) und dem Wie (also der ethics of telling) eine enge Ver22 Phelan, James : Narrative Ethics. In : Handbook of Narratology. Volume 2. Hrsg. von Peter Hühn et al. 2014 ; 531–534.
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bindung, denn ohne das Was kann das Wie nicht transportiert werden. Dasselbe gilt für die Abgrenzung zwischen Präfiguration, Konfiguration und Refiguration. Auch hier, wie sich zeigen wird, ist das Aushandeln zwischen der Konkordanz und der Diskonkordanz im Zusammenhang des Leidens ebenfalls von der Präfiguration und von der Refiguration abhängig. Bevor diese Gedankengänge genauer ausgeführt werden, sollen zwei Überlegungen formuliert werden, die die Verbindung der Modelle von Ricœur und Phelan betreffen. Erstens kann das autobiographische Erzählen als Ganzes als ein ethisch relevanter Akt an sich verstanden werden : Wenn von sich selber erzählt wird, wird auf die Vergangenheit zurückgriffen, man bringt das Material und sich selber zur Sprache, die Handlungen und Überlegungen werden reflektiert und nach den Ursachen des Selbst wird geforscht. Dank den autobiographischen Schriften, die eine inhaltliche Tiefe der Reflexionsmöglichkeiten zulassen, die allenfalls den Rezipierenden zur Verfügung (und offen-)stehen, bietet diese Art der Archivierungsarbeit für die Produzierenden eine Gelegenheit, Handlungen und Überlegungen zu bewerten und so sich selber zu erkennen. Allerdings gilt es bei der Archivierungsarbeit, wie Sontag ausführt, eine Balance zu finden zwischen dem notwendigen Erinnern und dem Zuviel-des-Erinnerns. Perhaps too much value is assigned to memory, not enough to thinking. Remembering is an ethical act, has ethical value in and of itself. Memory is, achingly, the only relation we can have with the dead. So the belief that remembering is an ethical act is deep in our natures as humans, who know we are going to die, and who mourn those who in the normal course of things die before us – grandparents, parents, teachers and older friends. Heartlessness and amnesia seem to go together. But history gives contradictory signals about the value of remembering in the much longer span of a collective history. There is simply too much injustice in the world. And too much remembering (of ancient grievances : Serbs, Irish) embitters. To make peace is to forget. To reconcile, it is necessary that memory be faulty and limited.23
Das Erinnern, so Sontag, ist insofern ethisch relevant, weil es die Erinnerungen seien, die uns die Sterblichkeit wieder ins Bewusstsein führen. Zu viel wird dann erinnert, wenn eine Versöhnung mit der Vergangenheit und mit dem Gegenüber, sei es eine Person, eine Familie oder eine Ethnie, verunmöglicht wird. Entsprechend besteht das Ethische des autobiographischen Erzählens auch darin, zu
23 Sontag, Susan : Regarding the Pain of Others. 2003 ; 103.
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vergessen, mit dem Ziel « having some space in which to live one’s own life »24. Und aus dieser Perspektive scheint das Verhalten des Erzählers in Auslöschung. Ein Zerfall von Th. Bernhard gerechtfertigt, wenn er seine Erinnerungen aufschreibt, um zu vergessen (allerdings stellt sich hier die Frage, ob es nicht auch ein Zuviel-des-Vergessens gibt).25 Zweitens muss bei der Ausarbeitung der ethischen Dimension zwischen einer internen und einer externen Perspektive unterschieden werden. Mit dieser Differenzierung soll darauf hingewiesen werden, ob das Erzählte unabhängig von externem Material von den Produzierenden wie auch von den Rezipierenden bewertet oder ob weiteres autobiographisches Material beigezogen wird, um bestimmte Aspekte zu vertiefen oder zu überprüfen. Die Relevanz der Unterscheidung zeigt sich gerade in dem schon mehrmals erwähnten Authentizitätsanspruch des Erzählten, weshalb die Produzierenden und ihre Erzählungen einem besonderen Druck ausgeliefert sind. Im Folgenden wird anhand von drei konkreten Bereichen aufgezeigt, wie das Ethische ins autobiographische Erzählen hineinspielt. Der erste Bereich (a) hängt mit der Verbindung von Leiden, Erzählen und Schreiben zusammen. Auf diesen Bereich wird deshalb verwiesen, weil das Schreiben eine zentrale Methode darstellt, um die Konfiguration zu vollziehen, es ist das Schreiben, welches es ermöglicht, das heterogene Material zu synthetisieren und daraus eine kohärente Erzählung zu gestalten (in Teilen ethics of telling26), mit der Folge, dass es sich selber ermächtigt und der Bedrohung durch das Leiden auf das Erkenne-dich-selbst angemessen reagiert. Mit Blick auf die Zukunft bietet das Schreiben einen Weg an, sozusagen einen Lawinenschutz gegen zukünftiges Leiden aufzubauen. In einem zweiten Punkt ist das Schreiben vom präfigurierenden Moment beeinflusst und so der ethics of writing insofern ausgeliefert, dass je nach Intention oder Perspektive das Schreiben in eine andere Richtung in Gang gesetzt wird, wobei auch hier, genauso wie bei den anderen folgenden Bereichen, die Strukturmerkmale (Ziele und Motive müssen mehr oder weniger bewusst begriffen werden), die symbolische Vermittlung (eine Handlung oder eine Überlegung werden in einen grösseren Kontext integriert) und die zeitliche Struk24 Ebd. 25 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. 2014 ; 542 f. 26 Es handelt sich hier nur in Teilen um die Ebene der ethics of telling, weil das Schreiben, wie es hier verstanden wird, nicht nur als das Wie (also Wie wird das Erzählte festgehalten), sondern auch als Methode aufzufassen ist.
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tur (die einzelnen Handlungen oder Überlegungen werden mehr oder weniger bewusst mit der Vergangenheit in Verbindung gesetzt) berücksichtigt werden müssen.27 In einem dritten Punkt geht das Schreiben über die Konfiguration hinaus, indem der daraus entstandene Text die Basis für das refiguriende Moment bietet, also für die ethics of reading. Hier gilt es ebenso, die Differenzierungen Ricœurs zu diesem Moment zu berücksichtigen, nämlich die Beeinflussung und Steuerung der Rezipierenden durch die Produzierenden wie auch die Forderungen und Antworten der Rezipierenden auf das Erzählte der Produzierenden.28 Wegen der Einbindung von Ricœurs Konzeption, wegen des deutlich stärkeren Fokus auf die Rezipierenden und weil die Frage nach der ethischen Dimension des Schreibens gestellt wird, ist es gerechtfertigt, trotz der umfangreichen Forschungsliteratur (vgl. Kapitel 2.6.2) auf diesen Bereich einzugehen, auch wenn in knapperer Form als dies bei den anderen beiden Bereichen der Fall sein wird. Der zweite Bereich (b) hängt mit dem Schema des autobiographischen Erzählens zusammen. Anhand des Inhaltes, der Sprache und der Form wird dargelegt, welche Aspekte relevant sind und auf welche Hindernisse sie den Schreibenden stossen lassen, wenn von sich selber erzählt wird. Aus einer ethischen Perspektive ist das Schema sowohl für die Produzierenden als auch für die Rezipierenden zentral. Wenn die Produzierenden von sich selber erzählen und diese Erzählung in eine bestimmte Textsorte materialisiert wird, greifen sie auf das autobiographische Schema zurück (präfigurierendes Moment). Ausgehend vom Schema wird die Konfiguration in Gang gesetzt, indem Inhalt, Form und Sprache entsprechend gestaltet werden, ebenfalls mit dem Ziel, das Leiden zu artikulieren. Auf der Seite der Rezipierenden besteht das refigurierende Moment nicht nur darin zu untersuchen, wie die produzierende Seite die Rezipierenden bei ihrem Verstehensprozess beeinflusst, sondern auch, dass die Rezipierenden dem Gegenüber Raum lassen, gehört zu werden. Weiter können die Rezipierenden aufgezeigt bekommen, wie von sich erzählt werden kann und welche Konsequenzen daraus folgen (ethics of reading). Während die ethics of reading bei der Untersuchung der ethischen Dimension des Schemas eine Rolle spielt, trifft dies auf die ethics of told nur bedingt zu. Es geht im Gegensatz zu den Untersuchungen von Eakin oder Loureiro (vgl. den Forschungsüberblick in der Einleitung) nicht darum, einzelne erzählte Handlungen textimmanent, hier konkret von Chr. Lavant und von Th. Bernhard, zu analysieren und zu bewerten. Es interessiert nicht, ob aus einer deontologischen oder aus einer teleologischen Perspektive zum Beispiel 27 Vgl. zu den Differenzierungen des präfigurativen Moments die Ausführungen in Kapitel 2.5. 28 Vgl. zu den Differenzierungen des refigurierenden Moments die Ausführungen in Kapitel 2.5.
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das Verhalten von Th. Bernhard dem medizinischen Personal in den Sanatorien gegenüber gerechtfertigt werden kann oder nicht. Das Was der Handlung ist aus ethischer Perspektive relevant, aber nur dann, wenn die textexterne Perspektive mitberücksichtig wird, ein Schritt, der sich bei den autobiographischen Schriften aufgrund der Einheit zwischen Autor/Erzähler/Protagonist aufdrängt. So ist es zum Beispiel wichtig zu überprüfen, ob Th. Bernhards Leugnen im Kontext der Gründe für den Austritt aus dem Gymnasium gerechtfertigt werden kann. Aus diesem Grund wird das Was in die ethics of writing ausgelagert. Wenn aus einer textimmanenten Perspektive Handlungen analysiert werden, geht es, wie in Kapitel 5.2.1 ausgeführt wird, um die allgemeinere Perspektive, etwa um die Frage, wie es überhaupt dazu kommt, dass der Erzähler das erzählt, was er erzählt. Und wenn diese Frage gestellt wird, befinden wir uns gemäss Phelan im Bereich der ethics of telling. Doch auch bei dieser ethics of telling muss in der folgenden Analyse eine Einschränkung vorgenommen werden. Gemäss Phelan wird hier auch die Frage untersucht, inwiefern der Erzähler für das Erzählte verantwortlich ist. Und da in der autobiographischen Schrift eben die Einheit besteht und somit die Frage ausgeweitet werden kann, indem weg vom Erzähler hinaus auf den Autor respektive die Autorin fokussiert wird, wird dieser Aspekt von der ethics of telling ebenso in die ethics of writing ausgelagert. Übrig bleibt das Wie der ethics of telling der autobiographischen Schriften, also die Sprache und die Form. Wenn nun bei diesem Rückgriff auf den Inhalt, auf die Sprache und auf die Form fokussiert wird, zeigt sich das gestalterische Potential, welches das Schema zulässt, ein Potential, das gerade im Umgang mit dem Leiden ausgeschöpft werden soll, mit dem Ziel, das Unbedingte im Bedingten zu erweitern, also die Autonomie zu fördern. Vielleicht bestünde, um eine weitere These zu formulieren, die es noch zu untersuchen gilt, in dieser Fokussierung auf das Schema ebenfalls eine Möglichkeit, die von Thomä geforderte Selbstliebe umzusetzen, ein Weg, um das Verhältnis zwischen Erzählen und Leben zu lockern. Der dritte Bereich (c) stellt eine Vertiefung des autobiographischen Schemas dar, einen Bereich, der primär den Inhalt, aber teilweise auch die Sprache und die Form betrifft, nämlich die Ursachenforschung. Diese Art der Erforschung des autobiographischen Materials ist insofern ethisch relevant, als erst dann, wenn das präfigurierende Moment der Produzierenden geklärt ist, inwiefern diese Produzierenden in der Lage sind, aktiv Ursachenforschung zu betreiben, und warum überhaupt die Suche nach dem Ursprung aus einer erkenntnistheoretischen als auch aus einer ethischen Perspektive so wichtig ist, es ermöglicht, ihnen eine entsprechende Verantwortung (ethics of writing aber auch ethics of reading) für das Erzählte und darüber hinaus für ihre Denk- und Handlungs-
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weise zuzugestehen. Im Zusammenhang des Erzählten stellt sich die Frage, wie genau bei dieser Ursachenforschung vorgegangen wird und welche Rolle dabei die Sprache einnimmt (ethics of telling). Es wird sich bei Chr. Lavant und bei Th. Bernhard konkret zeigen, weshalb die Ursachenforschung für eine erfolgreiche Konfiguration von Leidenserfahrungen relevant ist, denn erst wenn die Ursache für den diskonkordanten Zustand angegeben werden kann, wird es möglich sein, den Zustand in den konkordanten zu überführen und so einen erfolgreichen Schritt zum Erkenne-dich-selbst zu machen. Das refigurierende Moment dieser Ursachenforschung zeigt sich wiederum in dem Verstehensangebot (gerade im Kontext von Leidenserfahrungen) der Produzierenden an die Adresse der Rezipierenden, aber auch in der Aufforderung, diese Ursachenforschung kritisch zu betreiben (ethics of reading). Bevor die drei Bereiche weiter ausgeführt werden, soll die Frage beantwortet werden, wie diese mit der normativen Ethik zusammenhängen. Der Zusammenhang ist zweigeteilt, mit entsprechend enger Verbindung. Auf der einen Seite stellen die drei Bereiche die Voraussetzung sowohl für die « moralischen Normen » als auch für den « ethischen Standard » dar, und zwar im Hinblick auf die Frage, wie Handlungen und Leben (wie auch immer es geartetes ist) auszurichten sind. Erst wenn sich eine Person gut in sich selber auskennt, sich über die Relevanz des Schreibens, über die Auswirkungen des autobiographischen Schemas und über die Reich- und Tragweite der Ursachenforschung bewusst ist und die Wechselwirkungen zwischen diesen drei Bereichen reflektiert hat, erst dann ist es möglich, sich dem autobiographischen Material nicht schutzlos auszuliefern, erst dann ist es möglich, an der Autonomie zu arbeiten. In diesem Reflexionsprozess spielt das Leiden deshalb die entscheidende Rolle, weil es das Leiden ist, dem wir im Leben so oft ausgesetzt sind, es ist das Leiden, das uns immer wieder zwingt, uns mit uns selber und allem, was dazu gehört, auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite bildet die normative Ethik die Grundlage dafür, wie das autobiographische Material in Bewegung gesetzt wird. Das bedeutet, wenn von sich selber erzählt wird, um zu begründen, weshalb bestimmte moralische Konflikte so und nicht anders gelöst wurden, spielt die mehr oder weniger reflektierte und zugrunde liegende Ethik für die Argumentationslinie eine wichtige Rolle. Wenn wir von uns erzählen, verfügen wir über einen gewissen Spielraum, sei es im Bereich des Schreibens, des autobiographischen Schemas oder der Ursachenforschung. Die Frage, wie wir diesen Freiraum gestalten und bewerten, hängt auch von der normativen Ethik ab, die die Produzierenden vertreten. So macht es einen Unterschied, wenn zum Beispiel Th. Bernhard die Überwindung der Widerstände ins
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Zentrum seiner fünfbändigen autobiographischen Schrift stellt und diesem Ziel, das er auch formal und sprachlich verfolgt, die Wahrheit unterordnet und somit die moralischen Grenzen aufweicht, etwa indem er die Rezipierenden über die wahren Gründe für seinen Austritt aus dem Gymnasium im Dunkeln lässt. Auf der Seite der Rezipierenden ist es entscheidend, von welcher normativen Ethik sie bei der Bewertung der Denk- und Handlungsweisen der Produzierenden ausgehen. Um diesen Aspekt des Zusammenhanges auf den Punkt zu bringen : Die normative Ethik stellt Begriffe und Argumente zur Verfügung, um zu reflektieren, wie vergangene Handlungen oder deren Ausrichtung von diesen auf das Morgen im Kontext des autobiographischen Materials zu begründen respektive zu gestalten und zu bewerten sind. Aus diesem Blickwinkel könnte dafür argumentiert werden, weshalb es einer weiteren Bereichsethik29 bedarf, nämlich einer Ethik des autobiographischen Erzählens. Dafür spricht zudem, dass ebenfalls hier, genauso wie in anderen Bereichen der Ethik, ein « komplexes Beziehungsgefüge zwischen theoretischen Reflexionen auf Grundbegriffe und -prinzipien der Moral auf der einen und praktischen Orientierungsfragen auf der anderen Seite »30 vorliegt. Und wie jede Bereichsethik einen spezifischen Analysegegenstand hat, die Tierethik das Verhältnis zwischen Mensch und Tier oder die Maschinenethik das Verhältnis Mensch und Maschine, hat auch die Ethik des autobiographischen Erzählens ihren besonderen Gegenstand, nämlich das Erzählte, hier in dieser Arbeit in Form der autobiographischen Schriften im engeren Sinne. Auch wenn der Fokus des autobiographischen Erzählens prima facie auf den Produzierenden liegt, die ethische Reflexion geht über diese individuelle Ausrichtung hinaus, nicht nur, wie es in Kapitel 2.4 ausgeführt wurde und im weiteren noch zu vertiefen gilt, weil die Rezipierenden eine entscheidende Rolle für das Erzählte spielen, sondern auch, worauf ebenfalls hingewiesen wurde (vgl. Kapitel 3 sowie 4.3), sozialphilosophische Überlegungen miteinbezogen werden müssen (wer, wo, was, wie und warum von sich selber erzählen darf ). Im Vergleich zu den anderen Bereichsethiken wie der erwähnten Tier- oder der Maschinenethik stehen in der Ethik des autobiographischen Erzählens nicht Handlungen, sondern eben Erzählungen im Zentrum. Weiter erzeugen die Produzierenden und die Rezipieren29 Der Begriff Bereichsethik ist hier als ein Synonym zur angewandten Ethik zu verstehen. Es wird deshalb nicht auf die Bezeichnung angewandte Ethik zurückgegriffen, da diese suggeriert, es ginge einfach darum, die normative Ethik auf praktische Bereiche des Lebens anzuwenden. Doch mit einem solchen Verständnis wird man der Komplexität dieser spezifischen Bereiche wie der Tierethik, der Medizinethik oder eben der Ethik des autobiographischen Erzählens nicht gerecht. 30 Düwell, Marcus : Angewandte oder Bereichsspezifische Ethik. Einleitung. In : Handbuch Ethik. Hrsg. von Marcus Düwell et al. 2011 ; 243.
Leiden, Erzählen, Schreiben und Ethik
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den wegen der Komplizenschaft und der Perspektivierung des Blickes (vgl. dazu Kapitel 2.5 respektive 3.1) eine grosse Nähe zum Analysierenden, und so üben die involvierten Personen einen deutlich unmittelbareren Einfluss bei dieser Art der ethischen Reflexion aus, als dies in den anderen Bereichsethiken der Fall ist. Zudem besteht eine weitere Besonderheit in der spezifischen Verflechtung zwischen dem Moralischen und dem Ethischen im Kontext von Leidenserfahrungen : Es kann im Leidenskontext angebracht sein, den « ethischen Standards » den Vorrang vor den « moralischen Normen » zu geben, wie das Beispiel der Gründe für den Austritt aus dem Gymnasium Th. Bernhards zeigt. Auch wenn noch weiter untersucht werden müsste, inwiefern eine solche neue Bereichsethik sinnvoll wäre, scheint es gute Gründe dafür zu geben. 5.1 Leiden, Erzählen, Schreiben und Ethik Bei der Frage, ob und inwiefern das Leiden mit dem Erzählen und dem Schreiben zusammenhängt, gilt es verschiedene Aspekte zu bedenken. In Kapitel 2.2 wurde, um diese Frage zu beantworten, die Vorarbeit geleistet. Auf der deskriptiven Ebene können zu allen drei Begriffen wesentliche Punkte festgehalten werden. Hinsichtlich des Leidens : Das Leiden lässt sich nicht vermeiden (Hampe), zweitens, wenn das Leiden länger andauert, zerstört es unsere normale Erwartung an die Welt (Morris), und drittens, das Leiden will interpretiert werden (Nietzsche). Hinsichtlich des Erzählens : Die Schwierigkeit, vom Leiden zu erzählen, besteht darin, dass, wenn die normalen Erwartungen an die Welt und somit das Verstehen wegbrechen, die Sprache respektive die Erzählung verstummt (Veena Das). Diese Schwierigkeit steht in einer Spannung zu unserer Veranlagung, denn, wie sich ebenfalls zeigte, stellt das Erzählen eine wesentliche Möglichkeit für uns Menschen dar, sich selber und die Welt zu erschliessen. Bei diesem Erschliessungsprozess ist das Dreieck Produzierende-das Erzählte-Rezipierende wesentlich. Die Produzierenden verarbeiten das ihnen zugestossene Material aus der Vergangenheit, greifen ihre Bedürfnisse in der Gegenwart auf und führen die Wünsche oder Sehnsüchte auf die Zukunft hin betreffend aus. Hindernisse bei der Artikulation des Leidens gibt es dabei auf mehreren Ebenen, wie ebenfalls ausgeführt wurde, vom Materialmangel bis hin zum fehlenden Wortschatz, um zwei wesentliche zu nennen. Die Rezipierenden greifen das Material auf, gehen der Frage nach « Wer bist Du ? » (Butler) und bieten für den Produzierenden eine Möglichkeit, die von ihnen geforderte Anerkennung zu erfüllen. Doch auch auf dieser Seite gibt es Schwierigkeiten, der Erzählung zu folgen, den Unwillen,
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überhaupt zuzuhören, ja, es ist vielleicht ganz unmöglich, aufgrund der Schwere oder Andersartigkeit des Leidens, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Hinsichtlich des Schreibens : Das Leiden kann in Form einer Erzählung transformiert und dieses wiederum mithilfe der schriftlichen Rede festgehalten werden. Ebenfalls denkbar wäre es, was im Alltag oft geschieht, die Leidenserfahrungen nur mündlich zu erzählen und sie so dem Gegenüber auszusetzen. Doch wenn die Leidensgeschichten verschriftlicht und gar veröffentlicht werden, stellen sich die Produzierenden damit einem grösseren Publikum aus ; die von ihnen erzählte Leidenserfahrung wird dann Gegenstand für eine breite Diskussion. Trotz der genannten Schwierigkeiten kann in einem – wenn auch begrenzten Sinne – das Leiden in schriftlicher Form erzählt werden. Doch aus einem Können folgt noch kein Sollen. Drei Gründe werden nun formuliert, die aufzeigen, weshalb es sinnvoll ist, von einem Können zu einem Sollen weiterzugehen (alle drei betreffen primär die ethics of writing und ethics of reading). Es sind diese drei Gründe, die es im Anschluss ermöglichen, den Aspekt der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens bei Chr. Lavant und Th. Bernhard in Kapitel 8 und 9 zu untersuchen. Freud mit seiner « Redekur » stellt wahrscheinlich das prominenteste Beispiel dar, um aufzuzeigen, wie es möglich ist, sich vom Leiden auch mithilfe der Erzählung zu befreien. Dank der Sprache (bei Freud ist es die mündliche) kann man sich seiner Vergangenheit bemächtigen. Freud war natürlich nicht der erste, der dieses Potential der Erzählung erkannte. Ein wichtiger Vorläufer ist, wie in Kapitel 2.6.1 ausgeführt, Sokrates (in Kapitel 4.2 wurden dazu Beispiele genannt). Zusätzlich weisen zahlreiche empirische Untersuchungen nach, dass das Schreiben gerade aufgrund der Leidenserfahrung eine « Befähigung zum eigenen Leben » (Muschg) darstellt.31 Um diese « Befähigung » (es könnte vom Finden der « eigenen Stimme » (Cavell) gesprochen werden) zu konkretisieren, soll der Zusammenhang noch etwas ausgeführt werden. Wenn Menschen sich und ihre Welt erschliessen, greifen sie auf die Erzählung zurück, es wird so möglich, dank des konfigurierenden Moments zwischen der Konkordanz und der Diskonkordanz auszuhandeln und so eine Stabilitätsnarration zu erreichen, unabhängig davon, ob es das ganze Leben (MacIntyre) oder einzelne (Leidens-)Erfahrungen betrifft. Diese Art von Erzählung ermöglicht es nicht nur, beeinflusst durch die Präfiguration, die Selbsterforschung voranzutreiben, entsprechende Ursachen oder Zusammenhänge zu benennen und sich so selber besser zu verstehen, sondern den Rezipierenden wird ein Verstehensangebot gemacht. Wenn nun die 31 Vgl. zu den empirischen Untersuchungen Kapitel 2.6.2.
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Erfahrungen in Form von Briefen, Tagebüchern bis hin zu umfangreicheren autobiographischen Schriften veröffentlicht werden, ist es für die Rezipierenden möglich, dank der literarischen Veröffentlichung Erkenntnis zu gewinnen und allenfalls sich in einem moralischen Sinne weiter zu verbessern. Dabei spielt die Frage, wie stark fiktionalisiert die Texte sind, nur bedingt eine Rolle, denn, wie Gabriel plausibel anhand des Begriffes des nicht-propositionalen Wissens aufzeigte (vgl. dazu Kapitel 2.4.2), ist es möglich, durch fiktionale Texte zu erkennen, und je näher ein Text an die Fakten rückt, desto einfacher ist es für die Rezipierenden, in das refigurierende Moment einzusteigen, aus einem Text Wissen zu gewinnen und entsprechende moralische Schlüsse daraus abzuleiten. Der zweite Grund hängt eng mit dem erstgenannten zusammen. Dank des Schreibens wird infolge der Selbsterforschung von der Gegenwart aus zurückgeblickt, doch es ist auch möglich in die entgegengesetzte Richtung zu schauen, nämlich auf die Folgen von Leidenserfahrungen, und so die Zukunft ins Zentrum zu stellen (als ähnlich wie die Idealbiographien, auf die in Kapitel 4.2 Bezug genommen wurde). Diese Folgen können dazu führen, dass Menschen ihr Leben anders gestalten (Aspekt des Strukturmerkmals und der zeitlichen Struktur nach Ricœur), sie vermeiden zum Beispiel nach traumatischen Erlebnissen das Meer, sie hören nach einer Krebstherapie mit dem Rauchen auf usw. Um diese Handlungsfähigkeit zu erlangen, braucht es das Erzählen, es ist die Erzählung, die das « Tun der Menschen » (Bruner) transparent machen. Dazu sind die Erzählungen für Überzeugungen, die in Handlungen münden können, relevant, welche durch Argumente gestützt werden. Und bei den Prämissen für die Argumente wird auf die Lebenserfahrung mehr oder weniger direkt verwiesen (Aspekt der zeitlichen Struktur), die sich durch Leidenserfahrungen speisen und in Form der schriftlichen Rede materialisiert werden. Der dritte Grund, weshalb es aus einer ethischen Perspektive relevant ist, das Leiden zu versprachlichen, hängt mit dem zusammen, was Bachmann sagt : So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muss ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird : Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äusserlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen,
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was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen : dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen.32
Gerade wenn es um Leidenserfahrungen geht, sind nicht nur die Schriftstellerinnen und Schriftsteller aufgefordert, sie niederzuschreiben, sondern auch Betroffene oder Journalistinnen und Journalisten, die entweder selber Augenzeuge wurden oder den Betroffenen helfen, die Leidenserfahrung in Sprache zu übersetzen. Es geht darum, das Schweigen zu überwinden, der Einsamkeit des Leidens entgegenzusteuern, aufzuzeigen, wie ins Sprachspiel der Artikulation eingestiegen werden kann, auch wenn diesem Bestreben kaum zu überbrückende Schwierigkeiten entgegenstehen. Das refigurierende Moment besteht in der Fokussierung auf das Konkrete, auf einen einzelnen Menschen, und indem auf bestimmte Leidenserfahrungen die Aufmerksamkeit gerichtet wird, werden entsprechende Reaktionen ausgelöst. Ob daraus gerade eine Mitleidsethik wie jene von Schopenhauer formuliert werden soll, ist eine Option. Sicher ist, die verschriftlichte Erzählung des Leidens schafft eine Grundlage, über die man diskutieren kann, auf die die Rezipierenden antworten können, die als Ausgangslage für weitere Überzeugungen und Handlungen dient. Wie schwierig die Auseinandersetzung mit solchen Erzählungen ist, zeigt sich gerade in der Diskussion in grösseren Gruppen bis hinein in politische Gremien. Denn Erzählungen stehen nicht für sich alleine, sie bieten verschiedene Lesarten an, was daraus geschlossen werden kann. Auf den Punkt gebracht : Erzählungen, auch diejenigen von Leidenserfahrungen, müssen interpretiert werden. Und als Grundlage dazu dient der schriftliche Text. 5.2 Schema des autobiographischen Erzählens und Ethik In den autobiographischen Erzählungen wird auf das entsprechende Schema autobiographisches Erzählen (also primär auf das präfigurierende Moment) zurückgegriffen. Was den Inhalt angeht, ist die erzählende Person mit einem Strom von Material, von Ereignissen und von Handlungen konfrontiert, einem Strom, der zur Einschränkung zwingt. Die Auswahl wird nicht zufällig getroffen, sondern sie folgt bestimmten Mechanismen (vgl. Ausführungen zu Gergen und Gergen sowie zu Koschorke in Kapitel 3.3). Auf der sprachlichen Ebene sind die Produ32 Bachmann, Ingeborg : Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften. 2011 ; 75.
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zierenden auf das zur Verfügung stehende Lexikon angewiesen und bilden nach bestimmten Regeln entsprechende Sätze, mit der Idee, dass das Gesagte mehr oder weniger identisch werde mit dem, was sie zu sagen beabsichtigten. Mithilfe von Kohäsionsmitteln werden die Sätze auf der formalen Ebene so arrangiert, um eine einigermassen kohärente Erzählung zu sichern. Die drei Ebenen werden im Folgenden noch präzisiert, die Schwierigkeiten mit Blick auf das Erkenne-dich-selbst und das Leiden dargelegt und ihre Verschränkung ausgeführt. 5.2.1 Vertiefung des Inhalts
Auf der inhaltlichen Ebene besteht die Gefahr darin, dass die Verflechtung zwischen Produzierenden und Erzähltem unterschätzt wird. Davon zeugen die Vereinfachungen, die Abkürzungen, der zu wenig gewichtete Aspekt der Kontingenz oder der Vereinheitlichung dessen, was überhaupt thematisiert wird. Denn, wie (auch) Th. Bernhard in einem Gespräch mit Hofmann sagt, ist es nicht möglich, alles von sich zu erzählen : Man kann ja nicht alles aufzählen ; ein Leben kann man ja nicht einfach so ausbreiten. Wenn sie Ihr Leben ausbreiten, dann können sie’s ausbeutln wie ein völlig verschmutzter Teppich, dann würden Sie sich auch bedanken, wenn ich Ihnen den ins Gesicht beutl. Und so ungefähr wäre es, wenn jemand sein Leben, gleich welches, vor Ihnen ausbeutelt. Dann würden Sie einen Hustenanfall kriegen und schon nach einer kurzen Zeit davonrennen.33
Phänomene der Irrationalität wie etwa der Selbsttäuschung34 oder die Willensschwäche können eine angemessene Erzählung verunmöglichen, auch deshalb, weil die notwendige Distanz in der Selbstbeschreibung fehlt ; der Erzähler steht ja gleichzeitig in und über der Erzählung. Ebenfalls müsste man das Ende der Geschichte abwarten, um die Bedeutung des Materials einschätzen zu können, geschweige denn, in der Lage zu sein, überhaupt sich daran erinnern zu können.35 Hinzu kommen die oftmals unreflektierten Standardgeschichten, auf die 33 Hofmann, Kurt : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Mit Photographien von Sepp Dreissinger und Emil Fabjan und einer Vorbemerkung des Verlags. 1988 ; 11. 34 Auf die Gefahr der Selbsttäuschung weist auch Ricœur hin, vgl. dazu Kapitel 2.5. 35 In ihrer Studie unterscheiden Elinor Ochs und Lisa Capps vier verschiedene Mechanismen, die greifen können, um die Vergangenheit unsichtbar zu machen. Einen solchen Mechanismus nennen sie tellability, womit sie zum Ausdruck bringen, dass die Produzierenden nicht in der Lage sind, auf die Vergangenheit total zurückzugreifen, weil sie vergessen oder weil sie traumatische
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die Produzierenden (und auch die Rezipierenden) zurückgreifen, Geschichten, die über eine anscheinend erklärende Kraft verfügen, die anders geartet sein kann als die intendierte, mit dem (eventuellen) Ergebnis, dass das Erzählen die Erinnerungen verfälscht. Es handelt sich dabei um erworbene Sprachspiele, gängige formelhafte Redewendungen. Weiter scheint an dieser Stelle ein Blick in die Geschichte des autobiographischen Erzählens notwendig zu sein, um den Umgang der erwähnten Verflechtung zwischen Erzähler und Erzähltem zu differenzieren. Es existieren, so Alois Hahn, « in verschiedenen Gesellschaften […] sehr unterschiedliche Biographiegeneratoren »36, die davon zeugen, wie unterschiedlich im Verlaufe der Zeit mit menschlicher Erfahrung umgegangen wurde. So etwa ist es keineswegs selbstverständlich, auch von den inneren Erlebnissen zu schreiben, wie dies ausgeprägt bei Chr. Lavant der Fall ist, oder metatextuelle Passagen einzufügen, wie es sich in der fünfbändigen autobiographischen Schrift von Th. Bernhard nachweisen lässt. Diese Biographiegeneratoren hängen nicht nur mit dem erwähnten Subjektbegriff und folglich mit der veränderten Rahmengeschichte, sondern auch mit der Perspektive zusammen, welcher Instanz das von sich selber erzählende Subjekt eine lebensbestimmende Rolle zuweist (Religion, familiäre und gesellschaftliche Determinanten, Selbstermächtigung etc.). Und je nachdem, welcher Instanz der Vorrang gegeben wird, resultieren unterschiedliche Erinnerungsstrukturen (vgl. Kapitel 3.1), welche dazu führen, dass das autobiographische Material entsprechend organisiert wird, weswegen verschiedene Erzählungen des Leidens und der Umgang damit geniert werden. Es entstehen folglich unterschiedliche Biographien. Unabhängig davon, wie diese Biographien erzeugt werden, die Art der Erzählung bekräftigt die Notwendigkeit einer reflexiven, ethischen Auseinandersetzung sowie das Angewiesensein auf die Artikulation. Die Abhängigkeit des Einzelnen von der Rahmengeschichte ist ebenso der Grund dafür, weshalb Sartre in seiner grossen Flaubert-Studie nicht von einem Individuum, sondern von einem « einzelnen Allgemeine[n] » spricht, da der Mensch « von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden ist, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wiederhervorbringt »37. Zu dieser Zeitdimension auf der Makroebene Erfahrungen gemacht haben (Ochs, Elinor und Capps, Lisa : Living Narrative. Creating Lives in Everyday Storytelling. 2010 ; 253–259). 36 Hahn, Alois : Identität und Selbstthematisierung. In : Selbstthematisierung und Selbstzeugnis : Bekenntnis und Geständnis. Hrsg. von Alois Hahn und Volker Kapp. 1987 ; 16. Bei der Entwicklung solcher Biographiegeneratoren stellt die Beichte in Europa einen zentralen Akt dar, wie über sich reflektiert werden kann respektive muss (ebd.; 18–22 ; vgl. dazu ebenfalls das Kapitel 4.2). 37 Sartre, Jean-Paul : Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857. 1977 ; 7.
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kommt noch eine weitere Dimension dazu, nämlich der Zeitpunkt, wann auf die Handlung zurückgeblickt wird. Bei der Beschreibung und vor allem bei der Bewertung einer Handlung spielt es eine grosse Rolle, ob diese unmittelbar (in actu) oder Monate oder gar Jahre später erzählt und beurteilt wird (post hoc), denn je nachdem ist es gut möglich, im Verlaufe der Zeit neue Gründe zu finden, warum eine bestimmte Handlung vollzogen wurde, Gründe, die vielleicht der Person einst nicht bewusst waren. Über eine solche Erfahrung schreibt Antonio Gramsci in einem Brief vom 27. Februar 1928 seiner Ehefrau aus dem Gefängnis : Liebste Giulia, ich habe Deinen Brief vom 26. XII. 1927 mit der Notiz vom 24. Januar und dem beigefügten Kärtchen erhalten. Über Deine Briefe war ich wirklich glücklich. Aber ich war schon seit einiger Zeit ruhiger geworden. Ich habe mich in dieser Zeit sehr verändert. Ich glaube an manchen Tagen, apathisch und träge geworden zu sein, aber heute denke ich, dass ich mich in meiner Selbstanalyse geirrt habe […].38 5.2.2 Vertiefung der Sprache
In Kapitel 2.3.3 wurde bereits einiges zum Zusammenhang zwischen Sprache und Leiden ausgeführt. Auf diese Ausführungen wird nun zurückgegriffen und das Schema des autobiographischen Erzählens aus dieser Perspektive entsprechend reflektiert. Um von sich selber zu erzählen, sind wir idealtypisch auf die verbale Sprache angewiesen. Mithilfe der Sprache ist es möglich, sich selber zum Ausdruck zu bringen, im Medium der Sprache kann reflektiert, interpretiert und gefragt werden. Wenn wir nun von uns erzählen, sind wir auf Wörter angewiesen, die vor uns liegen, wir greifen auf ein bestehendes Lexikon zurück. Bei der Wahl des Lexikons können wir nicht frei wählen, wir sind, wie es Wittgenstein formuliert, im Netz der Sprache gefangen. Mit jedem gewählten Wort eröffnen wir eine Vielzahl von Perspektiven oder wie es der Maler Strauch in Th. Bernhards erstem Roman Frost ausdrückt : « Ein Wort taucht auf, das Stadtbezirke aufreisst. »39 Diese Stadtbezirke können nur zum Teil bewusst aufgerissen werden (da wir eben in der Sprache verstrickt sind), und es liegt nur bedingt in meiner Kontrolle, was das Gesagte beim Gegenüber auslöst. Es ist neben der Philosophie vor 38 Gramsci, Antonio : Briefe aus dem Kerker. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Roth. 1972 ; 27. 39 Bernhard, Thomas : Frost. 2014 ; 45.
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allem die Linguistik, die entsprechende Kriterien bereitstellt, um die Sprache zu analysieren, was es heisst, im « Netz der Sprache » gefangen zu sein, inwiefern « Stadtbezirke » aufgerissen werden können. So gilt es, morphologische, semantische, syntaktische und pragmatische Aspekte zu unterscheiden. Im Konkreten bedeutet die Wahlmöglichkeit auf der Wortebene zum Beispiel den Abstraktionsgrad, die Bildlichkeit in Kombination mit der Zeit- respektive Raumdimension oder die pejorativen und meliorativen Veränderungen zu reflektieren. Dieselbe Aufmerksamkeit gilt es auch auf die Variation des Satzbaus sowie auf die Satzstruktur anzuwenden. Und je nachdem, wie die Wort- und Satzebene gestaltet wird, resultieren unterschiedliche Stilebenen. Die erwähnte Wachsamkeit hilft den Produzierenden nicht nur mit der sprachlichen Vielfalt zu variieren und somit innerhalb der festgelegten Sprachstruktur die Gestaltungsfreiheit zu nutzen, sondern, was gerade mit Blick auf die Rezipierenden entscheidend ist, eine entsprechende Wirkung zu erzeugen. Wie gross die Hindernisse sind, wenn auf die Sprache zurückgegriffen wird, darauf wurde in Kapitel 2.3.3 aufmerksam gemacht, u. a. mit dem Verweis auf Hugo von Hofmannsthal, auf den nun etwas ausführlicher eingegangen werden soll. In seinem Chandos-Brief von 1902, einer Art Gründungsdokument der modernen Sprachskepsis, den er an den längst verstorbenen Empiriker Francis Bacon adressierte, legt er dar, weswegen er nicht mehr schreiben könne und wolle : « Mein Fall ist, in Kürze, dieser : Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. »40 Am Ende des Briefes zeigt Chandos auf, wie die neue Sprache beschaffen sein muss, eine Sprache der Epiphanie, die nicht mehr als Medium, sondern direkt den Kontakt zu den Dingen herstellt, eine Sprache, « in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde »41.42 Im Gegensatz zu Nietzsche, der (gemäss Müller) dem metaphysischen Sprachzweifel zugerechnet werden kann (vgl. Kapitel 2.3.3), kritisiert Chandos nicht das Wesen der Sprache an sich, sondern nur seine Fähigkeit, die Dinge in der fragmentierten Welt erfassen zu können (semantischer Sprachzweifel). Doch die 40 Von Hofmannsthal, Hugo : Ein Brief. In : Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Gesammelte Werke. 1979 ; 465. 41 Ebd.; 472. 42 An dieser Stelle könnten auch verschiedene Gedichte von Rilke analysiert werden, in denen das lyrische Ich sich über die begrenzte Kraft der Alltagssprache Gedanken macht, so etwa in dem Gedicht Die armen Worte, die im Alltag darben oder Ich fürcht mich so vor der Menschen Wort, beide aus dem Jahre 1897 (vgl. dazu : Rilke, Rainer Maria : Sämtliche Werke. Band 1. Hrsg. vom Rilke Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. 1955 ; 148 f resp. 194 f ).
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beschriebene Rolle der Sprache ist nur die eine Seite. Neben der Determination des Sprechens, Denkens und Handelns dient die Sprache bei entsprechender Beherrschung auch, wie Hampe festhält, als ein « Mittel der Erkenntnis, Distanzierung und dann auch [als] ein Instrument zur möglichen Befreiung von den erkannten Determinanten »43 ; und folglich erstaunt es nicht, wenn in dieser Untersuchung zur ethischen Dimension des autobiographischen Schreibens so stark auf die Sprache fokussiert wird. Diese Verknüpfung zwischen Sprache und Welt soll im Folgenden noch weiter vertieft werden : Hampe geht wie vor ihm schon Johann Gottfried Herder, Alexander von Humboldt oder, in seiner zugespitzten Form, Benjamin Lee Whorf von der Annahme aus, die Verbindung zwischen Wahrnehmen, Denken und Sprache müsse als eine enge beschrieben werden, die Sprache sei nicht nur ein neutrales Medium, welches die Dinge draussen in der Welt beschreibe, wie das bei der ideationalen Theorie von John Locke etwa der Fall sei.44 Zentral sind nun die Antworten Hampes auf die Frage, welche Möglichkeiten sich dem Menschen bieten, sich von einer angepassten zu einer « fortsetzbaren Lebensform » zu entwickeln, das heisst also, wie es möglich ist, von den sozialen Bedingtheiten hin zu neuen Sprech- und somit zu neuen Lebensformen zu kommen, gerade mit Blick auf die Erweiterung des autobiographischen Schemas. Um diese Frage zu beantworten, unterscheidet Hampe drei verschiedene Arten des dissidenten Sprechens. Die erste ist philosophisch wenig interessant. Es geht dabei um eine Möglichkeit des Widerstreits, die derart beschaffen ist, dass Personen aus der gleichen Sprachgemeinschaft sich zwar auf dieselben Begrifflichkeiten beziehen, jedoch Verschiedenes über diese Tatsachen behaupten. Hingegen sind die zweite und dritte Form für die Philosophie wichtig. Wenn nun Philosophinnen und Philosophen vorschlagen, es sei notwendig zu differenzieren zwischen Rechten, die den Menschen qua ihrer Staatszugehörigkeit und den Menschenrechten, die sie haben, weil sie ein Mensch sind, zukommen, wird eine neue Unterscheidungsgewohnheit etabliert. Diese neuen Unterscheidungsgewohnheiten dienen dann wiederum als Prämissen für neue Argumente. Die dritte Möglichkeit des Dissens hängt mit der zweiten zusammen, doch geht sie darüber hinaus. Sie bezieht sich stark auf das Bestreben von Hampes Werk Die Lehren der Philosophie, 43 Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 138. 44 Zwar räumt Hampe weiter ein, auch wenn der Prozess der Distanzierung von Determinanten schwierig zu beschreiben sei, hänge er sicher mit der Sprache zusammen. Auf Hampes sprachphilosophische Annahmen der folgenden Überlegungen, die auf der sogenannten gewöhnlichen Sprache basieren, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden (vgl. dazu ebd.; 156–180).
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nämlich sich von der « Kultur » des Behauptens zu emanzipieren und hin zu einer « narrativen Kultur » zu bewegen, wie es in Kapitel 3.4 ausgeführt wurde. Bei dieser dritten Möglichkeit geht es darum, neue Begrifflichkeiten vorzuschlagen, eine Tätigkeit, die « ein erheblich höheres Mass an Kreativität als abweichendes Behaupten in derselben Begrifflichkeit »45 verlangt. Mit dem Wort « Begriff » muss man sich gemäss Hampe « Unterscheidungsgewohnheiten » vorstellen, « über die man reflektieren und die man variieren kann »46. Diese Fähigkeit, Begriffe von anderen zu unterscheiden, darf nicht unterschätzt werden, denn sie haben das Potential, Lebensformen zu verändern. Menschen können, genauso wie sie das Rauchen aufgeben und mit Joggen anfangen, neue Begriffe einführen, die weitreichende Konsequenzen haben. So haben die Menschen den Begriff der « Hexe » aufgegeben und jenen der « Menschenrechte » in den Alltagswortschatz aufgenommen. Auch wenn Hampe darauf hinweist, dass es noch andere Aspekte zu berücksichtigen gelte als die beiden Wörter « Hexe » und « Menschenrechte » und die damit verbundenen Lebensformen, die dazu geführt hätten, Menschen weniger diskriminierend zu behandeln, hänge doch diese Entwicklung hin zu einem respektvolleren Umgang eben auch mit den Begriffen zusammen. Die entscheidende Frage ist nun, wie es für Menschen möglich wird, auf die « etablierten » Sprachgemeinschaften zu reagieren. Solange die Menschen voneinander getrennt leben, komme es etwa in Bezug auf die Fragen der Abtreibung, der sexuellen Orientierung, was « heilig » sei usw. zu keinem Konflikt. Ein Streit entfache sich erst dann, wenn sie aufeinanderträfen (Kollision zwischen Präfiguration und Refiguration). Die Lösung, für die sich Hampe stark macht, besteht nicht in einer Vereinheitlichung des Denkens, indem die Begriffe klar und für immer festgelegt werden, wie dies zu grossen Teilen in der Philosophie das Bestreben sei, was zu einer « Homogenisierung der menschlichen Lebensformen »47 führen würde. Das menschliche Leben bestehe nicht aus einer Argumentationskette, es sei keine Theorie. Wenn es nicht möglich sei, eine Vereinheitlichung oder eine Grenzziehung zu erreichen, dann bestehe im Sinne der Dialektik die Möglichkeit, einen dritten Begriff einzuführen, einen Begriff, den beide involvierten Personen mit ihren Lebensformen akzeptieren können. Menschen können sich die Sexualität, den Tod oder die Abtreibung vorstellen und sich somit auch diesen Begriffen gegenüber entsprechend verhalten. Dass bei dieser Art von Reflexion und den daraus entstehenden Handlungen Differenzen entstehen können, ist 45 Ebd.; 141. 46 Ebd. 47 Ebd.; 147.
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leicht vorstellbar, wie sich ebenfalls in unserem Alltag zeigt. Es gelte, diese Vielfalt von Lebensformen zu akzeptieren zu lernen. Es gibt keinen anderen Weg als diese Art von Akzeptanz, denn solange « es differierende Lebenserfahrungen gibt, müssen sich Menschen auch gegenseitig widersprechen »48. Es sind gerade diese verschiedenen Lebenserfahrungen, die wahrgenommen, reflektiert und artikuliert werden müssen, um in die Lage zu kommen, mit einer eigenen Stimme zu sprechen. Es wäre an dieser Stelle interessant, genauer zu untersuchen, was Hampe unter dem Begriff « Lebensform » versteht.49 Auch müsste genauer nachgefragt werden, wo zum einen die Grenzen der Vielfalt bestehen (Hampe wehrt sich gegen den Vorwurf des Relativismus ; er setzt sich für einen semantischen Realismus ein) und wie es zum anderen (trotz der gewünschten und auch rechtlich gesicherten Meinungsäusserungsfreiheit) dazu kommt, dass sich Meinungen durchsetzen können, bestimmte Menschen gehört, andere überhört oder gar nicht wahrgenommen werden. Beide zuletzt genannten Aspekte vertieft Hampe nicht. Obwohl die beiden Aspekte, die viel mit Machtstrukturen zu tun haben, wichtig sind, werden sie nicht weiter untersucht. Hingegen zeigen die Ausführungen von Hampe im Konkreten auf, wie es möglich ist, mithilfe der Sprache das autobiographische Schema zu erweitern und sich womöglich neue Lebensformen anzueignen, die wiederum versprachlicht werden können : Die Sprache ist der Ort, um unsere Autonomie zu erweitern, trotz den erwähnten Widrigkeiten die von Hofmannsthal thematisierte. Die Sprache ist der zentrale Weg, um das Verhältnis, wenn von sich erzählt wird, zwischen Produzierenden-Erzähltem-Rezipierenden neu auszurichten, und deshalb ist sie auch ethisch relevant. 5.2.3 Vertiefung der Form
Neben der inhaltlichen und der sprachlichen gibt es auch auf der formalen Ebene Herausforderungen an das Erzählen über sich selber, die die Ethik interessiert. Worin diese Herausforderungen bestehen, kann mithilfe eines Zitates von Freud umrissen werden : Ich beginne dann zwar die Behandlung mit der Aufforderung, mir die ganze Lebensund Krankheitsgeschichte zu erzählen, aber was ich darauf zu hören bekomme, ist 48 Ebd.; 153. 49 Den Begriff der Lebensform reflektiert Petra Gehring in ihrer Stellungnahme zum Werk Die Lehren der Philosophie kritisch (Gehring, Petra : Mehr Mikropolitik, weniger Leben. In : Hampe, Michael : Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 2016 ; 402-–409).
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zur Orientierung noch immer nicht genügend. Diese erste Erzählung ist einem nicht schiffbaren Strom vergleichbar, dessen Bett bald durch Felsmassen verlegt, bald durch Sandbänke zerteilt und untief gemacht wird. Ich kann mich nur verwundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten Hysterischer bei den Autoren entstanden sind. In Wirklichkeit sind die Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben. Sie können zwar über diese oder jene Lebenszeit den Arzt ausreichend und zusammenhängend informieren, dann folgt aber eine Periode, in der ihre Auskünfte seicht werden, Lücken und Rätsel lassen, und ein andermal steht man wieder vor ganz dunklen, durch keine brauchbare Mitteilung erhellten Zeiten. Die Zusammenhänge, auch die scheinbaren, sind meist zerrissen, die Aufeinanderfolge verschiedener Begebenheiten unsicher ; während der Erzählung selbst korrigiert die Kranke wiederholt eine Angabe, ein Datum, um dann nach längerem Schwanken etwa wieder auf die erste Aussage zurückzugreifen. Die Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte, soweit sie mit der Krankengeschichte zusammenfällt, ist nicht nur charakteristisch für die Neurose, sie entbehrt auch nicht einer grossen theoretischen Bedeutsamkeit.50
Obwohl Freud von pathologischen Fällen berichtet, so kann diese Feststellung ebenfalls auf nicht-pathologische Kontexte hinsichtlich der Kohärenzforderung auf der Seite der Rezipierenden angeführt werden. Es ist die Kohärenz in einem Text, die erst ein Verstehen ermöglicht (ethics of telling). Bei der Kohärenz gilt es, zwischen einer inhaltlich-logischen und einer sprachlichen Kohärenz zu unterschieden, zwei Elementen, die in enger Verbindung stehen. Ist die inhaltlich-logische Kohärenz gewährleistet, erscheint der bekannte « rote Faden », eine Behauptung wird mit Argumenten belegt und eine Schlussfolgerung allenfalls ausgeführt.51 Um einen Text inhaltlich-logisch zu formulieren, braucht es Kohäsionsmittel wie die Konjunktionen und, weil, wie Pronominaladverbien darum, zudem, wie Pronomen bei Ersetzungen des Subjektes oder bei der Substitution die Hyperonyme. Werden die Sätze mithilfe solcher Mittel verknüpft, so ist die sprachliche Kohärenz gegeben und ein Verstehen wird ermöglicht. Wenn nun von einer fehlenden Kohärenz gesprochen wird, können drei Probleme gemeint sein. Entweder fehlt die inhaltlich-logische Verknüpfung, die sprachliche oder beides. Diese Kohärenzforderung kann nun, um beim Blick auf die Rezipieren50 Freud, Sigmund : Bruchstück einer Hysterie-Analyse. In : Hysterie und Angst. Hrsg. von Alexander Mitscherlich et al. 1982 ; 95 f. 51 Wie eine solche Kohärenz beschaffen ist, zeigen die Ausführungen zu Gergen & Gergen, zu Koschorke und zu Nünning (vgl. dazu Kapitel 3.3).
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den zu bleiben, mit der narrativen Struktur gemäss Ricœurs Konfiguration weiter ausgeführt werden. Dieses Ordnungsprinzip ist zuständig, das Heterogene zu synthetisieren, auf die Gefahr hin zu vereinfachen, weil die Rezipierenden nicht hinsehen oder zuhören wollen, was in Freuds therapeutischem Setting kaum, aber mit Blick darüber hinaus häufig zutreffen kann (ethics of reading). Bei den Produzierenden sind mehrere Fälle denkbar, weshalb sie diese Kohärenzforderung nicht einlösen. Vielleicht mangelt es an der Fähigkeit oder am Willen zur Reflexion, was wiederum mit fehlendem Wissen respektive mit dem Problem der Selbsterforschung in Beziehung steht. Aber es sind vor allem auch leidensvolle Erfahrungen, die gemacht wurden, die es teilweise verunmöglichen, entsprechende Erzählformen einzuhalten, um den Sinnzusammenhang zu gewährleisten, nicht nur für sich selber, sondern eben auch, um die Erwartungen von aussen zu erfüllen.52 In beiden Quellen der fehlenden Kohärenz gilt es, genau zu analysieren, was es heisst, sich in « einem nicht schiffbaren Strom » aufzuhalten, und was genau mit dem Strom gemeint ist, in dem sich « Felsmassen » und « Sandbänke » befinden. Auf der Seite der Produzierenden ist es sinnvoll, sich auf den Weg der Selbsterforschung zu begeben, um, sofern möglich, die Gründe für die fehlende Kohärenz auszuarbeiten ; auf der Seite der Rezipierenden können diese « Stolpersteine » dazu dienen, dass ein vermeintlich klar vorliegender Sachverhalt so sehr irritiert wird, bis ein einfaches Antworten nicht mehr möglich ist. Ebenfalls zur Form gehört die Frage, in welcher Textsorte autobiographisches Material festgehalten wird. Wie bereits in Kapitel 4.1 ausgeführt wurde, wird gewöhnlich von epischen Texten ausgegangen. Doch kann auch die lyrische Form das Erlebte zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel in der deutschsprachigen Literatur sind die Kindertotenlieder aus dem 19. Jahrhundert von Carl Philipp Conz oder einzelne Gedichte von Joseph Freiherr von Eichendorff.53 Ausserhalb des deutschsprachigen Raumes stellt das überlange Gedicht The Prelude von William Wordsworth eine beeindruckende Möglichkeit dar, über sich zu erzählen.54 Wie in Kapitel 6.1 ausgeführt wird, spielen sicher die verdichtete Sprache, der be52 Auf diesen Zusammenhang zwischen autobiographischem Material und der Frage nach der formalen Strukturierung desselben weisen auch Elinor Ochs und Lisa Capps in ihrer Studie hin (Ochs, Elinor und Capps, Lisa : Living Narrative. Creating Lives in Everyday Storytelling. 2010 ; 278–283). 53 Aurnhammer, Achim und Fitzon, Thorsten : Lyrische Trauernarrative. Aktualisierter und distanzierter Kindsverlust in Gedichtzyklen des 19. Jahrhunderts. 2015 ; 223–236. 54 William Wordsworth hat im Jahre 1798 mit diesem Gedicht begonnen. Es wurde mit dem Titel The Prelude erst in seinem Todesjahr 1850 veröffentlicht und umfasst 8000 Verse (Wordsworth, William : The Prelude. 1799, 1805, 1850. Hrsg. von Jonathan Wordsworth et al. 1979).
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grenzte Raum und die erweiterten Möglichkeiten eines expressiven Ausdruckes eine Rolle, weshalb auf diese Gattung zurückgegriffen wird. Wie nun die Ausführungen zum autobiographischen Schema darlegen, spielen die inhaltliche, die sprachliche und die formale Ebene für die ethische Dimension des autobiographischen Erzählens eine wesentliche Rolle. Es dürfte nun klar geworden sein, dass das Aufgreifen und Artikulieren von autobiographischem Material auf allen Ebenen gestaltet werden kann, je nach Intention, die bei den Rezipierenden eine entsprechende Wirkung entfaltet. Und noch eine Bemerkung soll zum Abschluss des Kapitels 5.2 formuliert werden : Auch wenn diese drei Ebenen gesondert analysiert wurden, wird sich in Kapitel 8 und 9 zeigen, wie eng sie zusammenhängen. 5.3 Ursachenforschung und Ethik Bei der Selbsterforschung nimmt die Suche nach den Ursachen eine wichtige Stellung ein. Diese Ursachenforschung kann an sich problematisiert werden : Das Erkenne-dich-selbst impliziert ebenso, dass Gründe für Handlungen und Denkweisen angegeben werden. Erst wenn sie begründet sind, werden diese menschlichen Regungen für die Produzierenden wie auch für die Rezipierenden verständlich. Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, wenn Konrad, der Protagonist im Roman Das Kalkwerk von Th. Bernhard, sagt : « Man suche hinter chaotischen oder wenigstens hinter merkwürdigen, jedenfalls hinter aussergewöhnlichen Zuständen naturgemäss immer gleich nach der Ursache […]. »55 Erst wenn diese Ursache gefunden ist, wird es möglich, die chaotischen oder die aussergewöhnlichen Zustände zu verstehen und allenfalls zu bewerten. Aber das Verstehen betrifft nicht nur das Verstehen der eigenen Situation, sondern auch, dass es für die Rezipierenden möglich ist, beim Gegenüber nachzuvollziehen, was sich genau ereignet hat, erst so ist das Verstehen « ein Wiederfinden des Ich im Du »56. Und die Ursachenforschung ist auch deshalb vonnöten, weil sie 55 Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk. Hrsg. von Renate Langer. 2004 ; 147. Oder, um ein weiteres Beispiel der Sehnsucht der Menschen nach der Ursachenforschung aufzugreifen, kann die Figur des Schriftstellers zitiert werden, der gegenüber der Generalin im Drama Die Jagdgesellschaft festhält : « Was ist dieser Gedanke / fragen wir uns / von welchem wir ausgegangen sind / Nach der Ursache frage wir / Ist es das / fragen wir » (Bernhard, Thomas : Jagdgesellschaft. In : Thomas Bernhard. Stücke 1. 2015 ; 220). 56 Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 1927 ; 191.
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ermöglicht, gerade mit Blick auf das autobiographische Schema, zu begründen, weshalb das einzuschränkende Material so und so eingeschränkt wird, nämlich wegen der Erforschung von bestimmten Ursprüngen, etwa dem Leiden. Doch bei dieser Art von Ursachenforschung handelt es sich um ein anspruchsvolles Geschäft, da die Produzierenden auf die Introspektion angewiesen sind – und es ist der Grund, weshalb Kant wegen der fehlenden « Dauerhaftigkeit » von dieser Art der Erforschung abrät.57 Ebenfalls Sartre, in diesem Kontext als Rezipient, ist sich in seinem Vorwort zu der erwähnten Flaubert-Studie der Schwierigkeit bewusst : Nun gilt es zu beginnen. Aber wie ? Und wo ? Das ist nebensächlich : in einen Toten tritt man ein wie in eine offene Stadt. Entscheidend ist, dass man von einem Problem ausgeht. Von dem Problem, das ich gewählt habe, spricht man im allgemeinen wenig. Aber lesen wir einmal folgende Passage eines Briefes an Fräulein Leroyer de Chantepie : « Nur durch Arbeit gelingt es mir, meine angeborene Melancholie zum Schweigen zu bringen. Aber der alte Kern scheint immer wieder durch, der alte Kern, den niemand kennt, die tiefe, immer verborgene Wunde. » Was heisst das ? Kann eine Wunde angeboren sein ? Auf jeden Fall verweist uns Flaubert auf seine Vorgeschichte. Man muss also herauszufinden versuchen, was der Ursprung dieser « immer verborgenen » Wunde ist, die zwangsläufig auf seine früheste Kindheit zurückgeht. Das ist, glaube ich, kein schlechter Ausgangspunkt.58
Zwar hat Sartre den Startpunkt seiner Analyse angegeben, nämlich er will die Vorgeschichte analysieren, doch wie ist es möglich, an diese Vorgeschichte heranzukommen ? Ebenfalls schreibt Klaus Mann gleich zu Beginn seiner Autobiographie 1932 : « Womit beginnen ? Am Anfang ist Dunkelheit. Aus der Dunkelheit wächst die Legende. Wir bewahren unsere ersten Erinnerungen, so wie die Menschheit sich die früheren Abenteuer merkt : als Mythos … »59 Kurz darauf reflektiert Mann die Schwierigkeiten, die mit den Erinnerungen und somit der Quelle der Ursachenforschungen zusammenhängen : « Das Schwierigste am Aufrichtig-sich-erinnern-Wollen ist, dass einem immer das Erzählte dazwischenkommt … Bei aller Anstrengung vermag ich mir nicht klar zu werden, ob
57 Vgl. zu dieser Kritik Kants das Kapitel 2.4.1. 58 Sartre, Jean-Paul : Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857. 1977 ; 8. 59 Mann, Klaus : Kind dieser Zeit. 1965 ; 10.
