Das Haar ALS Argument: Zur Wissensgeschichte Von Barten, Frisuren Und Perucken (Gothaer Forschungen Zur Fruhen Neuzeit, 21) 3515116605, 9783515116602

Ob Bart, Glatze, Perucke oder Zopf, lange, kurze oder hohe Frisur - die Haartracht sagt immer etwas aus. Dabei kann es u

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German Pages 285 [289] Year 2022

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Martin Mulsow: Einleitung. Wissensgeschichte zwischen sozialen Körperpraktiken und gelehrten Diskursen
Haarwissen und Medizin
Carine van Rhijn: ‘Tangled Knowledge’ or: How to Interpret a Recipe for a Lizard Hair Mixture in an Early Medieval Pastoral Manual
Natalia Bachour: Haare als Geheimmittel in der Islamischen Welt
Stefan Hanß: Eidechsenöl, Fledermaushirn, Bärenschmalz und Taubenkot Haarpflege als Körper-, Medizin- und Materialwissen im 16. und 17. Jahrhundert
Rekonstruierte Haare in Kunst und Antiquarianismus
Dirk Jacob Jansen: Curls as Clues. Titian, Strada, Peirce, and Morelli
Martin Mulsow: Um des Kaisers Bart. Gelehrte Traktate „De barba“ zwischen Späthumanismus und Numismatik
Julia Saviello: Uvae barbatae. Deplatzierte Bärte und ihr Platz in der Kunstgeschichte
Religiöse Kämpfe, Decorum und Politik
Irene van Renswoude: In Praise of Bald Men. The Cultural Significance of Baldness in the Early Middle Ages
Dirk van Miert: Early Modern Philologies of Hair. Hadrianus Junius’ Commentary on Hair (1556) and Boxhorn’s Little Mirrors (1644)
Kai Merten: ‚Roundheads‘, ‚Soundheads‘ und „Hair in Characters“. Zum Diskurs der Kurzhaarigkeit im englischen Bürgerkrieg
Lucinda Martin: Die ‚Mitteldinge‘ im Pietismus oder der seltsame Fall von Dittmars Bart und Gichtels Perücke
Herrschaftsordnungen und Fremdwahrnehmungen
Alexander Schunka: Perfekter Halt. Haare auf Reisen in der Frühen Neuzeit
Ines Eben v Racknitz: Der Zopf als Argument. Skizze einer Wissensgeschichte der Haare in China
Kristina Kandler: Frisuren der Tugend und Untugend. Haar und Kopfputz im populären Medium des Gothaischen Hofkalenders
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Das Haar ALS Argument: Zur Wissensgeschichte Von Barten, Frisuren Und Perucken (Gothaer Forschungen Zur Fruhen Neuzeit, 21)
 3515116605, 9783515116602

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Das Haar als Argument Zur Wissensgeschichte von Bärten, Frisuren und Perücken

Herausgegeben von Martin Mulsow

Kulturwissenschaften Franz Steiner Verlag

Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit | 21

Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit Herausgegeben vom Forschungszentrum und der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt Schriftleitung: Martin Mulsow und Kathrin Paasch Band 21

Das Haar als Argument Zur Wissensgeschichte von Bärten, Frisuren und Perücken Herausgegeben von Martin Mulsow

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11660-2 (Print) ISBN 978-3-515-11663-3 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis Martin Mulsow Einleitung Wissensgeschichte zwischen sozialen Körperpraktiken und gelehrten Diskursen

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Haarwissen und Medizin Carine van Rhijn ‘Tangled Knowledge’ or: How to Interpret a Recipe for a Lizard Hair Mixture in an Early Medieval Pastoral Manual

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Natalia Bachour Haare als Geheimmittel in der Islamischen Welt

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Stefan Hanß Eidechsenöl, Fledermaushirn, Bärenschmalz und Taubenkot Haarpflege als Körper-, Medizin- und Materialwissen im 16. und 17. Jahrhundert

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Rekonstruierte Haare in Kunst und Antiquarianismus Dirk Jacob Jansen Curls as Clues Titian, Strada, Peirce, and Morelli

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Martin Mulsow Um des Kaisers Bart Gelehrte Traktate „De barba“ zwischen Späthumanismus und Numismatik

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Inhaltsverzeichnis

Julia Saviello Uvae barbatae Deplatzierte Bärte und ihr Platz in der Kunstgeschichte

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Religiöse Kämpfe, Decorum und Politik Irene van Renswoude In Praise of Bald Men The Cultural Significance of Baldness in the Early Middle Ages

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Dirk van Miert Early Modern Philologies of Hair Hadrianus Junius’ Commentary on Hair (1556) and Boxhorn’s Little Mirrors (1644)

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Kai Merten ‚Roundheads‘, ‚Soundheads‘ und „Hair in Characters“ Zum Diskurs der Kurzhaarigkeit im englischen Bürgerkrieg

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Lucinda Martin Die ‚Mitteldinge‘ im Pietismus oder der seltsame Fall von Dittmars Bart und Gichtels Perücke

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Herrschaftsordnungen und Fremdwahrnehmungen Alexander Schunka Perfekter Halt Haare auf Reisen in der Frühen Neuzeit

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Ines Eben v Racknitz Der Zopf als Argument Skizze einer Wissensgeschichte der Haare in China

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Kristina Kandler Frisuren der Tugend und Untugend Haar und Kopfputz im populären Medium des Gothaischen Hofkalenders

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Einleitung Wissensgeschichte zwischen sozialen Körperpraktiken und gelehrten Diskursen Martin Mulsow

Die Weise, das Haar zu tragen, ist von je her und in allen Kulturen ein Marker von sozialer Distinktion: Mit ihr kann Zugehörigkeit oder Ausschluss signalisiert werden, und das auf den ersten Blick Der Blick ins Angesicht des anderen verrät, zu welcher Gruppe, Klasse oder Religion er oder sie gehört 1 Oft ist dieser Marker auch als Form von Gewalt missbraucht worden: Das Rasieren des Bartes oder des Haupthaars kann eine Demütigung sondergleichen bedeuten, als Aberkennung der Würde und des Standes, als Kennzeichnung von Sklaven Haar- und Barttracht kann aber auch der Ausdruck von Emotionen sein – etwa von Trauer – oder Zeichen von Kraft, Weisheit oder Wildheit All dies ist in ungeschriebenen sozialen Codes enthalten und wird in der Sozialund Kulturgeschichte rekonstruiert 2 Aber eine Wissensgeschichte des Haares?3 Wie steht sie zu den kulturellen Fakten? Offensichtlich in einer obliquen Position: Wenn Wissen über die Weise, Haare zu tra-

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Vgl etwa Anthony Synnott: Shame and Glory: A Sociology of Hair, in: The British Journal of Sociology 38 (1987), S 381–413 Zur Anthropologie von Körpermarkierungen vgl vor allem Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu Berlin 1985 Vgl etwa Richard Corson: Fashions in Hair The First Five Thousand Years London 2001; Daniela F Mayr, Klaus O Mayr: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht Nördlingen 2003; Victoria Sherrow: Encyclopedia of Hair A Cultural History Westport und London 2006; Penny Howell Jolly (Hg ): Hair: Untangling a Social History Saratoga Springs 2004; Iris Gareis: Art Haar, in: Friedrich Jaeger (Hg ): Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde Stuttgart 2005–2012, Bd 5, Sp 9–12 Zur Wissensgeschichte als einer Disziplin im Werden vgl Peter Burke: What ist the History of Knowledge? Cambridge 2015; Martin Mulsow: History of Knowledge, in: Marek Tamm, Peter Burke (Hg ): Debating New Approaches to History London 2019, S 159–173 und 179–187 (dazwischen ein Kommentar von Lorraine Daston); Marian Füssel (Hg ): Wissensgeschichte Stuttgart 2019

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Martin Mulsow

gen, niedergelegt wird, wenn es als Argument verwendet wird, dann geht es nicht um die soziale Distinktion durch Körpermarkierung selbst, sondern um die Instrumentalisierung des Wissens darüber zu anderen Zwecken Es sind ‚haarkundige Gesellschaften‘, Kreise mit ‚Haar-Literalität‘, in denen solches Wissen zirkuliert und eingesetzt wird 4 Eine Argument-Verwendungsgeschichte hat auf der einen Seite die sozialen und kulturellen Codierungen zu beachten, auf der anderen Seite aber auch die Diskurse, in die sie Eingang gefunden haben 5 Das gibt ihr eine oszillierende, interessante Stellung: Ein Phänomen wie das menschliche Haar bietet hier die Chance, traditionell textphilologisch vorgehende oder sich gelehrt an Objekten abarbeitende Disziplinen wie die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, History of Scholarship, Numismatik oder Kunstgeschichte mit sehr modernen sozial- und körpergeschichtlichen Fragestellungen zu verbinden, die unmittelbar die menschliche Erfahrungswelt berühren Auch das kann Wissensgeschichte sein: ein methodisches Band, das traditionelle mit aktuellen Fragen verknüpft Als Argument konnte das Haar in der Frühen Neuzeit zunächst für die Legitimierung von Distinktionsweisen eingesetzt werden; damit erfolgte eine reflexive Erweiterung der Distinktion durch Haartracht, gleichsam eine Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln Calvinisten etwa trugen nicht nur kurze Haare und lange Bärte – sie zeigten auch in umfangreichen lateinischen Traktaten, dass gute Christen von alters her so verfahren seien und dass diese Tracht daher eine normative Relevanz besitze Gerade die historisch versierten Gelehrten in den Niederlanden ließen es sich nicht nehmen, mit Quellenfunden und Interpretationen antiker und frühchristlicher Zeugnisse gegenüber ihren Gegnern zu punkten Dirk van Miert hat kürzlich dargestellt, dass diese Auseinandersetzungen im größeren Kontext der Historisierung biblischer Autoriät zu sehen sind 6 In seinem Beitrag in diesem Band vertieft er diesen Befund mit Blick auf Junius und Boxhorn, die um die Bibel einen Bogen machten, aber gerade damit zur Relativierung und Säkularisierung des normativen Bezuges beitrugen Die Historisierungs-Diagnose lässt sich unschwer auf andere Felder körperlicher Normativität übertragen, etwa auf die Frage der Nahrung Vegetarier historisierten ihr Anliegen nicht minder und studierten Texte von Pythagoras oder Porphyrios, um die 4 5

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Vgl Stefan Hanß: Face-Work Making Hair Matter in Sixteenth-Century Central Europe, in: Gender and History 33 (2021), S 314–345; vgl auch Evelyn Welch: Art on the Edge Hair and Hands in Renaissance Italy, in: Renaissance Studies 23 (2009), S 241–268 Vgl etwa Andreas Pečar, Kai Trampedach: Die Bibel als politisches Argument München 2007; Jan Assmann: Ägypten als Argument Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskritik im 17 und 18 Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S 561–586; Dominik Büschken: Herkunft als Argument: Wahrnehmung, Deutung und Funktion sozialer Mobilität in der englischen Gesellschaft des 12 Jahrhundert Göttingen 2020 Dirk van Miert: The „Hairy War“ (1640–50): Historicizing the Bible in the Dutch Republic on the Eve of Spinoza, in: Sixteenth Century Journal 49/2 (2018), S 415–436 Zum Prozess der Historisierung in der Religion vgl allg Bernd-Christian Otto, Susanne Rau, Jörg Rüpke (Hg ): History and Religion Narrating a Religious Past Berlin [u a ] 2015

Einleitung

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Ablehnung des Fleischkonsums zu bekräftigen 7 Auch Themen der richtigen Kleidung wären hier zu nennen, ebenfalls Probleme der Sexualität, der Bewegung und der Lebensweise 8 Die Körpergeschichte hat noch viele Dialoge mit der Ideengeschichte vor sich, wenn sie dieses Feld adäquat vermessen will 9 Legitimationskonflikte solcher Art waren in der Frühen Neuzeit häufig, und so gab es zahllose ‚Haar-Kriege‘, die zugleich Stellvertreterkriege politisch-sozialer Parteiungen waren In England standen sich im 17 Jahrhundert – wie der Beitrag von Kai Merten zeigt – Royalisten und Parlamentarier unversöhnlich als ‚Rundköpfe‘ und ‚Langköpfe‘ gegenüber, in Deutschland – das führt Lucinda Martin aus – Puritaner und Orthodoxe Dabei waren noch zur Zeit der Reformation Fragen der Frisur explizit unter die Adiaphora gerechnet worden, also zu jenem neutralen Bereich, der nicht von normativen Setzungen durch die Heilige Schrift betroffen war Doch diese Neutralität war nicht lange durchzuhalten Zu offensichtlich waren Haare als soziale und politische Markierungen zu deuten Alle diese Konflikte haben einen langen ‚paper trail‘ an Traktaten, manchmal auch Bildern und Karikaturen hinterlassen In der Sattelzeit der Französischen Revolution kochten die Haarkonflikte, die zugleich Kämpfe um natürliches Haar oder Perücke, um Zopf oder Nicht-Zopf waren, wieder hoch und endeten zuweilen damit, dass der ganze Kopf unter der Guillotine verloren ging 10 Kämpfe dieser Art im Kontext von Modernisierung und Enttraditionalisierung sind nicht auf Mitteleuropa beschränkt gewesen Peter der Große führte in den Jahren um 1700 eine Bartsteuer von 100 Rubel ein, um die Altgläubigen dazu zu bewegen, sich

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Vgl etwa James Gregory: Of Victorians and Vegetarians: The Vegetarian Movement in Nineteenth-century Britain London 2020; Uwe Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht: Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland Frankfurt 2006 In Deutschland schrieb der Begründer des ersten Vegetariervereins, Eduard Baltzer, eine Monographie über Pythagoras: Pythagoras, der Weise von Samos Ein Lebensbild Nordhausen 1868 Zur Kleidung vgl Ulinka Rublack: Dressing Up: Cultural Identity in Renaissance Europe Oxford 2010 Was Sexualität angeht, so erinnere ich nur an Michael Foucault: Die Geständnisse des Fleisches Sexualität und Wahrheit, Bd 4 Berlin 2019 Eine frühe Historisierung der von Foucault angesprochenen Themen findet sich etwa bei Tobias Pfanner: De Catechumenis antiquæ Ecclesiæ Liber Frankfurt [u a ] 1688 Vgl dazu Martin Mulsow: Wissen am Hof ‚Gesamternestinische‘ Gelehrte zwischen Weimar und Gotha um 1700, in: Franziska Bomski, Hellmuth T Seemann, Thorsten Valk (Hg ): Mens et Manus Kunst und Wissenschaft an den Höfen der Ernestiner Göttingen 2016, S 35–54 Zur Körpergeschichte vgl etwa Linda Kalof, William Bynum (Hg ): A cultural history of the human body, 6 Bde Oxford 2010; Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit: Einführung in die Körpergeschichte Tübingen 2000 Vgl etwa Will Bashor: Marie Antoinette’s Head: The Royal Hairdresser, the Queen, and the Revolution Lanham, MD 2013 Zum ‚Zopf-Schulz‘ in Deutschland, einem Berliner Deisten, vgl Johannes Tradt: Der Religionsprozess gegen den Zopfschulzen (1791–1799): Ein Beitrag zur protestantischen Lehrpflicht und Lehrzucht in Brandenburg-Preußen gegen Ende des 18 Jahrhunderts Frankfurt 1997

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Martin Mulsow

von ihren Vollbärten zu trennen 11 Zuweilen wurde bei Dynastie-Wechseln die Loyalität gegenüber der neuen Herrschaft durch äußerlich gut sichtbare Körpermerkmale wie die Haartracht eingefordert Der Beitrag von Ines Eben von Racknitz zeigt dies anhand des Konfliktes zwischen der neuen Mandschu-Regierung und den eingesessenen Han-Chinesen Sicherlich: Dies sind zunächst reine Machtkonflikte Doch auch sie verlaufen nicht ohne die Begleitmusik von Diskursen und Historisierungen, die natürlich immer auch einen Machtaspekt besitzen Das Wissen um Haare kann in diesem Sinne auch Herrschaftswissen sein, nicht zuletzt dann, wenn Kolonialherren oder Machthaber ihre Kenntnis dazu benutzen, Bevölkerungsgruppen zu klassifizieren, über die sie herrschen 12 Eine andere Subkategorie von Anwendungswissen ist das gelehrte Wissen, das nicht unmittelbar in Auseinandersetzungen einbezogen ist, sondern ex post und von einem mehr oder weniger neutralen Standpunkt erarbeitet wird, etwa von Kunsthistorikern oder Numismatikern: Haartracht ist dann ein Indiz beispielsweise für Datierungen, wenn aus einem bärtigen Kaiserbildnis geschlossen wird, dass der Kaiser aus der Zeit nach Hadrian stammen muss, vor dem es keine bärtigen Kaiser gegeben habe In meinem eigenen Beitrag erörtere ich die Zusammenhänge von visueller und textlicher Evidenz in gelehrten Traktaten über Bärte; die numismatischen Befunde sind dort, so stellt sich heraus, in die interne Dynamik der historisch-philologischen Kritik einbezogen Glaubt man zunächst naiv, durch Münzporträts etwas über das Haar von Moses oder Jesus zu wissen, löst sich dieses Wissen schon bald in Wohlgefallen auf Wie Hans Belting gezeigt hat, bleiben Bilder „im Wettlauf mit dem lebenden Gesicht als Verlierer“ zurück – das Gesicht sei der Fluchtpunkt aller Bilder 13 Das gilt in gewisser Weise auch für die Haarpracht Ihre Darstellung bleibt an bestimmte Medien gebunden und gerät in den Sog der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Medien Julia Saviello hat die Feinheiten der künstlerischen Darstellung wie auch die Kunsttheorie bezüglich der Haare beleuchtet 14 In ihrem Beitrag zu diesem Band untersucht sie anhand von „Barttrauben“ und „Teufelszwirn“, wie bestimmte Zierformeln, etwa Schlangenlinien oder Schnörkel, bei der Darstellung von Bärten eine Rolle spielen konnten – auch eine dysfunktionale, deplatzierende 15 Dirk Jansen interessiert sich ebenfalls für Details von Haar- und Bartdarstellungen – und schlägt die Brücke zu Carlo Ginzburgs „Spurensicherungen“ mit ihrer These, dass die Methodologie 11 12 13 14 15

Evgenii Akelev: Is It Possible to Make Money from Beards? The beard tax and Russian state economics at the beginning of the eighteenth century, in: Cahiers du monde russe 61 (2020), S 81–104 Zu solchem Klassifizierungswissen vgl immer noch Bernard S Cohn: Colonianism and its Forms of Knowledge The British in India Princeton 1996 Hans Belting: Faces Eine Geschichte des Gesichts München 2013, S 15 Julia Saviello: Verlockungen Haare in der Kunst der Frühen Neuzeit Emsdetten 2017 Vgl zu Bärten vor allem Allan Peterkin: One Thousand Beards: A Cultural History of Facial Hair Vancouver 2001, sowie Jörg Scheller, Alexander Schwinghammer (Hg ): Anything Grows: 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes Stuttgart 2014

Einleitung

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von Kunsthistorikern und von Kriminalisten letztlich wechselseitig aus dem ‚Indizien-Paradigma‘ hervorgegangen sei 16 Dass Körpergeschichte von der Wissenschaftsgeschichte profitieren kann, zeigt der mediävistische Beitrag von Caroline van Rhijn Die Wissenschaftsgeschichte hat in den letzten Jahren den ‚travelling small facts‘ besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die in Observationen und Rezepten transportiert worden sind 17 Dabei konnte es leicht zu Verschiebungen und Vertauschungen von Bedeutung kommen So kann aus einem Mittel gegen Haarausfall ein Mittel für wallendes Haar werden, Resultat eines prekären und ‚ambivalenten Stückes Wissen‘ Kosmetische Mittel und Haarpflegemittel sind von Menschen ersonnene Technologien zu Beeinflussung des Aussehens, übertragen durch impliziten oder expliziten Wissenstransfer 18 Bekanntlich ist sogar die Wissenschaft der Alchemie aus den kosmetischen Technologien hervorgegangen Gerade im Nahen Osten gibt es eine ungebrochene Tradition von Altägypten in die islamische Kultur hinein, in der Kosmetik, Pharmakologie, Alchemie und Magie sich überschnitten haben 19 Umgekehrt wurde – wie Natalia Bachour in ihrem Beitrag zeigt – aber auch das menschliche Haar seinerseits medizinisch und alchemisch-magisch eingesetzt Auch diese Verwendung fand ihre gelehrten Kommentare, nicht zuletzt im juristischen Bereich Einerseits kommt die Beschäftigung mit dem Haar hier in die Nähe der materiellen Kulturforschung 20 Auf der anderen Seite führt vom Haarwissen ein Weg zu frühmodernen Formen von Individualisierung Wie Stefan Hanß betont hat, gehört Haarpflege zu den Körperpraktiken, die sich aus einem bestimmten Wissensreservoir speisen – entweder als selbstbestimmte Arbeit an einem sozial respektierten Selbstbild oder als aufgezwungene Modifizierung des Bildes für andere Individualisierung ist ein Prozess, der in der italienischen Renaissance einen besonders prononcierten Ausdruck als Ermöglichung sozial distinkter Leistungen gefunden hat 21 Zwar sollte man diesen Prozess nicht als einlinig missverstehen oder vorschnell allein für Europa reservieren 22 Doch bietet die frühmoderne europäische Gesellschaft zahlreiche Quel-

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Vgl Carlo Ginzburg: Spurensicherung, in: ders : Spurensicherungen Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis München 1988, S 78–125 Vgl Simona Cerutti, Gianna Pomata (Hg ): Fatti: storie dell’ evidenza empirica Quaderni storici 108 (2001) Zum Wissenstransfer vgl Michael Polanyi: Implizites Wissen Frankfurt 1985 Vgl Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam Leiden 1972 Vgl etwa Dan Hicks, Mary C Beaudry (Hg ): The Oxford Handbook of Material Culture Studies Oxford 2018; Stefanie Samida, Manfred K H Eggert, Hans Peter Hahn (Hg ): Handbuch Materielle Kultur Bedeutungen – Konzepte – Disziplinen. Stuttgart 2014 Douglas Biow: On the Importance of Being an Individual in Renaissance Italy: Men, Their Professions, and Their Beards Philadelphia 2015 Vgl Martin Fuchs, Antje Linkenbach, Martin Mulsow [u a ] (Hg ): Religious Individualisation: Historical Dimensions and Comparative Perspectives Berlin [u a ] 2020

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Martin Mulsow

len, um das Geschehen der Selbststilisierung zu verfolgen 23 So kann man Haarpflege als Praktik innerhalb dieser Bemühungen verstehen In seinem Beitrag für diesen Band rekonstruiert Hanß das botanisch-pharmakologische Wissen der Frühen Neuzeit über Haare als Handlungswissen für sich distinguierende Individuen Doch auch die aufgezwungene Modifizierung von Haartracht ist nicht zu vernachlässigen Dieser Aspekt des Themas berührt die Migrations-, Herrschafts- und Gewaltgeschichte und korreliert sie mit Körper- und Emotionsgeschichte 24 Denn der Zwang zur Tonsur in der Sklaverei oder das gewaltsame Scheren von Bärten oder Zöpfen konnte massive emotionale Folgen zeitigen, von Schande und Ehrverlust bis zum Verlust der Identität 25Auch Alexander Schunkas Beitrag in diesem Band streift diese Aspekte, indem er Zuschreibungen gegenüber kulturell Fremden aufgrund ihrer Haare thematisiert Zuschreibungen sind Formen von vorgeblichem Wissen, und sie produzierten leicht auch Missverständnisse und Diskriminierungen, die wiederum emotionale Folgen hatten Wer mit einem Knebelbart aus der Fremde zurückkam, konnte sich im Gefängnis wiederfinden Natürlich ist bei den Bezügen auf Identität und Individualisierung auch die Genderforschung angesprochen: Die Codierung von Männlichkeit über Bärte, die Codierung von Weiblichkeit über Haarlänge oder Frisur gehört zu den offensichtlichsten Aspekten der Körpermarkierung 26 War die Codierungsmöglichkeit eingeschränkt, weil ein Mann glatzköpfig war, mussten Gegenstrategien her – etwa ein Gedicht über die Vorzüge der Kahlköpfigkeit, wie Irene van Renswoude es für das 9 Jahrhundert beschreibt Gerade die Codierungen von Männlichkeit und Weiblichkeit haben in der Neuzeit aber zunehmend den Wechsel der Moden erlebt Kristina Kandler behandelt in ihrem Beitrag über die Haarmode-Darstellungen in einem Hofkalender des späten 18 Jahrhunderts die Möglichkeiten dieses Mediums, zeitgenössische Kontroversen wie die über Natürlichkeit oder Künstlichkeit für den Fall der Haare auszufechten Auch hier geht es um ‚Haar-Literalität‘, im gesteigerten Ambiente des absolutistischen

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Klassisch: Stephen Greenblatt: Renaissance Self-fashioning: From More to Shakespeare Chicago 1980 Stefan Hanß: Hair, Emotions and Slavery in the Early Modern Habsburg Mediterranean, in: History Workshop Journal 87 (2019), S 160–187 Zur Emotionsgeschichte vgl etwa Jan Plamper: The History of Emotions An Introduction Oxford 2012; originell ist Tiffany Watt Smith: The Book of Human Emotions An Encyclopedia of Feeling from Anger to Wanderlust London 2012 Vgl auch Ulinka Rublack: Körper, Geschlecht und Gefühl in der Frühen Neuzeit, in Paul Münch (Hg ): „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte München 2001, S 99–105 Jean-Marie Le Gall: Un ideal masculin? Barbes et mustaches – XVIe – XVIIIe siècles, suivi de ‚Le Barbu ou Dialogue sur la barbe‘ d’Antoine Hotman, traduit du latin par Guillaume Flamerie de Lachapelle Paris 2011; Will Fisher: The Renaissance Beard: Masculinity in Early Modern England, in: Renaissance Quarterly 54 (2001), S 155–187; Rose Weitz: Women and Their Hair: Seeking Power through Resistance and Accommodation, in: Gender and Society 15 (2001), S 667–686

Einleitung

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Hofes Populärwissenschaft, Körperinszenierung und Historisierung greifen im Hofkalender auf innige Weise ineinander Perücken spielen in der absolutistischen Gesellschaft eine große Rolle Sie sind zugleich ‚body enhancement‘, also Surrogate der Körperlichkeit, als auch Steigerung der Körpermarkierung 27 Wie Lucinda Martin in ihrem Beitrag darstellt, hat das Tragen von Perücken selbst in latent heterodoxen Kreisen wie denen der Pietisten eine symbolische Funktion gehabt, nämlich dann, wenn man signalisieren wollte, dass man sich nicht gegen die Hierarchien und Normen der Ständegesellschaft wandte Das Sujet der Perücke führt aber auch zu einem Themenfeld, das nicht vernachlässigt werden darf: der Ökonomie Bis heute gibt es die wirtschaftliche Dimension des Haarhandels für Perücken, sei es aus religiösen (die jüdischen ‚Scheitl‘), sei es aus modischen Gründen Perückentragen ist Teil von kultureller Konsumption und als solche gesellschaftlichen und geschichtlichen Dynamiken unterworfen 28 Sowohl Moden als auch Konflikte und Haarkriege zeigen deutlich, dass es eine zeitliche Dynamik in der Körpermarkierung durch Haare, Bärte, Perücken und Frisuren gegeben hat – aber eben auch eine mit dieser Dynamik nicht identische Entwicklung im Wissen um die Haare, also in den kognitiven Ressourcen der Haarpraktiken und Haarlegitimationen Gegen die symbolische Aufladung der Markierungen gab es – wir haben es gesehen – immer wieder die Gegentendenz der Adiaphorisierung, nicht nur in der Reformationszeit, sondern auch in anderen Perioden Pluralisierung und Toleranz auf der einen Seite, Beharren auf Autorität auf der anderen 29 Hat die Adiaphorisierung der Historisierung im späten 18 und im 19 Jahrhundert vorgearbeitet, in dem erstmals Werke einer scheinbar interesselosen Kulturgeschichte des Haares oder Bartes entstehen? Dieses Buch möchte in Fallbeispielen die Fülle von Formen demonstrieren, in denen Wissen um Haartracht angeeignet und benutzt wurde Es beschränkt sich dabei auf die vormoderne Epoche intensiver gelehrter Konflikte um Bärte oder Frisuren, intensiver Haarpraktiken und beherzter Zuschreibungen; es beschränkt sich aber bewusst nicht auf Europa, sondern greift auch Beispiele aus anderen Kulturkreisen auf, um die Universalität solcher Konflikte vorzuführen