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ich mich dieses Hügels oder dieses Schreis wirklich erinnere oder ob ich sie mir nicht mittels des Erzählten nachkonstruiere. »60 Wie diese Auseinandersetzung der Ursachenforschung zeigen wird und worauf auch Mann anspricht, sind wir mit einer kaum überwindbaren Schwierigkeit konfrontiert, welche in einem nicht auflösbaren Widerspruch besteht. Auf der einen Seite forschen wir nach den Ursachen, ja, es scheint gar ein Müssen zu sein, welches in Form einer Selbsterzählung vorgenommen wird. Es geht um die Klärung des Ursprungs, also um eine Denkfigur, die der Philosophie vertraut ist (man denke an Descartes’ Besinnung auf das Cogito oder Husserls phänomenologische Reduktion), eine Figur, die weiter unten noch ausgeführt wird. Auf der anderen Seite scheint es, wie eben ausgeführt, nicht möglich zu sein, die Ursachenforschung befriedigend voranzutreiben. Davon schreibt auch Dilthey : Wohin wir blicken, arbeitet unser Bewusstsein, mit dem Leben fertig zu werden. Wir leiden an unseren Schicksalen wie an unserem Wesen und so zwingen sie uns, uns verstehend mit ihnen abzufinden. Vergangenheit lockt geheimnisvoll, das Gewebe der Bedeutung ihrer Momente zu erkennen. Und ihre Deutung bleibt doch unbefriedigend. Nie werden wir mit dem fertig, was wir Zufall nennen : das, was bedeutsam für unser Leben wurde als herrlich oder als furchtbar, scheint immer durch die Tür des Zufalls einzutreten.61
Wie Dilthey hier zurecht festhält, verwenden wir viel Kraft, um eine Einheit von uns selber bilden zu können, gerade wenn es darum geht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aus diesem Grund reagieren wir auf die Forderung des Erkenne-dich-selbst so positiv und versuchen, die Zufälle aus dem Leben zu verbannen.62 Wir sind in unserem Leben mit dem Nichtgeplanten konfrontiert und teilweise auch davon geplagt. Eine Möglichkeit im Umgang damit besteht darin, eine kohärente Erzählung zu formulieren, mit entsprechenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen und so ein Verstehen von uns zu ermöglichen. Und haben wir mögliche Gründe gefunden, um den Zufall zu bändigen, sind wir mit Anschlussfragen konfrontiert (und diese Fragen sind der zweite Aspekt, weshalb die Ursachenforschung so anspruchsvoll ist) : Können wir diesen Gründen wirklich trauen ? Sind sie wirklich in der Lage, das zu stützen, wofür sie aus der Tiefe des Geistes gezogen wurden ? Wir müssen manchmal zumindest anerkennen, 60 Ebd.; 14. 61 Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 1927 ; 74. 62 Auf diese Schwierigkeit verwies auch Hampe, vgl. Kapitel 3.4.
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dass es Handlungen und Denkweisen gibt, bei denen wir nicht sicher sind, ob die Gründe für die Handlung oder für die Denkweise wirklich zutreffen, das heisst, ob der Ursprung von etwas freigelegt werden kann. Diese kaum zu überwindende Schwierigkeit, auf der einen Seite die Selbsterforschung vorantreiben zu wollen und auf der anderen die epistemische Unsicherheit respektive Unmöglichkeit des Projektes anzuerkennen, hat weitreichende ethische Konsequenzen. Eine davon klingt in der autobiographischen Schrift von Didier Eribon Die Rückkehr nach Reims an, als er, weil der Vater gestorben ist, nach Reims zurückkehrt. Er beginnt, seine Vergangenheit zu erforschen und zu klären, wie es dazu kam, weshalb er sich so und nicht anders entwickelte : « Aber war es nicht genau diese Annahme, die mich – neben aller Wahrheit, die zweifellos in ihr steckt, lieferte sie mir dafür eine ehrenwerte und kaum anfechtbare theoretische Rechtfertigung – dem Gedanken ausweichen liess, dass ich ebenso sehr mit meinem Milieu als soziale Klasse gebrochen hatte ? »63 Eribon steht vor der Frage, wie es zu dem Bruch mit seinem Milieu kam. Er beginnt seine Biographie zu durchforsten und findet auch eine Erklärung, seine Homosexualität. Doch er fragt sich, ob das ausreicht, um die Frage nach seiner Seinwerdung zu beantworten, oder ob es sich nicht doch nur um eine vorgeschobene Rechtfertigung handelt, ob er sich nicht einfach eines allgemein akzeptierten Teils des autobiographischen Schemas bedient, nämlich auf den Aspekt der Andersartigkeit (hier der sexuellen Orientierung), um den Keil zwischen Ich und Du erklären zu können. Wenn nun dieser Keil anders begründet würde, wenn Eribon etwa auf die mögliche Neugierde hinwiese, die die Schule bei ihm ausgelöst haben könnte, eine Neugierde, die ihn von Diplom zu Buch usw. führte, oder wenn er entsprechende Begegnungen aufgegriffen hätte – so würde eine andere Geschichte von ihm selber entstehen, mit entsprechenden Konsequenzen für das Gegenüber. Bevor nun diese Überlegungen zur Ursachenforschung anhand von Chr. Lavant und Th. Bernhard in Kapitel 8 und 9 konkretisiert werden, gilt es, zwei prominente Theorien aufzugreifen, die versuchen nachzuweisen, wie das Verhalten von Menschen verständlich und somit Verstehen möglich gemacht wird, nämlich die antikausale Handlungstheorie von Ludwig Wittgenstein und die kausale Handlungstheorie von Donald Davidson.64 Anschliessend wird begründet, 63 Eribon, Didier : Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. 2016 ; 22. 64 Die dritte einflussreiche Handlungstheorie (neben der kausalen und der antikausalen) ist die teleologische, wie sie etwa Scott Sehon prominent vertritt. Diese teleologische Handlungstheorie bezieht sich auf keine Ursache, sondern stattdessen auf einen Zustand oder auf einen Sachverhalt, auf den unser Verhalten gerichtet ist. Das heisst zum Beispiel, dass eine handelnde Person einen bestimmten Sachverhalt realisieren will. Demzufolge wird eine Handlung immer erst dann erklärt,
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weshalb die skeptische Lösung von Wittgenstein im Zusammenhang des autobiographischen Erzählens plausibler ist, und es gilt die Frage zu klären, warum die Diskussion um die Rechtfertigung von Handlungen gerade im Kontext des autobiographischen Erzählens von Leidenserfahrungen wichtig ist. Wittgenstein macht zwischen Gründen und Ursachen einen Unterschied. Wie er ausführt, findet zwischen diesen beiden Begriffen oft eine Verwechslung statt, die daher rühre, dass das Wort « warum » doppeldeutig ist. Anstelle eines Grundes wird eine Ursache angegeben. Zwar ist es in der empirisch erfahrbaren und messbaren Welt möglich, Gründe und Ursachen gleichzusetzen, etwa dann, um zu begründen, weshalb eine Brücke eingestürzt ist. So ist der Grund des Konstruktionsfehlers zugleich die Ursache für den Einsturz. Wenn hingegen die Gründe für menschliche Handlungen angegeben werden, findet die von Wittgenstein formulierte Verwechslung zwischen Grund und Ursache statt. Wenn man sagt, die Handlung habe diese und jene Ursache, stellt diese Aussage nicht mehr als eine begründete Vermutung dar. Diese kann, sofern sie mit einer bestimmten Anzahl von Erfahrungen übereinstimmt, zutreffen. Wird hingegen ein Grund für eine Handlung angegeben, ist die Begründung keine Hypothese mehr, sondern die handelnde Person weiss, warum die Handlung vollführt wurde. So genügt es zu wissen, warum eine Person einen Nagel mit dem Hinweis in die Wand schlägt, sie wolle ein Bild aufhängen. Oder anders formuliert : Es ist keine Hypothese, warum die Person den Nagel in die Wand schlägt, vielmehr kennt sie den Grund, sie möchte nämlich ein Bild aufhängen. Dieses Argument erweitert Wittgenstein, indem er aufzeigt, dass Gründe Handlungen nur neu beschreiben und somit keine Ursachen sein können. Damit eine Ursache als eine Ursache aufgefasst werden kann, muss sie logisch abgrenzbar von ihrer Wirkung sein. Gründe sind für Wittgenstein nicht logisch abgrenzbar von Handlungen, sie zeigen nur « einen Weg […], der zu dieser Handlung führt »65. Da Gründe Handlungen nur neu beschreiben, sind sie keine Ereignisse, sie bewirken nur ein anderes, weswegen Gründe keine Ursachen sein können.66 So ist die kausale wenn das Ziel oder der Zweck einer Handlung gefunden ist, auf den sich das Verhalten einer handelnden Person richtet, und nicht etwa, indem eine kausale Vorgeschichte rekonstruiert wird (vgl. dazu : Sehon, Scott : Deviant Causal Chains and the Irreducibility of Teleological Explanation. In : Pacific Philosophical Quarterly 78. 1997). 65 Wittgenstein, Ludwig : Das Blaue Buch. In : Werkausgabe Band 5. Hrsg. Rush Rhees. 1984 ; 33. 66 Auf den Unterschied zwischen Grund und Ursache geht Wittgenstein nicht nur im Werk Das Blaue Buch sowie in der PU ein, sondern er verweist darauf auch in seinen Aufzeichnungen, die er in den letzten anderthalb Jahren seines Lebens anfertigte. So hält er bei der Aufzeichnung Nr. 474
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Erklärung eine Spielart, mehr nicht, wie die Frage nach dem « Warum » beantwortet werden kann. Die andere ist eben, Gründe anzugeben. Der Unterschied zwischen der Frage nach der Ursache und der Frage nach dem Grund ist der, wie Wittgenstein im Werk Das Blaue Buch weiter ausführt, zwischen « Welcher Mechanismus hat dich von A nach B gebracht ? » und « Auf welchem Weg bist du von A nach B gekommen ? »67. Wenn nun der Weg und nicht der Mechanismus angegeben wird, dann « melden sich hundert Gründe, die einander kaum zu Wort kommen lassen wollen »68, es wird nicht mehr möglich sein, den Ursprung einer Handlung anzugeben. Mit dieser Aussage zeigt Wittgenstein auf, weshalb man nicht in der Lage sein wird, zu wissen, ob ein entsprechender Grund wirklich die Handlung verursachte, es wird kaum möglich sein, alle Gründe aufzuführen, weshalb eine handelnde Person dies und nicht jenes getan hat, weil die entsprechenden Gründe zu zahlreich und kaum abschliessbar festzuhalten sind. Schliesslich besteht für Wittgenstein ein weiterer Grund, die Kausalitätsbegründung zu verwerfen, in seiner Analyse, dass entgegen dem Syllogismus von Aristoteles die deduktive Beziehung zwischen Handlungsgrund und Handlung nicht als eine kausale beschrieben werden kann. Es existieren keine strengen physikalischen Gesetze zwischen Grund und Handlung in dem Sinne, « als ob man eine Berechnung vorführt, mittels derer man zu einem bestimmten Ergebnis gelangt ist »69, also wie es bei der Erforschung des Grundes eines Brückeneinsturzes möglich ist. So sind für Wittgenstein Kausalbeziehungen wesentlich nomologisch, und sie beruhen auf Induktionen, während die Erkenntnis, jemand habe aus bestimmten Gründen gehandelt, sich gewöhnlich weder induktiv verhält noch sich auf irgendwelche Gesetzmässigkeiten stützt.70 Wie der Philosoph Alfred Mele festhält, ist Davidson der entscheidende Vertreter, welcher ab den 1960ern Jahren mit Verweis auf Aristoteles wieder für die kausale Theorie argumentiert, um Handlungen zu erklären.71 Seine Handlungstheorie entwickelt er in verschiedenen Aufsätzen. Für Davidson kann dann von einer Handlung ausgegangen werden, wenn die handelnde Person das
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fest : « Dieses Spiel bewährt sich. Das mag die Ursache sein, weshalb es gespielt wird, aber es ist nicht der Grund. » (Wittgenstein, Ludwig : Über Gewissheit. Hrsg. von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright. 1970 ; 123). Wittgenstein, Ludwig : Das Blaue Buch. In : Werkausgabe Band 5. Hrsg. Rush Rhees. 1984 ; 35. Wittgenstein, Ludwig : Philosophische Untersuchung. In : Werkausgabe Band I. Hrsg. von Joachim Schulte. 2006 ; § 478. Wittgenstein, Ludwig : Das Blaue Buch. In : Werkausgabe Band 5. Hrsg. Rush Rhees. 1984 ; 35. Davidson, Donald : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; xvi. Mele, Alfred : Philosophy of Action. In : « Donald Davidson ». Hrsg. von Kirk Ludwig. 2003 ; 67.
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Wunsch-Überzeugungspaar angeben kann. Dieses Paar besteht erstens darin, dass die handelnde Person über eine positive Haltung, eine Pro-Einstellung (pro attitude) für Handlungen einer bestimmten Art verfügt.72 Davidson gibt bewusst nicht an, was alles als ein solcher Grund aufgefasst werden kann, weil es kaum möglich sei, eine abschliessende, exakte Aufzählung von solchen Handlungsgründen zu erstellen. Als mögliche Kandidaten für Pro-Einstellungen nennt Davidson folgende : « […] varieties of emotions, sentiments, moods, motives, passions, and hungers, whose mention may answer the question, ‹Why did you do it ?’ […]. »73 Wie diese Gründe systematisiert werden können, untersucht Davidson nicht.74 Zweitens ist die handelnde Person überzeugt, dass das, was sie oder er tut, zu einer bestimmten Art gehört, wie etwa ein Mittel, um etwas zu erreichen. Wenn nun dieses Wunsch-Überzeugungspaar angegeben werden kann, so kennt man den Primärgrund für die vollzogene Handlung. Den Primärgrund angeben heisst also, Pro-Einstellungen, Überzeugungen oder beides aufzuführen. Dies bedeutet weiter : Wenn man den Primärgrund kennt, so kennt man die Absicht, mit der die Handlung vollführt wurde.75 Um diesen Gedankengang zu plausibilisieren, soll auf das von Davidson diskutierte Beispiel zurückgegriffen werden : Eine handelnde Person hat absichtlich den Lichtschalter gedrückt. In dieser Handlung könnte die Pro-Einstellung im Wunsch der Person bestehen, das Licht möge im Wohnzimmer angehen, und sie glaubt, das Licht gehe in diesem Zimmer dann an, wenn sie den Lichtschalter drückt. So weist die Pro-Einstellung auf das Ziel hin, das Zimmer zu beleuchten, während die Überzeugung die Mittel angibt, wie dieses erreicht werden kann. Dieses Wunsch-Überzeugungs72 Hier stellt sich folgende Frage, auf die Davidson nicht eingeht : Wenn Wünsche und Überzeugungen angegeben werden können, warum der Körper eine bestimmte Bewegung ausführt, wissen wir dann wirklich, was es heisst, zu handeln ? Das bleibt offen. 73 Davidson, Donald : Actions, Reasons, and Causes (1963). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 7. Rosalind Hursthouse ist allerdings der Ansicht, es sei nicht möglich, Handlungen, welche durch Emotionen motiviert sind, als einen Grund im Sinne Davidsons aufzufassen, weswegen sie solche Handlungen als « arational actions » bezeichnet. Denn, so Hursthouse, die handelnde Person habe in der Regel gar keinen Wunsch, ihre Emotionen, etwa « zittern » oder « Angst haben », zu zeigen. Es scheint, als geschehe die Emotion willkürlich, eben, ohne einen entsprechenden Grund. Somit, so ihre Schlussfolgerung, kann u. a. Davidson viele Fälle von emotionalen Handlungen nicht erklären (vgl. dazu : Hursthouse, Rosalind : Arational Actions. In : The Journal of Philosophy 88, No. 2. 1991 ; 58 f resp. 68). 74 Eine solche Systematisierung macht Georg Henrik von Wright, indem er zwischen inneren und äusseren Gründen unterscheidet, die für oder gegen eine Handlung sprechen (vgl. dazu : Von Wright, Georg Henrik : Normen, Werte und Handlungen. 1994 ; 141–165). 75 Davidson, Donald : Actions, Reasons, and Causes (1963). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 7.
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paar lässt noch eine weitere, für Davidson wichtige Differenzierung zu. Erst dann, wenn der Primärgrund für eine Handlung angegeben werden kann, spricht Davidson von Handlung.76 Reicht aber die Angabe des Primärgrundes aus, um anzugeben, weshalb eine Person die Handlung vollzog ? Davidson verneint diese Frage und spezifiziert die notwendige Bedingung für einen Primärgrund. Um die Notwendigkeit dieser modifizierten Bedingung aufzuzeigen, erweitert Davidson das Beispiel mit dem Lichtschalter : « I flip the switch, turn on the light, and illuminate the room. Unbeknownst to me I also alert a prowler to the fact that I am home. »77 Bei der Handlung, das Licht anzuschalten, kann das erwähnte Wunsch-Überzeugungspaar angeben werden. Sie ist somit rationalisiert. Hingegen trifft die Rationalisierung auf die mögliche Folge dieser Handlung, nämlich die Alarmierung des Einbrechers, nicht zu. Rationalisiert ist für Davidson eine Handlung erst dann, wenn eben der Primärgrund angegeben werden kann, der erklärt, warum es aus der Sichtweise der handelnden Person rational war, die Handlung auszuführen. Aus diesem Grund können die beiden Folgen der Handlungen nicht als identisch betrachtet werden, da die erste beabsichtigt war, die zweite nicht. Dieser Umstand führt Davidson dazu, die notwendige Bedingung für Primärgründe zu spezifizieren : « C1 : R is a primary reason why an agent performed the action A under the description d only if R consists of a pro attitude of the agent towards actions with a certain property, and a belief of the agent that A, under the description d, has that property. »78 Die Spezifizierung besteht also darin, dass nur der Grund als Primärgrund gilt, wenn erstens ein Wunsch-Überzeugungspaar angegeben werden kann und zweitens er auch rationalisiert ist.79 Wichtig ist für Davidson festzuhalten, es sei nicht notwendig, den 76 Es ist eine schwierige Frage, wie genau die beiden Begriffe Handlung und Ereignis voneinander abgegrenzt werden können. Für diese Arbeit wird auf die Auffassung Davidson zurückgegriffen, der unter dem Begriff Ereignis im Zusammenhang einer Handlung Folgendes versteht : Handlung wird als Unterklasse von Ereignissen klassifiziert « that there is a fairly definite subclass of events which are actions » (Davidson, Donald : Agency (1971). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 44). 77 Davidson, Donald : Actions, Reasons, and Causes (1963). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 4. 78 Ebd.; 5. 79 Wie Harry Frankfurt allerdings nachzuweisen versucht, liefert der kausale Ansatz keine befriedigende Analyse des Handelns. In seinem Aufsatz The Problem of Action argumentiert Frankfurt dafür, dass « no part of action to have a prior causal history of any particularkind » (Frankfurt, Harry : The Problem of Action. In : American Philosophical Quarterly 15. 1978 ; 157), weil « from the fact that an event is an action, in my view, it does not follow even that it has a cause at all, much less that it has causal antecedents of any specific type » (ebd.). Wenn nun, wie Frankfurt ausführt,
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Primärgrund bis ins Detail beschreiben zu können, um die Absicht zu kennen. Es genüge, diesen Grund mehr oder weniger gut zu kennen und auch mehr oder weniger explizit. Ebenso sei es oft redundant, den Wunsch und die Überzeugung anzugeben ; es reiche meist aus zu wissen, weshalb die Person den Lichtschalter drückt, nämlich um im Raum Licht zu machen, ohne auf den zweiten Teil des Überzeugungspaares des Lichtanmachens zu rekurrieren.80 Auf die Frage, ob die Primärgründe entweder vor oder nach der Handlung aufgeführt werden, gibt Davidson keine explizite Antwort. Es scheinen beide Fälle möglich zu sein. Die von ihm diskutierten Beispiele sind oft Darstellungen von vollzogenen Handlungen. Weil die Handlungen bereits vollzogen sind, kann die Begründung logischerweise erst rückblickend angegeben werden.81 Allerdings ist es durchaus möglich, die beschriebenen Beispiele von Davidson umzuinterpretieren, indem die Gründe im Voraus genannt werden. So würde ersichtlich, welche Absichten für eine entsprechende Handlung vorhanden sind. Davidson fasst also die Verbindung zwischen Gründen und Handlung als eine Verbindung auf, welche zwei Ereignisse enthält, also einerseits, dass die handelnde Person Wünsche und Überzeugungen hat, und andererseits ihre Handlung selber. Es ist der Primärgrund, also der kausal stärkste Grund, der diese beiden Ereignisse miteinander verknüpft.82 Erst mithilfe der Kausalität kann erklärt werden, was eine Handlung ist, nämlich dann, wenn auf den kausalen Zusammenhang zwischen Grund und Ursache der Handlung hingewiesen wird. Davidson kann mithilfe der kausalen Erklärung die Form einer vollständigeren Handlungsbeschreibung angeben, das heisst, entweder im Sinne einer Ursache oder im Sinne seiner Wirkung. Dies bedeutet also, « that, in every instance of action, the agent made happen or brought about or produced or authored the event of which he was the agent, and these phrases in turn seem grounded in the idea of cause. »83 Um die Handlungen keine oder mehrere Ursachen haben können, steht seine Konzeption mit jener von Davidson im Widerstreit. 80 Vgl. dazu : Davidson, Donald : Actions, Reasons, and Causes (1963). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 7. 81 Ein Beispiel wäre das folgende : « A reason rationalizes an action only if it leads us to see something the agent saw, or thought he saw, in his action – some feature, consequence, or aspect of the action the agent wanted, desired, prized, held dear, thought dutiful, beneficial, obligatory, or agreeable. » (ebd.; 3). 82 Um die Plausibilität dieser Verbindung zwischen Grund und Ursache zu erhöhen, greift er auf verschiedene Möglichkeiten zurück, wie Handlungen erklärt werden können, alles Möglichkeiten, die scheitern (vgl. dazu : Davidson, Donald : Agency (1971). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 43–48). 83 Ebd.; 48.
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Bedeutung der Kausalität herauszustreichen, geht er gar soweit, sie mit dem « the cement ft he universe »84 zu vergleichen.85 Auf die Konklusion Wittgensteins, Gründe seien keine Ursachen, kann anhand von Davidson mit drei Argumenten entgegnet werden : Erstens sind Gründe, wie ausgeführt wurde, Überzeugungen und Einstellungen und somit nicht mit der Handlung identisch. Das zweite Argument hängt damit zusammen, dass ein Ereignis erst dann geklärt sei, wenn man den Grund für die verursachte Handlung angebe. Es sei, so Davidson, ein « error to think that, because placing the action in a larger pattern explains it, therefore we now understand the sort of explanation involved »86. Die Kritik Davidsons an die Adresse der Antikausalisten wie Wittgenstein (und in der Nachfolge u. a. G. E. M. Anscombe) besteht darin, wenn eine solche kausale Verbindung nicht vorhanden sei, könne auch nicht nachvollzogen werden, wie es zu einer Handlung gekommen sei, ja, sie müsse als etwas Mystisches beschrieben werden. Diese Entmystifizierung leistet die Handlungstheorie von Davidson, sie ermöglicht, die Handlungen in ein wissenschaftliches Weltbild einzufügen.87 Zudem kann die Handlungstheorie von Davidson plausibel begründen, wie Geist und Körper interagieren, indem die Theorie berücksichtigt, inwiefern die intentionalen Einstellungen von uns mit der Welt zusammenhängen.88 Es sind zweifellos gewichtige Gründe, 84 Davidson, Donald : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. Oxford : Clarendo Press. 2001. XV. 85 Ein wichtiges Argument gegen die kausale Handlungstheorie wurde u. a. von Roerick M. Chisholm formuliert, nämlich die abweichenden Kausalketten (oder « inadvertent success », wie es Chisholm nennt). Von einer abweichenden Kausalkette wird dann gesprochen, wenn zwar das Wunsch-Überzeugungspaar angegeben werden kann, es aber trotzdem gegen unsere Intuition spricht, in diesem Zusammenhang von einer absichtlichen Handlung zu sprechen. Als ein Beispiel für solche abweichenden Kausalketten führt er Folgendes aus : « An example of an ‹inadvertent success› is provided by the prospective assassin who meets up with an accident similar to that of our earlier agitated nephew : en route to town to shoot and kill his victim, he accidentally runs over and kills a pedestrian who then turns out to be none other than the intended victim. » (Chisholm, Roderick M.: Freedom and Action. In : Freedom and Determinism. Hrsg. von Keith Lehrer. New Jersey : Humanities Press. 1966 ; 37). Die Analyse dieses Beispiels zeigt, dass das Wunsch-Überzeugungspaar zwar angegeben werden kann, nämlich der Wunsch des Killers verursacht die Bewegung seines Körpers, aber trotzdem kann nicht die Rede von einer absichtlichen Handlung sein (zu den Erwiderungen Davidsons auf diesen Einwand vgl. dazu : Davidson, Donald : Agency (1971). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 50–52). 86 Davidson, Donald : Actions, Reasons, and Causes (1963). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 10. 87 Vgl. dazu : Davidson, Donald : Agency (1971). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 60 f. 88 Davidson führt den Zusammenhang zwischen Geist und Körper in seiner Konzeption zum An-
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die für die Konzeption von Davidson sprechen. Und doch reichen sie nicht aus, um den alltäglichen Erfahrungen standzuhalten. Es wäre aus einer rationalen, selbstbestimmten Perspektive wünschenswert, Gründe als Ursachen anzugeben. Die Person kann, wie anhand von Davidson ausgeführt wurde, ihre Handlungen rechtfertigen, und sie kann zur Verantwortung gezogen werden. Somit mutet Davidson uns Menschen einiges zu, seine Konzeption ist voraussetzungsreich und anspruchsvoll. Doch eine solche Art von Kausalität, die es braucht, um Handlungen in einem naturwissenschaftlichen Verständnis zu erklären, gibt es nicht. Wie Wittgenstein ist Dilthey der Ansicht, ein solches Ursache-Wirkungs-Gesetz existiert nicht, die Geschichte, sei es auf der individuellen oder auf der Makroebene, wisse « nur von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und Reaktion »89. Wenn man nun aufgrund der fehlenden Kausalkette sich auf die Suche nach Gründen für eine Handlung macht, sind oftmals mehrere solcher Gründe vorstellbar (es müssen nicht gerade hunderte sein, wie Wittgenstein meint). Und in dieses Spiel sind nicht nur die Produzierenden, sondern auch die Rezipierenden involviert. Wie ein solches Spiel mit Gründen aussehen könnte und was daraus folgt, ist ein Thema der Biographien von Dieter Kühn. Obwohl diese Ursachenforschung bei ihm von aussen betrieben wird, sie lässt sich auf das betroffene Subjekt selber anwenden, auch wenn leicht angepasst, u. a. wenn es um die Überprüfung der Aussagen respektive Handlungen geht. So etwa zeigt er in seiner Biographie über Napoleon auf, was seine « eigentliche » Bestimmung gewesen sei, nämlich Landwirt zu werden, und führt gute Gründe auf, weshalb Napoleon ein guter Landwirt geworden wäre, um daraufhin auszuführen, es sei doch nicht seine Bestimmung gewesen, Landwirt, sondern Schriftsteller zu werden, und auch für diesen Beruf führt er plausible Gründe an.90 Um den Werdegang von Napoleon weiter darzulegen, fragt der Erzähler : « Warum dabei nicht auch korsische Motive verwenden ? »91, das heisst also, auf den Einfluss des Herkunftsortes von Napoleon zurückzugreifen. Ja, warum nicht, mag der Leser denken. Diese Spekulationen könnten ohne Schwierigkeiten noch weiter ausgeführt werden. Eine Möglichkeit, solche Gedankengänge einzudämmen, bestünde aus der Sichtweise der Rezipierenden darin, auf Schriften von Napoleon selbst zurückzugreifen, um die Spekulationen zu überprüfen. Doch ebenfalls mit omalen Monismus aus (vgl. dazu : Davidson, Donald Mental Events (1970). In : Essays on Actions and Events. Hrsg. von ebd. 2001 ; 207–224). 89 Dilthey, Wilhelm : Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. 1927 ; 197. 90 Kühn, Dieter : N. 2005 ; 23–26. 91 Ebd.; 27.
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diesem textexternen Bezug käme man nicht weit. Denn wie komplex die Voraussetzungen der Selbsterforschung sein können, und da ist der Erzähler aufgrund seiner externen Sichtweise auf das Leben von Napoleon im Vergleich zu seiner Innensicht im Vorteil, zeigt er weiter anhand des Ägyptenfeldzuges auf. Er zählt auf, welche Aspekte eine entscheidende Rolle spielten, bis Napoleon in Ägypten einmarschieren konnte.92 Er fragt sich : « W ieviel Glück muss ein Offizier haben, um berühmt, um ein politischer Faktor werden zu können ? »93 Wie sich herausstellt, ganz viel. Was anhand dieser Voraussetzungen dargelegt werden kann, ist die Schwierigkeit, den Primärgrund präzise erfassen zu können, gerade wenn es um komplexe Handlungen geht wie um die Frage, warum Napoleon in Ägypten einmarschiert ist. Hinzu kommt, dass es bei der Analyse der Genese Faktoren gibt, die die handelnde Person nicht beeinflussen kann, ja, sich gar nicht einmal deren Existenz bewusst ist, wie das Napoleon auf der Militärprovinzialschule von Brienne passiert ist.94 Die Beispiele, auf die Davidson zurückgreift, sind klar abgrenzbar, die Möglichkeiten an Gründen, weshalb eine Person den Lichtschalter betätigt hat, sind beschränkt. Doch sobald komplexere Entscheidungen anstehen, etwa jene nach Napoleons Ägyptenfeldzug oder, um eine nicht weltpolitisch relevante Handlung zu nennen, die Frage nach dem Kinderwunsch, die sich einem Paar stellt, wird es deutlich schwieriger. Sofern es möglich ist, zwischen Genese und Geltung in diesem Kontext einen Unterschied zu machen, stellt sich in Bezug auf die Geltung die Frage, welche Gründe genannt werden, um eine Handlung einsichtig zu machen. Auch hier ist das Beispiel mit dem Anknipsen des Lichtschalters von Davidson gut gewählt, es lässt sich zeigen, wie Handlungen gerechtfertigt werden können. Doch wieder stellt sich die Frage, inwiefern das Beispiel hilft, komplexe Handlungen insofern verständlicher zu machen, als die Rechtfertigung der Handlung nachvollzogen werden kann. Auch wenn davon ausgegangen wird (und wie wir gesehen haben, bestehen in dieser Hinsicht grosse Bedenken), es sei möglich, den Primärgrund anzugeben : Woher weiss die handelnde Person, woher wissen die Rezipierenden, ob dieser Grund der Primärgrund für die Handlung war ? Und wie soll mit dem Umstand umgegangen werden, wenn sich die Primärgründe im Verlaufe der Zeit verändern ? Zur Beantwortung dieser Fragen, die die Handlungstheorie und die Erkenntnistheorie betreffen, ist die Ethik entscheidend involviert. Wenn es nicht möglich 92 Ebd.; 78 f. 93 Ebd.; 79. 94 Auf dieser Schule wurde im Kollegium diskutiert, ob Napoleon auf die Militärschule in Paris komme oder nicht (ebd.; 18–23).
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ist zu wissen, was die Gründe für eine spezifische Handlung, was die Gründe für die Leidensquellen sind, ist die Konfiguration gefährdet und somit ein Verstehen sowohl aus der Sicht der Produzierenden (ethics of writing) als auch aus der Sichtweise der Rezipierenden (ethics of reading) zumindest stark gefordert. Und wie nun deutlich geworden ist, besteht der grosse Mehrwert einer Handlungstheorie, sei es die anti-kausale oder die kausale, darin, die Verstehenszusammenhänge darzulegen. Dabei werden die handlungs- und gedankenleitenden Gründe angegeben, mit dem erwähnten Ziel, den Ursprung zu klären. Es ist diese Ursprungssuche, die für Chr. Lavant und für Th. Bernhard entscheidend ist, gerade im Kontext ihrer Leidenserfahrungen. Deshalb soll die Frage, weshalb es für uns Menschen so wichtig ist, den Ursprung zu kennen und welche Probleme damit verbunden sind, ausgeführt, bevor dann abschliessend zentrale Punkte der Ursachenforschung festgehalten werden. Die Frage, was der Ursprung eigentlich ist und woher das Bedürfnis nach der Klärung dieses Ursprungs überhaupt komme, ist vielschichtig. Um sich dem Begriff anzunähern, ist es hilfreich, auf die Ausführungen der Analyse der Ursprungsfigur von Angehrn zurückzugreifen. Wie Angehrn festhält, beschäftigt sich nicht nur die Philosophie mit der Frage nach dem Ursprung. Auch in anderen Wissenschaften sind das Woher, das Woraus sowie das Wodurch relevant.95 Doch in der Philosophie ist die Frage nach dem Ursprung nicht eine Frage unter vielen, sondern sie kennzeichnet die Philosophie aus, sie sei die Frage « par excellence »96. Ob es aus methodischer Sicht für die Philosophie, aber nicht nur für sie, überhaupt möglich ist, an den Ursprung zurückzukehren, ist umstritten. Während Hegel der Auffassung ist, erst das Resultat einer Untersuchung sei die Erklärung für den Ursprung, vertritt Platon die Ansicht, die Suche nach dem 95 Von dieser unentwegten Suche nach dem Ursprung sind nicht nur die Geistes- oder Sozialwissenschaften angetrieben, sondern auch die Naturwissenschaften. So publizierten 2017 Biologinnen und Biologen der Universität Wien eine Studie über die Ur-Blüte der Blütenpflanzen, die ein internationales Forschungsteam erarbeitet hat. Das Ziel dieser Studie war es, nachzuweisen, wie eine solche Ur-Blüte ausgesehen haben könnte. Ausgehend von komplexen mathematischen Berechnungen haben sie den Stammbaum der Blütenpflanzen entworfen sowie ein Modell einer solchen Ur-Blüte konstruiert, mit dem Ergebnis, wie der Titel der Pressemitteilung der Universität Wien festhält : Wie Blüten vor 100 Millionen Jahren ausgesehen haben. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften scheint es für die Naturwissenschaften möglich zu sein, den Ursprung festzulegen, da, wie es im Titel heisst, von « ausgesehen haben » die Rede ist, also ohne Konjunktiv (vgl. dazu : Universität Wien, 2017). 96 Angehrn, Emil : Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. 2007 ; 13.
Ursachenforschung und Ethik
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Ursprung sei, im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, ein voraussetzungsloser Anfang. Schliesslich besteht eine dritte Variante darin, es gebe gar keine Möglichkeit, an diesen Nullpunkt zurückzukehren, das Denken finde mittendrin statt.97 Neben dem methodischen Zugang zum Ursprung gibt es auch einen historischen. Einen aus dieser Sicht wichtigen Beitrag, worin der Ursprung bestehe, haben die Schöpfungsmythen geleistet, indem sie das Erinnerte an das Gewesene festhalten.98 Hinzu kommt die inhaltliche Perspektive auf das Ursprungsphänomen, bei der es um Fragen geht wie nach dem Ursprung der Dinge oder wie sich diesen beschreiben lasse.99 Anhand der methodischen, historischen und inhaltlichen Annäherung an die Fragen, was den Ursprung auszeichnet und wie zu diesem vorgedrungen werden kann, zeigt sich die Vielschichtigkeit des Begriffes. Die Komplexität nimmt gemäss Angehrn in Anlehnung an Aristoteles Metaphysik noch weiter zu, indem bei der Frage, was der Ursprung sei, das zu Untersuchende eingegrenzt wird : (i) Geht es um die Entstehung der Welt, um den Grund aller Dinge, oder um das Prinzip des Denkens ? Die ontologische Dimension kann mit der erkenntnistheoretischen ergänzt werden, wo geklärt werden muss, ob « die Grundlage des Denkens, der Ausgangspunkt einer Wahrnehmung, die Prämisse eines Beweises, das Prinzip einer Argumentation »100 im Zentrum stehe. Dieses Woher kann aus drei Blickwinkeln unerreichbar sein. Zum einen zeigt sich die Unerreichbarkeit in der Zeitdimension. Die entronnene Zeit verunmöglicht, an diesen Ursprung zurückzukehren, alles, was bleibt, sind Abbilder davon, die vergegenwärtigt werden. Zum anderen kann die Uneinholbarkeit aus ontologischer Perspektive beschrieben werden, nämlich in der Unmöglichkeit des Einfangens des Ursprungs, des « Je-schon-Gewesenen »101, das heisst, es ist nie möglich, das Vergangene « wesensmässig […] in die Präsenz zu überführen »102. Schliesslich drittens kann die Uneinholbarkeit in der « Nichtsagbarkeit dessen, was sich inhaltlich der Anschauung und dem Diskurs entzieht »103 bestehen. Das Urbild, auf das diese Art der Uneinholbarkeit rekurriert, sei eines, 97 Ebd.; 20 f. 98 An dieser Stelle wird auf die historische Dimension des Ursprungs, der gemäss Angehrn beim mythischen Denken liege, nur verwiesen, da diese Perspektive für den Verlauf dieser Arbeit nicht relevant ist (vgl. dazu : ebd.; 43–76). 99 Angehrn, Emil : Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. 2007 ; 18 f. 100 Ebd.; 29. 101 Ebd.; 34. 102 Ebd.; 34 f. 103 Ebd.; 35.
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bei dem die Götter noch keine Namen haben und die Erde noch kein Gesicht hat. Wie Angehrn weiter festhält, gibt es noch andere Konstellationen als dieses Urbild, die voraussetzungsreicher sind. Die Uneinholbarkeit bestehe in einer Unerkennbarkeit, weil der entsprechende Ursprung verabscheut oder gefürchtet wird, der Ursprung wurde, wie Freud es nennt, verdrängt.104 Zweitens (ii) besteht hinsichtlich des methodischen Vorgehens, wie es möglich sei, den Ursprung freizulegen, eine grosse Vielfalt. So gehe die Biologie anders vor als die Geschichtswissenschaft, die Philosophie vollzieht wieder einen anderen Weg. Drittens (iii) müsse die Art und Weise, wie nach diesem Ursprung gefragt wird, differenziert werden. Es muss geklärt werden, ob es ein temporales Moment betrifft, ob es darum geht, einen Grund in einer bestimmten Sache zu finden, oder ob es sich um einen Anfang im Erkennen sowie in der Darstellung handle.105 Schliesslich viertens (iv) müsse nach der Bewertung des Ursprungs unterschieden werden. Der Ursprung könne sowohl etwas sein, an dem man sich festhält oder man könne ihn als einen Abgrund darstellen, das heisst als eine Bedrohung bis hin zu einer ideologischen Begrenzung oder eine fehlgeleitete Denkfigur. Um sich dem Begriff des Ursprungs weiter anzunähern, ist es hilfreich, ihn vom Begriff des Anfangs abzugrenzen. Auch wenn Ursprung und Anfang oftmals gleichgesetzt werden können, so auch in dieser Arbeit, ist es möglich, zwischen beiden Begriffen einen Unterschied festzumachen. Der Anfang ist ein Erstes, « von dem etwas ausgeht, mit dem etwas beginnt » 106. Beim Anfang geht die Blickrichtung von der Gegenwart in die Zukunft, und das Neue wird betont. Der Ursprung ist ein Erstes, « zu dem wir zurückkehren, das Späterem vorausund zugrundeliegt »107, der Blick geht von der Gegenwart zurück zur Vergangenheit, das Alte wird also betont. An dieser komplexen Ursprungsfigur wurde im Verlaufe der Zeit verschiedene Kritik geübt. Die eine Kritik, wie Angehrn festhält, die unproblematischste, besteht in der fehlenden Radikalität. Zwar werde ein Ursprung von etwas gesucht, allerdings stelle dieser Ursprung nicht den eigentlichen Ursprung dar, sondern nur eine Folge des wahren Ursprungs. Die prinzipielle Kritik hingegen bestreitet an der Ursprungsfigur den Umstand, es gebe überhaupt einen Ursprung. Das Ziel müsse darin bestehen, sich nicht auf den Weg nach dem « wahren » Ursprung zu machen, sondern sich überhaupt von dieser Suche zu befreien. Im Zentrum 104 Ebd. 105 Ebd.; 13. 106 Ebd.; 23. 107 Ebd.
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soll « das Abgründige, das Beginnlose, das offene Bezugsnetz »108 stehen, es soll das Oberflächliche, das Zufällige, der Vielheit Raum geschaffen werden. Wie Angehrn an Nietzsche ausführt, sei die Zeit der Suche nach dem einen Ursprung historisch überholt, vielmehr gelte es, der Ursprünge, also der Pluralisierung des einen Ursprungs, Rechnung zu tragen (und somit der Lesart von Wittgenstein zu folgen).109 Eine dritte Richtung, wie an der Suche nach dem Ursprung Kritik geübt wird, betrifft den pragmatischen Aspekt. Die Suche, so die Vertreter dieser Position, zeuge von einem « falschen Sicherheitsstreben, als regressive Sehnsucht, als Anpassung an das Tote oder als Unterwerfung unter die Herrschaft des Vergangenen »110. Diese Kritik weist auf die politische Dimension der Ursprungssuche hin. Mithilfe von Max Horkheimer, Paul Tillich und Theodor Adorno führt Angehrn aus, wie konservative Kräfte versuchen, einen Kreislauf des « Immer-Dagewesenen » zu generieren, mit dem Ziel, die Herrschaft zu stabilisieren und somit andere daran zu hindern, sich für Neuerung oder für Werte wie Gerechtigkeit und politische Gleichheit einzusetzen.111 Ausgehend von dieser Reflexion der Sehnsucht nach dem Ursprung sollen anhand von drei Punkten Aspekte festgehalten werden, die in enger Verbindung mit der Diskussion um Gründe und Ursachen stehen und für den weiteren Verlauf der Untersuchung relevant sind. Gerade mit Blick auf das erzählte Material der Produzierenden zeigt sich, wie tief die Suche nach dem Ursprung in uns steckt, vor allem, wenn es um die inhaltliche Dimension gemäss Angehrn geht. Die Sehnsucht nach dem Ursprung ist gross, sie trägt zu unserem Selbstverständnis bei, wir sind vom Wunsch getrieben, weg vom Chaos hin zum Kosmos zu gelangen (Konfiguration). Die Ursprungsidee verhilft den Menschen, eine Identität zu generieren, es geht um die Vergewisserung des Selbst, aber auch, um Reduktion der Komplexität, sie dient als Orientierungshilfe und vor allem stellt sie eine Möglichkeit dar, das Leiden zu verstehen, indem die Vergangenheit durchforstet wird.112 Auf der anderen Seite sind die Probleme, die mit dieser Ursprungssuche verbunden sind, etwa was die zeitliche Dimension oder die Nichtsagbarkeit betrifft, nicht zu überwinden (ethics of writing). Die Ursprungs108 Ebd.; 39. 109 Ebd.; 218. Weitere prominente Vertreter, die sich bei dieser Art der Kritik auf Nietzsche beziehen, sind Richard Rorty oder Gilles Deleuze. 110 Ebd.; 40. 111 Ebd.; 223 resp. 226. 112 In Kapitel 2.3.1 wurde anhand von Nietzsches Argumentation die Notwendigkeit dieser Art der Durchforstung der Vergangenheit weiter ausgeführt.
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suche verkompliziert sich noch weiter : Wir können uns teilweise dieser Art der Selbsterforschung nicht entziehen, denn es gibt Situationen, in denen dann die Rezipierenden bereitstehen und im Namen der Produzierenden sprechen und so auf die Fragen, was sie, die Produzierenden, weshalb getan haben, antworten (ethics of reading resp. Ethics of writing). Wie sehr wir an der Ursprungsfigur festhalten, zeigt sich weiter auch dann, wenn die Gefahr eines Fehlschlusses gross ist. Bei dieser Suche besteht die Gefahr, in einen infiniten Regress zu geraten, da jeder Ursprung wieder erklärungsbedürftig ist. Es verhält sich genauso wie in Brechts Keuner-Geschichte Der Zweckdiener : Herr K. stellte die folgenden Fragen : « Jeden Morgen macht mein Nachbar Musik auf einem Grammophonkasten. Warum macht er Musik ? Ich höre, weil er turnt. Warum turnt er ? Weil er Kraft benötigt, höre ich. Wozu benötigt er Kraft ? Weil er seine Feinde in der Stadt besiegen muss, sagt er. Warum muss er Feinde besiegen ? Weil er essen will, höre ich. » Nachdem Herr K. dies gehört hatte, dass sein Nachbar Musik machte, um zu turnen, turnte, um kräftig zu sein, kräftig sein wollte, um seine Feinde zu erschlagen, seine Feinde erschlug, um zu essen, stellt er seine Frage : « Warum isst er ? »113
Der mögliche Ausweg, sich auf einen unbewegten Beweger zu beziehen, zeugt, wie anhand von Nietzsche dargelegt wurde, von einem historisch überholten Denken, und es gilt, dieses Dogma zu überwinden. Wird trotzdem ein Ursprung manifestiert, ist man einem Zirkelschluss ausgesetzt : Das Ereignis wird mithilfe der Ursache erklärt und umgekehrt. Somit befinden wir uns im Münchhausen-Trilemma. Wie dieser Widerspruch, auf der einen Seite ein zentrales identitätsstiftendes Merkmal, auf der anderen Seite ein nicht einzufangendes Moment, erklärt werden kann, ist ebenfalls eine Frage, die kaum zu beantworten ist. Vielleicht ist eine unbefriedigende, da sie keine abschliessende Erklärung bietet, jene von Hume, in der er formuliert, weshalb wir trotz unüberwindbarer logischer Schwierigkeiten uns auf die induktiven Schlüsse einlassen, nämlich deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben ; so offenbar auch der Ich-Erzähler von Max Frischs Montauk : « Nachher ein kaltes Buffet ; ich antworte auf dieselben Fragen nicht immer dasselbe. So überzeugend finde ich keine meiner Antworten. »114 Zweitens, wenn der Ursprung von etwas angegeben wird, dann 113 Brecht, Bertolt : Der Zweckdiener. In : ebd.: Gesammelte Werke. Band 12. Hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. 1975 ; 377. 114 Frisch, Max : Montauk. Eine Erzählung. 1975 ; 58.
Das vierte Zwischenspiel
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betten wir eine Situation oder ein Ereignis in unser Selbstbild ein. Und je nachdem, wie diese Einbettung erfolgt, wird ein anderes Selbstbild von sich erzeugt. Folglich macht es einen grossen Unterschied, wenn auf die Frage, weshalb die Tat vollzogen wurde, auf die traumatische Kindheit, auf die Rahmengeschichte oder auf den Zufall rekurriert wird. Wenn die Person sich auf die Kindheit bezieht, liegt der Fokus der Ursprungsforschung auf ihr selbst, bei der Rahmengeschichte auf der näheren und weiteren Umgebung, beim Zufall gar ausserhalb der Reichweite von Menschen, was entsprechende ethische Implikationen zur Folge hat, gerade in Bezug auf die Ausrichtung nach einem wie auch immer gearteten guten Leben. Drittens stellt sich die Frage, wie diese Ursprungsfigur mit der Handlungstheorie von Wittgenstein und Davidson zusammenhängt. Wie ausgeführt wurde, besteht das Bestreben der Handlungstheorie darin zu klären, was Handlungen sind und wie diese erklärt werden können, mit der Idee, das Verhalten von Menschen verständlich zu machen, sowohl was die handelnde Person als auch was das Gegenüber betrifft. Der zentrale Konflikt zwischen den antikausalistischen und kausalistischen Theorien besteht darin, ob und inwiefern Gründe Ursachen sein können. Dieser Konflikt ist ebenfalls für die Ursprungsfigur wichtig. Sofern der Primärgrund der handelnden Person bekannt ist, ist es möglich, mithilfe der kausalistischen Position einen Ursprung zu benennen, hingegen kann aus einer antikausalistischen Perspektive zwar der Grund für etwas angeführt werden, da aber die Ursache auf einem anderen Blatt steht, sind die Voraussetzungen, um den Ursprung zu benennen, deutlich anspruchsvoller. Und je nach Lesart resultieren unterschiedliche ethische Konsequenzen hinsichtlich der Frage nach der persönlichen Verantwortung für eine bestimmte Denk- oder Handlungsweise (somit sind die ethics of writing, die ethics of telling und die ethics of reading betroffen). Was hingegen die beiden Positionen verbindet, ist der Wunsch, einen Ursprung benennen zu wollen. Und davon handeln auch die Erzählungen der Menschen. 5.4 Das vierte Zwischenspiel In dieser Arbeit wurde schon mehrmals aufgezeigt und ausgeführt : Das Leiden stellt eine Bedrohung für das Verstehen dar und somit eine wichtige Quelle für die Verhinderung eines gelungenen Lebens. Die zentrale Herangehensweise für Angehrn, um dieser Bedrohung entgegenzusteuern, besteht im Sinnwillen, denn fehlt der Wille, sich selber verstehen zu wollen, wird es nicht möglich sein, sich einem gelungenen Leben anzunähern. Angehrn ist sich bewusst, dass dieser
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Sinnwille nicht ausreicht, um gegen die Leidensquellen anzugehen, aber an der « Intention dieser Verständigung festzuhalten » sei « die eigentliche Herausforderung an das Selbstsein, der Kern des Humanen in der Existenz »115. Wenn nun dieser Verstehensprozess mithilfe der Sprache artikuliert wird, ist es möglich, sich dem Gegenüber zu zeigen und sich verständlich zu machen (betrifft den Aspekt der Konfiguration). Zudem stellt das autobiographische Erzählen seitens der Produzierenden ein Verstehensangebot dar, das es ermöglicht, im Sinne von Ricœurs Refiguration über den Umweg der vorliegenden Schrift sich selber zum Thema zu machen, zu überprüfen, wie es wäre, diesen oder jenen Weg zu nehmen oder auf neue Themen zu stossen. Entscheidend für das Verständnis seiner selbst, aber auch dessen, was mit dem Gegenüber passiert, ist die Art und Weise, wie das Leiden und vom Leiden erzählt wird, denn wie in diesem Kapitel aufgezeigt wurde, gilt es, verschiedene Aspekte zu berücksichtigen, mit dem Ziel, vor allem mit Blick auf die Produzierenden, ein möglichst autonomes Leben zu führen. Das Normative im autobiographischen Erzählen lässt sich anhand von drei verschiedenen Aspekten reflektieren : Wie wird erzählt (ethics of telling), welche Verantwortung hat die produzierende Seite im Umgang mit dem autobiographischen Material (ethics of writing) und wie sollen die Rezipierenden sich gegenüber dem Erzählten und somit gegenüber dem Produzierenden verhalten (ethics of reading). Im Anschluss an die drei Dimensionen wurden diese in die Konzeption von Ricœur eingebettet, mit der Idee, bei der ausgeführten Komplizenschaft die ethische Dimension einzuführen und das Modell von Phelan auf der anderen Seite entsprechend zu erweitern. Wie genau das Ethische ins autobiographische Erzählen gelangt, wurde anhand der drei Bereiche Leiden, Erzählen und Schreiben, des autobiobiographischen Schemas und der Ursachenforschung ausgeführt. Dabei hängt die Bewertung dieser drei Bereiche von der zugrunde liegenden normativen Ethik ab. Und schliesslich sind es diese drei Bereiche, die darlegen, was die Ethik des autobiographischen Erzählens auszeichnet.
115 Angehrn, Emil : Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. 2010 ; 383.
6. Christine Lavant und das autobiographische Erzählen Bin ich frech ? Schlagen Sie mir ruhig dann und wann mal auf den Schnabel, er verträgt das schon, bloss nie auf das Herz. (Auszug aus einem Brief von Chr. Lavant an Nora Purtscher-Wydenbruck vom 19. April 1951)1
Wie komme ich als Rezipient an einen Menschen heran, der noch lebt ? Und wie sieht es aus bei denjenigen, die gestorben sind ? Bei den Lebenden besteht die Möglichkeit, sich auf allfällige Erinnerungen zu beziehen, ihre Handlungen zu beobachten, ihnen zuzuhören und nachzufragen, um so ihre Gedankengänge zu erfahren ; ebenfalls können wir, sofern vorhanden und für uns einsehbar, ihre Schriften lesen, uns ihre Bilder ansehen, oder wir fragen bei Dritten nach. Bei den gestorbenen Menschen bleiben nur allfällige Erinnerungen, ihre Schriften und Bilder sowie die Aussagen von anderen. Doch auch wenn viel Material zu einer Person vorliegen würde wie bei Th. Bernhard, es ist nicht möglich, ein wie auch immer geartetes ganzheitliches Bild von diesem Menschen zu erlangen. Zwar können auf die bekannten Parameter wie Klasse, Ethnie, Geschlecht etc. zurückgegriffen und in Kombination mit den verschiedenen Lebensbereichen gesetzt werden, doch es bliebe ein unvollständiges Bild. Was es heisst, Chr. Lavant oder Th. Bernhard zu sein, bleibt unerschliessbar. Und doch ist es möglich, sich ihnen anzunähern, nicht nur wegen der vorliegenden Texte und Dokumente von ihnen selbst, sondern auch dank der vorhergehenden theoretischen Ausführungen zum Leiden, zum Erzählen und zum ontologischen Status von autobiographischen Schriften. Dank diesen Ergebnissen wird es möglich sein, die von Chr. Lavant und Th. Bernhard gemachten (Leidens-)Erfahrungen und ihr Umgang damit vor allem philosophisch, literaturwissenschaftlich und historisch einzubetten. Das Ziel dieses und des nächsten Kapitels besteht darin, wesentliche (Leidens-)Aspekte der beiden Leben aufzugreifen und die Auswahl der Schriften zu begründen, welche im Kapitel 8 und 9 im Zusammenhang der ethischen Dimension untersucht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in einem ersten 1 Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894–1959). Mediator Between the English- and German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 388.
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Schritt der Fokus auf Chr. Lavant, im zweiten dann (vgl. Kapitel 7) auf Th. Bernhard gerichtet. Wichtig ist, dass es nun darum geht, das vorliegende Material zu beschreiben, das heisst, es wird versucht, weder zu psychologisieren noch zu pathologisieren.2 Im Folgenden werden zwei längere Zitate von Chr. Lavant, die ihre Herkunft betreffen, ausgeführt. Die Länge der Zitate lässt sich infolge ihrer geringeren Bekanntheit (im Vergleich zu Th. Bernhard) sowie der vielen Querverbindungen zu ihren autobiographischen Schriften begründen. Zudem sind es die beiden einzigen Stellen, in denen die Autorin auf so engem Raum so viel preis von sich gibt und so die Möglichkeit sich bietet, in Kombination mit weiteren Quellen, die enge Verknüpfung von Chr. Lavants Leiden und Schreiben zu untersuchen.3 Die erste Selbstdarstellung schrieb Chr. Lavant für den dänischen Rundfunk (das genaue Datum ist nicht überliefert, wahrscheinlich im Jahr 19544) auf Wunsch des österreichischen Bundespressedienstes (Zitat I) :5 Ich wurde am 4. 7. 1915 geboren. Mein Vater war Bergarbeiter hier in St. Stefan. Meine Mutter hat tagsüber für die Bauern genäht und dann bis spät in die Nacht hinein gestrickt und gelesen. Wir hatten nur eine einzige Stube und ich war das 2 Eine unschöne Art, mit dem autobiographischen Material umzugehen, kann anhand der Studie Bewältigungsversuch. Thomas Bernhards autobiographischen Schriften von Urs Bugmann gezeigt werden. Zum Beispiel kommt er nach der Analyse der Reden von Th. Bernhard zum Schluss : « Wenn Thomas Bernhard in solchen Reden im selben Tone sprach wie seine fiktiven Gestalten, so lag das an der selben [sic !] autistischen Abwehrhaltung, mit der er sich in den monomatischen Kosmos seines fiktionalen Werkes einschloss und mit der er sich gegen jede Gefährdung seines tief verunsicherten Ich zu schützen suchte. » (Bugmann, Urs : Bewältigungsversuch. Thomas Bernhards autobiographischen Schriften. 1981 ; 287). Zwar zitiert er Fachliteratur aus dem Bereich des Autismus, doch reicht dieses Material nicht aus, um zum Urteil zu kommen, Th. Bernhard wolle sich mit einer « autistischen Abwehrhaltung » selber schützen. Da können noch ganz andere Mechanismen eine Rolle spielen, weshalb Bernhard diese Art von Reden schrieb (vgl. dazu zum Beispiel : Fellinger, Raimund : « Antworten sind immer falsch ». Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard. Einführung in die beiden Gespräche « Eine Herausforderung. Monologe auf Mallorca » sowie « Ein Widerspruch : Die Ursache bin ich selbst ». Gespräche mit Krista Fleischmann. 2008 ; 20). 3 Chr. Lavant äussert sich noch an einer dritten Stelle über ihre Biographie, die eine Kurzversion der ersten hier ausgeführten darstellt (vgl. dazu : Steinsiek, Annette und Schneider, Ursula A.: Nachwort. In : Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus von Christine Lavant. 2001 ; 99). 4 Vgl. dazu : Moser, Doris und Hafner, Fabjan : Nachworte. In : « Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte » von Christine Lavant. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2014 ; 651. 5 Die fehlende Interpunktion in den Zitaten wurden nicht ergänzt. Die in den eckigen Klammern gesetzten Ausrufezeichen sind Bemerkungen der Herausgeber, die auf Zweifelsfälle, auf gröbere Abweichungen von der grammatischen Norm sowie auf Fehlschreibungen von Namen hinweisen.
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neunte Kind und von Geburt an schon krank. Bis zum Schulbeginn hat sich mein Leben fast nur in dieser Stube abgespielt und in der zweiten verzauberten Stube die man im Spiegel drin sehen konnte wenn man im Mutter-Bett lag. Diese Verdoppelung und Verzauberung der armen aber inständigen Wirklichkeit ist vielleicht schuld daran, dass ich eine Dichterin wurde. In der Schule war ich immer sehr unglücklich und immer in Angst, dass inzwischen die Mutter daheim gestorben sein könnte. Ich machte die dreiklassige Volksschule in St. Stefan und eine Klasse – die dritte – Hauptschule in Wolfsberg. Aber Vater und Mutter lebten noch bis zu meinem 24. Lebensjahr dann starben sie ganz knapp hintereinander. Ich hatte bis dahin viel gelesen und viel geschrieben. Das Geschrieben [!] war durchwegs Kitsch und Gelesene wohl auch, denn sonst hätte mich der erste Hamsun der zufällig darunter geriet nicht so sehr erstaunen und erschüttern können. Nach dem Tod meiner Eltern musste ich aus der Stube ausziehen in die winzige Dachkammer eines Neubaues. Damit hörte vorläufig auch alle Verzauberung auf. Meine Schreib-Wut hielt ich für eine überstandene Krankheit die ich niemehr in mir aufkommen lassen wollte weil es sich für einen armen Menschen nicht gehört. Bis zu meinem 30. Jahr habe ich dann fast Tag und Nacht für die Bauern gestrickt und dabei gelesen und mir – nach der Art unserer Mutter – nichts anderes gewünscht als, dass ich immer ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen haben möchte. Aber dann wurde mir eines Tages, wider meinen Willen, ein Band Rilke-Gedichte aufgedrängt die ich nur mitnahm um die Bibliothekarin nicht zu kränken. Ich wusste von Rilke gar nichts und Gedichte mochte ich überhaupt nicht lesen weil man dabei nicht stricken kann. Nun – ich habe sie doch gelesen und dann ist es wie ein Wolkenbruch über mich gekommen und ich habe eine Weile fort fast Tag und Nacht nur Gedichte gedichtet. Ein paar davon schickte ich dann der Frau eines Augenarztes der mich als Kind behandelt hatte, sie war nämlich der einzige « gebildete » Mensch den ich kannte. Diese Dame schickte mir eine Schreibmaschine und meine Gedichte an Paula Grogger der [!] Autorin vom « Grimmingtor » deren Verleger gerade aus der russischen Gefangenschaft zurückgekommen war um bei Frau Grogger Zuflucht zu finden und leider auch meine Gedichte. Leider – für ihn ! Denn meine Bücher werden nicht viel gekauft. Auf diese Art also bin ich Schriftstellerin geworden fast über Nacht und ohne es eigentlich bewusst gewollt zu haben. Mein Leben hat sich dadurch nicht viel geändert nur, dass ich vorläufig nimmer stricken muss weil mir das Land Kärnten und der Staat Österreich zusammen allmonatlich eine Förderungsprämie schenken worüber ich sehr froh bin denn das viele Stricken greift einem [!] mit der Zeit sehr an und ausserdem kaufen die Leute alles schon fertig.6
6 Diese Selbstdarstellung wurde im Nachlass der Schauspielerin Maria Crone gefunden (Lavant,
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In einem Brief an Maria Crone vom 14. Mai 1957 greift sie in ihrer Selbstdarstellung etwas weiter aus, indem sie auch die geographische und gesellschaftliche Einbettung thematisiert (Zitat II) : 40
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Wenn ich Ihnen über das Tal erzählen müsste, so würde sicherlich ganz was anderes herauskommen weil ich halt doch ein ziemlich obskures Medium bin. Meine Eltern stammen beide von sehr alten Familien bäurischen Familien [sic] ab. Das Lavanttal war bis vor – verhältnissmässig sehr kurzer Zeit noch ein vollständig von aller Welt abgeschlossener Talkessel was zu sehr vielen Familienheiraten und daher Inzucht führte. Dies ergibt ein sehr sonderbares Schicksalgefüge das für mein Empfinden sehr an nordische Sagas erinnert. Jedenfalls lieferte das Lavanttal bis vor Kurzem wohl noch den grössten Prozentsatz an Irrsinnigen Idioten und Selbstmördern. Meine Kindheit bestand aus lauter Einblicke [!] in solch abgründige zumeist aber mit einem Wirbel von Humor umgebenen [!] Schicksale. Mein Vater Georg Thonhauser (angeblich von einem sehr alten Geschlecht »Dannhäuser » abstammend) war hier in St. Stefan Bergarbeiter. Damals verdienten die Bergarbeiter noch nahezu nichts und galten unter den Bauern als etwas Minderwertiges. Wir waren neun Kinder, d. h. sieben, weil zwei früh gestorben sind. Mutter – auch von einem alten und ganz überzüchteten und verarmten Bauerngeschlecht stammend – musste für die Bauern nähen und stricken. Da wir nur eine einzige Stube hatten und ich immer krank und zu Bett war wickelten sich alle Gespräche vor meinen Ohren ab. Mutter war nämlich für alle anderen eine Art Beichtiger. Das Elend des ganzen Dorfes rann bei ihr zusammen. Aber es wurde, sobald es in unserer Stube sich auslegte irgendwie verwandelt. Ich kann dies schwer erklären. Vielleicht stand Mutter – unbewusst – immerfort auf zwei Ebenen zugleich. Man musste nur ihr Gesicht sehen wenn sich die »Kundschaften » ihrer Tragikkomödien [!] entledigten. Manchmal war ich nämlich neben Mutters Nähmaschine auf Fensterbrett gebettet, weil ich ja skrofulos war und viel Sonne bekommen sollte. Waren wir allein dann sang Mutter meist Kirchenlieder. Ganz alte, ganz seltsame. Dann war ihr zartes abgezehrtes Gesicht in sich verschlossen unter der überhohen Stirne. (Ich habe Mutter nie wirklich essen sehen, sie hat immer nur das für sich behalten was sie von dem Boden der Häfen noch abschaben konnte.) Wenn es klopfte ging meist schon eine schnelle Veränderung in ihrem Gesicht vor. Ihre Augen kamen von innen zurück und wurden wach und tapfer. Mit diesen Augen konnte sie dann alles überstehen. Ehebruch Totschlag Kindsmord Brandstiftung Grenzsteinverschiebungen Christine : « … nur durch Zufall in den Stand einer Dichterin geraten ». In : Sichtungen. Online. Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft. 1999 ; 102f ).