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Michael Kwass: Big Hair: A Wig History of Consumption in Eighteenth-Century France, in: American Historical Review 111/3 (2006), S 631–659; Jochen Luckhardt, Regine Marth (Hg ): Lockenpracht und Herrschermacht Perücken als Statussymbol und modisches Accessoire Ausstellung im Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig, 10 Mai bis 30 Juli 2006 Leipzig 2006 Emma Tarlo: Entanglement: The Secret Lives of Hair London 2016 Zur Konsumgeschichte vgl einführend Martin Mulsow: Kulturkonsum, Selbstkonstitution und intellektuelle Zivilität Die Frühe Neuzeit im Mittelpunkt des kulturgeschichtlichen Interesses, in: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), S 529–547 Zu diesem Grundkonflikt der Frühen Neuzeit vgl Martin Mulsow: Pluralisierung, in: Anette Völker-Rasor (Hg ): Oldenbourg Geschichte Lehrbuch: Frühe Neuzeit München 2000, S 303–307

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Martin Mulsow

Am Ende noch ein persönliches Wort Die Idee zu diesem Band ist 2014 in einer Kaffeepause unseres Gothaer Stipendiatenkolloquiums entstanden, nachdem Antoine Haaker sein Projekt zu Claude Saumaise und dem ‚Haarkrieg‘ vorgestellt hatte Die Diskussion im engen, aber atmosphärisch dichten Seminarraum des Pagenhauses, in dem sich das Forschungszentrum damals noch befand – einem Seitenanbau des Schlosses Friedenstein –, war lebhaft gewesen, und wir stellten schnell fest, dass fast jeder und jede aus dem eigenen Bereich etwas zum Thema Haare zu sagen hatte Selten war mir die Anschlussfähigkeit eines Sujets so deutlich ins Auge gesprungen So überlegte ich, ob wir nicht aus dem Kreise der Stipendiaten und Stipendiatinnen, der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eine kleine Tagung organisieren sollten, die sich ganz den Haaren widmete, mit kurzen, aber pointierten Beiträgen Das geschah im Jahr 2017 Seitdem ist nochmals Zeit ins Land gegangen, einige der vorgetragenen Referate wurden verworfen, andere ausgearbeitet, weitere zusätzlich eingeworben Wir hatten keine Eile, stellten aber fest, dass das Thema in den letzten Jahren sogar noch an Attraktivität zugenommen hat, verfolgt man die seither publizierten Arbeiten Ich danke Annika Goldenbaum herzlich für ihre Sorgfalt bei der Redaktion und Einrichtung der Beiträge Gotha, im August 2021

Haarwissen und Medizin

‘Tangled Knowledge’ or: How to Interpret a Recipe for a Lizard Hair Mixture in an Early Medieval Pastoral Manual* Carine van Rhijn

Abstract: This article discusses a unique early medieval recipe for a hair product, which was written down in the margin of a pastoral manuscript The concoction, that contains the ashes of a green lizard, promises ‘flowing hair’ However, an investigation of late antique medical texts and the works of Pliny the Elder shows how its most probable original intention was to fight hair loss While the presence of this short text shows interest for hair-care in a perhaps unexpected manuscript, it also shows that ‘small texts’ travelled well, but were dependent on their new context for their correct interpretation Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht ein unikal überliefertes frühmittelalterliches Rezept, das sich auf dem Rand einer Handschrift mit seelsorgerlichen Inhalten findet Die Mixtur, die die Asche einer Smaragdeidechse enthält, verspricht ‚(locker) wallendes Haar‘ Seine ursprüngliche Funktion – das legen spätantike medizinische Texte und die Werke Plinius’ des Älteren nahe – scheint jedoch die Bekämpfung von Haarausfall gewesen zu sein Die Überlieferung offenbart ein Interesse an Haarpflege in einem unerwarteten Kontext Deutlich wird dabei, dass ‚kleine Texte‘ beweglich, hinsichtlich ihrer richtigen Deutung aber zugleich abhängig von ihren neuen Kontexten waren

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I would like to thank Claire Burridge and Renate Dürr for their comments on an earlier version of this text – all remaining errors are of course my own

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Carine van Rhijn

Introduction This chapter is about a small marginal note in a pastoral compendium from the end of the ninth century, to which the note was added about a century later It consists of no more than a few words scribbled in the corner of a page, part of which was even cut away when the book was rebound What was added here, astonishingly given the pastoral nature of the book, is a recipe for what looks like a hair-care product that promises flowing locks to its user It reads as follows: Ad fluentiam capillorum Satureiam viridem cum sale et aceto totum caput involuis. Lacertam viridem combustam, cinerem eius cum oleo unguatur

For flowing hair Cover the whole head with green summer savory and salt and vinegar [Then] rub it with the ashes of a burnt green lizard, mixed with oil 1

We don’t know who wrote the recipe down, and we can only speculate as to exactly where and when it was copied into the manuscript, nor can we be sure where the scribe found this information All the same, this recipe in the margin has interesting stories to tell: it is an interesting example of travelling knowledge in the early Middle Ages; it sheds some light on the reception of medical texts – including those about hair – from (late) antiquity; and it is a wonderful example of the way in which such a snippet of information, out of its original context, may well have been fundamentally misunderstood The person who added this recipe, in all probability in the course of the tenth or early eleventh century,2 clearly did not write it down because of some logical link with the text that was already on the page: folio 8 verso is filled with the entries of Bede’s 1

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The marginal additions to this manuscript have recently been studied by Ria Paroubek-Groenewoud, Transfer of medical knowledge in the early Middle Ages Medical texts in the margins of a ninth-century non-medical manuscript (London BL Add 19725) [=RMA dissertation Utrecht University], 2019; see also Franz Kerff, ‘Frühmittelalterliche pharmazeutische Rezepte aus dem Kloster Tegernsee’, Sudhoffs Archiv 67 (1983), pp 111–116 Paroubek-Groenewoud was able to improve Kerff ’s reading substantially thanks to ultraviolet light The translations in this article are my own unless indicated otherwise Recent authors do not entirely agree on the date of the manuscript, nor on the date of the marginal additions Peter Brommer, MGH Capitula episcoporum III, Hanover, 1995, p 22 (following Bernhard Bischoff, Die Südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit II, Wiesbaden, 1980, p 230) thinks the manuscript was written at the end of the ninth (Brommer) or the late ninth / early tenth centuries (Bischoff) Reinhold Haggenmüller, Die Überlieferung der Beda und Egbert zugeschriebenen Bußbücher, Frankfurt et al , 1991, p 70 also situates the codex in the late ninth century As for the marginal additions that accumulated in several phases (see Paroubek-Groenewoud, Transfer, pp 43–44, identifying six different hands), Bischoff dates them to the tenth or tenth/eleventh century, while Kerff, Frühmittelalterliche pharmazeutische Rezepte, p 114, thinks they date from around the year 1000

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martyrology for parts of the months of February and March, and none of the saints mentioned (St Peter, St John the Baptist,3 St Felicitas, and St Perpetua) have any obvious connection with hair at all All the same, the writer considered the recipe an interesting piece of information that he wanted to keep, which is all the more remarkable since it is very likely that he was a tonsured cleric who wore the non-shaven portion of his hair cropped short 4 What are we to make of the presence of this lizard concoction in a pastoral manual, and what light does it shed on the accumulation and transfer of such knowledge in the early Middle Ages? In what follows, I will not so much contribute to the cultural history of hair (or hair styling products) in the Middle Ages per se, but instead focus on the way in which this one ‘small fact’ about hair travelled, how it may have ended up in this manuscript, and what happened to it in the process of its transmission Moreover, since the text takes the typical form of a medical remedy of the age (a title, a list of ingredients, and a brief explanation of how to mix them and what to do with the resulting potion or lotion), it also has a story to tell regarding the history of late antique and early medieval medicine First of all, however, it is important to gain an impression of the manuscript in which the small text ended up, for its ‘codicological habitat’ is perhaps somewhat surprising at first sight What is more, the recipe was not alone in the margins of this book 1 The manuscript The manuscript that has housed the note for the best part of 1,000 years was composed in the area around Reims, ended up in England after travels through Europe, and is now known as British Library MS Add 19725 5 The codex can be best characterised as a Carolingian pastoral compendium, so it is a book that contains texts useful for priests and others involved in the pastoral care of lay flocks 6 It opens with the (now incomplete) martyrology already mentioned, and contains, among others texts about penance and Christian articles of belief, episcopal instructions for priests involved in 3 4 5

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St John the Baptist is mentioned via the inventio of his head, the so-called ‘caput Praecursoris’ According to Kerff, Frühmittelalterliche pharmazeutische Rezepte, p 113, the marginal additions were in all probability written down when the manuscript was in the monastery of Tegernsee, a male Benedictine community – see below The digitised version of the manuscript can be consulted under this address: http://www bl uk/ manuscripts/Viewer aspx?ref=add_ms_19725_fs001ar (04 02 2021) – the ‘lizard conditioner’ can be found on fol 8v See Bernhard Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausname der wisigotischen), Teil II: Laon – Paderborn, Wiesbaden, 2004, no 2379 and 2380 at p 98 On such pastoral compendia see Carine van Rhijn, ‘The local church, priests’ handbooks and pastoral care in the Carolingian period’, Settimane di Studio della Fondazione centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 61 (2014), pp 689–710

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pastoral care, time-reckoning (computus), and a series of saints’ stories 7 Most of these texts are typical for a priests’ manuscript, and so are the material characteristics of the codex: it is a sturdy, portable book measuring 190×155 mm (more or less the size of a modern paperback), made up of 129 parchment leaves With only a few exceptions, its pages have a rather business-like appearance: there are no decorations apart from some initials, and most of the text was written by one capable hand in an easily legible Caroline minuscule In other words, this was a book not for display but for use Crucial for this story is the fact that the codex has generous margins, leaving some 25 to 40 mm of space for notes around the written text This clearly inspired a series of people to use them as storage spaces for additional texts and bits of knowledge interesting enough to keep Some of these additions are directly related to the contents of the book: For instance, the feast of St Maximinus of Trier was added to the martyrology for the fourth kalends of June in the lower margin of folio 14 recto, and an elaborate exorcism for those possessed by a demon (also part of pastoral care) was written using all of the top, left-hand and right-hand margins of folio 74 verso through to 76 recto 8 What makes this codex so interesting, however, is a series of additions that have no direct relation to the primary purpose of the codex All of these are of dietary and medical nature, the lizard mix for flowing hair among them Franz Kerff and Ria Paroubek-Groenewoud have counted fourteen such ‘pharmaceutical’ additions, ranging from a ‘very useful’ refreshing drink that helps one get through hot days (on fol 41v), to recipes against hoarseness (fol 37r) or against ‘an abundance of sputum’ (fol 40r), and even to cures for sick farm animals 9 The addition of all these bits and pieces was not a one-man operation: Paroubek-Groenewoud has identified six different hands writing them down, all dating to roughly the same period in the tenth/eleventh century The hair mixture is the only marginal addition on its page, but some recipes have been written down in small clusters, mostly on random pages of the codex 10 It seems, then, that once the first person had started to add snippets of medical knowledge, others followed suit – a bit like the way in which modern graffiti tend to accumulate on a wall

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See the description of the manuscript offered by the British Library, which is the most complete one URL: http://www bl uk/manuscripts/FullDisplay aspx?ref=Add_MS_19725 (04 02 2021) or Catalogue of additions to the manuscripts in the British Museum in the years 1854–1860 Additional manuscripts 19720–24026, London, 1875 To the best of my knowledge this exorcism remains unedited: ‘Super demoniacii In primis quando infirmus homo uenerit … nec calidam ceruis die dominica ’ See Paroubek-Groenewoud, Transfer, Appendix A Interestingly, the veterinary material has been added in the margin of penitential canons about those who commit sins with animals – this affinity is surely no coincidence The exception may be the cluster of veterinary remedies, which have been added to the margins of a set of penitential prescriptions against sins with animals, see fol 41r of the manuscript

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Where exactly the manuscript acquired the pastoral and medical material in the margins is an unresolved question, and it might well be that the additions were written down in different places – the hand that added the lizard mix, for instance, is very different from the one that penned down the exorcism Kerff maintains that the monastery of Tegernsee is the most likely place for the addition of the recipes, but the evidence he presents for this assumption is so circumstantial that it seems better to leave the question open 11 What is clear, however, is that the hair mixture and the pharmaceutical recipes for man and beast were not written down in this manuscript ex novo: all these texts follow the same clear format common to ancient and medieval collections of recipes, which suggests that they were copied from other books such as medical collections or excerpts thereof 12 This, in turn, implies that such copying was done in one or perhaps several places with libraries, such as monasteries or episcopal centres, and that at least one of these libraries was substantial enough to contain one or more medical manuscripts This is, in other words, where the scribe probably found the handy hair concoction, which he decided to save for posterity in the margins of the pastoral compendium 2 Medical knowledge in pastoral manuscripts That a Carolingian priest’s book contains some medical odds and ends is, in itself, not all that surprising In the course of the later eighth and ninth centuries, local priests became the experts par excellence of more or less any subject that was important for the 11

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Kerff, Frühmittelalterliche pharmazeutische Rezepte, p 113, n 9 On the basis of the addition of St Maximin in the martyrology in a late tenth or eleventh century hand, Kerff maintains that the codex was on its way to the monastery of Tegernsee via Trier when this addition was made, since the abbey of Tegernsee was re-founded in the late tenth century with the help of monks from Trier However, the entry about St Maximin does not imply the manuscript’s presence in Trier at any moment: it is a quotation from St Jerome’s translation of Eusebius’ Chronicle that was widely available, and St Maximin’s fame was by no means confined to Trier See Eusebius, Werke, vol VII: Die Chronik des Hieronymus, ed Rudolf Helm, Berlin, 1956, p 236 I would like to thank Lenneke van Raaij for pointing out the connection with Jerome/Eusebius to me The earliest sign that the codex actually was in Tegernsee dates from around 1500, when the monastery’s librarian noted this on the first folio Kerff ’s theory that the book was carried to the newly re-founded monastery by Trier’s abbot Hartwich, who had been a monk in Tegernsee before, is circumstantial at best Even though Kerff calls this theory ‘nicht unbegründet’, I think it is best to leave the question of provenance for the medical additions open What is more, there is not a shred of surviving evidence for the presence of medical manuscripts in the monastery of Tegernsee before the twelfth century, see Christine Elisabeth Eder, ‘Die Schule des Klosters Tegernsee im frühen Mittelalter im Spiegel der Tegernseer Handschriften’, Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 83 (1972), pp 6–155 The best overview of extant medical manuscripts from the early Middle Ages is Augusto Beccaria, I codici di medicina del periodo presalternitano (secoli IX, X e XI), Rome, 1956, who lists about 400 of such books dating between the ninth and eleventh centuries

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illiterate lay members of their flocks, and this is reflected in their manuscripts 13 Apart from liturgical and para-liturgical material, and texts that were directly relevant for the priest’s knowledge about his primary pastoral tasks, we regularly find material of a different nature in pastoral compendia One eloquent example is that of a sample love-letter to a woman (one only has to fill in the appropriate name), preserved in a priest’s book that contains a series of other so-called formulae; another is a marriage contract that was added to a priest’s manuscript in the eleventh century 14 Such material, as does medical knowledge in a wide sense, shows the interwovenness between the life of the priest who used the book and the daily concerns of local lay people It also shows how the priest became the local, literate gatekeeper for written knowledge relevant for the health (and hair) of people and their cattle Perhaps predictably, texts concerning physical health in pastoral compendia are usually rather down-to-earth and straightforward One mid-ninth century priest’s manuscript, for instance, includes two remedies against haemorrhoids, while a second codex contains a text explaining which days are good or bad for bloodletting, and a third offers its reader a cure for dysentery 15 The additions in the London manuscript are no different in this sense: they deal with everyday problems such as gout, hoarseness, sick pigs, and coughing sheep Moreover, with just one exception, all the ingredients are unexotic and presumably close to hand or cheap to buy: salt, oil, honey, common plants – the most exotic and expensive ingredient is black pepper, needed for one of the recipes 16 Most plants mentioned are still common today, such as liquorice root

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On Carolingian priests as experts see Carine van Rhijn, ‘Carolingian local priests as (religious) experts’, in Steffen Patzold, Florian Bock (eds ), Gott handhaben – Religiöses Wissen im Konflikt um Mythisierung und Rationalismus, Berlin, 2016, pp 131–146 The love letter can be found in Vatican library, reg lat 612, fol 29r; the sample marriage contract was written on an originally empty page in the manuscript El Escorial, Real Biblioteca de San Lorenzo L III 8, fol 9r – this latter text has been printed (on the basis of this one manuscript) in MGH Formulae Merowingici et Karolini Aevi, ed Karl Zeumer, Hanover, 1886, pp 540–541 Piles: Paris Bibliothèque nationale lat 2796, fol 105v; good and bad days for bloodletting (in the shape of Egyptian Days) Vatican library, pal lat 485, fol 14r; dysentery: Merseburg Stiftsbibliothek 103, fol 118r, where the remedy has slipped into a penitential canon about the question of whether or not a hare is a pure animal [the remedy includes gall of the hare] The regular appearance of especially pepper in these ‘down-to-earth’ recipes may well contradict Henri Pirenne’s idea that such exotic ingredients may have disappeared out of Europe after the decline of the Roman Empire – I would like to thank James Palmer for drawing my attention to this See Henri Pirenne, Mohammed and Charlemagne, New York, 1937, p 171 That pepper was, quite to the contrary, around (albeit as a precious material) is borne out by its mention in a variety of sources, for instance in the letters of St Boniface who, halfway through the eighth century, received a package of pepper and other precious spices as a gift from a colleague, see MGH Epistolae III, Merowingici et Karolini aevi I, ed Ernstus Dümmler, Berlin, 1892, VI S Bonifatii et Lulli epistolae, no 84 (Theophilactus to Boniface), p 366: ‘Benedictionis etenim munusculum ob recordationis nostri memoriam: cinnamomum, costum, piper et incensum pariter direximus obsignatum ’ On these kinds of gifts see Florin Curta, ‘Merovingian and Carolingian gift giving’, Speculum 81 (2006), pp 671–699; Boniface as the recipient of spices is mentioned on p 680–681

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(gliquerica) or summer savory (satureia), and could probably just be gathered locally 17 These mixtures are, in other words, useful and easy to make ‘kitchen table knowledge’, noted in the margin to use rather than to show off Even the green lizard needed for the hair mixture was and is common in large parts of Europe, and is less surprising as an ingredient for medical mixtures than one may think This brings us to the question of the medical collections or other books in which the different scribes may have found the recipes they copied out Many of the more important centres of learning owned one or several medical manuscripts, and a respectable number of some 160 medical codices predating the year 900 are still extant today 18 While no two of these books are the same, many contain one or more works by well-known doctors of antiquity such as Galen and Hippocrates Many more are miscellaneous collections filled with anonymous material about which very little is known 19 Early medieval medicine has a bad reputation among historians and historians of science, who have often described it as primitive, superstitious, and unsophisticated 20 As a result, the anonymous texts, especially, often remain unedited and understudied Where exactly the medical additions in the London manuscript come from therefore remains a mystery: they are not from any of the works by famous authors such as Galen and Hippocrates, but some of them may well come from an anonymous collection Another way in which the recipe may have got the shape and contents it has in the London manuscript is this: recent research is beginning to show how early medieval scribes did more than just copy uncritically what they found in earlier texts; they also adapted remedies to their circumstances, for instance by substituting one hard-to-get ingredient with a better or more accessible alternative 21 In this way, recipes from older collections may have changed beyond recognition to become something altogether new Both options are possible for our hair recipe; it may be a copied earlier recipe, it may also be an adaptation of an earlier example Given the format, as mentioned before, it seems less likely that the scribe thought it up himself The fact that the hair recipe was written down in the first place, meanwhile, shows a lasting interest in such knowledge, which in its own small way connects the learned milieux of antiquity with the early medieval clergy, and, in a broader sense, to modern audiences who are happy

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See Kerff, Frühmittelalterliche pharmazeutische Rezepte, p 113, n 8 See Beccaria, I codici For further discussion of this and other important issues concerning early medieval medicine: Peregrin Horden, ‘What’s wrong with early medieval medicine?’, Social History of Medicine 24 (2001), pp 2–25, especially at pp 16–19 Horden, What’s wrong, pp 2–3 Ibid , p 7; Linda E Voigts, ‘Anglo-Saxon plant remedies and the Anglo-Saxons’, Isis 70 (1979), pp 250–268, at p 252

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to put stranger things than a green lizard in their hair if the promised result is to their liking 22 3 Lizards and hair In his article about the remedies added to the margins of the London manuscript, Kerff writes, apparently with some surprise, that they contain no more than a single ‘superstitious ingredient’ among the plants and other natural substances, most of which, he notes, are all still used in modern medicine The only exception to these bona fide ingredients is, according to Kerff, the incinerated green lizard, which he interprets as ‘abergläubisch’ 23 As it turns out, however, there is a long tradition of using lizards – reduced to ashes or otherwise – in medicine, which runs from ancient Egypt to the present day 24 What is more, the use of all kinds of animal ingredients was common in classical and medical recipes The fourth-century doctor Sextus Placitus, for instance, devoted an entire book to medical remedies using animal ingredients such as goat’s liver (IV, 3–4), cat excrement (XVIII, 1–3), or the ashes of dormice (XIX, 2) 25 The ashes of our green lizard, in other words, should not be considered superstitious, exotic, or otherwise surprising, since they fit in seamlessly among similar ingredients for remedies common in antiquity and the early Middle Ages It was clearly no impediment that lizards were considered to be impure according to Leviticus 11:30, and neither did the belief that they lived in graves make them any less suitable for use in medicine 26

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See for instance the extract from Luke Hersheson, Great hair days and how to have them, London, 2018 that can be found here URL: https://www penguin co uk/articles/2018/oct/shampoo-ingredientsguide-2018/ (04 02 2021) Kerff, Frühmittelalterliche pharmazeutische Rezepte, p 113: ‘Die erwähnte Asche grüner Eidechsen ist im übrigen der einzige den Laien eher abergläubisch als medizinisch wirksam anmutende Rezeptbestandteil; für die Beurteilung der übrigen oben genannten Arzneien und Therapien dürfte entscheidend sein, dass die aufgeführten Pflanzen medizinische Drogen im modernen Sinne sind ’ A small selection of the relevant literature: Efraim Lev, ‘Healing with animals in the Levant from the 10th to the 18th century’, Journal for Ethnobiology and Ethnomedicine 11/2 (2006); Haskell D Isaacs, Colin F Baker, Medical and para-medical manuscripts in the Cambridge Genizah collections, Cambridge, 1994; F S Ferreira, S V Brito, J G Costa et al , ‘Is the body fat of the lizard Tupinambis merianae effective against bacterial infections?’, Journal of Ethnopharmacology 126 (2009), pp 233–237 – even though the answer to this question is ‘no’, such research itself shows the continuing interest in lizards for medical purposes There is even concern for the effects of the use of lizards in medicine, see Rómulo Alves, Gindomar Santana, Washington Luiz da Silva Vieira, ‘Reptiles used in traditional folk medicine: conservation implications’, Biodiversity and Conservation 17/8 ( January 2008), 2037–2049 Ernst Howald, Henry E Sigerist (eds ), Antonii Musae De herba vettonica liber, Pseudoapulei Herbarius, Anonymi De taxone liber, Sexti Placiti liber medicinae ex animalibus, etc , Corpus Medicorum Latinorum vol 4, Leipzig et al , 1927, pp 235–286 See for instance Hrabanus Maurus, Expositio in Leviticum libri septem, book III, c II: ‘De inmunditiis morticinae animalis’, ed J -P Migne, Patrologia Latina 108, col 361Cf : ‘Hoc quoque inter

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The use of lizards did, moreover, not stop after the early Middle Ages: the Encyclopedia of hair: A cultural history mentions a late medieval hair conditioner made of lizards boiled in olive oil, as well as a gel consisting of lizard tallow and swallow droppings 27 Mixtures intended for the hair or the head are, likewise, quite common in medical collections What is more, collections of recipes regularly contain one that bears more or less the same title as the mixture from the London manuscript In Marcellus of Burgundy’s De medicamentis liber (ca 400), for instance, we find a remedy Ad fluentes capillos among a set of remedies against rather unpleasant ailments such as mange, scurvy, scabies, baldness, or hair loss through magic Problems with one’s hair were clearly serious in Marcellus’ opinion, and merited ample attention The remarkable recipe titled ‘Ad fluentes capillos’ guaranteed to grow a full head of hair and a beard on bald men – and even on women:28 Ad fluentes capillos Scobem de cornu cervino permisce cum semine myrti nigrae adiecto butyro oleoque et capiti raso densissme obline; etiam ex infirmitate fluentes capillos efficaciter continebis.