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Gespenstererscheinungen Unglücksfälle Klaghändel Irrsinnsausbrüche, Todfeindschaften. Dies alles wurde immer mit dem Einsatz des ganzen Herzens und der ganzen Fantasie und zumeist unter Verwendung vieler verstümmelter Fremdworte vorgebracht und es wurde immer wieder in allen Abarten geweint und geflucht und geschworen. Mutter nahm das alles hin ohne je mitzuweinen mitzufluchen oder auch nur mitzuschimpfen. In ihren Augen stand dann das innerste Gefüge des Dorfschicksales aber verwandelt von einer strahlenden fast übermütigen Demut. Manchmal rückte sie alle Verzweiflung oder Verwirrung für sich und für die anderen mit dem einfachen Satz zurecht : « Der liebe Gott ist kein Hausstock » (= Idiot, fast in jeder Familie gab es einen oder mehrere davon) « und er wird schon wissen was er tut ».7
Chr. Lavant bringt in diesen beiden Zitaten Themen zur Sprache, die eng mit ihrer Literatur in Verbindung gesetzt werden können. Dabei stehen folgende Themen im Zentrum : die kinderreiche Ursprungsfamilie (Chr. Lavant ist das neunte Kind) ; tiefes soziales Milieu (der Vater war Bergarbeiter, die Mutter Flickschneiderin) ; Ausgrenzung und Einsamkeit ; körperliche und psychische Krankheiten und Leiden ; Armut ; geistig enges Umfeld (religiöse Dogmen und starre moralische Vorstellungen) sowie begrenzter Bewegungsradius. Die physischen Leiden lassen sich auf die Taubheit eines Ohrs, auf die eingeschränkte Sehkraft, auf die Wirbelsäulenverkrümmung, auf die Schlafstörungen sowie auf entstellende Vernarbungen aufgrund von Skrofulose zurückführen. Später kamen verstärkt die psychischen Leiden hinzu, die Chr. Lavant oft in den Briefen erwähnt. Diese Leiden drehen sich um ihre depressiven Zustände, Selbstmordgedanken und um ihre Einsamkeit. Dazwischen gab es immer wieder manische Schreibphasen.8 Der Unterschied der beiden Zitate besteht darin, dass im ersten begründet wird, weshalb sie Dichterin wurde, während im zweiten das soziale Umfeld stärker im Zentrum steht. Um den Grund für das Dichten anzugeben (sie selber schreibt von « vielleicht », Zeile 7), verweist sie auf den Spiegel respektive auf das Spiegelbild in der Stube.9 Genau wie der Spiegel ist auch das Dichten gemäss ihrer Auffassung eine « Verdoppelung und Verzauberung » (Zeile 6 f.) der « armen aber inständigen » (Zeile 7) Wirklichkeit. Dieses Spiegelmotiv kann bei der Beantwortung der Frage, 7 Ebd.; 111f 8 Moser, Doris und Hafner, Fabjan : Nachworte. In : « Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte » von Christine Lavant. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2014 ; 655. 9 Interessant ist, dass auch Danto im Zusammenhang der Literatur sich auf das Spiegelmotiv bezieht (vgl. dazu das Kapitel 2.4.2).
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wie viel autobiographisches Material in ihren Werken vorhanden ist, behilflich sein. Genau diese Verdoppelung der Wirklichkeit und ihre gleichzeitige Verzauberung scheint Chr. Lavants zentrale Herangehensweise an ihren Stoff zu sein. Explizit geht sie im Brief vom 27. März 1962 an den Rechtsanwalt Gerhard Deesen auf diese Technik im Zusammenhang mit der Erzählung Das Krüglein ein : « Das Krüglein sollen sie nicht als Dichtung annehmen, sondern als – mir fällt das Wort nicht ein – damit Sie das Milieu kennen lernen. Ist natürlich verkitscht geschildert, aber im wesentlichen [sic !] ganz wahr … »10. Es findet eine Verdoppelung zwar statt, aber nur als Spiegelbild, das das Gespiegelte immer verzehrt widergibt, je nachdem, wie hineingeblickt wird, und je nach Lichtverhältnissen. Was daraus folgt, ist eben nicht die Widerspiegelung, sondern das Leben wird verzaubert oder, wie Chr. Lavant es nennt, « verkitscht », also, auf die Wortherkunft bezogen, verschmiert dargestellt. Ebenfalls vorstellbar ist eine weitere Erfahrung, die Chr. Lavant in der Kindheit gemacht und sie auf die Literatur übertragen hat. Es geht um die Beschreibung der Mutter als « Beichtiger » (Zeile 57). Die von aussen der Mutter zugetragenen Geschichten, die, wie Chr. Lavant sagt, oftmals von grosser Tragik zeugten, wurden, sobald die Geschichte « in unserer Stube sich auslegte irgendwie verwandelt » (Zeile 59). Diese Transformation stellt eine Verzauberung dar, etwas, was ebenso beim Schreiben erlebt werden kann, da, sobald das Erzählte erzählt ist, eine Entlastung sich einstellt. Wie dieser Prozess zu verstehen ist, kann sich Chr. Lavant nur « schwer erklären » (Zeile 59). Genau dieser Mechanismus lässt sich auch auf ihr Schreiben anwenden. Lavant betont in ihren Briefen, aber auch in der einzigen Fernsehdokumentation aus dem Jahre 1968, die von ihr existiert, immer wieder, dass das Schreiben für sie eine therapeutische Massnahme habe, man könnte sagen, es hat eine kathartische Funktion. Nachdem das Erlebte nach aussen getragen und verschriftlicht wurde, kann sie sich von diesem Stoff etwas distanzieren und gewinnt dadurch wieder ein wenig Selbstkontrolle (die Funktion ihres Schreibens wird in Kapitel 8.1 noch weiter vertieft).11 Mit dem Tod ihrer Eltern, dem Auszug aus der Stube und den aus10 Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 234. 11 Als Beleg für die These der Notwendigkeit und der Wirkung des Schreibens kann ein Zitat aus der erwähnten Fernsehdokumentation erwähnt werden : « Ich habe schon als Kind geschrieben, da ich nicht mit anderen Kindern draussen spielen konnte, war ich auf mich selber zurückgeworfen. » Und kurz darauf sagt sie, es sei die Einsamkeit gewesen, ausgelöst durch ihre Krankheiten, die sie zum Schreiben trieb (Ebner, Jeannie : Fernsehinterview mit Christine Lavant. Ausschnitte davon sind veröffentlicht in der Dokumentation « Zu Gast bei Christine Lavant ». Regie : Karl Stanzl, Buch : Jeannie Ebner. 1968 ; 7.40 min resp. 7.55 min).
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schliesslich durch Strickarbeit verdienten Lebensunterhalt, welcher kaum zum Leben ausreichte, hörte dann die Verzauberung auf und der Schreibgrund schien wegzufallen, wie sie auch in ihrer ersten Selbstdarstellung festhält, indem sie die « Schreib-Wut » eine « überstandene Krankheit » (Zeile 17 f.) hielt. Sie begann erst wieder zu schreiben, als sie sich mit Rilkes Dichtung auseinandersetzte, der bei ihr bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Im zweiten Zitat rückt sie weg von sich, hin zu ihrer nächsten und näheren Umgebung. Sie weist auf den « von aller Welt abgeschlossenen Talkessel » (Zeile 44) hin, wo kaum Austausch möglich ist. Die geographische Lage führt zu Inzucht, Chr. Lavant nennt den hohen Prozentsatz an « Irrsinnigen Idioten und Selbstmördern » (Zeile 47 f.) ; sie geht auf die zentrale Rolle der Mutter in diesem Gefüge ein, hört von den Ehebrüchen, den Totschlägen, den Kindsmördern oder von den Brandstiftungen (Zeile 70). Gerade weil sie ihr Tal aus dieser Perspektive beschreibt, wird es klar, weshalb sie sich selber als ein « obskures Medium » (Zeile 41) versteht, nicht nur der körperlichen Leiden, sondern auch der Umgebung wegen. Sie selber stamme von einem « überzüchteten und verarmten Bauerngeschlecht » (Zeile 54) mütterlicherseits ab ; der Vater genoss als Bergbauarbeiter im Tal geringes Ansehen. Es ist gerade das Kammerspiel im Tal, welche Chr. Lavants vier Erzählungen, die in dieser Arbeit von Relevanz sind, immer wieder thematisieren. Hinzu kommt die erwähnte Rolle der Mutter. Bei ihr fliessen grosse Teile der Geschichten im Tal zusammen. Die Bedeutung der Mutter besteht eben gerade darin, dass sie ihre Rolle auf das Zuhören beschränkte (« Mutter nahm das alles hin ohne je mitzuweinen mitzufluchen oder auch nur mitzuschimpfen », Zeile 75 f.). Diese Fokussierung auf das Zuhören machte sie so bedeutend für das Dorf, sie hat sich nirgends eingemischt, ergriff keine Partei, sondern bezog sich in ihren Urteilen auf Gottes Wege, die schon ihre Richtigkeit hätten (« […] und er wird schon wissen was er tut », Zeile 80 f.). Der Ort des Austausches ermöglichte es für Chr. Lavant, ihre leidensbedingte beschränkte physische Reichweite zu kompensieren, sie brauchte nicht ins Tal zu gehen und die Leute aufzusuchen. Sie kamen zu ihr respektive zur Mutter und erzählten die Geschichten. Der Stoff für ihr literarisches Schaffen wurde frei Haus geliefert. 6.1 Vertiefung der ausgewählten Schriften Cornelia Uhlenhaut schreibt über die Texte von Annemarie Schwarzenbach : « Der stark autobiographische Zug ihres Schreibens, der ihre Texte sowohl im Stoff als auch in der Darstellungsweise prägt, macht den Rückgriff auf die Le-
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bensumstände erforderlich, verführt aber gleichzeitig zur Vereinfachung und Überbewertung des biographischen Aspekts. »12 Diese formulierte Schwierigkeit trifft auch auf Chr. Lavant zu : Es stellt sich die Frage, wie die Verbindung zwischen Leben und Werk, die in Kapitel 4 ausführlich thematisiert wurde, gedacht werden soll, diesmal allerdings nicht mehr im Abstrakten, sondern am konkreten Leben von Chr. Lavant. Inwiefern die Werke von Chr. Lavant autobiographisch gelesen werden können, ist in der Forschungsliteratur umstritten. Auf der einen Seite argumentieren Ursula A. Schneider und Annette Steinsiek dafür, die klare Trennung zwischen der Autorin Chr. Lavant und ihrem Werk beizubehalten (was sie allerdings selber nicht tun, wie später in Kapitel 6.1.1 noch aufgezeigt wird), vor allem dann, wenn es um die Interpretation geht.13 Wie die beiden Autorinnen weiter ausführen, sei es bei Schriftstellerinnen im Generellen nicht angebracht, die Werke in Lebensnähe zu interpretieren, da die Gefahr, auf Stereotypen wie Mangel an Kreativität oder an Originalität zurückzufallen, gross sei. Sie spitzen ihre Aussage noch zu, indem sie von einem « Tabu »14 sprechen, biographische Informationen einer Autobiographie zu entnehmen, auch wenn diese ausdrücklich so genannt sei, denn so würde eine falsche Methode angewendet, um an sogenannte gesicherte Informationen zu kommen, es würde nämlich aus einem literarischen Werk auf die Wirklichkeit geschlossen. Die aus einer autobiographischen Schrift gewonnenen Informationen könnten als Ausgangslage für die Interpretation verwendet werden, mehr nicht (wo genau die Grenze zu liegen kommt, geben die Autorinnen nicht an).15 Hinzu kommt, wie Steinsiek in ihrer Dissertation zu Chr. Lavant festhält, dass es letztendlich nicht möglich sein wird, genau zu überprüfen, was von den privaten Erinnerungen stimmt und was nicht, aber « wer sich die Mühe macht, manchen verkürzt oder unstimmig 12 Uhlenhaut, Cornelia : « ‹Das ist das Geheimnis : ich weiss nicht, was ausserhalb von mir existiert.› Zum autobiographischen Schreiben Annemarie Schwarzenbachs. » In : Geschriebenes Leben. Hrsg. von Michaela Holdenried. 1995 ; 272 13 Die Autorinnen schreiben : « W ie autobiographisch auch immer ein literarischer Text sich gebärdet – seine Interpretation hat nie mit dem Leben der Autorin, des Autors zu tun. » (Schneider, Ursula A. und Steinsiek, Annette : « Werk und Leben : Einheit, Zweiheit, Drittes ? Aspekte zur Biographie von Autorinnen aus dem Geist der Editionsphilologie ». In : Frauenbiographieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte. Hrsg. von Susanne Blumesberger und Ilse Korotin. 2012 ; 554). 14 Schneider, Ursula A. und Steinsiek, Annette : « Werk und Leben : Einheit, Zweiheit, Drittes ? Aspekte zur Biographie von Autorinnen aus dem Geist der Editionsphilologie ». In : Frauenbiographieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte. Hrsg. von Susanne Blumesberger und Ilse Korotin. 2012 ; 559. 15 Ebd.
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wirkenden Ausführungen nachzugehen, wird auf unzählige Ungenauigkeiten und Fehler stossen […] »16. Auf der anderen Seite gibt es Belege von Chr. Lavant selber, die einen expliziten Bezug zwischen Leben und Werk zulassen. So etwa plante die österreichisch-britische Schriftstellerin und Übersetzerin Nora Purtscher-Wydenbruck, die Chr. Lavant 1951 kennenlernte, mit der Einwilligung Chr. Lavants die drei Erzählungen Das Kind, Das Krüglein und Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus auf Englisch unter dem Titel The Unlettered Child. A true Story herauszugeben.17 Ende Januar 1952 lag es druckfertig bereit, erschienen ist es letztendlich doch nicht, zu gering war die Risikobereitschaft, die Werke einer unbekannten österreichischen Autorin in England zu veröffentlichen, und auch der Verleger persönlich wehrte sich dagegen, der Schreibstil von Chr. Lavant sei « not very sympathetic to me »18.19 Hinzu kommen wissenschaftliche Beiträge, die darauf hinweisen, dass Chr. Lavants vier Erzählungen stark autobiographisch sind.20 Wie genau der Bezug zwischen Leben und Werk beschaffen ist, wird in den einzelnen Werken, die im Folgenden im Zentrum der Untersuchung stehen, noch genauer analysiert werden. Sicher ist, Chr. Lavant hat den Begriff autobiographisch nie verwendet.21 Zwar gibt es bei den hier fokussierten vier Erzählungen textexterne Bezüge, die es erlauben, den Handlungsort, die Zeit und die zahlreichen Handlungselemente entsprechend einzugrenzen. Hingegen fehlen Belege, um darlegen zu können, was sich damals genau in diesen Räumen abgespielt hat, seien es Briefe, Notizen oder Tagebucheinträge. Wie damit im weiteren Verlauf umgegangen wird, wird in der Konklusion am Ende dieses Kapitels 16 Steinsiek, Annette : Was kann sein – Überlegungen zum biographischen Umgang mit Christine Lavant. Am Beispiel ‹Ingeborg Teuffenbach : Christine Lavant. Zeugnis einer Freundschaft›. 1998 ; 217. 17 In einem Brief vom 18.11.1951 schreibt Purtscher-Wydenbruck an einen Bekannten von ihr : « … habe inzwischen das Buch der Christine Lavant fertiggemacht, bis auf die Vorrede, für die ich noch auf einige Daten von ihr selbst warte. Die drei Prosastücke ‹Das Krüglein›, ‹Das Kind› und ‹Die (unveröffentlichte) Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus› schliessen sich zu einer erschütternden Autobiographie, und ich will noch einen kleinen Anhang « Gedichte » (wenn möglich zweisprachig) bringen – damit man sieht, dass sie nicht im Irrenhaus geendet hat. » (zit. in Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894–1959). Mediator Between the English- and German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 365). 18 Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894–1959). Mediator Between the English- and German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 366. 19 Ebd.; 365 f. 20 Vgl. dazu : Taferner, Uli : Die vielen Gesichter der Christine Lavant. In : Profile einer Dichterin. Beiträge des II. Internationalen Christine- Lavant-Symposions. Wolfsberg 1998. Hrsg. von Arno Russegger und Johann Strutz. 1999 ; 148. 21 Steinsiek, Annette und Schneider, Ursula A.: Nachwort. In : Christine Lavant. Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. 2008 ; 83.
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erläutert. Bei der Analyse stehen hier die vier Erzählungen Das Kind (1948), Das Wechselbälgchen (1945–1949, veröffentlicht 1998), Das Krüglein (1948) und Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus (1946, veröffentlicht 2001) im Zentrum, vier Erzählungen, bei denen der Zusammenhang zwischen Leben und Werk von Chr. Lavant als ein enges Geflecht beschrieben werden kann. Zudem wird vor allem auf die Briefe, aber auch auf die Lyrik eingegangen. Wenn diese Texte etwas gemeinsam haben, dann liegt es, wie Carola Opitz-Wiemers betont, darin, dass ihre Texte « radikal auf das Leiden der geschundenen Kreatur [verweisen], deren – zumeist weibliche – Körperoberfläche von gewaltvollen Einschreibungen zwar vernarbt, doch jederzeit neuer Verwundung ausgeliefert ist »22. Auch wenn das Leiden ein wesentliches Merkmal von Chr. Lavants Schriften darstellt, gilt es, wie die Rezeptionsgeschichte aufzeigt, diese Fokussierung zu öffnen.23 6.1.1 Die vier autobiographischen Erzählungen
In all den hier zu untersuchenden Prosa-Werken von Chr. Lavant greift sie auf die Kinderjahre zurück. Die Begründung, weshalb Chr. Lavant ganz bewusst diese Jahre thematisiert und indirekt so auch auf den autobiographischen Bezug hinweist, fasst sie im Brief vom 21. März 1951 an Purtscher-Wydenbruck folgendermassen in Worte : Ich tauche so gerne in meine Kindheit zurück immer wieder, in das linde Gefühl des Kleinseins wann sich mir was Grosses Erwachsenes warm wie ein Arm um die Schulter tut. Dann ist die Dankbarkeit ein völlig reingefüllter Kelch ohne jeden Tropfen Bitternis der sich sonst so gern in jeden Dank mischt. […] Sie müssen wissen : Viele 22 Opitz-Wiemers, Carola : Lavant, Christine. In : Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Bernd Lutz und Benedikt Jessing. 2010 ; 487. 23 Diese Engführung auf das Leiden, die gerade bei Chr. Lavant in der Forschung anzutreffen ist, wird immer wieder thematisiert, und es wird versucht, sie zu durchbrechen und auf andere Themen, die ebenfalls in ihrem Schaffen vorliegen, zu verweisen. So etwa haben Klaus Amann, Fabjan Hafner und Doris Moser anlässlich des 100. Geburtstags von Chr. Lavant einen Sammelband herausgegeben, in dem sich die Beiträge von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren explizit vom Leiden abgrenzen (vgl. dazu : Amann, Klaus et al.: Drehe die Herzspindel weiter für mich. Christine Lavant zum 100. 2015). Eine weitere Studie, die sich vom Leiden bei Chr. Lavant distanziert, ist jene von Waltraud Anna Mitgutsch, die auf die Relevanz der Schriften Chr. Lavants für die feministische Literaturwissenschaft hinweist (vgl. dazu : Mitgutsch, Waltraud Anna : Christine Lavant hermetische Bildsprache als Instrument subversiven Denkens. In : Österreichische Dichterinnen. Hrsg. von Elisabeth Reichart. 1993 ; 85–112).
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stossen sich an dem allzu derben und dann wieder sentimentalen Getue der Kinder, aber ich kann ihnen versichern, so und nicht anders ging es bei uns zu. Um auf Ihren schönen Plan zurückzukommen : Den ersten Teil des « dicken » Buches ergäbe das « Krüglein » den zweiten das « Kind » und auch der dritte wäre meines Erachtens schon da, nämlich in den « Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus ». Das Manuss. Befindet sich bei einem Bekannten in Klagenfurt. 24
Eine andere Begründung von Chr. Lavant, weshalb sie den Fokus in ihrer Prosa auf die frühe Kindheit legt, könnte mit der folgenden Aussage zusammenhängen : « Ich spüre in der Dichtung meinen Todfeind, das heisst : jenes Prinzip das mich so vorzeitig alt gemacht hat … Ich muss ganz einsam und einfach zurückleben bis an die ersten Bruchstellen meiner Kindheit. »25 Das heisst, um an die Ursache ihres Leidens zu kommen, ist es für Chr. Lavant zentral, dort zu suchen, wo es seinen Anfang nahm, nämlich in der Kindheit. Nicht nur, wie sich zeigen wird, ist Th. Bernhard von dieser Vorgehensweise überzeugt, sondern ebenfalls Eribon, der diese Methode folgendermassen begründet : Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. Deshalb bedeutet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst.26
Und so erstaunt es nicht, wenn der Fokus sowohl bei Chr. Lavant als auch bei Th. Bernhard in ihren Prosawerken auf die ersten zwei Jahreszehnte zu liegen kommt. I) Das Kind (verfasst 1945 ; veröffentlicht 1948)
In ihrem literarischen Debut Das Kind handelt es sich um eine Erzählung, die in der erlebten Rede aus der Perspektive eines Kindes während mindestens dreier
24 Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Kind » von Klaus Amann. Hrsg. von ebd. 2015 ; 61. 25 Lavant, Christine : Briefe. In : Ensemble 5. Internationales Jahrbuch für Literatur. Hrsg. von Clemens Graf Podewils und Hein Piontek. 1974 ; 132. 26 Eribon, Didier : Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. 2016 ; 12.
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Tage den Alltag in einem Krankenhaus schildert.27 Weil die Mutter kein Geld hat, um ihr Kind zu besuchen, weil die Krankenschwestern sich nur wenig um sie kümmern und weil es auf der Station kaum erfreuliche Begegnungen gibt, ist diese Ich-Erzählerin auf sich alleine gestellt. Gerade aufgrund des jungen Alters ist das Kind ebenso nicht in der Lage, die von aussen aufgenommenen Informationen entsprechend differenziert zu interpretieren, weshalb es auf sein geringes Weltwissen zurückgreifen muss, um sich in dem fremden Klinikalltag zurechtzufinden. So etwa kann sich das Kind, als es hört, dass ein Mädchen sich umgebracht hat und ihre erwachsene Umgebung die Ursache mit einer unglücklichen Liebe verbindet, nicht vorstellen, was das sein soll, eine « unglückliche Liebe ». Es weiss nur, es muss sich um « etwas ganz Grosses, Wunderbares, Trauriges »28 handeln. Das Kind greift auch immer wieder auf mystisches und phantastisches Wissen zurück, um sich Unerklärliches zu erklären. Zudem fehlen Ansprechpersonen, es zieht sich folgerichtig ins Innenleben zurück. Der daraus entstehende Fokus ermöglicht den Lesenden, die inneren Denk- und Empfindungsprozesse der Ich-Erzählerin nachzuvollziehen. Weiter ist die Erzählform assoziativ, eine Aneinanderreihung von Bildern, Empfindungen und Ereignissen spiegelt die noch nicht gefestigte Identität des Kindes wider. Die Erzählung Das Kind und das Autobiographische
Wie Amann in seinem Nachwort festhält, war Chr. Lavant als Kind in der Zeit von 1924 bis 1927 mehrmals in der Klinik. So ist der achtwöchige Aufenthalt in der Augenabteilung des Klagenfurter Krankenhauses im Jahre 1924 sowie der Aufenthalt im Krankenhaus der Stadt Wolfsberg 1927 bezeugt, wo sie an den skrofulösen Ausschlägen behandelt wurde. Amann zeigt am Beispiel einer « Wunderlampe » auf, dass Chr. Lavant die beiden im Krankenhaus gemachten Erfahrungen von 1924 und 1927 überlagert hat, und so kann dieses Beispiel als ein weiterer Beleg dafür gesehen werden, warum es sich bei dieser Schrift um eine handelt, die sich auf autobiographisches Material bezieht.29 Allerdings
27 Das Alter des Kindes kann mithilfe von textexternen Quellen auf zwischen 9–12 Jahre geschätzt werden (vgl. dazu : Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Kind » von Klaus Amann. Hrsg. von ebd. 2015 ; 68–72). 28 Lavant, Christine : Das Kind. In : Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. 2015 ; 28. 29 Vgl. dazu : Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Kind » von Klaus Amann. Hrsg. von ebd. 2015 ; 68–75.
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ist nicht überliefert, welche Begegnungen in welcher Form stattgefunden haben, und so ist nicht klar, ob diese fiktionalisiert sind oder auf Fakten basieren. II) Das Wechselbälgchen (verfasst 1945–1949 ; veröffentlicht 1998)
In dieser Erzählung, die in den 1920/30er Jahren anzusiedeln ist, sich an der Grenze zu Slowenien abspielt und aus einer auktorialen Perspektive erzählt wird, steht die Bauernmagd Wrga und ihre Tochter Zitha, die verräterische Königin, im Zentrum. Wrga ist seit einem Unfall vor Jahren auf einem Auge blind, hat schiefe Zähne und ist bald vierzig Jahre alt. Und trotz ihres Äusseren und trotz des für die damalige Zeit fortgeschrittenen Alters für eine Heirat, hat der Knecht Lenz sie geheiratet, da ein Traum ihn diesen Schritt geheissen hat. Als Dank für diese Heirat befördert ihn der Pfarrer zum Gemeindearbeiter. Obwohl Lenz Zitha nie physische Gewalt antut, trägt er seine Abneigung gegen sie offen zur Schau. Zitha ist sowohl geistig als auch körperlich behindert, sie kann nur zwei Wörter sprechen, verbirgt sich meist hinter dem Ofen, und wenn sie geht, dann auf allen Vieren. Lenz hängt dem Aberglauben nach, das neugeborene Mädchen sei nach der Geburt mit einem verhexten Mädchen vertauscht worden, es sei ein dämonisches Wesen, ein Wechselbalg also. Als dann Zitha wegen eines Unfalles, bei dem sie allerdings ihre Schwester Magdalena rettet, in einem Bach ertrinkt, ist letzten Endes auch die Mutter über den Tod des Wechselbälgchen erleichtert.30 Die Erzählung Das Wechselbälgchen und das Autobiographische
Wie Amann in seinem Nachwort festhält, stehen vor allem drei Bereiche im Zentrum, aus denen Chr. Lavant ihre Erzählung schöpft, nämlich die Zeit- und Sozialgeschichte, autobiographische Elemente und die Volksüberlieferung im Zusammenhang der Sagen über Wechselbälge.31 In der Figur Zitha können alle drei Ebenen nachgezeichnet werden, es sind Ebenen, die Chr. Lavant, wie bereits ausgeführt wurde, gut vertraut sind. Da ist das enge, einfache und hierarchisch organisierte Umfeld, an der Spitze der Pfarrer, der zudem über weltliche Herrschaft verfügt, wie die Beförderung von Lenz aufzeigt. Die Enge des Tals zeigt sich auch in der begrenzten Denk- und Handlungsweise seiner Menschen, wenn 30 Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Wechselbälgchen » von Christine Lavant. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von ebd. 2016 ; 86–88. 31 Ebd.; 86.
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sie das Wesen der Zitha einzuordnen versuchen, indem sie auf die katholische und/oder auf die abergläubische Weltanschauung zurückgreifen. Es gibt ebenso Parallelen, was die Ausgrenzung von Zitha und der Kindheit von Chr. Lavant betrifft, beide weichen sowohl körperlich als auch psychisch von der Norm ab, was ihnen in ihrer Umgebung zum Verhängnis wird. Weiter gibt es Überschneidungen hinsichtlich der Figurengestaltung sowie in Bezug auf den Umgang mit Kindern mit einer Behinderung.32 Zwar führt der Erzähler keine Analyse zum politischen und sozialen Hintergrund der Geschichte aus, aber an der Figur von Zitha lassen sich die ungemeinen Kräfte, die von aussen auf sie einwirken, nachweisen und ihre Mechanismen aufdecken. Gerade im Hinblick auf die eingangs zitierten Selbstbeschreibungen (Zitat I und II) stellen diese autobiographischen Bezüge eine Möglichkeit dar, um zu begründen, weshalb Chr. Lavant die emotionale und lokale Isolierung von Zitha und die Auswirkungen auf ihr Leben so plausibel und eindringlich schildern konnte. III) Das Krüglein (verfasst 1946 ; veröffentlicht 1949)
Was in dieser deutlich längeren Erzählung beschrieben wird, geht insofern über die Perspektive in Das Kind hinaus, als Chr. Lavant hier ein ganzes familiäres System miteinbezieht (also wie in Zitat II). Aus der Multiperspektive wird eine Episode des Krügleins erzählt, welches sich in einem Überlebenskampf befindet, da es körperlich sehr geschwächt ist. Ursprünglich bezog sich der Name Krüglein auf den kleinen Kaplan Krüger, der aber früh verstarb, deshalb nannte der Pfarrer das jüngste Kind der nicht näher beschriebenen Grossfamilie Krüglein, ein kränkliches Wesen, das um sein Überleben kämpft. Das Diminutiv Krüglein kann deshalb als eine Metapher für etwas Zerbrechliches aufgefasst werden, etwas, das besonders vorsichtig behandelt werden muss, damit es nicht zerbricht. Geschildert wird eine Mutter, die versucht, den Alltag so gut es geht, aufrechtzuerhalten. Ausserhalb des engen familiären Systems wird die dem Kind gegenüber gleichgültige Verwandtschaft und Nachbarschaft in verschiedenen mehr oder weniger beiläufigen Tätigkeiten geschildert. Gerade durch die genaue Milieustudie mit den verschiedenen Perspektiven wird ein Einblick in eine raue Umgebung möglich, die geprägt ist von Neid, Eifersucht und von psychischer, physischer und sexueller Gewalt ; und so steht die Geschichte (wie auch Das Wechselbälgchen) in der Tradition der sogenannten Dorfgeschichten, einer typischen Gattung des 32 Steinsiek, Annette und Ursula A. Schneider : Nachwort. In : « Das Wechselbälgchen » von Christine Lavant. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von ebd. 1998 ; 117
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19. Jahrhunderts. Dem dörflichen Milieu ist ebenso die Sprache angepasst, sie ist derb und direkt. Am Ende geht es versöhnlich aus, ja, man kann für lavantsche Verhältnisse von einem Happy End sprechen. Die Erzählung Das Krüglein und das Autobiographische
Ebenfalls in dieser Erzählung kann ein enger Bezug zum Leben von Chr. Lavant nachgewiesen werden, und so ist es möglich, Elemente der Figur des Krügleins mit dem Leben von Chr. Lavant gleichzusetzen. Ein erster Beleg findet sich im bereits zitierten Brief von Chr. Lavant an den Rechtsanwalt Deesen vom 27. März 1962. In diesem Brief schreibt sie : Wir sind nicht lebenstüchtig. Wir hätten nicht zur Welt kommen dürfen. Unsere Mutter hat sich nie sattessen können, hatte nur eine halbe Lunge. Hat 9 Kinder geboren und fast Tag und Nacht gearbeitet und mit übermenschlicher Tapferkeit ihre Angst verborgen. … Und jede Nacht ertrinke ich fast im tiefen schwarzen Wasser … / Das Krüglein sollen sie nicht als Dichtung annehmen, sondern als – mir fällt das Wort nicht ein – damit Sie das Milieu kennen lernen. Ist natürlich verkitscht geschildert, aber im wesentlichen ganz wahr.33
Dass Chr. Lavant das Wort Autobiographie suchte, ist wahrscheinlich ; sie zeigt damit, wie nah das literarische Schaffen an ihr Leben zurückgebunden werden kann. Mehr als zehn Jahre früher schreibt Chr. Lavant im Frühling 1951 an Purtscher-Wydenbruck : « Sie müssen wissen : Viele stossen sich an dem allzu derben und dann wieder sentimentalen Getue der Kinder, aber ich kann Sie versichern, so und nicht anders ging es bei uns zu »34, und weiter hält sie, ebenfalls in einem Brief an Purtscher-Wydenbruck, fest : « Hier macht sich soeben erst die erste Reaktion auf das ‹Krüglein› bemerkbar, die Leute die sich erkennen und getroffen fühlen sind wütend auf mich, fast trau ich mich nimmer auf die Strasse. »35 Als ein weiterer Beleg dient die Anmerkung von Klaus Amann und Brigitte Strasser zum Krüglein. Gemäss ihren Ausführungen stimmen Ge33 Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 234. 34 Lavant, Christine : Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. 2015 ; 759. 35 Das Zitat stammt aus einem Brief von Chr. Lavant an Purtscher-Wydenbruck, datiert auf den 5.6.1951 (zit. in Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894–1959). Mediator Between the English- and German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 390).
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schehen und Figuren « nahezu eins zu eins mit den realen Gegebenheiten in der Familie Thonhauser »36 überein. Als ebenso real können die verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen bezeichnet werden. Aus diesen Gründen stellen der Skandal im Tal und die darauffolgende Kränkung und Verunsicherung von Chr. Lavant nach der Aufdeckung ihres Pseudonyms (vgl. dazu die Einleitung) keine Überraschung dar.37 IV) Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus (verfasst 1946, veröffentlicht 2001)
Obwohl diese Erzählung erst im Jahre 2001 veröffentlicht wurde, war die Existenz des Textes schon länger bekannt. Chr. Lavant erwähnt in einem Briefwechsel vom 16.12.1950 eine Erzählung mit dem Titel Aufzeichnungen.38 Diese Erzählung wurde von der Forscherin Andrea Erhart im Nachlass von Purtscher- Wydenbruck gefunden und knapp dreissig Jahre nach dem Tod von Chr. Lavant veröffentlicht.39 Geschildert wird ein sechswöchiger Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, in die sich die Ich-Erzählerin nach einem Selbstmordversuch einliefern liess. Geprägt ist ihr Klinikalltag von der Schlaflosigkeit und den Begegnungen mit anderen Patientinnen. Da der Aufenthalt der mittellosen Ich-Erzählerin von der Heimatgemeinde bezahlt werden muss, gehört sie in die dritte Klasse. Diese für sie ungünstige Ausgangslage zeigt sich auch im Klinikalltag, da sie zu bestimmten Dienstleistungen keinen Zugang hat und von anderen Mitpatientinnen ausgeschlossen wird. Ähnlich wie in der Erzählung Das Kind werden vor allem die inneren Handlungen erzählt, es werden Beobachtungen und Stimmungen der Ich-Erzählerin nach aussen getragen, weshalb die Lesenden sich gut in ihren Zustand hineinversetzen können. Der psychische Zustand der Ich-Erzählerin entwickelt sich von starken Selbstzweifeln (« Warum könnt ihr mich eigentlich alle nicht leiden ? »40), über Resignation (« Mir wächst leider nichts am Leibe als Armut, ungeschickt getragen, beschämend für
36 Lavant, Christine : Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. 2015 ; 759. 37 Vgl. dazu : ebd.; 759 f. 38 Vgl. dazu : Steinsiek, Annette und Schneider, Ursula A.: Nachwort. In : « Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus » von Christine Lavant. 2001 ; 80. 39 Vgl. dazu Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894–1959). Mediator Between the Englishand German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 345–378. 40 Lavant, Christine : Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. 2001 ; 14.
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mich und andere. »41) bis hin zum erstarkten Ich am Ende der Erzählung, als sie mit klarer Einsicht ihre Situation beschreiben kann (« Sie bringen mich wirklich noch um das letzte Restchen Verstand. »42). Der verbesserte Gesundheitszustand führt auch dazu, dass sie die Klinik nach den sechs Wochen verlassen konnte. Die Erzählung Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus und das Autobiographische
Schneider und Steinsiek weisen in ihrer Untersuchung nach, dass es in der Erzählung Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus zahlreiche Hinweise auf das Leben von Chr. Lavant gebe. So liegt eine Krankenakte vor, die den psychiatrischen Klinikaufenthalt der zwanzigjährigen Chr. Lavant nach einem Suizidversuch belegt. Dieser freiwillige Aufenthalt in der Klagenfurter « Landes-Irrenanstalt » dauerte vom 24. Oktober bis 30. November 1935. Auch was die Charakterisierung der Ich-Erzählerin betrifft, gibt es Übereinstimmungen, etwa den Zigarettenkonsum, die vielen Schwestern, die armen Verhältnisse, aus denen sie stammt und die Tatsache, dass sie oft krank war. Als weiterer Beleg kann das der Mitpatientin Renate vorgetragene Gedicht erwähnt werden, welches von Chr. Lavant selber stammt.43 Nicht überprüfbar sind die Begegnungen mit den anderen Mitpatientinnen und die Diagnose der Krankheit. Aufgrund dieser Belege kommen die Autorinnen Schneider und Steinsiek zum Schluss (und dieser Schluss von ihnen steht in starkem Kontrast zu den Ausführungen, wie das Leben und das Werk von Chr. Lavant gedacht werden soll, wie weiter oben ausgeführt wurde) : Wir möchten so weit gehen zu sagen, dass Christine Lavant in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus von sich schrieb, von ihrer Auseinandersetzung mit der Existenz, mit ihrer eigenen Existenz. Es geht nicht um einen Blick hinter die Kulissen, nicht um den Bericht von ungewöhnlichen Erfahrungen – es geht um eine ganz spezifische Wahrnehmung der Wirklichkeit, um das Sein, um die Möglichkeit der Liebe. Das Schreiben ist ihr Werkzeug des Sehens.44
Ausgehend von diesem Zitat ist auch die Reaktion von Chr. Lavant verständlich : Sie lehnt sich gegen eine Veröffentlichung auf. Im Brief vom 21.02.1958 an Purt41 Ebd.; 35. 42 Ebd.; 65. 43 Steinsiek, Annette und Schneider, Ursula A.: Nachwort. In : « Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus » von Christine Lavant. 2001 ; 88. 44 Ebd.; 89 f.
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scher-Wydenbruck schreibt sie : « Ich habe auf dieser Welt gar nichts mehr als meine Geschwister und diese würden durch die Veröffentlichung der Aufzeichnungen peinlich blossgestellt und ihre Ehen würden auch zerstört werden. »45 Sie hatte, bevor das Pseudonym aufgedeckt wurde, beim Otto Müller Verlag einer Publikation zugestimmt, nun aber, da ihr richtiger Name bekannt wurde, wehrte sie sich gegen eine Veröffentlichung, was zudem auf den Authentizitätsanspruch des Werkes hinweist. Zudem gibt sie sieben Jahre zuvor in einem Brief, ebenfalls an Purtscher-Wydenbruck, den Schlüssel preis, wie die Namen zu übersetzen sind, die sich alle auf reale Personen beziehen : « Lui [Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus], – ist Lina [Krüglein] Betha – ist Nona, Mara – ist Nani » – und « Anus, (Bethas-Nonas-Mann, wollen wir Anton nennen, wie er auch wirklich heisst). »46 6.1.2 Die Briefe
Von Chr. Lavant gibt es weder Tagebücher, Kalender noch dokumentarische Notizen, und so stellen die Briefe praktisch die einzigen persönlichen Zeugnisse von ihr dar.47 Zu dieser Selbstwahrnehmung kommt die Aussenwahrnehmung hinzu, vor allem die Portraits des Malers und Landwirts Werner Berg sowie die Kurzdokumentationen (Zeitungsartikel oder die erwähnte Fernsehsendung). Die Briefe von Chr. Lavant sind verstreut publiziert. Es gibt zudem Briefe, die in Privatbesitz sind und nur vereinzelt veröffentlicht wurden respektive nur einzelnen Forschenden zur Verfügung gestellt werden (etwa die Briefe an Purtscher-Wydenbruck). Das Forschungsinstitut Brenner-Archiv, welches an die Universität Innsbruck angeschlossen ist und an einer Gesamtausgabe zu Chr. Lavant arbeitet, kann noch keinen Zeitpunkt angeben, bis wann die aufwändige Arbeit der Auffindung von Chr. Lavants Briefen und die Klärung der rechtlichen Fragen abgeschlossen ist.48 Das hat zur Folge, dass das hier untersuchte Textkonvolut nicht vollständig ist. Weiter ist nicht klar, wie vollständig die Briefwechsel jeweils erhalten sind, da zum Beispiel die Briefe von Maria Crone bei Chr. Lavant nicht mehr auffindbar sind. Obwohl diese beiden Schwierigkeiten in Bezug auf den Briefwechsel bestehen und somit die Aussagekraft und das Bild von Chr. Lavant auch aus dieser Sicht ein unvollständiges bleibt, kann nicht auf die Briefe 45 Zit. in : ebd.; 93. 46 Zit. in : ebd.; 88. 47 Lavant, Christine : Herz auf dem Sprung. Briefe an Ingeborg Teuffenbach. 1997 ; 193 oder vgl. dazu : Forschungsinstitut Brenner Archiv der Universität Innsbruck : Christine Lavant als Briefschreiberin. 48 Vgl. dazu : Forschungsinstitut Brenner Archiv der Universität Innsbruck : Christine Lavant als Briefschreiberin.
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verzichtet werden. Sie stellen eine wichtige Quelle für die Kontextualisierung der vier Erzählungen dar. Die Briefe sind auch deshalb für die Analyse des autobiographischen Materials von Chr. Lavant so wichtig, weil diese Art des Schreibens für Chr. Lavant nach der produktivsten Zeit in den 40er und 50er Jahren einen Ersatz für ihre Dichtung darstellt, wie der folgende Auszug aus dem Brief an Deesen vom 17. Oktober 1962 belegt : In dem Moment, wo mir ein Gelegenheitsgedicht gelänge, würde ich geheilt sein und mich für wert halten, leben zu dürfen. Muss denn alles ein Gedicht werden ? Wie schön tauchen … Sätze in … Briefen auf, die alles sofort verlebendigen, ohne dass man eigentlich weiss, an welchen Worten das liegt…49
Die Schwierigkeit, die bei den Briefen von Th. Bernhard entsteht, wenn die Frage beantwortet werden soll, ob und inwiefern sie literarisch überhöht seien, das heisst, ob sie nicht doch eher als Literatur als eine authentische Widerspiegelung des Selbst gelesen werden sollen, stellt sich auch bei Chr. Lavant. Bei ihr sind es weniger die Stellen, in denen sie über ihre Leiden schreibt, wo sich diese Frage auftut, sondern vielmehr dort, in denen sie sich nach Nähe zum Gegenüber hinsehnt und hofft, nicht verlassen zu werden. Diese Art des Unterwerfungsgestus kann in anderer Lesart auf eine Form der Empathie verweisen ; oder aber der Gestus ist ein rhetorischer Kniff, indem das Gegenüber provoziert wird, um eine entsprechend wohlwollende Reaktion zu erzeugen.50 Im Gegensatz zu den Erzählungen zeugen die Briefe von einer momentanen Perspektive auf sich selber und auf die Welt. Inhaltlich greift sie ihren Gesundheitszustand auf, wichtige Ereignisse in ihrer unmittelbaren Umgebung, Besuche und Lesungen werden besprochen, oder sie notiert allgemeinmenschliche Bemerkungen über das Leben. Hingegen werden nie politische oder gesellschaftsrelevante Fragen oder Themen behandelt. 49 Lavant, Christine : Briefe. In : Ensemble 5. Internationales Jahrbuch für Literatur. Hrsg. von Clemens Graf Podewils und Hein Piontek. 1974 ; 146 f. 50 Eine Textstelle, die aufzeigt, wie bemüht Chr. Lavant ist, dass dieses Tor zur Aussenwelt sich nicht verschliesst, ist der Brief vom 23.11.1948 an ihre Freundin Ingeborg Teuffenbach, den sie mit den Worten beendet : « Liebe liebe Ingeborg, gelt du wirst mich nie verdammen, denk an meine armen Hände und wie da alles Unheil schon drinnen ist. Denk wie ich dich lieb habe und dass ich dir wenigstens wissentlich nie Ungutes zufügte. Sicher hast auch Du Deine Art zu beten, tue es manchmal für mich. » (Lavant, Christine : Herz auf dem Sprung. Briefe an Ingeborg Teuffenbach. 1997 ; 47). Weitere Textstellen als Beleg für diesen Gestus sind die Folgenden : Lavant, Christine : Herz auf dem Sprung. Briefe an Ingeborg Teuffenbach. 1997 ; 18/27 oder : Von Ficker, Ludwig : Briefwechsel 1940–1967. Hrsg. von Martin Alber et al. 1996 ; 280.
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Schneider und Steinsiek betonen die Spannung, dass Briefe von Autorinnen und Autoren grundsätzlich zum einen « mit hoher Wahrscheinlichkeit »51 literarisch geformt seien und somit auch als Teil des Werks betrachtet werden sollten, und zum anderen, dass sie als Quelle für textexterne Erkenntnisse dienen (wie bereits in diesem Kapitel 6.1 schon mehrmals belegt wurde). Wie diese Spannung aufgelöst werden kann, überhaupt, was mit « literarisch geformt » gemeint ist, thematisieren die Autorinnen nicht. Unbestritten sind die zum Teil subversiven Überhöhungen in Briefen, etwa dann, wie bereits erwähnt, wenn Chr. Lavant sich in das Gegenüber einschmeichelt. Die Briefe sind deshalb in Auseinandersetzung mit Chr. Lavants anderen autobiographischen Schriften relevant, weil sich die thematische Vielfalt, wie eingangs in diesem Kapitel gezeigt, in ihren Werken widerspiegelt. Es kommt zum Ausdruck, wie sie versucht, ihr Leben zu organisieren, angesichts der ständigen Bedrohungen von innen (Krankheit und Einsamkeit) und von aussen (Armut oder der Tod ihres Mannes 1963), und welche Rolle dabei die Kunst spielt. Auch aus diesen Gründen wird im Folgenden auf das Briefmaterial zurückgegriffen. 6.1.3 Die Lyrik
Chr. Lavant hat in ihrem Leben sieben Gedichtbände veröffentlicht. Zu ihrem lyrischen Hauptwerk zählen drei Bände : Die Bettelschale (1956 veröffentlicht), Spindel im Mond (1959) sowie Der Pfauenschrei (1962). Es war auch die Lyrik, für die sie die meisten Preise erhielt, etwa 1954 und 1964 jeweils den Georg Trakel-Preis oder 1970 den Grossen Österreichischen Staatspreis des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst für Literatur.52 Das umfassende lyrische Werk (es handelt sich um knapp 600 publizierte und über 700 posthum veröffentlichte Gedichte)53 von Chr. Lavant umkreist die Spannungen zwischen Gott und Mensch, Natur und Mensch, und vor allem dank der Liebesbeziehung zu Berg (etwa von 1951–1955) wurde ebenso die Beziehung Mensch-Mensch thematisiert. Gerade die zahlreichen Gott-Mensch-Gedichte oder auch nur an Gott ge51 Schneider, Ursula A. und Steinsiek, Annette : « Werk und Leben : Einheit, Zweiheit, Drittes ? Aspekte zur Biographie von Autorinnen aus dem Geist der Editionsphilologie ». In : Frauenbiographieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte. Hrsg. von Susanne Blumesberger und Ilse Korotin. 2012 ; 568. 52 Bachhiesl, Franz und Kienleitner, Erna : Christine Lavant Gesellschaft. Literarische Gesellschaft. Auszeichnungen. 53 Vgl. dazu : Overath, Angelika : Wechselbalg der Poesie. Die unerhörte Dichterin Christine Lavant. 2002 ; 11.
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richteten Gedichte zeugen nicht nur von der Religiosität Chr. Lavants, sondern sie zeigen eine Möglichkeit auf, wie mit der Einsamkeit umgegangen werden kann. Gott bot sich ihr als Gegenüber, als Gesprächspartner, als Ersatz für die fehlende Beziehung in ihrem Alltag, mal in demutsvoller Haltung, mal in blasphemischem Ton. Je später die Gedichte verfasst wurden, desto eigenständiger sind sie in formaler Hinsicht. Vor allem der erste ungedruckte Band Die Nacht an den Tag sowie das Erstlingswerk Die unvollendete Liebe zeugen von einer grossen Anlehnung an die Dichtung Rilkes, mit dem sie sich ab 1945 intensiv auseinandergesetzt hat. Obwohl Chr. Lavant nicht nur christlich-religiöse Lyrik verfasste, wurde sie zeitlebens so gelesen. Es hängt sicher mit dem christlich-konservativen Otto Müller Verlag, aber auch mit der konservativen Umgebung in Kärnten zusammen, dass die zum Teil deutlich erotisch aufgeladene Liebeslyrik im Zusammenhang der Liebesbeziehung mit Berg (und die Schriften entsprechend weit entfernt von Leiden sind) oder auch die blasphemischen Gedichte nicht gedruckt wurden.54 Aus dieser Rezeptionsgeschichte folgt, dass Chr. Lavant bis heute als religiös-christliche Dichterin verstanden wird, auch wenn zum Beispiel Th. Bernhard mit seiner Chr. Lavant-Anthologie bewusst dagegen zu steuern versuchte, indem er auf die negativen Aspekte der von Chr. Lavant thematisierten Beziehung zwischen Mensch und Gott hinweist, indem er in seiner Anmerkung am Ende des Bandes schreibt : « […] die bis zu ihrem Tod weder Ruhe noch Frieden gefunden hat und die in ihrer Existenz durch sich selbst gepeinigt und in ihrem christlich-katholischen Glauben zerstört und verraten war […]. »55 Chr. Lavants poetologisches Verständnis der Lyrik kann zum einen aus Schilderungen des lyrischen Ich abgeleitet werden. So weist das lyrische Ich in dem Gedicht aus dem Nachlass Während ich hier Briefe schreibe56 auf die Verbindung zwischen Kosmos und Ich hin und kommt so auf die Not der Seele zu sprechen. Zum anderen gibt es eine theoretische Schrift mit dem Titel Die Stille als Eingang des Geistigen, die sie 1961 veröffentlichte, in einer Zeit, in der sie bereits schon mehr oder weniger literarisch verstummt war. In dieser kurzen, etwas mehr als drei Seiten umfassenden Schrift setzt sie einen Satz von Novalis an den Anfang : Wo gehen wir hin ? Immer nach Hause. Chr. Lavant hält in dieser poetologischen Reflexion fest, dass es diese mythisch verstandene Stille ist, die 54 Vgl. dazu : Moser, Doris : Nachwort. In : « Gedichte aus dem Nachlass » von Christine Lavant. Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. 2017 ; 607. 55 Lavant, Christine : Gedichte. Hrsg. von Thomas Bernhard. 2011 ; 91. 56 Vgl. dazu : Lavant, Christine : Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. 2017 ; 203.
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es zu erstreben gilt, damit Dichtung entstehen könne, es ist ein Zustand der Ataraxie. Aber dieses Streben ist ein anspruchsvolles Unternehmen, da wir von Masslosigkeit geprägte Wesen sind, welche « nicht der Einfalt fähig und nicht der Weisheit »57. Da die Stille uns nicht zufällt wie das Glück, müssen wir daran arbeiten, es uns aneignen. Dabei helfen uns weder die Sinne (sie setzen uns etwa den hungernden Gefühlen aus) noch die Begierde und die Furcht. Auch der Gleichmut, die Schwermut, die Sanftmut oder die Sehnsucht sind nicht hilfreich, diese Stille zu bewirken. Die Stille ist dort zu finden, « wo wir Erde und Wasser sind, wo die Früchte des Friedens reifen und die Gestirne der Heimkunft sich spiegeln sollen, dort bricht es ein »58, also im Herzen. Diese auf metaphysischen Annahmen basierende Aussage erweitert Chr. Lavant weiter, indem sie einen Vergleich zu Hilfe nimmt und schreibt, wenn jemand in diesem Zustand der Stille sei, könne er wie ein Tänzer sein, der « zwischen allem, was sich dreht – Sonne, Mond, Sterne – ein Stück Kosmos, blindlings in die Ordnung »59 sich empor- und einschwingt. Dabei ist für Chr. Lavant zentral, dass die Dichtung nur als eine Einheit zwischen Dichtung und Leben verstanden werden kann, ganz dem romantischen Ideal verpflichtet, wovon der eingangs vorangestellte Satz von Novalis zeugt. Dank dem Text Die Stille als Eingang des Geistigen wird auch die so oft in ihren Gedichten aufgegriffene Sehnsucht nach der Stille und nach der Einheit zwischen Dichtung und Leben verständlich. Die Lyrik und das Autobiographische
Inwiefern die Lyrik von Chr. Lavant als Autobiographie gelesen werden kann, ist in der Forschung umstritten. Als möglichen Beleg, wie nah ihre Dichtung an ihr Leben zurückgebunden ist, kann auf das folgende Zitat aus einem Brief Ende August 1955 an den Schriftsteller und Verleger Ludwig von Ficker zurückgegriffen werden : Sie wissen es ja – wie mich das immer wieder überkommt als Scham als Angst als Verantwortungsangst – ich fürchte mich vor dem Erscheinen meines Gedichtbandes und möchte es doch bald hinter mich haben. Es wird einen Zustand über mich bringen von dem ich mir noch immer nicht vorstellen kann, dass ich ihn werde ertragen können. 57 Lavant, Christine : Die Stille als Eingang des Geistigen. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 217. 58 Ebd. 59 Ebd.
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[…] Bei den anderen Menschen unter denen ich lebe wird es Peinlichkeiten und bestenfalls Hohn auslösen. Meine Geschwister werden so Mitleid mit mir haben, dass es mich von ihren lieben einfachen Herzen zurückschlagen wird.60
Worin die erwähnte « Peinlichkeit » genau besteht, wenn sie den Gedichtband veröffentlicht, ist nicht klar. Vorstellbar ist, dass ihr Umfeld es nicht nachvollziehen kann, warum eine Frau Gedichte schreibt. Eine andere Lesart wäre eben in der engen Verknüpfung mit ihrem Leben zu suchen, da sie in dieser Textstelle andeutet, mit der Lyrik viel von sich preiszugeben, bis dahin, dass es eben « peinlich » werde. Eine Befürworterin der engen Beziehung zwischen Lyrik und Leben ist Maria-Luise Stainer. Sie nimmt Bezug auf einen Artikel von Dagmar Gehmacher, der anlässlich des 20. Todestages von Chr. Lavant am 5. Juni 1993 in den Salzburger Nachrichten erschienen ist. Gehmacher hält in diesem Artikel fest, die gesamte Lyrik sei Autobiographie (ausser die ‹rilkischen› Gedichte), « eine Art ‹Self-Talk› als konstruktiver Prozess, der über den inneren Monolog hinausgehe »61. Stainer nimmt zu dieser Analyse Stellung, indem sie schreibt : « Dieser Ansicht kann ich grösstenteils zustimmen. »62 Ebenfalls spricht sich Ulrike Vedder für eine enge Verknüpfung zwischen Leben und Werk aus. Vedder betont, die hermetisch wirkenden Gedichte seien « gekennzeichnet durch Intensität und Strenge der Wahrnehmung und der Gestaltung, die wohl auch in Chr. Lavants dauernder Auseinandersetzung mit dem ‹Kerker› des eigenen Körpers gründen »63. Eine weitere Stimme, die die enge Verknüpfung zwischen Leben und Lyrik hervorhebt, ist Opitz-Wiemers. Sie schreibt in ihrem Lexikonartikel zu Chr. Lavant, das in der Lyrik thematisierte Leiden entspränge « direkt und konkret der eigenen physischen und seelischen Versehrtheit »64. Gegen die Verknüpfung Leben und Dichtung stellt sich Sharon M. Bailey in ihrer Studie 60 Von Ficker, Ludwig : Briefwechsel 1940–1967. Hrsg. von Martin Alber et al. 1996 ; 281. 61 Gehmacher, 1993 ; zit.in : Stainer, Maria-Luise : « Das sichtbar und sagbare Reale stimmt nie mit der inneren Wirklichkeit überein. » Zur Metaphorik Christine Lavant im Lichte ihrer Selbstdeutung. In : Profile einer Dichterin. Beiträge des II. Internationalen Christine-Lavant-Symposions. Wolfsberg 1998. Hrsg. von Arno Russegger und Johann Strutz. 1999 ; 169. 62 Ebd. 63 Vedder, Ulrike : Christine Lavant. In : Autorinnen Lexikon. Hrsg. von Ute Hechtfischer et al. 2002 ; 294. 64 Opitz-Wiemers, Carola : Lavant, Christine. In : Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Bernd Lutz und Benedikt Jessing. 2010 ; 486.
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zum Vergleich von Chr. Lavant und Anne Sexton.65 Zwar gebe es sehr wohl autobiographische Bezüge zu ihrer Dichtung, aber das lyrische Ich sei niemals identisch mit der Autorin beziehungsweise dem Autor, es ist « the creative part of the historical lyrical poet who synthesizes his experiences into a poetic world »66. Es zeigt sich hier wieder die Drehtür von Genette, nämlich wie schwierig eine klare Grenzziehung zwischen Leben und Werk ist. Dass ein Zusammenhang zwischen Leben und Werk besteht, bestreitet niemand, worin genau, da gehen die Meinungen auseinander. Auch wenn sich Genettes Tür ebenfalls in der Lyrik immer weiterdreht, greifen die Forschenden trotzdem auf Chr. Lavants Gedichte zurück, wenn sie das Leben der Dichterin erhellen und verstehen wollen. Denn wie Johannes Görbert zurecht darauf hinweist : Wenn in der Lyrik auf autobiographisches Material zurückgegriffen wird, stellt sich die Anforderung, « auf eng begrenztem Raum möglichst konzise, prägnant, pointiert und spektakulär »67 über das Leben Auskunft zu geben. Die lyrische Form erlaubt, die Art, wie über sich selber erzählt werden kann, entscheidend zu erweitern und zu ergänzen, was gerade im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Leidenserfahrung wichtig ist, da, wie bereits festgestellt wurde, die sprachliche Reichweite, um solche menschlichen Zustände zu thematisieren, begrenzt ist. 6.2 Einbettung der autobiographischen Schriften Es ist klar geworden, in den vier Erzählungen muss zwischen der Ich-Erzählerin respektive dem auktorialen Erzähler und dem Leben Chr. Lavants getrennt werden. Aber verständlich ist auch geworden, dass diese Erzählungen als Texte aufzufassen sind, die autobiographisches Material aufgreifen, bei allen Texten besteht ein enger Bezug zum Leben von Chr. Lavant, sei es in der Darstellung des Milieus, der Zeit, des Ortes, der Handlung oder in der Sprache. Dieser enge Bezug scheint auch insofern nicht erstaunlich, als Chr. Lavant kaum Zeit ausserhalb ihres Wohnortes verbrachte und aufgrund ihres Leidens immer schon sehr stark auf sich selber und ihre nähere Umgebung zurückgeworfen war. 65 Bailey, Sharon M : Autobiographical Lyric Poetry : The Confessions of Christine Lavant and Anne Sexton. In : Profile einer Dichterin. Beiträge des II. Internationalen Christine-Lavant-Symposions Wolfsberg 1998. Hrsg. von Arno Russegger und Johann Strutz. 1999 ; 197–214. 66 Ebd.; 202. 67 Görbert, Johannes : Selbsterzählung in Gedichtform. Einige Prolegomena zu Theorie und Praxis autobiographischer Lyrik – mit zwei Beispielanalysen. In : Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Hrsg. von Sonja Arnold et al. 2018 ; 43.