Mix the powder of a deer’s antler with the seeds of black myrtle, add butter and oil and fully cover the shaven head; even if the hair falls out through illness you will keep it successfully

What exactly the title of the recipe means here is clear: this mixture fights hair loss, and thereby it finds a logical place among remedies against diseases of the head and other problems affecting one’s hair This sheds a different light on the London lizard remedy, titled ‘ad fluentiam capillorum’, close enough to Marcellus’ ‘ad fluentes capillos’ While the most obvious translation of fluentia of hair is ‘flowing’, as do rivers, time, or rhetoric, in the medical context of the kind that marks Marcellus’ work, it could clearly also have the meaning of ‘flowing away’, that is: falling out This is a technical and specific use of the word which only turns up in specialised medical contexts 29 Meanwhile, it may well be that one of the ultimate sources of inspiration for our lizard mixture was Pliny’s Natural History. This famous work, composed in the first

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polluta reputabitur de his quae moventur in terra: Mustela et mus, et crocodilus, singula juxta genus suum; migale et cameleon, et stellio ac lacerta, et talpa, omnia haec immunda sunt; qui tetigerit morticina eorum, immundus erit usque ad vesperam [Lev 11, 28–31]’ … ‘Lacerta in sepulcris habitat ’ Victoria Sherrow, Encyclopedia of hair A cultural history, Westport et al , 2006, p 363 Marcelli De medicamentis liber, ed Georgius Helmreich, Leipzig, 1889, c 4, pp 50–51 The miraculous hair growing mixture runs as follows: ‘Capilli et barbae nascentur etiam glabro, si lichenem asini, id est collectionem duram, quae est circa crura eius, comburas et teras et pulverem illum ex oleo vetere inponas Hoc ita validum est, ut si mulieri inde maxillam unxeris, barbas ei nasci scias ’ See the Brepols Database of Latin Dictionaries (DLD) under ‘fluo’, ‘fluere’ and ‘fluentia’

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century AD, was very popular and well known in the early Middle Ages and was readily available in many libraries In book 28, chapter 39, Pliny discusses a series of diseases of the eyes, some of which could be cured with remedies containing lizard While singing the praises of the medicinal properties of lizards, Pliny added another piece of knowledge about this ingredient: mixed with myrtle oil, its ashes stop loss of hair (capillorum defluvia) 30 This is, as far as I know, the only other instance of lizard ashes as a remedy against hair loss, so it is not unlikely that at least this part of our remedy was based on the highly respected writings of Pliny The important lesson here is this: loss of context turns our lizard mixture into an ambivalent piece of knowledge A reader consulting the pages of a medical compendium expected certain terminology, and those taking such a book off the shelves were presumably educated enough to understand such specialised language An otherwise empty margin in a pastoral handbook was, in this sense, a game-changer: the context of the marginal note does not help its interpretation, and its audience was probably not that familiar with specific medical vocabulary In other words, a reader uninitiated in medical language might read the recipe as a mixture for a hair styling product, while those in the know would understand that it offered a way of fighting impending baldness Copied out on its own, the recipe became less straightforward than it was in its original context, and one can but wonder with which intention readers of the book might have gone hunting for a green lizard 4 Small facts, bigger stories: Concluding remarks Are there, one may wonder, wider conclusions that can be drawn from this one small instance of a travelling recipe? Two perspectives are interesting here, I think, the first of which starts from the viewpoint of the scribe who copied out the lizard recipe, while the second considers the recipe itself as a ‘travelling small fact’ 31 When we think about this little text from the perspective of the person who wrote it – that is, an otherwise anonymous scribe who was in all probability a literate cleric with access to a library – it stands to reason to think that he was interested in this knowledge, and considered it to be practical, useful, and reliable enough in appearance 30 31

Plinius, Naturae historiae, ed Karl Friedrich Theodor Mayhoff, book 29, Leipzig, 1906, c 38: ‘Lacertae quoque, ut docuimus combustae cum radice recentis harundinis, quae, ut una cremari possit, minutim findenda est, ita myrteo oleo permixto cinere, capillorum defluvia continent […] ’ A good example of the recent interest in travelling small facts is a research programme at the London School for Economics titled ‘How well do facts travel?’, which was awarded a Times Higher Education Award as one of the best research projects in 2008 See URL: http://www lse ac uk/ Economic-History/Research/How-Well-do-Facts-Travel/About-the-project (04 02 2021) and the book that came out of it: Peter Howlett, Mary S Morgan (eds ), How well do facts travel? The dissemination of reliable knowledge, Cambridge, 2010

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to copy for future reference He was clearly interested in hair, but whether his gloss was intended for himself or for others, or whether his main concern was baldness or a lush coiffure, we will never be able to discover In a more general way, one could say that having (good) hair was a concern in the clerical milieux, and that even the ashes of a lizard looked promising and reliable enough – thanks to Pliny, perhaps – as an ingredient for hair treatment What is more, through the act of copying, the scribe contributed to the survival of this piece of knowledge, even though it may have lost some of its straightforwardness (how should one translate fluere?) by taking it out of its original context The mere fact that this and other snippets of expert knowledge were copied out in a codex for pastoral specialists, people who perhaps acquired a bit of medical knowledge in the slipstream of their wider responsibilities, furthermore shows how such networks of knowledge were not separated spheres (for instance ‘intellectual’ versus ‘kitchen table’) in the early medieval period, but overlapped From this perspective, then, it would be interesting to find other examples, try to trace them back to other sources or manuscripts, and find out more about knowledge transfer and the culture of copying individual medical recipes, since our lizard mixture by itself is interesting but no more than suggestive of wider patterns of behaviour and cultural attitudes When we think about the recipe as a ‘travelling small fact’ in the sense introduced by Mary S Morgan,32 we can consider its travels as something that many small facts, defined as short, specific, and considered reliable by the society that produced them,33 have done and still do, with varying degrees of success Morgan’s methodology offers ways of assessing how successful such travels were, first by asking whether a small fact travelled without losing too much of its meaning (‘travelling with integrity’); and secondly, whether these travels were fruitful, in that they went to new places and/or found new audiences 34 Both questions, it will be immediately clear, are impossible to answer with any degree of certainty, but at the same time the case of the hair recipe can offer a new element to Morgan’s theory: the importance of the context in which the small fact landed during its travels Starting with the first criteria of success: since we do not know the direct source from which the recipe was copied, it is impossible to say how much of its original meaning changed in the process However, if we take a step back and start from Pliny’s remark about the benefits of lizard ashes when battling hair loss, it is clear that this small fact travelled remarkably well, even though the lizard ashes gained the company of a series of other ingredients in the course of time, as well as user instructions What we can say, meanwhile, is that no matter how badly or well the copyist followed his 32 33 34

Mary S Morgan, ‘Introduction’, in Howlett, eadem (eds ), How well do facts travel? The dissemination of reliable knowledge, Cambridge, 2010, pp 3–39 Ibid , p 7–12 Ibid , p 12

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example, the mere act of writing the mixture down in the margin of a non-medical manuscript rendered its meaning ambiguous because of its technical usage of the term fluere It is, in other words, not only the integrity of the small fact that matters here, but also the transfer from one context to a completely different one As for the fruitfulness of its travels, a similar argument can be made: since we don’t know where the scribe found his example, it is impossible to assess the question of whether our recipe moved much in a geographical sense, even though it is likely that its audience (clerics using a pastoral manual) was new If we again start with Pliny, however, the margins of the London manuscript are a good millennium and a world away: the idea that lizard ashes work against hair loss moved from the Roman Empire to tenth/eleventh century Europe, from a context of ancient medicine to that of Christian learning Here again, it is important to take the manuscript context on board as a hint about the intended audience on its pages: early medieval clerics were as interested in lizard ashes as was the audience of Pliny’s Natural History – and perhaps even more so Dr Carine van Rhijn Lecturer in Medieval History at Utrecht University

Haare als Geheimmittel in der Islamischen Welt* Natalia Bachour Zusammenfassung: In Mittelalter und Neuzeit wurden menschliche Haare in zahlreichen medizinischen, alchemistischen und magischen Werken für unterschiedliche Indikationen empfohlen: in der Medizin als Räucherung und als Asche zur Behandlung verschiedener Erkrankungen sowie als eine Art chirurgischer Faden zur Durchführung von kleinen Eingriffen, in der Alchemie zur Präparation von Ammoniaksalz und des Steins der Weisen, des Weiteren in der Magie für Schutzamulette oder Liebestränke Diese Aspekte sind allerdings aus wissenschaftshistorischer Perspektive noch nicht eingehend erforscht Das Ziel dieses Artikels ist, anhand der Untersuchung arabischer Werke des 9 –17 Jahrhunderts einen Beitrag zu diesem Thema zu leisten Einerseits werden relevante naturphilosophische, physiologische und traumdeuterische Konzepte sowie Anwendungen von menschlichem Haar in Medizin, Alchemie und Magie betrachtet Andererseits sollen die islamrechtlichen Bestimmungen zum menschlichen Haar untersucht und ihre Implikationen für praktische Anwendungen reflektiert werden Abstract: In medieval and modern times, human hair was recommended in numerous medical, alchemical and magical compilations for various indications: in medicine as incense or as ash for the treatment of various diseases, as a kind of surgical thread for carrying out small surgical interventions; in alchemy for the preparation of ammonia salt and of the Philosopher’s Stone; and in magic as a protective amulet or in love potions However, these aspects have not yet been thoroughly investigated from the perspective of the history of science The aim of this article is to make a contribution to this little-researched field by considering Arabic sources of the 9th–17th centuries On the one hand, it explores natural-philosophical, physiological and oneirocritic concepts related to hair as well as applications of human hair in medicine, alchemy and magic On the other hand, it examines regulations of Islamic law concerning human hair and reflects upon their implications for its usages *

Dieser Beitrag ist einer Förderung der Thyssenstiftung im Rahmen des Herzog-Ernst-Stipendien-Programms zu verdanken, die mir einen dreimonatigen Aufenthalt an der Forschungsbibliothek Gotha ermöglicht hat

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Menschliches Haar hat in allen Epochen und Kulturen eine wichtige Rolle im sozialen und religiösen Leben gespielt 1 In der islamischen Welt findet das Haar, sei es Kopf-, Bart- oder Körperhaar, in religiös-rechtlichen Texten häufig Erwähnung, was die Grundlage für zahlreiche sozialwissenschaftliche und kulturhistorische Untersuchungen bildet 2 Die sakrale Bedeutung von Prophetenhaaren,3 die Symbolik von Haartracht in zeitgenössischen Gesellschaften unter Berücksichtigung von Genderaspekten,4 das Motiv des schwarzen Frauenhaars als Sinnbild für Schönheit oder von grauem Greisenhaar als Symbol für Vergänglichkeit in arabischer Dichtung sind nur einige Beispiele für gut erforschte Themen in diesem Zusammenhang 5 Dagegen scheint die Verwendung menschlichen Haars zur Heilung oder als Ausgangsstoff für alchemistische Präparationen das Interesse der Forschung noch nicht geweckt zu haben Der Eintrag „S̲ h̲ aʿr“ (Haar) in der Encyclopaedia of Islam erwähnt keine therapeutischen oder wissenschaftshistorischen Aspekte 6 Das Desinteresse an der Wissenschaftsgeschichte der Haare ist allerdings keineswegs auf die Orientalistik beschränkt Ebenso wenig behandelt der Artikel „Haar“ in der Enzyklopädie der Neuzeit derartige Anwendungen,7 und das Lexikon des Mittelalters umfasst zwar Schlagworte wie „Haartracht“, jedoch keinen Eintrag, in dem auf medizin- oder alchemiehistorische Aspekte eingegangen würde 8

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Zu Haaren als kulturellem Phänomen in historischer Perspektive vgl Victoria Sherrow: Encyclopedia of Hair: A Cultural History. Westport 2006; Robin Bryer: The History of Hair: Fashion and Fantasy down the Ages London 2000; Nicole Tiedemann: Haar-Kunst: Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks Köln [u a ] 2007; Geraldine Biddle-Perry (Hg ): A Cultural History of Hair 6 Bde London [u a ] 2019 Vgl die Beiträge in: al-Masāq 30/1 (2018), Sonderheft: Hair in the Mediaeval Muslim World, hg v Petra M Sijpesteijn Vgl Brannon Wheeler: Collecting the dead body of the Prophet Muhammad: Hair, Nails, Sweat and Spit, in: Christiane J Gruber, Avinoam Shalem (Hg ): The Image of the Prophet between Ideal and Ideology: a Scholarly Investigation Berlin [u a ] 2014, S 45–61; Brannon Wheeler: Gift of the Body in Islam: the Prophet Muhammad’s Camel Sacrifice and Distribution of Hair and Nails at his Farewell Pilgrimage, in: Numen 57/3–4 (2010), special issue: Relics in Comparative Perspective, S 341–388 Vgl Ingrid Pfluger-Schindlbeck: On the Symbolism of Hair in Islamic Societies: An Analysis of Approaches, in: Anthropology of the Middle East 1/2 (2006), S 72–88; Hadas Hirsch: Hair: Practices and Symbolism in Traditional Muslim Societies, in: Sociology of Islam 5/1 (2017), S 33– 55; Shahla Haeri: In the Garden of the Sexes: of Men, Women, Gaze, and Hair, in: Soraya Altorki (Hg ): A Companion to the Anthropology of the Middle East Chichester [u a ] 2015, S 151–171 Vgl den Abschnitt über Haare „In Arabic and Persian poetry“, in: Joseph Sadan, A Kevin Reinhart, Benedikt Reinert: S̲ h̲ aʿr, in: Peri Bearman, Thierry Bianquis, C Edmund Bosworth [u a ] (Hg ): Encyclopaedia of Islam Second Edition Online Edition 2012 URL: http://dx doi org ubproxy ub uni-heidelberg de/10 1163/1573-3912_islam_COM_1037 (29 01 2019) Vgl Sadan/Reinhart/Reinert: S̲ h̲ aʿr. In der dritten Auflage der Encyclopaedia of Islam ist ein Eintrag über Haare noch nicht enthalten Vgl Iris Gareis: Art Haar, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hg von Friedrich Jaeger 2014 URL: http://dx doi org ubproxy ub uni-heidelberg de/10 1163/2352-0248_edn_a1548000 (28 03 2019) Vgl Helmut Hundsbichler: Art Haartracht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd 4 (1989), Sp 1813

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Einen Beitrag zu diesem wenig erforschten Thema zu leisten ist das Ziel dieses Artikels Einerseits geht er Ansichten und Anwendungen von Haaren in Medizin, Alchemie, Magie und Traumdeutung in exemplarischen arabischen Werken zwischen dem 9 und dem 17 Jahrhundert nach Andererseits sollen die islamrechtlichen Bestimmungen zum menschlichen Haar untersucht und ihre Implikationen für praktische Anwendungen reflektiert werden Dabei steht die Frage nach dem personenbezogenen Stellenwert der Haare im Mittelpunkt: Sind Haare mit der besitzenden Person zu identifizieren oder werden sie nach Trennung vom Körper zu einem leblosen Ding und dementsprechend von persönlicher Zugehörigkeit getrennt? 1 Symbolik des menschlichen Haars Die Symbolik des menschlichen Haars in Judentum und Christentum ist nicht zuletzt mit der alttestamentlichen Figur Simsons verbunden, dessen Kraft auf seinem langen Haar beruht Im Koran findet zwar die Geschichte keine Erwähnung, sie dürfte aber durch Koranexegese und Historiographie in der islamischen Welt recht bekannt gewesen sein 9 Vers 3 in Sure 97 soll nach einer Auslegung in aṭ-Ṭabarīs (839–923) Korankommentar Ǧāmiʿ al-Bayān auf Simson anspielen 10 Der Vers lautet in deutscher Übersetzung: „Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate “11 Die Nacht der Bestimmung oder der Allmacht (laylat al-qadr) ist die Nacht im Monat Ramadan, in der der Koran erstmals offenbart wurde und die Engel auf Befehl Gottes auf die Erde herabsteigen Deshalb wird die Nacht im Volksglauben mit Vollbringung von Wundern, der Vergebung von Sünden sowie der Erfüllung von Wünschen usw in Verbindung gebracht Das genaue Datum dieser Nacht ist allerdings ungewiss und lässt

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Zu Simsons Figur im Islam vgl : Liyakat Takim: Samson, in: Jane Dammen McAuliffe (Hg ): Encyclopaedia of the Qurʾān Online Version URL: http://dx doi org ubproxy ub uni-heidelberg de/10 1163/1875-3922_q3_EQSIM_00370 (30 01 2019); Andrew Rippin: S̲ h̲ amsūn, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http://dx doi org ubproxy ub uni-heidelberg de/10 1163/ 1573-3912_islam_SIM_6816 (30 1 2019); Walīd Fikrī: Šamšūn al-Ǧabbār: ṯalāṯ riwāyāt li-baṭal wāḥid, in: Manshoor (25 02 2018) URL: https://manshoor com/people/samson-story-judaism-christianityislam/ (03 05 2019) Der aus Āmul in Tabaristan stammende Universalgelehrte Abū Ǧaʿfar Muḥammad b Ǧarīr b Yazīd aṭ-Ṭabarī (839–923), der sich nach Wanderjahren in Syrien und Ägypten in Bagdad niederließ, gilt als einer der richtungsweisenden frühen Gelehrten in Koranexegese, islamischem Recht, Prophetentradition und Geschichtsschreibung Sein Korankommentar Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān (Umfassende Erläuterung zur Interpretation der Koranverse) sowie sein umfangreiches Geschichtswerk Muḫtaṣar taʾrīḫ ar-rusul wa-l-mulūk wa-l-ḫulafāʾ (Auszug über die Geschichte der Propheten, Könige und Kalifen) sind für spätere Gelehrte und bis heute maßgebend Vgl : Clifford Edmund Bosworth: Art al-Ṭabarī, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http:// dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_COM_1133 (29 06 2019) Der Koran Übersetzung von Rudi Paret 6 Aufl Stuttgart [u a ] 1993, S 434

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sich lediglich auf die ungeraden der letzten zehn Nächte des Ramadan festlegen 12 Laut aṭ-Ṭabarī heißt es in einer Überlieferung nach dem früheren Koranexegeten Muǧāhid zur Erklärung der „tausend Monate“, dass einer der Söhne Israels tausend Monate lang von morgens bis abends gegen seine Feinde kämpfte 13 Der Vers besage daher, dass das Wachbleiben in der Nacht der Bestimmung verdienstvoller als die Taten dieses Mannes in tausend Monaten sei 14 Dieser tapfere Mann wurde mit Simson in Verbindung gebracht So schreibt der spätere Koranexeget aṯ-Ṯaʿlabī (gest 1035) in seinem Kommentar zu Vers 97:3: „Man sagt, dass jener Mann Simson sei, Friede sei mit ihm “15 Die Geschichte Simsons, arabisch Šamsūn oder Šamšūn, schildert aṭ-Ṭabarī in seiner Weltgeschichte Tārīḫ ar-rusul wa-l-mulūk:16 Šamsūn wurde unter Götzendienern geboren, war jedoch selbst ein Muslim (Šamsūn kāna fīhim raǧul muslim) Er führte Beutekriege gegen die Ungläubigen und war wegen seiner Stärke unbezwingbar Seine Feinde erkannten, dass sie ihn nur durch seine Ehefrau überlisten konnten Daher überredeten sie diese, Šamsūns Hände an seinen Hals zu fesseln, während er schlief, damit man ihn gefangen nehmen konnte Zuerst gaben sie ihr ein festes Seil, aber beim Erwachen riss er es sich vom Hals Dann sandten sie ihr eine eiserne Kette, aber er sprengte sie Nach beständigem Fragen verriet Šamsūn seiner Frau, dass nur sein eigenes Haar ihn fesseln könne, da seine Mutter ihn Gott geweiht habe Also fesselte die Frau ihm die Hände mit seinen eigenen Kopfhaarsträhnen an den Hals, und er konnte sich nicht mehr befreien Seine Feinde holten ihn, schnitten ihm Nase und Ohren ab, stachen seine Augen aus und stellten ihn vor einem Leuchtturm zur Schau Šamsūn betete zu Gott, um seine Feinde zu überwinden So erlangte er seine Kräfte wieder und riss zwei Pfeiler aus dem Turm, sodass dieser mit den Menschen darauf umstürzte und sie unter sich begrub Trotz einiger Unterschiede zur biblischen Version symbolisieren Haare auch in der ‚islamischen‘ Fassung der Geschichte Simsons die dem Menschen von Gott verliehene, unbezwingbare und beständige Lebenskraft 12 13

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Zu laylat al-qadr vgl Roxanne D Marcotte: Art Night of Power, in: Encyclopaedia of the Qurʾān Online Version URL: http://dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1875-3922_q3_EQSIM_00299 (29 06 2019) Muǧāhid b Ǧabr al-Makkī (642–718/722) war Koranrezitator und Exeget Von ihm ist kein vollständiges Werk überliefert, er wird jedoch häufig bei aṭ-Ṭabarī zitiert Vgl Andrew Rippin: Art Mud̲ j̲ āhid b D̲ j̲ abr al-Makkī, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http:// dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_5306 (29 06 2019) Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭabarī: Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān, hg v ʿAbdallāh b ʿAbd al-Muḥsin atTurkī 26 Bde Kairo 2001, Bd 24, S 546 Aḥmad b Muḥammad b Ibrāhīm Abū Isḥāḳ al-Nīsābūrī aṯ-Ṯaʿlabī: al-Kas̲ h̲f wa ’l-bayān ʿan tafsīr al-Ḳurʾān, hg v Abū Muḥammad b ʿĀšūr 10 Bde Beirut 2002, Bd 10, S 256: ‫ويقال إن ذلك الرجل‬ ‫شمشون عليه السالم‬ Bis heutzutage wird diese koranische Stelle in Verbindung mit Simson gebracht Vgl Fikrī: Šamšūn (03 05 2019) Gekürzt nach Abū Ǧaʿfar aṭ-Ṭabarī: Tārīḫ ar-rusul wa l-mulūk wa ṣilat tārīḫ aṭ-Ṭabarī. 11 Bde 2 Aufl Beirut 1387 n H [1967], Bd 2, S 22–23

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2 Menschliches Haar in der Traumdeutung Die positive Symbolik von Haaren ist in arabischen Werken zur Traumdeutung genauso unzweideutig 17 Im Kitāb taʿbīr ar-ruʾyā (Interpretation von Träumen), der von Ḥunayn b Isḥāq al-ʿIbādī (808–873) angefertigten arabischen Übersetzung der Ονειροκριτικά des Artemidorus Daldianus (2 Jhd ), deuten lange gepflegte Haare auf Wohlergehen (ḥusn ḥāl) und Reichtum (ṯarwa) hin, jedoch werde dies nur durch Mühe erreicht, wie bei der Mühsal, die man für die Pflege langer Haare auf sich nehmen müsse 18 Lange ungepflegte Haare zeugten hingegen von Trübsal (ġumūm) und Trauer (aḥzān) Lichtes Haar des Vorderhauptes bedeute Erniedrigung (hawān) und harte Zeiten (ġalẓa) in unmittelbarer Zukunft, am Hinterhaupt dagegen Armut (faqr) und Elend (sūʾ ḥāl) im hohen Alter 19 Der Ausfall der gesamten Kopfhaare kündige Eigentumsverlust (ḏahāb mā yamluk) an, es sei denn, dass der Träumende von Feinden verfolgt würde – dann sage der Haarausfall das Entkommen vorher 20 Der Rechtsgelehrte Ibn Sīrīn (654–728) ist einer der ersten berühmten muslimischen Traumdeuter Unter seinem Namen sind seit dem 10 Jahrhundert mehrere Traumdeutungsschriften bekannt, von denen die beiden berühmtesten im Folgenden zitiert werden, nämlich das älteste und kürzeste Werk Taʿbīr al-ruʾyā (Traumdeutung) sowie die aus dem 15 Jahrhundert stammende umfangreiche Kompilation Muntaḫab al-kalām fī taʿbīr al-aḥlām (Auslese aus Schriften zur Traumdeutung), oder einfach Tafsīr al-aḥlām (Trauminterpretation) 21 Da das zweite Werk alle Angaben des ersten Werkes, Taʿbīr al-ruʾyā unverändert oder mit einer Erweiterung enthält, wird der Inhalt im Folgenden anhand des zweiten, ausführlicheren Werkes Tafsīr al-aḥlām zusammengefasst Im Tafsīr al-aḥlām werden Angaben zur Interpretation im Traum gesehener Haare beschrieben, welche in Abhängigkeit von der Person und den Lebensbedingungen des

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Zur Traumdeutung im Islam vgl : Toufic Fahd: Art Taʿbı̄ r al-Ruʾya, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http://dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_8915 (29 06 2019); Toufic Fahd: Les songes et leurs interpretation selon l’Islam Paris 1959 Nachgedruckt in: ders : Études d’histoire et de civilisation islamiques 2 Bde Istanbul 1997, Bd 1, S 37–60; Nadia Al-Bagdadi: The Other Eye: Sight and Insight in Arabic Classical Dream Literature, in: The Medieval History Journal 9/1 (2006), S 115–141; Elizabeth Sirriyeh: Dreams & Visions in the World of Islam: a History of Muslim Dreaming and Foreknowing London [u a ] 2018 Arṭāmīdūrus al-Afasusī [Artemidorus Daldianus oder Ephesius]: Kitāb taʿbīr ar-ruʾyā naqalahū min al-yūnāniyya ilā l-ʿarabiyya Ḥunain b Isḥāq (al-mutawaffā sanat 260/873), hg v Toufic Fahd Damaskus 1964, S 51 Artemidorus: Taʿbīr ar-ruʾya, S 53 Artemidorus: Taʿbīr ar-ruʾya, S 54 Vgl : Toufic Fahd: Art Ibn Sīrīn, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http:// dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_3382 (29 06 2019); Pseudo-Ibn-Sīrīn: Kitāb taʿbīr ar-ruʾyā li-Ibn Sīrīn Kairo 1927; Pseudo-Ibn-Sīrīn: Muntaḫab al-kalām fī tafsīr al-aḥlām maṭbūʿ bi-hāmiš Taʿṭīr al-anām fī taʿbīr al-manām li-n-Nābulsī, 2 Bde Kairo 1940 [Nachdruck]

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Träumenden gedeutet werden:22 Das Kopfhaar kündige Geld (māl) und langes Leben (ṭūl al-ʿumr) an Das auf die Schultern herabfließende Haar bedeute für einen Krieger Förderung (ziyāda), Schutz (wiqāya) und Ansehen (hayba) Für einen Reichen (ġanī) seien sie ein Hinweis auf zunehmendes Vermögen (māl), für einen Armen (faqīr) einer auf seine Sünden (ḏunūb) Schönes und gepflegtes Kopfhaar bedeute Ehre (šaraf) und Ansehen (ʿizz) Des Weiteren ist die Haartextur zur Traumdeutung von Belang Wenn jemand gekräuselte Haare habe, sie aber im Traum glatt sehe, bedeute dies, dass er gedemütigt (yattaḍiʿ) und an Status verlieren werde (yaṣīr dūn mā kān) Wenn seine Haare im Traum aber glatt, lang und schütter (sabiṭ ṭawīl mutafarriq) seien, dann werde sein Herr das Vermögen verlieren (māl raʾīsihī yatafarraq) Im Gegensatz dazu werde das Vermögen seines Herrn zunehmen (ziyādat māl raʾīsihī), wenn er seine Haare weich (nāʿim) und geschmeidig (layyin) sehe 23 Schütteres Haar am Vorderhaupt deute auf Erniedrigung in naher Zukunft hin (ḏull fī l-waqt), am Hinterhaupt dagegen auf Elend im hohen Alter (hawān yuṣībuhū fī š-šayḫūḫa), in der rechten Kopfhälfte auf Unglück, das einen männlichen Verwandten treffe (yuṣāb fī ḏ-ḏukūr min aqribāʾihī), und in der linken Kopfhälfte auf Unglück, das einer weiblichen Verwandten zustoße (yuṣāb fī l-ināṯ) – wenn der Träumende aber weder männliche noch weibliche Verwandte habe, treffe das Unglück die Person selbst 24 Langes, dichtes, gepflegtes Haar wird also mit Reichtum, Macht und Ansehen assoziiert, im Gegensatz zu kurzem, schütterem und ungepflegtem Haar Inwieweit diese positive Konnotation auf die medizinischen, magischen und alchemistischen Verwendungen von Haaren abfärbt, kann wahrscheinlich nicht rekonstruiert werden, jedoch ist von einer wechselseitigen Beeinflussung auszugehen 3 Menschliches Haar in naturphilosophischen Werken Was sind Haare? Ibn Sīnā (gest 1037) erklärt in seinem philosophischen Werk aš-Šifāʾ (Heilung), dass Haare aus rauchigem Dampf (buḫār duḫānī) entstünden, der in den Hautporen zurückgehalten werde 25 In al-Qānūn fī ṭ-ṭibb führt er im Kapitel „Über das Wesen der Haare“ (fī māhiyyat aš-šaʿr) die gleichen Erläuterungen aus: Haare entstünden aus rauchigem Dampf, wenn sich die Rauchpartikeln in den Poren der Haut niederschlügen und durch Versorgung mit weiterem Material heranwüchsen 26 22 23 24 25 26

Pseudo-Ibn-Sīrīn: Tafsīr al-aḥlām, Bd I, S 142; Pseudo-Ibn-Sīrīn: Taʿbīr ar-ruʾyā, S 27 Pseudo-Ibn-Sīrīn: Tafsīr al-aḥlām, Bd I, S 142; Pseudo-Ibn-Sīrīn: Taʿbīr ar-ruʾyā, S 27 Pseudo-Ibn-Sīrīn: Tafsīr al-aḥlām, Bd I, S 143–144; Pseudo-Ibn-Sīrīn: Taʿbīr ar-ruʾyā, S 27 Al-Ḥusayn b ʿAlī Ibn Sīnā: aš-Šifāʾ: aṭ-Ṭabīʿīyāt, hg v Ibrāhīm Madkūr, Saʿīd Zāyad [u a ] Kairo 1983, S 48: ‫الشعر يكون من البخار الدخاني المحتبس في المسام‬ Al-Ḥusayn b ʿAlī Ibn Sīnā: al-Qānūn fī ṭ-ṭibb taʾlīf al-Ḥusayn b ʿAlī Ibn Sīnā, hg v Idwār al-Qašš, mit einem Vorwort v ʻĀlī Zīʻūr 4 Bde Beirut 1987, Bd IV, S 2181: ‫الشعر يتولد من البخار الدخاني إذا انعقد في المسام ونبت عليها بما يستمد من المادة‬

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Diese Erklärung lässt sich vor dem Hintergrund humoralphysiologischer Vorstellungen vom Verdauungsprozess im menschlichen Körper verstehen, der in vier Etappen abläuft:27 Die erste Verdauung (haḍm awwal) erfolgt durch Hitze im Magen, wobei eine weiße, schleimige Flüssigkeit, die sogenannte Chyle (kīlūs), entsteht, deren feinen Teile durch Magen und Darm in die Adern des Mesenteriums (masārīqā), also die Adern der Falten des Bauchfells, aufgenommen und deren nicht verwertbare Bestandteile, oder Reststoffe (faḍl), durch den Darm ausgeschieden werden Vom Mesenterium wird die Chyle über die Pfortader in die Verzweigungen der Leber verteilt, wo die zweite Verdauung (haḍm ṯānī) erfolgt, die einen Kochvorgang darstellt Nach der Kochung (ṭabḫ) entstehen die Körpersäfte: die gut durchgekochte Flüssigkeit ist das Blut (dam), der Schaum ist die gelbe Galle (ṣafrāʾ), das Sediment die schwarze Galle (sawdāʾ) und der roh gebliebene Saft das Phlegma (balġam) Das dünnflüssigere Blut trennt sich nun von den übrigen Bestandteilen der gekochten Flüssigkeit, die in die Nieren weitergeleitet und durch den Urin ausgeschieden werden Einige Reststoffe werden allerdings durch Gallenblase und Milz abgeführt Die dritte Verdauung (haḍm ṯāliṯ) geschieht dann in den Adern, nachdem sich das Blut durch die Leberarterie in die übrigen Blutgefäße und Kapillaren verteilt hat Von den Kapillaren sickert das Blut in die Körperorgane, wo die vierte Verdauung (haḍm rābiʿ) stattfindet Die in den dritten und vierten Verdauungsphasen entstandenen Reststoffe werden nun als Schweiß, Dreck (Nasensekret, Ohrenschmalz, Hautschmalz) oder als Auswüchse (zawāʾid al-badan), also als Haare und Nägel, ausgeschieden Nach dieser Darstellung des Verdauungsprozesses sind Haare Ausscheidungsprodukte, vergleichbar mit Urin, Kot oder Schweiß Diese Vorstellung von Haaren als rauchige Sedimente lässt es nachvollziehbar erscheinen, dass Haare in der Humoralpathologie als die trockensten Bestandteile des menschlichen Körpers eingestuft werden, gefolgt von Knochen, Knorpeln, Bändern, Sehnen, Membranen, Venen, Arterien, Bewegungsnerven, Herz, Sinnesnerven und schließlich der Haut 28 Haare sollen außerdem der drittkälteste Bestandteil im Körper sein Der Kälteste ist das Phlegma, dann folgen Fett, Haare, Knochen, Knorpel, Bänder, Sehnen, Membranen, Nerven, Knochenmark, Gehirn und Haut 29 Aus Haaren werden in der Humoralpathologie weiterhin Indizien zur Bestimmung des Temperaments abgeleitet (istidlāl) Schnelles Haarwachstum deutet auf ein eher trockenes Temperament, langsames dagegen auf ein feuchtes hin Die Haartextur ist ebenfalls aufschlussreich: Dünne Haare (nāʿim) verweisen auf eine kalte Mischung, dicke (ġalīẓ) auf eine warme, glatte (subūṭa) auf kalt-feuchte, gekräuselte (ǧuʿūda) auf ein warm-trockene Mischung Auch die Haarfarbe ist von Belang, denn schwarze Haa27 28 29

Die folgenden Ausführungen zur Verdauung (haḍm) basieren auf dem Kapitel Fī tawallud al-aḫlāṭ (Entstehung der Mischsäfte), Ibn Sīnā: al-Qānūn, Bd I, S 34–36 Ibn Sīnā: al-Qānūn, Bd I, S 24 Ibn Sīnā: al-Qānūn, Bd I, S 23

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re (sawād) sind ein Indiz für Wärme; blonde (ṣuhūba) für Kälte; rote (ḥumra) oder hellblonde (šuqra) für ein ausgeglichenes Temperament (iʿtidāl), und weiße Haare (bayāḍ) sind entweder ein Indiz für eine kalt-feuchte Mischung – wie beim Altern – oder ein Indiz für eine extrem trockene Mischung, wie nach Genesung von ausdörrenden Krankheiten 30 Allerdings sollte der Arzt dabei die klimatischen Bedingungen und die geographische Herkunft des Patienten berücksichtigen 31 Diese Eigenschaften von Haaren sind mit den Indizien vergleichbar, die aus der Untersuchung von Urin oder Kot hergeleitet werden Sie erlauben Rückschlüsse auf Verdauungsprozesse im Körper, die ihrerseits vom Temperament des Menschen abhängig sind 4 Medizinische Anwendungen des menschlichen Haars Die medizinische Verwendung des menschlichen Haars ist schon in hellenistischer Zeit dokumentiert; so erwähnt Plinius der Ältere (gest 79) in seinem enzyklopädischen Werk Naturalis historia im Buch XXVIII die Räucherung mit Haaren 32 Auch der römische Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus (gest um 50) geht auf die heilende Wirkung von Haaren ein 33 Menschliches Haar nennt er unter mehreren Stoffen, die „durch ihren üblen Geruch erregend wirken“ und daher zur Behandlung der Schlafkrankheit eingesetzt werden können 34 Die Räucherung mit Haaren scheint auch in Mesopotamien in Gebrauch gewesen zu sein So empfiehlt Ibn Waḥšiyya (Mitte 10 Jh ) in seinem dem Vorwort zufolge aus dem Chaldäaischen übersetzten Werk Kitāb al-filāḥa an-nabaṭiyya (Nabatäische Landwirtschaft) die Räucherung mit Frauenhaar (šaʿr imraʾa) gegen Insekten- oder Wurmbefall von Weinreben: Man nehme ein Räuchergefäß (mabḫara), fülle glühende Kohle ein, werfe kleine Haarknäuel hinein und räuchere die Weinreben eine nach der anderen 35 Der Rauch von Frauenhaaren stille nach Ibn Waḥšiyya auch Gebärmutterschmerzen (waǧaʿ ar-raḥm) und heile das Aufsteigen der Gebärmutter (irtifāʾ ar-raḥm) 36

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Ibn Sīnā: al-Qānūn, Bd I, S 156 Ibn Sīnā: al-Qānūn, Bd I, S 157 Plinius der Ältere: Plinius Naturgeschichte, übers v Johann Daniel Denso, 2 Bde Rostock [u a ] 1764, Bd II, S 488–489 Aulus Cornelius Celsus: Über die Arzneiwissenschaft: in acht Büchern, übers von Eduard Scheller 2 Aufl Braunschweig 1906, S 148 Celsus: Arzneiwissenschaft, S 145 Aḥmad b ʻAlī Ibn Waḥšiyya: al-Filāḥa al-Nabaṭiyya At-tarjamah al-manḥūlah ilā ibn Waḥshīyah Abū Bakr Aḥmad ibn ʿAlī ibn Qays al-Kasdānī, hg v Toufic Fahd, 3 Bde Damaskus 1993–1998, Bd 3, S 1076 Die Datierung des Werks – zwischen dem achten und zehnten Jahrhundert – ist unter Orientalisten höchst umstritten Vgl Toufic Fahd: Ibn Waḥs̲ h̲ iyya, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http://dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_COM_0346 (30 06 2019) Ibn Waḥšiyya: al-Filāḥa, Bd 3, S 1076

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Die Räucherung mit Haaren wird außerdem von mehreren Autoren in Muǧarrabāt-Werken angepriesen 37 ʿĪsā ibn ʿAlī (Ende 9 Jh ) schreibt in seinem Kitāb manāfiʿ aʿḍāʾ al-ḥayawān (Buch über nützliche Tierorgane), dass menschliches Haar als Fumigation für die Vagina gegen Schwellung der Gebärmutter (intifāḫ ar-raḥm) helfe 38 Der damaszenische Arzt as-Suwaydī (1204–1292) rühmt in seiner Kompilation Kitāb at-taḏkira (Memorandum) die Räucherung mit Frauenhaaren als Mittel gegen Vergesslichkeit (nisyān) und gegen durch eine kalte Mischung verursachte Kopfschmerzen (ṣudāʿ bārid) 39 In der Humoralpathologie galt die Mischung der Haare (mizāǧ aš-šaʿr) wie oben erläutert als sehr trocken und kalt Haare wurden allerdings in der Regel nach Verbrennung medizinisch verwendet So gibt Ibn Sīnā an, dass die Haarasche (ḥurāqat aššaʿr) wegen ihrer okkulten Eigenschaften (ḫawāṣs) stark erwärmend (musaḫḫin) und trocknend (muǧaffif) wirke:40 Sie werde daher gegen feuchte und kalte Krankheiten eingesetzt, die mit Absonderungen verbunden sind Beispielsweise heile die Haarasche Pusteln (buṯūr), und wenn man sie mit Butterschmalz (samn) vermische, hemme sie das Wachstum von Geschwüren (awrām sāʿiya) 41 Eine Mischung aus Haarasche und Rosenöl stille Ohr- und Zahnschmerzen, wenn man sie auf das schmerzende Ohr oder den Zahn träufele 42 Eine Mischung aus Haarasche und Bleiglätte (martak) helfe gegen Skabies (ǧarab) und Augenkrätze (ḥakka fī l-ʿayn) 43 Außerdem bleiche die Haarasche Zähne (yaǧlū al-asnān) und trockne verschmutzte weiche Geschwüre (qurūḥ wasiḫa wa-rahila) 44 Gegen Geschwüre an Hoden, Penis und Anus empfiehlt Ibn Sīnā bei einer Erosion (qarḥ akkāl) ein Kompositum, das aus der Asche menschlichen Haars (ramād šaʿr al-insān), Asant (anǧuḏān) und Linsen (ʿadas ǧabalī) bestehe und als Streupulver (ḏurūr) oder Pflaster (ḍimād) angewendet werden könne 45 Unter den Adstringenzien (adwiya ḥābisa), die durch ihre trocknenden und wundheilenden

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Muǧarrabāt-Werke sind Sammlungen von in praktischer Erprobung bewährten Mitteln Vgl Alfred Ullmann: Die Medizin im Islam Leiden [u a ] 1970, S 311–313; Lucia Raggetti: The Science of Properties and its Transmission, in: J Cale Johnson (Hg ): In the Wake of the Compendia: infrastructural contexts and the licensing of empiricism in Ancient and Medieval Mesopotamia Berlin [u a ] 2015, S 159–176 Lucia Raggetti: ʿĪsā ibn ʿAlīs Book on the Useful Properties of Animal Parts [ʿĪsā ibn ʿAlī: Kitāb al-manāfiʿ allatī tustafādu min aʿḍāʾ al-ḥayawān] Edition, translation and study of a fluid tradition Berlin [u a ] 2018, S 12 ʿIzz ad-Dīn Abū Isḥāḳ Ibrāhīm b Muḥammad b Ṭarḫān as-Suwaydī: Kitāb at-taḏkira Forschungsbibliothek Gotha, Ms orient A 1958, fol 6v, Z 13–14; fol 3, Z 7–8 Zu as-Suwaydī vgl Ullmann: Medizin, S 284–285 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 747 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 409 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 409 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 409 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 747 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd II, S 1621

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Eigenschaften (taǧfīf wa-ilḥām) wirkten, empfiehlt Ibn Sīnā zur Behandlung von Blutungen (ʿilāǧ nazf ad-dam) ebenfalls verbrannte Haare (šaʿr muḥraq) 46 In medizinischen Schriften sind noch weitere Anwendungsformen verzeichnet Menschenhaare werden mit Essig vermischt (šaʿr al-insān bi-l-ḫall) gegen den Biss eines tollwütigen Hundes (li-ʿaḍḍat al-kalb al-kalib) in Form eines Pflasters (ḍimādan) appliziert 47 Außerdem soll das Haarwasser (māʾ aš-šaʿr) – gemeint ist wohl das wässrige Extrakt von Haaren nach Destillation mit Alembik und Cucurbita – als Haarwuchsmittel wirken (yunbit aš-šaʿr) 48 Haare wurden auch wegen ihrer mechanischen Eigenschaften, das heißt wegen ihrer Elastizität und Festigkeit, therapeutisch eingesetzt Bei einem epileptischen Anfall (nawbat ṣaraʿ) solle der Arzt einen weichen Ball aus Haaren (kura min aš-šaʿr layyina) zwischen die Zähne des Epileptikers schieben, damit der Mund offen bleibe 49 Zur Behandlung eines eingewachsenen Haars im Augenlid (šaʿr munqalib fī l-ǧafn) beschreibt Ibn Sīnā einen leichten Eingriff mittels einer Nadel mit einem Frauenhaar (šaʿr imraʾa) im Öhr, die von der Innenseite des Augenlids neben dem eingewachsenen Haar hineingestochen und von der Aussenseite herausgezogen werde Dafür steche der Mediziner neben dem eingewachsenen Haar zweimal ein, sodass die beiden Haarseiten um das eingewachsene Haar gebunden werden könnten und er es herausziehen könne 50 Weiterhin könne ein langes Haar zur Behandlung von Hämorrhoiden verwendet werden, indem man mit diesem die Hämorrhoiden an der Wurzel abschnüre, was auch mit einem Faden aus Flachs (kattān) oder Seide (ibrīsam) erfolgen könne 51 Danach fielen die Hämorrhoiden nach einer gewissen Zeit spontan aus, oder man behandele sie weiter mit ätzenden Arzneien (adwiya musqiṭa) wie Bleiglättesalbe (marham murdāsanǧ) oder Bleiweißsalbe (marham asbīdāǧ) 52 Medizinische Texte enthalten in der Regel keine Spezifizierung der Körperstelle, welcher die Haare entnommen werden müssen Das aus dem 11 Jahrhundert stammende medizinische Wörterbuch Kitāb al-māʾ gibt auch keine weiteren Bezeichnungen von Haaren außer šaʿr an,53 obwohl die arabische Lexikographie zahlreiche Bezeichnungen von Haaren in Abhängigkeit von deren Wachstumsort, Textur, Form, Farbe sowie von Alter und Geschlecht der Person usw kennt 54 Da Kopfhaare am 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Ibn Sīnā: Qānūn, Bd III, S 1994 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 747 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd I, S 747 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd II, S 915 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd II, S 993–994 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd II, S 1511 Ibn Sīnā: Qānūn, Bd II, S 1511–1512 Vgl ʿAbdallāh Ibn Muḥammad al-Azdī aṣ-Ṣuḥārī: Kitāb al-māʾ: awwal muʿǧam ṭibbī luġawī fī t-tārīḫ, 3 Bde , hg v Hādī Ḥasan Ḥammūdī, Oman 1996, Bd II, S 344–345 Um einen Eindruck von der Vielfalt der Haarbezeichnungen zu vermitteln führe ich einige Beispiele auf: ʿaqīqa kennzeichnet das Haar, mit dem der Mensch geboren wird; farwa das Kopfhaar; nāṣiyā das Haar des Vorderkopfes; ḏuʾāba das Haar des Hinterkopfes; farʿ das Kopfhaar von Frau-

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schnellsten und reichlichsten wachsen, ist davon auszugehen, dass mit der Bezeichnung šaʿr al-insān menschliches Haupthaar gemeint ist 55 Dagegen erwähnen die auf magischen Konzepten basierten Schriften gelegentlich die Körperstelle, der die Haare entnommen werden müssen Nach dem Kitāb al-iḍāḥ fī asrār an-nikāḥ (Erklärungen bezüglich der Geheimnisse des Geschlechtsverkehrs) von ʿAbd ar-Raḥmān aš-Šīrāzī (gest ca 1169) soll ein Mann zur Herstellung eines Liebestrankes die Haare von Oberund Unterlippe (šaʿr al-ʿāriḍayn) oder unter dem Kinn (šaʿr mā taḥt aḏ-ḏaqn) entnehmen 56 Der Umstand, dass Haare in magischen Texten, im Gegensatz zu medizinischen Texten, örtlich spezifiziert werden, kann durch den unterschiedlichen Stellenwert der Personenbezogenheit erklärt werden In medizinischen Schriften beruht die heilende Wirkung auf der Materie des Haars und steht in keiner Verbindung zur Person, die die Haare besitzt 5 Magische Wirkung von menschlichem Haar Magie (siḥr) ist nach Angaben des Gelehrten Ḥāǧǧī Ḫalīfa (1609–1657) im islamischen Recht verboten (muḥarram šarʿan), es sei denn zur Bekämpfung eines betrügerischen Zauberers, der sich als Prophet ausgibt 57 Ḥāǧǧī Ḫalīfa definiert Magie als „etwas, dessen Ursache verborgen und für die meisten durch Vernunft nicht zu erschließen ist“ 58 Anschließend führt er mehrere Teilgebiete auf, wie die Astrologie (ʿilm an-nuǧūm) mit ihrer Lehre vom Einfluss der Gestirne auf die sublunare Welt, die er als verboten einstuft, und die Wissenschaft von den okkulten Eigenschaften (ʿilm al-ḫawāṣṣ), die er

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en; ġadīra das Haar des Hinterkopfes von Frauen; ġafar das Beinhaar; dabab das Gesichtshaar; masraba das Brusthaar; šuʿra das Schamhaar; asab das Analhaar und zabab das männliche Körperhaar usw Vgl Aḥmad b Muṣṭafā ad-Dimašqī al-Labābīdī: al-Laṭāʾif fī l-luġa: muʿǧam asmāʾ al-ašyāʾ, hg v Aḥmad ʿAbd at-Tawwāb Riad 1997, S 178 Der Doppelbezug des Wortes šaʿr auf Mensch und Tier würde theoretisch eine gewisse Ambiguität schaffen Jedoch reduziert sich diese Doppeldeutigkeit in den untersuchten Texten auf wenige Fälle, da die Autoren das nackte Wort šaʿr in der Regel in eindeutigen Kontexten verwenden, indem sie das Wort beim ersten Vorkommen in einer Genitivverbindung auf Menschen beziehen So wird der Ausdruck šaʿr insān (Menschenhaar) am häufigsten verwendet, weiterhin šaʿr ibn ādam (Haare von Adams Sohn, i e Menschenhaar), šaʿr ādamī (menschliches Haar), šaʿr imraʾa (Frauenhaar), šaʿr muṭlaqa (Haare einer Frau, entnommen während der Entbindung), šaʿr ṣabī (Knabenhaar) und šaʿr raǧul (Manneshaar) Forschungsbibliothek Gotha, Ms orient A 2040, fol 43r, Z 15–fol 43v, Z 2 Ḥāǧǧī Ḫalīfa: Kašf aẓ-ẓunūn ʿan asāmī l-kutub wa-l-funūn = Lexicon bibliographicum et encyclopaedicum a Mustafa ben Abdalla Katib Jelebi dicto et nomine Haji Khalfa celebrato compositum: primum edidit latine vertit et commentario indicibusque instruxis Gustavus Fluegel, hg v Richard Bentley 7 Bde London [u a ] 1835–1858 , Bd 2, Sp 980 Fahd führt im Artikel „Siḥr“ mehrere Koransuren und Überlieferungen des Propheten an, die das islamische Verbot von Magie belegen Vgl Toufic Fahd: Siḥr, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http:// dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_7023 (07 07 2019) Ḥāǧǧī Ḫalīfa: Kašf aẓ-ẓunūn, Bd 1, Sp 980: ‫وهو ماخفي سببه وصعب استنباطه الكثر العقول‬

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gegen Magie-Verdacht in Schutz nimmt 59 Diese Meinung reflektiert einen Konsens darüber, der sich offenbar im Osmanischen Reich herauskristallisierte und die Astromagie ablehnte, aber die okkulten Eigenschaften anerkannte Die magische Wirkung begründet Pseudo-Maǧrīṭī in seiner Kompilation zur Magie, Astrologie und Talismankunde Ġāyat al-ḥakīm (Das Ziel des Weisen), die vermutlich aus dem 11 Jahrhundert stammt und unter dem Titel Picatrix ins Lateinische übersetzt wurde, durch die Beziehungen von Sympathie (mušābaha) und Antipathie (taḍādd), welche das ganze Universum durchziehen und alle Geschöpfe miteinander verbinden Durch Kenntnis dieser gegenseitigen Beziehungen könne man die verborgenen Kräfte der Gestirne bzw ihre Seelen (rūḥāniyyāt al-kawākib) beschwören und zur Entfaltung bestimmter Wirkungen nutzen 60 Dadurch erlange der Magier Macht über Mensch und Natur In den Ausführungen zu den Körperorganen, die in Korrespondenz mit den sieben Planeten oder den zwölf Sternbildern stehen, kommen die Haare nicht vor,61 und auch nicht unter den Stoffen, die bei der Beschwörung der Seelen der Planeten als Räucherung verbrannt werden müssen 62 Ob menschliche Haare in anderen astromagischen Werken eine Rolle spielen, muss noch geklärt werden In Pseudo-Maǧrīṭīs Werk spielen sie jedenfalls keine Rolle Bei einer magischen Applikation von menschlichem Haar wird offenbar davon ausgegangen, dass eine dauerhafte Verbindung zwischen den abgeschnittenen Haaren einer Person und der Person selbst bestehen bleibt So lautet eine Vorschrift für Liebesmagie in Kitāb manāfiʿ aʿḍāʾ al-ḥayawān von ʿĪsā ibn ʿAlī: „Wenn ein Mann einige Haare von einer Frau (šaʿr al-marʾa) nimmt, sie verbrennt und die Asche vor dem Geschlechtsverkehr auf seinen Penis streut, wird diese Frau keinen Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann begehren “63 Eine weitere Vorschrift aus Kitāb al-iḍāḥ fī asrār an-nikāḥ von aš-Širāzī (gest um 1169) empfiehlt, Haare von der Ober- oder Unterlippe (šaʿr al-ʿāriḍayn) oder aus der Gegend unter dem Kinn (šaʿr mā taḥt aḏ-ḏaqn) kleinzuschneiden, einem Breigericht aus Gerste und Weizen (sawīq) beizumischen und einer

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Ḥāǧǧī Ḫalīfa: Kašf aẓ-ẓunūn, Bd 1, Sp 79; Bd 2, Sp 1930–1931; Zur Astrologie und ḫawāṣs bei Ḥāǧǧī Ḫalīfa vgl Natalia Bachour: Oswaldus Crollius und Daniel Sennert im frühneuzeitlichen Istanbul: Studien zur Rezeption des Paracelsismus im Werk des osmanischen Arztes Ṣāliḥ b Naṣrullāh Ibn Sallūm al-Ḥalabī Freiburg 2012, S 337–338 Vgl Maslama b Aḥmad al-Maǧrīṭī [Pseudo-Maǧrīṭī]: Ġāyat al-ḥakīm wa-aḥaqq an-natīǧatayn bi-

t-taqdīm (Das Ziel des Weisen: Arabischer Text), hg v Hellmut Ritter Leipzig 1933, S 182–183, 233–242; Maslama b Aḥmad al-Maǧrīṭī [Pseudo-Maǧrīṭī]: „Picatrix“ Das Ziel des Weisen von Pseudo-Maǧrīṭī Translated into German from the Arabic by Hellmut Ritter and Martin Plessner London 1962, S 156–157; Manfred Ullmann: Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam Leiden [u a ] 1972, S 359–421; Karl Eduard Rothschuh: Iatromagie: Begriff – Merkmale – Motive – Systematik Opladen 1978; Karl Eduard Rothschuh: Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart Stuttgart 1978, S 106–157 Vgl al-Maǧrīṭī: Ġāyat al-ḥakīm, S 150–156, 157–160, 195–228 Vgl al-Maǧrīṭī: Ġāyat al-ḥakīm, S 150–156, 157–160, 195–228 ʿĪsā ibn ʿAlī’: Kitāb al-manāfiʿ, S 20

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Frau zum Essen zu geben Diese Frau werde sich daraufhin von diesem Mann angezogen fühlen und seine Nähe suchen 64 Eine weitere Vorschrift von aš-Šīrāzī soll die Empfängnis sicherstellen: Wenn eine Frau sich während ihrer Menstruation dreimal täglich mit den Haaren eines Mannes räuchere, sich wasche und sich vor dem Geschlechtsverkehr mit diesem Mann mit seinen Haaren erneut räuchere, werde sie auf der Stelle schwanger 65 Schließlich wurden mehrere medizinische Applikationen von menschlichem Haar festgehalten, die offenbar in der Vorstellung gründen, dass Haare eine gewisse Lebenskraft trügen und diese an eine andere Person weitergeben könnten Dahinter könnte auch die Vorstellung stehen, dass bestimmte okkulte Eigenschaften (ḫawāṣs) ihre Wirkung durch Berührung (lams) oder aus der Distanz (musāmata) entfalten 66 So wirke das Tragen von in ein Tuch eingebundenen Menschenhaaren (šaʿr insān) gegen Migräne 67 Die Haare eines kleinen Knaben (šaʿr ṣabī), der 40 Tage bis drei Monate alt ist, sollten besondere Heilungskräfte entfalten, wenn sie um den Hals getragen würden (taʿlīqan) So hülfen sie nach Ḥāǧǧī Bāšā (gest 1417) gegen Gicht (naqras)68 und stillten nach as-Suwaydī die Schmerzen eines Skorpionstichs (lasʿat al-ʿaqrab) 69 Zusammenfassend kann man feststellen, dass bei magischer Verwendung des menschlichen Haars die Personenbezogenheit in den Vordergrund rückt Einerseits spielen Körperstelle, Alter und Geschlecht der Person eine Rolle, der die Haare entnommen werden, andererseits wird bei Liebes- und Fruchtbarkeitszauber der Bezug 64

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ʿAbd ar-Raḥmān b Naṣr b ʿAbdallāh aš-Širāzī: Kitāb al-īḍāḥ fī asrār an-nikāḥ Forschungsbibliothek Gotha, Ms orient A 2040, fol 43r, Z 15 – fol 43v, Z 2: ‫إذا أخذت من شعر عارضيك وما تحت الذقن وقرضته ناعما وخلطته بسويق وسقيته امرأة مالت إليك وأحبت القرب منك‬ Vgl Wilhelm Pertsch: Die orientalischen Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Gotha 5 Bde Gotha 1878–1892, Bd IV, S 75 Aš-Šīrāzī, K al-īḍāḥ, Ms orient A 2040, fol 55r, Z 2–4: ‫إذا تبخرت المرأة وقت حيضها كل يوم ثالث مرات بشعر الرجل ثم اغتسلت وتبخرت به أيضا وجامعها الرجل حبلت‬ ‫أيضا من ساعتها‬ Ǧābir b Ḥayyān: Kitāb al-ḫawāṣṣ, Britisch National Library, Ms Or 4041, fol 1v, Z 11, 12 Zu den okkulten Eigenschaften (al-ḫawāṣṣ) vgl Ullmann: Geheimwissenschaften, S 393–415 ʿAlī b ʿĪsā: Kitāb manāfiʿ al-ḥayawān, S 8; [N N ]: K fī ṭ-Ṭibb, Forschungsbibliothek Gotha, Ms A 2026, fol 4v, Z 17–18: ‫إذا صر شعر اإلنسان في خرقة وعلق على صاحب الشقيقة نفعه‬ Ḥāǧī Pāšā: K aṭ-Ṭibb, Forschungsbibliothek Gotha, Ms orient A 1938, fol 3r, Z 1–2: ‫شعر صبي عمره من أربعين يوما إلى ثالثة أشهر ينفع النقرس تعليقا‬ Der unter dem Namen Ḥāǧī Pāšā bekannte Medizinier Ḫiḍr b ʿAlī b Marwān b ʿAlī Ḥusām ad-Dīn al-Aydīnī (gest 1417) stammte aus Konya, lebte und starb in Ägypten Er verfasste mehrere medizinische Werke, die noch nicht erforscht sind, darunter Šifāʾ al-asqām wa-dawāʾ al-ālām, aus dem die Gothaer Handschrift Auszüge enthält Vgl Pertsch: Katalog, Bd III, S 478–479; Ekmeleddin İhsanoǧlu [u a ] (Hg ): Türkiye kütüphaneleri İslâmî tıp yazmaları kataloğu Arapça, Türkçe ve Farsça İslâmî tıp yazmaları kataloğu [Katalog der islamischen medizinischen Handschriften in arabischer, türkischer und persischer Sprache der türkischen Bibliotheken ] Istanbul 1984, S 18– 33 As-Suwaydī: al-Muḫtaṣar, A 1959, fol 113v, Z 1–5: ‫ومما جرب أن شعر الصبي الذي عمره أربعون يوما إلى ثالثة أشهر فقط إذا علق على من لسعه العقرب سكت األلم‬ ‫سريعا فإذا زاد عمره على ثالثة أشهر من يوم والدته أو أخذ شعره قبل األربعين لم ينفع‬

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auf eine bestimmte Person durch ihre Haare hergestellt, d h man betrachtet sie als pars pro toto 6 Alchemistische Anwendung des menschlichen Haars Arabische Alchemisten verwendeten Haare einerseits zur Herstellung von Ammoniaksalz (milḥ an-nušādar) und andererseits zur Präparation des Steins der Weisen (al-ḥaǧar al-mukarram) Der am Hof von Buḫārā als Sekretär tätige Abū ʿAbdallāh al-Kātib al-Ḫwārazmī (gest 997) erklärt in seinem Werk Mafātīḥ al-ʿulūm (Schlüssel der Wissenschaften), dass es zwei Sorten von Ammoniaksalz (nušādar) gebe: das mineralische (maʿdanī) und das synthetische (maʿmūl), das aus Haaren präpariert werde (yuṣnaʿ min aš-šaʿr) 70 Ammoniaksalz war eine bekannte Arznei in der persischen, griechischen und arabischen Medizin 71 Es wurde als Simplicium beispielsweise gegen Glaukom (bayāḍ al-ʿayn) oder gegen Krupp (ḫānūq) empfohlen 72 Al-Ḫwārazmī erklärt im gleichen Werk zum Stein der Weisen: Der Stein (al-ḥaǧar) ist das [Material], aus dem das Elixier präpariert wird Es gibt zwei Arten: einen animalischen (ḥayāwānī) und einen mineralischen (maʿdanī), wobei die animalische besser ist (afḍaluhumā al-ḥayawānī) Davon gibt es folgende Sorten: Haare (šaʿr), Blut (dam), Urin (bawl), Eier (bayḍ), Tiergallen (marārāt), Tierhirne (admiġa), Schädel von Tieren (aqḥāf), Muscheln (ṣadaf), Hörner (qarn) Die Besten von all diesen [Sorten] sind Menschenhaare und Eier 73