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Das Spiegelmotiv könnte eine Möglichkeit auftun, wie mit der Frage nach dem autobiographischen Gehalt umgegangen werden könnte. Wie ausgeführt wurde, stellt das Spiegelbild zwar eine Verdoppelung dar, die aber gleichzeitig verzaubert wird. Aus dieser Perspektive wird zum einen ein Mechanismus des autobiographischen Erzählens überhaupt offengelegt, es geht eben nicht um die Nachahmung, sondern um ein Nacherzählen, das auch ein Umerzählen sein kann. Die Verzauberung geht bei Chr. Lavant gar so weit, dass sie diese in eine literarische Gattung, nämlich in eine Erzählung oder in ein Gedicht transformiert und sich somit zum einen, was den Authentizitätsanspruch betrifft, entlastet, zum anderen sich ermöglicht, die gattungsinhärenten Freiheiten zu nutzen, um das Material in eine neue Form zu giessen. Die Grenzen des Spiegelmotivs liegen darin, dass es nicht möglich ist, anzugeben, wo genau zwischen einem autobiographischen und einem fiktiven Text unterschieden werden kann. Eine analytische Trennung kann nicht formuliert werden, die Bewegung muss als eine graduelle verstanden werden. Dies bedeutet aber nicht, Chr. Lavant als Vorwand zu nehmen, um (auch) an ihrem Beispiel aufzuzeigen, warum es sinnvoll sei, diese Trennung ganz aufzuheben und das Autobiographische als « L ese- und Verstehensfigur », wie de Man es formuliert (vgl. dazu Kapitel 4.1), zu betrachten. Aufgrund der konkreten Ausführungen zu Chr. Lavant dürfte nun klar geworden sein, dass es weit mehr ist ; Chr. Lavant spielt nicht bloss mit einer Figur zum Vergnügen der Interpreten. Die Parallelen zwischen den vier Erzählungen, der Lyrik und dem Leben von Chr. Lavant sind derart zahlreich und die Absichten des Schreibens so klar von ihr formuliert, dass diese Erzählungen als eine Möglichkeit betrachtet werden sollen, wie das Leben erzählt, wie mit dem Erlebten umgegangen werden kann. Auch zeigt Chr. Lavant die Reichweite ihres Schreibens auf, es ist ihre Strategie, einen Umgang mit dem Leiden zu finden, dem sie ihr Leben lang, fast ununterbrochen, ausgesetzt war. Bei Chr. Lavant steht nicht der Duktus der Rechtfertigung im Zentrum, ein Duktus, welcher oftmals bei Männern vorkommt, wie in Kapitel 4.3 dargelegt wurde, sondern das Schreiben ist Ausdruck einer inneren Notwendigkeit, eine Therapieform, um sich der Vergangenheit sowie der Leiden zu ermächtigen und der Einsamkeit zu entrinnen. Eng damit hängt der zweite Punkt zusammen, der hinsichtlich des autobiographischen Erzählens (insbesondere des weiblichen Erzählens) ausgearbeitet wurde. Diese vier Erzählungen von Chr. Lavant zeugen nämlich nicht von einer beruhigenden Retrospektive auf die vergangene Zeit, sondern es werden die aufwühlenden Ereignisse in ihrer Kindheit geschildert, die alle in dem Sinne fragmentarisch blieben, als sie nicht in eine grössere Sinneinheit eingebettet werden. Schliesslich kann zwar drittens bei Chr. Lavant nicht,
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wie Goodman es formulierte, von einer Briefautobiographie gesprochen werden, doch ihre Briefe haben für Chr. Lavant eine grosse Bedeutung. Sie stellen eine Möglichkeit dar, sich mit Menschen aus den Städten und in anderen Ländern auszutauschen, im Wissen, dass sie als Dichterin verstanden wird. Aufgrund der Enge des Lavanttales und nach dem Skandal, als ihr Pseudonym aufgeflogen war, konnte sie nur mit wenigen wohlwollenden Begegnungen in ihrer nahen Umgebung rechnen. So wurde sie nicht nur körperlich betrachtet eine Aussenseiterin, sondern auch als Dichterin. Milieustudien wie im Wechselbälgchen oder im Krüglein sind in einem Tal wie dem Lavanttal nicht vorgesehen, Frauen nehmen am öffentlichen Leben nicht teil, und Schreiben heisst. Ins öffentliche Leben einzugreifen. Das Briefeschreiben bietet eine Möglichkeit, den engen Rollengrenzen, in denen sich eine Frau zu bewegen hat, zu entfliehen, eine sicher seit dem 18. Jahrhundert bekannte Strategie von Frauen (vgl. dazu Kapitel 4.3).
7. Thomas Bernhard und das autobiographische Erzählen Es ist ein ständiges zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Kopfes Denken und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Hinundhergezogenwerden. (Einleitendes Zitat zur Erzählung Gehen von Thomas Bernhard)1
Im Gegensatz zu Chr. Lavant verfügen wir bei Th. Bernhard über deutlich mehr Material, um sein Schaffen und sein Leben zu untersuchen. Neben autobiographischen Werken, allen voran die fünfbändige autobiographische Schrift (Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte, Ein Kind), können seine Textsammlung Meine Preise, die zahlreichen Interviews, seine Briefe und auch die Filmdokumente genannt werden, welche für die weiterführende Analyse hinzugezogen werden.2 Dazu gibt es Dokumente von Wegbegleitern oder Bekannten, sei es im privaten oder im beruflichen Kontext, die Th. Bernhard über kürzere oder längere Zeit begleitet haben und von ihren Begegnungen mit ihm berichten. Als Beispiel für diese Perspektive können die kürzlich veröffentlichten Briefe von Anneliese Botond genannt werden, die sie als Lektorin, aber auch als Privatperson an Th. Bernhard schrieb.3 Ebenfalls im Buch Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard sind Erinnerungen an ihn nachzulesen. Der Halbbruder Peter Fabjan, Freunde wie Liselotte von Üxküll oder auch professionelle Kontakte wie der spätere Lektor von Th. Bernhard, Raimund Fellinger, kommen zu Wort.4 Erinnerungsgespräche mit dem Schwerpunkt Staats-Theater hat zudem Maria Fialik zusammengetragen5, ein anderes mit dem Titel Thomas Bernhard und die Freunde von einst6. Eine weitere Quelle ist das Tagebuch von Karl Ignaz Hennet1 Bernhard, Thomas : Gehen. 2015 ; 5. 2 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Eine Biografie. 2015 ; 10. 3 Botond, Anneliese : Briefe an Thomas Bernhard. Mit unbekannten Briefen von Thomas Bernhard. 1963–1971. Hrsg. von Raimund Fellinger. 2018. 4 Dreissinger, Sepp : Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Aufgezeichnet von ebd. Fotographien von ebd. und Johann Barth. 2011. 5 Fialik, Maria : Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staats-Theater. 1991. 6 Fialik, Maria : Der Charismatiker. Thomas Bernhard und die Freunde von einst. 1992.
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mair, einem Immobilienkaufmann aus Ohlsdorf. Hennetmair und Th. Bernhard lernten sich am 26.12.1964 anlässlich des Kaufs des Vierkanthofs in Ohlsdorf kennen und schätzen, bis im Jahre 1975 die Freundschaft zerbrach.7 Hennetmair führte vom 1. Januar 1972 bis zum 1. Januar 1973 ein Tagebuch über die zahlreichen Gespräche, Begegnungen und Erlebnisse mit Th. Bernhard.8 All diese textexternen Materialien ermöglichen, die Selbstbeschreibungen von Th. Bernhard besser einzuordnen, auch was seine Leidensquellen betrifft. Zu diesen Quellen kommt die Forschung hinzu, die deutlich weiter fortgeschritten ist als bei Chr. Lavant. So liegt eine vollständige Gesamtausgabe mit Kommentar der Werke Th. Bernhards seit 2015 vor. In der Forschung scheint keine Zeile von Th. Bernhard noch nicht zitiert worden zu sein, sprich die Forschungslage ist nicht mehr zu überblicken, weswegen in den folgenden Ausführungen nur auf einige zentrale Studien eingegangen wird. Die wichtigen bekannten biographischen Eckdaten von Th. Bernhard sind die folgenden : Th. Bernhard wurde am 9. Februar 1931 im niederländischen Heerlen geboren, ein Umstand, den er als bedauernswert erachtet, wie er anlässlich des 50. Geburtstag an Siegfried Unseld schreibt : « Ich bitte Sie, diesen Geburtstag vollkommen zu vergessen. Ich selbst kann diesem bedauerlichen Umstand ja nicht ausweichen, eine Geburt kann man nicht rückgängig machen, aber wahr ist, dass ich viel öfter denke, wenn ich nur nicht geboren wäre !, als das, dass ich lebe. »9 Seinen Vater hat er nie gekannt, mit der Mutter hat sich Th. Bernhard erst ein Jahr vor ihrem Tod ausgesöhnt.10 Vor allem der Grossvater mütterlicherseits (der ebenfalls ein Schriftsteller war) und später Hedwig Stavianicek waren die wichtigsten Bezugspersonen für Th. Bernhard.11 Die kurz aufeinanderfolgenden Tode des Grossvaters (1949) und der Mutter (1950) bedeuten für Th. Bernhard einen grossen Einschnitt in sein Leben. Ein weiterer tiefer Einschnitt für Th. Bernhard ist der Tod von Stavianicek 1984.12 Wie sein Halbbruder und sein Arzt, Peter Fab 7 Hennetmair, Karl Ignaz : Thomas Bernhard – Karl Ignaz Hennetmair. Ein Briefwechsel 1965-1974. Wissenschaftliche Gesamtbetreuung und Kommentar von Peter Bader in Zusammenarbeit mit Karl Ignaz Hennetmair. Hrsg. von Karl Ignaz Hennetmair. 1994 ; 26 f. 8 Hennetmair, Karl Ignaz : Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. 2000. 9 Bernhard, Thomas und Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger et al. 2011 ; 605. 10 Vgl. dazu : Fabjan, Peter : Er hat gesagt : « Meine Krankheit ist die Distanz ». In : Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Aufgezeichnet von Sepp Dreissinger. Fotographien von Sepp Dreissinger und Johann Barth. 2011 ; 375. 11 Ebd.; 368. 12 Th. Bernhard äussert sich im Interview mit Asta Scheib 1986 zu diesem Tod folgendermassen :
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jan, ausführt, war Th. Bernhard bis zu seinem 17. Lebensjahr « im Wesentlichen gesund, aber ab dann sei er, wie er einmal gemeint, ‹kaum mehr einen Tag gesund gewesen› »13. Die Arbeit in einem feuchten Keller während seiner Kaufmannslehre machte seine Atemorgane krank, was sich zu einer schweren Rippenfellentzündung weiterentwickelte.14 Von dieser Erkrankung und den Folgeerkrankungen erholte er sich bis zum Ende des Lebens nicht mehr. Ähnlich scheint auch der Erzähler in Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft von Th. Bernhard selber zu sprechen, wenn er feststellt, er sei « ein routinierter Kranker », der sein « ganzes Leben » mit seinen « mehr oder weniger schweren und schwersten, letzten Endes immer sogenannt unheilbaren Krankheiten zu leben gehabt habe »15. Zu diesen körperlichen Leiden kamen die psychischen hinzu : das Leiden an dem schwierigen Verhältnis zur Mutter, an der Schule und am Erziehungsheim ; das Leiden an den Folgen der fehlenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Nationalsozialismus und des rigid gelebten Katholizismus sowie das Leiden an der Einsamkeit, die vor allem in der Jugend immer wieder zu Suizidgedanken und einmal zu einem Suizidversuch führten.16 Th. Bernhard starb am 12. Februar 1989. Bevor auf die einzelnen hier relevanten Schriften von Th. Bernhard eingegangen wird, gilt es bei seinen (autobiographischen) Schriften einen Aspekt mitzudenken, der für das Verständnis seines Schaffens zu berücksichtigen ist. Es handelt sich um die Art und Weise, wie Th. Bernhard gegenüber der Öffentlichkeit als Autor und mit seinem literarischen Schaffen aufgetreten ist.17 Wie zentral diese Perspektive für das Werk ist, weist Olaf Krämer nach. Er zeigt auf, « Aber es ist, wie gesagt, schwierig, nach 35 Jahren mit einem Menschen plötzlich allein zu sein. Das verstehen nur Leute, die ähnliches erlebt haben. Man ist plötzlich noch hundertmal misstrauischer als vorher. » (Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 138). 13 Fabjan, Peter : Er hat gesagt : « Meine Krankheit ist die Distanz ». In : Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Aufgezeichnet von Sepp Dreissinger. Fotographien von Sepp Dreissinger und Johann Barth. 2011 ; 370. 14 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 97 f. 15 Bernhard, Thomas : Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft. 2015 ; 16. 16 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. 2010 ; 16–22. 17 Eine differenzierte Studie zum Thema Werkpolitik mit Einzelstudien zu F. G. Klopstock, L. Tieck, J. W. von Goethe sowie S. Sand ist jene von Steffen Martus (Martus, Steffen : Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und Georg. 2007). Auch Eakin untersucht die Werkpolitik ausgehend von der Autobiographie The Kiss von Kathryn Harrison. Er zeigt auf, wie relevant diese Perspektive ist (« selling selves »), um die Frage zu klären, weshalb überhaupt solche Bücher geschrieben werden (vgl. dazu : Eakin, John Paul : How Our Lives Become Stories. 1999 ; 142–186).
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dass es wichtig sei, wenn jemand auf dem Künstlermarkt bestehen wolle, nicht nur ein guter Künstler, sondern eine Persönlichkeit zu sein, welche sich von anderen Künstlerinnen und Künstlern unterscheide.18 Th. Bernhard hat nicht für die Schublade geschrieben, er lebte vom Schreiben, er war darauf angewiesen, gelesen zu werden. So erstaunt es auch nicht, wenn der Erfolg sich erst aus dem Echo ergibt. Im Gespräch mit Kurt Hofmann hält er fest : Ich meine, eine Wichtigkeit oder ein Wert entsteht nur dadurch, wie etwas aufgenommen wird. Im Echo. Wenn’s keines hat, hat’s auch keinen Wert. Ihre [Th. Bernhard bezieht sich hier auf den Befrager, MB] Gefühle haben auch keinen Wert, wenn sie in ihnen drinnen bleiben. Und ihr Protest nützt auch nichts, wenn ihn niemand hört, denn dann würden sie selber daran ersticken und daran zugrundegehen.19
Th. Bernhard schaffte es, einen grossen Echoraum zu erzeugen, wobei es nicht immer im Einzelfall klar ist, ob er deshalb gelesen wurde und wird, weil er eine Künstlerpersönlichkeit war, die auch polemisierte und provozierte, oder ob es an der literarischen Qualität der Werke lag und liegt. Über die literarische Qualität seiner Bücher gibt es unterschiedliche Auffassungen, aber sicher ist, dass er in der Nachkriegsliteratur einer der wirkmächtigsten Schriftsteller im deutschsprachigen Raum ist. Diese Wirkmächtigkeit belegen verschiedene Faktoren wie etwa die zahlreichen Preise, u. a. der Büchnerpreis 1970, oder die Aufführungsorte seiner Stücke, u. a. an den Salzburger Festspielen oder am Burgtheater in Wien. Auf die Frage, wie er als Künstler wahrgenommen wurde, hatten seine Werke einen entscheidenden Einfluss. Dieser Einfluss lag vor allem in der Interaktion zwischen Inhalt, Sprache und Form. Wie es noch aufzuzeigen gilt, setzte Th. Bernhard zum Beispiel in Die Ursache. Eine Andeutung den Nationalsozialismus und Katholizismus parallel und polarisierte mit starken Bildern und mit Wiederholungen, Hyperbeln und der Klimax derart, dass der Pfarrer Hans Wesenauer, der von Mai 1945 bis Herbst 1947 das von einem Nationalsozialisten geführte Internat Johannäums übernahm (Th. Bernhard war in dieser Zeit Schüler in diesem Internat), ihn wegen Verleumdung vor Gericht anklagte.20 18 Kramer, Olaf : Wahrheit als Lüge, Lüge als Wahrheit. Thomas Bernhards Autobiographie als rhetorisch-strategisches Konstrukt. In : Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hrsg. von Joachim Knape und Olaf Kramer. 2011 ; 106. 19 Hofmann, Kurt : Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. Mit Photographien von Sepp Dreissinger und Emil Fabjan und einer Vorbemerkung des Verlags. 1988 ; 19 f. 20 Mittermayer, Manfred und Veits-Falk, Sabine : Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Hrsg. von Manfred Mittermayer und Sabine Veits-Falk. 2001 ; 214 f.
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Hinzu kommt, wie Fellinger ausführt, dass der Untertitel Eine Andeutung den aufgeregten Rezipierenden suggeriere, « wieso Bernhard so geworden war, wie er war, und warum er so schrieb, wie er schrieb »21. Somit sind es vor allem die Rezipierenden, wie am Beispiel des Pfarrers nachgewiesen werden kann, welche eine « Vermischung von Realität und Fiktion »22 ermöglichten. Der Band Die Ursache erhielt dadurch einen Authentizitätsstempel, was, neben dem Ärger wegen der Gerichtsverhandlung, auch Neugierde generierte und Werbung machte für das Werk und seinen Autor.23 Wie bewusst Th. Bernhard bei der Vermarktung seiner Werke vorging, weist Kramer, ausgehend von der Studie von Clemens Götze, auch im Roman Holzfällen. Eine Erregung nach, ein weiteres Werk von Th. Bernhard, das Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung wurde.24 Fellinger stellt sich die Frage, ob die Besprechung des Bildbandes über den Bundeskanzler Bruno Kreisky von Th. Bernhard, die am 26. Januar 1986 in profil erschien, deshalb so harsch ausfiel, weil er befürchtete, die Monologe auf Mallorca fänden « nicht genügend Zuschauer »25. Zu dieser Skandalisierung der Werke von Th. Bernhard haben weitere Aspekte beigetragen : Rückzugsort in Ohlsdorf und der damit verbundene antibürgerliche Lebensstil26 oder seine Fernsehauftritte und die zahlreichen Interviews sowie die Preisreden und die Leserbriefe, die die Menschen neugierig auf ihn machten, sie aber auch polarisierten. In den öffentlichen Auftritten war es oftmals nicht möglich, herauszufinden, ob Th. Bernhard als Figur spreche oder ob es sich um den « wirklichen » Th. Bernhard handle. Die Ungewissheit forderte das Publikum von neuem heraus, es schuf neue Neugierde und seine Texte wurden gelesen. 21 Fellinger, Raimund : « Antworten sind immer falsch ». Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard. Einführung in die beiden Gespräche « Eine Herausforderung. Monologe auf Mallorca » sowie « Ein Widerspruch : Die Ursache bin ich selbst ». Gespräche mit Krista Fleischmann. 2008 ; 9. 22 Kramer, Olaf : Wahrheit als Lüge, Lüge als Wahrheit. Thomas Bernhards Autobiographie als rhetorisch-strategisches Konstrukt. In : Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hrsg. von Joachim Knape und Olaf Kramer. 2011 ; 112. 23 Ebd. 24 Ebd. Jeannie Ebner, welche sich ebenfalls im Roman Holzfällen wiederfand, meinte, die gerichtliche Auseinandersetzung um den Roman sei eine « Bombenreklame » gewesen (vgl. dazu : Fialik, Maria : Der Charismatiker. Thomas Bernhard und die Freunde von einst. 1992 ; 13). 25 Fellinger, Raimund : « Antworten sind immer falsch ». Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard. Einführung in die beiden Gespräche « Eine Herausforderung. Monologe auf Mallorca » sowie « Ein Widerspruch : Die Ursache bin ich selbst ». Gespräche mit Krista Fleischmann. 2008 ; 20. 26 Wie auf diesen Ort und auf Th. Bernhards Leben dort reagiert wurde, zeigt ein Artikel aus der Neuen Kronenzeitung vom 27.11.1975 (vgl. dazu : Mittermayer, Manfred und Veits-Falk, Sabine : Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Hrsg. von Manfred Mittermayer und Sabine Veits-Falk. 2001 ; 214).
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Wie wichtig eine solche Strategie für die Generierung von Echo ist, zeigt sich gerade im Vergleich mit Chr. Lavant. Chr. Lavant hatte nur bedingt Interesse an grossem Echo. Manchmal, wie noch in Kapitel 8.1 ausgeführt wird, war es ihr wichtig, dass sie gelesen wurde, vor allem der Kontakte und des Geldes wegen, das die Preise und die verkauften Bücher einbrachte, aber sie hatte Angst vor der Veröffentlichung. Gerade weil sie, wie der grosse Umfang ihres Nachlasses zeigt, vor allem für die Schublade schrieb und kaum öffentlich auftrat, erstaunt es nicht, wenn Th. Bernhard in seiner Anthologie von Christine-Lavant-Gedichten zum Schluss kommt, die Gedichte seien « in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt »27. Und wenn sie doch einmal öffentlich auftrat, dann nur mit anschliessender Ernüchterung, wie Chr. Lavant schreibt : « Von der Kapfenberger Tagung bin ich ganz schwermütig heimgekommen, ich passe nicht unter Menschen. »28 Zwar war auch Chr. Lavant, wie Schneider an einem Zitat von Steinsiek ausführt, am Bild, das die Öffentlichkeit von ihr hatte, beteiligt, indem sie fast ausnahmslos mit Kopftuch und in schwarzer Kleidung auftrat und so auf die Rezipierenden mythisch wirkte.29 Doch entscheidender für das Christine-Lavant-Bild, das nach wie vor bis heute vorherrscht, ist die oben angetönte Rezeption ihrer Werke. Es wird entweder stets ihre arme Herkunft beschrieben oder die aus dem Leiden genährten Texte, oder sie wird auf ihre Christlichkeit reduziert, die über die Fähigkeit einer Seherin verfüge, wie von Ficker u. a. meint, oder, als eine weitere Rezeptionslinie kann jene des « Kräuterweibs » oder die im Zusammenhang der feministischen Neubewertung von weiblichen Autoren genannt werden.30 Im Gegensatz zu Th. Bernhard, der die Rezeption mehrheitlich selbst steuerte, konnte oder wollte Chr. Lavant nur bedingt auf diesen Prozess Einfluss nehmen. Anhand dieses Exkurses zur Werkpolitik wird klar, welchen Einfluss diese Art der Politik auf das literarische Schaffen haben kann, ein Umstand, auf den im Kontext der Wirkmächtigkeit auf die Rezipierenden in Kapitel 5 eingegangen wurde und der im Kapitel 8 und 9 vertieft wird. So ist nachvollziehbar geworden, was es auch heisst, von sich selber zu erzählen : Es gilt, die 27 Lavant, Christine : Gedichte. Hrsg. von Thomas Bernhard. 2011 ; 91. 28 Das Zitat stammt aus einem Brief von Chr. Lavant an Purtscher-Wydenbruck, datiert auf den 5.6.1951 (zit. in Erhart, Andrea : Nora Purtscher-Wydenbruck (1894-1959). Mediator Between the English- and German-speaking Cultures : Rilke, Eliot, Lavant, Braun, Janstein. 1999 ; 390). 29 Vgl. dazu : Schneider, Ursula A.: Christliche Dichterin oder Hexe ? Christine Lavant in der Rezeption. In : Das Geschlecht, das sich (un)eins ist ? Frauenforschung und Geschlechtergeschichte in den Kulturwissenschaften. Hrsg. von Sieglinde Klettenhammer und Elfriede Pöder. Unter Mitarbeit von Astrid Obermosterer. 2000 ; 159. 30 Vgl. dazu : ebd.; 142–155.
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Anderen mit in die Überlegungen miteinzubeziehen. Während bei Chr. Lavant das Schreiben dazu dient, sich mit sich und ihrem Leiden, mit der Einsamkeit auseinanderzusetzen und die Anbindung an ein Du zu ermöglichen, vermag Th. Bernhard ein geschicktes Spiel zwischen Fiktion und faktennaher Erzählung zu treiben, ein Spiel, das mit dem Wunsch nach Fremdanerkennung einhergeht, ein wichtiger Grund, weshalb Menschen von sich selber erzählen (vgl. dazu Kapitel 4.2). 7.1 Vertiefung der ausgewählten Schriften Obwohl es Gedichte von Th. Bernhard gibt, die von einer Reflexion seiner Herkunft zeugen (zum Beispiel Brief an die Mutter oder Elternhaus31), die Erforschung des Selbst intensiviert und systematisiert sich bei Th. Bernhard erst ab 1968, wie in seinem Forum-Beitrag unter dem Titel Unsterblichkeit ist unmöglich. Landschaft der Kindheit nachgewiesen werden kann.32 In diesem Text kommen wesentliche Themen seines Schaffens zur Sprache. Zum einen betont er den grossen, umfassenden Stellenwert des Todes für das zu lebende Leben ; er legt die Wichtigkeit der Rolle der Grosseltern, allen voran jener des Grossvaters, für seine Entwicklung dar ; er zeigt auf, dass er kein Opfer der Umstände ist, weswegen er den Weg nehmen musste, den er einschlug, sondern er betont seine Handlungsfreiheit : « Ich hatte immer die Wahl, alles aus mir zu machen, woraus schliesslich das geworden ist, was ich vorläufig bin. »33 Etwas später versucht er für einen Moment die Reichweite seines Handelns einzuschränken, indem er die Wirkmächtigkeit der Familie betont, doch er beendet den Gedankengang abrupt mit den Worten : « D u bist die Ursache, Landstrich, perverse Daseinsgrundlage ! »34 Was und worin genau die Ursache seiner eigenen Herkunft besteht, ist das Lebensthema von Th. Bernhard, wie Hans Höller, ein Biograph von Th. Bernhard, 31 Bernhard, Thomas : Gesammelte Gedichte. 2017 ; 100 resp. 116. 32 Bernhard, Thomas : Unsterblichkeit ist unmöglich. Landschaft der Kindheit. In : Neues Forum. Internationale Zeitschrift für den Dialog. Hrsg. und redigiert von Günther Nenning und Paul Kruntorad. 1968 ; 95. Das Thema der Selbstdarstellung kann neben der Lyrik auch schon in den Romanen Frost und Das Kalkwerk sowie in der Erzählung Amras nachgewiesen werden (vgl. dazu : Marquardt, Eva : Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. 1990 ; 124). 33 Bernhard, Thomas : Unsterblichkeit ist unmöglich. Landschaft der Kindheit. In : Neues Forum. Internationale Zeitschrift für den Dialog. Hrsg. und redigiert von Günther Nenning und Paul Kruntorad. 1968 ; 95. 34 Ebd.; 96.
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festhält.35 Das Ziel dieser Art der Ursachenforschung, wie Th. Bernhard diese Tätigkeit nennt, besteht darin, den « Ursprung meines Debakels »36 herauszufinden. So gilt es zu erforschen « Wer war meine Mutter ? Wer war mein Vater ? Ich frage, weil ich das alles nicht weiss. Wie oft habe ich gefragt ! »37 Die Erforschung des Selbst und des Gegenübers kann nicht nur in seinen autobiographischen Schriften nachgewiesen werden, sondern auch in den fiktiven Figuren seiner Romane, Erzählungen und Theaterstücke. So ist zum Beispiel der namenlose Ich-Erzähler im Roman Korrektur auf Spurensuche von Roithamer ; er kümmert sich um dessen Nachlass, oder der Bruder und seine Familie sowie die Hausangestellten des toten Professors Josef Schusters im Drama Heldenplatz sind auf der Suche nach den Ursachen für dessen Suizid. Aus dem Text Unsterblichkeit ist unmöglich. Landschaft der Kindheit kann eine weitere Parallele zu seinen späteren Schriften über sich selber herausgearbeitet werden, nämlich hinsichtlich des methodischen Vorgehens. Er greift wie in den literarischen Schriften auf Übertreibungen und Zuspitzungen zurück, lässt Behauptungen ohne (plausible) Begründungen stehen, zum Beispiel dann, wenn er im Forum-Beitrag auf das verbindende Element in seiner Familie hinweist, nämlich auf die « Verachtung »38. Schliesslich ist ein drittes Moment für Th. Bernhards Schaffen wichtig : Er nimmt sich in der Verachtung anderen gegenüber nicht aus, im Kontext seiner Reflexion über die Familie sagt er, « auch ich [bin] erbärmlich »39. Ein einziges Werk von Th. Bernhard steht diametral entgegengesetzt zur Ursachenforschung. Interessanterweise handelt es sich um seinen letzten Roman mit dem Titel Auslöschung. Ein Zerfall. Hier will der Erzähler zwar all seine Erinnerungen zu Papier bringen, allerdings nicht mit dem Ziel, an den Ursprung des Debakels zu gelangen, sondern es geht darum, « auszulöschen versuchen, das mir einfällt, alles, das in dieser Auslöschung. 35 Höller, Hans : Thomas Bernhard. Dargestellt von Hans Höller. 1993 ; 64. Holdenried sieht die Klammer der Werke Th. Bernhards weniger in der Erforschung des Selbst als im Tod : « Lebensthema von den frühen Gedichten bis zu seinen späten Werken war der Tod. » (Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 264). Schmitz hingegen hält fest, dass die Werke Th. Bernhards sich nur um einen Gedanken drehten, nämlich um die « absolute […] Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz in einer restlos sinnentleerten Welt » (Schmitz, Matthias : Bernhard, Thomas. In : Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Bernd Lutz und Benedikt Jessing. 2010 ; 55). 36 Bernhard, Thomas : Unsterblichkeit ist unmöglich. Landschaft der Kindheit. In : Neues Forum. Internationale Zeitschrift für den Dialog. Hrsg. und redigiert von Günther Nenning und Paul Kruntorad. 1968 ; 96. 37 Ebd. 38 Ebd.; 95. 39 Ebd.
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Ein Zerfall niedergeschrieben ist, wird ausgelöscht »40. Es ist eine andere Art, die Vergangenheit zu bewältigen, als in Kapitel 4.2 ausgeführt wurde, denn die Erinnerungen werden nicht aufgeschrieben, um sie zu verarbeiten und zu erhalten, sondern um zu verarbeiten und zu vergessen. Im Zentrum der Analyse hinsichtlich der Frage nach der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens bei Th. Bernhard stehen die fünf Bände Die Ursache (1975), Der Keller (1976), Der Atem (1978), Die Kälte (1981) sowie Ein Kind (1982). Unter anderem diskutiert Maier die Frage, ob auch Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft und Der Untergeher zu diesen Schriften gezählt werden sollten.41 Doch wenn Der Untergeher oder Wittgensteins Neffe zu diesem Textkorpus gerechnet würden, müssten die Romane Holzfällen. Eine Erregung, Die Korrektur oder Frost ebenfalls dazu gezählt werden, weil sich ebenso dort autobiographische Elemente finden lassen. Um der schwierigen Frage nach der Abgrenzung zu entgehen, wird der Fokus auf die genannten fünf Bände gelegt und dort, wo es sinnvoll ist, auf andere autobiographische Materialien wie Briefe, Filmdokumente, Gespräche oder Interviews zurückgegriffen. Während die Filmdokumente, die Gespräche sowie die Interviews in c) ausgeführt werden, wird auf eine separate Darstellung der Briefe Th. Bernhards verzichtet, auch wenn mitunter in diesem und im Kapitel 9 Bezug darauf genommen wird. An dieser Stelle soll in knapper Form auf einen Aspekt hingewiesen werden. Im Gegensatz zu Chr. Lavant dienen die Briefe (ausser jene wenigen an Karl Hennetmair, an Gerhard Fritsch und an Annelise Botond) vor allem der geschäftlichen Korrespondenz, allen voran der Briefwechsel mit Unseld. Auf persönliche Erzählungen verzichtet Th. Bernhard in diesen Briefen, das Leiden und seine Vergangenheit kommen kaum zur Sprache.42 7.1.1 Die Autobiographie
Die erwähnten fünf Bände Th. Bernhards greifen ineinander über, wobei der letzte Band Das Kind an den Anfang zurückgeht und somit inhaltlich an erster 40 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. 2014 ; 542. 41 Maier, Andreas : Rhetorik der Bedeutung. Thomas Bernhard in seiner Prosa. 2015 ; 222. 42 Eine Ausnahme bilden einzelne Briefe an Hennetmair, so etwa jener vom 27.6.1967, in dem Th. Bernhard seine leidensvolle Situation in einem Spital in Wien schildert (vgl. dazu : Hennetmair, Karl Ignaz : Thomas Bernhard – Karl Ignaz Hennetmair. Ein Briefwechsel 1965–1974. Wissenschaftliche Gesamtbetreuung und Kommentar von Peter Bader in Zusammenarbeit mit Karl Ignaz Hennetmair. Hrsg. von Karl Ignaz Hennetmair. 1994 ; 71).
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Stelle steht. Sie sind im Jahre 2004 erstmals unter dem Titel Die Autobiographie erschienen und reflektieren vor allem Th. Bernhards physische und psychische Leiden in der Kindheit und Jugendzeit sowie die « Selbstdurchsetzung eines Ichs gegen eine von Beginn an feindliche Umwelt »43. Eine erste Notiz zu diesem autobiographischen Vorhaben stammt von Unseld. Er hält am 5. Juni 1972 fest : « Aus dieser mündlichen Erzählung entsteht der Plan zu autobiographischen Aufzeichnungen, die zunächst unter dem Titel Erinnern zwischen Th. B. und S. U. besprochen werden. »44 Wie sich mehr als 16 Jahre später zeigen wird, sind es auch diese Bücher, die wesentlich dazu beitragen, weshalb die Beziehung zwischen Th. Bernhard und Unseld ein Ende findet.45 Erster Band : Die Ursache. Eine Andeutung
Der erste Band setzt 1943 ein (Th. Bernhard ist somit 12 Jahre alt) und ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil unter der Überschrift « Grünkranz » (es ist der Name des damaligen Internatsdirektors und Nationalsozialisten) geht es um die Zeit im Internat, um das Geigenspiel, den Krieg, die Suizidgedanken und um die Wechselbeziehung zwischen der Rahmengeschichte und dem Einfluss auf das Individuum. Auch wird bereits in diesem Teil auf die Bedeutung des Grossvaters für die Entwicklung Th. Bernhards hingewiesen. Der zweite Teil mit dem Titel « Onkel Franz » (der Name bezieht sich auf den Pfarrer Franz Wesenauer, der als Nachfolger von Grünkranz das Internat leitete) endet mit dem Entschluss des Erzählers, das Gymnasium zu verlassen und eine Lehrstelle an43 Mittermayer hat bei dieser Aussage die ersten vier Bände im Fokus, doch sie kann auch auf den letzten Band erweitert werden (Mittermayer, Manfred : « … ich hatte immer nur ich werden wollen ». Thomas Bernhards autobiographische Erzählungen. In : Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Hrsg. von Manfred Mittermayer und Sabine Veits-Falk. 2001 ; 16). Honold unterstützt diese Lesart der Verarbeitung von Leidenserfahrungen, indem er festhält, dass im Zentrum der fünf Bände « immer wieder eine grosse Kränkung, die zu Unrecht erlittene Strafe oder Verdächtigung eines Kindes » stehe (vgl. dazu : Honold, Alexander : Bernhards Dämonen. In : Thomas Bernhard – eine Einschärfung. Hrsg. von Joachim Hoell et al. 1998 ; 18). 44 Bernhard, Thomas und Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger et al. 2011 ; 272 f. 45 Der Abbruch der Beziehung ein paar Wochen vor dem Tod von Th. Bernhard hängt mit der Publikation der autobiographischen Schriften im Residenz-Verlag zusammen. Unseld kann nicht nachvollziehen, weshalb Th. Bernhard die Werke nicht auch, wie alle anderen, in seinem Verlag publiziert haben möchte. So schreibt er in seinem letzten Brief vom 24. November 1988 an Th. Bernhard zuletzt : « […] ich kann nicht mehr. » (Bernhard, Thomas und Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger et al. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 2011 ; 805).
Vertiefung der ausgewählten Schriften
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zutreten. Dazwischen werden die Überlebensstrategien Th. Bernhards erwähnt, um in der Stadt und in der Schule überleben zu können, er geht auf die familiäre Situation und auf die Biographie der Grosseltern ein. Im ersten Band Die Ursache zeigt sich den Rezipierenden ein Bild des Erzählers, dessen Umgebung ihn an einer leidensfreien Entwicklung hindert. Die Leidensquellen sind der Krieg und die damit verbundenen Unsicherheiten, dann das Internat und die Schule sowie der noch immer schwelende Nationalsozialismus und, wie Th. Bernhard darlegt, das « Ersatzprogramm » des Katholizismus. Die einzige wirkliche Unterstützung in dieser « feindlichen Umwelt » findet er beim Grossvater und in der Musik, allem voran das Geigenspiel hilft ihm, seine Suizidgedanken nicht umzusetzen. Das von Th. Bernhard beschriebene Ich ist eines, welches in seinem Umfeld nur reagieren, nicht aber agieren kann. Zweiter Band : Der Keller. Eine Entziehung
Der zweite Band schliesst an den ersten mit dem Antritt der Lehre an und endet mit dem Bericht über eine Erkältung sowie, da die Krankheit noch nicht auskuriert ist, über die verfrühte Wiederaufnahme der Arbeit (was zu einer schweren Erkrankung führen wird). Der Titel bezieht sich auf das Ladengeschäft, in dem der Erzähler die Lehre macht. Der Untertitel Eine Entziehung deutet auf die Distanznahme zur Schule hin, das heisst zum vorangegangenen Leben. Bis zur folgenschweren Erkrankung werden die Wiedergeburt dank der Lehre, der damalige Alltag in der gymnasialen Ausbildung, die neue Umgebung in der Berufsschule und die Wohnsituation reflektiert. Die im ersten Band begonnene Ursachenforschung wird im zweiten fortgeführt. Im Vergleich zum ersten nimmt die feindliche Umwelt ab und die freundliche zu. Die veränderte Situation hängt mit der Abkehr von der gymnasialen Bildung und dem Entschluss, eine Kaufmannslehre zu machen, zusammen : Der Lehrmeister Prodlaha führt ihn in das alltägliche Leben ein ; er zeigt dem Lehrling auf, wie Kontakte zu fremden Menschen geknüpft werden können. Der Entschluss, weg von der Schule, hin zur Lehre sei der entscheidende Entschluss gewesen, ohne ihn « hätte [es] wahrscheinlich gar kein späteres Leben »46 geben können. Zudem hält Th. Bernhard fest, dass das aufgenommene Musikstudium in Kombination mit der Tätigkeit als Kaufmann ihn in Gleichgewicht gebracht
46 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 155.
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hätten.47 Die Not, weg von der Schule zu kommen, ist für ihn so gross, dass er nicht anders kann, als sich radikal für sich selber einzusetzen. So sagt er sich in zugespitzter Form, als er auf dem Arbeitsamt ist : « Ich verlasse dieses entsetzliche Gebäude nicht, bevor mir nicht eine Lehrstelle als Überlebensstelle vermittelt ist […]. »48 Auch wenn eine deutliche Entspannung des Leidens eingetreten ist, ganz frei von diesem Zustand ist er nicht. So beschreibt er sein Zuhause als « erbärmlich und hoffnungslos »49, der Ort löst eine Trauer in ihm aus, in diesem Zustand macht er sich auf den Weg zur Arbeit, an einen Ort (nämlich die Lehrstelle), wo er als « Fröhlicher »50 ankommt, an dem die Fröhlichkeit gar « ansteckend »51 ist. Doch auch dieses Exil ist nur von kurzer Dauer ; am Ende des zweiten Bandes erkrankt er ernsthaft. Für die Heilung verbringt er über vier Jahre in Krankenhäusern und Heilanstalten. Dritter Band : Der Atem. Eine Entscheidung
Der dritte Band beginnt mit dem Spitalaufenthalt und endet mit dem Lungensanatorium Grafenhof. Dazwischen geht der Erzähler auf die Rippenfellentzündung sowie auf den Tod des Grossvaters und seine Folgen für ihn ein. Weiter thematisiert er das Lesen als Rettung, untersucht seinen Lebenswillen und greift die Krebsdiagnose der Mutter auf. Der Titel bezieht sich auf ein wesentliches Merkmal des Lebens, nämlich den Atem. Der Erzähler entschliesst sich an einem Wendepunkt weiterzuatmen und somit weiterzuleben. In Der Atem nimmt die Subjektwerdung weiter zu, bis sie dann den Höhepunkt erreicht, als sich der Protagonist in einem Moment, in dem er bereits die letzte Ölung erhalten hat, entscheidet, weiterleben zu wollen.52 Ab diesem Zeitpunkt beginnt er wieder Pläne zu schmieden, denkt an die Musik, richtet somit seinen Fokus nicht auf die Vergangenheit oder auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft. So erstaunt es auch nicht, dass die zahlreichen Suizidgedanken, die 47 Ebd.; 195. 48 Ebd.; 126. 49 Ebd.; 168. 50 Ebd. 51 Ebd.; 159. 52 Wie Abbt ausführt, ist an dieser Stelle interessant festzuhalten, dass der Akt der Selbstbestimmung im Gegensatz zum klassischen Verständnis in der Philosophie hier nicht als ein Prozess des abwägenden Argumentierens und als ein entsprechender Entschluss dargestellt wird, sondern als eine spontane Entscheidung (vgl. dazu : Abbt, Christine : Der wortlose Suizid. Die literarische Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik. 2007 ; 129).
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in Die Ursache thematisiert wurden, kein Thema mehr sind. Als einen wichtigen Verbündeten in diesem Emanzipierungsprozess entdeckt er wieder die Literatur, und er lernt, genau zu beobachten und die entsprechenden Schlüsse daraus zu ziehen. Dieses Ich ist derart gestärkt, dass es sowohl den Tod des Grossvaters als auch die schwere und später tödliche Diagnose der Mutter verkraften kann. Ebenfalls nimmt er den nächsten Rückschritt, was die Heilung der Lunge betrifft, gelassen entgegen, der Erzähler weiss nun, dass er sein Leben selber in der Hand hat, dass er ebenfalls diese Krankheit überstehen wird. Vierter Band : Die Kälte. Eine Isolation
Der vierte Band beginnt mit dem Aufenthalt im Sanatorium und hört mit seiner Entlassung auf. In dieser mehr als ein Jahr umfassenden Zeit, die erzählt wird, geht es um Einsamkeit, um die Konsequenzen der Entscheidung weiterzuleben und um den Alltag im Sanatorium, um Erinnerungen an den Grossvater, um den Verlauf seiner Krankheit sowie um die heilende Kraft der Kunst, vor allem der Musik. Hier erfährt er vom Tod seiner Mutter aus der Zeitung. In diesem Band kommt die Selbstdurchsetzung des Erzählers ins Stocken. Der Auslöser ist die Diagnose seiner Lungentuberkulose sowie der verschlechterte Zustand der Mutter. Er beginnt sein Leiden mit jenem der im Krieg gefallenen Soldaten zu vergleichen, um sich dann kurze Zeit später brüsk davon zu distanzieren, weil er feststellt, dass er gar kein Recht habe, sein Leiden mit dem Leiden von anderen abzuwägen, schon gar nicht mit jenem Leiden, das Menschen während des Zweiten Weltkrieges erlitten haben. Deshalb wendet er sich von der Geschichte ab und fokussiert sich wieder auf sich selber mit dem Ergebnis, dass er « wieder hundertprozentig leben »53 wolle. In dieser Zeit schliesst er Freundschaft mit einem ebenfalls in Grafenhof liegenden Kapellmeister, er träumt von neuem davon, mit der Musik seinen Lebensunterhalt zu verdienen, doch er stellt fest, dass diese Träume und die damit verbundenen Pläne angesichts der Fragilität des Lebens unbedeutend sind ; er sitzt auf einem Baumstumpf, reflektiert sein Leben und zieht Bilanz : « Ü berall hatte ich versagt […]. »54 Er denkt wieder über seine Herkunft nach, über seinen Vater, über die Grosseltern und zieht sich in diese Überlegungen mit ein. Nach neun Monaten Grafenhof wird er entlassen, nur um zwei Tage später mit der Diagnose « offene Tuberkulose » wieder 53 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 325. 54 Ebd.; 347.
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eingewiesen zu werden. Diese erneute Diagnose setzt dem Erzähler schwer zu, sein Lebenswille ist gering, er spürt keine Lust mehr zu lesen und zu schreiben, beginnt jedoch wieder intensiv seine Umgebung zu beobachten. Im Verlaufe der Wochen kommt er langsam zu Kräften, kann im Dorf Spaziergänge machen, erfährt vom Tod seiner Mutter, der ihn nur bedingt trifft. Der Erzähler realisiert, dass er die « Grafenhofener Gesetze »55 brechen muss, die vor allem aus Apathie und Lebensüberdruss bestehen, er beginnt sich für sich selber einzusetzen, sich herauszuarbeiten. Kurz darauf hat er « alles unter Kontrolle »56, setzt sich wieder mit Literatur und Musik auseinander und lernt die Organistin des Dorfes kennen. Schliesslich kann er den Grafenhof verlassen. Doch die körperlichen Beschwerden nehmen wegen eines versäumten Arzttermins von Neuem wieder zu, er müsste wieder in den Grafenhof gehen, was er nicht tut : « Aber ich weigerte mich und fuhr nicht mehr hin. »57 Im 19. Lebensjahr ist er bei sich selber angekommen, was auch den zeitlichen Endpunkt seiner Autobiographie darstellt. Fünfter Band : Ein Kind
Für die These, dass sich der letzte Band Th. Bernhards an die Erzählung Das Kind von Chr. Lavant anlehnt, ist nicht belegt. Sicher ist, der Erzähler blickt zu Beginn dieses Bandes auf ein Ereignis zurück, als er acht Jahre alt war. Dieses Ereignis besteht in der Entwendung eines Fahrrades, mit dem er erstmals alleine eine Strecke zurücklegt. Dank dieser Erfahrung ist er zur Einsicht gekommen, dass er sich « gegen die grössten Hemmnisse und Widerstände »58 durchsetzen könne. Weiter werden Motive aus anderen Bänden aufgegriffen und vertieft, etwa was die Herkunft des Vaters, der Mutter und des Grossvaters betrifft, auch werden seine Geburt, die Umzüge nach und in Österreich, die ersten Schuljahre, der Tod und der Suizid thematisiert. In diesem fünften Band, der, wie erwähnt, aus der zeitlichen Perspektive den ersten Band der Autobiographie darstellt, kann ebenfalls von einer Emanzipation gesprochen werden. Dass die Emanzipation im Zentrum steht, zeigt sich bereits auf den ersten Seiten, in dem der Erzähler die erwähnte erste Radtour schildert, bei der er die Welt (und zwar « von oben ! »59, wie er ausführt) entdeckt. Diese 55 Ebd.; 394. 56 Ebd.; 395. 57 Ebd.; 403. 58 Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 408. 59 Ebd.; 409.
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Selbstdurchsetzung wird mit Reflexionen über die Herkunft des Grossvaters, der Mutter und des Vormundes sowie über seine Geburt und über die verschiedenen Stationen seiner frühen Kindheit unterbrochen. Diese Reflexionen werden einzig deshalb gemacht, weil er seine Herkunft erforschen will, wie vor allem sein « Damals-Heute-Schema »60 belegt. Das bereits im ersten Band Die Ursache erwähnte negative Verhältnis zur Mutter und die Wichtigkeit des Grossvaters werden aufgegriffen, weiter ausgeführt und vertieft. Es ist vor allem das Zusammensein mit dem Grossvater, was ihn am Leben gehalten, ja, gar zum « glücklichste[n[ Mensch[en] »61 gemacht habe. Neben der physischen und psychischen Gewalt, die von der Mutter ausgeht und dem Krieg, kommt die Primarschule als weitere Leidensquelle hinzu. Zu Beginn scheint alles gut zu laufen, er fühlt sich wohl, die Lehrerin schätzt ihn. Doch mit dem Wechsel der Lehrperson verändert sich die Situation grundlegend. Er will sich umbringen, vollzieht einen Suizidversuch, nur die Präsenz des Grossvaters rettet ihn. Die Situation eskaliert derart, dass er in ein Erziehungsheim muss. Aufgrund seiner Bettnässe wird er auch dort zum Aussenseiter. Nach seiner Entlassung und der Wiedereingliederung in die frühere Schule erreicht er, weil er überdurchschnittlich gut rennen kann, in der Hitlerjugend Anerkennung (« Ich war ein Gladiator »62). Der Emanzipierungsprozess findet neben der Fahrraderfahrung zu Beginn des Bandes einen weiteren Höhepunkt, als er im Frühling im Schnee das verlorene Geld vom vergangenen Winter wiederfindet ; denn er findet mit dem Satz « Ich hatte es wieder gefunden, kein anderer »63 nicht nur das Geld im Schnee wieder, sondern auch sich selber. Wenn die Aussage leicht verändert wird, kann diese Umdeutung formuliert werden : « Ich habe mich selber gefunden, kein anderer. » Kurz darauf entscheidet sich der Grossvater, den jungen Th. Bernhard nicht nach Passau an die Handelsakademie, sondern nach Salzburg aufs Gymnasium zu schicken. Der Kreis zum ersten Band Die Ursache schliesst sich.
60 Mit diesem Damals-Heute-Schema soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Th. Bernhard an zahlreichen Stellen auf Ereignisse von damals zurückgreift, um das Heute zu verstehen, zu erklären oder zu rechtfertigen. Auf dieses Schema wird in Kapitel 9.3 weiter eingegangen. 61 Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 453. 62 Ebd.; 501. 63 Ebd.; 504.
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Die Autobiographie und der Bezug zum Autobiographischen
Auf die Frage von Rudolf Bayer, der am 12.09.1975 im ORF Th. Bernhard interviewte, warum es beim ersten Band Die Ursache im Untertitel Eine Andeutung heisse, gibt Th. Bernhard zur Antwort : Eine Andeutung deshalb, weil es nur ein ganz kleiner, ich möchte fast sagen bescheidener Ausschnitt aus diesem Leben ist. Es kann nur angedeutet sein in diesem Umfang. Ich bin aber kein Mann, der ein Memoirenwerk schreibt oder überhaupt lang ins Erzählen kommt. Es kann nur ein ganz kurzer Ausschnitt sein. Und dieser Ausschnitt ist auch wieder eine ganz bestimmte Andeutung, sehr subjektiv, sehr beschränkt auf Fakten, Erinnerungen, Gefühle, Empfindungen dieses Jünglings, der ich damals gewesen bin. Die Zeitspanne ist zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren, die Zeit von ein Jahr vor dem Kriegsende bis ein Jahr nach dem Kriegsende, eine für mich sehr entscheidende Zeit, die entscheidende Zeit, glaube ich, in meiner Jugend. Die Kindheit war abgeschlossen, die Jugend beginnt mit diesem Buch.64
In diesem kurzen Zitat nennt Th. Bernhard drei Dinge, die wichtig sind für das Einordnen der fünf Bände. Der erste Punkt betrifft den subjektiven Charakter von damals, das heisst, er verfolgt nicht den Anspruch, sein Leben aus heutiger Sicht wahrheitsgetreu nachzuerzählen. Allerdings geht er mit diesem Vorhaben sehr frei um, da er (wird anhand von Maier weiter unten ausgeführt) reale Ereignisse fiktionalisiert und so die Ursachenforschung entscheidend beeinflusst. Zweitens, und mit dem ersten Punkt eng in Verbindung stehend, greift er auf « Fakten, Erinnerungen, Gefühle, Empfindungen » zurück, alle vier Zugänge liegen auf derselben Linie ; es ist, wie es sich zeigen wird, nicht abschätzbar, in welchem Verhältnis diese vier Elemente zueinander stehen und wie sie sich abgrenzen lassen. Dieser Umstand ist deshalb nennenswert, weil somit auch nicht klar ist, ob es sich bei einer Aussage um einen Fakt, um eine Erinnerung oder um ein Gefühl handelt, und da bei einem Fakt andere Erwartungen an die epistemische Qualität gefordert werden als bei einem Gefühl, ist es letztendlich auch nicht möglich, Th. Bernhard für die von ihm formulierten Aussagen zu behaften. Schliesslich kann drittens mithilfe dieses Zitats begründet werden, weshalb der Fokus seiner autobiographischen Schriften auf der Jugendzeit liegt, eben, weil es für ihn entscheidende Jahre gewesen sind ; ein Lebensabschnitt, der in 64 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 67.
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eine in vielerlei Hinsicht (sehr) anspruchsvolle Zeit eingebettet war, nämlich im Kontext des Kriegsendes oder in Bezug auf die Frage nach dem Schultyp (weitere Gründe, weshalb die Jugendjahre so wichtig sind, wurden in Kapitel 6.1 bei Chr. Lavant ausgeführt). Warum er die fünf Bände geschrieben habe, hänge auch damit zusammen, dass er eine Richtigstellung schreiben wolle, weil, wie Th. Bernhard mehrmals sagte, die Kritiker und Journalisten, die sich mit seinem Werk auseinandersetzen, Aspekte über ihn sagen, die nicht zuträfen.65 Doch statt der Klärung hat er noch grössere Verwirrung gestiftet, um die Fragen zu beantworten, woher er komme, was ihn antreibe und wie genau nun Leben und Werk zusammenhingen. Gerade bei der letzten Frage lässt er die Rezipierenden im Dunkeln. Wenn er von seinen autobiographischen Schriften schreibt, dann bezeichnet er sie in seinem Briefwechsel mit Unseld als « sogenannte[n] Autobiographie »66, als « meine[r] Biographie »67 oder als « meine biografischen Bücher »68 ; was er genau darunter versteht, führt er allerdings nicht aus. Zudem hat Th. Bernhard den Begriff Autobiographie nie autorisiert.69 Zu dieser begrifflichen Verwirrung kommen seine widersprüchlichen Aussagen. Zum einen hält Th. Bernhard fest, es handle sich beim Band Der Atem um « kein literarisches Buch », weil « es ja keine erfundene Geschichte ist, es ist gar kein Sprachproblem drinnen, für mich. Das ist ein Buch, das einfach aus der Persönlichkeit, aus der Erinnerung sich mehr oder weniger selbst ergeben hat. »70 Somit betont er den Authentizitätsanspruch. Auf der anderen Seite stehen Aussagen wie : « Jeder Satz, den man denkt, den man spricht oder den man aufschreibt, ist zur gleichen Zeit 65 Ebd.; 73 f oder Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 52 f. In einem anderen Kontext, nämlich in einem Interview mit Jean-Louis de Rambures, das am 7. Januar 1983 im Le Monde veröffentlicht wurde, gibt Th. Bernhard auf die Frage, weshalb er die Romane zugunsten der Autobiographie zurückgestellt habe, folgende Antwort : « Ich habe auch nie ein autobiographisches Werk schreiben wollen, ich habe eine echte Abneigung gegen alles, was autobiographisch ist. Tatsache ist, dass ich in einem gewissen Moment meines Lebens Neugier auf meine Kindheit bekam. Ich habe mir gesagt : « Ich habe nicht mehr lange zu leben. Wieso nicht versuchen, mein Leben bis zum Alter von neunzehn aufzuschreiben. Nicht so, wie es in Wirklichkeit war – Objektivität gibt es nicht –, sondern so, wie ich es heute sehe. » (Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 248). 66 Bernhard, Thomas und Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger et al. 2011 ; 543. 67 Ebd.; 777. 68 Ebd.; 802. 69 Huber, Martin und Mittermayer, Manfred : Kommentar. In : Thomas Bernhard. Die Autobiographie. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 570. 70 Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 61.
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wahr, aber auch nicht wahr. »71 Oder in einem Interview, welches von 3Sat am 9. Februar 1994 ausgestrahlt wurde, hält er fest : « Alles ist subjektiv und falsch, natürlich. Das ist ganz klar. Ich habe nie behauptet, dass ich irgendeine Wahrheit oder irgendwas Richtiges gesagt habe. »72 Oder, um noch ein weiteres Beispiel aufzugreifen : In einem Interview mit Die Zeit von 1979, also zu dem Zeitpunkt, als die ersten drei Bände bereits veröffentlicht waren, erwähnt er den erkenntnistheoretischen Gehalt seiner autobiographischen Schriften : Wer weiss, ob das, was ich da geschrieben hab’, überhaupt stimmt ? Ich bin immer wieder selbst überrascht, wie viele Leben man als das eigene ansieht, die zwar alle miteinander Ähnlichkeiten haben, aber eigentlich doch nur Figuren sind, die mit einem selbst genausoviel und sowenig zu tun haben wie irgendwelche andere Leben. Es stimmt ja immer zugleich alles und nichts, so wie ja auch jede Sache gleichzeitig schön und schiach ist, tot und lebendig, geschmackvoll und geschmacklos. Es kommt nur darauf an, wofür man gerade am empfänglichsten ist. Einen grossen Reiz hat praktisch alles. Mein Standpunkt ist die Gleichwertigkeit aller Dinge. Auch der Tod ist für mich nicht aussergewöhnlich. Ich red’ ja über den Tod wie ein anderer über a Semmel.73
Th. Bernhard greift in diesem Interview auf dieselbe Strategie zurück, die in der ganzen Autobiographie nachweisbar ist, nämlich auf die Vermischung von Fiktion und Wahrheit, die so weit geht, bis das Gegenüber nicht mehr weiss, was nun gelten soll. Wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, war auch eine Frage, die die Interviewer von Th. Bernhard umgetrieben hat. So auch Peter Hamm ; als er diese Frage 1977 an Th. Bernhard in dessen Haus in Ohlsdorf richtete, sagte dieser : « Na ja, alles, was da vorkommt, bin doch ich, in irgendeiner Form. Diese ganzen zwanzig Bücher, die jetzt da sind, die bin schon ich. Und ganz stark. Alle. »74 Was genau mit « in irgendeiner Form » gemeint ist, war und ist Anlass für eine rege Publikationstätigkeit für Forschende. Trotz der Fülle an Publikationen bleibt es unklar, was dieses « irgendwie » auszeichnet. Im Folgenden wird auf die
71 Bernhard, Thomas : Thomas Bernhard – Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. 2006 ; 125 f. 72 Fleischmann, Krista : Das war Thomas Bernhard. Fernsehdokumente von 1967-1988. Ausgestrahlt am 9. Februar 1994. Eine Produktion des ORF ; 38.36 min - 38.44 min. Oder vgl. dazu : Moritz, Herbert : Lehrjahre. 1992 ; 16. 73 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 155. 74 Ebd.; 121.
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zentralen Studien knapp eingegangen, um das Angebot der Interpretationsmöglichkeiten abstecken zu können. Wie Martin Huber und Manfred Mittermayer im Kommentar zur Die Autobiographie festhalten, geben die Werke zwar viel über Th. Bernhards Leben preis, allerdings muss jeweils « deren Kunstcharakter » mitbedacht werden.75. Uwe Schütte geht gar so weit, die Selbstdarstellung als eine « Wunschbiografie » zu bezeichnen, bei der versucht werde, die Grenzen zwischen Literatur und Leben aufzuheben, weswegen es nicht erlaubt sei, dieses Material dazu zu verwenden, die Literatur von Th. Bernhard mithilfe des « biografischen Generalschlüssels » zu analysieren.76 Auf der anderen Seite gebe « es kaum einen Autor, dessen Werk so deutlich auf sein Leben bezogen ist und der sich darin so sehr mit sich und seinen Erfahrungen auseinandersetzt »77 wie eben Th. Bernhard. Weiter legt Maier in seiner Untersuchung dar, es sei im Umgang mit den Angaben in den autobiographischen Schriften von Th. Bernhard Vorsicht geboten. Ausgehend von den fünf Bänden Th. Bernhards hat Maier ausführlich textimmanent und textextern den Inhalt überprüft. Auf der textimmanenten Ebene hat er zahlreiche Beispiele gefunden, die widersprüchlich sind.78 Hinzu kommt die sprachliche Ausarbeitung des Materials ; so würden die Verwendung von Hyperbolik, Polaritäten, Anaphern oder Alliterationen dazu führen, dass der Effekt wichtiger ist als die Wahrheit.79 Auf der textexternen Ebene führt er ebenfalls Beispiele auf, die belegen, dass die von Th. Bernhard erzählten Ereignisse so nicht stimmen.80 Die fehlende Wahrheit lässt sich nicht nur in den autobiographischen Schriften 75 Huber, Martin und Mittermayer, Manfred : Kommentar. In : Thomas Bernhard. Die Autobiographie. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 2004 ; 544. 76 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. 2010 ; 54. 77 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Eine Biografie. 2015 ; 12. Ein Beispiel, um darzulegen, wie das Material aus seinem eigenen Leben in sein Werk kommt, kann auf ein Erlebnis von Th. Bernhard auf dem Postamt in Eugendorf zurückgegriffen werden, das Hennetmair in seinem Tagebuch schildert. Th. Bernhard will dort ein wichtiges Telegramm abgeben, der Postmann allerdings weigert sich, weil dieses zu lang sei. Hennetmair versucht auf Th. Bernhard einzuwirken und schlägt ihm vor, nach Salzburg zum Hauptpostamt zu gehen. Schliesslich willigt Th. Bernhard mit den Worten ein : « Ja, du hast recht, sagte Thomas, sofort zum Hauptpostamt ! Aber in meinem nächsten Roman Korrektur wird das alles hineinkommen. » (Hennetmair, Karl Ignaz : Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. 2000 ; 319). 78 So führt Maier aus, welche Eingriffe in die Situation im Grafenhof nötig waren, um begründen zu können, weshalb er weiterleben möchte, indem etwa ein Leichnam und das Sterbezimmer entsprechend arrangiert werden (Maier, Andreas : Rhetorik der Bedeutung. Thomas Bernhard in seiner Prosa. 2015 ; 278 f ). 79 Vgl. dazu : ebd.; 326. 80 Wie Maier u. a. nachweist, hat Th. Bernhard das Gymnasium nicht freiwillig verlassen (ebd.; 364).