Al-Ḫwārazmī rühmt menschliches Haar als den besten Ausgangsstoff für die Präparation des Steins der Weisen, jedoch waren sich Alchemisten über die Ausgangsmaterialien, aus denen das Elixier hergestellt werden sollte, alles andere als einig Der Alchemist al-Ġamrī al-Wāṣiṭī (gest ca 1500) vertrat in seinem Werk Ḥall aṭ-ṭilasm wa-kašf as-sirr al-mubham (Lösung des Rätsels und Enthüllung des verborgenen Geheimnisses) vehement die Meinung,74 dass der zur Herstellung des Steins der Weisen zu verwendende Stoff aus einer Metallart stammen solle, also weder aus Pflanzen noch Tieren oder Menschen, denn es handele sich bei der Präparation um eine Generation (tawlīd) „Wer anstrebt, Gold und Silber aus einem Stoff von nicht identischem Ursprung zu präparieren, gleicht jemanden, der erwartet, dass ein Mensch von einem Kamel oder

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Abū ʿAbdallāh Muḥammad b Aḥmad b Yūsuf al-Kātib al-Ḫwārazmī: Mafātīḥ al-ʿulūm, hg v Ibrāhīm al-Abyārī 2 Aufl Beirut 1984, S 279 Vgl Rudolf Schmitz: Geschichte der Pharmazie, Bd 1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters Unter Mitarbeit von Franz-Josef Kuhlen Eschborn 1998, S 130, 137, 235 Ibn Sīna: Qānūn, Bd 1, S 624 Al-Ḫawārizmī: Mafātīḥ, S 284 Vgl Ullmann: Geheimwissenschaften, S 245

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Esel geboren, oder ein Fisch Granatäpfel legen würde Dies ist fürwahr reiner Irrsinn, denn ein Ding bringt nur seinesgleichen und seine eigene Form hervor “75 Ǧābir b Ḥayyān (gest 815?) war dagegen Verfechter eines animalischen Ursprungs des Steins der Weisen 76 Er schreibt in Kitāb al-arkān (Buch der Fundamente), dass der Ausgangsstoff für den Stein der Weisen entweder aus einem einzigen animalischen Stoff oder aus vier Stoffen stamme: Ǧābir, Gott erbarme sich seiner, sagt über den Stein der Weisen, seine Präparation und okkulten Eigenschaften: ‚Du sollst wissen, dass der Stein der Weisen (ḥaǧar al-falāsifa) nur aus animalischem [Material] entstehen kann, entweder aus einem einzigen [Material] oder aus vieren [Materialien] Über das eine [Material] ist man sich nicht sicher Einige sagen, es sei die Galle (marār), andere [nennen] das Blut (dam), andere die Haare (šaʿr) und wieder andere Kot (ġāʾiṭ) und Urin (bawl) Nichts Besseres als diese vier [Materialien] existiert in einem Tier Aber nur ich, mein Lehrer (sayyidī) und die gescheitesten Philosophen können das erstrebte [Material] erraten, weil es sich um das Färbende handelt: Blut, Kot, Urin und Haare Diejenigen aber, die von vier [Materialien] ausgehen, entnehmen jedes der vier Elemente einem Mischungssaft (aḫlāṭ), nämlich das Wasser (māʾ) aus dem Hirn (dimāġ), das Öl (duhn) aus der Lunge (riʾa), das Färbende (ṣabġ) aus der Galle (marār) und die Erde (arḍ) aus der Milz (ṭaḥāl) Wer die erste Meinung nicht befolgen will, soll dieser Meinung folgen, denn es ist ein wundersamer [Weg] 77

Bei dieser rätselhaften Anweisung verrät Ǧābir nicht, welcher der vier animalischen Stoffen Blut, Kot, Urin und Haare der Ausgangsstoff sein soll Außerdem sagt er nicht explizit, dass die Körperbestandteile von einem Menschen stammen sollen Die menschliche Herkunft der Ausgangsstoffe bei der Präparation des Steins der Weisen ist allerdings entscheidend, wie im Kitāb sidrat al-muntahā des Pseudo-IbnWaḥšiyya erläutert wird 78 Das zwischen dem 10 und 12 Jahrhundert in Ägypten ent75

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Muḥammad al-Ġamrī: Ḥall aṭ-ṭilasm wa-kašf as-sirr al-mubham, Bibliothèque Nationale de France, Gallica, Ms Arabe 2621, fol 9r, Z 3–6: ‫اعلم ان الحكماء مجتمعين ومتفقين على مادة الحجر المكرم التي هي واحدة بالنوع ال بالشخص وهي من نوع المعدن ال‬ ‫من النبات وال من الحيوان وال من االنسان النها صناعة توليد فمن طلب ذهبا وفضة من غير اصله كمن طلب ان يولد‬ ‫االنسان من جمال او حمار او رمان من سمك فهذا هو الجنون بعينه اذ الشيء ال يأتى اال مثله وشكله‬ Zur Person Ǧābir b Ḥayyān und die Debatte unter Orientalisten bezüglich seiner Historizität vgl Regula Forster: Jābir b Ḥayyān, in: Kate Fleet [u a ]: Encyclopaedia of Islam, Three Online Edition 2018 URL: http://dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_ei3_COM_32665 (29 06 2019) Ǧābir b Ḥayyān: K al-Arkān, Süleymaniye Kütüphanesi, Hacı Mahmud Efendi 4224, fol 23v–24r: ّ ‫قال جابر عليه الرحمه فيه حجر الفالسفة وتدبيره وخواصه فينبغى‬ ‫ان تعلم ان حجر الفالسفه ال يكون اال في الحيوان‬ ‫وهو اما من واحد واما من اربعة فالواحد الذي قد شك فيه القوم فقال بعضهم المرار وقال بعضهم ال ّدم وقال آخرون الشعر‬ ‫وقال آخرون الغائط والبول وليس في الحيوان شىء افضل من هذه االربعة لكن سيدى وانا وحدى وغيرنا من الفالسفة‬ ّ ‫الحذاق يختار المراد من بينهما النه هو الصابغ ال ّدم والغائط والبول والشعر وا ّما القائلون باالربع فمن جعل كل ركن من‬ ‫االربعة من واحد من االخالط وذلك ان جعل الماء من الدماغ والدهن من الرئة والصبغ من المرار واألرض والطحال‬ ‫ومن لم يعمل بالراي االول فليعمل بهذا فانه عجيب جدا‬ Christopher Braun: Das Kitāb Sidrat al-muntahā des Pseudo-Ibn Waḥšiya Einleitung, Edition und Übersetzung eines hermetisch-allegorischen Traktats zur Alchemie, Berlin 2016, S 27 Die Studie

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standene Werk ist in Form eines Dialogs zwischen dem Adepten Ibn Waḥšiyya und einem eingeweihten Alchemisten namens al-Maġribī al-Qamarī verfasst Al-Qamarī übergibt Ibn Waḥšiyya ein übersetztes alchemistisches Buch zum Abschreiben und erläutert ihm die dunklen Aussagen Dabei geht es unter anderem um die Schöpfung des Menschen als Mikrokosmos und um die Herstellung des Elixiers Der Mensch sei der Sitz des Verstands (ʿaql) und vereine in sich alles, was im Universum und in der Welt des Werdens und Vergehens an Himmelssphären, Planeten, Elementen, Mineralien, Pflanzen, Tieren geschaffen sei 79 Er enthalte in sich etwas, das die gesamte Arznei und die sieben Metalle vereine und sich zur Präparation des Elixiers eigne 80 Dieser wertvolle Bestandteil wird allerdings nicht verraten Dafür werden vier Körperbestandteile genannt, nämlich Haare, Blut, Galle und Knochen, von denen einer der gemeinte Ausgangsstoff für das Elixier sein soll 81 Auf Nachfrage von Ibn Waḥšiyya führt al-Qamarī weitere Argumente an, die belegen sollen, dass der erstrebte Stoff im Menschen zu suchen sei 82 So könne das Elixier, durch die ihm innewohnende Seele, Körper in andere verwandeln Diese Seele zeichne sich allerdings durch ihre Temperiertheit (iʿtidāl) aus und stelle das lenkende (mudabbira) und schaffende (mukawwina) Prinzip bei der alchemistischen Präparation dar Sie sei am ehesten beim Menschen zu finden, weil der lebendige Geist (rūḥ ḥayya) in ihm wohne und weil sein Körper dem temperierten Zustand am nächsten stehe Daher müsse die Präparation des Elixiers von einem Stoff im menschlichen Körper ausgehen Was auch immer nun als Ausgangstoff genommen werden sollte, menschliche Haare genossen eine besondere Stellung in der Alchemie und wurden bei mehreren Präparationsmethoden zur Herstellung des Steins der Weisen in verschiedenen alchemistischen Werken erwähnt Als Beispiel diene eine Rezeptur aus ʿIzz al-Dīn Aydamīr al-Ǧildākīs (gest ca 1342) Werk Kitāb at-Taqrīb fī asrār at-tarkīb (Erläuterung der Geheimnisse der Präparation): Man nehme schwarze Haare – am besten von einem jungen Mann, weil die gelbe Galle äußerlich bei ihm überwiegt –, wasche sie mit Wasser und Salz und trockne sie Man lege sie in schwere gläserne Gefäße, füge scharfes Wasser [Salzsäure und Salpetersäure, N B ] hinzu, das diejenigen [Alchemisten] extrahieren, die im Besitz der animalischen Steine sind oder die davon ausgehen, dass der Stein aus Tieren [zu präparieren] sei Also überschüttet man [die Haare] mit diesem Wasser, vergräbt die Gefäße in der Erde und schaut wöchentlich nach, bis sich die Haare komplett aufgelöst haben, ohne jegliches Sediment zu hinterlassen Die Haare werden nämlich während der Tage der Putrefaktion zu einer

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basiert auf der Handschrift der Forschungsbibliothek Gotha, Ms orient A 1162, die im Februar 1592 kopiert wurde Braun, Sidrat al-muntahā, S 74–75, 114–116 Braun, Sidrat al-muntahā, S 77–78, 118–119 Braun, Sidrat al-muntahā, S 78, 119 Braun, Sidrat al-muntahā, S 89–90, 134

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wässrigen Flüssigkeit, die sich mit dem [scharfem] Wasser [vermischt] und pechschwarz wie die Nacht aussieht Diese [Alchemisten] sagen, dass es sich dabei um die erste Schwärzung handelt Danach montieren sie [auf den gläsernen Gefäßen] einen Alembik (al-qurāʿ al-ʿamī) und destillieren [die Lösung] Sie erhalten ein wässriges weißliches Destillat und anschließend ein rotes öliges [Destillat] Sie extrahieren das Öl gründlich, bis keine Spuren davon im Sediment (ṯifl) übrig bleiben Dann sublimieren sie es [das Sediment] Das weiße Ammoniaksalz (nušādar) scheidet aus, und das Sediment wird zu Asche [caput mortuum] Einige behaupten, dass diese Asche die Erde sei, in die sie ihre Samen pflanzen, dass sie [die Alchemisten] sie [die Erde] weiß machen und kalzinieren müssten, und dass sie das Elixier erhalten, wenn sie das, was sie von ihr [der Erde] abgeschieden haben, der Erde [caput mortuum] wieder hinzufügen Andere sagen: ‚Diese Erde ersetzen wir durch mineralische Erde, weichen sie wiederholt ein und begießen sie mit unseren [destillierten] Wässern und Ölen, bis wir das Elixier erhalten “83

Die Präparation besteht also in einer Vermischung der Haare mit Salz, Hydrolyse mit einer Säure und Trennung der Reaktionsprodukte durch Destillation und Sublimation Haare bestehen zu 90 % aus Proteinen, den sogenannten Keratinen,84 diese wiederum aus Aminosäuren – das sind organische Verbindungen mit einer Aminogruppe (NH4+) und einer Karbonsäuregruppe (CO2–) – die zu Peptidketten mit spiraliger Struktur (Helix) verbunden sind Diese Spiralen sind als Filamente angeordnet, die sich wiederum zu Makrofibrillen zusammenfügen 85 Die Haarfarbe entsteht durch polymere Verbindungen, die sogenannten Melanine Bei braunem und schwarzem Haar dominiert das Pigment Eumelanin, das der Körper aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert 86 Außerdem enthält die äußere Schicht von Haaren, die Cuticula, Lipide wie Fette, Fettsäuren, Sphingolipide und Steroide 87 Unter Berücksichtigung des biochemischen Aufbaus der Haare wird nun eine Erklärung der alchemistischen Prozesse gewagt, wobei eigentlich nur eine experimen83

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ʿIzz al-Dīn Aydamīr b ʿAlī b Aydamīr al-Ǧildākī: Kitāb at-Taqrīb fī asrār at-tarkīb Süleymaniye-Bibliothek, Hacι Mahmud Efendi 6225, fol 86r–86v: ‫رأيت للقوم تدابير كثيرة في الشعر لم يعلم الجهال ما المقصود بها فأما تدبيره على الوجه المناسب لألمر الطبيعي فانه‬ ‫ينبغي لمن رام ذلك أن يجمع الشعر االسود وان كان من الشاب فهو أولى لغلبة المرار األصفر على ظواهرهم اذ ذاك‬ ‫فيغسل بالماء والملح ويجفف ويعمل في أواني من زجاج ثقيلة ويغمر بالماء الحاد الحريف الذي يستخرجونه أصحاب‬ ‫األحجار الحيوانية ومن يقول ان الحجر في الحيوان ويغمرونه من الماء المذكور ويجعلونه في الدفن ويفتقدونه في كل‬ ‫اسبوع إلى أن يتم انحالله في الماء من غير رسوب البتة ألنه يصير ما ء في الماء في مدة أيام تعفينهم فانه يصير كالليل‬ ‫في سواده البهيم وعند هؤالء انه التسويد األول ثم يركبون عليه القراع العمى ويستقصون في إخراج الدهن االستقصاء‬ ‫التام إلى أن ال يبقى من الدهن في الثفل شيئا البتة ثم يصعدونه بعد ذلك فيخرج النوشادر األبيض ويبقى الثفل رمادا‬ ‫وبعضهم زعموا ان هذا الرماد هو أرضهم التي يزرعون وانها تحتاج إلى تبييض وتكليس وانهم يردون ما فصلوه منها‬ ‫ وبعضهم قالوا ال بل نتعوض عن هذه األرض بأرض معدنية وال نزال نشمعها ونسقيها بما‬.‫إليها وقد تم لهم االكسير‬ ‫عندنا من المياه واألدهان إلى أن يتم لنا االكسير‬ Vgl Joachim Rassow [u a ]: Biochemie 3 Aufl Stuttgart 2012, S 62–67, 136–149 Vgl Rassow: Biochemie, S 384 Vgl Rassow: Biochemie, S 160, 136–149 Vgl Rassow: Biochemie, S 328–345

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telle Reproduktion der von al-Ǧildākī beschriebenen Prozedur im Zusammenhang mit einer Analyse der Reaktionsprodukte der Synthese sichere Ergebnisse verspräche und daher ein dringendes Forschungsdesiderat darstellt Bei der Putrefaktion der Haare mit scharfem Wasser, also einer Säurelösung, werden die Keratine durch Abbau der Peptidbindung zu Aminosäuren hydrolysiert Diese werden ihrerseits in Abhängigkeit von der Konstruktion der jeweiligen Aminosäure zu organischen Säuren und zu Ammoniak abgebaut Die Lipide und Melanine müssen auch einem Abbauprozess durch die Säure unterlegen haben, so dass kurzkettige Fettsäuren entstehen Das entstandene Ammoniak (NH4OH) reagiert mit dem Salz (NaCl) zu Ammoniaksalz (NH4Cl) Nach der Beschreibung von al-Ǧildākī entstehen drei Ausscheidungsprodukte: ein wässriges Destillat, ein rotes öliges Destillat und das Ammoniaksalz 88 Das wässrige Destillat sei ein scharfes Wasser (māʾ ḥirrīf), das bestimmte okkulte Eigenschaften (ḫawāṣṣ) aufweist, welche allerdings nur die wahren Alchemisten kennen würden Außerdem werde es von Alchemisten bei der Verarbeitung und Färbung von Borax-Arten (bawāriq) verwendet 89 Es muss sich also um eine Säuremischung handeln Das ölige Destillat verarbeite man mit dem wässrigen Destillat weiter, sodass seine Brennbarkeit (iḥtirāq) beseitigt werde Danach könne das Produkt mit mineralischen Spiritus vermischt werden, damit nützliche Stoffe entstünden 90 Das ölige Destillat muss also die Abbauprodukte von Lipiden und Melaninen enthalten Das Ammoniaksalz sei wirksamer als das mineralische und werde von Alchemisten für Reinigung (tanqiya), Spülung (ġasl), Einweichung (talyīn), Ausfällung (ʿaqd) und weitere nützliche Zwecke verwendet 91 Al-Ǧildakī rät allerdings von der Weiterverarbeitung der Erde, dem caput mortuum, ab, da sie nutzlos sei Das wässrige Destillat, das rote ölige Destillat und das Ammoniaksalz seien alles, was man aus der Präparation der Haare erhalten könne 92 Eine Weiterverarbeitung der Erde beschreibt dagegen Ǧābir b Ḥayyān in seiner oben zi88 89 90

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Al-Ǧildākī: Kitāb at-taqrīb, fol 86v: ‫وبالجملة ان خالصة ما في الشعر الثالثة اركان المفصلة منه الماء ثم الدهن ثم النوشادر وأما ارضه فال وأبيك انها لم‬ ‫تكن اال رماداً ال ينتفع بها البته‬ Al-Ǧildākī: Kitāb at-taqrīb, fol 86v: ‫واما الماء فهو ماء حريف له خواص يعلمها أهل الحق من الحكماء وان له لفعل وهو داخل في البوارق التي يصبغها‬ ‫الحكماء لمقاصدهم‬ Al-Ǧildākī: Kitāb at-taqrīb, fol 86v: ‫وأما الدهن فان له تدبير على انفراده الى ان يزول احتراقه وال يزول احتراقه عند معتقديه اال بمائه فانه اذا تكرر عليه‬ ‫في التقطير أفاد االنسباك وزوال االحتراق فاذا انتهى الى هذه الدرجة فاه ان مازج االرواح المعدنيه بواسطة او بغير‬ .‫واسطة أماذ نفعا‬ Al-Ǧildākī: Kitāb at-taqrīb, fol 86v: ‫واما النوشادر المستخرج منه انه ابلغ قوة من النوشادر المعدني ومن النوشادر المصنوع من االثفال المستخرجة من‬ ‫روايح الحمامات ويستعمله الحكماء لمصالحهم وفيه تنقيه وغسل وتليين وعقد ومنافع شتى‬ Al-Ǧildākī: Kitāb at-taqrīb, fol 86v: ‫وبالجملة ان خالصة ما في الشعر الثالثة اركان المفصلة منه الماء ثم الدهن ثم النوشادر وأما ارضه فال وأبيك انها لم‬ ‫تكن اال رماداً ال ينتفع بها البته‬

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tierten Vorschrift, wobei hier nicht auf die komplizierte, mehrstufige und nicht in allen Schritten verständliche Prozedur eingegangen werden kann Ǧābir zufolge verarbeite man das animalische Material zuerst, sodass Wasser (māʾ), Öl (duhn) und Geist (nār), gemeint ist wohl das Ammoniaksalz, extrahiert werden Danach reinige man die Erde (arḍ) und kalziniere sie, bis sie weiß werde Anschließend nehme man Quecksilber (ziʾbaq ḥayy), weißen Schwefel (kibrīt mubayyaḍ), Kupfer (nuḥās), Grünspan (zinǧār) und Gold (ḏahab) und vermische jeden Bestandteil mit einem der zuvor erhaltenen Extrakte und lasse die Zwischenprodukte nach einem ausführlich beschriebenen Schema miteinander reagieren 93 Am Ende erhalte man das Elixier, das schwere Augenentzündungen, Lähmung, Lepra und Fieber sofort heile sowie Kupfer, Eisen, Silber und sämtliche Metalle im Verhältnis 1 zu 1000 in Gold verwandele 7 Religiöse Aspekte und islamrechtliche Bestimmungen zum menschlichen Haar Die Verwendung von Haaren wurde, wie oben gezeigt, in medizinischen, alchemistischen und magischen Werken beschrieben Inwieweit Haare tatsächlich im Alltag zur Heilung eingesetzt, in alchemistischen Verfahren verarbeitet oder zur Verrichtung von magischen Praktiken verwendet wurden, kann anhand der uns derzeit zur Verfügung stehenden Quellen nicht beantwortet werden Im Folgenden soll jedoch ein Aspekt erläutert werden, der die Verwendung menschlichen Haars eingeschränkt haben könnte, nämlich religiöse und islamrechtliche Bestimmungen zum menschlichen Körper 94 Das arabische Wort für Haar (šaʿr) kommt im Koran, in Vers 80 in Sure 16 vor: Und Gott hat euch aus euren Häusern eine Stätte der Ruhe (oder: eine Wohnstätte) gemacht Und aus der Haut der Herdentiere [anʿām] hat er euch Zelte gemacht, die ihr, wenn ihr (von einem Lagerplatz) aufbrecht, und wenn ihr haltmacht, leicht handhaben könnt (w leicht an Gewicht findet), und aus ihrer Wolle [aṣwāf Sg. ṣūf], ihrem Fell [awbār Sg. wabar] und ihrem Haar [ašʿār Sg šaʿr] Gegenstände für den täglichen Gebrauch, und (das alles hat er euch) zur Nutznießung auf eine (beschränkte) Zeit (überlassen) 95

Šaʿr kennzeichnet im Allgemeinen „das, was aus einem Körper herauswächst, was weder Wolle (ṣūf) noch Fellhaar (wabar) ist, sei es zum Menschen gehörig oder nicht“ 96

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Ǧābir b Ḥayyān: K al-arkān, fol 23v Ǧābir b Ḥayyān: K al-arkān, fol 24v

Koran, Parets Übersetzung, S 192 Muḥammad b Mukarram b ʿAlī Abū l-Faḍl Ǧamāl ad-Dīn Ibn Manẓūr (1233– ca 1311): Lisān al-ʿarab 15 Bde Beirut 1993, Bd IV, S 410

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Die Tiere, deren Fellhaare als šaʿr bezeichnet werden, sind nach einhelliger Meinung der Koranexegeten die Ziegen (maʿz) 97 Nach Auskunft arabischer Wörterbücher kommen auch Böcke (tays),98 Stuten (faras),99 Pferde (ḫayl)100 und Kühe (baqar)101 in Frage Jedenfalls bezieht sich die koranische Stelle nicht auf das menschliche Haar Das islamische Recht kennt dagegen – basierend auf der Prophetentradition – detaillierte Bestimmungen zum menschlichen Haar Einerseits wird die Haarpflege bei der Auslegung der Taten und Worte des Propheten (Sg ḥadīṯ) über die Praktiken behandelt, die als Allgemeingut bei allen Propheten gelten (ḫiṣāl al-fiṭra) In einer Version handelt es sich um fünf Praktiken: Beschneidung (ḫitān), Rasieren der Schamhaare (istiḥdād), Nägelschneiden (taqlīm al-aẓāfir), Zupfen der Haare der Achselhöhle (natf al-ibṭ) und Schneiden des Schnurrbarts (qaṣṣ aš-šārib) 102 In einer weiteren Version geht es um zehn Praktiken: Neben den bereits erwähnten zählen dazu noch Wachsenlassen des Bartes (iʿfāʾ al-liḥya), Reinigung der Zähne mit Miswāk (siwāk), Nasenspülung durch Einsaugen von Wasser (istinšāq al-māʾ), Reinigung mit Wasser nach Ausscheidungen (intiqāṣ al-māʾ) und Gurgeln (maḍmaḍa) 103 Hierbei werden Themen wie Schneiden, Zupfen, Waschen, Pflegen, Färben von Haaren ausführlich erklärt 104 Außerdem werden ausführliche Bestimmungen zum Umgang mit Haaren von Verstorbenen erläutert Darunter sind Angaben zu Fragen wie der, ob das Schneiden von Kopfhaaren männlicher Toter oder das Rasieren ihres Schnurr- oder Kinnbarts zulässig sei, wie die Haare einer weiblichen Toten frisiert und auf die Leiche gelegt werden, und ob das Rasieren der Körperhaare von Verstorbenen, seien es Scham- oder Achselhaare, zulässig sei 105 Trotz minimaler Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsschulen ist ein Konsens bezüglich der Argumentation und Betrachtung festzustellen Der hanbalitische Kairener Rechtsgelehrte al-Buhūtī (ca 1591–1641) schreibt in seinem rechtstheoretischen Werk Kaššāf al-qināʿ ʿan matn al-iqnāʿ (Entschleierung des überzeugenden Textes): „Haare sind ein Teil des Körpers des Verstorbenen, genau wie

Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (1149–1209) schreibt in at-Tafsīr al-kabīr, dass aṣwāf sich auf Schafe (ḍaʾn), awbār auf Kamelen (ibil) und ašʿār auf Ziegen (maʿz) beziehen Vgl Abū ʿAbdallāh Muḥammad b ʿUmar b al-Ḥasan b al-Ḥusayn Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, at-Tafsīr al-Kabīr 3 Aufl Beirut 1999, Bd XX, S 253 98 Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, Bd IV, S 411 99 Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿarab, Bd IV, S 411 100 Abū l-Ḥasan ʿAlī b Ismāʿīl Ibn Sīdah, al-Muḫaṣṣaṣ, hg v Ḫalīl Ibrāhīm Ǧaffāl 5 Bde Beirut 1996, Bd II, S 91 101 Ibn Sīdah: al-Muḫaṣṣaṣ, Bd II, S 263 102 Abū Zakariyā Muḥyī d-Dīn Yaḥyā b Šaraf An-Nawawī: Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim 2 Aufl 18 Bde Beirut 1972, Bd 3, S 146 103 An-Nawawī: Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim, Bd 3, S 147 104 An-Nawawī: Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim, Bd 3, S 149 105 Vgl An-Nawawī: Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim, Bd 7, S 3–4; Al-Buhūtī: Kaššāf al-qināʾ, Bd 2, S 96–97; Ar-Ramlī: Nihāyat al-muḥtāǧ, Bd 2, S 454–455 97

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eines seiner Organe “106 Wenn Haare beim Waschen des Toten ausfielen, müsse man sie einsammeln und zum Toten zurücklegen, sodass sie mit ihm begraben würden 107 Auch bei lebenden Menschen sollten Haare nach dem Schneiden begraben werden 108 Der ebenfalls in Kairo lebende schafiitische Rechtsgelehrte Šams ad-Dīn ar-Ramlī (ca 1511–1595) verbietet in seinem rechtstheoretischen Werk Nihāyat al-muḥtāǧ ilā šarḥ al-minhāǧ (Begehren des Bedürftigen zur Erklärung der Methodik) das Schneiden von Haaren und Nägeln bei der Waschung des Toten,109 weil „die Körperteile des Verstorbenen mit Würde und Achtung behandelt werden müssen“,110 es sei denn, dass die Haare dermaßen verschmutzt seien, dass sie bei der Leichenwaschung kein Wasser bis zu den Haarwurzeln gelangen ließen, etwa wenn sie mit geronnenem Blut bedeckt seien 111 Haare von Menschen gelten im islamischen Recht als rein (ṭāhir), gleich ob es sich um die Haare eines lebendigen oder eines toten Menschen handelt So schreibt der andalusische Rechtsgelehrte malikitischer Ausrichtung Abū ʿAbd Allāh al-Qurṭubī (1214–1272) in seiner Koranexegese al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān (Sammlung der Bestimmungen des Korans): „Die Haare von Menschen (Söhnen Adams) sind rein Alle andere Haare sind dagegen unrein“ 112 Der Schafiit ar-Ramlī schreibt übereinstimmend in seinem Nihāyat al-Muḥtāǧ: „Der menschliche Körper ist rein, selbst wenn es sich um den Körper eines Ungläubigen handelt, aufgrund von Gottes Wort ‚Wir ehrten die Söhne Adams’“113 Nichtsdestotrotz dürfen Menschenhaare wegen der Unantastbarkeit des menschlichen Körpers (ḥurma) nicht genutzt werden So schreibt der hanbalitische Rechtsgelehrte al-Buhūtī: „Man darf keine Menschenhaare nutzen, obwohl sie als rein eingestuft sind, wegen ihrer Unantastbarkeit d h wegen der ihnen [gebührenden] Achtung“ 114 Die Verwendung des eigenen Haars ist allerdings umstritten Dies wird bei der Auslegung des folgenden Hadiths deutlich: „Möge Gott diejenige [Frau] verfluchen, die ihre Haare verlängert (wāṣila) oder um ihre Verlängerung bittet (mustawṣila) “115 Den 106 Manṣūr b Yūnis b Ṣalāḥ ad-Dīn b Ḥasan b Idrīs al-Buhūtī: Kaššāf al-qināʾ ʿan matn al-iqnāʿ 6 Bde [N N Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya] 1983 Bd 2, S 97: ‫الشعر جزء من الميت كعضو من أعضائه‬ 107 Vgl Al-Buhūtī: Kaššāf al-qināʾ, Bd 2, S 96–97 108 Vgl Al-Buhūtī: Kaššāf al-qināʾ, Bd 2, S 96–97 109 Šams ad-Dīn Muḥammad b Abī l-ʿAbbās Aḥmad b Ḥamza Šihāb ad-Dīn ar-Ramlī: Nihāyat almuḥtāǧ ilā šarḥ al-minhāǧ 8 Bde Beirut 1984, Bd 2, S 454: ‫[الميت] ال يؤخذ شعره وظفره‬ 110 Ar-Ramlī: Nihāyat al-muḥtāǧ, Bd 2, S 454: ‫أجزاء الميت محترمة‬ 111 Ar-Ramlī: Nihāyat al-muḥtāǧ, Bd 2, S 455 112 Abū ʿAbdallāh Muḥammad b Aḥmad b Abī Bakr b Faraḥ al-Anṣārī al-Ḫazraǧī Šams ad-Dīn AlQurṭubī: al-Ǧāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān wa-l-mubayyin li-mā taḍammana min as-sunna wa-āyāt al-furqān [Das Werk, das die Bestimmungen des Korans umfasst und die Inhalte von Prophetentradition und Koransuren erläutert], hg v Aḥmad al-Bardūnī, Ibrāhim Aṭfīš 20 Bde 2 Aufl Kairo 1964, Bd 10, S 155: ‫شعر ابن آدم طاهر وما عداه نجس‬ 113 Ar-Ramlī: Nihāyat al-muḥtāǧ, Bd 1, S 238: ‫اآلدمي طاهر ولو كافرا لقوله تعالى ولقد َك َّر ْمنا بَني آدم‬ 114 Al-Buhūtī: Kaššāf al-qināʿ, Bd 1, S 57: ‫ال يجوز استعمال شعر اآلدمي مع الحكم بطهارته لحرمته أي احترامه‬ 115 Al-Buḫārī: Ṣaḥīḥ, Bd 7, S 165: ‫لعن هللا الواصلة والمستوصلة‬

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meisten Koranexegeten zufolge ist die Verwendung vom eigenen Haar als künstliche Strähnen zulässig, jedoch ist der Einsatz von Haaren eines anderen Menschen oder von unreinen Haaren, d h Haaren von unreinen oder verendeten Tieren, verboten 116 Nach dem hanafitischen Rechtsgelehrten Ibn ʿĀbidīn (1783–1836) ist sogar die Verwendung eigener Haare verboten 117 Haare sollen also als Körperteil genauso respektvoll wie der intakte menschliche Körper behandelt und nach einer Trennung vom toten oder noch lebenden Körper mit diesem begraben werden 118 Die Trennung der Haare vom Körper macht folglich die menschlichen Haare nicht zu einem leblosen Ding Sie hebt noch nicht einmal die Zuordnung zu einer ganz bestimmten Person auf Dies ist an einer Bestimmung zu abgetrennten Körperbestandteilen abzulesen Nach hanafitischer Rechtsschule ist der Anblick von Haaren einer fremden Frau verboten, selbst wenn ihre Haare abgeschnitten und von ihrem Körper getrennt sind So erläutert al-Ḫaṭīb at-Tamurtāšī (gest 1596) in seinem Tanwīr al-abṣār (Beleuchtung der Blicke) bei den Bestimmungen zum Anblick von fremden Frauen oder fremden Männern (naẓar): „Jedes Körperorgan, das man vor der Trennung [vom Körper] nicht anblicken darf, darf man auch danach [nach der Trennung vom Körper] nicht anblicken “119 Diese Aussage bezieht sich zwar explizit auf Körperorgane (ʿuḍw), aber wie oben erläutert werden Haare wie Körperorgane betrachtet Der damaszenische hanafitische Rechtsgelehrte Al-Ḥaṣfakī (1616–1677) geht in seinem Kommentar ad-Durr al-muḫtār (die erlesene Perle) zu Tamurtāšīs Werk genau auf diese Stelle ein und ergänzt: „Selbst nach dem Tod [darf ein Mann die Haare einer ihm verbotenen Frau] nicht anblicken, gleich ob es Scham- oder Haupthaare sind “120 Rechtsgelehrte forderten also in rechtstheoretischen Werken dazu auf, das menschliche Haar mit dem gleichen Respekt und der gleichen Würde zu behandeln, die auch einem Körperorgan entgegengebracht werden müsse Dadurch verboten sie die Verarbeitung von menschlichem Haar, gleich ob es von lebendigen oder toten Menschen stammt Andererseits werden menschliche Haare in medizinischen, alchemistischen und magischen Schriften für mehrere Zwecke angepriesen Diese Diskrepanz zwischen islamrechtlicher Normativität und realer Praxis tritt in anderen Gebieten ebenfalls auf,

Vgl Al-Buhūtī: Kaššāf al-Qināʾ, Bd 1, S 82; An-Nawawī: Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim, Bd 14, S 103 Nach Ibn ʿĀbidīn ist die Verwendung eigener Haare auch verboten 117 Vgl Muḥammad Amīn b ʿUmar b ʿAbd al-ʿAzīz ʿAbidīn ad-Dimašqī al-Ḥanafī Ibn ʿĀbidīn: Radd al-muḥtār ʿalā ad-Durr al-Muḫtār, am oberen Seitenrand ist das Werk ad-Durr al-Muḫtār von alḤaṣafakī gedruckt 6 Bde 2 Aufl Beirut 1992, Bd 6, S 372–373 118 Al-Buhūtī: Kaššāf al-Qināʾ, Bd 1, S 82; An-Nawawī: Šarḥ Ṣaḥīḥ Muslim, Bd 14, S 103 119 Ibn ʿĀbidīn: ad-Durr al-Muḫtār, Bd 6, S 371: ‫كل عضو ال يجوز النظر إليه قبل االنفصال ال يجوز بعده‬ 120 Ibn ʿĀbidīn: ad-Durr al-Muḫtār, Bd 6, S 371: ‫ ولو بعد الموت كشعر عانة وشعر رأسها‬Die schafiitische Schule vertritt ebenfalls diese Meinung, allerdings unter der Voraussetzung, dass die getrennten Teile sichtbar als von einer Frau stammend zu erkennen sind Vgl An-Nawawī: Rawḍat aṭ-ṭālibīn, Bd 7, S 26 116

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wie etwa beim Sklavenkauf In ihrer Studie Purchasing a Slave in Fourteenth-Century Cairo weist Barker auf den Widerspruch zwischen medizinischen und rechtlichen Bestimmungen zur Prüfung von Sklaven auf dem Sklavenmarkt hin 121 Während medizinische Ratgeber die Inspektion der Schamgegend empfahlen, waren die islamrechtlichen Werke wegen der Unantastbarkeit des menschlichen Körpers (ḥurma) strikt dagegen Jedoch zeigen mehrere Reiseberichte, dass auf Sklavenmärkten des 15 Jahrhunderts eher die in medizinischen Handbüchern empfohlene Vorgehensweise praktiziert wurde 122 Die Diskrepanz zwischen islamrechtlichen Normen und alltäglicher Anwendung kann allerdings auf mehrere Arten überbrückt werden Dazu zählen die Rechtsprinzipien der ‚Berücksichtigung allgemeinen Nutzens‘ (istiṣlāḥ) und der ‚Notwendigkeit‘ (ḍarūra) 123 Bei istiṣlāḥ gehen Rechtsgelehrte davon aus, dass die Rechtsordnung dem Nutzen der Menschen dienen und dementsprechend an veränderte Lebensbedingungen angepasst werden soll, damit die fünf Güter: Religion, Person, Verstand, Nachwuchs und Vermögen geschützt bleiben 124 Bei ḍarūra wird eine bestimmte Rechtsvorschrift in Notsituationen aufgehoben Als Beispiel dient der zweite Kalif ʿUmar b al-Ḫaṭṭāb (gest 644), der seinen Soldaten während einer Schlacht erlaubte, Nahrungsmittel zu stehlen, damit sie nicht Hungers stürben 125 In der Medizin werden diese beiden Instrumente zur Legalisierung unterschiedlicher Praktiken herangezogen, wie etwa Sektion oder Weinkonsum 126 Allerdings habe ich in den von mir untersuchten Rechtstexten keinen expliziten Hinweis auf die Zulässigkeit der Verwendung menschlichen Haars für medizinische Zwecke gefunden

Hannah Barker: Purchasing a Slave in Fourteenth-Century Cairo: Ibn al-Akfānī’s Book of Observation and Inspection in the Examination of Slaves, in: Mamluk Studies Review 19 (2016), S 1–24 122 Barker: Purchasing a Slave, S 17 123 Vgl Mathias Rohe: Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart München 2011, S 66–67 124 Vgl Rohe: Das islamische Recht, S 66; Majid Khadduri: Maṣlaḥa, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http://dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_5019 (20 01 2019) 125 Vgl Rohe: Das islamische Recht, S 67; Louis Gardet: Iḍṭirār, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http://dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_3496 (20 01 2019); Y Linant de Bellefonds: Ḍarūra, in: 2Encyclopaedia of Islam Online Version 2012 URL: http:// dx doi org ezproxy uzh ch/10 1163/1573-3912_islam_SIM_1730 (20 1 2019); 126 Vgl Birgit Krawietz: Body in law, in: Kate Fleet, Gudrun Krämer, Denis Matringe [u a ] (Hg ): Encyclopaedia of Islam, Three Online Version 2012 URL: http://dx doi org/10 1163/1573-3912_ei3_ COM_23722 (04 12 2018); Birgit Krawietz: Die Ḥurma: schariatrechtlicher Schutz vor Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit nach arabischen Fatwas des 20 Jahrhunderts Berlin 1991, S 116– 147 Zwar bilden Fatwas aus dem 20 Jahrhundert den Gegenstand von Krawietz’ Untersuchung, jedoch beziehen sich die darin aufgeführten Argumentationen und Präzedenzfälle z T auch auf ältere Rechtstexte 121

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8 Zusammenfassung Menschliche Haare wurden wegen ihres stechenden und stimulierenden Geruches als Räucherung und wegen ihrer trocknenden Eigenschaften als Asche medizinisch eingesetzt Dabei führten Autoren die Wirkung auf die okkulten Eigenschaften (ḫawāṣs) der Haare zurück Außerdem wurden Haare wegen ihrer mechanischen Festigkeit und Elastizität bei einfachen chirurgischen Eingriffen als Faden verwendet Die Vorstellung von der Fernwirkung okkulter Eigenschaften oder von der fortdauernden Verbindung, die zwischen Haaren und der zugehörigen Person bestand, führte zu magischen Indikationen, die von Liebeszaubern bis zur Heilung durch das Tragen von Haaramuletten reichen In der Alchemie fanden Haare zur Herstellung von Ammoniaksalz, das medizinisch und verfahrenstechnisch genutzt wurde, und des Steins der Weisen Verwendung Alchemisten waren sich allerdings nicht einig darüber, aus welchen Materialien der Stein der Weisen zu präparieren sei Einige waren Verfechter des mineralischen Ursprungs, andere des animalischen, wieder andere des vegetativen Ursprungs, und eine weitere Gruppe vertrat die Meinung, dass bei der Präparation des Steins der Weisen Stoffe aus allen drei Naturreichen beteiligt sein sollten Den Vertretern des animalischen Ursprungs zufolge mussten die Ausgangsstoffe zur Präparation des Steins der Weisen im menschlichen Körper zu finden sein, denn der Mensch wurde als Mikrokosmos betrachtet, welcher den gesamten Makrokosmos in sich vereine Ausserdem galt er als edelste Kreatur Allerdings gingen unter Alchemisten die Meinungen darüber auseinander, aus welchem Bestandteil des Menschenkörpers der Stein der Weisen zu präparieren sei Einige waren der Meinung, dass der Ausgangsstoff für die Präparation des Elixiers das menschliche Haar sei Die Verwendung menschlichen Haars ist in medizinischen, alchemistischen und naturmagischen Werken dokumentiert Allerdings verfassten Rechtsgelehrte Gutachten oder Kommentare, in denen sie dazu aufriefen, menschliches Haar mit ebenso viel Respekt und Würde zu behandeln, wie sie einem Körperorgan entgegengebracht werden müssten Dementsprechend verbieten solche Vorschriften die Verarbeitung von menschlichem Haar, ob es nun von lebendigen oder toten Menschen stammt Inwieweit diese Rechtsbestimmungen angewendet wurden oder nur theoretische Konstruktionen darstellten, die etwa durch Analogieschluss entstanden und den Kreis der Rechtsgelehrten nicht verließen, muss durch Untersuchung eines umfassenderen Textkorpus weiter verfolgt werden Der Stellenwert der Haare in Hinblick auf ihrer Personenbezogenheit steht ganz deutlich in Abhängigkeit vom Kontext Einerseits wurden Haare als lebloses Material betrachtet, andererseits als Verkörperung des Menschen, zu dem sie gehörten In religiösen und magischen Kontexten oder in der Traumdeutung standen Haare pars pro toto für ihren Besitzer Sie behielten diese Identität selbst nach seinem Tod oder nach der Trennung von seinem Körper In medizinischen und alchemistischen Kontexten wur-

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den sie dagegen in ihrer Materialität betrachtet Diese wies im medizinischen Kontext bestimmte okkulte Eigenschaften auf, welche Ärzte zur therapeutischen Verwendung nutzen konnten, die jedoch in keinem Zusammengang mit dem Besitzer der Haare standen In der Alchemie wurden Haare mit dem Menschen in Verbindung gebracht, aber nicht als Individuum, sondern als Mikrokosmos, und daher zur Präparation des Steins der Weisen herangezogen Dr Natalia Bachour Pharmaziehistorikerin und Wiss Mitarbeiterin am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich

Eidechsenöl, Fledermaushirn, Bärenschmalz und Taubenkot Haarpflege als Körper-, Medizin- und Materialwissen im 16. und 17. Jahrhundert Stefan Hanß* Zusammenfassung: Der Beitrag erforscht die Geschichte der Haarpflege im 16 und frühen 17 Jahrhundert anhand deutschsprachiger Quellen, darunter Medizintraktate und Physiognomieabhandlungen, vor allem aber Rezeptsammlungen, Kräuterbücher, botanische und zoologische Traktate sowie sogenannte Kunst- und Probierbüchlein Haare angemessen zu pflegen, zu färben und zurechtzumachen stellte, so die These, ein umfangreiches Materialwissen dar, das einen zentralen Bestandteil einer frühneuzeitlichen Praxeologie des Selbst bildete Die Pflege des Kopf- und Gesichtshaares wird als ein Repertoire an Körperpraktiken untersucht, das sich aus reichhaltigen frühneuzeitlichen Wissensreservoirs um die Temperaturen- und Temperamentenlehre speiste, die Haare, Körper, Pflanzen, Tiere, die Umwelt und den Kosmos verbanden Frühneuzeitliches Haarpflegewissen ist als ein performatives Körper-, Medizin- und Materialwissen zu verstehen, das traditionell separat gedachte historiografische Untersuchungsbereiche wie die materielle Kultur, Körper-, Medizin- und Umweltgeschichte sowie die Geschichte von Personenkonzepten verbindet Abstract: This chapter charts the history of hair care in sixteenth- and seventeenth-century Germany drawing on a rich documentation of medical, physiognomic, and botanical treatises, as well as recipes and manuals on herbs and animals Material knowledge about how to cure, dye, or do one’s hair, I argue, was a crucial element of the everyday praxeology of the early modern self Hair care was anchored in a broader early modern understanding of temperatures and matters which linked the physical materiality of the body–and hair in particular–with the broader material world of plants, animals, the environment, *

Die vorliegende Studie ist Bestandteil meines umfangreicheren Buchprojekts Hair, Social Order and Cultural Encounters in the Habsburg World, das der Leverhulme Trust großzügig mit einem Philip Leverhulme Prize unterstützt

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and the wider cosmos Conceptualising early modern hair care as everyday performative knowledge, thus, calls for a combined study of the history of the body, material culture, the history of medicine, environmental history, and the history of the self

1 Frühneuzeitliche Haarpflege als Handlungswissen Es ist bereits andernorts auf die Haarliteralität der Frühen Neuzeit hingewiesen worden: Akteure konnten durch Haare Status, Stand, Alter, Geschlecht, Gruppenzugehörigkeiten und Personenkonzepte verschiedenster Art zum Ausdruck bringen und zur Verhandlung stellen Die Bedeutsamkeit der Haarpflege in „haarkundigen Gesellschaften“ des 16 und 17 Jahrhunderts ist daher zwar anzunehmen, bisher jedoch nicht umfänglich untersucht worden 1 Deshalb steht die Haarpflege im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation des 16 und frühen 17 Jahrhunderts im Mittelpunkt dieses Beitrags Die Pflege des Kopf- und Gesichtshaares wird als ein Repertoire an Körperpraktiken untersucht, das sich aus reichhaltigen frühneuzeitlichen Wissensreservoirs speiste Haarpflege, so die zentrale These dieses Beitrages, ist als frühneuzeitliches Körper-, Medizin- und Materialwissen zu verstehen, das traditionell separat gedachte historiografische Untersuchungsbereiche wie die materielle Kultur, Körper-, Medizinund Umweltgeschichte verbindet Wie bereits in meinen Studien zu Bärten und „Bartakteuren“ der Renaissancezeit gebrauche ich das methodische Konzept des face-work aus Erving Goffmans soziologischen Arbeiten zu Interaktionsritualen, um frühneuzeitliche Haarpraktiken als situationsspezifisch aktualisier- und verhandelbares Handlungswissen zu untersuchen 2 Frühneuzeitliche Haarpflege rückt so als eine historisch, situativ, gruppen- und personenspezifische soziokulturelle Praxis der Imagepflege in das Untersuchungsinteresse, wobei „Image“ als „der positive soziale Wert“ zu verstehen ist, „den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion Image ist ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild“ 3 Eine solche methodische Herangehensweise kontex1

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Stefan Hanß: Hair, Emotions and Slavery in the Early Modern Habsburg Mediterranean, in: History Workshop Journal 87 (2019), S 160–187, hier: 161 („hair-literate society“) und 165 („hairdressing literacy“); Evelyn Welch: Art on the Edge Hair and Hands in Renaissance Italy, in: Renaissance Studies 23/3 (2009), S 241–268 mit der Aufforderung zu weiterführenden Studien Stefan Hanß: Face-Work Making Hair Matter in Sixteenth-Century Central Europe, in: Gender and History 33/2 (2021), 314–345 Zu Renaissance-Bärten siehe auch Will Fisher: The Renaissance Beard Masculinity in Early Modern England, in: Renaissance Quarterly 54 (2001), S 155–187; Mark A Johnston: Beard Fetish in Early Modern England Sex, Gender, and Registers of Value Burlington 2011; Jean-Marie Le Gall: Un idéal masculin? Barbes et moustaches (XVe–XVIIIe siècles) Paris 2011 Erving Goffman: Interaktionsrituale Über Verhalten in direkter Kommunikation, 10 Aufl Frankfurt a M 2013, S 10

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tualisiert Körperpraktiken mit wichtigen lebensweltlichen Bezugspunkten der Frühen Neuzeit wie etwa Gruppenzugehörigkeiten, Personenkonzepten, Ehre, Geschlecht, Haushalt und Stand Haarpflege, das heißt die bewusste Behandlung und Veränderung von Haaren, rückt dann als signifikanter Bestandteil umfangreicher „Techniken der Imagepflege“ in das Blickfeld: „Handlungen […], die vorgenommen werden, um all das, was man tut, in Übereinstimmung mit seinem Image zu bringen“ und die dazu dienen, „‚Zwischenfällen‘ entgegenzuarbeiten – das sind Ereignisse, deren effektive, symbolische Implikationen das Image bedrohen“ 4 In der Frühen Neuzeit gehörte die Haarpflege zu einem „Repertoire an Praktiken zur Wahrung des Images“: sie war Bestandteil einer „Matrix von Möglichkeiten“, „seine Wahrnehmungsfähigkeit [zu] üben“ und „visuelle Aufmerksamkeit“ zu generieren, zu antizipieren und in Alltagszusammenhängen und Aushandlungsprozessen bedeutsam zu machen 5 Insofern das 16 Jahrhundert eine Zeit materieller und visueller Experimentierfreudigkeit darstellte, war die Haarpflege eine wichtige Praxis, die ebensolche Möglichkeiten neuartiger Selbstdarstellungen im Hinblick auf die Wirkmacht des Haares eröffnete und verhandelte 6 Hans Holbeins Porträt Benedikt von Hertensteins, des damals 22-jährigen Sohnes eines Luzerner Rats und Schultheißen, zeigt, wie umsichtig Haare im Hinblick auf das Gesamterscheinungsbild einer Person zur Schau gestellt werden konnten (Abb 1) Das strahlend rot gefärbte Barett betont das gold-rötlich schimmernde Haupthaar, dessen Tongebung sich in der Auswahl der Schmuckstücke und der Farbgebung des Wamses widerspiegelt, dessen roséfarbener, bauschiger Ärmel die jugendliche Haut und Ausstrahlungskraft betonen Ein Ensemble an Körperpraktiken stellt hier die visuelle Aufmerksamkeit her, die der jugendlichen Tatkraft des Porträtierten entspricht und diese hervorzuheben beabsichtigt Lucas Cranachs Gemäldeporträt von Lukas Spielhausen kann als weiteres Beispiel dafür herangezogen werden, welch zentraler Stellenwert dem sorgsam hergerichteten Haar im 16 Jahrhundert zukam, um visuelle Aufmerksamkeit für das Gesamterscheinungsbild seiner selbst hervorzurufen (Abb 2) Der Hofprokurator im sächsischen Torgau stellt hier seine Würde und Erfahrenheit als Amtsträger zur Schau und macht dafür strategischen Gebrauch von seiner Haartracht: der mit reichlich Pomade in Form gebrachte, gold-braun schimmernde, geschwungene Bart trägt maßgeblich zur Erscheinungsgewalt des Bildes bei Er spiegelt die Farben der sächsischen Amtstracht genauso wider wie die ausladend geschwungenen Formen der mit Schlitzwerk verzierten Ärmel, und die kunstvoll gearbeitete Haarhaube, unter die das Haupthaar gekämmt wurde, betont erneut den Geschmack, Stil und die Situiertheit des als würdevollen Amtsträger Porträtierten

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Ebd , S 18 Ebd , S 18–19, 41 sowie 32 zum Momentum der „Wahl angemessener Techniken der Imagepflege“ Ulinka Rublack: Dressing Up Cultural Identity in Renaissance Europe Oxford 2010, S 1–31; dies : Renaissance Dress, Cultures of Making, and the Period Eye, in: West 86th: A Journal of Decorative Arts, Design History, and Material Culture 23/1 (2016), S 6–34; Hanß: Face-Work

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Abb. 1 Hans Holbein d J : Benedikt von Hertenstein, 1517 Öl und Gold auf Papier mit Holzgrund, 52,4 × 38,1 cm, Metropolitan Museum New York

Dem gepflegten, gestalteten, veränderten und präsentierten Haar kam im 16 Jahrhundert eine zentrale Rolle im Gesamtbild einer umsichtig orchestrierten Zurschaustellung seiner Selbst zu 7 Haarpflege stellte folglich einen zentralen Bestandteil einer frühneuzeitlichen Praxeologie des Ansehnlichen dar 8 Mit diesem Wissen ließen sich im Alltag durch Körperpraktiken visuelle Aufmerksamkeit und performative Wirkmacht für Personenentwürfe erzeugen, zur Schau stellen und verhandeln 9 In dem hier 7 8 9

Für ein anderes, zeitgenössisches Beispiel siehe Douglas Biow: On the Importance of Being an Individual in Renaissance Italy: Men, Their Professions, and Their Beards Philadelphia 2015, S 203–204 Hierzu grundsätzlich siehe Hanß: Face-work Hier im Sinne einer „Kultur des Ansehens“: Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900: Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte Göttingen 1996, S 379–446; Rublack: Dressing Up Zu Personenkonzepten und doing person, siehe vor allem Gabriele Jancke, Claudia Ulbrich: Vom Individuum zur Person Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und

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Abb. 2 Lucas Cranach d Ä : Lukas Spielhausen, 1532 Öl und Gold auf Buchenholz, 50,8 × 36,5 cm, Metropolitan Museum New York

vorliegenden Beitrag zeige ich, wie ebenjene Expertise des Sich-zurecht-Machens und Ansehnlichen mit umfangreichem Wissen über Körper, Medizin, materielle Kultur und Botanik zusammenhing Expertise in jenen Wissensbeständen eröffnete historischen Akteuren experimentelle Handlungsspielräume der Selbstthematisierung Medizintraktate und Physiognomieabhandlungen, vor allem aber Rezeptsammlungen, Kräuterbücher, botanische und zoologische Traktate sowie sogenannte Kunstund Probierbüchlein bilden die Quellengrundlage des vorliegenden Kapitels Sie präsentieren frühneuzeitliche Rezepte zur Behandlung von Haaren als experimentelles

Selbstzeugnisforschung, in: dies (Hg ): Vom Individuum zur Person Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung Göttingen 2005, S 7–27; Elke Hartmann, Gabriele Jancke: Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog, in: Claudia Ulbrich, Hans Medick, Angelika Schaser (Hg ): Selbstzeugnis und Person Transkulturelle Perspektiven Köln 2012, S 31–72

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Abb. 3 Das annotierte Titelblatt einer im Besitz der Familie Oettell befindlichen Rezeptsammlung Bartholomaeus Vogtherr, WJe man alle gebresten vnd kranckhaiten des menschlichen leibs/ außwendig vnd ynwendig/ vo[n] dem haupt an biß auff die fß/ artzneyen vnd vertreiben soll/ mit außgepranten wassern […] Augsburg: Haynrich Steyner, 1531, John Rylands Library Manchester

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Handlungs- und Erfahrungswissen, das wertgeschätzt und in welches maßgeblich als soziales und kulturelles Kapital investiert wurde 10 Tatsächlich fanden im Laufe des 17 Jahrhunderts ebenjene lange tradierten und weitläufig zirkulierenden Haarpflegeund Haarfärberezepte Eingang in die erfolgreichsten Hausväterbücher jener Zeit, was den zentralen Stellenwert der Haarpflege unterstreicht 11 Im Zuge der epistemologischen Aufwertung des händischen und handwerklichen Herstellens und Machens materieller Kultur, mit welcher der Aufstieg solcher Quellengenres einherging,12 erfuhren Rezepte zur Haarpflege eine Aufwertung als „Kunst“:13 Sie stellten einen wohlbehüteten, über Generationen hinweg weitergereichten Wissensschatz dar Eine 1531 in Augsburg gedruckte, medizinische Rezeptsammlung des Dillinger Augenarztes Bartholomaeus Vogtherr war beispielsweise über neunzig Jahre lang im Besitz der Familie Oettell, bis am 22 Dezember 1624 „diß altte Bch“ von Madalena Christoff Oettlin einer gewissen Anna Wolff Jacob Grallandtin vermacht wurde Wie so oft ist auch dieser Band mit zeitgenössischen Anmerkungen gespickt – manche richten sich explizit an Familienangehörige wie die eigene Schwester –, die Erfahrungswissen kommentierten (Abb 3) Dabei geht es etwa darum, welche Arznei sich als besonders wirksam gegen Zahnweh, Nierensteine, Bauchschmerzen, oder „für Wacklung d[er] Zän“ hervorgetan hat Markierungen innerhalb dieses Bandes belegen, dass die Leserinnen und Leser auch ein besonderes Interesse an den angeführten Haarpflege- und Haarfärberezepten besaßen und diese wohl auch selbst ausprobierten Der vorliegende Beitrag veranschaulicht, was die Oettell und ihre Zeitgenossen mit ihrem Haar machten, und wieso 2 Die Materialität der Haare im medizinischen Verständnis der frühneuzeitlichen Temperatur- und Temperamentenlehre Das medizinische Verständnis von Haaren war im 16 Jahrhundert in einem umfangreicheren Wissenshaushalt um die Materialität des Körpers verankert, der als Konglomerat beweglicher und zu balancierender Flüssigkeiten und Säfte im Hinblick auf Temperaturen und Temperamente gedacht wurde Körper waren als solche erfahrbar und