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nachweisen, sondern auch in seinen Interview-Aussagen. So behauptete er in einem Interview 1984 mit Krista Fleischmann, er habe nie Subventionen für sein Schaffen gekriegt, was, wie Fialik nachwies, nicht stimmt, denn er wurde sehr wohl auch vom Staat unterstützt.81 Aufgrund der Schwierigkeit des Nicht-genau-festlegen-Könnens kommt Eva Marquardt nach mehr als zwanzig Jahren nach ihrer ersten ausführlichen Studie zu Th. Bernhards autobiographischen Schriften zum Schluss : « Auch nach Kenntnisnahme zahlreicher neuer biographischer Informationen bleibe ich bei meiner früher entwickelten These, nach der das Tatsächliche und das Erfundene ununterscheidbar sind. »82 Wie genau die Form der fünf Bände bezeichnet werden soll, gibt es verschiedene Vorschläge. So spricht Unseld von « autobiographischen Aufzeichnungen »83, oder von « autobiographische[n] Erzählungen »84 (die zweite Möglichkeit von Unseld schlägt auch Mittermayer vor85). Einen ähnlichen Begriff verwendet ebenso Alexander Honold, wenn er von « autobiographisch grundierte[r] Erzählung »86 schreibt. Höller greift zwar ebenfalls auf den Begriff « autobiographische Erzählung » zurück, doch er hält fest, die Erzählungen Th. Bernhards « sind fiktionale Texte »87. Th. Bernhard, wie Schmidt-Dengler ausführt, zwingt die Forschung, weil er auf « anbiedernde Authentizitätsbeteuerungen verzichtet und der Glaubwürdigkeit der Aussagen geradezu entgegenarbeitet »88, den Begriff der Autobiographie 81 Fialik, Maria : Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staats-Theater. 1991 ; 12 f. 82 Marquardt, Eva : ‹Ist es ein Roman ? – Ist es eine Autobiographie ?› – « Erfinden » und « Erinnern » in den autobiographischen Büchern Thomas Bernhards. In : Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hrsg. von Joachim Knape und Olaf Kramer. 2011 ; 131. 83 Bernhard, Thomas und Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger et al. 2011 ; 274. 84 Ebd.; 687. 85 Neben « autobiographische Erzählung » nennt Mittermayer die Bände auch ein « autobiographisches Projekt » (vgl. dazu : Mittermayer, Manfred : « … ich hatte immer nur ich werden wollen ». Thomas Bernhards autobiographische Erzählungen. In : Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Hrsg. von Manfred Mittermayer und Sabine Veits-Falk. 2001 ; 14). 86 Honold, Alexander : Bernhards Dämonen. In : Thomas Bernhard – eine Einschärfung. Hrsg. von Joachim Hoell et al. 1998 ; 18. 87 Höller, Hans : Thomas Bernhard. Dargestellt von Hans Höller. 1993 ; 102. 88 Schmidt-Dengler, Wendelin : « Auf dem Boden der Sicherheit und Gleichgültigkeit ». Zu Thomas Bernhards Autobiographie ‹Der Keller’. In : Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Hrsg. von Klaus Amann und Karl Wagner. 1998 ; 237. SchmidtDengler formuliert den Zusammenhang zwischen Leben und Werk in einem Gespräch mit Fleischmann folgendermassen : « Sein Leben ist sein Werk, und sein Werk ist sein Leben. Manchmal sind Masken eingeführt in seiner Prosa, aber die sind ja fast transparent. Man kann leicht, wenn man das Leben kennt, durch diese Masken durchsehen und kann ihn selber erkennen. Wenn
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neu auszurichten. Somit zeigt sich wie bei Chr. Lavant wieder, wie schwierig es ist, eine Abgrenzung zwischen rein fiktiven Werken und Autobiographien zu machen. Schliesslich stellt die Konklusion von Mittermayer nur bedingt eine Lösung dar, wie mit dieser Ambivalenz umzugehen ist : « Bernhards Literatur ist ohne Bezugnahme auf die Biographie nicht zu verstehen – Bernhards Literatur jedoch aus seiner Biographie nicht zu erklären. »89 Es handelt sich deshalb nur um eine bedingte Lösung, weil eben in der Konkretion nicht angegeben werden kann, wo die Grenzen zwischen Leben und Werk, zwischen Wahrheit und Fiktion liegen. Schütte betont zwar, dass mithilfe der autobiographischen Schriften von Th. Bernhard und dem neugewonnenen Wissen, wie viel « Künstlichkeit » in ihnen steckt, die Spannung besser nachvollzogen werden können, in der diese Literatur entstanden ist.90 Doch auch wenn diese deutlich abgeschwächte Lesart nachvollziehbar ist, als Rezipient möchte ich doch gerne wissen, wenn vordergründig ein Authentizitätsanspruch besteht und wo genau die Künstlichkeit beginnt. Denn ansonsten würde das Etikett « Roman » auch ausreichen. So bleibt die Faktenlage letztlich eine offene Frage. Welche Konsequenzen, vor allem aus ethischer Sicht, daraus folgen, das wird der Gegenstand des Kapitels 9 sein. 7.1.2 Die Lyrik sowie der Bezug zum Autobiographischen
Ebenfalls im Kapitel 9 wird auf die Lyrik Th. Bernhards Bezug genommen. Wie bereits ausgeführt wurde, fängt die Selbstreflexion Th. Bernhards nicht erst mit dem Text Unsterblichkeit ist unmöglich von 1968 an, sondern es gibt bereits Spuren in seiner Lyrik. Seine erste Buchveröffentlichung ist der Lyrikband Band Auf der Erde und in der Hölle von 1957. Zwar wird ebenfalls in dieser Arbeit die Forderung von Peter von Matt nicht eingelöst : « Den autobiographischen Büchern Thomas Th. Bernhards haben sich Kritik und Forschung mit ausschweifender Hingabe gewidmet. Der Lyriker blieb ungehört. Es wäre an der Zeit, dem Klang dieser Stimme das Echo zu verschaffen, das sie verdient. »91 Es sollen zumindest es Orte sind oder andere Personen, die auftauchen, ist es manchmal so, dass die Erfahrungen von zwei oder drei Orten in einem zusammengefasst sind. Zwei oder drei Menschen sind in einer Figur zusammengefasst. Aber er war kein Phantast und er war kein grosser Erfinder. » (Fleischmann, Krista : Thomas Bernhard – Eine Erinnerung. Interviews zur Person. 1992 ; 15 f ). 89 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Eine Biografie. 2015 ; 13. 90 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. 2010 ; 54 f. 91 Von Matt, Peter : Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. 2005 ; 276. Dass die Lyrik von Th. Bernhard zu wenig Aufmerksamkeit erhält, betont auch Bozzi (vgl. dazu : Bozzi, Paola : Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. 1996 ; 12).
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hier einzelne Gedichte aufgegriffen werden, auch wenn nicht in derselben Ausführlichkeit wie bei Chr. Lavant. Weshalb der Fokus bei Th. Bernhard stärker auf der Prosa liegt, hängt nicht mit dem in Die Kälte ausgeführten hohen Stellenwert der Lyrik zusammen : Ich schrieb und schrieb, ich weiss nicht mehr, Hunderte, Aberhunderte Gedichte, ich existierte nur, wenn ich schrieb, mein Grossvater, der Dichter, war tot, jetzt durfte ich schreiben, jetzt hatte ich die Möglichkeit, selbst zu dichten, jetzt getraute ich mich, jetzt hatte ich dieses Mittel zum Zweck, in das ich mich mit allen meinen Kräften hineinstürzte, ich missbrauchte die ganze Welt, indem ich sie zu Gedichten machte, auch wenn diese Gedichte wertlos waren, sie bedeuten mir alles, nichts bedeutete mir mehr auf der Welt, ich hatte nichts mehr, nur die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben.92
Der Grund hängt zum einen damit zusammen, dass Th. Bernhard später selber Distanz zu seinen Gedichten nahm, zum anderen schreibt er nur zu Beginn seines literarischen Schaffens solche Texte. Bei Chr. Lavant hingegen, gerade auch gemessen am Umfang ihres Werkes, ist die Lyrik der Prosa ebenbürtig, wenn sie nicht gar im Zentrum ihres Schaffens steht. Wie eng der Zusammenhang zwischen dem lyrischen Ich und dem Leben von Th. Bernhard ist, kann nicht abschliessend beurteilt werden. Obwohl Paola Bozzi festhält, die Lyrik von Th. Bernhard stehe « unverkennbar unter dem Vorzeichen bedrückender Ereignisse », und wie sie anhand der Studien von Helmut Gross sowie von Michael Töteberg darlegt, es sei möglich, ja, gar notwendig, das biographische Material beizuziehen, um die Lyrik von Th. Bernhard zu verstehen, wird doch wegen der beiden genannten Gründe im Zusammenhang der Werkentwicklung nur am Rande Bezug auf die Lyrik genommen.93 Schliesslich soll auf den Zusammenhang zwischen Lyrik und Leiden hingewiesen werden, der in der Forschung unterschiedlich interpretiert wird und aufzeigt, wie wichtig es ist, die Verengung auf eine Lesart immer wieder kritisch zu reflektieren. Auf der einen Seite steht Bozzi, die dafür argumentiert, dass « nahezu alle Gedichte […] Leiden, Schmerz, Qual, Angst oder Zorn »94 zum Ausdruck bringen, während von Matt im Vergleich zu den epischen und dramatischen Texten, die später folgen werden, festhält, die 92 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 331 93 Bozzi, Paola : Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. 1997 ; 23 f. Ebenfalls legt Höller dar, inwiefern die eigene Kindheitserfahrung Th. Bernhards in die Lyrik hineinfloss (Höller, Hans : Thomas Bernhard. Dargestellt von Hans Höller. 1993 ; 62–67). 94 Bozzi, Paola : Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. 1997 ; 23.
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Gedichte von Th. Bernhard wüssten « noch von beidem : von Paradies und Glück und wohligen Tagen und von der gänzlich verkohlten Welt »95 zu erzählen. 7.1.3 Interview, Gespräche und Filmdokumente sowie der Bezug zum Autobiographischen
Schmidt -Dengler hält in seinem Vorwort zum Sammelband Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard fest : Wer sich mit Bernhards Werk, sei es redend oder schreibend, auseinandersetzen will, für den sind die Interviews von hohem Quellenwert. Auch wenn in den Antworten der Tenor der Verweigerung durchgehalten wird und explizit Informationen kaum gegeben werden, so liefert doch die Art der Verweigerung Aufschlüsse. Die redlichen Bemühungen, für die Interessen der fragenden Person Klarheit herzustellen, werden enttäuscht, aber es stellt sich eine « andere Klarheit » (Hölderlin) ein, die jenseits der jeweils in den Fragen mittelbar vorformulierten Einsichten anzusiedeln ist.96
Worin diese Klarheit besteht, darauf geht Schmidt-Dengler nicht ein. Sicher ist, die zahlreichen Interviews, die Th. Bernhard im Verlaufe seines Lebens gegeben hat, zeugen von diesem « hohen Quellenwert », da er im Gespräch weitere Auskünfte im Zusammenhang seines biographischen Materials oder seiner Poetologie gibt. Auch Fellinger zeigt in seiner Einführung zu den beiden Filmdokumenten Monologe auf Mallorca (die Dreharbeiten fanden Anfang November 1980 statt, ausgestrahlt wurde das Gespräch zwei Tage nach dem 50. Geburtstag von Th. Bernhard, also am 11. Februar 1981 im ORF) sowie Die Ursache bin ich selbst (die Dreharbeiten fanden in Madrid und Umgebung statt, das Gespräch wurde 1986 ebenfalls im ORF ausgestrahlt), dass die beiden Filme « zum literarischen Werk Thomas Bernhards »97 gezählt werden müssen. Auf der einen Seite gilt es der Versicherung von Th. Bernhard, auch seine Prosa und seine Stücke als Lachprogramm aufzufassen, genauso wie er die Gespräche führte, Rechnung zu tragen. Auf der anderen Seite fragt sich Fellinger, ob es nicht gerade das Programm von Th. Bernhard sei, dank der « perfekt inszenierten Darstellung des 95 Von Matt, Peter : Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. 2005 ; 275. 96 Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 15. 97 Fellinger, Raimund : « Antworten sind immer falsch ». Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard. Einführung in die beiden Gespräche « Eine Herausforderung. Monologe auf Mallorca » sowie « Ein Widerspruch : Die Ursache bin ich selbst ». Gespräche mit Krista Fleischmann. 2008 ; 37.
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Äusseren »98, den Blick nach innen zu verwehren. So bleibt eben nichts anderes übrig, als auch diese vermeintlich « gesicherten Quellen » in den Zwischenbereich von Fiktion und faktengetreuem Material zu stellen, denn die Vorgehensweise Th. Bernhards erlaubt « keine Entscheidung darüber, ob er in einen seiner literarischen Protagonisten hineinschlüpft oder ob er mit der Einstellung seiner Figuren übereinstimmt »99. Genau dieselbe Schwierigkeit stellt sich im von Ferry Radax am Tag der Überreichung des Büchner-Preises am 17. Oktober 1970 ausgestrahlten Monolog von Th. Bernhard unter dem Titel Drei Tage. Auch hier sind Teile der Aussage für die Interpretation des literarischen Schaffens wirkmächtig geworden, so die oft zitierte Aussage von Th. Bernhard, er sei ein « Geschichtenzerstörer »100. Um die Bedeutung des Monologs Drei Tage auch für die Forschung hervorzuheben, schreiben Hans Höller und Georg Schmid in der Begleitbroschüre, dass « der biographische Teil des Monologs […] auf die autobiographischen Erzählungen voraus[weist] »101 und in einem Artikel über die Wirkmächtigkeit der Sprache Th. Bernhards hält Höller fest : Drei Tage ist ausserdem die genaueste poetologische Selbstreflexion Bernhards überhaupt, ein Experiment, dem er sich vor der Filmkamera aussetzte, um im bewusst/ unbewussten monologischen Sprechen dem Zusammenhang zwischen den Träumen seiner Kindheit und der Form seines Schreibens auf die Spur zu kommen.102
Und wegen des hohen Stellenwertes für die Ausarbeitung des poetologischen Verständnisses von Th. Bernhard, wie Höller in diesem Zitat betont, wird ebenso auf diese Filmdokumentation für die Untersuchung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens zurückgegriffen. 98 Ebd. 99 Ebd.; 10. Schütte schreibt in diesem Zusammenhang über den Stellenwert der Interviews für das Verständnis des Menschen Th. Bernhard : « Wer sich freilich Aufschluss über den wirklichen Menschen erhofft, wird darin ebenso enttäuscht wie der Leser der Autobiograhie. » (Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. 2010 ; 113). 100 Fellinger, Raimund : « Antworten sind immer falsch ». Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard. Einführung in die beiden Gespräche « Eine Herausforderung. Monologe auf Mallorca » sowie « Ein Widerspruch : Die Ursache bin ich selbst ». Gespräche mit Krista Fleischmann. 2008 ; 15. 101 Höller, Hans und Schmid, Georg : Fragment – Filmerzählung – Film. Ein Film von Ferry Radax und Thomas Bernhard. Einführung zum Film « Der Italiener » von Ferry Radax nach einer Erzählung von Thomas Bernhard. 2010 ; 17. 102 Höller, Hans : Wie die Form der Sprache das Denken des Lesers ermöglicht. Der analytische Charakter von Bernhards Sprache. In : Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hrsg. von Joachim Knape und Olaf Kramer. 2011 ; 85.
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7.2 Einbettung der autobiographischen Schriften Die grosse Herausforderung im Umgang mit den autobiographischen Schriften von Th. Bernhard besteht in der Frage, was für eine Form in seiner fünfbändigen Schrift vorliegt, wie genau seine Aussagen in Interviews, in den Briefen oder in den Filmdokumenten einzuordnen sind. Th. Bernhard selber äussert sich nur widersprüchlich zu der Schwierigkeit, die Forschung ist sich uneins, wie damit umzugehen ist, weshalb der Konsens darin besteht, einzig auf die offene Frage hinzuweisen. Die fünf Bände von Th. Bernhard scheinen die These von de Man zu bestätigen, nämlich dass autobiographische Schriften als eine « L ese- und Verstehensfigur » aufzufassen seien. Ob Th. Bernhard sich zu frei auf seine Vergangenheit bezieht ? Es könnte auch eine weitere, vielleicht ehrliche Art sein, wie mit der so anspruchsvollen Verflechtung zwischen Erzähler und Erzähltem umzugehen ist. Eine weitere Möglichkeit im Umgang mit dieser Tatsache wird im Kapitel 9 ausgeführt, indem nach der ethischen Dimension des Erzählens von sich selber gefragt wird. Um die Frage zu beantworten, was die Intention seines Erzählens sei, ist es wiederum hilfreich, auf das Modell Produzierende-Erzähltes-Rezipierende zurückzugreifen. Eine wesentliche Triebfeder bei Th. Bernhard ist die Ursachenforschung und somit sein Wunsch, sich selber zu erkennen. Eine weitere, den Lob- und Preisgedichten aus dem alten Ägypten respektive der Antike gleich, ist die Anerkennung der Anderen zu erringen. Erst dann, wenn die Rezipierenden miteinbezogen werden, wird auch die Ausgestaltung seiner Werkpolitik verständlich, erst die Kombination der beiden Perspektiven ermöglicht ein präziseres Verständnis seiner Intention, und erst dann wird es auch möglich, die ethischen Konsequenzen der Selbsterzählung untersuchen zu können. 7.3 Das fünfte Zwischenspiel Eine Gemeinsamkeit bei den autobiographischen Schriften von Chr. Lavant und Th. Bernhard liegt darin, dass der Fokus des Erzählten auf die Kinder- und Jugendzeit gerichtet wird. Dies ist auch kein Zufall, denn wir müssen, wie Pascal festhält « die Quellen eines Lebens von der Kindheit an sehen ; denn nur so begreifen wir es – wenn auch dieses « Begreifen » eine besondere Art der Erkenntnis ist »103. Nicht nur, wie es im vorhergehenden Kapitel ausgeführt wurde, hängt 103 Pascal, Roy : Die Autobiographie. Übersetzt von M. Schaible. 1965 ; 25.
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diese Rückkehr zur Kindheit mit der unentwegten Suche nach dem Ursprung zusammen, sondern es geht ebenfalls um das Zurückkehren an die Quelle (auch des Leidens), um herauszufinden, wer wir sind, warum wir so geworden sind und warum wir uns in der Gegenwart so oder so wahrnehmen. Eine weitere Gemeinsamkeit hängt mit dem Wahrheitsgebot der autobiographischen Schriften zusammen. Dadurch, dass Chr. Lavant und Th. Bernhard nachweislich fiktionale Elemente einführten, stellt sich die Frage, ob der Authentizitätsanspruch an solche Schriften noch gewährleistet sei, auch wenn Holdenried darauf hinweist, dass das Paradigma des Wahrheitsgebotes in den zeitgenössischen Autobiographien ins Wanken gekommen sei.104 Wie in Kapitel 3 dargelegt wurde, hängt eine mögliche Erklärung, weshalb auf fiktionale Elemente zurückgegriffen wird, mit dem Erzählen zusammen und dem Umstand, dass sich mit und durch das Erzählen das autobiographische Material verändert. Das Zurückgreifen auf fiktionale Muster ist sicher auch mit den Schwierigkeiten, die Thomä im Zusammenhang des Rückgriffs auf autobiographisches Material ausführt, verbunden. Da das Zugreifen von Material wegen des zeitlichen Abstandes, wegen der Fülle und wegen des privilegierten Zugangs so fehleranfällig ist, und wenn zudem dieses Material in Form der autobiographischen Schrift vorliegt und somit festgefroren ist, zeigen sich diese Schwierigkeiten umso deutlicher. Allerdings kann das Zurückgreifen auf fiktionale Elemente ganz bewusst erfolgen und in verschiedenen Texten unterschiedliche Funktionen einnehmen, wie anhand von Chr. Lavant und Th. Bernhard ausgeführt wurde. Und es kommen die Rezipierenden hinzu, welche einen Einfluss auf das In-Gang-Setzen des autobiographischen Materials haben, wie es sich vor allem anhand der Werkpolitik von Chr. Lavant und Th. Bernhard zeigte. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Fiktion und Fakten ist vor allem im Hinblick auf Th. Bernhard ethisch brisant, nämlich dann, wenn er zwar so tut, als ob das Gesagte die Wahrheit wäre, aber es nicht stimmt. Sollten Lügen in einer Autobiographie vorkommen, so Klüger, hätte es keine Gattungsverschiebung zur Folge, es sei dann zwar noch immer eine Autobiographie, wenn auch eine verlogene.105 Die Frage, weshalb überhaupt auf Unwahrheiten zurückgegriffen wird, welche Differenzierungen hier notwendig sind, vor allem im Hinblick auf die Erzählform, ist eine andere, die uns im Zusammenhang mit Th. Bernhard noch im Kapitel 9 beschäftigen wird. Schliesslich besteht eine weitere Gemeinsamkeit in der Intention der Schriften darin, wie 104 Holdenried, Michaela : Autobiographie. 2000 ; 14. 105 Klüger, Ruth : Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In : Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hrsg. von Magdalene Heuser. 1996 ; 408.
Das fünfte Zwischenspiel
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Foucault es ausdrückt, indem sie Chr. Lavant und Th. Bernhard helfen, « gegen die Gefahren der Einsamkeit »106 anzukämpfen. Ein Unterschied zwischen Chr. Lavant und Th. Bernhard besteht darin, dass Th. Bernhard in seine autobiographische Erzählung in den fünf Bänden immer wieder metatextuelle Passagen einfügt, in denen er über die Reichweite der Sprache, über die Folgen des Erlebten auf sein weiteres Leben, aber auch über die Schwierigkeit, sich an das erlebte Material zu erinnern oder wie dieses angemessen in der heutigen Zeit zur Sprache gebracht werden könnte, reflektiert. Daraus folgt eine weitere Differenz. Zwar wird bei Th. Bernhards fünf Bänden im Kapitel 9 grundsätzlich von einer Einheit zwischen Autor, Erzähler und Protagonist ausgegangenen, doch diese Einheit wird infolge der metatextuellen Passagen immer wieder aufgetrennt. Bei Chr. Lavant besteht zwischen der Erzählperspektive und den Protagonistinnen in den vier Erzählungen zwar teilweise auch eine Distanz, die aber nicht so klar gebrochen wird, weil die Perspektive konsequent auf das jeweilige Kind gerichtet bleibt ; deshalb bewertet der Erzähler weder das Geschehen noch führt er Textstellen ein, die nur von Erwachsenen stammen können. Vielleicht spielt bei dieser unterschiedlichen Perspektivierung der Zeitpunkt des Verfassens der Texte eine Rolle. Chr. Lavant war zum Zeitpunkt der Niederschrift der Texte zwischen 30 und 34 Jahre alt, Th. Bernhard schon zwischen 42 bis 50 Jahre, und somit ist die zeitliche Distanz zwischen Erleben und Aufschreiben grösser, der Blick auf sich und die Welt getränkter. Ein weiterer Unterschied zwischen Chr. Lavant und Th. Bernhard hängt mit dem unterschiedlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich, ja, überhaupt mit dem Leiden an der Heimat107 zusammen. Während Th. Bernhard diese Verbindung immer wieder scharf kritisiert, so auch gleich zu Beginn in Die Ursache bis zum letzten Drama Heldenplatz, thematisierte Chr. Lavant diese nationalsozialistische Zeit nur indirekt, zum Beispiel in Das Wechselbälgchen in Form einer Parabel, wie mit menschlicher Vielfalt umzugehen ist.108 106 Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. 2003 ; 351. 107 Mit Leiden an der Heimat kann ein Topos der österreichischen Literatur bezeichnet werden, eine Leidensform, die Th. Bernhard mit vielen anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus diesem Land teilt, etwa Franz Grillparzer, Josef Roth oder Ingeborg Bachmann (vgl. dazu : Steiner, Nicola : Angst, Leiden und Lust in der österreichischen Literatur. In : « Weltschmerz Österreich ». Sendung : Kontext. Schweizer Radio SRF, Kultursender). 108 Unklar ist, weshalb Chr. Lavant in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Menschen hatte, von denen sie wusste, dass sie Nationalsozialisten waren und die zum Teil diese Ideologie auch nach dem Krieg weiterlebten, so etwa der Augenarzt Adolf Purtscher, die Dichterin Ingeborg Teuffenbach oder der Psychiater Otto Scrinzi. Warum Chr. Lavant den Kontakt mit diesen Menschen
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Thomas Bernhard und das autobiographische Erzählen
Ab dem nächsten Kapitel werden Briefe, Interviews und andere autobiographische Schriften ausserhalb der Primärquellen sowohl von Chr. Lavant als auch von Th. Bernhard beigezogen. Weshalb ebenso auf diese Schriften Bezug genommen wird, wurde in diesem Kapitel ausgeführt. Eine Frage bleibt nun noch zu klären : Inwiefern ist es möglich, für die Erläuterung der Primärschrift auf (weiteres) textexternes Material zurückzugreifen ? Der Rückgriff ermöglicht es, bestimmte Gedankengänge oder Handlungen besser nachzuvollziehen, und doch ist es wichtig, möglichst zurückhaltend damit umzugehen, denn mit einer isolierten Äusserung, gerade wenn sie nur verschriftlicht vorliegt, kann allzu viel bewiesen werden. Deshalb wird versucht, dort, wo solche direkten Bezüge zu den autobiographischen Schriften hergestellt werden, das Vorgehen entsprechend gut zu begründen.
pflegte, wissen wir nicht, da sich Chr. Lavant in den uns zur Verfügung stehenden Quellen nie zur Geschichte oder zur Politik äusserte (vgl. dazu : Moser, Doris : Nachwort. In : « Gedichte aus dem Nachlass » von Christine Lavant. Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. 2017 ; 602).
8. Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Christine Lavant Die Kunst kann nicht hergeben, was das Leben schuldig blieb. (Vorwort von Adolf Muschg zum Roman Mars von Fritz Zorn)1
In diesem Kapitel geht es um die konkrete Ausarbeitung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens. Dabei wird auf die Ausführungen in den vorgehenden Kapiteln zurückgegriffen, insbesondere auf die drei ausgearbeiteten Bereiche des Kapitels 5 und ihr Zusammenhang zur Ethik, nämlich auf Leiden/ Erzählen/Schreiben, auf das Schema des autobiographischen Erzählens sowie auf die Ursachenforschung. Das Vorgehen besteht darin, die drei Bereiche anhand der autobiographischen Schriften von Chr. Lavant und von Th. Bernhard (erfolgt dann im Kapitel 9) zu untersuchen und aufzuzeigen, wie die ethische Dimension im Konkreten beschaffen ist. 8.1 Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben Das Leiden, wie in Kapitel 6.1 dargelegt wurde, ist ein Grund, warum Chr. Lavant ihre autobiographischen Schriften verfasst hat.2 Inwiefern das Leiden, das Erzählen und das Schreiben bei Chr. Lavant aus einer ethischen Perspektive relevant ist, wird nun ausgeführt. Der Akt des Schreibens blieb für Chr. Lavant bis zu ihrem Lebensende ambivalent, wie sie in den Briefen immer wieder betont, so auch im Folgenden an eine Bekannte, Paula Purtscher, aus dem Jahre 1946 : « Solange ich schreibe bin ich glücklich wenn es auch oft mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, von denen sich Wenige eine Vorstellung machen können. […] Aber das Schreiben ist halt das Einzige was ich habe. Es ist meine schmerzhafte Stelle und zugleich die heilende Salbe. »3 Ebenfalls ein Brief an Maria Crone vom 14.4.1957 zeugt 1 Zorn, Fritz : Mars. 2012 ; 12. 2 Wie in Kapitel 6.1 ausgeführt wurde, gibt es noch weitere Aspekte, die einen Einfluss auf den Schreibanfang von Chr. Lavant hatten, so die Rolle der Mutter als Beichtiger im Dorf. 3 Unveröffentlichter Brief an Paula Purtscher von 1946 (zit. in Moser, Doris und Hafner, Fabjan :
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Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Christine Lavant
von dieser Ambivalenz : « Ich bin bestimmt einer der unwissendsten Menschen u. eben nur durch Zufall in den Stand der Dichter geraten »4, oder an Deesen vom 27.03.1962 : « Ü berhaupt ist mir das Dichten so peinlich. Es ist schamlos […] »5, in der erwähnten Selbstdarstellung für den dänischen Rundfunk sagt sie (vgl. Kapitel 6.1, Zitat I) : « Meine Schreib-Wut hielt ich für eine überstandene Krankheit die ich niemehr in mir aufkommen lassen wollte weil es sich für einen armen Menschen nicht gehört. »6 Diese Ambivalenz besteht bei Chr. Lavant darin, dass das Schreiben sowohl der schmerzverursachende Ort als auch die Therapie ist. Da sie keine phantastischen Geschichten schreibt oder den Reflexionsraum in frühere Zeiten verlegt, sondern von Ereignissen in ihrer zeitlichen und räumlichen Nähe erzählt, zwingt sie sich zur Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umgebung, die, wie nun deutlich geworden ist, auch von Leiden zeugt. Gleichzeitig ist es eben das Schreiben, das ihr dazu verhilft, sich den Stoff anzueignen, diesen zu « verzaubern » (vgl. dazu Kapitel 6.1, Zitat I) und sich dadurch seiner zu bemächtigen.7 Aus diesem Schreibenmüssen wurde dann die Schriftstellerin, ein Beruf, der für sie später immer wieder ein Rätsel bot, es wurde ihr « immer unheimlicher und unverständlicher »8, wieso sie « zu der ‹Kunst› geraten »9 sei. Doch sie ist sich des Umstandes bewusst, was aus dem Schreiben folgte, nicht nur für ihr Wohlbefinden, sondern auch hinsichtlich des materiellen Wertes. Sie schreibt, wenn « ich nicht eine Zeit lang ‹Dichterin› gewesen wär, dann bekäme ich jetzt auch keine Förderungsprämie und ich wüsste nicht, wovon wir [gemeint ist sie und ihr Mann] leben sollten ».10 Doch der Literaturbetrieb war Nachworte. In : « Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte » von Christine Lavant. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser, 2014 ; 654). Paula Purtscher ist die Ehefrau des Augenarztes Adolf Purtscher, der Chr. Lavant in der Augenklinik behandelte (vgl. dazu die Erzählung Ein Kind sowie die Ausführungen dazu in Kapitel 6.1.1). 4 Lavant, Christine : « … nur durch Zufall in den Stand einer Dichterin geraten ». In : Sichtungen. Online. Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft. 1999 ; 107. 5 Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 234. 6 Lavant, Christine : « … nur durch Zufall in den Stand einer Dichterin geraten ». In : Sichtungen. Online. Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft. 1999 ; 102. 7 Die Dringlichkeit des Schreibens und die Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umgebung betont sie ebenfalls in dem erwähnten Zitat I, Zeile 34 f., in Kapitel 6.1 : « Auf diese Art also bin ich Schriftstellerin geworden fast über Nacht und ohne es eigentlich bewusst gewollt zu haben ». 8 Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 228. 9 Ebd. 10 Ebd.; 229.
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nicht nur wegen des Preisgeldes wichtig. Mithilfe des Schreibens öffneten sich Türen, die ihr sonst verschlossen geblieben wären. So kam Chr. Lavant dank der Vermittlung von Th. Bernhard ebenfalls auf den Tonhof des Ehepaares Maja und Gerhard Lampersberg, der zwischen Klagenfurt und St. Veit liegt. Dieser Hof war ab den späten 50er Jahren ein Treffpunkt für junge Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichen Kunstbereichen. Dort konnte sich Chr. Lavant austauschen und Kontakte knüpfen, die nicht nur für ihr künstlerisches Schaffen wichtig waren, sondern auch zu Freundschaften führten, Freundschaften, die sie vor allem im Briefkontakt pflegte. Der Gegenraum zu diesem offenen Haus war die Einzimmerwohnung in St. Stephan im Lavanttal, wo sie mit ihrem 30 Jahre älteren Ehemann, dem Maler Josef Benedikt Habernig, lebte.11 Dank den Kontakten mit Menschen, die sich ebenfalls künstlerisch betätigten oder in Verbindung mit der Kunst standen, war es ihr möglich, aus der engen räumlichen Umgebung im Lavanttal zu entfliehen. Die Kontakte halfen ihr, einen grösseren Leserkreis zu gewinnen, der auch zu der erwähnten Anerkennung in Form von Preisen beigetragen hat und wiederum neue Kontakte schuf, u. a. zu einem ihrer Förderer, Ludwig von Ficker. Es war das Schreiben, das es ihr ermöglichte, ihr ökonomisches, ihr soziales und dadurch ihr symbolisches Kapital zu steigern, was zwar auf der einen Seite zu einer grösseren Autonomie, auf der anderen allerdings auch zur weitgehenden Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft führte. Vielleicht auch deshalb tut sich diese Ambivalenz, von der Chr. Lavant schreibt, hervor. Mithilfe der angepassten Konzeption von Gymnich (vgl. Kapitel 3.1), das heisst, die Kriterien nicht ausschliesslich textimmanent zu verwenden, kann der Akt des Briefeschreibens mit Blick auf das Geschlecht, aber auch hinsichtlich der Klasse und des Leidens analysiert werden. Dank der Briefe war es für Chr. Lavant möglich, von sich selber zu erzählen, sich selber zum Ausdruck zu bringen (Aspekt der Stimme) und so die eigene Handlungsermächtigung zu erweitern, indem sie das Leiden thematisiert, und es stellt einen Ausweg dar, aus der engen patriarchalen Struktur des Tales zu entfliehen. Es ist das Schreiben von sich (man kann auch ergänzen über sich), welches eine Gegenstrategie zur Anachorese darstellt, eine Strategie, die Chr. Lavant angewendet hat, zuerst vor allem literarisch und im Stillen, dann mit der Veröffentlichungen und den daraus gewonnenen Bekanntschaften in der nachfolgenden Korrespondenz.12 Folg11 Lavant, Christine : Briefe an Maja und Gerhard Lampersberg. Hrsg. von Fabjan Hafner und Arno Russegger. 2003 ; 153–156 12 Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael
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lich erstaunt es nicht, wenn Chr. Lavant im Interview mit dem Sender ORF als wesentlichen Auslöser des Schreibens die Einsamkeit nennt.13 Auch betont die Forschung die Notwendigkeit des Schreibens für Chr. Lavant, nämlich als Therapie14 oder als Weltersatz15. Aber die Kunst mit dem Leben zu verwechseln, wie das die Stürmer und Dränger taten, dieser Gefahr war Chr. Lavant nicht ausgesetzt, denn sie verstand etwas anderes unter Leben, wenn sie schreibt : « Es ist schamlos […] wäre ich gesund und hätte 6 Kinder, um für sie arbeiten zu können : das ist Leben ! Kunst wie meine ist nur verstümmelte Kunst, eine Sünde wider den Geist, unverzeihbar. »16 Es scheint, sie sei wider Willen zur Dichterin geworden, sie meint gar in einem Brief vom 25. Februar 1966 an Hilde Domin, die Kunst « passt nicht zu mir war ein unbegreifliches Zwischenspiel »17. In den letzten Jahren nahm dann die Notwendigkeit des Schreibens stetig ab. Sie weist auf diesen Umstand in ihren Briefen mehrmals hin, auch in dem nicht genauer datierten Brief von 1957 an Ingeborg Teuffenbach : « In mir scheint alles aus zu sein aber dem wein ich nicht nach. »18, oder in jenem am 19. Mai 1962 an den Deesen : « Ich habe mich ausgeschrieben, das weiss ich schon lang, aber es macht mir nicht viel Kummer. »19 Gerade im Vergleich zu den Briefen Th. Bernhards, der selten von sich persönlich sprach (eine Ausnahme sind die erwähnten Briefe u. a. an Hennetmair), stellen die Briefe für Chr. Lavant ein wichtiges Ausdrucksmittel dar, um sich selber zur Sprache zu bringen und sich dem Gegenüber zu zeigen. Die von FouBischoff. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 2003 ; 351. 13 Ebner, Jeannie : Fernsehinterview mit Christine Lavant. Ausschnitte davon sind veröffentlicht in der Dokumentation « Zu Gast bei Christine Lavant ». Regie : Karl Stanzl, Buch : Jeannie Ebner. 1968 ; 7.50 min–7.58 min. 14 Vgl. dazu : Stainer, Maria-Luise : « Das sichtbar und sagbare Reale stimmt nie mit der inneren Wirklichkeit überein. » Zur Metaphorik Christine Lavant im Lichte ihrer Selbstdeutung. In : Profile einer Dichterin. Beiträge des II. Internationalen Christine-Lavant-Symposions. Wolfsberg 1998. Hrsg. von Arno Russegger und Johann Strutz. 1999 ; 168. 15 Vgl. dazu : Moser, Doris und Hafner, Fabjan : Nachworte. In : « Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte » von Christine Lavant. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2014 : 679. 16 Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 234. 17 Moser, Doris und Hafner, Fabjan : Nachworte. In : « Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte » von Christine Lavant. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2014 ; 675. 18 Lavant, Christine : Herz auf dem Sprung. Briefe an Ingeborg Teuffenbach. 1997 ; 133. 19 Lavant, Christine : Briefe. In : Ensemble 5. Internationales Jahrbuch für Literatur. Hrsg. von Clemens Graf Podewils und Hein Piontek. 1974 ; 141.
Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben
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cault zur römischen Antike ausgearbeiteten Themen der Korrespondierenden (etwa von Seneca) können auch auf Chr. Lavant übertragen werden kann ;20 es geht in ihrer Korrespondenz oftmals um den alltäglichen Tagesablauf, vor allem aber um den schlechten Gesundheitszustand und um die Einsamkeit. In den hier untersuchten epischen Texten jedoch wird das Leiden nur implizit aufgegriffen, es spielt sich in den Handlungen zwischen den Figuren sowie in ihrer Interaktion mit der Umgebung ab. Da der Erzähler zudem immer wieder auch eine kindliche oder eine jugendliche Perspektive einnimmt, wird das Leiden nicht vermindert, sondern auf die Rezipierenden verschoben. Zwar leiden die Figuren an ihren Lebensumständen, doch sind sie sich über dieses Leiden wegen ihres Alters nur teilweise bewusst, es sind die Rezipierenden, die in der Lage sind, die erlebte physische und psychische Gewalt oder das Leiden an physischen und psychischen Krankheiten entsprechend zu beurteilen und dieses Leiden nicht nur als einen natürlichen, integralen Bestandteil der Welt aufzufassen, wie es manche Figuren von Chr. Lavant tun. Dank dieser gewählten Erzählperspektive steuert Chr. Lavant das Moment der Refiguration entscheidend mit und so auch die ethics of reading. Eine weitere wichtige Quelle für das Verständnis der Relevanz des Schreibens für Chr. Lavant im Zusammenhang des Leidens und der Ethik ist neben den Briefen ebenfalls die Lyrik. Als Beispiel steht hier das Gedicht Ich will vom Leiden endlich alles wissen21, das im Jahre 1959 im Lyrikband Spindel im Mond veröffentlicht wurde :
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Ich will vom Leiden endlich alles wissen ! Zerschlag den Glassturz der Ergebenheit und nimm den Schatten meines Engels fort. Dort will ich hin, wo deine Hand verdorrt, ins Hirn der Irren, in die Grausamkeit verkümmerter Herzen, die vom Zorn gebissen sich selbst zerfetzt, um die tolle Wut hineinzustreuen in das Blut der Welt. Mein Engel geht, er trägt das Gnadenzelt auf seinen Schultern, und von deiner Glut
20 Foucault, Michel : Über sich selber schreiben. In : Schriften zur Literatur. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 2003 ; 363–367. 21 Lavant, Christine : Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2015 ; 390.
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hat jetzt ein Funken alles Glas zerschmolzen. Ich bin voll Hoffart und zerkau den stolzen verrückten Mut, mein letztes Stücklein Brot aus aller Ernte der Ergebenheit. Du warst sehr gnädig, Herr, und sehr gescheit, denn meinen Glassturz hätt ich sonst zerschlagen. Ich will mein Herz jetzt mit den Hunden jagen und es zerreissen lassen, um dem Tod ein widerliches Handwerk zu ersparen. Du sei bedankt – ich hab genug erfahren.
Das lyrische Ich hält fest : Es will die schützende Glashaube zerschlagen und sich vom beschützenden Schatten des Engels befreien. Dieses Ich will stattdessen auf die andere Seite des Lebens, dorthin, wo das Leben aufhört (« deine Hand verdorrt », Vers 4) oder wo sich der Schmerz befindet, auch mit dem Ziel, die Wut in die Welt zu tragen. Auf dem Weg dorthin lässt es das letzte Stück der Ergebenheit los, bevor es aber wieder innehält und es für den Rezipierenden klar wird, dass dieses lyrische Ich die Glashaube nicht zerstört hat. Stattdessen will es sich gar nicht weiter auf die Suche nach den Ursachen des Leidens machen (« du sei bedankt – ich hab genug erfahren », Vers 20), sondern es äussert eine Todessehnsucht (« mein Herz jetzt mit den Hunden jagen », Vers 17). Warum es dem Imperativ im ersten Vers nicht folgt, wird aus dem Gedicht nicht klar, doch die Vermutung liegt nahe : Es liegt an der Sinnlosigkeit dieser Art der Selbsterforschung. Wenn die Ursachen nicht geklärt werden können, ginge es darum, einen Umgang mit dem Leiden zu finden. Doch auch dieses Streben ist schwierig umzusetzen, wie das folgende Gedicht Allen Schmerz will ich verfressen22 aus dem Nachlass zeigt : Allen Schmerz will ich verfressen aber nicht im trocknen Brot kauf mir lauter gute Sachen friss damit das Elend tot. 5
Denn die Qual liegt doch in allem was da wächst im Tränental
22 Lavant, Christine : Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. 2017 ; 268.
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brat ich abends mir drei Würstchen brat ich Schmerz zum Abendmahl.
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Hab versucht ihn fortzuweinen ward davon wie ein Skelett und der alte Tausendfüssler wurde frecher nur und fett. Muss es anders jetzt probieren fang schon an beim Morgenrot und mit jedem guten Bissen würg ich Schmerz und Seele tot.
Die Sprecherin schreibt in der ersten Strophe nicht vom Vergessenwollen des Schmerzes, sondern sie möchte ihn « verfressen » (Vers 1). Der Schmerz soll in einem Festakt aufgefressen werden, da reicht ein trockenes Brot nicht aus. In der zweiten Strophe legt sie dar, wie die « Q ual » der Ursprung der Tränen sei, doch weder das Essen noch die vielen Tränen helfen ; der « Tausendfüssler », ein Symbol für den Schmerz, wurde nur noch « frecher » (Vers 12) und « fetter » (Vers 12). Die einzige Möglichkeit, einen Umgang mit dem Leiden zu finden, besteht darin, nicht bis zum Abend zu warten, sondern bereits am Morgen damit zu beginnen, den Schmerz herunterzuwürgen, allerdings mit dem Preis, dass die Seele dabei ebenfalls stirbt. Ein Grund, weshalb das lyrische Ich auf das Essen zurückgreift, um das Elend zu beseitigen, könnte mit der Anspielung auf das letzte Abendmahl und mit dem Stellenwert der Leidensgeschichte Christi zusammenhängen. Es ist das letzte gemeinsame Essen mit seinen Jüngern, bevor Jesus das ihm zugefügte Leiden ohne Aufbegehren akzeptiert. Eine andere Möglichkeit liegt im Akt des Essens an sich. Beim Essen wird ein stückweit die Welt einverleibt, das Essen bringt das Draussen und das Drinnen in eine Beziehung. Oder das Essen kann als eine Handlung beschrieben werden, die etwas Natürliches und Lebenserhaltendes darstellt und einen Neuanfang ermöglicht. So sagt Bruder Martin zu Götz gleich im ersten Akt von Götz von Berlichingen von Johann Wolfgang von Goethe : « Essen und trinken, mein ich, ist des Menschen Leben », um kurz darauf noch beizufügen : « Wenn Ihr gegessen und getrunken habt, seid Ihr wie neu geboren ; seid stärker, mutiger, geschickter zu Eurem Geschäft. »23 Doch dem lyrischen Ich hilft dieser Neuanfang nicht, das Essen beseitigt das Leiden nicht. Der anklagende Ton 23 Goethe, Johann Wolfgang von : Götz von Berlichingen. 1993 ; 9.
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Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Christine Lavant
wird in einer Klimax, begleitet mit der Alliteration « (ver-)fressen » (Vers 1), « friss » (Vers 4), « frecher » (Vers 12) und « fett » (Vers 12), zum Ausdruck gebracht.24 Chr. Lavant bleibt in der Darstellung des Leidens in ihrer Lyrik auf das Individuum bezogen, das lyrische Ich ihrer Gedichte schildert, wenn vom Leiden erzählt, ihre Not, die Wut, das Ringen um eine angemessene Sprache. Es gibt allerdings einzelne Verse, bei denen es auf die Welt verweist und so auf das Leiden dort aufmerksam zu machen versucht. So hält das lyrische Ich dem lyrischen Du, ebenfalls in einem Gedicht aus dem Nachlass, im ersten Vers fest : « Wer dich fragt um die Wunde der Welt, dem zeig Hiroshima »25, um dann gleich im nächsten Vers wieder auf sich, auf das Individuum zu fokussieren : « aber zeig ihm auch meins und geh dann zurück in dein Kloster ». Es ist die einschränkende Konjunktion « aber », welche von einem gerechtigkeitshungernden Moment zeugt, dem Wunsch, zwar dem grossen und traumatischen Ereignis Ende des Zweiten Weltkrieges zu gedenken, aber das eigene Leiden deshalb nicht aus den Augen zu verlieren. Es fordert das lyrische Du gerade dazu im gleichen Gedicht in Vers 15 auf : « Wer dich fragt wo dein Bild ist, dem zeige in mir Hiroshima ». Das lyrische Ich leidet anders als die Menschen von Hiroshima, aber es leidet, es leidet sehr, wie die Hyperbel Hiroshima zum Ausdruck bringt. Wie das Gedicht Allen Schmerz will ich verfressen zeigt, kann über das Leiden, aber nicht vom Leiden an sich geschrieben werden. Weiter ist es, genauso wie in den Briefen und in den vier Erzählungen, auch in der Lyrik möglich, das Diskonkordante mithilfe des Ordnungsprinzips der Konfiguration zu synthetisieren. Jede Gattung hat ihre eigenen Qualitäten, die diesen Prozess unterstützen. Die Lyrik mit ihrer Form sowie ihrer expressiven und verdichteten Sprache bietet Möglichkeiten, sich der metaphysischen Sprachkritik entgegenzustellen. Zwar besteht in der Lyrik aufgrund des engen Raumes die Gefahr, die Rezipierenden zu überfordern, nämlich einen Überschuss an Sinn zu erzeugen und die Kohärenzforderungen nicht zu erfüllen. Doch die Lyrik kann aufgrund ihrer Form ein Ausbrechen aus dem bekannten Erzählschema bieten ; und so leistet sie einen Beitrag, die ethics of writing, die ethics of telling als auch die ethics of reading neu auszurichten, mit dem Ziel, das Spektrum des Umganges mit dem Leiden zu erweitern. Ob24 Im Gedicht Wo treibt mein Elend sich herum (Lavant, Christine : Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2015 ; 387) greift das lyrische Ich wieder auf das Brot sowie auf das Motiv des Essens zurück, doch es scheint, die Sprecherin thematisiert in diesem Gedicht vor allem eine Ursache des Leidens, nämlich die Armut und weniger die körperlichen und seelischen Leiden an sich. 25 Lavant, Christine : Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. 2017 ; 157.
Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben
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wohl Chr. Lavant zu ihrem Schreiben ein ambivalentes Verhältnis hat und sich an mehreren Orten kritisch dazu äussert, das Schreiben stellt für sie eine zentrale Möglichkeit dar, sich aus der Isolierung des Leidenszustandes zu befreien. Hier wie ebenso später bei der Untersuchung zu Th. Bernhard zeigt diese Art der Auseinandersetzung mit dem Leiden den Rezipierenden eine Möglichkeit auf, wie mit dem Leidenszustand formal, sprachlich und inhaltlich umgegangen werden kann. Weiter legen die Leidenserfahrungen und die Erzählungen darüber dar, warum solche Erzählungen so wichtig sind, nämlich für das Verständnis von sich selber, um so dem Gegenüber das Verstehen der Anderen zu erlauben. Und was soll Chr. Lavant sonst zur Sprache bringen und aufschreiben ? Wegen des durch Krankheiten verursachten Leidens kann sie weder auf Reisen gehen noch einen Beruf ausüben oder eine Familie gründen, alles mögliche Quellen, die in unserer Kultur Erzählungen speisen. Und schliesslich trotz der ambivalenten Einstellung zum Schreiben, es ist das Leiden und die dadurch ausgelöste Wut « auf diesen miesen Leib, der so unendlich viele Schmerzmöglichkeiten bietet »26, welche ihre Aussage « ich schreibe aus Verzweiflung »27 erst verständlich macht. Und so folgt aus der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Leiden und Schreiben bei Chr. Lavant nicht ein Können, sondern ein Sollen, ja, gar ein Müssen. Mit Ricœur auf den Punkt gebracht : Das Leiden wird verursacht (Diskonkordanz), als eine Reaktionsform wird davon erzählt. Bei dieser Erzählung ist sie sowohl von dem präfigurierenden Moment (auf der individuelle Ebene hinsichtlich der Erinnerungsstrukturen oder ihrer materielle Armut, auf der sozialen Ebene ist sie dem Katholizismus als Erklärungsansatz oder der dörflichen Umgebung ausgesetzt) als auch von dem refigurierenden beeinflusst (u. a. in ihrem Umgang mit einer klaren Rollenzuteilung der Geschlechter, das heisst weiter, Frauen schreiben nicht ; über die enge Umgebung hinaus soll das Leiden verständlich und die Kohärenz beachtet werden). In den Briefen ist der Spielraum, was sie wie, wem erzählt, klarer abzustecken, da die Adressaten bekannt sind, hingegen bleibt das Gegenüber, wenn Erzählungen oder Lyrik publiziert werden, anonym. Chr. Lavant hat allerdings die Reichweite ihres Pseudonyms unterschätzt. In der Folge davon wurde sie in ihrem Tal derart von den Rezipierenden unter Druck gesetzt, dass sie bei den weiteren Veröffentlichungen vorsichtig wurde ; geschrieben hat sie trotzdem 26 Zitat aus dem Brief von Anfang März 1964 an Gerhard Deesen (Lavant, Christine : Briefe. In : Ensemble 5. Internationales Jahrbuch für Literatur. Hrsg. von Clemens Graf Podewils und Hein Piontek. München : Langen Müller. 1974 ; 154). 27 Zitiert in : Lübbe-Grothues, Grete : Christine Lavant. In : Deutsche Dichter der Gegenwart. Ihr Leben und ihr Werk. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Hrsg. von Benno von Wiese. 1973 ; 379.
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weiter, bis sie in den letzten zehn Jahren mehr oder weniger verstummte. Dieses Sollen hat allerdings auch Grenzen, denn es gibt Beispiele, wo sich die Autorin respektive der Autor von dem Erlebten nicht befreien kann, sondern sich überwältigen lässt. Ein Beispiel dafür ist Szilárd Borbélys Roman Die Mittellosen, der 2014 auf Deutsch erschienen ist (das ungarische Original erschien 2013).28 Ein Vergleich zwischen Borbélys Roman und den autobiographischen Schriften Chr. Lavants bietet sich gerade deshalb an, da sich die Leidensquellen wie auch die gewählte literarische Form überschneiden. So erzählt Borbély in Die Mittelosen aus der Perspektive eines Elfjährigen eine Episode aus seiner eigenen Kindheit, die von physischer, psychischer und sexueller Gewalt geprägt ist, auch er verwendet eine zum Teil derbe, direkte und verknappte Sprache, um die Ereignisse adäquat zu beschreiben. Ebenfalls die von ihm geschilderte Umgebung zeugt von einer archaischen, vormodernen Welt, auch sie ist von Stummheit und von viel Verschwiegenem und nicht gestellten Fragen geprägt ; genauso wie Chr. Lavant litt er unter dem Gespött und an der Ausgrenzung durch Gleichaltrige, was zu einem Minderwertigkeitsgefühl anwuchs ; ebenso in seiner Umgebung werden Frauen als Objekte behandelt, auch er spricht von der Hackordnung in einer kleinen Gemeinschaft und von der Folge für die handelnden Subjekte, nämlich von der Einsamkeit.29 Ebenso wie Chr. Lavant gilt er für das Dorf, wie er im Nachwort in Die Mittellosen festhält, als Verräter, denn « wer das Volk des Dorfes verlässt, verrät es. Wer über das Dorf spricht, ebenso »30. Ebenfalls Borbély litt an Depressionen, wenn auch stärker als Chr. Lavant. Weiter hat er ebenfalls seine Erlebnisse in einer für ihn angemessenen Form versprachlicht, doch im Gegensatz zu Chr. Lavant hat die Versprachlichung ihn nicht dazu ermächtigt, weiterzuleben. Kurz nach der Veröffentlichung nahm sich Borbély das Leben. Dieser Suizid sei, wie Corinna Caduff in der Sendung 52 beste Bücher vom 11. Januar 2015 im Kultursender von Radio SRF erwähnte, eine Spätfolge der traumatischen Ereignisse in seiner Kindheit in Kombination mit seiner jahrelangen depressiven Erkrankung.31 28 Borbély, Szilárd : Die Mittellosen. Aus dem Ungarischen von Heike Felmming und Lacy Kornitzer. 2014. 29 Gleich zu Beginn des Romans heisst es : « W ir gehen und schweigen. Dreiundzwanzig Jahre trennen uns. Die Dreiundzwanzig kann man nicht teilen. Die Dreiundzwanzig ist nur durch sich selbst teilbar. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich. » (ebd.; 9). 30 Ebd.; 322. 31 Vogler, Heini im Gespräch mit Caduff, Corina und Nentwich, Andreas : « Die Mittellosen » von Szilárd Borbély. 52 beste Bücher. Ausgestrahlt am Sonntag, 11. Januar 2015. Schweizer Radio SRF, Kultursender ; 3.46 min–5.05 min.
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Es ist das Schreiben, das einen Ausgang aus der Isolation des Leidens sein kann und so gute Gründe liefert, sich freizuschreiben. Doch es ist auch das Schreiben, welches für Menschen wie Borbély das Leiden in einer Form aktualisiert, mit der nur schwer oder gar kein Umgang gefunden werden kann. Wann es angebracht ist, von einem Können zu einem Sollen im Zusammenhang von Schreiben von Leidenserfahrungen überzugehen, ist eine schwierige Frage. Wahrscheinlich hängt die Antwort davon ab, wie ausgeprägt die Krankheit ist, wie schwer die traumatischen Erlebnisse sind und über welche Strategien im Umgang mit dem Leidenszustand der Schreibende verfügt. 8.2 Das autobiographische Schema Im Folgenden werden die drei Erzählungen Das Kind, Das Krüglein und Das Wechselbälgchen hinsichtlich des inhaltlichen, des sprachlichen und des formalen Aspektes des autobiographischen Schemas, die für die ethische Dimension relevant sind, untersucht. Bei dieser Analyse steht im Wechselbälgchen der Inhalt, im Krüglein die Sprache und im Kind die Form im Zentrum. In Kapitel 5.2 wurde auf die enge Wechselwirkung dieser Aspekte hingewiesen. Der klaren Darstellung wegen werden zwar im Folgenden diese Aspekte einzeln aufgegriffen, doch es wird an verschiedenen Stellen explizit ihre Verknüpfung deutlich gemacht. Und an noch eine Begebenheit soll an dieser Stelle erinnert werden : Auch wenn es sich um literarische Erzählungen handelt, die im Folgenden thematisiert werden, ist es trotzdem angebracht, vom « autobiographischen Schema » zu schreiben, denn die gewonnenen Erkenntnisse aus der Literatur können auf das reale Leben übertragen werden, ohne dass das Leben mit der Literatur verwechselt wird (vgl. dazu Kapitel 2.4.2 sowie die Ausführungen zu Lamarque in Kapitel 3.4). 8.2.1 Vertiefung des Inhalts
Das Weltwissen und die darauf basierenden Erinnerungsstrukturen sind entscheidend für die jeweiligen Erzählungen, die so das Verständnis von sich selber und seiner Handlungen, die wiederum auch das Gegenüber betreffen können (vgl. dazu Kapitel 5.2), transparent machen. Weiter wurde u. a. am Beispiel der Lebensläufe von Fontane auf das Dynamische des Weltwissens und der Erinnerungsstrukturen verwiesen : Je nach Kontext werden unterschiedliche Erzählungen von sich erzählt. Im Folgenden soll nun anhand der Erzählung Das Wechselbälgchen die Wirkmächtigkeit von Erzählungen, die auf solchen Wissens-
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beständen basieren, untersucht werden. Dabei wird dargelegt, wie vorrationales Scheinwissen, das vor allem vom Aberglauben sowie von der religiösen Idee und somit von der Tradition genährt wird, das heisst nur bedingt ein selbstreflexives und kritisches Hinterfragen implizieren, auf ein einzelnes Individuum einwirken und sich negativ auswirken kann. Wie sich dieser Einfluss an vermeintlichem Erklärungswissen manifestiert, lässt sich anhand der Figur von Lenz nachweisen. Lenz wird für Zitha, das Wechselbälgchen, je länger er mit ihr zu tun hat, desto bedrohlicher. Obwohl Zitha die eigentliche Protagonistin der Erzählung ist, kommt sie nie zu Wort. Sie ist dazu auch nicht in der Lage. Abgesehen von Autubella und Ibillimutter und ein paar anderen Lauten bleibt sie stumm.32 Neben der geistigen Behinderung ist sie auch körperlich entstellt. Hinzu kommt, dass sie das uneheliche Kind der Magd Wrga ist. Und so stellen die Reden von Lenz, die vor allem dazu führen, Zitha noch mehr auszugrenzen, eine wesentliche weitere Leidensquelle für das Mädchen dar. Lenz ist ein Knecht, der seit kurzem auf demselben Hof arbeitet wie Wrga. Lenz meint, er könne bereits nach drei Tagen mit Gewissheit sagen, bei Zitha handle es sich um einen Wechselbalg. Um zu begründen, wie er zu diesem Urteil kommt und das Kind als ein verhextes bezeichnet, führt Lenz mehrere Belege an. Zum einen fragt er bei Wrga nach, ob sie das Kind eine Zeit lang alleingelassen habe, vielleicht gar neben einem Brunnen, dort, wo die alten Wechselbälger ihr Unwesen treiben würden. Da Wrga für den Lebensunterhalt draussen auf den Feldern zu arbeiten habe und sie sich keine Kinderbetreuerin leisten könne, führe es dazu, dass das Kind regelmässig vor dem « Brunngrabn » allein gewesen sei. Weil das Kind alleingelassen wurde bei diesen « alten Wechselbälger », wie Lenz festhält, wurde es verhext. Eine Möglichkeit, das richtige Kind wieder zurückzubekommen, bestünde darin, so Lenz weiter, den Wechselbald « neunmal zu schlagen und zwar so grob, dass es ganz jämmerlich schreit »33. Dank des Schreiens komme der alte Wechselbald zurück, um das Kind wieder auszutauschen. Wrga ist von den Erklärungen von Lenz nicht überzeugt, weswegen Lenz weitere Belege für Zithas Verhexung nennt. Er verweist auf das abnormale Essverhalten von Zitha und auf die fehlende Sprache.34 Das Weltwissen, auf das Lenz zurückgreift, um seine Umgebung zu deuten, ist für eine ätiologische Sage typisch. Es ist ein Wissen, welches als mythisch 32 Lavant, Christine : Das Wechselbälgchen. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus Amann. 2016 ; 15. 33 Ebd.; 9. 34 Ebd.; 25.
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bezeichnet werden kann, ein Wissen, das vor der Aufklärung stehengeblieben ist. So greift Lenz, um unerklärliche Phänomene zu rationalisieren, auf Geschichten wie jene der Sage über die Wechselbälger zurück, die über Generationen mündlich weitererzählt wurde, mit fatalen Folgen für die betroffenen Personen. Ein zweites zentrales Ereignis für Zitha ist Lenz’ Traum der Thomasnacht. In diesem Traum meint er einen Beweis zu erhalten, er müsse die unattraktive Wrga heiraten, auch mit dem Wissen, den Knechtsstand verlassen zu können. Das einzige Hindernis stellt für ihn Zitha dar, doch als er Wrga das Versprechen abringt, sie solle statt auf Zitha auf Eierschalen schlagen, was denselben Effekt für ihre Heilung haben solle, überwindet er sich und überzeugt Wrga, ihn zu heiraten.35 Kurz darauf wird er dann vom Pfarrer zum « Gemeindebotenstell » befördert. Das dritte Moment, bei dem Lenz’ mythisches Wissen eine Rolle spielt, geschieht während eines Spazierganges einer Vollmondnacht mit seiner zukünftigen Frau : Aber es ist schliesslich doch nicht ganz gleich, ob man eine mit oder ohne Schatz nimmt. Und warum sollte sie den Schatz nicht finden, wo sie doch ein Glasauge hatte ? Und wer weiss, wozu die Schelchzähne gut sind ? Umsonsten bekommt kein Mensch nicht so auffällige Zeichen mitten im Gesicht … Aber er hatte seine ehrliche Plage mit ihr. Himmelherrgott, war das Weibsbild vernagelt ! Zwanzigmal hatte er ihr wohl schon den Zauberspruch vorgesagt und dazu ganz genau gezeigt, wie sie die Haselrute zu halten hat. […] sagte er : « Bedenk bloss, was für ein schönes Leben wir haben werden, wenn wir den Schatz finden ! »36
Dank der vermeintlichen Zeichen des Glasauges oder der Zähne wird es für ihn möglich, das nicht Einzuordnende einzuordnen, sich in der Welt zu orientieren (konfiguratives Moment). Kurz vor der Hochzeit spitzt sich Lenz’ Abneigung gegen Zitha zu, da er mit seinem Entscheid, Zitha bei sich aufzunehmen, hadert. Er stellt Wrga gar ein Ultimatum, dass sie nicht in sein Haus käme mit dem Balg, und sie solle doch einen Bauern fragen, ob er sie für das Hüten des Viehs verwenden könne. Sicher sei, er wolle nicht « auch nur einen Kreuzer für den verfluchten Balg »37 ausgeben. Wrga übersteht seine Abneigung gegen ihre Tochter. Auch wenn Lenz mit Zitha in der Zeit nach der Hochzeit nichts zu tun haben will, duldet er sie zumindest unter seinem Dach. So leben Zitha und 35 Ebd.; 11 resp. 28. 36 Ebd.; 32. 37 Ebd.; 45.
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Lenz nebeneinander, doch Zitha zittert seither in Anwesenheit von Lenz immer leicht, entweder vor Kälte oder vor Angst, wie der Erzähler ausführt.38 Die Lage bleibt angespannt bis zu dem Zeitpunkt, als Zitha auf einen Ausflug mit Lenz und ihrer neuen Schwester Magdalena mitgeht. Auf diesem Ausflug rettet sie während einer kurzen Abwesenheit von Lenz das kleine Mädchen Magdalena aus dem Bach. Sich selber kann Zitha nicht mehr retten, ebenso kommt jede Hilfe zu spät. Nach der Bergung des toten Kindes sagt Lenz zu Wrga : « […] für sein Seelenruh [werden wir] beten solange wir leben […] »39 ; er setzt sich beim Pfarrer sogar für eine Grabrede ein, und er bekommt sie. Lenz hat sich mit Zitha versöhnt, die Aussöhnung war aber nur mit dem Tod des Kindes zu haben. Die Reichweite der Wissens- und Erinnerungsstruktur zeigt sich gerade darin, wie mit dem Fremden, dem Anderssein umgegangen wird. Die Sage stellt eine Möglichkeit dar, der Lesart von Amann folgend, sie als Parabel für die Vernichtung von « unwertem Leben » zu lesen. Doch es geht an dieser Stelle nicht um Reflexionen über bestimmte Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg anzustellen. Das, worum es hier geht, ist die Wirkmächtigkeit von Erklärungswissen, das als Erinnerungsstruktur in Aussagen und Handlungen in die Welt hinausgetragen wird. Wie an der Figur Lenz aufgezeigt werden kann, sind ihre Erzählungen von solchem Weltwissen und den damit verknüpften Erinnerungsstrukturen genährt, und diese Erzählungen haben grosse Konsequenzen für die Beziehung zu Zitha, sie wird diskriminiert und als Folge davon ausgegrenzt. Wrga ist für Zitha keine Hilfe, sie folgt nicht allen Erzählungen von Lenz, aber letztendlich stützt auch sie sich auf metaphysisches Wissen, denn für sie war die Heirat und die anschliessende Beförderung Beweis genug für Gottes Wille. Das refiguriende Moment des autobiographischen Schemas zeigt sich in der Wirkmächtigkeit dieser Art von Inhalt, einem Inhalt, der sich auf das präfigurierende Moment bezieht und eine wesentliche Leidensquelle für Zitha darstellt. Die Wirkmächtigkeit von Wissensstrukturen macht nicht beim Einbezug von metaphysischen Quellen halt. Auch andere Ideologien, die eine mögliche lebensbestimmende Rolle einnehmen können, sind denkbar, und sie sind zahlreich ; etwa die instrumentelle Vernunft, die Idee vom homo oeconomicus oder vom homo scientificus oder auch, in deutlich negativer Prägung, jeglicher Populismus. Das sind allesamt mögliche Zugänge, um sich in der Welt zu orientieren. Bei diesen verschiedenen Zugängen muss eine graduelle Abstufung vorgenommen werden, es bestehen, gerade was den Umgang mit dem Anderen, dem Fremden betrifft, 38 Ebd.; 56. 39 Ebd.; 66.
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grosse Unterschiede, je nach Wissensstruktur werden die einzelnen Stimmen, auch die leisen, besser gehört als andere. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist folgender : Wenn Lenz sich nicht auf den Aberglauben sowie auf die religiöse Idee gestützt hätte, um das Wesen von Zitha einzuordnen (Selbstfindung gemäss Thomä), das Leben von Zitha wäre anders verlaufen. Wenn nun Lenz in seinen Erzählungen auf Zitha eingegangen wäre, sich die Mühe gemacht hätte, mit ihr, statt stets nur über sie zu reden und zu handeln, Zitha hätte sich (vielleicht) auch nicht verbal äussern können, aber zumindest hätte er sie als Menschen wahrgenommen und vielleicht sogar auf ihre Bedürfnisse eingehen können. Bestenfalls besteht die Hoffnung, dass Lenz am Ende der Erzählung realisiert, als er sich für Zitha einsetzt, wie haltlos sein Erklärungswissen war und ist. Für Zitha kommt diese Einsicht allerdings zu spät. Chr. Lavant kennt die Wirkmächtigkeit von (vermeintlichem) Erklärungswissen sehr gut aus eigener Erfahrung. In der geistigen und räumlichen Enge des Tals, wie in Kapitel 6.1 ausgeführt wurde, griffen die Menschen in ihrer Umgebung auf nichtreflektiertes Wissen zurück, mit der Folge, dass diejenigen, die sich von der Norm unterschieden, sich entsprechend stark den Konsequenzen, die aus diesem Wissen resultierten, aussetzten. Ob Chr. Lavant Das Wechselbälgchen deshalb erzählte, um sich über diese Wirkmächtigkeit von Erinnerungsstrukturen Klarheit zu verschaffen, dieser Art von Leidenserfahrung Raum zu geben, ist nicht überliefert. Dank der Freilegung einer wichtigen Leidensquelle weist Chr. Lavant auf die ethics of writing hin, und mithilfe der Versprachlichung der Ausschlussmechanismen sind die Rezipierenden aufgefordert, ihr Erklärungswissen zu reflektieren, zuzuhören, den leisen Stimmen Raum zu geben, sodass es für die Rezipierenden möglich wird, darauf angemessen zu antworten (ethics of reading). 8.2.2 Vertiefung der Sprache
In der Erzählung Das Krüglein bilden die dörfliche, bäuerische Umgebung und der Friedhof die Kulisse für die Geschichte, eine Geschichte zweier Familien, die wie Das Kind aus vorwiegend kindlicher Perspektive erzählt wird. Im Zentrum stehen die Darstellung des Milieus, die Interaktionen der Figuren sowie ihre Verbindungen und ihre Abhängigkeiten voneinander. Zwei Aspekte sollen in dieser Erzählung genannt werden, die die Relevanz der Sprache für das Erzählen hinsichtlich der ethischen Dimension betreffen, die in enger Verbindung mit dem Inhalt des Erzählten stehen. Der erste Aspekt hängt mit der Interaktion zwischen Umgebung und Sprache zusammen, ein Aspekt, der weniger überraschend in seiner Existenz ist als in den
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vielleicht nach wie vor unterschätzten Konsequenzen. Genau wie bei Die Mittellosen von Borbély (in Kapitel 8.1 wurde auf die enge Verbindung hingewiesen) spiegelt die Sprache die enge, die archaische Welt der Kinder wider. So wird der Mund von Nani als « Schnute »40 und ihr ganzes Wesen als « Affe »41 bezeichnet, immer wieder wird ihr physische Gewalt angedroht, sie zu schlagen, bis hin, ihr das Leben zu nehmen42 ; oder Mili wird « Drecksaas »43 genannt. Wenn man, wie Spinoza es fordert, sich « jenen zuwende[t], welche die menschlichen Affekte und Handlungen lieber verwünschen oder verlachen als verstehen wollen »44, indem man ihnen (auch) die Korrespondenz zwischen der Umgebung und der Sprache aufzeigt, ist es vielleicht möglich, ihnen darzulegen, weshalb es nicht erstrebenswert ist, das Erzählte mit abwertenden Begriffen, das heisst mit (vermeintlichem) Wertwissen, zu füllen. Stattdessen ginge es darum, nachzuvollziehen, warum es sinnvoll ist, das Erklärungswissen (präfiguratives Moment) zu erweitern, mit dem Ziel, das Verstehen zu ermöglichen. Es ist ein anspruchsvolles Unterfangen, auf die Bedeutung der Korrespondenz zwischen Sprache und der Aussenwelt hinzuweisen, nicht nur wird kognitiv einiges verlangt, sondern es ist auch notwendig, zuhören zu wollen. Und hier hilft den Produzierenden wie auch den Rezipierenden die Literatur, sie ermöglicht im Konkreten aufzuzeigen, welche Konsequenzen die Sprache auf die Figuren hat ; so auch im Krüglein, indem die betroffenen Figuren selber in den abwertenden Diskurs einsteigen45 oder verstummen46. Beim zweiten Aspekt geht es um Folgendes : Ein Unterschied zu Zitha besteht darin, dass das Krüglein überlebt, ja, es macht am Ende der Geschichte gar den Anschein, es werde genug gestärkt sein, um viele Jahre leben zu können. Wie eine solche Entwicklung, weg vom « Schmerzen- » hin zum « Freudenkrüglein »47 möglich wird, darüber gibt die Erzählung Das Krüglein auf der Textebene nur zum Teil Auskunft. Ein Grund für das Überleben ist die hingebungsvolle Art der 40 Lavant, Christine : Das Krüglein. In : Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. 2015 ; 61. 41 Ebd. 42 Vgl. dazu : ebd.; 53–66 resp. 77. 43 Ebd.; 159. 44 De Spinoza, Baruch : Die Ethik. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt von Jakob Stern. Mit einem Nachwort von Bernhard Lakebrink. 1977 ; 253. 45 Vgl. dazu die Figur Nani (Lavant, Christine : Das Krüglein. In : Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. 2015 ; 61). 46 Vgl. dazu die Figur Mili : ebd.; 160. 47 Ebd.; 73.
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Mutter, von der die Erzählerin immer wieder schwärmt : « […] vor der man immer das Gefühl hatte, dass der liebe Gott doch noch manchmal auf Erden umginge … »48 oder wie die Mutter « ihr zartestes Stück Leinwand »49 dem Krüglein gegeben hat, um die Wunden abzudecken, und so ihrer Hinwendung Ausdruck verleiht. Neben der (verbalen) Zuwendung der Mutter50 gibt es einen weiteren Grund, weshalb das Mädchen sich zu einem « Freudenkrüglein » entwickelt, und dieser Aspekt hängt entscheidend von der Sprache ab, ein Aspekt, der eine grosse Ähnlichkeit mit dem inhaltlichen hat, weil die Sprache eben Wahrnehmungen und Denkweisen widerspiegelt (vgl. Kapitel 5.2.2). Der Unterschied besteht im veränderten Fokus, der auf die Sprache und nicht auf den Inhalt gerichtet wird. Auf der einen Seite wird analog zum Wechselbälgchen explizit auf metaphysische Konzepte Bezug genommen, allerdings nicht, um die Welt zu erklären, wie es im Wechselbälgchen der Fall war, sondern um Unterstützung sowie Beistand zu holen. So ziehen die Geschwister des Krügleins, als eine wertvolle Tasche verloren gegangen ist, auf den Friedhof, um vor einem bestimmten Grab zu beten und den heiligen Antonius um Hilfe beim Wiederfinden zu bitten.51 Diese in der Erzählung begrenzte Reichweite des metaphysischen Konzeptes zeigt sich zudem in der Diagnose der Krankheit des Krügleins. Da braucht es nicht den Umweg über eine Sage, um den Ursprung zu erklären, sondern der Doktor kommt zum Schluss, es handle sich um die sog. Arme-Leute-Krankheit, die « von der Überarbeitung und Unterernährung der Mutter und dann auch wohl noch von der feuchten Wohnung käme »52. Diese rationale und auf wissenschaftlichen Kriterien basierende sprachlich artikulierte Erklärung hat ganz andere Denk- und Handlungsweisen der Figuren zur Folge. Dank dieser ausgesprochenen Erklärung ist es möglich, der Krankheit entsprechend entgegenzusteuern, es ist möglich, unnötige, ja, gar hinderliche Erklärungsansätze zu streichen (wie es das bekannte Ockhams Rasiermesser fordert) und so das Handlungsspektrum der Menschen zu erweitern ; konkret kann die Mutter des Krügleins nun entsprechend intervenieren. Ganz anders als Lenz, der sich auf abergläubische und auf (vermeintlich) religiöse Erklärungsansätze stützt, kann sich die Mutter selber ermächtigen und entsprechend Gegensteuer geben und ihre Fürsorge intensivieren, da sie realisiert, dass das Überleben des Kindes in ihren Händen liegt. Sowohl 48 Ebd. 49 Ebd.; 96. 50 Vgl. dazu : ebd.; 96 oder 120. 51 Ebd.; 158. Als ein weiteres Beispiel kann die Figur Nani hinzugezogen werden, die bereit ist, gar für das Krüglein ins Kloster zu gehen, um dort für das Kind zu beten (vgl. ebd.; 189). 52 Ebd.; 186.
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für die produzierende als auch für die rezipierende Seite kann anhand dieses Beispiels dargelegt werden, welche Konsequenzen die Einführung von neuen Begriffen hat, Begriffe, die, wie Hampe ausgeführt hat, nicht nur eine neue Art von Erkennen ermöglichen, sondern auch neue Unterscheidungsgewohnheiten mit sich bringen, welche Menschen in ihrer Autonomie bestärken, ja, ihr Überleben sichern. Ebenso hier, gleich wie beim weiter oben ausgeführten Aspekt des Inhalts, können die Ausführungen auf das autobiographische Erzählen übertragen werden ; es zeigt sich, welche weitreichenden Konsequenzen das Verwenden einer für die Situation angemessenen Sprache hat, sowohl für die Produzierenden als auch für die Rezipierenden, weswegen die ethics of writing, die ethics of telling und die ethics of reading bei dieser Reflexion involviert sind. 8.2.3 Vertiefung der Form
Anhand der Erzählung Das Kind wird die ethische Dimension des autobiographischen Schemas hinsichtlich der wesentlichen Merkmale des formalen Aufbaus untersucht. Der Fülle an autobiographischem Material in dieser Erzählung wird dadurch Einhalt geboten, dass auf ein wichtiges Ereignis, nämlich auf einen (Augen-) Klinikaufenthalt, fokussiert wird. Chr. Lavant greift auf einen Aufenthalt zurück, der sich in der Kindheit abspielt, da nur dort « das linde Gefühl des Kleinseins » noch da ist, « ohne jeden Tropfen Bitternis » (vgl. dazu Kapitel 6.1.1). Auch in diesem Text steht nur ein Ereignis im Zentrum, die Protagonistin entwickelt sich ebenfalls, aber in einer deutlich kürzeren erzählten Zeit als dies beim Krüglein der Fall ist. Diese Kindheitserinnerung erzählt sie in einer Form, die alle Merkmale, die es zu einer klassischen Erzählung (vgl. Kapitel 3.3) bedarf, vereint. Da ist die erwähnte Reduktion des Materials, es gibt einen sinnstiftenden Endpunkt, nämlich den Klinikaustritt, und so die Aussicht, zuhause das Augenleiden weiter zu behandeln. Es wird chronologisch erzählt mit einzelnen Analepsen (gemäss Nünning die Linearität), um die neue Umgebung mit dem Vorwissen (präfiguratives Moment) in Beziehung zu setzen. Weiter gibt es einen Anfang (Klinikeintritt), eine Mitte (Klinikalltag) und das erwähnte Ende (Klinikaustritt) ; die Ereignisse innerhalb der Klinik werden einzeln erzählt (gemäss Nünning die Sequenzialität), wobei dem Alter entsprechend vor allem Beobachtungen der Protagonistin geschildert werden ; es werden mögliche Erklärungsansätze formuliert, wie diese Beobachtungen einzuordnen sind. Aufgrund des jungen Alters verfügt das Mädchen kaum über Erklärungswissen. Es erstaunt deshalb auch nicht, wie viele Fragen es an die Umgebung im Spital richtet, ohne
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dass es eine Antwort bekäme. Die Referenzpunkte, um sich zu orientieren, sind stets das Bekannte (« wie es eigentlich zu Hause nie regnet » sowie der Rekurs auf Gott) ; vonseiten des Spitalpersonals oder von anderen Personen, die sich um ihn herumbewegen, erhält die Protagonistin keine Unterstützung. Das geringe Vorwissen führt zu einer grossen Anzahl von Situationen, die sie nicht einordnen kann, mit diesen Diskonkordanzen gilt es einen Umgang zu finden. Den Weg, den sie wählt, ist jener über die Phantasie, die genährt wird durch eine gute Beobachtungsgabe. Es ist diese Phantasie, die es dem Kind ermöglicht, sich vom Zustand der Ohnmacht hin zu einem handelnden Subjekt zu verändern, indem es die aufgenommenen Informationen entsprechend deutet, mit dem Ziel, das Vorgefundene zu rationalisieren. Um die Strategie der Konkordanz darzulegen, die sich oft wiederholt, jedoch variiert mit unterschiedlichem Inhalt, wird auf zwei Textstellen zurückgegriffen, beide stammen aus dem Klinikalltag und zielen darauf ab, die neu vorgefundenen Situationen entsprechend in sein Erklärungswissen einzubetten : Drinnen weinen ein paar ganz kleine Kinder, die vielleicht gebadet werden. Denn wozu brauchen sie sonst so zu weinen ? Und so laut dass es fast undenkbar erscheint, dass dies von kleinen Kindern kommen kann.53 Dass Gott den Gang so lang gemacht hat ! Wahrscheinlich ist die Ewigkeit in der Nacht noch grösser wie bei Tag, weil da ja auch die Geister alle drin Platz haben müssen.54
Der Unterschied in der Strategie bei der Einebnung der Unwissenheit in Wissen besteht nicht im Erklärungsansatz, der, wie ausgeführt wurde, gleich ist, sondern hinsichtlich der Quelle der Referenz. Während im ersten Zitat das Weltwissen des jungen Mädchens ausreicht, um die Konkordanz herzustellen, braucht es im zweiten den Bezug zu Gott und zu den Geistern. Ausgehend von diesem methodischen Vorgehen mit der Einebnung der Diskonkordanz kann ein weiteres Merkmal, wenn von sich erzählt wird, dargelegt werden, nämlich es werden Kausalverhältnisse hergestellt, hier die Wirkung (schreiende Kinder), dort die Ursache (das Bad), um so Verstehen zu ermöglichen.
53 Lavant, Christine : Das Kind. In : Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen. Hrsg. von Klaus Amann und Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Klaus Amann. 2015 ; 31. 54 Ebd.; 36.
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Weshalb hat Chr. Lavant diese Form für das zu Erzählende gewählt ? Die klassische Form des Erzählens ermöglicht, sich der Leidenserfahrung infolge der Isolierung und der materiellen Armut zu ermächtigen. Chr. Lavant selber war, als sie den Text verfasste, 31 Jahre alt, es handelt sich um ihre erste Publikation. Sie griff genau wie in der Erzählung Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus auf einen klar abgrenzbaren Raum respektive auf eine überschaubare Zeit zurück, in der die Handlung spielt. Mithilfe des verwendeten formalen Schemas werden die Erlebnisse von einst nochmals thematisiert und materialisiert, es ist so auch möglich, nachzuvollziehen, was damals in jenem Raum, in jener Zeit sich mit welchen Konsequenzen ereignet hat. Vielleicht stellt eine weitere Intention für die Erzählung aus der Sicht von Chr. Lavant dar, ihrer « Abgeschiedenheit des subjektiven Charakters » (Morris) etwas entgegenzusteuern, um wenigstens von den einstigen Erlebnissen, wenn nicht Verständnis bei den Rezipierenden einzuholen, dann doch wenigstens dieses Erlebnis zu bezeugen. Diese Art von Archivierungsarbeit eröffnet zudem ein weiteres Feld für die Ursachenforschung (vgl. Kapitel 8.3), indem untersucht werden kann, wie sie sich einst in der Klinik bewegt hat, welche Rückschlüsse aus dieser Erfahrung auf das Heute möglich sind und es kann dank dieser Arbeit den « Biographiegenerator » (Hahn) transparent gemacht werden. Das klare Schema wird allerdings inhaltlich aufgebrochen, indem assoziativ erzählt wird, also ohne klare Struktur, weshalb sie was, wann, warum in Worte fasst, weswegen die inhaltlich-logische, aber auch die sprachliche Kohärenz nicht gewährleistet ist, mit entsprechenden Leerstellen, die von den Rezipierenden eine aktive Auseinandersetzung mit dem Erzählten verlangt und Platz für eigene Gedanken schafft.55 Indem Chr. Lavant auf ein klares Erzählschema zurückgreift, zeigt sie den Rezipierenden auf, wie die Ermächtigung einer Leidenserfahrung aussehen könnte, wie es möglich ist, sich der erwähnten Verflechtung zwischen dem « autobiographischen » Erzähler und dem Erzählten anzunähern. Es wäre vorstellbar gewesen, die auktoriale Erzählperspektive klarer hervorzuheben, indem aus der Sicht der Autorin metatextuelle Passagen eingeführt worden wären ; auch hätte sie das formale Schema aufbrechen können, beides Vorgehensweisen, auf die Th. Bernhard zurückgreift (vgl. Kapitel 9.2.3). Aufgrund des Verzichtes auf Kommentare beziehungsweise auf das Aufbrechen des Schemas bleibt sie der Perspektive des Kindes treu (eine Entscheidung, die aus einer Perspektive der ethics of writing verständlich ist), was wegen der Wiedererkennung aufseiten der Rezipierenden dazu führt, dass diese den Fokus vermehrt auf den Inhalt richten können. Und damit hängt ein weiteres refigu55 Vgl. dazu : ebd.; 20 oder 30.
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rierendes Moment zusammen, nämlich in der Offenlegung der Konfiguration, das heisst, mithilfe der kindlichen Perspektive kann nachvollzogen werden, wie Menschen, gerade in Leidenssituationen, vorgehen, um sich in neuen Situationen zu orientieren, indem sie Altes (also das Weltwissen und die Erinnerungsstrukturen) mit Neuem in Verbindung setzen und so Unvertrautes vertraut wird. Dieser Vorgang des Verbindens kann wiederum, wie bereits zu den inhaltlichen Aspekten ausgeführt wurde, thematisiert werden. Dank der Möglichkeit, sich bei diesem Prozess der Konfiguration in die Protagonistin einfühlen zu können, wird ihr Ermächtigungsbestreben einfühl- und nachvollziehbar. Die kindliche Perspektive ermöglicht auf der anderen Seite ein Durchbrechen des Schemas, indem die Kohärenzforderung nur teilweise eingelöst wird. Dieses Mäandrieren im autobiographischen Material bietet den Rezipierenden eine Möglichkeit, sich neue Wahrnehmungs- und Denkmuster anzueignen (ethics of reading). 8.3 Ursachenforschung Im folgenden Zitat schildert die Ich-Erzählerin in Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus die erste Begegnung mit dem leitenden Arzt und mit dem Gerichtspsychiater :
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Ich bin abgerufen worden in das Ärztezimmer, wo der Gerichtspsychiater wartete. Schwester Friedel hat mich hingebracht und mir vor der Türe noch einmal einen tröstlichen Schlag versetzt : « Nur Mut, mein Kind, er wird Sie nicht fressen. Lassen Sie sich bloss nicht bange machen. » … Aber ich war in keiner Weise bange und konnte mir überhaupt nichts rechtes vorstellen. Der Primarius war da und die Oberschwester – auf deren aufgeregtes Geflatter ich allerdings gern verzichtet hätte – und dann ein fremder, kleiner, glatzköpfiger Herr, dem ich nun nachträglich innig wünsche, dass er eine Tochter hätte, die nach einem Selbstmordversuch von einem Gerichtspsychiater drangsaliert wird. Aber diese wäre ja eine Dame, und es würde sich so wohl von allem Anfang an alles anders gestalten. « Das also ist die Person ? » war das erste, was ich von ihm hörte. Der Primarius lächelte ein wenig schief, es war ihm wohl nicht ganz angenehm, dass es so begann. « Sie haben sich also das Leben nehmen wollen. Möchten Sie uns nicht sagen, warum ? » Die Oberschwester hüpfte an das Fenster und sah mich von dort her bohrend an, der Primarius lächelte immer noch auf den Boden hin, und in der Glatze des Kleinen spiegelte sich höhnisch die Schreibtischlampe. Ich habe gelacht. Es war ein blödes und sicher sehr widerliches Lachen, und ich begreife, dass es nicht dazu beitrug, mich
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dem Kleinen sympathischer zu machen. « W ir haben nicht viel Zeit », sagte er böse, und zum Primarius : « Ist sie überhaupt vernehmungsfähig ? » … Der sah daraufhin einen Augenblick eigentümlich auf und sagte : « Ich denke schon. » … »Also bitte ! » bohrte das Scheusal ungeduldig weiter. Ich sagte stur : « Ich mag einfach nicht. » … Aber Sie müssen doch einen Grund dazu haben. Wahrscheinlich hat Sie der Freund verlassen, und es war nicht gleich einer da, wie ? ! » … « Es war überhaupt nie einer da. » … « Ach so, na schön, aber nun erzählen Sie mir einmal, wie es zuhause zugeht. Sie haben ja noch Eltern, was sagen die, wenn Sie solche Sachen aufführen ? Wie ? » … Hier warf der Primarius etwas von Not und Elend ein, was natürlich übertrieben ist, aber entweder hatte er von meinen Andeutungen tatsächlich dieses Bild bekommen, oder er wollte mir einfach ein bisschen helfen.56
Über den Grund des Leidens, der zu diesem Suizidversuch geführt hat, ist sowohl textimmanent als auch über textexterne Quellen nichts Näheres ausfindig zu machen. Einzig über die Art des Suizidversuches, Chr. Lavant hatte Tabletten genommen, gibt es Klinikunterlagen.57 Zumindest kann die Motivierung des Selbstmordversuches etwas eingeschränkt werden, wenn Auszüge aus ihren überlieferten Briefen und aus der Lyrik beigezogen werden.58 Die Briefe und Gedichte können mögliche Gründe aufzeigen, inwiefern der Suizidversuch nicht wegen eines angeblich fehlenden Freundes den raschen Schlussstrich setzen sollte, wie der Gerichtspsychiater zu wissen meint, sondern als eine mögliche Antwort auf die Frage, was das Ziel der Verdammnis sei, ausgelöst durch die körperlichen und seelischen Schmerzen. Auch wenn der Grund für den Suizidversuch nicht abschliessend genannt werden kann, zeigt die Textstelle auf, wie schwierig es sowohl für die Leidenden als auch für die Rezipierenden ist, das Leiden nicht zu interpretieren. Wie es bei der Ich-Erzählerin der Fall ist (Zeile 21), gibt es zwar Kontexte, in denen die Betroffene aus unterschiedlichen Gründen nicht bereit 56 Lavant, Christine : Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. 2001 ; 19f 57 Steinsiek, Annette und Schneider, Ursula A.: Nachwort. In : Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus von Christine Lavant. 2001 ; 88. 58 Zum Beispiel in Briefen an Maja und Gerhard Lampersberg (etwa vom 16.01.1958 oder vom 27.03.1962) greift Chr. Lavant nicht nur ein Leidensmoment auf, sondern sie spielt auf ihre gesamte Leidensgeschichte an (Lavant, Christine : Briefe an Maja und Gerhard Lampersberg. Hrsg. von Fabjan Hafner und Arno Russegger. 2003 ; 21 resp. 88). In ihrer Lyrik gibt es zahlreiche Beispiele, die auf den Zusammenhang hinweisen, so zum Beispiel Heute wurde ich wach, ohne zu wissen, wer ich sei oder Wo treibt mein Elend sich herum ? (Lavant, Christine : Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2015 ; 228 resp. 387).
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ist, diese Ursachenforschung vorzunehmen, doch die Kommunikationssituation kann derart beschaffen sein, dass es für diese Person nicht möglich ist, sich der Interpretation des Leidens zu entziehen. Warum der Mensch eine Handlung nicht einfach als eine isolierte und somit als ein nicht erklärbares Ereignis stehen lassen kann, wurde mithilfe der Präfiguration nach Ricœur (vgl. dazu Kapitel 2.5) und der Analyse der Relevanz des Verstehensbegriffes nach Angehrn erklärt (vgl. dazu Kapitel 2.3.2). Wenn die produzierende Seite die Gründe von sich aus nicht angeben will oder kann, dann verlangen die Rezipierenden, dies zu tun, hier aus der textimmanenten Perspektive der Figur des Gerichtspsychiaters (die Intention seiner Fragen zielt darauf ab, vgl. Zeile 13 f. sowie Zeilen 22 f. und 23), mit dem Ziel, die Handlung des Gegenübers nachvollziehen zu können, dieser Handlung eine Bedeutung zu geben, sie somit (wie bei Davidson in Kapitel 5.3 ausgeführt) zu rationalisieren. Deshalb kann sich die Erzählerin in diesem Ärztezimmer der Erforschung der Handlungsgründe, die zum Suizidversuch führten, nicht entziehen, sie muss auf die Fragen des Gerichtspsychiaters (Zeile 13 sowie Zeilen 22 ff.) reagieren. Wenn die Motive auf der produzierenden Seite nicht erklärt werden, dann bleibt die rezipierende Seite nicht auf der Erwartungshaltung bestehen, sondern sie springt mit ihrem Weltwissen (das präfigurierende Moment) ein, ungeachtet der Schwierigkeiten, die mit der Introspektion ins Gegenüber verbunden sind.59 Welche Wirkung die Interpretationsvorschläge haben, hängt vor allem davon ab, wie die Kommunikationssituation gestaltet ist : Handelt es sich um eine symmetrische Beziehung ; ist es für die produzierende Seite möglich zu intervenieren, um sich Gehör zu verschaffen ? Hingegen ist in asymmetrischen Konstellationen die Gefahr gross, dass einer für den anderen spricht, ohne gehört zu werden, wie das hier bei der Ich-Erzählerin der Fall ist. So formuliert der Psychiater einen Interpretationsvorschlag, indem er auf einen möglicherweise fehlenden Freund hinweist (Zeile 22 f.). Da greif der Primarius ein, erhebt seine Stimme und positioniert sich als Stellvertreter der Ich-Erzählerin, indem er etwas von « Not und Elend » (Zeile 26) sagt und dabei auf eine hier wahrscheinlichere Quelle hinweist, wovon sich das Leiden nähren kann, er richtet nämlich den Fokus auf die Umstände, genauer auf die familiäre Einbettung der Patientin. Die Reaktion der Ich-Erzählerin ist, der Primarius habe « natürlich übertrieben » (Zeile 26 f.). Gerade diese Intervention von aussen zwingt die Erzählerin, die Diskonkordanz, in diesem Fall den Suizidversuch, mithilfe der Konfiguration in die Konkordanz einzuebnen, ein plausibles Schema, um einen Suizidversuch zu 59 Das Einspringen der Rezipierenden ist ein gutes Beispiel, um die in der Einleitung erwähnte Zirkularität des Schemas Produzierende-Erzähltes-Rezipierende aufzuzeigen.
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erklären, mit dem Ziel, eine widerspruchsfreie Handlungsgeschichte zu erzählen und somit zumindest bei den Zuhörenden ein Verstehen des Leidens zu ermöglichen (refigurierendes Moment).60 Für die Ich-Erzählerin ist diese Einebnung insofern als schwerwiegender Eingriff in ihre Autonomie zu bezeichnen, als ihr die Zeit nicht gelassen wird, sich selber auf den Weg zu einer Erklärung ihrer Situation zu machen. Die fehlende Zeit hängt stark vom Kontext ab, in dem sie sich befindet. Die Ich-Erzählerin befindet sich in der erwähnten psychiatrischen Klinik, weshalb die Spielregeln, die Kompetenzen und somit die Machtverhältnisse klar verteilt sind. Das Interpretieren-müssen des Leidens zeigt sich auch im Alltag, doch in einem Klinikkontext in aristotelisch-davidschen Verständnis der Erforschung der Phänomene widerspiegelt sich dieser Zwang zur Interpretation quasi in Laborform. Auf dem Weg zur Interpretation kommen nun, wie dargelegt, entsprechende Machtstrukturen hinzu, inklusive einer dichotomischen Struktur des Wissens (hier die Unwissende, dort die Wissenden) ; ebenfalls liegt eine Diskriminierung aufgrund der Klasse (wird weiter unten noch ausgeführt) und vielleicht gar aufgrund des Geschlechtes (eine These, die allerdings noch weiter untersucht werden müsste) vor. In einem solchen Kontext hat die zweite, nicht-mechanische Lesart des « Warums » nach Wittgenstein keinen Platz, ungeachtet der Komplexität von möglichen Suizidgründen. Der Widerspruch zwischen « das Leiden muss interpretiert werden » (Nietzsche) und « es gibt bei diesem Imperativ unüberwindbare Hindernisse » (Morris und Leriche) wird dadurch gelöst, dass das Aussen (also die Rezipierende) festhält, wie dieses Leiden zu verstehen sei. Die andere Seite, die auf die unüberwindbaren Hindernisse hinweist, wird überhört, die Protagonistin wird nicht ernstgenommen. Ohne auf die Komplexität der Ursprungsfigur einzugehen, indem die Diskussion über mögliche Gründe vom Helfersystem vertieft und so das Erklärungswissen erweitert würde, folgt eine Lesart des Suizidversuches, und diese wird gleich entsprechend positiv bewertet ; der sich ebenfalls mögliche öffnende Abgrund der Ursprungsfigur, von dem Angehrn sprach, wird dadurch vermieden, das heisst auch, die Frage nach der (Un-)Erreichbarkeit des Ursprungs fehlt oder, um noch eine weitere Drehung zu machen : Es mangelt an Radikalität. Eine zweite Situation, die ganz ähnlich geartet ist, was die ethische Relevanz der Ursachenforschung betrifft, spielt sich einige Tage später ab, als die Ich-Er60 Diese Art der Tätigkeit, nämlich die hermeneutische Komposition, ist eine der zehn Universalien, die Bruner darlegt, um angeben zu können, was Narration ist (Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In : Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hrsg. von Jürgen Straub. 1998 ; 56–60).
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zählerin einen Weinkrampf bekommen hat. Ebenso hier folgen Interventionen, aber auch Tröstungen von verschiedenen Seiten, so vom Primarius : « Aber Fräulein, was denn, was denn ? », vom Sekundararzt : « Kinderl, Kinderl, beruhigen Sie sich doch ! » oder von der Schwester Minna, die eine mögliche Ursache für das Weinen nennt : « W ir mussten die Dorninger [eine Mitpatientin der Protagonistin] in die Zwangsjacke geben, vielleicht ist dem Fräulein das so zu Herzen gegangen ? »61. Die Zuschreibungen von aussen, auf die die Protagonistin nicht reagieren kann, weil das Spitalpersonal gar nicht zu- und hinhören will, führt dazu, dass sie, ausgelöst durch die Weinkrämpfe und durch die schlaflosen Nächte, kurz darauf fragt : « Oder bin ich mit allem im Unrecht ? Ist vielleicht überhaupt kein Gedanke mehr begründet, kein Schluss mehr richtig ? »62. Die Unsicherheiten können von daher rühren, weil es für die Ich-Erzählerin nicht möglich ist, mit einer eigenen Stimme zu sprechen. Diese aufgrund des psychiatrischen Kontextes nicht mögliche Suche ist auch durch das Nichtanerkennen ihres Schreibens bedingt, und so wird ihr verunmöglicht, sich auf den Weg des Erkenne-dich-selbst zu machen (vgl. Kapitel 5.1). An mehreren Stellen hält die Ich-Erzählerin Aussagen von den Angestellten der psychiatrischen Klinik fest, wie diese sich negativ zu ihrem Schreiben äussern. Auf die Bemerkung der Oberschwester « Sie will ja nur dichten » lachen alle, und darauf sagt der Gerichtspsychiater zum Primarius : Sehen Sie, Kollege, solche Geschichten kommen heraus, wenn jeder Bergarbeiter schon glaubt, seine Sprösslinge in Hauptschulen und so schicken zu müssen. Also, mein Kind, das Düchten überlass du schön anderen Leuten, und wenn dich der Herr Primarius wieder zur Vernunft gebracht hat, so nach ein, zwei Jahren, dann sei froh, wenn du eine Gnädige bekommst, die dich zu allen häuslichen Arbeiten ordentlich abrichtet. Verstanden ?63
Kurz vor Ende der Visite greift der Gerichtspsychiater das Thema des Schreibens nochmals auf : « W ieder ein abschreckendes Beispiel dafür, wohin es kommt, wenn Arbeiterkinder Romane lesen, anstatt zur ordentlichen Arbeit herangezogen zu werden. »64 Ob diese Bemerkungen damals so während des Psychiatrie61 Lavant, Christine : Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. 2001 ; 29 f. 62 Ebd.; 31. 63 Ebd.; 21. 64 Ebd.; 23.
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aufenthaltes gefallen sind und somit einen direkten Einfluss auf die Chr. Lavants eingangs ausgeführte Ambivalenz zum Schreiben hatte, ist nicht belegt.65 Sicher ist, solche Bemerkungen sind nicht förderlich, dem in Kapitel 8.1 formulierten Schreiben-Sollen Folge zu leisten. Auf die Frage, ob es überhaupt möglich sei, an die Ursachen des Leidens zu kommen, hält Chr. Lavant in einem Brief an von Ficker vom 20.2.1963 fest : Mit dem Fortschritt des Leidens wächst auch die Erkenntnis seiner Ursachen und ergibt einen schlammigen oder zementenen Grund, aus dem es keine Befreiung mehr gibt. Auferlegtes wirft schlimmstenfalls in den Staub, aber Selbstverursachtes ins völlig Unfruchtbare. […] Mein Leib und meine Seele sind voll Schmerz – voll Angst.66
Doch aus diesem Erkenntnisgewinn resultiert keine innere Freiheit, sondern nur das Wissen darüber, dass es nicht möglich ist, sich aus dem Schlamm der Tatsachen zu befreien. Was genau sie mit dem zweiten Satz gemeint hat, führt Chr. Lavant in diesem Brief nicht weiter aus. Wenn sie die Wörter « Staub » und « Unfruchtbare » aufgreift, könnte man darauf hinweisen, wie klein ihr Handlungsspielraum trotz der Erkenntnis im Umgang mit dem Leiden ist. Zwar wird durch die Erkenntnis der Ursachen eine Verstehensgrundlage geschaffen, aber Chr. Lavant bezweifelt implizit, ob es möglich sei, aus dem Leiden zu lernen, ein Diktum, das schon Aischylos und Menander in ihren Dramen und viel später Nietzsche aufgegriffen haben (vgl. dazu Kapitel 2.3.2). Das einzige, was unumstösslich bleibt, unabhängig von dem Wissen, sind die Schmerzen und die Angst. Auch wenn Chr. Lavant immer wieder in Briefen von ihrem Leiden schreibt, Hilfe von den Adressaten, die diesen Leidenszustand nicht kennen, erwartet sie wie Th. Bernhard nicht. Zwar helfe manchmal das Mitleiden (ein Umstand, der für die Konzeption Schopenhauers spricht), doch nur für eine kurze Zeit, häufiger agierten die Rezipierenden gegenüber den Leidenden mit Ungeduld, vielleicht vergleichbar mit der Ungeduld, wie sie die leidensvollen Sätze in einem Brief vom 30. April 1962 an Deesen zu Papier brachte : 65 Obwohl der Gender-Aspekt (anders als der Klasse-Aspekt) in der Erzählung nicht explizit thematisiert wird, ist es trotzdem vorstellbar, dass auch dieser im Kontext des Settings mitschwingt, allen voran das Kriterium der « Stimme » und jenes des « Blickes » (gemäss Gymnich) ; beide Kriterien ermöglichen, den Nachweis zu erbringen, weshalb die Protagonistin nicht gehört respektive gesehen wird, und so ist sie nicht in der Lage, sich für sich selber einzustehen (vgl. dazu das Kapitel 3.1). 66 Lavant, Christine : Briefe. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. Salzburg-Wien : Otto Müller Verlag. 1978 ; 236.
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Wir … verantwortlich empfindende Menschen vegetieren nur von unseren Unterlassungssünden. … Es ist eine Qual, darüber Bescheid zu wissen, und noch schlimmer – darauf zu kommen … dass auch der sensibelste Empfindungsapparat eine Fehlkonstruktion ist. Mitleiden hat wohl die Macht, unser Hauptübel, die Trägheit hin und wieder zu beseitigen – vorübergehend nur – aber es ist noch lange keine Garantie für richtiges Handeln. Meist verzeichnet es sogar die miterleidete Situation ganz gründlich – wohl infolge der Übereile und Hastigkeit, mit der wir oft blindlings daran gehen, dieses Mitleiden abkürzen zu wollen. Wir nehmen uns nie die Zeit, genau hinzuschauen. Wenn wir das täten, würden uns die Augen übergehen vor dem kristallenen, gerechten Gesuchtsein jeglichen Geschickes. Das Mitleiden würde davon nicht aufhören, nur die Fehlhandlungen und fast alle Selbstvorwürfe.67
Die Unmöglichkeit, leidende Menschen zu verstehen, hat Chr. Lavant schon knapp 30 Jahre vor dem Brief an Deesen thematisiert, in einem Gedicht, das in den Unterkärtner Nachrichten am 24.11.1933 veröffentlicht wurde : Verstehen68 Noch hat kein Mensch den andern je erkannt. Noch gab’s kein Herz, das zu dem andern fand, Denn, zwischen Mensch und Mensch ragt eine Scheidewand ! 5
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Mag auch mancher viel verstehen, Die Scheidewand, sie bleibt bestehen Und niemals lässt sie uns ins Reich des andern sehn. Drum sehe jeder, wie er sich allein genügt, Wie er allein das herbste Leid besiegt Und trotz des Einsamenseins nicht unterliegt.
Der Verstehensbegriff, von dem das lyrische Ich hier ausgeht, zielt auf die Rezipierenden. Doch wie in Kapitel 2.3.2 mithilfe von Angehrn ausgeführt wurde, 67 Lavant, Christine : Briefe. In : Ensemble 5. Internationales Jahrbuch für Literatur. Hrsg. von Clemens Graf Podewils und Hein Piontek. München : Langen Müller. 1974 ; 139. 68 Lavant, Christine : Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Hrsg. und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. 2015 ; 537.
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gibt es noch eine andere Seite dieses Begriffes, nämlich das Sich-selbst-verstehen. Diese Art des Verstehens stellt Chr. Lavant weniger infrage, es ist begrenzt möglich, die Ursachen des Leidens zu erkennen, zum Teil mithilfe der Fachmeinung ihres Arztes, zum Teil dank der eigenen Introspektion. Wenn auf die Rezipierenden fokussiert wird, wie eben im zitierten Gedicht, ist Verstehen hingegen nicht möglich, die « Scheidewand » (Vers 4) lässt sich nicht überwinden, auch hier muss (gleich wie weiter unten bei Th. Bernhard ausgeführt wird) die Reichweite des Erkennens von Fremdpsychischem, im Spezifischen das Leiden, sofern nicht dieselben Erfahrungen gemacht wurden, als gering eingestuft werden. Es ist zwar möglich, wie Morris feststellt, das Leiden zu bezeugen, nicht aber die « Abgeschiedenheit des subjektiven Charakters » zu überwinden, es wird verunmöglicht, überhaupt in das Sprachspiel des Schmerzartikulierens einzusteigen, geschweige denn, wie anhand von Müller aufgezeigt wurde (vgl. dazu Kapitel 2.2.2), darüber zu sprechen. Und so wird, der Erwartungen entgegen, die der Titel des Gedichtes suggeriert, ein Verstehen verhindert. Abschliessend soll (primär mit Blick auf die ethics of writing, die die ethics of telling und die ethics of reading mitbeeinflusst) auf die ethisch relevanten Konsequenzen der Ursachenforschung von Chr. Lavant hingewiesen werden. Letztendlich ist es, wie Chr. Lavant festhält, zwar vorstellbar, dank der Ursachenforschung sich selber zu erkennen. Da jedoch jeder Leidende auf sich selber zurückgeworfen bleibt, ist es nicht möglich, dieses Leiden nach aussen zu tragen. Auch kann die « radikale Reflexivität » (von der Angehrn im Zusammenhang des Verstehensbegriffes spricht) nicht immer eingefordert werden, denn dafür müssten bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die der Protagonistin in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus fehlen, zum Beispiel für sich selber zu sprechen und dabei auch gehört zu werden. Neben der Isolierung und der daraus folgenden Einsamkeit gibt es weitere Reaktionen auf die Ursachenforschung des Leidens. Es geht vom Selbstmitleid bis hin zur stoischen Akzeptanz der Situation : « Mir wächst leider nichts am Leib als Armut, ungeschickt getragen, beschämend für mich und andere. »69 Auch Auflehnung ist eine vorstellbare Reaktionsweise, etwa wenn die Protagonistin in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus fragt : « warum soll ich nicht auch einmal irgendwo richtig und ganz daheim sein ? »70 oder gar sich von der Ursachenforschung zu befreien ? Kurz darauf reflektiert die Ich-Erzählerin : « […] trotzdem schlief ich diese Nacht zum ersten Mal ein wenig hier, 69 Lavant, Christine : Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. 2001 ; 35. 70 Ebd.
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weil –. Ach nein, ich darf mich nicht zu dem Unrecht verführen lassen, dies mit einem kleinen ‹Weil-Satz› abzutun. »71 Abzulesen an ihrer literarischen Produktion und an ihren Briefen und infolge voranschreitenden Leidens führte der Leidenszustand und die Unmöglichkeit des Artikulierens ins Verstummen (darauf hat Veena Das aufmerksam gemacht, vgl. Kapitel 2.3.3). Schliesslich soll auf eine weitere Folge hingewiesen werden : Wie in Kapitel 2.3.1 ausgeführt wurde, bietet die christliche Lehre eine Möglichkeit, wie mit dem Leiden umzugehen ist. Der Glaube nimmt in Chr. Lavants Leben einen wichtigen Stellenwert ein, gerade in ihren Gedichten. Doch die metaphysische Rückbindung vollzieht sich nicht reibungslos, wie Armin Wigotschnig in seinen Erinnerungen an Gespräche mit Chr. Lavant darlegt72, und im Gedicht Wer dich fragt um die Wunde der Welt, dem zeig Hiroshima73 kann nachgewiesen werden, dass sie das Theodizee-Problem aufgreift. So kann das Erzählen für Chr. Lavants Leben nicht in der Selbstfindung aufgelöst werden. Was sicher bleibt, ist der Schmerz und die Angst.
71 Ebd.; 49. 72 Wigotschnig, Armin : Erinnerungen an Gespräche mit Christine Lavant. In : Christine Lavant. Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben. Hrsg. von Armin Wigotschnig und Johann Strutz. 1978 ; 19. 73 Lavant, Christine : Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Mit einem Nachwort von Doris Moser. 2017 ; 157.
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9. Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Thomas Bernhard Umso ärger, wenn keine der Möglichkeiten dem Herzbegehr entspricht. Dann ist es fast am besten das zu tun, was einem am schwersten fällt. Wenn schon denn schon. Wenn nicht Himmel dann ordentlich die Hölle. (Auszug aus einem Brief von Christine Lavant an Hilde Domin vom 2. Juni 1960)1 Ein Jammer, sagte er, dass wir mit allem, was wir wissen, nicht weiter kommen. (Thomas Bernhard zitiert in Ein Kind seinen Grossvater)2
Gleich wie im vorhergehenden Kapitel 8 geht es im Folgenden darum, die im Kapitel 5 erarbeiteten drei Bereiche der ethischen Dimension anhand der autobiographischen Schriften von Th. Bernhard zu untersuchen und aufzuzeigen, inwiefern eine solche Analyse für die produzierende als auch für die rezipierende Seite sowie für das Erzählte relevant ist. Die folgenden Ausführungen zu Th. Bernhard werden noch durch einen zusätzlichen Bereich mit dem Titel « Humor, Übertreibungskunst und Narrentum » ergänzt (vgl. Kapitel 9.4). Dieser Exkurs, der gleichzeitig den inhaltlichen Abschluss des Buches darstellt, weist auf den Notausgang in der Diskussion der ethischen Dimension hin. 9.1 Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben In einem Interview von Asta Scheib, welches am 17./18. Januar 1987 in der Süddeutschen Zeitung erschien, gibt Th. Bernhard Auskunft über seine Schreibanfänge : 1 Lavant, Christine : Christine Lavant – Hilde Domin. Briefwechsel. In : Über Christine Lavant. Lesererfahrung. Interpretationen – Selbstdeutung. Hrsg. von Grete Lübbe-Grothues. 1984 ; 152. 2 Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 455.
Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben
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Mein Grossvater war Schriftsteller. Erst nach seinem Tode habe ich mich getraut, selber zu schreiben. Als ich 18 war, wurde in dem Heimatdorf des Grossvaters eine Gedenktafel für ihn enthüllt. Nach der Feier gingen alle ins Gasthaus, das meiner Tante gehörte. Da sass dann auch ich, und meine Tante sagte zu Zeitungsredakteuren, die dabei waren : « Da sitzt der Enkel, der wird nichts. Aber vielleicht kann er ja schreiben. » Einer hat dann gesagt : « Schicken Sie ihn mir am Montag. » Da bekam ich den Auftrag, über ein Flüchtlingslager zu schreiben. Am nächsten Tag stand mein Bericht schon in der Zeitung. Ich habe in meinem ganzen Leben nie mehr ein solches Hochgefühl erlebt. Ein ganz grossartiges Gefühl, dass man etwas schreibt und über Nacht gedruckt wird – wenn auch verstümmelt und gekürzt. Aber immerhin war es drinnen. Von Thomas Bernhard. Da hatte ich Blut geleckt am Schreiben. Zwei Jahre habe ich dann Gerichtsreportagen geschrieben. Die sind mir später beim Prosaschreiben wieder gegenwärtig geworden. Ein unschätzbares Kapital. Ich glaube, da liegen die Wurzeln.3
Ob diese « Wurzeln » stimmen oder ob es Th. Bernhard zuspitzt ? Es ist zumin dest ein plausibler Grund, weshalb er mit dem Schreiben angefangen hat. Im Laufe seines Lebens hat er noch weitere Gründe angegeben. So hält er im Monolog Drei Tage fest, er habe aus « Opposition gegen sich selbst und gegen diesen Zustand »4 angefangen, Bücher zu schreiben, im selben Monolog verweist er auf seinen Sanatoriumsaufenthalt, als er über verschiedene Jahreszeiten denselben Berg sich ansehen musste ; die Langeweile und das « Alleinsein mit diesem Berg »5 habe ihn zum Schreiben gebracht.6 Sicher ist, dass Th. Bernhard, als er die Möglichkeit erhielt, einen Artikel zu schreiben, der erst noch sofort gedruckt wurde, mit dem Schreiben nicht mehr aufgehört hat. Es gab zwar immer wieder Pausen, in denen er nichts schrieb und die Zeit nutzte, um etwa seinen Vierkanthof zu renovieren, aber bis zu seinem Tode veröffentlichte er in sehr regelmässigen Abständen Bücher, in bestimmten Jahren gleich mehrere hintereinander, so Die Ursache und Korrektur, beide 1975. Sicher ist auch, Th. Bernhard spricht im Zusammenhang des Schreibens immer wieder von dem « Hochgefühl », das diese Tätigkeit bei ihm auslöse. So schreibt Th. Bernhard am 14.12.1965 an Unseld, er erliege immer weniger der « Versuchung, die Arbeit einer besseren Unterhaltung 3 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 335 f. 4 Bernhard, Thomas : Drei Tage. Hamburg 5. Juni 1970. Ein Porträt von Ferry Radax (DVD). In : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard. Regisseur ist Ferry Radax. 2010 ; 30.50 min–30.55 min. 5 Ebd.; 32.33 min–32.37 min. 6 Ebd.; 32.20 min–32.57 min.
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Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Thomas Bernhard
wegen zu fliehen, zu unterbrechen, weil ich jetzt mit der fürchterlichen Deutlichkeit des geborenen Egoisten sehe, dass meine Arbeit mein einziges Vergnügen, meine einzige Freude, meine grösstmögliche Unzucht [sei]. »7 Mehr als zwanzig Jahre später wiederholt er die Bedeutung des Schreibens für ihn im Interview mit Scheib : « Ich habe mein Vergnügen am Schreiben », und fügt gleich hinzu : « Das ist nichts Neues. »8 Wie schwierig Th. Bernhard es den Rezipierenden trotzdem macht, den Stellenwert zu nennen, den das Schreiben für ihn hat, zeigt eine Stelle in einem Brief, datiert auf den 1. Mai 1957, an seinen Freund Fritsch : Im Grunde bedeutet es gar nichts, Autor, oder so ein Mann zu sein, der seine Schreibereien auf den Markt trägt. Mir wäre es lieber, ich könnte mit Butterstriezeln auf den Markt fahren – nicht, weil ich damit mehr verdienen würde ; die Leute, die Butterstriezeln verkaufen, sind wichtiger – und es gehört viel Mut dazu, ein im Letzten sinnloses, unangebrachtes und täglich zehn- und tausendmal lächerliches Leben zu führen. […] Eins ist sicher : ich habe nie schreiben wollen ! Ich beneide jeden, der neben mir – in unwiederbringlicher Ruhe – Schuhe macht, oder Käse glatt stampft. Aber, ich kann nicht mehr zu den Schuhen zurück. Die teuflischen Verse werden mich vernichten !9
Hier verhält sich Th. Bernhard ganz anders zum Schreiben, als oben zitiert, er geht so weit zu negieren, er habe jemals schreiben wollen. Diese Widersprüchlichkeit, das Nichtfestlegenkönnen lässt sich ebenso im autobiographischen Schema und in der Ursachenforschung nachweisen. Auch wenn im Folgenden Erklärungsansätze formuliert werden und auf den Skeptizismus verwiesen wird, um diese Widersprüche verstehbar zu machen, es bleiben letztlich Irritationen, es bleiben Leerstellen. Um den Zusammenhang von Schreiben und Leiden bei Th. Bernhard zu zeigen, das heisst, sich dem präfigurierenden Moment von Th. Bernhard weiter anzunähern, wird im Folgenden auf das Gedicht Das Jahr ist wie das Jahr vor tausend Jahren10 zurückgegriffen, welches in dem Band mit dem Titel Unter dem Eisen des Mondes 1958 veröffentlicht wurde. Das lyrische Ich thematisiert 7 Bernhard, Thomas und Siegfried Unseld : Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger et al. 2011 ; 32. 8 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 337. 9 Bernhard, Thomas : Thomas Bernhard. Gerhard Fritsch. Der Briefwechsel. Mit zahlreichen Abbildungen. Hrsg. von Raimund Fellinger und Martin Huber. 2013 ; 11. 10 Bernhard, Thomas : Gesammelte Gedichte. 2017 ; 153.
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hier die Vergänglichkeit und das, worin die Vergänglichkeit ihre Erfüllung findet, nämlich den Tod :
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Das Jahr ist wie das Jahr vor tausend Jahren, wir tragen den Krug und schlagen den Rücken der Kuh, wir mähen und wissen nichts vom Winter, wir trinken Most und wissen nichts, bald werden wir vergessen sein und die Verse zerfallen wie Schnee vor dem Haus. Das Jahr ist wie das Jahr vor tausend Jahren, wir schauen in den Wald wie in den Stall der Welt, wir lügen und flechten Körbe für Äpfel und Birnen, wir schlafen während unsre beschmutzten Schuhe vor der Haustür verwittern. Das Jahr ist wie das Jahr vor tausend Jahren, wir wissen nichts, wir wissen nichts vom Untergang, von den versunkenen Städten, vom Strom in dem Pferde und Menschen ertrunken sind.
Das lyrische Ich beschreibt in der ersten Strophe die Menschen, die seit jeher ihren Alltag nachleben, ohne von ihrem Ende, von ihrem Tod zu wissen. Nicht nur wissen die Menschen nichts von diesem Ende, sondern sie werden ebenso vergessen sein, genauso wie die Verse des lyrischen Ich. In der zweiten Strophe greift das lyrische Ich das Bild des Waldes auf, um das Neben-, Unter- und Übereinander von Dingen und Wahrnehmungen zu symbolisieren ; Dinge und Wahrnehmungen, die so angeordnet sind, dass der Überblick fehlt. Gleichzeitig leben die Menschen ihren Alltag, sie lügen und flechten und schlafen, währenddessen die Zeit voranschreitet und die Menschen sich ihrem Ende nähern. In der letzten Strophe greift das lyrische Ich nochmals auf das Nichtwissen vom Untergang zurück und legt dar, dass die Räume der Menschen, nämlich die Stadt und das Land (in Form des Symbols des Pferdes, Vers 15), sowie die Menschen selber ertrunken sind, ertrunken in der Zeit. Das lyrische Ich beklagt in diesem Gedicht die Ausweglosigkeit des Menschen nicht, es ist distanziert, es beschreibt seine Sicht der Dinge nüchtern. Die Wiederholung des Zeilenanfangs der ersten Strophenzeile erzeugt bei den Rezipierenden eine Monotonie und widerspie-
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gelt so den Inhalt des Gedichtes, indem die Zeilen auf das immer wieder Gleiche und stets sich Repetierende hinwirkt. Auch wenn das lyrische Ich sich von der Ausweglosigkeit distanziert, die Stimmung bleibt melancholisch. Anhand von diesem Gedicht kann ein Aspekt dargelegt werden, der auf den Zusammenhang zwischen Th. Bernhards Schreiben und Leiden verweist. Th. Bernhard schlägt keine (realistischen) Lösungen vor, er will die Welt nicht verändern mit seinem Schreiben. Wie das lyrische Ich zwar die Vergänglichkeit schildert, ja, implizit auch anklagt, so verlässt Th. Bernhard doch die deskriptive und anklagende Ebene in seinen Werken nie. Er weist auf Missstände hin, führt sie in seinem spezifischen Sprachduktus aus, aber Lösungsvorschläge präsentiert er den Rezipierenden nicht. « Zorn und Verzweiflung »11 seien seine einzigen Antriebe, sagt er in einem Interview mit Jean-Louis de Rambures, welches am 2. Februar 1985 in Le Monde veröffentlicht wurde, auch habe er das Glück, in Österreich den idealen Ort dafür gefunden zu haben. Kennen Sie viele Länder, wo ein Minister sich extra bemüht, um die « Rückkehr in die Heimat » eines SS-Offiziers zu begrüssen, der für den Tod tausender Menschen verantwortlich war ? […] Im ersten Stock spielt man Geige. Im Keller öffnet man die Gashähne. Eine typisch österreichische Mischung aus Musik und Nazismus. Ja, wirklich, wenn dieses Land sich ändern sollte, bliebe mir nichts anderes übrig, als auszuwandern.12
Das einzige, was Leute wie er tun könnten, sei, so Th. Bernhard im Fernsehgespräch mit Fleischmann, Zukunftsvisionen aufzuschreiben, aber bewirken könne er nichts, weil die Welt ihren Weg gehe, und genauso wie sein lyrisches Ich hält er fest, « alles entsteht, vergeht, alles kommt und geht, alles wird weggeputzt »13, und stellt im Anschluss die rhetorische Frage an Fleischmann, was sie da verändern wolle.14 Und weiter relativiert Th. Bernhard gerade in der nächsten Antwort die erwähnten Zukunftsvisionen, denn von denen gebe es sehr viele und auch die herausgegriffenen und niedergeschriebenen seien für die « Katz ». Der Spass sei nur, was man daraus mache, « was sozusagen als Kunstwerk anzuschauen ist »15. Eine Quelle für Zorn und Verzweiflung ist eben die Rahmengeschichte, vor allem der Staat Österreich und seine Bevölkerung, die u. a. die Vergangenheit 11 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 275. 12 Ebd.; 275 f. 13 Ebd.; 310. 14 Ebd. 15 Ebd.
Das Leiden, das Erzählen und das Schreiben
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nicht aufgearbeitet haben. Die andere stellt seine eigene Biographie dar, allen voran seine körperlichen Leiden.16 In einem Interview, das Werner Wögerbauer am 15. Juli 1986 mit Th. Bernhard führte (aber erst posthum 2006 veröffentlicht wurde), antwortet Th. Bernhard auf die Frage, ob die Krankheit der Motor zu schreiben sei : Ja, vielleicht, kann schon sein. Nachdem die lebenslänglich immer da war. Und wie man sieht, sind einige Leute immer todkrank, leben aber ewig lang. Für alle diese Leute war das immer günstig. Eine Krankheit ist ja immer ein Kapital. Jede überstandene Krankheit ist eine tolle Geschichte, denn es kann Ihnen niemand in irgendeiner Weise Ähnliches in die Kasse hineinfallen lassen.17
Diese Schreibquelle für Th. Bernhard wird auch von anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern und von Forschenden bestätigt. So hält Elfriede Jelinek in ihrem Nachruf fest : « Ich glaube, es sind die früheren Krankheitserfahrungen des lebenslang kranken Thomas Bernhard, die ihm den Blick geschliffen haben, die ihn trotzig auf seinem Platz haben beharren lassen, nur damit ihn kein andrer besetzen kann. »18 Oder einer der Biographen von Th. Bernhard, Manfred Mittermayer, sagt : Angesichts solcher Erlebnisse [Mittermayer bezieht sich an dieser Stelle auf den Sanatoriumsaufenthalt des Achtzehnjährigen in St. Veit] formt sich in dem Kranken ein unbeirrbares Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit der zivilisatorischen Gefüge und der menschlichen Errungenschaften angesichts der Übermacht der Natur, von Krankheit und Tod.19
Dieser Zusammenhang, den ebenso Schütte20 und Honold21 in ihren Analysen betonen, erstaunt angesichts der Biographie von Th. Bernhard und die Nähe sei16 Peter Fabian, der Halbbruder und Arzt von Th. Bernhard, hält in diesem Zusammenhang fest : « Er war also seit gut zehn Jahren ein Mensch, der seinen Tod eigentlich immer absehen hat können. Er hat nie gewusst, leb’ ich nächstes Jahr noch oder halt’ ich noch ein Jahr durch, halt’ ich noch zwei Jahre durch. » (Fleischmann, Krista : Thomas Bernhard – Eine Erinnerung. Interviews zur Person. 1992 ; 161). 17 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 295. 18 Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 161. 19 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. Eine Biografie. 2015 ; 78 f. 20 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. 2010 ; 10. 21 Honold, Alexander : Bernhards Dämonen. In : Thomas Bernhard – eine Einschärfung. Hrsg. von Joachim Hoell et al. 1998 ; 18.
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nes literarischen Schaffens an seiner Biographie wenig.22 Die Gefühle des Zornes und der Verzweiflung, ausgelöst durch die Leidensquellen von innen und aussen, nahmen im Verlaufe seines Lebens eher zu als ab ; davon zeugt die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Roman Holzfällen (1984)23 oder mit dem Drama Heldenplatz (1989)24. Wie für Chr. Lavant sind auch für Th. Bernhard die Bücher wichtige Verbündete im Umgang mit dem Leiden. Diese Relevanz der Literatur wuchs im Verlaufe seines Lebens. So hält er in dem Monolog Drei Tage fest, er habe bis zum 17. Oder 18. Lebensjahr « nichts so gehasst wie die Bücher »25, Bücher, die bei seinem Grossvater so zahlreich herumstanden und durch die er täglich hindurchgehen musste. Am Ende des Bandes Der Keller, also ungefähr in dem Alter, auf das Th. Bernhard in dem Monolog Drei Tage sich bezieht und der Wechsel des Stellenwertes der Literatur sich vollzieht, sagt er in der gewohnt zugespitzten Art : Diese Entdeckung, dass die Literatur die mathematische Lösung des Lebens und in jedem Augenblick auch der eigenen Existenz bewirken kann, wenn sie als Mathematik in Gang gesetzt und betrieben wird, also mit der Zeit als eine höhere, schliesslich die höchste mathematische Kunst, die wir erst dann, wenn wir sie ganz beherrschen, als Lesen bezeichnen können, hatte ich erst nach dem Tod des Grossvaters machen können, diesen Gedanken und diese Erkenntnis verdanke ich seinem Tod.26
Die Literatur steht also für Th. Bernhard, den Lesenden und den Schreibenden, bis zu seinem Tod gerade im Umgang mit dem Leiden an höchster Stelle. Er hat bis zu seinem Todestag, und dies im Gegensatz zu Chr. Lavant, geschrieben und publiziert. Auch wenn das Schreiben für Th. Bernhard aus unterschiedlichen Gründen so wichtig ist, ein Heilmittel gegen das Leiden ist es nicht. Zwar 22 Aufgrund der grossen Relevanz des Leidens für das Schreiben erstaunt es auch nicht, wenn es in Der Atmen heisst : « Der Kranke ist der Hellsichtige, keinem anderen ist das Weltbild klarer. » (Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 250). 23 Vgl. dazu : Huber, Martin und Schmidt-Dengler, Wendelin : Kommentar. In : Thomas Bernhard. Holzfällen. Hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. 2007 ; 203–242. 24 Vgl. dazu : Judex, Bernhard : Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung. 2010 ; 137–139. 25 Bernhard, Thomas : Drei Tage. Hamburg 5. Juni 1970. Ein Porträt von Ferry Radax (DVD). In : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard. Regisseur ist Ferry Radax. 2010 ; 30.20 min–30.40 min. 26 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 306.