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Alisha Rankin: Panaceia’s Daughters Noblewomen as Healers in Early Modern Germany Chicago 2013 Johann Coler: Oeconomia rvralis et domestica […] Frankfurt a M : Johann Peter Zubrodt, 1680, S 717–720 Vgl weiterführend Philip Hahn: Das Haus im Buch: Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der Oeconomia Johann Colers Epfendorf 2013 Pamela H Smith: The Body of the Artisan Art and Experience in the Scientific Revolution Chicago 2004; dies , Tonny Beentjes: Nature and Art, Making and Knowing Reconstructing Sixteenth-Century Life-Casting Techniques, in: Renaissance Quarterly 63/1 (2010), S 128–179; Ulinka Rublack: Matter in the Material Renaissance, in: Past and Present 219 (2013), S 41–85; dies : Renaissance Dress, S 11 Rankin: Panaceia’s Daughters, S 76–77

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verhielten sich auch entsprechend 14 Während der Körper von Frauen als generell eher kalt und feucht verstanden wurde, galten Männer als eher heißer und trockener Natur aufgrund eines erhöhten Vorkommens gelber Galle, die laut zeitgenössischen Vorstellungen Hitze und Trockenheit produzierte 15 Es war ebenjene Temperaturenlehre, die in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des 16 Jahrhunderts den Haarwuchs, aber auch die generelle, materielle Erscheinungsform von Haaren modulierte Das besonders heiße Herz und das Gehirn produzierten Dämpfe, so die Annahme von in der Tradition Galens stehenden Ärzten, die das Haar ernährten und es wachsen ließen 16 Die eher wärmeren Körper von Männern produzierten eher heißere Dämpfe, die das Haupthaar üblicherweise kurz hielten Besitze man allerdings ein Übermaß an gelber Galle – wovon vor allem Männer betroffen sein könnten –, so führe dieses Übermaß an Körperhitze zu unverhältnismäßig heißen Dämpfen, die das Haupthaar verbrennen und so Haarausfall und Kahlheit hervorrufen könnten Die eher kalten Körper von Frauen besäßen hingegen eher längeres Haupthaar 17 Folglich nehmen Haare je nach entsprechender Körperkomplexion unterschiedliche Gestalt an Menschen mit natürlich heißem Gemüt „haben vil har vnd lck an allen orten/ welche zu[m] theil grob seind/ als jgels har von wegen der hitz des hertzen“, berichtet ein Straßburger Druck aus dem Jahr 1534 18 Das Haar von Menschen mit natürlich kalter Komplexion sei hingegen eher „lang vnd schlecht“ 19 Menschen mit natürlich feuchter Komplexion hätten „wenig har […]/ jr har lck schlecht vnd subtil“, während solche mit natürlich trockener Komplexion eher „krauß grob“ Haare besäßen 20 Ebenjene Temperatur- und Temperamentenlehre generierte zu jener Zeit auch die medizinische Aufmerksamkeit für Haare Paracelsus schrieb etwa, dass „dieselbige materia darauß er [der Mensch] gemacht ist/ zeiget dir an wie das ist/ das auß dem gemacht ist“ Der Arzt solle daher die materielle Beschaffenheit des Körpers bis auf das Haar hin genau beschauen, das ihm „also durchsichtig“ sein solle, „als der außpolirte Crystallen/ in dem sich ein härlin nicht möcht verbergen“ 21 Das Wissen um die Materialität des Haares nahm folglich einen wichtigen Stellenwert in der Kranken- und Körperschau

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Ulinka Rublack: Fluxes The Early Modern Body and the Emotions, in: History Workshop Journal 53 (2002), S 1–16; Michael Stolberg: Homo patiens Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit Köln 2003, S 107–212 Katherine Crawford: European Sexualities, 1400–1800 Cambridge 2007, S 103 Johann Dryander: Artznei Spiegel/ Gemeyner Inhalt derselbigen/ Wes bede einem Leib vnnd Wundtartzt/ in der Theoric/ Practic/ vnnd Chirurgei zsteht […] Frankfurt a M : Christian Egenolff d Ä , 1542, fol 94v; Galen: On the Usefulness of the Parts of the Body, hg v Margaret T May Ithaca 1968, S 531; Galen: Method of Medicine, hg v Ian Johnston, G Horsley, Bd 3 Cambridge 2011, S 529 Eine ausführlichere Besprechung findet sich in Hanß: Hair, Emotions and Slavery Bartolommeo della Rocca („Cocles“): Ein kurtzer bericht der gantzen Phisionomey vnnd Ciromancy […] Straßburg: Johannes Albrecht, 1534, fol Aijv Ebd , fol Aiijr Ebd , fol Aiijv Paracelsus: Essential Theoretical Writings, hg v Andrew Weeks Leiden 2008, S 114

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Abb. 4 Anonym: Liber Quodlibetarius Nürnberg, 1524, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg

ein; wohl auch deshalb, weil in einer Welt, in der die Haut als porös und durchlässig gedacht wurde, Haare ein Mikro- und Makrokosmos verbindendes Element darstellten 22 Entsprechend ließen Haare auch umfangreichere Schlüsse auf die materielle Beschaffung des Körpers und persönliche Charaktereigenschaften zu Ein anonymes Nürnberger Manuskript von 1524 schreibt etwa, dass Haare „zu seh[e]n“ ermöglichten,

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Barbara Duden: Geschichte unter der Haut Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730 Stuttgart 1987

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„was aignschafft ainer sey“ Wer „vast kraüs har“ habe, sei zum Beispiel „vnu[n]stentig ai[n]faltig“ (Abb 4) 23 Auch solche Einschätzungen basierten letztlich auf einer temperaturbezogenen Interpretation körperlicher Materialität: „Vast krauß har bedeütet ein mensche[n] harts verstands oder grosser einfeltigkeit/ oder beyde zsamen,“24 so ist in einer anderen, ins Deutsche übersetzten Physiognomieabhandlung des aus Bologna stammenden Arztes Bartolommeo della Rocca zu lesen Es seien die übermäßige Hitze und vor allem Trockenheit des Körpers, die das Haar kraus werden ließen und zugleich das Gehirn austrockneten und somit den Verstand verhärteten Die Körperflüssigkeiten seien nicht mehr in angemessener Bewegung Physiognomietraktate erfreuten sich besonderer Beliebtheit in den deutschsprachigen Landen des 16 Jahrhunderts Allein Della Roccas Traktat erschien in beinahe 60 Auflagen!25 Sie deklinierten die Haarkunde bis ins kleinste Detail durch und generierten gerade damit eine umso größere Aufmerksamkeit für die Erscheinung und den Bedeutungsgehalt von Haaren Langes Haar schlechter Qualität deute etwa auf Furchtsamkeit hin, während „[g]rob kurtz har als eins jgels“ auf „ein[en] starcken menschen“ verweise, „welcher sicher kn/ vnruwig/ bß/ betrglich vnd geytig ist/ doch mer einfeltig dan[n] weiß/ wie wol jm das glück beystendig ist“ 26 Volles, in die Stirn fallendes Haar ließ auf Einfältigkeit, Schnödheit, Unkeuschheit und Leichtgläubigkeit schließen:27 „Welcher vffgerechte harlck hat/ der ist einfeltig/ gehertzt/ hoffertig/ hartes verstands/ schnel zornig/ verlogen/ vnkesch/ boßhafftig/ vnd freuel “28 Wer hingegen „an beyden ecken der stirnen vffgereckte lck hat/ vnd die stirn sunst kal ist/ bedet einen boßhafftigen vnnd einfeltigen menschen “29 Üppiges Haupthaar könne auf Unkeuschheit, Böshaftigkeit, Trägheit und „schnelle grim[m]igkeit“ hindeuten 30 Zwei Dinge werden deutlich: Zum einen konnte es also für das eigene „Image“31 und die Chancen der Anerkennung des eigenen Personenkonzepts wirklich entscheidend sein, welchen Eindruck das Haar einer Person bei anderen hinterließ Zum anderen wird deutlich, dass die Bedeutungsgehalte von Haaren auf eine Vielzahl von Wissens-

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Anonym: Liber Quodlibetarius Nürnberg 1524, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, H62/ MS B 200, fol 79v–80r Della Rocca: Ein kurtzer bericht, fol Avr Stephanie Leitch: Visual Acuity and the Physiognomer’s Art of Observation, in: Oxford Art Journal 38/2 (2015), S 187–206, hier: 196 Vgl auch Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance Der Einfluss charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15 und 16 Jahrhunderts München 1997; Martin Porter: Windows of the Soul Physiognomy in European Culture, 1470–1780 Oxford 2005; Joseph Ziegler: Philosophers and Physicians on the Scientific Validity of Latin Physiognomy, 1200–1500, in: Early Science and Medicine 12/3 (2007), S 285–312 Anonym: Liber Quodlibetarius, fol 80r; Della Rocca: Ein kurtzer bericht, fol Avr Ebd , fol Avv Ebd Ebd Ebd Goffman: Interaktionsrituale, S 10

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beständen rekurrierten Daher waren sie potenziell vieldeutig, gerade deshalb auch verhandelbar und konnten entsprechend auch zu Deutungskonflikten führen Derartige Bedeutungszuschreibungen waren daher genauso instabil wie die Körper selbst Insofern sich Körperflüssigkeiten ständig in Bewegung befanden und in Bewegung gehalten werden sollten, waren sie grundsätzlich durch äußere Einflüsse veränderbar 32 Alles, was ein Ungleichgewicht des Temperaturhaushaltes verursachte, konnte daher weitreichende, potenziell gefährliche Konsequenzen haben Sich im Sexualakt erhitzende Körper, so Paracelsus, vermochten das Gleichgewicht der Körpersäfte ins Wanken zu bringen und konnten zu Haarausfall führen 33 Entsprechende Interpretationen konnten sich auf Schriften des Aristoteles stützen, der explizit darauf hingewiesen hatte, dass zu viel Sex bei Männern zu Haarausfall führe 34 Auch langanhaltender Ärger konnte in erhöhter Hitzeproduktion resultieren, die das Haar austrocknen, verkohlen und ergrauen ließ 35 Haare kalter oder warmer Körper mit kaltem oder warmem Wasser zu entsprechend kalten oder warmen Jahreszeiten zu waschen, konnte fatale Folgen haben und wurde dementsprechend diskutiert Zur gleichen Zeit stellte die Haarpflege allerdings eine Notwendigkeit gesunder Lebensführung dar, insofern Haare den Austritt anderer Stoffe verhinderten, die als schädlich oder gar giftig verstanden wurden Das Kämmen der Haare erhielt damit eine medizinische Aufwertung 36 Die Haarpflege hatte daher über das bloße Erscheinungsbild einer Person hinaus weiterreichende Bedeutung für das Wohl des eigenen Körpers und des Selbst Eine angemessene Haarpflege setzte allerdings auch eine weiterführende Expertise um die Zusammenhänge von Materialien und Temperaturen voraus 3 Wohltemperierte Haarkuren Umfangreiches Wissen um Materialeigenschaften und ihre größeren mikro- und makrokosmischen Zusammenhänge war zentral, um Haarleiden heilen zu können Ähnlich wie auf menschliche Körper fand die assoziative und größere Beziehungszusammenhänge nahelegende Temperamenten- und Temperaturenlehre auch Anwendung auf Pflanzenkörper, deren Haarwuchs ebenfalls durch ihre Temperatur erklärt werden konnte Das Benediktenkraut, so ist beispielsweise in Leonhart Fuchs’ New Kreüterbch von 1543 zu lesen, sei „wermer vnd trückner natur“ und daher „gantz rauch vnd harig“ (Abb 5) Gleich warmen, trockenen und bärtigen Männern bilde das Benedik-

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Rublack: Fluxes Paracelsus: Essential Theoretical Writings, S 466–473 Hanß: Hair, Emotions and Slavery, S 15 Sandra Cavallo, Tessa Storey: Healthy Living in Late Renaissance Italy Oxford 2013, S 183 Ebd , S 240–241, 247, 265

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Abb. 5 Eine zeitgenössische Darstellung des ‚bärtigen‘ Benediktenkrauts Leonhart Fuchs: New Kreüterbch […] Basel: Michael Isingrin, 1543, Abb LXVII Universitätsbibliothek Basel

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tenkraut „z oberst ettlich har/ die sich einem bard vergleichen“ 37 Die Wirksamkeit von Haarpflegerezepturen hing daher mit einem wohlfundierten Wissen um die temperaturbedingten Ursachen des Haarleidens sowie den Temperatur- und Materialeigenschaften der zu ihrer Linderung heranzuziehenden Naturalien zusammen Generell lag die Wirksamkeit der Rezeptur in der entweder ähnlichen oder gegensätzlichen Beschaffenheit des Haarleidens und der zu ihrer Behandlung herangezogenen Zutaten begründet Krankheitsursache und Wirkung des Arzneimittels standen sich gewissermaßen verstärkend oder aufhebend gegenüber, doch sie waren verbunden in der grundsätzlichen Vorstellung umfassenderer Bedeutungszusammenhänge von Temperaturen und Materialeigenschaften Insofern ein Übermaß an Hitze Haare verbrannte, bedurfte es besonders heißer Materialien für die Depilation, die praktiziert wurde, weil Haarwuchs „an vnuerordneter stat“ als „den menschen übel [verstellend]“ empfunden wurde 38 Um die „Haar außetzen/ oder machen außzufallen/ an welchem orth deß Leibes du wilt“,39 bedurfte es grundsätzlich warmen und heißen Wassers sowie Pflanzen und anderer Zutaten besonders heißen Gemüts, Wolfsmilch zum Beispiel: die „seind warm im vierdten grad/ vnnd trücknen seer/ etzen vnd brennen/ fürnemlich aber die milch von denselbigen“ und konnte deshalb genutzt werden, um „har/ grind/ vnd wartzen darmit z vertreiben“ 40 Eine andere Salbe zur Haarentfernung besaß gleich zwei besonders temperierte Zutaten: Fledermaushirn und Muttermilch Gehirne und Augen wurden humoralpathologisch als besonders heiße Organe gedacht und Fledermäuse mit ihrem besonders gut ausgeprägten Sehsinn kombinierten gewissermaßen beide ‚heißen‘ Qualitäten Humoralpathologisch gesehen war auch die Muttermilch das Produkt eines durch die Schwangerschaft in Gang gesetzten Transformationsvorganges, der das Ausbleiben der Menstruation erklärte Während die Hitze männlichen Blutes der zeitgenössischen Vorstellung zufolge dieses in Samen durchkochte, wurde weibliches Blut gewissermaßen analog in Muttermilch transformiert 41 Auch schärfere Essige oder brennende Ameiseneier kamen für die Haarentfernung zum Einsatz 42 Efeuharz „etzet“ gleichfalls „das Haar hinweg“ und wer das Haarwachstum in den Achselhöhlen unterbinden wollte, sollte die Gegend mit Fledermausblut bestreichen und anschlie37 38 39 40 41

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Leonhart Fuchs: New Kreüterbch […] Basel: Michael Isingrin, 1543, Kapitel 42 Dryander: Artznei Spiegel, fol 95r Balthasar Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein/ Darinnen allerhand ntzliche Sache vnnd Kunststcke/ verfasset vnd begriffen […] Frankfurt a M : Conrad Eifrid, 1631, S 647 Fuchs: Kreüterbch, Kapitel 316 Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 648 Vgl Patricia Crawford: Attitudes to Menstruation in Seventeenth-Century England, in: Past and Present 91 (1981), S 47–73; Gianna Pomata: Vollkommen oder verdorben? Der männliche Samen im frühneuzeitlichen Europa, in: L’Homme Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 6/2 (1995), S 59–85; Todd W Reeser: Moderating Masculinity in Early Modern Culture Chapel Hill 2006, S 90; Merry E Wiesner-Hanks: Women and Gender in Early Modern Europe, 4 Aufl Cambridge 2019, S 28 Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 648, 650

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ßend Scharlachsamen darauf streuen 43 Um „Haar [zu] vertreiben“ kamen folglich besonders heiße, brennende, mitunter auch schmerzhafte Verfahren zum Einsatz „Nim diese salb vnnd reibe das haar mit/ daß dich die haut schmirtzet/ diß th drei mal/ darnach in einer badstuben so du schwitzest/ so laßt sich das haar on wee außziehen“,44 lesen wir in einem Handbuch Wenngleich die verbrennende und reinigende Hitze bei diesem Verfahren erwünscht war, ermahnten die Zeitgenossen grundsätzlich zu einer gewissenhaften Folgebehandlung: „Schmiere darnach den orth mit Rosenhl/ oder braun Violenhl/ auff daß die salbe von wegen jhrer schrpffe nicht schaden mge “45 Der durch übermäßige Hitze und Trockenheit verursachte Haarausfall war hingegen mit kalten und feuchten Materialien zu behandeln Ludwig VI von der Pfalz besaß etwa ein Rezept, das den Gebrauch von mit Honig vermischtem Fischlaich oder eines mit Öl, Pflanzenwurzeln und Wachs versetzten Mailänder Käfers nahelegte, um innerhalb von drei Tagen erneut Haare wachsen zu lassen 46 Auch in Backöfen gedörrte Eidechsen- und Froschköpfe, die zu Pulver zerstoßen mit Eieröl zu vermischen waren, würden „in kurtzer zeit“ zum gewünschten Ergebnis führen 47 Solche Tiere wurden mit kalten oder feuchten Eigenschaften assoziiert, die der Überhitzung des Haupts entgegenwirken konnten Mit Kälte oder Feuchtigkeit assoziierte Pflanzen konnten ebenso helfen Seeblumenwurzeln wurden von Krämern etwa gemeinhin als „harwurtzel“ verkauft, weil sie „schn/ lang/ vnd gelb har []machen“ Die Wurzeln, Blätter und Samen dieser Pflanze seien, so ist in botanischen Handbüchern zu lesen, „kalte[r] trücknende[r] Complexion/ aber die blmen seind feuchter natur“ 48 Auch ein zu Asche verbrannter Weinstock „bringet wider die außgefallenen haar“ Der Weinstock wird im 16 Jahrhundert gemeinhin mit kühlenden Eigenschaften assoziiert: seine Blaetter „leschen […] alle hitz des febers“, sie „stercken vnd bekrefftigen auch das hirn“, mildern das durch Überhitzung herbeigeführte „hefftig hauptwee“, und auch „alle geschwulst/ hitz/ oder entzündung [werden] daruon geklet vnd gesenfftigt“ 49 Um der mit der Hitze einhergehenden Trockenheit entgegenzuwirken, waren auch Fette beliebte Mittel gegen Kahlköpfigkeit Eine aus „feyßten Ael“, „Hner vnnd Genßschmaltz“ sowie Honig hergestellte Salbe „macht sehr lang haar/ aber schwartz“ 50 Auch die Fettbrühe, die sich entwickelt, wenn man Maulwürfe in Wasser kocht, helfe

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Ebd , S 650; Adam Lonitzer: Kreuterbuch […] Frankfurt a M : Christian Egenolffs seligen Erben, 1598, fol 311r Dryander: Artznei Spiegel, fol 95r Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 647–648 Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod Pal germ 192, Rezeptsammlung Ludwig VI von der Pfalz, c 1570–1579, fol 5v–6r Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 646 Walther H Rylff: Lustgarten der Gesundheit […] Frankfurt a M : Christian Egenolff d Ä , 1546, fol 204r–204v Ebd , fol 16v Dryander: Artznei Spiegel, fol 94v

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„gewiß haar zu ziehen“ 51 Ein Kräuterbuch verweist mit Bezug auf Galen auf eine aus Bärenschmalz hergestellte Salbe, die mit Essig und zu Asche verbranntem Hasenkopf zu vermischen war, um „Haar an kalen sttten wachsen [zu machen]“ 52 Interessanterweise machen einige Rezepte gegen Haarausfall bewussten Gebrauch von wärmenden Eigenschaften Gleich mehrere Drucke preisen den Nutzen der Rotbuche gegen Haarausfall und „alle hitzige geschwulst“, wenngleich sie „etwas warmer natur“ sei – offensichtlich nicht grundlos, insofern ein Leser des im Besitz der Oettell-Familie befindlichen Rezeptbuches diese Rezeptur mit gleich drei Anstreichungen hervorhob 53 Auch andere Maßnahmen wurden empfohlen, die wärmende Wirkungen besaßen Bevor eine auf Hühner- und Entenschmalz basierende und mit Pech, Salpeter, Mastix- und Zistrosenharzen sowie Myrrhenöl verfeinerte Salbe nachts auf die kahlen Stellen aufzutragen sei, solle man beispielsweise „das Haupt mit einem Tuche wol reiben/ biß die Haut roth wird“ 54 Auch bevor man eine andere, auf Rosenöl basierende Salbe auftrage, „wo du haar wilt haben/ […] soltu das ort vorhin wol reiben“ 55 Der Auftragung einer wiederum anderen Salbe solle gleichfalls eine gezielt Wärme produzierende Kopfmassage vorausgehen: „reib das ort da du haar wilt haben mit einm tch/ daß es dich schmirtzet“ 56 Weshalb solche doch recht qualvollen Prozeduren, die offensichtlich darauf abzielten, Wärme zu erzeugen, wenn Überhitzung zu Haarausfall geführt hatte? „S[o] ein mensch keyn haar hat/ ist die Complexion nit so mechtig zu resoluieren die dmpffe des hirns/ daruon haar wechßt“, ist in ebenjenen Rezepten zu lesen, die ihre Nutzer dazu anhalten, die Kopfhaut so lange zu massieren, bis sie vor Reibungshitze so schmerzte, dass es nicht mehr auszuhalten sei 57 Die so hervorgerufene, lokale Hitze aktivierte für einen kurzen Moment die Produktion ebenjener Dämpfe, deren Ausscheidung durch die Poren des Kopfhaares das Wachstum der Haare generierte Insofern es im Falle ausbleibenden Haarwachstums galt, die „haar zu ziehen“, bedurfte es dazu die Wachstumskräfte animierende Wärme 58 Eine gleichfalls aktivierende Wirkung wurde Eisenkraut oder Hahnenfuß nachgesagt Eisenkraut etwa „ziehe[] zsamen vnd trückne[] auß“ und fördere daher die Durchblutung, beschleunige die Heilung, „linder[e] 51 52 53

54 55 56 57 58

Ebd Lonitzer: Kreuterbuch, fol 311r Bartholomaeus Vogtherr: WJe man alle gebresten vnd kranckhaiten des menschlichen leibs/ außwendig vnd ynwendig/ vo[n] dem haupt an biß auff die fß/ artzneyen vnd vertreiben soll/ mit außgepranten wassern […] Augsburg: Haynrich Steyner, 1531, fol 5r–5v; Otto Brunfels: Ander Teyl des Teütschen Contrafayten Kreüterbchs […] Straßburg: Johann Schott, 1537, S 168; Hieronymus Bock: Kreüter Bch Darin Vnderscheid/ Würckung vnd Namen der Kreüter so in Deutschen landen wachsen […] Straßburg: Rihel, 1546, fol 64r Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 645 Dryander: Artznei Spiegel, fol 94v Ebd Ebd Ebd

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Abb. 6 Darstellung und Beschreibung des Hahnenfußes Adam Lonitzer: Kreuterbuch […] Frankfurt a M : Christian Egenolffs seligen Erben, 1598, fol 199v, Bayerische Staatsbibliothek München, Staatliche Bibliothek Regensburg

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[…] die hitzigen geschwulst“ und wirke vorbeugend gegen Haarausfall 59 Ein anderes Kunst vnd Wunderbchlein rät dazu, Eisenkraut zu verbrennen, die Asche mit Rettichöl zu vermengen und „das Kinn darmit [zu ]bestriechen/ [das] machet den Barth sehr vnd schnell wachsen“ 60 Auch bei Hahnenfuß ist dessen „seer warme[] vnd truckne[] natur“ entscheidend, um den Haarwuchs zu aktivieren (Abb 6) Seine zerstoßenen Stengel oder auf die Haut aufgelegten Blätter „etzen auff/ brennen/ vn[d] machen rufen […] So mans ein kleine weil denen so das Haar außfallet überlegt/ bringen sie denselbigen grossen nutz Doch soll mans bald wider dannen thn/ dann sie sonst die haut auffetzen,“ schreibt Leonhart Fuchs 61 Und auch Adam Lonitzer preist und warnt vor dem heißen Gewächs zugleich: „Das Haupt mit dem Safft von brennenden Hanenfußkreutern bestrichen/ erfllt die kalen Pltz darauff wider mit Haar/ Doch soll mans nicht zulang darauff ligen lassen/ damit es nicht Haut vnd Haar mit einander abetze “62 Einerseits sind dies Beispiele dafür, dass nicht allein gegensätzliche, sondern mitunter auch gleiche Materialeigenschaften bei der Behandlung von Haarleiden als ausschlaggebend empfunden werden konnten Entsprechend wurde ebenso Venushaar als den Haarwuchs beförderndes Mittel gepriesen 63 Auch die Anwendung menschlicher oder tierischer Exkremente konnte sinnvoll erscheinen, wenn es darum ging, den Wachstum des Kopfhaars zu befördern, das als Ausscheidung des Haupts verstanden wurde: Hieronymus Brunschwig empfiehlt in seiner fürtrefliche[n] vnd volkomne[n] Haußapoteck eine aus verbranntem Taubenkot hergestellte Lauge zur Behandlung von Haarausfall und Bartholomaeus Vogtherr schreibt gar: „Mensche[n]kotwasser/ alle tag die kale statt damit geriben/ macht har wachsen “64 Andererseits verweisen die auf die Wärmeerzeugung abzielenden Rezepte gegen Haarausfall auch auf die Bedeutsamkeit des Temperaturumschlags Der radikale Temperaturwechsel stellte ein die Zutaten des Rezeptes transformierendes und ihre Wirksamkeit aktivierendes Momentum dar, das die Materialeigenschaften der Zutaten gewissermaßen animierte Kalte Eidotter seien mit einer „Eysern Pfannen vber ein Fewer“ zu kochen, „biß sie verbrennen“, bevor sie in ein gegen Haarausfall verwendbares Mittel weiterverarbeitet werden könnten 65 Wichtig sei auch, die kalten Frösche noch lebendig zu Pulver zu verbrennen und anschließend mit Honig in eine Salbe zu „temperier[en]“ Erst dieses Aufeinandertreffen und Umschlagen der Temperaturen brachte

59 60 61 62 63 64

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Fuchs: Kreüterbch, Kapitel 226 Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 646 Fuchs: Kreüterbch, Kapitel 57 (meine Hervorhebung) Lonitzer: Kreuterbuch, fol 199v Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 647 Hieronymus Brunschwig: Thesavrvs pavpervm Ejnn fürtrefliche vnd volkomne Haußapoteck […] Frankfurt a M : Christian Egenolff d Ä , 1537, fol Br; Vogtherr: Alle gebresten vnd kranckhaiten des menschlichen leibs, fol 5r Zum Verständnis von Haupthaar als Exkrement des Kopfes siehe Cavallo, Storey: Healthy Living, S 247 Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 645

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die Wirkmacht der Zutaten hervor, „so wachsen in kurtzer zeit viel Haar daselbst“ 66 Auch Leinsamen war erst zu „verbrenne[n]“ und dann mit Öl zu „temperier[en]“ 67 Dieser Temperaturumschlag konnte zudem durch die Verwendung wechselwarmer Tiere selbst hervorgerufen werden Um das Wachstum des Bart- und Haupthaares anzuregen, Nimb Bienen so viel du wilt/ brenne sie zu Pulver/ mische drunter gleich so viel Leinsamen/ auch zu Aschen verbrent/ Eydexenhl (sind der Welschen Eydexen) so viel gnug ist/ schmiere damit den kahlen Ort/ Morgends vnd Abends/ da du wilt Haar haben/ so werden daselbst bald viel Haar wachsen/ vnd nicht bald außfallen/ du solt aber das Haupt zuvor mit solcher Laugen abwaschen Nimb Laugen von Rebenaschen gemacht/ koche darinnen Capillum Veneris, Agrymonien, Epheuw, ana 5 M darnach seyhe vnnd behalt die Lauge bedecket/ vnnd wenn du das Haupt zwey oder dreymahl alle Wochen gewaschen/ vnd wiederumb getrcknet/ vnnd mit obgenandter Salben geschmiert/ so wachsen die Haar in grosser menge vnd lang/ vnd stehen fest Wenn du das Eydexenhl nicht hast/ magstu es auff solche weise bereiten Nim[m] grne lebendige Eydexen/ koche sie in Baumhl/ biß sie zerfallen/ setze es hernach 14 oder 20 Tage an die Sonnen/ so ist es gut 68