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kann das Leiden bei Th. Bernhard durch das Aufschreiben in Teilen mithilfe der Konfiguration eingeebnet werden, es ist dank der Sprache möglich, sich auf den Weg zum Erkenne-dich-selbst zu machen, und so das Leiden im Erzählten zu thematisieren, indem Gründe genannt und auf bestimmte Folgen hingewiesen werden. Im Gegensatz zu Chr. Lavant, die direkt auch in Zorn und Verzweiflung schreibt, nimmt bei Th. Bernhard im präfigurierenden Moment stärker Bezug auf die Erinnerungsstrukturen im Zusammenhang der Rahmengeschichte. Bei Chr. Lavant wird diese nur implizit thematisiert, sie ist ein Teil des refigurierenden Momentes, dieser Aspekt wird in der ethics of reading mitreflektiert. Bei Th. Bernhard hingegen stellen der Nationalsozialismus und nach dessen Zusammenbruch das Ersatzprogramm des Katholizismus sowie das nach wie vor schwelende nationalsozialistische Gedankengut einen wichtigen Widerpart dar, um sich daran abzuarbeiten, wie schon der Einstieg in Die Ursache belegt27. Dank des Schreibens von Th. Bernhard können die Rezipierenden die autobiographischen Schriften als eine « Schlüsselstellung im Verhältnis von Werk und Autor »28 ansehen, Material also, das hilfreich ist in der Auseinandersetzung des ethics of reading und der ethics of telling. Auch hier dient das Erzählte von Th. Bernhard den Rezipierenden dazu, Wege aufgezeigt zu bekommen, wie auf Leidenserfahrungen reagiert werden kann, um so ihr Autonomiestreben zu unterstützen. Es bleibt festzuhalten, dass das Schreiben aus einer ethischen Perspektive für das Erzählen von Leidenserfahrungen relevant ist, allerdings darf vom Schreiben nicht zu viel erhofft werden, denn, wie nun aufgezeigt wurde, das Leiden kann auch mithilfe der Transformation zum Text ebenfalls bei Th. Bernhard nicht überwunden werden. 9.2 Das autobiographische Schema 9.2.1 Vertiefung des Inhaltes
Um das autobiographische Schema mit Inhalt zu füllen, wird auf die Vergangenheit zurückgegriffen. Eine Möglichkeit, wie bei dem dafür notwendigen Reduktionsprozess vorgegangen werden kann, die auf der rezipierenden Seite akzeptiert ist, besteht in der Erläuterung der wesentlichen biographischen Stationen 27 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 9–13. 28 Huber, Martin und Mittermayer, Manfred : Kommentar. In : Thomas Bernhard. Die Autobiographie. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 544.
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wie der Kindheit, der Ausbildung oder der Wohnsituation. Bei Th. Bernhard sind diese Elemente auch wichtig, doch er strukturiert sie weiter, nämlich im Kontext des erwähnten Widerstandes. Th. Bernhard sagt : Meine Existenz hat zeitlebens immer gestört. Ich habe immer gestört, und ich habe immer irritiert. Alles, was ich schreibe, alles, was ich tue, ist Störung und Irritierung. Mein ganzes Leben als Existenz ist nichts anderes als ununterbrochenes Stören und Irritieren. Indem ich aufmerksam mache auf Tatsachen, die stören und irritieren. Die einen lassen die Menschen in Ruhe und die anderen, zu diesen anderen gehöre ich, stören und irritieren.29
Wieland Schmid, der Th. Bernhard im Jahre 1954 kennenlernte und den mit ihm eine jahrzehntelange Freundschaft verband, betont im Interview mit Fleischmann (1992), Th. Bernhard hat « den Widerstand gebraucht, und er ist am Widerstand, der ihm entgegengetreten ist, den er zu überwinden hatte, an dem ist er sicherlich gewachsen, und er hat diesen Widerstand provoziert ».30 Bei diesem Widerstand gilt es zwischen einem nach aussen und einem nach innen gerichteten zu unterscheiden. Wiederum ist der innere dem äusseren vorgelagert, das heisst, wenn der innere Widerstand bei Th. Bernhard berücksichtigt wird, ist es auch möglich, den äusseren nachzuvollziehen. Aus psychologischer Sichtweise spielen bei der Heranbildung des inneren Widerstandes die Leidensquellen die entscheidende Rolle. Diese Quellen wirken von aussen auf Th. Bernhard ein, seien es die Erlebnisse im Zusammenhang mit der Schule oder mit der Kirche, seien es die Kritiker und die sogenannte Öffentlichkeit oder seien es die Krankheiten und die Nähe des Todes. Th. Bernhard wählt verschiedene Strategien, um sich damit auseinanderzusetzen. Eine wesentliche Strategie besteht darin, dem Widerstand Gegenwiderstand zu leisten, er richtet sich gegen die Quellen seines Leidens, vor allem gegen Staat, Stadt, Kirche und Schule, im Ganzen gegen die, um ein häufig verwendetes Wort von Th. Bernhard aufzugreifen, Stumpfsinnigkeit der Österreicherinnen und Österreicher. Durch das Aufgreifen der Leidens29 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 134. Im Filmportrait Drei Tage von Ferry Radax kommt Th. Bernhard zweimal an unterschiedlichen Stellen auf den Widerstand zu sprechen (vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Drei Tage. Hamburg 5. Juni 1970. Ein Porträt von Ferry Radax (DVD). In : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard. Regisseur ist Ferry Radax. Berlin : Suhrkamp Verlag. 2010. 16.40 min–18.33 min resp. 30.30 min–31.10 min ; an dieser zweiten Stelle hält er fest : « W iderstände bedeuten mir alles. »). 30 Fleischmann, Krista : Thomas Bernhard – Eine Erinnerung. Interviews zur Person. 1992 ; 20.
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quellen und das Schreiben gegen sie füllt er den Inhalt des Erzählten, mit dem Ergebnis, dass es dann « raus » ist, wie anhand der Verbindung zwischen Leiden, Erzählen und Schreiben erläutert wurde (vgl. dazu Kapitel 9.1). Um sich die Wirkungsweise dieses Widerstandes vorzustellen, kann auf eine Erzählung des jungen Th. Bernhards zurückgegriffen werden. Ausgelöst durch den Widerstand gegen das Gymnasium betritt er das Arbeitsamt und verlässt dieses erst dann wieder, als er eine Lehrstelle angeboten bekommt, der Widerstand löst sich auf, und so wird es möglich, den Weg in entgegengesetzter Richtung fortzusetzen, bis er auf den nächsten Widerstand stösst.31 Welche Rolle bei diesem Prozess der Auseinandersetzung und der Artikulation des Widerstandes die Wahrheit einnimmt, ist für Th. Bernhard klar. Die Wahrheit, die existiere nur für die Richter und für die Welt, aber nicht für die Philosophen, wie Th. Bernhard in Monologe auf Mallorca ausführt und somit implizit auch auf die Ausführungen in den fünf Bänden der autobiographischen Schrift Bezug nimmt.32 Hinzu kommt, dass er gar nicht den Anspruch hat, die « Vollkommenheit » darzulegen ; es sei gar nicht möglich, sie zu erreichen, denn für Geschriebenes und schon gar nicht für Notizen wie diese, die aus Tausenden und Abertausenden von Möglichkeitsfetzen von Erinnerungen zusammengesetzt sind. Hier sind Bruchstücke mitgeteilt, aus welchen sich, wenn der Leser gewillt ist, ohne Weiteres ein Ganzes zusammensetzen lässt. Nicht mehr. Bruchstücke meiner Kindheit und Jugend, mehr nicht.33
Dass dabei die Wahrheit auf der Strecke bleibt, wie Maier in seiner Studie ausführt (vgl. Kapitel 7.1.1), scheint Th. Bernhard bewusst in Kauf zu nehmen, mit 31 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 126. 32 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 240 f sowie Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 135. In die gleiche Richtung argumentiert Sartre in seiner autobiographischen Schrift Die Wörter : « Was ich soeben geschrieben habe, ist falsch. Ist richtig. Ist weder falsch noch richtig, wie alles, was man über diese Verrückten schreibt, über die Menschen. Ich habe die Tatsachen so genau mitgeteilt, wie mein Gedächtnis es zuliess. Aber wieweit glaube ich eigentlich an mein Delirium ? Dies ist die Grundfrage, und dennoch kann ich sie nicht entscheiden. In der Folge habe ich gesehen, dass wir unsere Empfindungen ganz und gar nachempfinden können, mit Ausnahme ihrer Stärke, also ihrer Aufrichtigkeit. » (Sartre, JeanPaul : Die Wörter. Aus dem Französischen von Hans Mayer. 1988 ; 70). 33 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 266.
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weitreichenden ethischen Folgen für das Erzählen von autobiographischem Material. Überhaupt, dass Th. Bernhard bei den Rezipierenden den Anschein erwecken will, er habe das Gymnasium freiwillig verlassen, ist verständlich. Er hat mit dieser Erzählung die Entschlossenheit zum Widerstand erhöht (eine Kraft, die sich auch in der Sprache und in der Form spiegelt), da er so (offenbar) signalisiert, bei diesem Entschluss nicht von aussen gezwungen worden zu sein. Das erzählende Ich kann sich als eines inszenieren, das sich selber behauptet, eines, das für sich selber einsteht und sich dort, wo es möglich ist, gegen die Leidensquellen mit Erfolg entgegenstemmt, eines, das die Zügel des Lebens in den Händen hält.34 Wenn nun dabei auch auf Unwahrheiten ausgewichen wird, ist aus sozialethischer Perspektive problematisch, aus individualethischer Sichtweise hingegen nachvollziehbar, denn es geht bei Th. Bernhard um eine Möglichkeit der Konstituierung des Selbst, indem er Ereignisse erzählt, die Widerstand erzeugten, die wiederum Ereignisse nach sich zogen, welche die Widerstände auflösten usw. Auf den Punkt gebracht ist es das Leiden an Widerständen, ein Leiden, welches das normativ Richtige herausfordert oder gar der Individualethik untergeordnet wird.35 Ein weiterer Aspekt aus produktionsästhetischer Perspektive, der auch mit dem Widerstand zusammenhängt und im Zusammenhang des Inhaltes des autobiographischen Schemas für die ethische Dimension relevant ist, ist die Einsamkeit. Th. Bernhard behauptet in dem Fernsehmonolog Drei Tage, ein Verständlichmachen sei unmöglich, das gebe es nicht, und kurz darauf hält er fest : « Aus der Einsamkeit, aus dem Alleinsein wird ein noch verstärkteres Alleinsein, Abgeschnittensein »36. Es ist die Einsamkeit, die räumliche und zeitliche Distanz zu den Anderen, die dazu verhilft, Widerstand zu leisten, aber auch, weil man eben alleine ist, ohne grosse Schonung der Umgebung, seinen Gedankengängen den entsprechenden Platz freizuräumen. Diese artikulierten Widerstände in seinen fünf Bänden solle man, meint Marcel Reich-Ranicki, zwar ernst, aber nicht wörtlich nehmen, sie « geben in der Regel nicht mehr und nicht weniger wieder als die verzweifelten und verständlichen
34 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 107–109. 35 Vgl. in diesem Kontext der Frage, wie ich leben soll, die Auseinandersetzung zwischen den « moralischen Normen » und den « ethischen Standards » im Eingangsteil zum Kapitel 5. 36 Bernhard, Thomas : Drei Tage. Hamburg 5. Juni 1970. Ein Porträt von Ferry Radax (DVD). In : Der Italiener. Nach einer Erzählung von Thomas Bernhard. Regisseur ist Ferry Radax. 2010 ; 11.20 min–11.34 min.
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Reaktionen eines empfindlichen Halbwüchsigen »37. Diese « verbale[n] Ausbrüche »38, wie Reich-Ranicki die Textpassagen nennt, gilt es noch aus einem anderen Grund ernst zu nehmen, und zwar aus der Perspektive der Rezipierenden. Diese Art von Kritik ist nicht relativierend oder wohlwollend, sondern sie provoziert ganz bewusst, sie fordert heraus, sie zwingt die Rezipierenden, Stellung zu nehmen, sich dem verwirrenden Spiel zwischen Produzierenden und Erzähltem bewusst auszusetzen. Wenn die Rezipierenden weitere Überlegungen anstellen, Argumente suchen, um dem pauschalen Urteil entgegenzusteuern, stehen sie schon inmitten der aktiven Auseinandersetzung. Diese aktive Vertiefung gilt nicht nur auf der individuellen Ebene, bei der sich eine aussenstehende Person Gedanken über die Herrschaftsfelder Staat, Kirche oder Schule macht, sie gilt nicht nur für die dort mehr oder weniger explizit Betroffenen, wie die Gerichtsverhandlungen um Onkel Franz zeigten, sondern auch auf der Makroebene. Th. Bernhards « Schimpftiraden », wie Schütte ausführt, könnten als eine « bewusste Aufkündigung der Regeln einer rational-demokratischen Diskussionskultur, die sich im kodifizierten Spiel von vernünftiger Rede und Gegenrede erschöpft » bezeichnet werden, allerdings ohne « an der gesellschaftlichen Unrechtssituation oder den – nicht nur in Österreich – deprimierenden politischen Zuständen etwas zu verändern. »39 Und genau dieses Moment von Schütte kann als ethics of writing respektive ethics of reading angeführt werden. Zum einen weist dieses Aufkündigen der Bedienung einer standardisierten, sich in Redefloskeln verhedderten Erzählens über sich selber, einer Rede, die bis zur existentiellen Ablehnung der Aussenwelt und sich selber führt, auf eine grosse Gefahr hin, nämlich die Absage an eine konstruktive Lösungssuche der von Schütte beschriebenen Zustände. Auf der anderen Seite kann diese Negierung als Rückbesinnung dienen, welche es den Produzierenden wie auch den Rezipierenden erlaubt, sich über die Gestaltungsmacht ihrer Erzählungen bewusst zu werden, und sich so Klarheit über die Frage nach der Verantwortung für das Erzählte zu verschaffen. 9.2.2 Vertiefung der Sprache
Th. Bernhard beklagt sich im Interview mit Scheib von 1986 über die begrenzte Reichweite der Sprache : 37 Reich-Ranicki, Marcel : Thomas Bernhard. Aufsätze und Reden. Mit Fotografien von Barbara Klemm. 1990 ; 54. 38 Ebd. 39 Schütte, Uwe : Thomas Bernhard. 2010 ; 10.
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Was man auch schreibt – es sind ja doch alles Katastrophen. Das ist ja das Deprimierende an einem Schriftstellerschicksal. Man kann nie zu Papier bringen, was man sich denkt oder vorgestellt hat. Das geht zum grössten Teil mit der Übertragung aufs Papier verloren. Was man liefert, ist nur ein schwacher, lächerlicher Abklatsch dessen, was man sich vorgestellt hat. Das deprimiert einen Autor wie mich am meisten. Man kann sich im Grunde nicht mitteilen. Das ist auch noch niemandem geglückt. In der deutschen Sprache schon gar nicht, weil die ja hölzern und schwerfällig ist, eigentlich schauerlich. Eine grauenhafte Sprache, die alles tötet, was leicht und wunderbar ist. Man kann sie nur sublimieren in einen Rhythmus, um ihr eine Musikalität zu geben.40
Diese Sprachkritik ist eine fundamentale, eine, die Th. Bernhard an unterschiedlichen Stellen in seiner fünfbändigen autobiographischen Schrift wiederholt.41 Doch sie ist nicht neu, sie erscheint schon in dem erwähnten Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal (vgl. dazu Kapitel 5.2.2). Bei der erwähnten Kritik an der Sprache Th. Bernhards gilt zu berücksichtigen, dass es sich bei seiner Kritik vor allem um die metaphysische Ebene handelt. Wie in Kapitel 2.3.3 ausgeführt wurde, zeichnet sich der metaphysische Sprachzweifel dadurch aus, dass die Verknüpfung zwischen Zeichen und Referent nicht oder nur bedingt existiert, das heisst, es fehlt der Wortschatz, um das artikulieren zu können, was artikuliert werden möchte. Warum der Erzähler die Kritik harsch formuliert, führt er nicht aus, er weist nur darauf hin, dass die Sprache grosse, irreparable Defizite aufweise. Das Widersprüchliche ist, genauso wie das Moment, das sich im Chandos-Brief festmachen lässt ; der Erzähler formuliert auf der einen Seite die Sprachkritik, auf der anderen greift er eben auf die Sprache zurück, die er kritisiert, und beweist, er manifestiert gerade zu, wie es sehr wohl möglich ist, sich mit der Sprache auszudrücken. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen ? Sicher kann der Vorschlag von Chandos, man müsste eine Sprache der Epiphanie ausbilden, nicht umgesetzt werden, da es nicht klar ist, wie eine solche Sprache, die einen direk40 Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 152. 41 Eine weitere prominente Textstelle befindet sich im Band Die Kälte : « Die Sprache ist unbrauchbar, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen, Mitteilungen zu machen, sie lässt dem Schreibenden nur die Annäherung, immer nur die verzweifelte und dadurch auch nur zweifelhafte Annäherung an den Gegenstand, die Sprache gibt nur ein gefälschtes Authentisches wieder, das erschreckend Verzerrte, sosehr sich der Schreibende auch bemüht, die Wörter drücken alles zu Boden und verrücken alles und machen die totale Wahrheit auf dem Papier zur Lüge. » (Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 364).
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ten Zugang zu den Dingen habe, beschaffen wäre. Vielversprechender scheint der folgende Vorschlag zu sein : Wenn Th. Bernhard (wie vorhin im zitierten Interviewauszug mit Scheib) festhält, die deutsche Sprache wirke « hölzern und schwerfällig », scheint es, als bestünde für ihn (allerdings nicht für Chandos) eine Möglichkeit darin, auf eine andere Sprache auszuweichen, die in der Lage wäre, die Verbindung zwischen Referent und Zeichen zu überwinden. Doch wenn andere Textstellen von Th. Bernhard hinzugezogen werden, zeigt sich, dass der Vorschlag auch für Th. Bernhard nicht realistisch ist, denn die Sprache als solche, vor allem die verbale, ist nicht in der Lage, das auszudrücken, was sich in einem Subjekt bewegt.42 Das Problem ist, wir können uns nicht von diesem Netz der Sprache emanzipieren, wir sind darauf angewiesen, auf das morphologische, auf das syntaktische und auf das lexikalische Material zurückzugreifen, um uns mitzuteilen. Der Widerspruch bleibt bestehen. Die beiden Möglichkeiten, auf die Th. Bernhard zurückgreift, bestehen zum einen darin, diese Sprachnot kenntlich zu machen, indem er in der autobiographischen Schrift entsprechende metatextuelle Passagen einführt43, und die andere, indem er die Grenzen des Sagbaren auslotet und manchmal sogar überwindet. Diese von Th. Bernhard verwendete, grenzenauslotende Sprache zeugt für Reich-Ranicki « von grossem rhetorischen Schwung »44. Worin dieser rhetorische Schwung besteht, ist in der Forschung ausführlich beschrieben worden.45 Auf der Wortebene greift er auf sprachliche Bilder zurück, auf Metaphern aus Musik oder Theater, um die Grenzen zwischen Faktizität und Fiktion aufzuheben46, er verwendet Wortwiederholungen, Hyperbeln, Superlative, Ansammlung von Genitiven, Komposita, erweitert vielfach Attribute und spezifische Modaladverbien wie « naturgemäss », « immer » und setzt ein Nominalstil ein. Auf der syntaktischen Ebene zeichnet sich die Sprache vor allem durch die langen, mäandrierenden Sätze aus, « generatorenhaft kreisende, grossräumige Satzgebilde »47, die Schachtel- und Kettensätze, aber auch die sogenannten Asthmasätze48. Es sind diese auf der Wort- wie auch auf der 42 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 202–204. 43 Ebd. 44 Reich-Ranicki, Marcel : Thomas Bernhard. Aufsätze und Reden. Mit Fotografien von Barbara Klemm. 1990 ; 54. 45 Zum Beispiel Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. 1995 ; 184–192. 46 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 206. 47 Mittermayer, Manfred : Thomas Bernhard. 1995 ; 188. 48 Ein Asthmasatz wäre zum Beispiel : « Bis heute. » (Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 204).
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Satzebene neu eingeführten Unterscheidungsgewohnheiten, von denen Hampe so viel für die Weiterentwicklung des Subjekts erhofft. Die verwendeten Wörter und die daraus gebildeten Sätze ergeben einen Stil, der, in Anlehnung an Die Berühmten von Th. Bernhard und von Marquart uminterpretierte Einzigartigkeit : « Zwei Takte und es ist Bernhard. »49 Doch dieser Stil ist kein Selbstläufer, er dient nicht primär dazu, ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Literatur sein zu wollen. Vielmehr stellt dieser Stil eine Möglichkeit dar, wie das Leiden in Sprache umgewandelt werden kann, indem sich der Autor so dem Unsagbaren annähert.50 Zum anderen fordert eine solche Sprache (kann gemäss Hampe als ein dissidentes Sprechen verstanden werden) das Primat der Verstehbarkeit bei den Rezipierenden heraus, die Hyperbeln, die Wiederholungen, die Neologismen oder die Kettensätze zwingen sie, von ihren Lese- respektive Verstehensgewohnheiten Abstand zu nehmen und sich aktiv mit dem Geschriebenen auseinanderzusetzen. Gerade weil Th. Bernhard seine fünf Bände veröffentlicht hat, treffen die unterschiedlichen Arten, wie über die Vergangenheit (u. a. die nicht stattgefundene Entnazifizierung) gesprochen werden kann, aufeinander, es provoziert zu einer Reaktion. Daraus resultiert nicht die Forderung, alle sollten sich eine solche Sprache aneignen, sondern es gilt, eine ihm angemessene Sprache im Umgang mit dem Leiden zu finden. Die von Th. Bernhard verwendete radikale Sprache, die fliessend zwischen literarischen und nichtfiktiven Texten und Äusserungen zum Beispiel in Form von Interviews oszilliert, kann als ein Wegweiser verstanden werden, uns aktiver darum zu bemühen, den für uns angemessenen Wortschatz sowie die angemessene Satzstruktur zu suchen. Th. Bernhard hat die ihm angemessene Sprache gefunden, sie deckt sich mit den Leidenserfahrungen ; Sprache und Inhalt sind kongruent, allerdings nur von aussen, denn für Th. Bernhard selber besteht eben die Lücke zwischen Referenten und Zeichen. Im Gegensatz zu dem pragmatischen oder auch zum semantischen Sprachzwei49 Marquardt, Eva : Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. 1990 ; 7. 50 Ein Beispiel, bei dem sowohl auf der Wort- als auch auf der Satzebene wesentliche Elemente der Sprache Th. Bernhards enthalten sind, kann der Beginn im ersten Band Die Ursache genannt werden. Der Inhalt, nämlich der Widerstand gegen die Stadt Salzburg und ihre Bevölkerung, wird auch mit einem Widerstand in der Sprache abgearbeitet, wie der folgende Auszug eines ausufernden Satzes mit Wortwiederholungen und Hyperbeln aus dem Beginn der autobiographischen Schrift zeigt : « […] mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit immer wieder solche irritierende und enervierende und krankmachende und erniedrigende und beleidigende und mit grosser Gemeinheit und Niederträchtigkeit begabten Einwohner produzierende Voralpenklima erzeugen […]. » (Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 9).
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fel sind Th. Bernhards Möglichkeiten, diesen Zweifel zu therapieren, deutlich eingeschränkt. Für den pragmatischen Zweifel bestünde ja eine Therapie darin, im Gegenüber eine grössere Präzision des sprachlichen Ausdrucks zu verlangen, beim semantischen kann man sich selber bemühen und das Gegenüber darauf aufmerksam machen, bestimmte, leergelaufene Redewendungen, Alltagsformulierungen nicht mehr zu verwenden. Beim metaphysischen Zweifel hingegen ist die Ausgangslage viel schwieriger. Es kann innerhalb der morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Möglichkeiten einer Sprache eine andere Anwendungsform gefunden werden, wie Th. Bernhard es tut. Auch schon kleinere Abweichungen reichen aus, um sich selber zu ermächtigen, um sich innerhalb des bedingten Rahmens der Sprache ein wenig zu emanzipieren. Die Idee, dass sich eine neue Sprache, eine sogenannte Plansprache, entwickeln und vollständig durchsetzen liesse – einige gescheiterte Versuche gibt es – ist illusorisch, die Sprachgemeinschaft übt einen viel zu starken Druck auf die entgegensetzte Richtung aus. Es hindert einen niemand daran, solcher Plansprachen zu bedienen, doch ein wesentliches Ziel der Sprache besteht eben darin, das Verstehen zu ermöglichen, was solche Sprachen nur bedingt können, zu gering ist die Verbreitung. Auch wenn Th. Bernhard einen Weg gefunden zu haben scheint, wie mit diesem metaphysischen Zweifel umzugehen ist, der Zweifel an der Reichweite der Sprache bleibt, und zwar radikal. So sagt er am Ende des Bandes Die Kälte : « Ich spreche die Sprache, die nur ich allein verstehe, sonst niemand, wie jeder nur seine eigene Sprache versteht, und die glauben, sie verstünden, sind Dummköpfe oder Scharlatane. »51 Doch auch dieses Diktum muss relativiert werden, denn, wie Wittgenstein zeigt, ist eine Privatsprache nicht möglich (vgl. Kapitel 2.3.3), gerade in diesem Kontext nicht, weil die von Th. Bernhard formulierten und veröffentlichten Gedankengänge ein Verstehen ermöglichen und sich also der Sprecher seiner Sprachgemeinschaft bedient. 9.2.3 Vertiefung der Form
Auch in der Form, die Th. Bernhard in seinen fünf Büchern verwendet, lässt sich nachweisen, wie der Erzähler sich sträubt, der Forderung des autobiographischen Schemas nachzukommen. Ebenso hier ist der Geschichtenzerstörer am Werk. Wie Marquart allerdings festhält, geschieht die Auflehnung in einer weniger radikalen Weise, als es bei Michel Leiris oder bei Roland Barthes der Fall sei, vor 51 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 205.
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allem was die Chronologie der erzählten Ereignisse betreffe.52 Doch auch bei Th. Bernhard wird die (vor allem inhaltlich-logische) Kohärenzforderung aufgebrochen, sei es mit den metatextuellen Passagen über Schreiben und Erinnerung53 oder über Wahrheit und Sprache54, sei es, indem er längere intertextuelle Bezüge herstellt, allen voran zu de Montaigne55, sei es über die zahlreichen Sprünge und Brüche, bis hin zu mehr oder weniger offensichtlichen Widersprüchen56. Zwar kommt Th. Bernhard der Forderung des autobiographischen Schemas nach, indem er auf das Wieso und Warum in seinen Bänden eingeht, doch genau so wichtig sind die erwähnten metatextuellen Passagen, welche das Erzählen von Erinnerungen immer wieder unterbrechen. Auch wenn er mit dem Damals-Heute-Schema in Teilen oder auch mit der mehrheitlich eingehaltenen chronologischen Erzählweise sein autobiographisches Material homogenisiert, die erwähnten Strategien verunmöglichen letztlich eine vollständige Synthetisierung des heterogenen Materials und lösen somit die Kohärenzforderung, die von diesem Schema ausgeht, nicht ein. Die Rezipierenden werden zusätzlich auf der formalen Ebene vom Erzähler irritiert, weil sich dieser inhaltlich (etwa durch das Aufgreifen des hohen Stellenwertes seines Grossvaters für seine Entwicklung57), methodisch (indem er einen Widerstand formuliert und aufzeigt, wie er diesen löst58) und sprachlich (repetierende Satzstrukturen sowie Wörter59) wiederholt. 52 Marquardt, Eva : Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. 1990 ; 176. 53 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 266. 54 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 364. 55 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 87/93/100. 56 Vgl. zu den Sprüngen, Brüchen und Widersprüchen : Maier, Andreas : Rhetorik der Bedeutung. Thomas Bernhard in seiner Prosa. Mattighofen : 2015 ; 329-401. Oder auch bei Th. Bernhard u. a. die folgenden Textstellen (jeweils ab den letzten drei Zeilen der Seiten) : Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 251 f resp. 271. 57 Vgl. dazu : ebd.; 232 und Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 453. 58 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 120 und Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 240 f. 59 Ein Beispiel für wiederholende Satzstrukturen und Wörter befindet sich ab der Zeile 25 der folgenden Textstelle : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 138.
Das autobiographische Schema
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Diese inhaltlichen und sprachlichen Wiederholungen stören den Lesefluss, da keine neuen Informationen erzählt werden, als Zuhörer würde man erwidern mit : « Haben Sie schon erzählt » ; oder man ist im Rhythmus und im Strom der Sprache verstrickt, das heisst, vom Gesagten abgelenkt. Die Redundanz erfüllt auf der methodischen Ebene noch eine weitere Funktion. Anhand von Gergen und Gergen wurden in Kapitel 3.3 drei Typen von Erzählung unterschieden, nämlich die Stabilitäts-, die Regressions- und die Progressionsnarration. Der Widerstand stellt zuerst eine Regressionsnarration dar (z. B. die Todesnähe im Grafenhof60), dieser Widerstand wird aufgelöst (Stabilitätsnarration ; entschloss sich, weiterzuatmen) und der Protagonist ist daraus gestärkt hervorgetreten (Progressionsnarration ; der Lebenswille ist erwacht und führte dazu, dass er sich für weitere Widerstände gewappnet sieht). Auch in dieser Hinsicht ist die Varianz gering, es ist wie mit dem Ein- und dem Ausatmen : Der Widerstand wird eingeatmet, transformiert und wieder ausgeatmet, der nächste Widerstand wird eingeatmet usw. Wie der Erzähler in der bereits oben ausgeführten Textstelle betont, zieht sich diese Konfrontation und deren Auflösung durch sein Leben : « Mein ganzes Leben als Existenz ist nichts anderes als ununterbrochenes Stören und Irritieren. »61 Die Leidensquellen, die in Form von Widerständen auf Bernhard treffen, werden als ein erklärbares Muster aufgefasst, ein Verstehen des Leidens wird dadurch möglich. Neben diesen Irritationen und Ablenkungen kommt noch ein weiteres Moment bei Th. Bernhard hinzu, das sich in seiner autobiographischen Erzählung durchzieht und sowohl für ihn als Produzenten wie auch für die Rezipierenden wesentlich ist : Es geht um die Strategie, das Individuelle mit dem Allgemeinen zu verbinden. Es handelt sich dabei um eine Form des Erzählens, die zwar nicht spezifisch für Th. Bernhard ist, aber für den Umgang mit dem Leiden auf der formalen Ebene wichtig ist. Um diesen Gedanken zu illustrieren, kann auf die Textstelle zurückgegriffen werden, in der Th. Bernhard, ausgelöst durch seine Erfahrungen im Sterbezimmer im Sanatorium, über den Tod nachdenkt : Ganz natürlich hatte ich hier den Eindruck von Marionetten haben müssen, nicht von Menschen, und gedacht, dass alle Menschen eines Tages zu Marionetten werden müssen und auf den Mist geworfen und eingescharrt oder verbrannt werden, ihre Existenz 60 Vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 225. 61 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 134.
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mag davor wo und wann und wie lang auch immer auf diesem Marionettentheater, das die Welt ist, verlaufen sein. Mit Menschen hatten diese an ihren Schläuchen wie an Schnüren hängenden Figuren nichts mehr zu tun.62
Auf der produzierenden und auf der rezipierenden Seite hilft die Form des Erzählens, bei dem die Blickrichtung vom Individuellen auf das Allgemeinen gerichtet wird, das eigene Leiden nicht als ein isoliertes zu betrachten, es somit zu individualisieren, sondern als das zu verstehen, was es ist, nämlich ein allgemein menschliches. Abschliessend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Th. Bernhard in seiner (Leidens-)Erzählung nicht nur eine dissidente Sprache, sondern auch eine dissidente Form verwendet. Ebenfalls hier wie bei der Sprache zeigt diese Form, wie das autobiographische Material ausgerichtet werden kann, eine Vorgehensweise, die vom herkömmlichen Schema abweicht, mit entsprechender Folge auf der Ebene der Refiguration. 9.3 Ursachenforschung Ein Element, das die fünf Bände Th. Bernhards verbindet, stellt die Ursachenforschung dar. Intensiviert wird diese Suche in Die Kälte und mit dem erneuten Rückfall der Lungenkrankheit. Th. Bernhard hält gleich zu Beginn des Bandes fest : « Mit dem sogenannten Schatten auf meine Lunge war auch wieder ein Schatten auf meine Existenz gefallen. »63 Dieser Schatten auf seiner Existenz führt zur kritischen Auseinandersetzung mit seinem Leben, er forscht wieder intensiv nach seiner Herkunft, nach seinem Werden, sucht Gründe, um sein Leben nachvollziehbar zu machen und zu rechtfertigen. An einer Textstelle soll untersucht werden, wie genau Th. Bernhard bei der Ursachenforschung des eigenen Materials vorgeht (die folgende Passage aus Die Kälte wurde aus mehreren Seiten zusammengestellt) :
62 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 244. Eine andere Textstelle, in der der Erzähler auf das Allgemeine zielt, ist die folgende : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 161. 63 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 313.
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Ich sass auf dem Baumstumpf zwischen zwei Buchen und beobachtete die paarweise spazierengehenden Männerpatienten weiter unten, die immer dann spazierengingen nach Vorschrift, wenn die Frauen auf der Liegehalle zu liegen hatten […]. Ich sass auf dem Baumstumpf und beobachtete hinter dieser Beobachtung meine Salzburger Zwischenzeit, die Zeit zwischen Grossgmain und Grafenhof, eine Schreckenszeit, eine Zeit der Demütigung und der Trauer : Ich war jenen Wegen durch die Stadt gefolgt, die ich mit meinem Grossvater gegangen war, ich war durch jene Gassen gegangen, die mich zu meinen Musikstunden geführt hatten, ich getraute mich, schüchtern und in aller Heimlichkeit, sogar in die Scherzhauserfeldsiedlung, ohne allerdings den Podlaha und sein Geschäft aufzusuchen, ich stand in entsprechendem Abstand vor seiner Lebensmittelhandlung und beobachtete die Kundschaft, ich kannte sie. Ich hätte mich unter keinen Umständen in das Geschäft hineinzugehen getraut, ja ich getraute mich nicht einmal, die mir vertrauten Kunden des Podlaha, die in nur fünfzig oder hundert Metern Entfernung von mir vorbeigingen, anzusprechen, jedesmal, wenn es so ausschaute, als käme es zu einer Begegnung, zu einer Konfrontation, versteckte ich mich, ich war ein Versager, ich hatte versagt, ich hatte mich bei dem lächerlichen Abladen von Erdäpfeln im Schneetreiben verkühlt, war krank geworden, ausgeschieden aus der Scherzhauserfeldsiedlungsgemeinschaft, ausgestossen worden, vergessen wahrscheinlich. […] Ich sass auf dem Baumstumpf und starrte meine Existenz an, die ich so innig lieben, gleichzeitig so entsetzlich hassen musste. […] Auf dem Baumstumpf sitzend, sah ich die absolute Absurdität meiner Existenz. […] Auf dem Baumstumpf sitzend, das Heukareck vor mir, betrachtete ich die Infamie einer Welt, aus der ich mich mit allen Vorbehalten gelöst, herausgeschwungen hatte, um sie aus meinem Winkel und durch meine Objektivität sehen zu können. […] Auf dem Baumstumpf sitzend, fragte ich mich nach meiner Herkunft und ob es mich überhaupt zu interessieren hat, woraus ich entstanden bin, ob ich die Aufdeckung wage oder nicht, die Unverfrorenheit habe oder nicht, mich zu erforschen von Grund auf. Ich hatte es nie getan, es war immer verwehrt gewesen, ich selbst hatte mich geweigert, Schicht um Schicht abzubauen, dahinterzukommen, ich fühlte mich nie dazu imstande, zu schwach, zugleich unfähig, und was hatte ich in der Hand und im Kopf für diese Expedition, ausser Verschwommenes, Verwischtes, unmutiges Angedeutetes ? […] Ich hatte niemals aufgehört, an die Beweise zu kommen, mein ganzes Leben war ich nach Beweisen für meine Existenz aus gewesen, einmal mehr, einmal weniger intensiv, aber immer inständig und konsequent, hatte ich aber solche Beweise in Händen und hatte ich sie im Kopf, waren sie doch nicht stichhaltig genug, erwiesen sie sich als unbrauchbar, irreführend, als Rückschritt. Ich befasste mich naturgemäss auch mit den Beweggründen, die mich veranlassten, an Beweise für meine
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Herkunft zu kommen, ich verachtete zeitweise die Intensität, mit welcher ich unbedingt solche Beweise haben wollte, weil ich wusste, dass sie nicht unbedingt notwendig sind, wollte ich nicht Gericht sein, bereit, abzuurteilen, Recht zu sprechen, wo ich überhaupt kein Recht hatte. Am Ende der Neugierde würde etwas herauskommen, von dem ich jetzt nichts gewusst habe und das mir alles erklärt, hatte ich gedacht. Ganze Nächte verbrachte ich damit, meine schlafenden Mitpatienten zu beobachten und meine Herkunft zu erforschen, ich hatte mir diese Praxis angewöhnt, aber nicht zur Methode gemacht.64
Weshalb der Protagonist gerade auf dem Baumstumpf reflektierend den Spuren seines Lebens nachgeht, ist kein Zufall. Das, was sichtbar sein sollte, um die Fragen des Erzählers zu beantworten, sind die Wurzeln, also die Treiber, die zu diesem Baum respektive Stumpf geführt haben, um so sich selber erkennen zu können. Dass er auf einem Baumstumpf sitzend nachdenkt, anstatt sich an einen in der Blüte stehenden Baum zu lehnen, ist ebenfalls symptomatisch für seine Situation. Er nimmt seine Existenz als eine abgehackte wahr, eine, die nicht mit demselben Wachstum, mit derselben Zielstrebigkeit nach oben sich weiterentwickeln kann, wie dies bei gesunden Menschen der Fall ist, das erneute Leiden zwingt ihn, zum wiederholten Male ausführlich über seine Existenz nachzudenken, die Diskonkordanz einzuebnen. Sein Blick ist nach unten gerichtet, also auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart oder auf die Zukunft, was sonst üblich ist. Auch fehlen ihm das Blätterwerk, die Blüten, die gesunden Austriebe des Frühlings. Dazu ist er viel « zu schwach, zugleich unfähig » (Zeile 30 f.), um solche Attribute des Normalen und Gesunden entstehen zu lassen. Auf dem Baumstumpf betrachtet er seine Umgebung (Zeile 1 f.), doch der Blick ist nach innen gerichtet, und dieser Blick ist getränkt von der Vergangenheit, ist durchsetzt von Erinnerungen, sie strukturieren seinen Blick.65 Es ist auch das Beobachten, auf das der Protagonist in allen fünf Bänden seiner autobiographischen Schrift immer wieder zu sprechen kommt, es ist eine Praxis, die er vom Grossvater erlernt66, im Internat während der Schulzeit fortgeführte67, und in den Heilstätten intensiviert hat68 ; es ist dieselbe Praxis, weshalb schon Ricœur Rückgriff auf 64 Ebd.; 345-359 65 Vgl. zu den Erinnerungsstrukturen Kapitel 3.1. 66 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 150. 67 Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 13. 68 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber
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Rimbaud nahm, um darzulegen, dass wir auf das Gegenüber angewiesen sind, um uns selber erkennen zu können (vgl. dazu Kapitel 2.5). Auf diesem Baumstumpf sitzend und seine Umgebung beobachtend, geht er in Gedanken Teile der Wegstrecken seiner Vergangenheit ab, streift dabei wichtige Stationen, die er mit dem Grossvater gegangen ist ; kehrt zurück an den Ort, wo er Musikstunden besuchte ; macht in der Scherzhauserfeldsiedlung halt. Dieser Gedankengang führt ihn schliesslich zum Ursprung des Grundes, weshalb er in der Heilanstalt ist, er findet den Grund für die so intensiv geführte Ursachenforschung, nämlich den Moment, als er die « lächerliche » Arbeit des Erdapfelsausladens tun musste, die ihn schliesslich aus der Siedlung und gar aus den Erinnerungen der dort lebenden Menschen trieb (Zeile 17 f.). Th. Bernhard kann also den Ursprung festlegen, bei dem es sich um ein äusseres Ereignis handelt, und dieser Ursprung zeugt so von hoher Glaubwürdigkeit, einer Glaubwürdigkeit, die sich gerade auch darin zeigt, dass der Erzähler den Ursprung seines jetzigen Leidens, das sich über Jahre bis hin zu seinem Tod fortziehen wird, nicht hinterfragt. Für Th. Bernhard rücken in diesem Moment die Schwierigkeiten, zum einen die Unerreichbarkeit des zeitlich Entfernten, zum anderen die Kritik der ontologischen Dimension des « Je-schon-Gewesenen », um auf zwei der diskutierten Kritikpunkte von Angehrn (vgl. Kapitel 5.3) zurückzugreifen, in den Hintergrund. Es ist für ihn klar : Alles hat mit diesem Ausladen begonnen. Ein Ergebnis der Ursachenforschung seiner selbst ist das Erkennen der « Absurdität seiner Existenz » (Zeile 22) sowie die sein Ich bedrückende « Infamie der Welt » (Zeile 23), doch, wie er einschränkt, er kann nur aus seinem Winkel (Zeile 24) heraus sehen. Diese Suche nach den « Beweisen für meine Existenz » (Zeile 34) und danach, was ihn eigentlich dazu antreibe, sich auf diese Suche zu machen, verläuft für den Erzähler ambivalent. Zum einen stellt er sich die Frage, ob er überhaupt dazu in der Lage sei, und andererseits, ob es ihn überhaupt zu interessieren brauche (Zeile 26 f.). Auf die zweite Frage geht er nicht mehr weiter ein. Mit dieser Frage greift Th. Bernhard den Kontext auf, welchen Stellwert das Erzählen für das eigene Leben überhaupt einnehme, eine Frage, die, wie wir in Kapitel 3.5 gesehen haben, von grosser Tragweite ist. Hier soll die erste Frage mithilfe seiner Antwort ab Zeile 36 weiter vertieft werden. Nachdem Th. Bernhard sich entschlossen hat, sich auf die Suche zu machen, zweifelt er an der Stichhaltigkeit der Beweise für seine Herkunft, sie erweisen sich gar als « irreführend » (Zeile 37), der Ursprung sei unerreichbar (was aber nur zum Teil stimmt, wie die Ursachenforschung zur jetzigen Leiund Manfred Mittermayer. 2004 ; 292 sowie Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 314/328/360.
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densquelle belegt). Warum diese Stichhaltigkeit nicht zu erreichen ist, hängt mit der fehlenden epistemologischen Gewissheit der Gründe zusammen. Analog zu Wittgenstein gebe es, wie Th. Bernhard in einem Interview mit Armin Eichholz 1976 (also ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes) ausführt, « doch hunderttausend Möglichkeiten, bei jeder Sache. Wie man eine Landschaft auf zwanzigtausend Arten malen kann, bis es einem zu blöd wird, und immer was anderes rauskommt. »69 Nicht nur bedingt der Umgang mit dem autobiographischen Material die fehlende Stichhaltigkeit, sondern auch das Zustandekommen des Materials. Wenn Geschichten von sich selber erzählt werden, vor allem im Zusammenhang der Ursachforschung, geht der Blick automatisch in die Vergangenheit, und es werden entsprechende Erinnerungen wachgerufen. Indem auf den reflexiven Umgang des Erzählers und auf die Erinnerungen zurückgegriffen wird, kann auch verdeutlich werden, wie beide, Stichhaltigkeit und Irreführung, zustande kommen. In einer bereits zitierten metatextuellen Passage in Der Atem hält der Erzähler fest : Die Vollkommenheit ist für nichts möglich, geschweige denn für Geschriebenes und schon gar nicht für Notizen wie diese, die aus Tausenden und Abertausenden von Möglichkeitsfetzen von Erinnerungen zusammengesetzt sind. Hier sind Bruchstücke mitgeteilt, aus welchen sich, wenn der Leser gewillt ist, ohne Weiteres ein Ganzes zusammensetzen lässt. Nicht mehr. Bruchstücke meiner Kindheit und Jugend, nicht mehr.70
Auch wenn es unmöglich sei, alle Erinnerungen aufzuschreiben, und es hinzukomme, dass er sich beim Erinnern täusche, vertraue er trotzdem den Rezipierenden ; sie seien in der Lage, ausgehend vom zur Verfügung gestellten Material, ein « Ganzes » zusammenzusetzen.71 Auch ist er gar nicht bereit, die Geistesverfassung von einst aufzugreifen, er hüte sich davor, « weiter zu gehen als unbedingt notwendig »72 ; oder er kommt an einen Punkt, bei dem er sich nicht mehr erin69 Dreissinger, Sepp : Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. 1992 ; 40. 70 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 266. 71 An einer Stelle führt er explizit aus, dass er sich auch täuschen könne (vgl. dazu : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 198). Wie genau es für die Rezipierenden möglich sein soll, wenn die Grundlage des Materials so unsicher ist, ein « Ganzes » zu erzeugen, bleibt eine offene Frage. 72 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 332.
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nern kann73. Auch betont er die Schwierigkeit beim Erinnerungsprozess, indem er den Empfindungen von einst « nicht gerecht werden »74 kann, weil er sie mit dem Denken von heute konfrontiere. An einem Beispiel kann zudem noch ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit den Erinnerungen dargelegt werden, den Th. Bernhard implizit reflektiert, nämlich die Zufälligkeit der Entstehung von solchen Erinnerungen. Es war ein Zeitungsausschnitt, der ihn dazu brachte, sich wieder mit der Scherzhauserfeldsiedlung auseinanderzusetzen. Diese Erinnerung dient ihm nun dazu, aufzuzeigen, wie grauenvoll Österreich, die Stadt Salzburg und die Kirche sei, da sie eine Ungerechtigkeit, wie sie sich in dieser Siedlung abspiele, zulasse, « der Staat, die Stadt und die Kirche hatten an diesen Menschen längst versagt und aufgegeben »75. Wäre ihm der Zeitungsausschnitt nicht in die Hände gekommen, so scheint es auf den ersten Blick, er hätte den Exkurs nicht vollzogen, der Beleg gegen die beiden Institutionen und gegen die Stadt wäre nicht vorhanden. Maier hat in seiner Analyse der « Inszenierung » des Sterbezimmers von Th. Bernhard nachgewiesen (vgl. dazu Kapitel 7.1.1), dass Th. Bernhard bei der möglichst eindringlichen Darstellung seines Entschlusses, weiterzuatmen, gelinde formuliert, widersprüchlich vorgegangen ist. Deshalb ist auch an dieser Stelle, als der Zeitungsartikel die Abrechnung mit den Institutionen auslöst, Vorsicht geboten. Doch unabhängig davon, ob der Zeitungsartikel als Auslöser für den Reflexionsgang in Betracht gezogen werden kann oder nicht, was sich an diesem Beispiel aufzeigen lässt : Es ist kaum möglich, die Erinnerungen zu steuern. Das zweite, was ebenso mit der Analyse Maiers in Verbindung steht, ist, dass sich Th. Bernhard über die Macht von Erinnerungen im Klaren ist, nicht nur hinsichtlich der epistemologischen Qualität, wenn er schreibt, alles Notierte sei « nur Andeutung »76 (siehe der Untertitel des ersten Bandes), sondern auch hinsichtlich der Erklärungskraft. Er greift, um diese Erklärungskraft zu unterfüttern, auf die Vätergeneration zurück, die vom Krieg zurückgekehrt ist und nun ausschließlich von den Heldentaten berichtet ; die Niederlagen werden 73 Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 439. 74 Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 74. An dieser Stelle greift Th. Bernhard einen Aspekt auf, den Angehrn als einen Grund der Unerreichbarkeit des Ursprungs nennt, nämlich es sei nicht möglich, das « Je-schon-Gewesene » einzufangen (vgl. dazu Kapitel 5.3). 75 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 136 f. 76 Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 90.
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von ihnen umgeformt, alle « Schweinerein und Schweinigeleien im Kriege hefteten sie nach dem Kriege ungeniert als Orden an ihren Erinnerungshorizont »77. Und so, wenn wir dieser Argumentation von Th. Bernhard folgen, stellen die Gründe, dem Diktum Wittgensteins gemäss, keine Ursachen dar. Wir bewegen uns somit wieder in dem bereits erwähnten Spannungsfeld : Auf der einen Seite wollen, ja müssen wir nach den Ursachen forschen, auf der anderen Seite erkennen wir die Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Doch ganz so aussichtlos ist die Ursachenforschung nicht, es gibt berechtigte Hoffnungen, wenn Th. Bernhard schreibt, am Ende würde er Gründe finden, die ihm « alles » erklären (Zeile 43). Wie berechtigt diese Hoffnungen sind, führt er in seinen fünf Bänden immer wieder aus, indem er Bezüge zwischen damals und heute herstellt. Es ist dieses Damals-Heute-Schema, welches sich mit der Konzeption von Davidson verbinden lässt. An vielen Stellen führt der Protagonist aus, er habe dieses und jenes von damals (« Ich war schon immer gern auf die Friedhöfe gegangen, das hatte ich von meiner Grossmutter mütterlicherseits »78 oder « Aus dieser Zeit habe ich eine Vorliebe für das Kaufmannsgeschäft »79) ; er ist somit in der Lage, den Primärgrund anzugeben, weshalb er gerne auf den Friedhof geht oder woher die Vorliebe für das Kaufmannsgeschäft stammt. Er kann diese Handlungen rationalisieren, er kann mit der Begründung den Rezipierenden den Werdegang seiner Handlungen und seiner Überlegungen darlegen und ermöglicht so ein Verstehen, nicht nur ein Sich-selbst-verstehen, sondern auch ein Verstehen des Gegenübers. Es ist die Freilegung der einzelnen Erfahrungsschichten, also die umgekehrte Bewegung, die wir mit dem Älterwerden erfahren, weil immer mehr autobiographisches Material sich anhäuft (Bruner nennt es « Aufschichtung der Historie », vgl. dazu Kapitel 3.1) ; und diese Rationalisierung von Handlungen ist nur möglich, weil der Suchende sich eben auf die Ursachenforschung begeben hat. Doch sie gelingt nicht immer so klar wie am Beispiel mit dem Friedhof oder mit der Vorliebe für das Kaufmannsgeschäft ; zum Beispiel, als er darüber nachdenkt, weshalb er sich beim dritten Bombenangriff auf die Stadt Salzburg nicht im Stollen, sondern im Keller in der Schrannengasse befand. Er kann den Primärgrund nicht angeben, aber er kann sich dem Grund annähern, indem er mehrere Gründe aufführt (« Geige übend » sowie « meinen Phantasien, Träumen, 77 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 142. 78 Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 37. 79 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 188.
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Selbstmordgedanken nachgehend »80). Auch wenn der Grund nur annähernd anzugeben ist, diese Annäherung reicht aus, um im davidschen Sinne von einer Rationalisierung zu sprechen, und ja, auch um die Ursachenforschung zumindest in diesem Punkt zu beenden (ob diese Gründe wirklich zutreffen, das steht auf einem anderen Blatt). In den vorhergehenden Ausführungen, sei es im Exkurs über die fehlende Stichhaltigkeit oder beim Damals-Heute-Schema, spielen die Erinnerungen für die Ursachenforschung eine entscheidende Rolle. Um den Stellenwert der Erinnerungen bei Th. Bernhard weiter zu differenzieren, gilt es zwei Zusammenhänge noch zu vertiefen ; zum einen den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Tod und zum anderen denjenigen zwischen Erinnerung und Leiden. Erst wenn auch diese Zusammenhänge klar geworden sind, ist es möglich, aus dem refigurierenden Moment heraus die Frage zu beantworten, welche Schlüsse aus der Spannung zwischen der Ursachenforschung wittgensteinscher und davidscher Prägung, die eben beide bei Th. Bernhard vorliegen, gezogen werden können. Der Zusammenhang zwischen Erinnerung und Tod besteht darin, dass die eine Bewegung im Kontext der Ursachenforschung zur Vergangenheit, die andere hinaus in die Zukunft, das heisst, zum Tod geht. Auch wenn diese beiden Kräfte sich in unterschiedlichen Richtungen bewegen, sie nähren sich gegenseitig. Die Bewegung in die Vergangenheit wurde oben ausgeführt, jene hin zum Tod soll nun präzisiert werden. In einer Textstelle aus Ein Kind nimmt Th. Bernhard, er war drei Jahre alt, Bezug auf einen namenlosen Freund. Er erinnert sich nach dem Umzug von der Nordsee über Wien nach Seekirchen an seinen Lieblingsplatz am neuen Ort, nämlich an den Friedhof, und er denkt an seinen ersten Freund in Seekirchen zurück ; der Freund starb mit vier Jahren an einer unerklärlichen Krankheit, und deshalb sei es nun die « Marmorplatte » gewesen, die, um die lakonischen Worte des Erzählers aufzunehmen, « auf ihm und auf unserer Freundschaft »81 lag. Es sei der erste Mensch gewesen, den er verloren habe.82 Doch in seiner autobiographischen Schrift steht nicht nur der Tod der anderen im Zentrum, wie bereits vor allem in Die Ursache und im ersten Teil von Der Keller nachgewiesen werden kann, sondern ebenso sehr die Gedanken 80 Bernhard, Thomas : Die Ursache. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 56. 81 Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 449. 82 Ebd.
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an seinen eigenen. Im zweiten Teil von Der Keller ist das Thema Tod kaum mehr präsent, es geht um die Emanzipierung von der Schule, das Einstehen für sich selber, es geht um die Hinwendung zum Leben. Der Tod rückt in der Erinnerung von Th. Bernhard erst dann wieder an eine zentrale Stelle, als er sich beim Ausladen der Erdäpfel während der Lehre die nasse Rippenfellentzündung zuzog. Er muss sich mit der Krankheit und seinem baldigen Tod auseinandersetzen, er empfängt gar die letzte Ölung. Er kann den Tod erst dann aufhalten, als er sich entschliesst, weiterzuatmen. Er muss zusehen, wie zahlreiche Mitpatienten sterben, er erfährt vom Tod des Grossvaters und von der unheilbaren Krankheit der Mutter. Schliesslich spielt der Tod ebenso im vierten Band eine grosse Rolle in seinen Erinnerungen ; er befindet sich dort noch immer in Heilanstalt, wo geheilt und auch viel gestorben wird. Den Schlusspunkt setzt am Ende des Bandes der Tod der Mutter. Die Erinnerungen an die allgegenwärtige Präsenz des Todes in all seinen verschiedenen Schattierungen erklärt für Th. Bernhard in Teilen, analog zu Schopenhauer (vgl. dazu Kapitel 2.3.1), die « Absurdität » (Zeile 22) des Lebens, weil, wie er 1977 im Nachruf zum Tod von Carl Zuckmayer sagt : « W ir existieren unnachgiebig, unerbittlich auf unser Ziel zu naturgemäss »83. Unabhängig davon, wie das Leben angelegt war, « es löste sich unter den Augen der Zurückgebliebenen in einen Haufen faulen Fleisches auf, der noch von Haut und Knochen zusammengehalten ist »84. Und, um den Bogen zur Ursachenforschung zu schliessen, es sind die Erinnerungen an den Tod, die auch an der Sinnhaftigkeit dieser Art der Forschung (vgl. Zeile 26 f.) zweifeln lassen. Der zweite zentrale Zusammenhang besteht zwischen Erinnerung und Leiden. Wie bereits an mehreren Stellen ausgeführt wurde, erinnert und reflektiert Th. Bernhard in den fünf Bänden der autobiographischen Schrift seine Leidensquellen. Das Leiden sei nicht nur ein Lebenshindernis, sondern es seien gerade die Leidenden, die in der Lage sind, die Dinge klarer zu sehen, es sei gar unabdingbar, dass Schriftsteller von Zeit zu Zeit « ein Krankenhaus aufzusuchen, gleich, ob dieses Krankenhaus nun ein Krankenhaus sei oder ein Gefängnis oder ein Kloster »85. Th. Bernhard hält es also mit der auf die Antike zurückgehenden Vorstellung gleich, Leiden führe zu Erkenntnis (vgl. dazu Kapitel 2.3.2) ; und zumindest hier wehrt er sich gegen die Einsicht, dass das Leiden sinnlos sei, wie 83 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 37. 84 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 379. 85 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 250.
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es Payne in Büchners Drama Dantons Tod tut (vgl. dazu Kapitel 2.3.1). Th. Bernhard führt weiter aus, solche Orte wie Krankenhäuser seien es eben (Foucault bezeichnet sie als Heterotopien86), welche uns dazu zwingen, uns auf direkte Weise mit dem Leben auseinanderzusetzen, nur solche Orte hindern uns daran, « sich mit der Zeit in die Wertlosigkeit [zu verlieren], weil er [gemeint ist der Mensch] sich in der Oberflächlichkeit verheddere »87. Zu diesen Heterotopien kommt die Art, wie Th. Bernhard sich in diesen Orten bewegt, bewegen musste. Aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten ist der Erzähler kein Klassenpatient, was bedeutet, er verbringt in den Heilanstalten seine Zeit in Mehrbettzimmern. Deshalb ist es ihm möglich, nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leiden anderer zu beobachten, er hört ihre Geschichten an, « die nur Leidensgeschichten waren, wie alle Geschichten, wie die ganze Geschichte »88. Th. Bernhard verfügt also über viel Material, er erforscht sich und die anderen, um sich dem Leiden anzunähern, sich aus der von Angehrn in Kapitel 2.2.1 ausgeführten Ohnmacht zu lösen, sich mit neuem Material zu versorgen, damit die eigene Leidenserfahrung vertiefter reflektiert werden kann. Doch für Rezipierende, die « nie in eine solche Lage gekommen sind »89, wird es nicht möglich sein, sich in die Leidenden hineinzufühlen, denn sie « wissen nichts vom Leiden »90. Th. Bernhard greift an dieser Stelle die Frage auf, ob es möglich sei, das Fremdpsychische wahrzunehmen, was er mit Hinweis auf die Leidenserfahrung verneint.91 Ausgehend von dieser Engführung zwischen Erinnerung und Leiden zeigt sich eine weitere Grenze der Ursachenforschung. Sollte es möglich sein, die Ursachen für das Lei86 Vgl. dazu : Foucault, Michel : Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. 2005 ; 7–23. In solchen Räumen sind auch Chr. Lavants Figuren regelmässig anzutreffen. 87 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 250. 88 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 361. 89 Ebd.; 333. 90 Ebd. 91 Die Schwierigkeit, ja, gar Unmöglichkeit, das Leiden der anderen nachvollziehen zu können, reflektiert Th. Bernhard auch in seinem Roman Frost. So hält der Ich-Erzähler am 14. Tag seiner Beobachtungsaufgabe fest : « Er, der Assistent, hält mich offenbar für durchaus geeignet, einen solchen Auftrag, wie den Maler Strauch zu beobachten, ohne Schaden durchzustehen. Schaden ! ‹Wie kann es einem schaden, Menschen zu sehen, die leiden ?› hat er gesagt. Es ist ihm also klar, dass sein Bruder leidet. Nicht wie er leidet, das weiss er nicht. Denn das Leiden des Malers geht über die Vorstellungskraft des Assistenten hinaus. Wie tief leidet der Maler ? Kann man feststellen, wie tief einer leidet ? Und wann am tiefsten ? » (Bernhard, Thomas : Frost. 2014 ; 144).
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den für sich selber anzugeben, heisst es nicht, die Rezipierenden könnten dann diese Ursachen und somit das Leiden auch verstehen. Nach der Abhandlung des präfigurierenden Moments (Leiden, Tod, Erinnerung, begrenzte Reichweite der Ursachenforschung) stellt sich die Frage : Wie reagiert Th. Bernhard, nachdem die Konfiguration gescheitert ist, auf die Diskonkordanzen, die nicht in eine Konkordanz überführt werden konnten (ethics of writing und ethics of telling), was angesichts seiner Leidenserfahrungen, wie wir gesehen haben, immer wieder passierte ? Es gab Momente der Trauer92 und der Resignation93 über diese Diskonkordanzen, auch Momente des Hasses, einen « Hass gegen Krankheit und Tod, gegen die sogenannte Ungerechtigkeit. Nicht das Hier hasste ich jetzt, ich hasste das Dort, das Drüben, und das Draussen, alles andere ! », doch dieser Hass, so folgert er im Anschluss, müsse sich « bald erschöpfen, denn er rentiere sich nicht »94. Was an seine Stelle trat, wurde bereits ausführt, nämlich das Schreiben und das Lesen (vgl. Kapitel 9.1). Eine andere Folge ist der Skeptizismus, der bis hin zur Gleichgültigkeit reicht.95 Dieser Skeptizismus lässt sich in der autobiographischen Schrift an mehreren Stellen nachweisen. So schreibt der Erzähler in Die Ursache : Die Wahrheit, denke ich, kennt nur der Betroffene, will er sie mitteilen, wird er automatisch zum Lügner. Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein, also sind immer nur Fälschungen und Verfälschungen mitgeteilt worden. Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts.96
Diese skeptische Haltung zeigt sich zudem in der kritischen Distanznahme gegenüber seinem Grossvater, wenn er am Ende des Bandes Der Keller festhält : « Die Welt ist nicht so wichtig, wie er [gemeint ist der Grossvater, MB] geglaubt 92 Vgl. dazu zum Beispiel : Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 449 oder 475. 93 Vgl. dazu zum Beispiel : Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main : Suhrkamp. 2004 ; 212. 94 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 324. 95 Vgl. dazu : Kramer, Olaf : Wahrheit als Lüge, Lüge als Wahrheit. Thomas Bernhards Autobiographie als rhetorisch-strategisches Konstrukt. In : Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Hrsg. von Joachim Knape und Olaf Kramer. 2011 ; 116. 96 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 135.
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hat, und alles in ihr hat keinen solchen von ihm lebenslänglich befürchteten Wert […]. »97 Die Distanznahme kann nicht nur im Zusammenhang mit dem Grossvater nachgewiesen werden, sondern auch bei Th. Bernhard selber. Im erwähnten Interview von Wögerbauer (vgl. Kapitel 9.1) bezieht sich der Interviewer auf die oben erwähnte Aussage von Th. Bernhard, er sei ein Geschichtenzerstörer, und weist darauf hin, dass dieser Neologismus doch eine theoretische Aussage impliziere. Darauf erwidert Th. Bernhard : Das habe ich einmal gesagt, na, was glauben sie, was man in einem Leben von fünfzig Jahren alles sagt. Was die Leute und was man selbst für einen Blödsinn in Jahrzehnten sagt. Wenn man die Leute immer festnageln würde, was sie immer sagen. Wenn man die Leute immer festnageln würde, was sie immer sagen. Wenn natürlich ein Reporter in irgendeinem Lokal sitzt und der hört, dass Sie gesagt haben, das Rindfleisch ist nicht gut, wird der immer behaupten, das ist ein Mann, der kein Rindfleisch mag, lebenslänglich. Derweil frisst er vielleicht von da an ab überhaupt nur mehr Rindfleisch.98
Aus diesem Skeptizismus folgt für Th. Bernhard eine Gleichgültigkeit, die er in seiner autobiographischen Schrift vor allem am Ende des zweiten Bandes ausführlicher darlegt : Mein besonderes Kennzeichen heute ist die Gleichgültigkeit… Die Menschen sind, wie sie sind, und sie sind nicht zu ändern, wie die Gegenstände, die die Menschen gemacht haben und die sie machen und die sie machen werden. Die Natur kennt keine Wertunterschiede. Es sind immer wieder nur Menschen mit allen ihren Schwächen und mit ihrem körperlichen und seelischen Schmutz an jedem neuen Tag. Es ist gleich, ob einer mit seinem Presslufthammer oder an seiner Schreibmaschine verzweifelt.99
Es ist diese Gleichgültigkeit, die sich am stärksten in der zufälligen Begegnung, viele Jahre später, mit einem ehemaligen Kunden aus dem Laden des Karl Podlaha zeigt. Dieser damalige Kunde, der nun als Bauarbeiter seinen Lebensunterhalt verdient, erzählt, er habe vom Leben mehr erwartet, man hänge zwar noch 97 Ebd.; 204. 98 Bernhard, Thomas : Der Atem. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 285. 99 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 211. Eine weitere Stelle befindet sich auf S. 203, ebd.
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am Leben, aber es sei auch egal, wenn es dann vorbei sei. Der Erzähler stimmt zu, ja, es sei sogar dieser Mann mit dem Presslufthammer gewesen, der ihm das nötige Stichwort geliefert habe, nämlich « egal », ein Wort, welches er seitdem immer wieder höre.100 Dieses « Egal-Sein » respektive die Gleichgültigkeit kann auch als ein Ergebnis der Unmöglichkeit, die Wahrheit zu erkennen, gedeutet werden ; die Wahrheit sei « immer ein Irrtum, obwohl sie hundertprozentig die Wahrheit ist, jeder Irrtum ist nichts als die Wahrheit »101. Die philosophische Position, die sich in dieser Aussage manifestiert, ist der Skeptizismus. Der Skeptizismus, verstanden als die Zurückweisung dessen, dass es Wissen und Rechtfertigung gibt, kennt verschiedene Spielarten. So kann er entweder partiell oder total (nur bestimmte oder alle Bereiche des Wissens respektive der Rechtfertigung werden abgelehnt) und er kann praktisch oder theoretisch sein (der theoretische Skeptizismus muss für das praktische Leben keine Konsequenzen haben).102 Die zitierten Textstellen Th. Bernhards lassen sich teilweise auf den Skeptizismus des Sextus Empiricus zurückführen, der sich auf die Schule von Pyrrho beruft, deren Ziel es ist, das Denken von falschen Vorstellungen, voreiligen Schlüssen und Dogmen zu befreien, nicht aber, an den Erscheinungen selber zu zweifeln.103 Die Methode, die bei Sextus Empiricus im Zentrum steht, ist « die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen »104, um Ataraxie zu erreichen. Ebenso Th. Bernhard enthält sich in den zitierten Stellen des Urteils, auch bei ihm fehlt ein Wahrheitskriterium, auch er beschränkt sich auf das Zweifeln, allerdings in unterschiedlicher Weise. Der grosse Unterschied zum pyrrhonischen Skeptizismus besteht in der Genese und in der Methode. Bei Th. Bernhard resultieren die Überlegungen zum Skeptizismus vor allem aus den Erfahrungen, die er bis dahin gemacht hat, und er entwickelt seine Position nicht systematisch. Beide Aspekte fehlen im pyrrhonischen Skeptizismus. Zwar greifen die pyrrhonischen Skeptiker ebenfalls auf Beispiele aus dem Alltag zurück, doch diese bestehen unabhängig von der individuellen Geschichte eines Menschen, und zweitens entwickeln die pyrrhonischen Skeptiker ihre Position systematisch, indem sie u. a. anhand von verschiedenen Tro100 Ebd.; 210–213. 101 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 352. 102 Vgl. dazu : Sosa, Ernest : Skepticism. In : The Cambridge Dictionary of Philosophy. Third Edition. Hrsg. von Robert Audi und Paul Audi. 2015 ; 988. 103 Was die Skeptiker nach der pyrrhonischen Schule nicht bezweifeln vgl. dazu : Sextus, Empiricus : Grundriss der pyhrronischen Skepsis. Mit einer Einleitung von Malte Hossenfelder. 2017 ; 98. 104 Ebd.; 94.
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pen ihre Position begründen.105 Eine solche Systematik existiert bei Th. Bernhard nicht. Auch bezweckt Th. Bernhard keine therapeutische Intention wie die Lehre von Sextus Empiricus, die « aus Menschenfreundlichkeit nach Kräften die Einbildung und Voreiligkeit der Dogmatiker durch Argumentation »106 zu heilen versucht. Der Mensch bei Th. Bernhard ist ein verlorenes Subjekt, es kann durch nichts geheilt werden (wovon auch ?). Aber ist es nicht ein Widerspruch, wenn der Erzähler trotz all der Skepsis unentwegt Ursachenforschung betreibt und so sich auf die Suche nach Beweisen seiner Existenz macht ? Ist es nicht ein Widerspruch, dass er sich trotz aller Gleichgültigkeit derart in Rage versetzt, zum Beispiel in seinen Leserbriefen ?107 Wie ist es möglich, auf der einen Seite zum Schluss zu kommen, es sei alles « egal », auf der anderen Seite zu betonen, « mein ganzes Leben war ich nach Beweisen für meine Existenz aus gewesen » (Zeile 33 f.) ? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die obigen beiden Bewegungen in Beziehung zu setzen. Zum einen könnte versucht werden nachzuweisen, eine oder beide Aussagen treffe nicht zu, was wir aufgrund der Ausführungen verneinen können, es gibt zu viele Belege für beide Schlüsse. Die zweite besteht darin, die beiden Bewegungen in einer Erklärung zu rationalisieren. Eine solche Erklärung bestünde darin, auf das Nichtauflösbare des Widerspruchs hinzuweisen, mit dem wir uns in unserem Alltag auseinanderzusetzen haben. So versuchen wir, unserem Leben einen Sinn zu geben, obgleich wir uns mehr oder minder bewusst sind über die Plötzlichkeit des Hereinbrechens von Krankheit sowie Tod und so alle formulierten Ziele, Bedürfnisse und Sehnsüchte ihre Bedeutung verlieren. Es könnte auf das Wesen, das wir sind, verwiesen werden : Wir können nicht anders, als unentwegt uns selber und unsere Umwelt zu überdenken, obwohl es, wie es der Erzähler formuliert, letztendlich gleichgültig ist, zu welchem Schluss wir kommen. Eine weitere Möglichkeit, die beiden Aussagen in einer Erklärung zu rationalisieren, hängt mit dem Leiden zusammen. Es ist nun deutlich geworden, der Erzähler hat in seinem (jungen) Leben viel gelitten, und weil das Leiden nach einer Erklärung verlangt (vgl. dazu Kapitel 2.2.1), ist es notwendig, den Ursprung und die Ursachen vom Leiden zu finden, auch wenn der Prozess nicht immer abgeschlossen werden kann, auch wenn dem Erzähler immer wieder die Sinnlosigkeit des Unterfangens bewusst wird.108 Unabhängig 105 Ebd.; 93–132. 106 Ebd.; 299. 107 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.1. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 633 oder 655 f. 108 Eine weitere Möglichkeit ist die Anwendung des Tetralemmas von Nagarjuna, ein Philosoph, den Karl Jaspers geschätzt hat. Wenn dieses Tetralemma konsequent angewendet würde, so Na-
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davon, welche Erklärung über grössere Reichweite verfügt, um den Widerspruch zu lösen, muss sich der Erzähler letztendlich die […] Existenz klar machen, sie nicht nur durchschauen, sondern aufklären bis zu dem höchsten Grad an jedem Tag, ist die einzige Möglichkeit, mit ihr fertig zu werden. Früher habe ich diese Möglichkeit nicht gehabt, in das tödliche tägliche Existenzspiel einzugreifen, dazu hatte ich weder den Verstand noch die Kraft, heute setzt sich der Mechanismus von selbst in Gang. Es ist ein tagtägliches Ordnungmachen, in meinem Kopf wird aufgeräumt, die Dinge werden jeden Tag an ihren Platz gestellt. Was unbrauchbar ist, wird verworfen und ganz einfach aus meinem Kopf hinausgeworfen. Die Rücksichtslosigkeit ist auch ein Alterskennzeichen.109
Wenn wir nicht bereit sind, uns auf diesen Weg zu machen, ist die Gefahr der Verzweiflung gross, wie der Ich-Erzähler in der Erzählung Ja ausführt : Wenn wir immer schon aufgeben, bevor wir angefangen haben, kommen wir schliesslich und endlich aus dieser Verzweiflung nicht mehr heraus und sind verloren. Wie wir jeden Tag aufwachen und anfangen und fortsetzen müssen, was wir uns vorgenommen haben, nämlich weiterexistieren wollen, weil wir ganz einfach weiterexistieren müssen […].110
Nachdem das präfigurierende sowie das konfigurierende Moment auf Seiten des Produzierenden dargelegt wurde, wird im Folgenden das refigurierende Moment (und somit die ethische Relevanz der ethics of reading) untersucht. Die ersten zum Teil heftigen Reaktionen nach der Veröffentlichung der Bände, allen voran der erste Band von 1975, zeigt, wie stark Th. Bernhard die Rezipierenden provozierte. Denn auch wenn die drei Ebenen Inhalt, Form und Sprache die Rezipierenden herausfordern, hätten die Bücher, wenn die Komplexität von Erinnerungen, Tod, Leiden und die skeptische Grundhaltung von den Rezipierenden entsprechend eingestuft worden wären, wohl kaum derart provoziert, wie sie es taten. Der Fokus der Rezipierenden lag da, wo sich Th. Bernhard gegen Institutionen wie Staat, Kirche oder Schule auflehnt oder gegen bestimmte Pergarjuna, gäbe es das Leiden als reale Grösse gar nicht (Nagarjuna : Die Lehre von der Mitte. Aus dem chinesischen Text des Kumarajiva übersetzt und mit einem Kommentar herausgegeben von Lutz Geldsetzer. 2010 ; 19 f ). 109 Bernhard, Thomas : Der Keller. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 202. 110 Bernhard, Thomas : Ja. 2015 ; 43 f.
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sonen, wie den Onkel Franz.111 Diese Aspekte der Provokation und Lügen auf der Oberfläche sind leichter zu erkennen. Die metatextuellen Passagen über die Wahrheit, Sprache, Erinnerungen, über den Tod sowie das Leiden müssen zuerst als solche erkannt und dann auch noch miteinander in Beziehung gesetzt werden, was von den Rezipierenden mehr verlangt, als die Anklage gegen Staat oder gegen die Kirche. Diese von Th. Bernhard ausgelöste Reaktion bei den Rezipierenden lässt sich mit dem Hinweis von David Hume erklären, nämlich es liege in unserer Natur, Urteile zu fällen.112 Ein Erzähler wie jener in den fünf Bänden der autobiographischen Schrift, wirkt deshalb auf die Rezipierenden anziehend, weil er sich nicht entzieht, Position zu beziehen ; im Gegenteil, er fällt über alle und alles her, inklusive über sich selber, er formuliert unmissverständliche Urteile, die, wenn sie eben nicht entsprechend kontextualisiert werden, so provozierend auf die Rezipierenden wirken. Im Zusammenhang der Ursachenforschung, um auf den zentralen Punkt dieses Unterkapitels zurückzukommen, sind für das refigurierende Moment verschiedene Aspekte relevant. Zum einen setzt sich der Erzähler in seinen metatextuellen Passagen für eine Ursachenforschung ein, indem er auf die möglichen Konsequenzen hinweist, wenn eine solche Art von Arbeit unterlassen wird, so etwa im Band Die Kälte : Lebenslänglich schieben wir die grossen Fragen hinaus, bis sie zu einem Fragegebirge geworden sind und uns verdüstern. Aber dann ist es zu spät. Wir sollten den Mut haben (gegen die, die wir zu fragen haben, wie gegen uns selbst), sie mit Fragen zu quälen, rücksichtslos, unerbittlich, sie nicht schonen, sie nicht mit Schonung betrügen.113
Die Attraktivität dieser Position besteht in der fehlenden Glorifizierung der Vergangenheit. Es ist keine melancholische Perspektive auf das Damals, es liegt auch keine Verheissung für die Zukunft vor, es handelt sich um eine dissidente Lebensform.114 W. G. Sebald hält fest, dass das Radikale bei Th. Bernhard darin bestehe, die von ihm formulierte Kritik an sich und seiner Welt nicht aufzulösen, wie dies Rilke in seiner Konzeption des Landlebens sowie seines Naturbegriffes 111 Vgl. dazu : Huber, Martin und Mittermayer, Manfred : Kommentar. In : Thomas Bernhard. Die Autobiographie. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 530 resp. 547–556. 112 Hume, David : A Treatise of Human Nature. Edited, with an Analytical Index, by L. A. Selby-Bigge. 1978 ; 183. 113 Bernhard, Thomas : Die Kälte. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 381. 114 Vgl. zu der Verneinung von Lösungsvorschlägen bei Th. Bernhard zudem das Kapitel 9.1.
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anstrebt.115 Die Rezipierenden werden bei Th. Bernhard mit einer Welt konfrontiert, die in sich widersprüchlich ist und bleibt. Es gibt kein Refugium für das Subjekt, schon gar nicht ein metaphysisches, wie es zumindest teilweise bei Chr. Lavant besteht. Es ist eine Position, bei der die Erzählung von sich selber als ein wichtiges Bestreben erachtet wird, aber es geht nicht darum, das Leben in der Erzählung aufzulösen (Selbstfindung), es geht nur in Ansätzen um Selbstrechtfertigung (da der Erzähler immer wieder scheitert, gerade wegen der Erinnerungen), und es geht nur teilweise um eine Selbsterfindung (da es nichts zu finden gibt ausser der Absurdität der Existenz, Zeile 22). Es handelt sich um eine Position, die von keinen grossen Erwartungen zu berichten weiss und vielleicht gerade deshalb für die Rezipierenden eine Möglichkeit im Umgang mit dem Leiden öffnet, nämlich die Gleichgültigkeit dem Leiden gegenüber. 9.4 Exkurs und Abschluss : Humor und Narrentum Zum Abschluss dieses Kapitels und dieser Arbeit geht es darum, zwei Notausgänge im Zusammenhang der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens zu nennen und an Th. Bernhard zu konkretisieren. Diese Notausgänge stellen eine Strategie dar, wie es möglich ist, angesichts der ausgeführten Komplexität des autobiographischen Erzählens im Zusammenhang des Leidens nicht zu verstummen (und zwar sowohl aus der produzierenden als auch aus der rezipierenden Perspektive). Th. Bernhard ist bekannt für seinen Humor. Nicht nur behauptet er von sich selber, er sei ein humorvoller Mensch (« Ich bin eine lustige Person. Da kann man leider nichts ändern, so tragisch alles andere ist. »116), sondern auch von aussen wurde darauf hingewiesen.117 Es gibt in seinen autobiographischen Schriften einige Stellen, die von diesem Humor zeugen. Anhand von drei kurzen Textstellen
115 Sebald, Winfried Georg : Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. 1994 ; 107. Diese Analyse von Sebald kann auch mithilfe der Interpretation des Gedichtes Das Jahr ist wie das Jahr vor tausend Jahren gestützt werden (vgl. dazu Kapitel 9.1). 116 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 78. 117 So schreibt Johannes Berchtold in der Einleitung zum Tagebuch Ein Jahr mit Thomas Bernhard von Karl Ignaz Hennetmair : « Wer Thomas Bernhards Humor kennenlernen will, findet kein besseres Buch als das vorliegende. » (Hennetmair, Karl Ignaz : Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. 2000 ; 13).
Exkurs und Abschluss : Humor und Narrentum
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soll die therapeutische Wirkung gezeigt werden, die von ihnen ausgeht.118 Im ersten Zitat gibt Th. Bernhard auf die Nachfrage von Fleischmann, warum das Burgtheater wie eine tote Wüste sei, folgende Antwort : (I) Man geht hinein, man fahrt dort hin, man bucht quasi eine Safari im Burgtheater und geht hin, und es sind keine Tiere da, es wachst nichts, es brüllt nichts, keine Giftschlange, gar nichts, völlig leer. Da geht man wieder heraus und sagt, na ja also wenn’s nur Wüste ist, brauch’ ich ja nicht hingehen. Es ist wüst und leer. Nur so manchmal hört man so alte Schreie von Schakalen, aber auftreten tun keine mehr dort.119
Das zweite Beispiel stammt aus einem Text aus dem Band Meine Rede, der erst posthum erschienen ist. Hier bezieht sich Th. Bernhard auch auf seinen Freund Fritsch (u. a. Jurymitglied des Anton-Wildgans-Preises). Er schreibt am Ende der Rede : (II) Der arme Mensch, der inkonsequente, bedauerliche, der erbarmungswürdige. Nicht lange nach dieser Unterredung [Th. Bernhard fragte bei dieser Unterredung, ob Fritsch wegen bestimmter Ereignisse aus der Jury des Anton-Wildgans-Stiftung austreten würde, MB] hat sich Fritsch an dem Haken seiner Wohnungstür aufgehängt, sein von ihm selbst verpfuschtes Leben war ihm über den Kopf gewachsen und hatte ihn ausgelöscht.120
Im dritten Zitat schildert der Erzähler in Ein Kind jenes Ereignis, als die Poschinger Elli wahrscheinlich aus Neid, dass er in einem Laufwettkampf gesiegt hatte, Fleischfetzen aus Th. Bernhards Knie schnitt : (III) Mein Heldentum war in Form von übereifrig überdimensionierten Bandagen deutlich sichtbar, ich trug es mit Stolz, wenn auch unter den grössten Schmerzen, von welchen ich aber nicht das geringste verlauten liess. Heute erinnern an mir noch die beiden grossen Knienarben an diesen Höhepunkt. Die Poschinger Elli hat sich, wenigstens solange ich lebe, unsterblich gemacht.121 118 Zum Humor vgl. Kapitel 2.3.1 ; dort wurde auf die alte therapeutische Wirkung des Humors im Umgang mit dem Leiden verwiesen. 119 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 267. 120 Ebd.; 426. 121 Bernhard, Thomas : Ein Kind. In : Die Autobiographie von ebd. Werke. Hrsg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. 2004 ; 502.
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Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Thomas Bernhard
Freud hält in seiner Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewusst von 1905 fest, es sei nicht leicht anzugeben, was genau den Humor ausmache, weswegen es seiner Ansicht nach am besten sei, entsprechende Beispiele zu diskutieren, um sich dem Phänomen anzunähern (ein Vorgehen, das eben auch hier nützlich ist).122 Im ersten Beispiel (I) wird die Enttäuschung oder auch der Ärger, dass das Burgtheater nicht in der Lage sei, ein vitaler Ort zu sein, zum Ausdruck gebracht. Um diesen Gefühlen die berühmte Luft zu verschaffen, erzählt Th. Bernhard eine anschauliche Geschichte, mit der Pointe, metaphorisch darzulegen, warum es sich eben um eine Wüste und nicht um einen vitalen Ort handle. Das zweite (II) ist ein Beispiel der Mitleidlosigkeit. Diese Art von Humor stellt gemäss Freud die häufigste Quelle der humoristischen Lust dar. Das fehlende Mitleid wird hier noch zugespitzt, indem Th. Bernhard von einem « verpfuschten Leben » schreibt und, zumindest teilweise, die Verantwortung auf Fritsch schiebt, weswegen er keinen Zweifel zulässt, zu betonen, Mitleid sei hier fehl am Platz.123 Im Beispiel III) besteht der humorvolle Aspekt darin, das Mitleid, ausgelöst durch den von der Poschinger Elli zugefügten Schmerz gehemmt wird, da sich der Verletzte nichts anmerken lässt, wie die Brechung und die daraus resultierende scheinbare Gleichgültigkeit Th. Bernhards mit der Bemerkung « solange ich lebe », habe sie sich « unsterblich gemacht » zeigt.124 Ein verbindendes Element der Beispiele besteht darin, dass der Humor aus « erspartem Gefühlsaufwand » hervorgeht, dies im Unterschied zum Witz (erspartem Hemmungsaufwand) und zur Komik (erspartem Vorstellungs- respektive Besetzungsaufwand).125 So wird im ersten Beispiel die Enttäuschung oder der Ärger, beim zweiten das Mitleid, beim dritten der Schmerz ausgespart. Die Gemeinsamkeit von Humor, Komik und Witz besteht in der Methode, wie aus « der seelischen Tätigkeit eine Lust »126 wiedergewonnen wird, einer Tätigkeit, die eigentlich im Erzählen der Geschichte aufgegangen ist. Es sei die Euphorie, wie Freud festhält, welche wir zu erstreben suchen. Diese Euphorie sei 122 Freud, Sigmund : Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Frankfurt am Main : S. Fischer Taschenbuch Verlag. 1989 ; 187. 123 Zumindest in diesem Beispiel stellt sich die Frage nach der Abgrenzung zum Sarkasmus, also dem bissig-spöttischen Karikieren von Fritsch. 124 Es stellt sich die Frage, ob diese Reaktion nicht auch einen « grossen Aufwand von psychischer Arbeit » (Freud, Sigmund : Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. 1989 ; 188) bedinge. 125 Freud, Sigmund : Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. 1989 ; 192 f ; zur genauen Unterscheidung des Humors vom Witz beziehungsweise von der Komik vgl. dazu : Freud, Sigmund : Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. 1989 ; 146–186. 126 Ebd.; 193.
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nichts anderes als die Stimmung einer Lebenszeit, in welcher wir unsere psychische Arbeit überhaupt mit geringem Aufwand zu bestreiten pflegten, die Stimmung unserer Kindheit, in der wir das Komische nicht kannten, des Witzes nicht fähig waren und den Humor nicht brauchten, um uns im Leben glücklich zu fühlen.127
Freud greift die Form und Funktion des Humors in einer weiteren Schrift, zwölf Jahre später, 1927, unter dem schlichten Titel Der Humor nochmals auf und führt seine psychologische Funktion weiter aus. Zwei Punkte sollen an dieser Stelle erwähnt werden, die für das Verständnis des Zusammenhanges von Humor und Leiden bei Th. Bernhard wichtig sind. Zum einen hält Freud fest, der Humor habe nicht nur etwas Befreiendes, eine Eigenschaft, die er mit dem Witz und der Komik teile, sondern er habe auch etwas « Grossartiges und « Erhebendes ». Das Grossartige zeige sich « im Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs »128, das heisst, das Ich verschaffe sich, von der Welt gekränkt und vom Leiden genötigt, eine Distanz, indem das Ich sich durch Humor darüber erhebt. So verarbeitet Th. Bernhard die Enttäuschung über das uninspirierte Burgtheater, indem er einen metaphorischen Vergleich zieht ; er schreibt das Mitleid weg, indem er Fritsch die alleinige Schuld an seinem Suizid gibt, er gönnt der Poschinger Elli eine temporäre Unsterblichkeit, weil er den von ihr zugeführten Schmerz zu verarbeiten vermochte, um sich so von Schmerzen oder Kränkung zu distanzieren. In allen Beispielen zeigt sich, der Humor ist nicht ein resignatives Moment, im Gegenteil, « er ist trotzig, er bedeutet nicht nur Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag »129. Somit stellt der Humor für Freud eine mögliche Strategie dar, sich « dem Zwang des Leidens »130 zu entziehen. Der zweite wichtige Aspekt, der ebenfalls über die erste Schrift von 1905 hinausgeht, ist, dass Freud im Kontext des Humors die Rezipierenden stärker miteinbezieht. Diese Sichtweise zeigt auf, weshalb der Humor ebenso für die Rezipierenden relevant ist, denn sie nähmen am « Genuss » des Humors teil, sie würden somit einen « ähnliche[n] Lustgewinn »131 erfahren wie derjenige, von dem der Humor ausgeht.132 Dies mag ein Grund sein, weshalb 127 Ebd. 128 Freud, Sigmund : Der Humor. In : Psychologische Schriften. Studienausgabe. Hrsg. Alexander Mitscherlich et al. 1989 ; 278. 129 Ebd. 130 Ebd.; 279. 131 Ebd.; 277. 132 Ebd.
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Die ethische Dimension autobiographischen Erzählens am Beispiel von Thomas Bernhard
manche Rezipierenden Th. Bernhard gerne lesen, und weshalb andere ihn vehement ablehnen ; sie wollen oder können den Humor nicht verstehen. Vielleicht liegt das Nicht-Verstehen daran, wie Freud feststellt, dass nicht alle Menschen der « humoristischen Einstellung »133 fähig sind ; auch Th. Bernhard fragt sich im Gespräch auf Mallorca : « Aber ich weiss nicht, haben die Leut’ keinen Humor oder was ? »134. Liegt es vielleicht an dem bei Th. Bernhard oftmals mitschwingenden Sarkasmus, dass die Rezipierenden so stark herausgefordert werden ? Der zweite Notausgang stellt das Narrentum dar. Eine zentrale Aussage über das Narrentum findet sich in Th. Bernhards letztem Roman Auslöschung. Ein Zerfall, eine Stelle, wie sich zeigen wird, die sich auch auf Th. Bernhard selbst übertragen lässt : Wenn wir unsere Übertreibungskunst nicht hätten, hatte ich zu Gambetti gesagt, wären wir zu einem entsetzlich langweiligen Leben verurteilt, zu einer gar nicht mehr existierenswerten Existenz. Und ich habe meine Übertreibungskunst in eine unglaubliche Höhe entwickelt, hatte ich zu Gambetti gesagt. Um etwas begreiflich zu machen, müssen wir übertreiben, hatte ich zu ihm gesagt, nur die Übertreibung macht anschaulich, auch die Gefahr, dass wir zum Narren erklärt werden, stört uns in höherem Alter nicht mehr. Es gibt nichts Besseres, als in höherem Alter zum Narren ernannt zu sein. Das höchste Glück, das ich kenne, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist das des Altersnarren, der gänzlich unabhängig seinem Narrentum nachgehen kann. Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir uns spätestens mit vierzig zum Altersnarren ausrufen und versuchen, unser Narrentum auf die Spitze zu treiben. Das Narrentum ist es, das uns glücklich macht, hatte ich zu Gambetti gesagt.135
Das Narrentum zeichnet sich laut Ich-Erzähler u. a. durch die Übertreibungskunst aus, eine Fähigkeit, auf die Th. Bernhard inhaltlich immer wieder zurückgegriffen hat, gerade auch in seinen autobiographischen Schriften, die zu den erwähnten öffentlichen Auseinandersetzungen geführt haben.136 Um die Funktion eines Narren besser begreifen zu können, ist es hilfreich, sich auf die Schrift Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam zu beziehen. Der Ich-Erzähler (so 133 Ebd.; 282. 134 Bernhard, Thomas : Journalistisches. Reden. Interviews. Werke 22.2. Hrsg. von Wolfram Bayer et al. 2015 ; 194. 135 Bernhard, Thomas : Auslöschung. Ein Zerfall. 2014 ; 128 f. 136 Einen Teil dieser Auseinandersetzungen hat Höller zusammengetragen und erläutert (vgl. dazu : Höller, Hans : Thomas Bernhard. Dargestellt von Hans Höller. 1993 ; 12).
Exkurs und Abschluss : Humor und Narrentum
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entgeht der als Narr getarnte Autor der Zensurbehörden) stellt fest, das gesamte menschliche Leben sei nichts anderes « als ein Spiel der Torheit »137. Kurz darauf erläutert der Erzähler : Von hoher Warte mag wohl einer Umschau halten, so wie die Dichter es manchmal Jupiter nachrühmen. Dann sieht er das menschliche Leben in massloses Unheil verstrickt, in grossem Elend. Er sieht die Peinlichkeit der Geburt, die Mühen der Erziehung, die vielfältigen Ungerechtigkeiten, denen die Kindheit ausgesetzt ist, den argen Schweiss der Jugend, die Beschwerlichkeiten des Alters, die harte Not des Todes. Er sieht, welch endloser Zug von Krankheiten droht, wie viele Zufälle uns auflauern, wieviel Missgeschick uns zustösst und wie alles allerorten mit Galle getränkt ist. Ich will gar nicht erst erwähnen, was die Menschen einander an Übeln selbst zufügen, wie Armut, Gefängnis, Schande, Scham, Martern, Hinterhältigkeiten, Verrat, Schmähungen, Streitigkeiten und Betrügereien. Doch allmählich komme ich offensichtlich dazu, den Sand zu zählen.138
Doch die Narrheit ist nicht allein, sie hat Helferinnen und Helfer, neun an der Zahl, die es ihr ermöglichen, die « Welt in [ihren] Bann »139 zu zwingen und sie gar zum « Herr[n] über die Herrscher »140 zu machen. Diese Helferinnen und Helfer sind : Eigenliebe, Schmeichelei, Vergessen, Trägheit, Vergnügen, Wahnsinn, Ergötzen, Ausgelassenheit und der Siebenschläfer. Nur dank der Narrheit, über die wir Menschen alle verfügen, gehen wir Liebschaften ein, die Frauen setzen sich den Mühen einer Geburt aus, die Eltern übernehmen Verantwortung für die Kindererziehung oder besonders närrische Menschen schreiben Bücher usw. So erstaunt es auch nicht, dass die Narrheit Vergnügen ins Leben bringt und nicht die Weisheit. Die Weisheit erkenne zwar die Missstände (wie das obige Zitat belegt), die Beschwerlichkeiten des Alterns oder das Leiden, das sich Menschen gegenseitig antun. Derjenige, der meine, mithilfe der Weisheit und der Wissenschaften sei es möglich, dem Leiden entgegenzutreten, der täusche sich, denn « die menschlichen Verhältnisse sind nämlich so dunkel und verworren, dass klare Einsicht gar nicht möglich ist »141. Es ist gerade umgekehrt : Die Weisheit und die Wissenschaft seien die Krankheiten, die geheilt werden müss137 Von Rotterdam, Erasmus : Das Lob der Torheit. Übersetzt und herausgegeben von Anton J. Gail. 1949 ; 32. 138 Ebd.; 37. 139 Ebd.; 12. 140 Ebd. 141 Ebd.; 57.
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ten, es seien die Weisen und die Wissenschaftler, die die grossen Narren sind, allen voran die Theologen, dicht gefolgt von den Philosophen. Und allfällige Erkenntnis verwirre den Menschen meist, der « Geist des Menschen ist nun einmal so angelegt, dass der Schein ihn mehr fesselt als die Wahrheit »142. Der Narr endet sein Loblied auf sich selber mit den Worten : « L ebt also wohl, klatscht Beifall, lebt und trinkt, ihr hochgepriesenen Mysten der Torheit »143. Man müsste nun an mancher Stelle nachfragen : Was macht genau für den Narren ein gutes Leben aus, warum folgt aus einem Sein ein Nicht-Können respektive ein Nicht-Sollen und wie genau kommt die kategorische ablehnende Haltung gegenüber Wissenschaft und Frauen zustande ? Hier jedoch ist es wichtig, dass die Ausführungen zur Narrheit es möglich machen (Th. Bernhard hat von Rotterdam, soweit ersichtlich, nirgends explizit Bezug genommen), den Erzähler in seinen Tiraden besser nachzuvollziehen ; und dies nicht nur im Roman Auslöschung. Ein Zerfall, sondern auch in all seinen autobiographischen Schriften.144 Den zahlreichen Leidensquellen und dem Erzählen darüber ist nur, und da tut sich der zweite Notausgang auf, mit der Einstellung des Narren und seinen Helferinnen und Helfern beizukommen. 9.5 Das sechste Zwischenspiel Es wurde im Kapitel 8 und 9 anhand der drei in Kapitel 5 ausgeführten Bereiche Möglichkeiten aufgezeigt, wie im Konkreten das Ethische in das autobiographische Erzählen kommt. Es sind deshalb nur Möglichkeiten, weil aus den zugrunde gelegten autobiographischen Schriften weitere und andere Beispiele hätten aufgegriffen werden können, um darzulegen, wie genau eine ethische Dimension des autobiographischen Schreibens abgeleitet werden kann (etwa dann, wenn nicht der Aspekt des Leidens, sondern jener des Glücks ins Zentrum der Untersuchung gestellt werden würde). Die Ausführungen in diesem Kapitel haben die Vielschichtigkeit des Normativen im zirkulären Modell Produzierende-Erzähltes-Rezipierende gezeigt ; es konnte der Nachweis erbracht werden, weshalb es eine Ethik des autobiographischen Erzählens braucht, indem dargelegt wurde, wa142 Ebd. 143 Ebd.; 112. 144 Th. Bernhard hätte sich wahrscheinlich über die Ausführungen des Narren zum Kaufmannsgeschäft gefreut, auch deshalb, weil sie ganz im Bernhardsche Stil daherkommt : « Den törichtesten und schmutzigsten Haufen von allen stellen die Kaufleute dar, weil sie ja das widerwärtigste aller Geschäfte und das noch auf die widerwärtigste Art betreiben. » (ebd.; 63).
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rum das Leiden aufgeschrieben, weshalb die Aspekte des Inhaltes, der Sprache und der Form im autobiographischen Schema berücksichtigt, weshalb die Ursachenforschung und die Ursprungsfigur reflektiert werden sollten im Umgang mit dem autobiographischen Material zwecks Autonomieerweiterung. Beide, Chr. Lavant und Th. Bernhard, bekunden mit Nachdruck den Widerspruch zwischen dem Leiden, das zur Sprache gebracht werden soll, auf der einen und der Unmöglichkeit, sich diesem Leiden anzunähern, geschweige denn es gar zu überwinden, auf der anderen Seite. Wie man sich diesen Widerspruch zurechtlegen kann, zeigt die Ausarbeitung der ethischen Dimension ; es könnte gelingen, den Raum des Unbedingten trotz und durch das Leiden zu erweitern. Wie in den autobiographischen Schriften von Chr. Lavant aufgezeigt wurde, kann dieser Raum in verschiedenen Richtungen ausgeweitet werden. Weil Chr. Lavant die Perspektivierung auf (Klein-)Kinder in einem Umfeld, das durch klare patriarchale und klassenbezogene Spielregeln ausgestaltet ist, wählt, zeigen sich die Ebene des autobiographischen Schemas und jene der Ursachenforschung mit grösserer Deutlichkeit. Die Protagonistinnen können sich nur bedingt zur Wehr setzen. Der Druck, der auf sie einwirkt, hat verschiedene Quellen. Da ist zum einen die Wirkmächtigkeit der Sprache zu nennen, die die Denkweisen und die Wahrnehmungen des Umfeldes, in dem sich die Figuren bewegen, widerspiegeln (vor allem Lenz in Das Wechselbälgchen oder die Diagnose des Arztes in Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus). Weiter zeigt sich bei der Protagonistin in Das Kind, welche Leistungen die Erwachsenen erbringen für die Herstellung von Kohärenz. Die Protagonistin verfügt noch über zu wenig Weltwissen, um in der Lage zu sein, die Phänomene, mit denen sie konfrontiert wird, einzuordnen. Die Erwachsenen sind in der Lage, solche Bezüge herzustellen, sie können die Situation verordnen und sie so verstehen, auf die Gefahr hin, nicht mehr genau zuzuhören oder wahrzunehmen, Abkürzungen zu nehmen, wo es nicht angebracht ist, wie am Beispiel von Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus (vgl. dazu Kapitel 8.3) dargelegt wurde. An der Reflexion und an der Perspektivierung des eigenen Blickes zu arbeiten, sich mithilfe verschiedener Konzeptionen auseinanderzusetzen, auch der sozialphilosophischen Dimension (wie es Bourdieu oder Gymnich tun), wie ein solcher Blick analysiert werden kann, ist dabei sicher ein wichtiger Weg. Da es zwar von der leidenden Person aus verständlich ist, dass die Konfiguration möglichst effektiv arbeiten soll, gilt es, die vermeintlich klaren Kohärenzbezüge, die Wirkmächtigkeit der Sprache und der Komplexität der Ursachenforschung nicht aus den Augen zu verlieren. Doch sich all dieser Momente bewusst zu sein, reicht nicht, es ist wie mit dem Mitleid bei Sontag. Erst dann, wenn die Bewusstseinsfelder in Denkweisen und Handlungen umgesetzt werden, erst dann
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ist es möglich, den erwähnten Raum der Autonomie zu erweitern. Es ist ein anspruchsvoller Weg, der auf sich genommen werden muss, um den Raum zu erweitern, man muss die vorgespurten Wege verlassen. Chr. Lavant zeigt mit und in ihren vier Erzählungen mögliche Lösungsmöglichkeiten auf, aber auch Mechanismen, wie die Autonomie gestärkt werden kann. Es ist das Lesen von Literatur, das den Rezipierenden helfen kann, solche Lösungen und Hindernisse zu erkennen (ethics of reading) und es ist das Schreiben aus der produzierenden Sichtweise (ethics of writing). Nicht nur greift die Protagonistin in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus auf das Schreiben zurück, sondern auch Chr. Lavant selber, es ist die Möglichkeit, sich zu äussern, und es dient als Ausgangslage, um überhaupt über die ethische Dimension nachdenken zu können. Den erwähnten Raum des Unbedingten zu erweitern, bedeutet bei Th. Bernhard Folgendes : Wie dargelegt wurde, erlauben die fünf Bände es den Rezipierenden, einen Anspruch auf Authentizität zu erheben. Aus diesem Anspruch folgt, dass bei der eigenen Selbsterforschung keine (bewusst) offenen und versteckten Widersprüche eingesetzt, ein vor allem begründeter und nicht anklagender Duktus verwendet, sorgfältig mit Übertreibungen umgegangen, nicht unnötig wiederholt und sicher nicht gelogen wird. Doch gegen all diese Voraussetzungen verstösst Th. Bernhard, ja, die Rezipierenden sind oft gar mit einem Erzähler konfrontiert, der sich selbst entlarvt, dem man nur bedingt glauben soll. Th. Bernhard hat auch kein Interesse daran, die drei von Goethe in Dichtung und Wahrheit umgesetzten Ziele selber zu verfolgen, nämlich das Autorenleben abzurunden, auf die Vielfalt der eigenen Arbeiten als eine historisch gewachsene Einheit hinzuweisen und drittens dadurch den Anspruch zu formulieren, stellvertretend für das menschliche Handeln und Erleben zu stehen (vgl. dazu Kapitel 4.2). Die Art, wie Th. Bernhard erzählt, löst eine ganz andere Refiguration aus, sie ist anders beschaffen als eben bei Goethe. Mit ganz anders sind die Brüche, die Übertreibungen und die Lügen gemeint, die formal und sprachlich entsprechend sichtbar werden. Zudem scheint auf der Seite der Rezipierenden geradezu eine Notwendigkeit zu bestehen, dass ein solcher Erzähler vorliegt, denn es braucht jemanden, der übertreibt und zuspitzt, der die Rezipierenden in der Schwebe lässt, polarisiert, der sich und die Welt anklagt, ja, der Erzähler soll Unglaubwürdiges streuen, gar lügen dürfen (Lügen, die später aufgedeckt werden, wie die diskutierten Beispiele bei Th. Bernhard in Kapitel 7.2 zeigten). So wird die Irritation zur Notwendigkeit ; es sind gerade die Brüche und Irritationen, die helfen, sich dem Primat der Verstehbarkeit zumindest teilweise zu entziehen, sich den Verlockungen einer einfachen, unangemessenen Lesart des Erkenne-dich-selbst zu entziehen und die Grenzen des autobiographischen
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Schemas aufzuzeigen. Und so stechen in der Frage, wie ich Leben soll, nicht nur aus der Perspektive Th. Bernhards die « ethischen Standards » die « moralischen Normen » aus, sondern ebenfalls aus der Sichtweise der Rezipierenden. Im Anschluss wurde, ausgehend von Th. Bernhards Texten, auf zwei Notausgänge eingegangen. Die unverzichtbare therapeutische Wirkung des Humors wurde aus historischer und psychologischer Sicht reflektiert. Auch wenn es vielleicht möglich ist, eine humorvolle Person zu werden, bedeutet dieser Umstand allerdings nicht, dass das Leiden dabei eine entscheidende Rolle einnehmen muss. Chr. Lavant bezieht sich in der Beschreibung ihrer Umgebung (Kapitel 6.1, Zitat II, Zeile 59) auf den Humor, welcher durch die Geschichten ausgelöst wurde, die die Menschen im Dorf ihrer Mutter erzählten. Doch sie selber macht vom Humor nicht Gebrauch, weder in den Briefen noch in den epischen und lyrischen Texten. Zwar nimmt der Humor bei Th. Bernhard eine wichtige Rolle für den Umgang mit sich und der Welt ein, es ist aber auch der Humor und das Narrentum, welches verunmöglicht, konstruktive Lösungsansätze zu finden, wie mit den Leidensquellen umzugehen wäre. Denn wer über das Leiden lacht oder sich zu stark mit dem Narren identifiziert, kann sich nicht mehr ernsthaft auf das Leiden einlassen. So stellen das Lachen und das Narrentum einen möglichen, zeitweise sehr wohl gerechtfertigten Ausdruck respektive eine Haltung dar, über das Leiden und die damit verknüpften emotionalen Zustände Macht zu gewinnen. Doch als eine alleinige Strategie im Umgang mit dem Leiden taugt sie nicht, sie wird dem Leidenden und, wie in Kapitel 2 ausgeführt wurde, dem Phänomen des Leidens und seiner Vielschichtigkeit nicht gerecht. Zudem können die beiden Strategien auch deshalb nicht als alleiniger Weg für den Umgang mit dem Leiden eingesetzt werden, weil sie keine auf Dauer hilfreichen Ansätze bieten, um die ethisch bedeutsamen Überlegungen, die in diesem Kapitel formuliert wurden, voranzutreiben. Somit verhält es sich wie bei allen anderen Notausgängen : Sie dienen als separater Weg in der Not.
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10. Schluss O Bewohner Thebens, meiner Vaterstadt ! Sehet, dieser Ödipus, der die berühmten Rätsel löste, mächtig wie kein zweiter war, er, auf dessen Glück ein jeder Bürger sah mit Neid, in welch grosse Brandung ungeheuren Schicksals er geriet ! Drum blicke man auf jenen Tag, der zuletzt erscheint, und preise keinen, der da sterblich, selig, eh er denn zum Ziel des Lebens durchgedrungen, ohne dass er Schmerz erlitt. (Schlussworte des Chores aus dem Drama König Ödipus von Sophokles)1 « Etwas« beginnt dort, wo die Linien andere Linien kreuzt, wo das Leben ein fremdes Leben betritt. Jede Existenz ist unbedeutend, wenn sie in niemandem und in nichts gespiegelt wird. Der Mensch existiert nicht, solange er sich nicht im Spiegel gesehen hat. (Auszug aus Die Manon Lescaut von Turdej von Wsewolod Petrow)2
Auch wenn wir, wie Pythagoras in der zu Beginn der Einleitung zitierten Textstelle, die Vergänglichkeit des Seins beklagen, es bleibt doch genügend Zeit für die Menschen, Geschichten zu erzählen, u. a., was in dieser Arbeit im Zentrum stand, Geschichten über sich selber in Form von autobiographischen Schriften. Weshalb überhaupt solche Geschichten erzählt werden, hängt mit verschiedenen Gründen zusammen. Zwei davon standen aus produktionsästhetischer Sicht im Zentrum, sie müssen in enger Verbindung gedacht werden, nämlich das Erkenne-dich-selbst und das Leiden. Es zeigte sich, das Leiden ist ein wesentlicher Ursprung und eine zentrale Herausforderung bei dieser Art der Selbsterforschung. 1 Sophokles : König Ödipus. Übersetzt und Nachwort von Kurt Steinmann. 1989 ; 66. 2 Petrow, Wsewolod : Die Manon Lescaut von Turdej. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. 2012 ; 23 f.
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In der Praxis zweifelt niemand daran, dass es möglich sein sollte, über sich selber zu erzählen. Hingegen sind sich die Menschen weniger bewusst, welche ethischen Konsequenzen daraus folgen, und zwar nicht nur für sich selber, sondern ebenso für das Gegenüber. Obschon im Dialog mit und über sich selber, wie Chr. Lavant und Th. Bernhard es tun, die wie auch immer geartete ästhetische Perspektive mitberücksichtig werden muss, können sich die Produzierenden deshalb einer ethics of telling respektive einer ethics of writing und die Rezipierenden einer ethics of reading nicht entziehen. Aus diesen Gründen, die anhand des zirkulär zu denkenden Modells Produzierende-Erzähltes-Rezipierende ausgearbeitet wurde, wird es auch einsichtig, weshalb es eine Ethik des autobiographischen Erzählens braucht. Was bedeuten diese Erkenntnisse für den Anspruch, der aus dieser Ethik des autobiographischen Erzählens folgt, also für das erwähnte Autonomieprogramm ? Für die Produzierenden ist es sicher hilfreich, den Umgang mit autobiographischem Material realistisch einzuschätzen, gerade was die Reichweite der Erklärungskraft ihrer handlungsleitenden Gründe mittels Selbsterforschung betrifft. Zwar ist es möglich, Gründe für Handlungen anzugeben, allerdings reichen diese Gründe nur bedingt aus, eine Handlung (aber auch einen Gedanken) vollständig zu erklären. Da gilt es nicht nur für die Produzierenden mit Nachsicht sich selber zu begegnen, sondern auch die Rezipierenden sollten sich in Geduld üben, was das Verstehen des Gegenübers anbelangt. Doch auch wenn die Selbsterforschung, was aufgezeigt wurde, nur begrenzt möglich ist, es gibt Wege, wie der begrenzte Raum bespielt werden kann, sei es auf der inhaltlichen, auf der formalen oder auf der sprachlichen Ebene. Dabei erlaubt die mündliche, aber auch, und dieser Fokus stand in der Arbeit im Zentrum, die schriftliche Rede das Leiden zumindest zu mildern, wenn auch nicht aufzulösen, wie bei Chr. Lavant und Th. Bernhard nachgewiesen wurde. Wie die Auseinandersetzung mit den autobiographischen Schriften von Chr. Lavant und von Th. Bernhard gezeigt hat, nehmen die Autorin und der Autor gerade wegen Leidenserfahrungen auf unterschiedliche Weise Abstand vom Anpassungsdruck, der vom Schema ausgeht, sie wehren sich gegen den Druck der Vervollständigung, lassen Lücken offen oder füllen sie mit widersprüchlichen Angaben, sperren sich also, eine kohärente Lesart ihrer selbst dem Gegenüber zu präsentieren, und sie weigern sich, von der gängigen formularischen Sprache Gebrauch zu machen. Hinzu kommt, dass die biographischen Episoden der Autorin und des Autors immer wieder umgedeutet wurden. Sie widersetzen sich beide einer vollständigen narrativen Identifizierung des menschlichen Lebensvollzuges, wie dies von MacIntyre oder von Taylor, wenn auch aus unterschiedli-
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chen Perspektiven, vertreten wird. Somit wird, ähnlich wie im postdramatischen Theater, anstelle von Handlung und Handelnden der Textkörper – vor allem bei Th. Bernhard, aber auch bei Chr. Lavant gibt es deutliche Ansätze dazu – zum dramatischen Ereignis. Eine weitere Konsequenz für die Rezipierenden besteht darin, den Menschen zuzuhören und genau hinzusehen, denn, wie Mitscherlich festhält, der Körper stellt nur die Widerstandsmasse für Zu- und Unfälle dar3 ; es erstaunt deshalb nicht, dass alle Menschen von Leidenserfahrungen erzählen können. Gerade für Menschen, die viel und intensiv mit dem Leiden konfrontiert waren und sind, ist es wichtig, ihnen das Mikrophon hinzuhalten. So hält Bachmann in der bereits zitierten Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar weiter fest : Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiss, dass man enttäuscht, und das heisst, ohne Täuschung, zu leben vermag. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelheit der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.4
Bachmann denkt bei der Erzählung von Leidenserfahrungen nicht explizit an die Autorinnen und Autoren. Doch es sind gerade Schreibende wie Chr. Lavant und Th. Bernhard, welche dank ihrer Auseinandersetzung mit sich selber und den veröffentlichten Schriften der Selbsterforschung den Rezipierenden Wege aufzeigen, wie mit der anspruchsvollen Verflechtung zwischen Produzierenden und Erzähltem umgegangen werden kann, und so auch auf die Wirkmächtigkeit der Literatur hinweisen. Aber ohne die Offenheit der Rezipierenden, ohne die Bereitschaft, die Welt mit den anderen Augen zu sehen als nur mit den gewohnt eigenen, wird es nicht möglich sein, das Andere zu erkennen, geschweige denn, es anzuerkennen.5
3 Mitscherlich, Alexander : Gesammelte Schriften I. Psychosomatik I. Hrsg. von Tilman Allert. 1983 ; 126. 4 Bachmann, Ingeborg : Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften. 2011 ; 77. 5 Vgl. dazu die Ausarbeitung von Abbt hinsichtlich des Perspektivenwechsels in : Abbt, Christine : Mit anderen Augen. Perspektive und Pluralismus aus differenzanalytischer Sicht. In : Perspektivismus. Neue Beiträge aus Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik. Hrsg. von Hartmut von Sass. Erscheint 2019.
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Wenn man weiss, dass man nicht nur in der Lage ist, über sich selber zu erzählen, sondern dass es ebenso relevant ist, sich zu überlegen, wie man von sich erzählt und welche Konsequenzen daraus zu gewinnen sind, wäre schon viel erreicht. Es kann nicht das Ziel sein, das Erzählen von sich selber in eine bestimmte Tradition einbetten zu wollen, wie dies MacIntyre verfolgte. Auch wenn, wie Thomä ausführte, gewichtige Probleme auftauchen, wo die Erzählung der Selbstbestimmung oder der Selbsterfindung ausgeliefert wird, können diese beiden Strategien im Zusammenhang des Leidens nicht vollständig abgelehnt werden. Die Erzählung zwecks Selbstbestimmung und Rechtfertigung ist deshalb vonnöten, weil das Leiden interpretiert werden will ; die Erzählung zwecks Selbsterfindung stellt eine Möglichkeit dar, wie vor allem bei Th. Bernhard nachweisbar ist, sich über dieses Leiden zu erheben. Und die Selbstliebe, die Thomä als Alternative vorschlägt ? Es die Selbstliebe, auf die auch diese Arbeit hinweist und hinarbeitet : Die ethische Reflexion der autobiographischen Erzählung ermöglicht nämlich ein neues Verhältnis zu sich, aber auch zum Gegenüber aufzubauen, und da stellt die Erzählung das entscheidende Moment dar. Doch mit dieser Ausarbeitung der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens sind ebenso Gefahren verbunden. Eine dramatische Folge wurde anhand des Romans Die Mittellosen von Borbély ausgeführt. Das Erzählen des Leidens hatte nicht die heilende Kraft, von der in dieser Arbeit immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven geschrieben wurde. Eine weitere Gefahr besteht in der Komplexität des autobiographischen Materials. Wenn man sich der Komplexität bewusst ist, läge es manchmal nahe, zu verstummen, überhaupt der Versuch, aus der grossen Fülle der gemachten Erfahrungen zu erzählen, bliebe aus. Eine weitere Gefahr teilt diese Konzeption der ethischen Dimension des autobiographischen Erzählens mit der Psychoanalyse, auf die Jochen Hörisch aufmerksam macht : « Die Psychoanalyse begibt sich genau in dem Masse, in dem sie sich dem pathologischen Medium Sprache verschreibt, in eine riskante Nähe zu den Hell- und Überwachen, die hören und erhören, was andere überhören – und sei es das Schweigen. »6 Wie mit dem Verstummen der Produzierenden und dem Hell- und Überwachen der Rezipierenden umgegangen werden kann, ist eine anspruchsvolle Frage. Eine Möglichkeit besteht auch hier darin, sich der Gefahren bewusst zu sein. Immerhin.
6 Hörisch, Jochen : Wissen die Literatur und die Psychoanalyse dasselbe, wenn sie sich aufeinander berufen ? In : Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Hrsg. von Peter-André Alt und Thomas Anz. 2008 ; 25.
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Auch wenn ein therapeutischer Ansatz in diesem Buch mitschwingt, so bedeutet dieser Umstand nicht, es sei nach der Lektüre des Buches möglich, einem therapeutischen Ratgeber gleich, die genauen Bedingungen anzugeben, wie ein Umgang mit dem Leiden auszusehen habe. Es sollte ebenso deutlich geworden sein, dass es nicht darum ging, dem Menschen das Leiden abzudelegieren. Selbst wenn die Idee und die Vorgehensweise der Klagefrauen im alten Ägypten einleuchten – sie machten als Stellvertreter für die Trauergemeinde den Leidensprozess der Trauer durch7 (nicht umsonst lebt die Tradition in gewissen Ländern u. a. auf der Balkanhalbinsel weiter) –, es geht bei dem hier vertretenen Ansatz im Umgang mit dem Leiden und im Von-sich-Erzählen darum, sich selber auf den Weg zu machen, das einzelne Subjekt wird dazu ermutigt, sich selber diesem Prozess zu stellen. Die Autonomie ist nicht einfach gegeben, sie muss erarbeitet werden, sei es durch Erkenntnis, sei es dadurch, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Es geht um die Aufklärung des Ich, also um den Prozess, nicht um das Ergebnis. Oder, um den antidogmatischen Ansatz mit Wittgenstein aufzunehmen : « Man kann die Menschen nicht zum Guten führen ; man kann sie nur irgendwohin führen. Das Gute liegt ausserhalb des Tatsachenraums. »8 In diesem Prozess ist es notwendig, einen sorgfältigen Umgang mit der Sprache zu pflegen und das zu erzählende Material auf eine bewusste, differenzierte Art in Bewegung zu setzen, und vielleicht kommt man dem nahe, wovon Th. Bernhard schrieb : Es beschäftigt uns « ohne Unterlass », nämlich das Glück. Manchmal fühlt sich das Leben so an wie bei Frances Ha in dem gleichnamigen Film des Regisseurs Noah Baumbach, als sie zum Lied Modern Love von David Bowie die 22 Catherine Street in Chinatown, New York, hinuntertanzt.9 Doch in all den anderen Situationen, wenn es nicht möglich ist, über sich selber und über der Welt zu schweben, hilft vielleicht der letzte Satz von Dareios aus dem Drama Die Perser, bevor er sich wieder in die Unterwelt begibt : « Und ihr, ihr Alten, lebet wohl und gönnt, obwohl in schlimmer Not, der Seele Freude Tag für Tag, denn den Gestorbenen nützt der Reichtum ja nichts mehr. »10 Was sicher bleiben wird, ob bei leichter oder bei schwerer See, solange wir weiteratmen 7 Vgl. dazu : Seeber, Christine : Klagefrau. In : Lexikon der Ägyptologie. Band III. Hrsg. von Wolfgang Helck und Wolfhart Westendorf. 1980 ; 444–447. 8 Wittgenstein, Ludwig : Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass. Hrsg. von Georg Henrik von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. 1994 ; 15. 9 Vgl. dazu : Baumbach, Noah und Gerwig, Greta (Drehbuch) : Frances Ha. Regie führte Noah Baumbach (DVD). 2013 ; 21.50 min–22.35 min. 10 Aischylos : Die Perser. Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. 2017 ; 79.
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können, ist die Erzählung über sich selber. Nur wie die Erzählung in Gang gesetzt werden soll, wenn wir von dieser See berichten, ja, das ist die grosse Frage. Wenn wir genügend wach sind bei der Beantwortung dieser Frage, lockt uns zwar nicht Ithaka, aber zumindest wissen die Produzierenden etwas besser, wer sie sind und welchen Spielraum sie im Umgang mit ihren Erzählungen über sich selber gewinnen ; das Gegenüber kann und soll sie bei diesem Prozess unterstützen, und es sind auch die Rezipierenden, die, nachdem sie sich in die Biographie des Anderen eingeschlichen haben, gestärkt und mit neuem Blick die eigene Reise fortführen können.
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11. Literaturverzeichnis
Abbt, Christine : Mit anderen Augen. Perspektive und Pluralismus aus differenzanalytischer Sicht. In : Perspektivismus. Neue Beiträge aus Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Ethik. Hrsg. von Hartmut von Sass. Hamburg : Felix Meiner Verlag. 2019. S. 232–250. Abbt, Christine : Der wortlose Suizid. Die literarische Sprachverlassenheit als Herausforderung für die Ethik. München : Wilhelm Fink Verlag. 2007. Abendschein, Hartmut : Mein Jahr in Besorgungen. 2016. http://www.abendschein.ch/ abendschein-hartmut-mein-jahr-in-besorgungen-einkaufszettel-woerterlisten-digitalisat/ [Zugriff am 12. April 2018]. Aischylos : Die Perser. Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann. Stuttgart : Reclam. 2017. Aischylos : Die Orestie. Agamemnon. Die Totenspende. Die Eumeniden. Deutsch von Emil Staiger. Mit einem Nachwort des Übersetzers. Stuttgart : Reclam. 1958. Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Wechselbälgchen » von Christine Lavant. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von ebd. Göttingen : Wallstein Verlag. 2016. S. 71–100. Amann, Klaus et al.: Drehe die Herzspindel weiter für mich. Christine Lavant zum 100. Göttingen : Wallstein Verlag. 2015. Amann, Klaus : Nachwort. In : « Das Kind » von Klaus Amann. Hrsg. von ebd. Göttingen : Wallstein. 2015. S. 55–92. Améry, Jean : Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart : Verlagsgemeinschaft Ernst Klett. 1977. Angehrn, Emil : Das erzählte Selbst. In : Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Hrsg. von Gabriela Brahier und Dirk Johannsen. Band 2. Würzburg : Ergon Verlag. 2013. S. 89–108. Angehrn, Emil : Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen : Mohr Siebeck. 2010. Angehrn, Emil : Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. München : Wilhelm Fink. 2007. Angehrn, Emil : Leiden und Erkenntnis. In : Das Maß des Leidens. Klinische und theoretische Aspekte seelischen Krankseins. Hrsg. von Martin Heinze et al. Würzburg : Königshausen & Neumann. 2003. S. 25–44. Antor, Heinz : Erzählung. In : Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart : J. B. Metzler. 2008. S. 179. Aristophanes : Die Wolke. Übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. Stuttgart : Reclam. 2014. Aristoteles : Über die Teile der Lebewesen. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Kullmann. Band 17. Zoologische Schriften II. Teil 1. Berlin : Akademie Verlag. 2008.
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SCHARFSINNIGES PSYCHOLOGISCHES PORTRÄT UND UNTERHALTSAMER WERKÜBERBLICK IN EINEM
Rainer M. Holm-Hadulla Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität Eine Psychobiographie 2019. 224 Seiten, 1 Abbildung, kartoniert € 30,00 D | € 32,00 A ISBN 978-3-525-40669-4 eBook (PDF/ePub) € 23,99 D | € 24,70 A
Goethe war nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Dichter und bedeutender Politiker, sondern hat während seines gesamten Lebens gesucht, geirrt und gelitten. Er verfügte jedoch über die besondere Fähigkeit, seelische Erschütterungen anzunehmen und für die Entwicklung seiner Kreativität zu nutzen. Die Psychologie hat seit der Zeit Goethes große Fortschritte gemacht und die Neurobiologie revolutionäre Erkenntnisse über den menschlichen Geist ermöglicht. Dennoch existieren bislang keine Dokumente, die so eingehend die Entwicklung der Kreativität beschreiben wie Goethes Briefe und Werke sowie die detaillierten Beschreibungen seitens seiner Familienangehörigen, Freundinnen und Freunde. Sein Weg zur Kreativität ist auch heute noch höchst inspirierend und regt dazu an, die eigenen schöpferischen Seiten zu entwickeln. Die Beschäftigung mit Goethes Weg zur Kreativität ist damit nicht nur ein intellektuelles Vergnügen, sondern hat auch lebenspraktischen Nutzen.
EINER DER WELTWEIT BEKANNTESTEN UND UMSTRITTENSTEN DEUTSCHSPRACHIGEN AUTOREN
Uwe Schütte Annäherungen Sieben Essays zu W.G.Sebald 2019. 275 Seiten, mit 7 s/w-Abb., gebunden € 29,00 D | € 30,00 A ISBN 978-3-412-51381-8 eBook: € 23,99 D | € 24,70 A ISBN 978-3-412-51382-5
W.G. Sebald starb im Dezember 2001 bei einem Autounfall im Alter von nur 57 Jahren auf dem Gipfel seines Ruhms. Sein unmittelbar zuvor erschienener Roman »Austerlitz« machte den früh schon nach England emigrierten Schriftsteller zu international wichtigsten deutschen Autor. Mit Prosabänden wie »Die Ausgewanderten« und »Die Ringe des Saturn« hatte er in den 1990er Jahren vor allem die englischsprachige Welt begeistert. In Deutschland hingegen wurde Sebald oftmals kritisch gesehen, insbesondere aufgrund seiner literaturkritischen Interventionen und besonders wegen seiner provokativen Thesen zu »Luftkrieg und Literatur«. Uwe Schütte hat bei Sebald studiert und kann auf persönliche Gespräche und Erlebnisse zurückgreifen, um ein kenntnisreiches Portrait dieses schwer zu fassenden Schriftstellers zu zeichnen.
Preisstand 1.10.2019