Die Verwendung wechselwarmer Tiere sowie deren Aussetzung kontinuierlicher Hitze stellten entscheidende Details dar, welche die Wirksamkeit dieses Rezeptes hervorzubringen beanspruchten Interessanterweise war es aber gerade die wechselhafte Temperatur der Eidechsen, die diese Tiere sowohl zur Beförderung des Haarwuchses als auch zu dessen Einstellung nützlich erscheinen ließen In seinen zoologischen Schriften betonte Conrad Gessner etwa, dass zu Öl gekochte grüne Eidechsen sowie mit Weißwein versetzte und dem Sonnenschein ausgesetzte Eidechsengalle das Haarwachstum nicht etwa fördere, sondern einstelle 69 Es scheint, als ob die Wechselhaftigkeit der Temperaturen dieser Kreaturen, um die die Zeitgenossen wussten,70 ein ausgefeiltes Materialwissen voraussetzte und besonders nuancierte Instruktionen notwendig machte, um die gewünschte und nicht die gegenteilige Wirkung zu erzielen Es bedurfte dieses Handlungswissens, um die Zutaten als wirksame Rezeptassemblage zu animieren

66 67 68 69 70

Ebd , S 646 Ebd Ebd S 645–646 Conrad Gessner: Thierbch/ Das ist eine kurtze bschreybung aller vierfssigen Thieren/ so auff der erde[n] vnd in wassern wonend […] Zürich: Christoph Froschauer d Ä , 1563, fol 112v Weiterführend siehe Smith, Beentjes: Nature and Art; Karin Leonhard: Bildfelder Stilleben und Naturstücke des 17 Jahrhunderts Berlin 2013

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4 Vom Färben der Haare Neben der medizinischen Haarpflege war auch die kosmetische Behandlung der Kopfhaare weit verbreitet Zeitgenössische Kostümbücher legen nahe, dass farbige Haare recht populär gewesen sind In Hans Weigels Trachtenbuch von 1577 finden sich beispielsweise die Darstellungen Nürnberger, Straßburger und Schweizer Jungfrauen, deren Zöpfe anlässlich von Tanzveranstaltungen oder Hochzeiten mit blond, rot, grün und blau gefärbten Haarbändern durchflochten sind (Abb 7–8) 71 Die in zeitgenössischen Rezeptsammlungen anzufindenden Instruktionen zum Färben der Haupt- und Barthaare in blasser, blonder, brauner, roter, schwarzer, weißer, aber auch grüner und blauer Tönung unterstreichen, dass das Haarfärben ein bedeutender Bestandteil einer umsichtig orchestrierten Zurschaustellung seiner Selbst im 16 Jahrhundert sein konnte Weigel betonte etwa, dass die äußerliche Erscheinung des Leibes je vnd allweg ein anzeigung vnd entdeckung/ der jnnerlichen vnd verborgenen sinn vn[d] gedancken gewesen/ auch noch ist/ vnd gibt damit ein jeder sein gemht vnd zuneigung/ gleich wie ein Vogel seine art/ durch die geferbte vnterschiedliche federn zu erkennen […] Also sihet man auch/ daß auß eusserlichen farben in kleidern/ vnd sonsten ein anzeigung des gemts abgenommen wird: Weiß/ bedeut freud vnd frligkeit: Rot/ zorn vn[d] blut: Schwartz/ trawrigkeit vnd schwermtigkeit 72

Entsprechend war das farbliche Erscheinungsbild der Haartracht auch ein Bestandteil der zeitgenössischen Physiognomik Menschen mit „mitelmessig har […] in der vile vn[d] auch der farben“ seien, so ein Straßburger Druck aus dem Jahr 1534, „mer geneigt z gtem dan[n] z bsem“ und führten „ein fridsams leben“ voller „reinigkeit vnd gtte[r] sitten“ 73 Auch braunes Haar rief Assoziationen an „ein gebürlichen mensche[n] in allen dingen/ welcher ehr lieb hat/ vnd schndes rms nit begert“ hervor 74 Vergleichbare Eigenschaften wurden Menschen mit „Brandt schwartz har“ nachgesagt, doch wenngleich ein solcher Mensch „in seinem ampt vnd werck fleissig ist/ verschwigen/ [und] trüw“, so sei er „nit wol glückhafft“ 75 Auch „[b]leich gelb har/ bedeüt ein mensche[n] gter eygenschafft“, doch sei dieser „forchtsam/ schamhafft/ schwach/ eins gtten verstandts […]/ vnd doch bß[en] glück[s]“ 76 Rotes Haar deutete hingegen auf „ein neydigen/ gifftigen/ betrglichen hoffertigen vn[d]

71 72 73 74 75 76

Hans Weigel: Habitus præcipvorvm popvlorum […] Nürnberg: Hans Weigel, 1577, Nr 23, 64, 68 Jutta Zander-Seidel: Textiler Hausrat Kleidung und Haustextilien in Nürnberg von 1500–1650 München 1990, S 139–141 Ebd , Vorrede Della Rocca: Ein kurtzer bericht, fol Avjr Ebd , fol Avv Ebd , fol Avv–Avjr Ebd , fol Avjr

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Abb. 7 Eine zum Tanz gehende, Nürnberger Handwerkstochter mit farbigen Zöpfen Hans Weigel: Habitus præcipvorvm popvlorum […] Nürnberg: Hans Weigel, 1577, Nr 23, Biblioteca Nacional de España

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Abb. 8 Eine Straßburger Jungfrau mit farbigen Zöpfen Hans Weigel: Habitus præcipvorvm popvlorum […] Nürnberg: Hans Weigel, 1577, Nr 64, Biblioteca Nacional de España

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bel redenden menschen“ 77 Weißes und erblichenes Haar signalisierte schwindende

Lebenskräfte und Furchtsamkeit, aber auch Sanftmut 78 Bereits zu Jugendzeit ergrautes oder gar ausfallendes Haupthaar ließ auf eine „vnkeüsch/ bß/ gedürftig/ vnstanthafft/ vnnd vil schwetzig“ Person schließen 79 Der Haarfarbe konnte folglich in bestimmten Alltagssituationen eine entscheidende Rolle zukommen, wenn es darum ging, die Zurschaustellung eines Personenkonzeptes zu verhandeln Entsprechend investierten Menschen Zeit und Geld, um die Angemessenheit und Überzeugungskraft solcher Auftritte sicherzustellen Auch das Färben der Haare erforderte ein ausgefeiltes Materialwissen Um Haare in „Goldtfarb zu frben“,80 galten beispielsweise vor allem jene Zutaten als wirksam, die vergleichbare Farbeigenschaften besaßen Wer seine Haare mit Honigwasser regelmäßig wasche, erhalte etwa „schn gelbs vnd langs har“ 81 Gerstenstroh galt gleichfalls als bewährtes Färbemittel, um „schn gelb vnd goldfarb“ Haare zu bekommen, vor allem dann, wenn es mit Süßholzrinden, Rebenaschen, Buchsbaumblättern, Kümmel und Safran zusammen zu einer Lauge gekocht, diese dann abgekühlt und anschließend zum Waschen der Haare genutzt werde 82 Auch ist regelmäßig zu lesen, dass gelber Safran zu Salben verarbeitet werden solle, die der Blondierung dienten 83 Erneut spielte das Wissen um unterschiedliche Temperaturen eine entscheidende Rolle Wenn angemessene Kenntnis davon fehlte, lauerten böse Überraschungen Eine Lauge konnte etwa kastanienfarbenes Haar hervorrufen, wenn sie kalt aufgetragen wurde In lauwarmer Temperatur färbte sie die Haare jedoch rot und wenn sie „recht warm ist“, dann schwarz 84 Desgleichen galt für eine andere Farbmischung aus Regenwasser, Lithargit, Garofali Archenda, Muskatnuss und Weinessig, die mit dem Kamm oder Schwamm aufgetragen und zum Waschen der Haare benutzt wurde 85 Auch bei der Handhabung solcher Rezepte, die zum Blondieren der Haare verwendet wurden, galt es Temperaturwissen mit Materialwissen zu vereinen Die Blondierung ist grundsätzlich mit wärmenden Eigenschaften in Verbindung gebracht worden Der oft genutzte Safran galt beispielsweise als „warm im dritten grad“ 86 Vor allem aber war die Strahlkraft, Farbigkeit und Wärme der Sonne ausschlaggebend, um den blondierten Haaren den entscheidenden, goldenen Schimmer zu verleihen Die Instruk-

77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Ebd , fol Avv Ebd , fol Avr Ebd , fol Avjr Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 637, 639 Vogtherr: Alle gebresten vnd kranckhaiten des menschlichen leibs, fol 5r Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 638, 640 Ebd , S 637, 644–645 Ebd , S 644 Ebd Fuchs: Kreüterbch, Kapitel 156

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tionen für die Verarbeitung und den Gebrauch einer aus Alaun, venezianischer Seife, süßem Mandelöl und Wasser gekochten Flüssigkeit waren dahingehend eindeutig: temperiers alles fast wol durch einander/ darnach setze es an die Sonne 15 Tage lang oder lnger/ vnnd rhrs bißweilen vmb/ wenn du es wilt gebrauchen/so nimb eine halbe Schüssel voll davon/ laß es vberm Fewer warm werden/ schmiere darmit das Haar mit einem Schwamm an der Sonnen/ vnd wenn es trucken worden/ schmiere es widerumb/ vnd wenn du es ein mahl oder 6 gethan/ wasche das Haupt mit Laugen/ darnach wenn die Haar wider trucke worden/ so schmiere es mit sß Mandelhl/ oder mit Eyerdotterhl/ so wird es schn wie Goldt 87

Die Wärme, Strahlkraft und animierende Wirkung der Sonne war in vielen Blondierungsrezepten entscheidend Ein als Färbemittel genutztes Öl hatte beispielsweise „in ein[em] Glaß den gantzen Sommer“ über „an [der] Sonne“ zu stehen, „denn je lnger es stehet/ je besser es wirdt“ 88 In seinem Lustgarten der Gesundheit (1546) empfahl Walther Rylff den Gebrauch gelbblühender Königskerzen, die in einem „bequem wol verschlossen geschirr […] an die Sonn“ zu stellen seien, „so resoluieren sich solche blmen in ein l“, das „ein schn gelb har [mache]“ 89 Folgt man einem anderen Rezept, hatte man das Haar mit einer aus Rinde, Rhabarber und Wein gefertigten Lauge zu benetzen, doch entscheidend war vor allem die Nachbehandlung: „darnach laß es selbst an der Sonnen oder bey dem Fewer trucken werden“ 90 Auch eine Salbe aus Safran, Eidotter und Honig, die mit einem in bitterem Mandelöl getunkten Kamm morgens und abends aufzutragen war, hatte man „an der Sonne [zu] gebrauchen“, wolle man „die Haar schn Goldfarb“ 91 Entsprechend kamen auch solche Pflanzen zur Verwendung, denen Ähnlichkeiten mit der Sonne nachgesagt wurden: Löwenzahn zum Beispiel, der zu jener Zeit auch „Sonnenwirbel“ genannt wurde 92 Dass der Fokus auf der Sonne und damit einhergehend auch auf wärmenden Transformationsprozessen lag, erklärt auch, weshalb so viele Rezepte zum Blondieren der Haare zirkulierten „Bleich gelb har“ galt nicht nur als Zeichen für „mensche[n] gter eygenschafft“ und war entsprechend beliebt,93 die Blondierung war eben auch besonders aggressiv gegenüber Haar und Haut Die in den Rezepten erwähnten Zutaten waren oftmals warmer, brennender oder ätzender Natur und wurden beim Kochen und Sieden bewusst hoher Hitze ausgesetzt Insbesondere die Rezepturen, die schnell zu wirken versprachen, konnten unangenehme und unerwünschte Begleiterscheinungen mit sich bringen Entsprechend rieten mancherlei Autoren zur Verwendung weniger 87 88 89 90 91 92 93

Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 637 Ebd , S 638 Rylff: Lustgarten der Gesundheit, fol 166v Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 638–639 Ebd , S 639 Ebd , S 640 Della Rocca: Ein kurtzer bericht, fol Avjr

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aggressiver Blondierungsrezepturen, die dann öfter aufzutragen waren, die aber „ohn alle verletzung des Haupts“ zu „schn Haar“ führten 94 Autoren betonten daher auch nachdrücklich, wenn die Rezepte nicht nur „schn lang Haar machet/ die scheinen gelb wie Gold“, sondern auch „die harwurtzeln []befestigen/ damit die har nit bald außfallen“, oder „ein gut Gedchtnuß [machen]“ 95 Ersteres dürfte eine doch erstaunlich oft eintretende Nebenwirkung der Haarpflege im 16 Jahrhundert gewesen sein: Wer sein Haar zu behandeln gedachte, konnte angesichts der doch oft heißen, ätzenden und aggressiven Rezepturen durchaus unverschuldet Haarverlust erleiden Der Hinweis auf das „gut Gedchtnuß“96 war hingegen vor allem deshalb entscheidend, weil er die Qualität und Ungefährlichkeit der Blondierungsrezeptur hervorhob Die starke Hitzezufuhr beim Blondieren des Haupthaares setzte den Kopf, ein sowieso besonders warmes Körperteil, weiterer Hitze aus, was den gesamten Körper und vor allem das warme Gehirn noch stärker zu erhitzen und letztlich gar auszutrocknen drohte: Körpersäfte änderten sich und mit ihnen auch der Körper Zeitgenössischen Vorstellungen zufolge konnte dies zu Haarausfall, erhöhter Samenproduktion, Unkeuschheit, Stumpfsinnigkeit, Dummheit und Minderung der Denkleistung führen Auch in medizinischer Hinsicht bedurfte es folglich bei der Anwendung kosmetischer Rezepte eines umfangreichen Material- und Körperwissens, das der Funktion des Haares als ein den Mikro- und Makrokosmos verbindendes Element von grundsätzlich als porös und instabil gedachten und empfundenen Körpern bei der äußeren Behandlung des Haares Rechnung trug 5 Frühneuzeitliche Haarpflege als Materialwissen Frühneuzeitliche Akteure hatten eine besondere Handlungs- und Materialexpertise beim Pflegen, Färben und generellen Behandeln der Haare zu besitzen So abstrus die Verwendung von Eidechsenöl, Fledermaushirn, Bärenschmalz und Taubenkot heutigen Leserinnen und Lesern auch erscheinen mag, sie entsprachen doch den Logiken eines kulturell vielfältigen Reservoirs frühneuzeitlichen Handlungs- und Erfahrungswissens, das sich auf Haare bezog und deren Erleben daraufhin gestaltete Die äußere Behandlung von Haaren hing grundsätzlich mit deren innerer, körperlicher Bedingtheit zusammen Haare wurden als verbindende Elemente zwischen dem Körperinneren und der äußeren Welt konzipiert; angesichts der Porosität und Permeabilität materieller Körpergrenzen durchbrachen Haare die Unterscheidung zwischen Innerem und Äußeren selbst Sie vermochten Personenzustände auszudrücken, waren aber zugleich wesentlich daran beteiligt, die Situiertheit frühneuzeitlicher Personen94 95 96

Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 638–639 Ebd , S 639; Rylff: Lustgarten der Gesundheit, fol 191v Schnurr: Kunst vnd Wunderbchlein, S 639; Rylff: Lustgarten der Gesundheit, fol 191v

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konzepte in ihren größeren Zusammenhängen sozialer und materieller Umwelten zu bestimmen Das eigene Selbst war potenziell fragil und instabil, und es bedurfte daher bewusster Investitionen in und Anwendungen von Praktiken, die der gelungenen Sicherstellung und Zurschaustellung des Selbst dienten: die verschiedenen Möglichkeiten der Haarpflege nehmen hierin einen besonders prominenten Platz ein, insofern darüber das Verhältnis zwischen Mikro- und Makrokosmos sowie die Präsenz und Wahrnehmung seiner selbst im Alltag maßgeblich gestaltet werden konnten Was auf den ersten Blick irritiert, entpuppt sich auf dem zweiten Blick als Konsequenz eines frühneuzeitlichen Materialverständnisses, das das eigene Leben und Erleben als Bestandteil einer Welt belebter und verbundener Materialitäten verstand Die größeren und kleineren Wirkzusammenhänge zwischen verschiedenen Materialien wurden in dieser Weltvorstellung durch eine „Semiologie der Körpertemperaturen“ austariert 97 Körper-, Pflanzen-, Tier- und Haarkunde waren Bestandteil eines umfassenderen Materialverständnisses, dessen Intelligibilität eine assoziative Material-, Temperatur- und Temperamentenlehre sicherstellte Menschliche, pflanzliche und tierische Materialien wurden so als verbundene und sich potenziell gegenseitig beeinflussende körperliche Materialitäten gedacht und erlebt Sie zu beeinflussen und zu verändern, wie das im Akt der Haarpflege geschah, war ein mitunter riskantes Unternehmen Zugleich waren jedoch die Intervention und Beschäftigung mit dem eigenen Haar auch eine medizinische Notwendigkeit und eine in den spezifischen sozialen Kontexten frühneuzeitlicher Kulturen anerkannte und wohlüberlegt zu nutzende Gelegenheit, sich selbst zu positionieren Die Haarpflege eröffnete also weitreichende Handlungsspielräume der performativen Selbstthematisierung im frühneuzeitlichen Alltag Um diese sowie die damit einhergehende Deutungsmacht und -ohnmacht über das eigene Haar und körperliche Erscheinen – sowie all jene kleineren und größeren Deutungskonflikte um das Haar in frühneuzeitlichen Gesellschaften – zu meistern, bedurfte es allerdings einer Sozialkompetenz, die sich in einem umfänglichen Alltagswissen genauso wie in einem komplexen Materialwissen manifestierte Zeitgenössische Rezepte lassen Rückschlüsse auf die Verhandlung, Anwendung und Adaption solchen Wissens um materielle Kulturen zu Insofern sich Menschen materiell mit dem eigenen Haar auf vielfältige Weise auseinandersetzten und sich in der Haarpflege wiederholt und experimentierend ausprobierten, vermochten sie das Haar relevant zu machen Die Haarpflege zu meistern, hieß in jener Zeit, geschickt auf reichhaltige und vielfältige Wissensbestände zurückgreifen zu können, die die materielle Kultur des Körpers, der Pflanzen, der Medizin und der Tiere und anderer Materialien betrafen Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation des 16 Jahrhunderts handelte es sich bei

97

Ulinka Rublack: Körper, Geschlecht und Gefühl in der Frühen Neuzeit, in: Paul Münch (Hg ): „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte München 2001, S 99–105, hier: 105

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der Haarpflege um Materialwissen Benedikt von Hertenstein und Lukas Spielhausen kannten sich sicher mit der Herstellung und Anwendung von zur Haar- und Bartpflege verwandten Ölen, Pomaden, Salben und Laugen aus, die sie geschickt einzusetzen und zu handhaben wussten, um sich selbst zu präsentieren; und Hans Holbein und Lucas Cranach wussten genau, wie sie Hertenstein und Spielhausen als solche haarkundigen Akteure darzustellen hatten (Abb 1–2) Abbildungsnachweise Abb 1: Metropolitan Museum of Art, New York, 06 1038, https://www metmuseum org/, public domain Abb 2: Metropolitan Museum of Art, New York, 1981 57 1, https://www metmuseum org/, public domain Abb 3: © John Rylands Library Manchester, Medical (pre-1701) Printed Collection 2535 Abb 4: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, MS B 200, fol 80r Abb 5: Universitätsbibliothek Basel, UBH Lo I 6 Abb 6: Bayerische Staatsbibliothek München, Staatliche Bibliothek Regensburg, 999/2Philos 2893/2894, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11057820–5 Abb 7 und 8: Biblioteca Nacional de España, ER/3475, http://bdh bne es/bnesearch/detalle/ bdh0000099924, public domain Dr Stefan Hanß Senior Lecturer in Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität von Manchester

Rekonstruierte Haare in Kunst und Antiquarianismus

Curls as Clues Titian, Strada, Peirce, and Morelli Dirk Jacob Jansen For D. W. van Wegen, in memory of the loss of his auburn curls, and in the hope of their speedy return Abstract: This essay presents a number of instances in the history of art where colour or form of hair serve as clues, as particular facts used to elicit particular information Such information can be iconographical, in Titian’s history paintings; forensic, in the identikit of the alleged heretic Jacopo Strada, reflected in Strada’s famous portrait by Titian; art historical, in Morelli’s method to attribute paintings to individual artists, or in attempts to distinguish draughtsmen’s hands in Strada’s albums of numismatic drawings; and both iconographic and art historical, when a specific “lock-scheme” is used to identify Roman sculpted portraits of Antinous, or when similar sculpted curls are clues to determine date and artistic context of Roman statuary in general This use of curls as clues is related to a method of scientific enquiry known as abduction or retroduction, first formulated by Charles Sanders Peirce, and discussed by Carlo Ginzburg and others This method requires specific, subjective qualities of its practitioner, such as a well-stored and a well-ordered memory, and a creative and analytical mind This leads to the conclusion that historiography is as much an art as it is a science, and that historians should never forget this aspect of their craft Zusammenfassung: Dieser Aufsatz stellt einige Fälle in der Kunstgeschichte vor, in denen Farbe oder Form der Haare als Hinweise dienen, um bestimmte Informationen zu erlangen Solche Informationen können ikonographisch sein wie in Tizians Historiengemälden; forensisch wie bei der Identifizierung des angeblichen Ketzers Jacopo Strada, die sich in Stradas berühmtem Porträt von Tizian widerspiegelt; kunsthistorisch wie in Morellis Methode, Gemälde einzelnen Künstlern zuzuordnen, oder in Versuchen, die Hände von Zeichnern in Stradas numismatischen Alben zu unterscheiden; und sowohl ikonographisch als auch kunsthistorisch, wenn ein spezifisches ‚Lockenschema‘ verwendet wird, um römische Skulpturenporträts des Antinoos zu identifizieren, oder wenn ähnliche Skulpturenlocken als Anhaltspunkte dienen, um römische Statuen im Allgemeinen

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Dirk Jacob Jansen

zu datieren und in bestimmten künstlerischen Kontexten zu situieren Diese Verwendung von Haaren als Hinweisen bezieht sich auf eine Methode der wissenschaftlichen Untersuchung, die als Abduktion oder Retroduktion bekannt ist, die zuerst von Charles Sanders Peirce formuliert und in der Folge von Carlo Ginzburg und anderen diskutiert wurde Diese Methode erfordert spezifische, subjektive Qualitäten ihres Anwenders, etwa ein gut gespeichertes und geordnetes Gedächtnis sowie einen kreativen und analytischen Verstand Dies führt zu dem Schluss, dass Geschichtsschreibung ebenso eine Kunst wie eine Wissenschaft ist und Historiker diesen Aspekt ihres Handwerks nie vergessen sollten

Rather than bemoaning our own version of the “two cultures” – a world in which we must either choose to write densely footnoted articles in flatfooted prose, bristling with new insights that will barely see the light of day, or create popular accounts of science that our colleagues will not respect as significant contributions to knowledge, however enjoyable they may be in other respects – we should instead agree to craft a third culture of scholarship that is a meaningful exercise in the construction of historical knowledge while also holding true to the adage that history is an art, and a pleasurable one at that, as well as a science Paula Findlen, The Two Cultures of Scholarship?1

To remain in the metaphor of hair, the theme of the colloquium, the following chapter could be considered a decorative tress, plaiting various and different strands of hair together, some of it natural, some of it artificial; or even a Rococo coiffure, adding feathers, silk flowers, jewellery, and other materials to a minimal quantity of elaborately made up natural hair Hair, in various representations, remains the unifying strand that ties these various ornaments together, some of them rather obviously ‘an den Haaren herbeigezogen’ I leave it to the reader to decide whether the attempt to unify these disparate materials has resulted in anything pleasing, let alone convincing 1 Titian blond hair My theme is sixteenth-century hair – hair in painting, in draughtsmanship, in sculpture, and also in reality, and I will begin with a type of hair which has a certain red-golden shine, and which is often indicated as ‘Titian blond’ Titian blond is a colour of hair which one can actually buy on the internet [fig 1], and doubtless in the supermarket as well; my research has not gone to that length 2 In addition to synthetic hair colouring 1 2

Isis 96 (2005), pp 230–237 (pp 236–237) Publicity image from URL: www haircolor-professional de/die-farbe (29 11 2016), a website for hair colours for professional use

Curls as Clues

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substances, and dependent on the hair’s natural colour, it can be simulated by using henna: I remember well both my brother and my sister doing that, in their hippy period in the 1970s, in my brother’s case with conspicuous lack of success

Fig. 1 UI Hair Colour, product ‘Haarfarbe 6 64 dunkel tizian blond’

Fig. 2 Dante Gabriel Rossetti, Lady Lilith, watercolour and gouache, 1867, New York, Metropolitan Museum of Art

It is not quite clear what the colour of Titian hair exactly is Wikipedia’s description is rather confusing: The term Titian is sometimes misapplied to auburn hair While Titian hair is a brownish shade of red hair, auburn hair is a brownish shade of hair encompassing the actual colour red Most definitions of Titian hair describe it as a brownish-orange color, but some describe it as being reddish This is in reference to red hair itself, not the color red 3

Even though it is not really red hair, ‘Titian blond’ or ‘Titian red’ shares the attraction that red hair has always had, if only because of its relative rarity It appealed to people’s often more or less overt erotic imagination – with sometimes negative connotations: women with red hair were considered fascinating but dangerous, from the flirtatious 3

URL: https://en wikipedia org/wiki/Titian_hair (29 11 2016) It refers to definitions from various sources collected in the Free Dictionary: ‘a brownish orange’; ‘a bright golden brown color’, URL: www thefreedictionary com/Vecellio+Titian (29 11 2016) and Dictionary com: ‘a reddish-brown or golden-brown color’, URL: www dictionary com/browse/titian (29 11 2016) The Encyclopedia of Hair refers to Titian hair merely as ‘red-gold’ (Victoria Sherrow, Encyclopedia of Hair: A Cultural History, Westport et al , 2006, p 331); whereas Richard Corson, who pays more attention to styles of hairdressing than to hair colour, does not refer to Titian in relation to red hair (Fashions in Hair: The First Five Thousand Years, London, 1965/1980 )

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vamp to the immoral or even treacherous femme fatale, and ran a greater risk of being branded as witches than other women 4 Thus Lilith, the first wife of Adam mentioned in Goethe’s Faust, bewitched and entangled the men seduced by her beauty by means of her hair, which was often depicted as red or golden-red, most notoriously by Dante Gabriel Rossetti [fig 2], although the relevant passage of Shelley’s translation he jotted down on the reverse of his gouache merely refers to ‘fair’ hair: Beware of her fair hair, for she excells All women in the magic of her locks And when she twines them round a young man’s neck She will not ever set him free again 5

So obviously the red-haired or ‘strawberry blonde’ girl in the 1941 musical film of that name, starring James Cagney and Olivia de Havilland, is not really the right girl for Mr Nice Guy, who finally weds her less flamboyant best friend [fig 3] Although she only featured in this film, it became the second big success and the real take-off of the career of Rita Hayworth, whose ‘strawberry blond’ hair provided the film’s storyline as well as its title It was a colour of hair she had adopted a few years earlier when her image was recast by the Hollywood mogul who had taken her under his wing 6 Obviously when Mattel the toymakers decided to provide Barbie and Ken with a red-haired companion, Midge, only the faintest whiff of the femme fatale was allowed to taint the respectability of this doll, after all intended for children and teenagers [fig 4] In fact, she was even created ‘to counteract criticism that claimed Barbie was a sex symbol’ Anyone with a taste for absurdist literature will enjoy Midge’s biography on Wikipedia, which defies description; I will quote one single example: ‘Midge’s first appearance was made with her own head mold, Vintage Midge’7 4

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Some of these connotations discussed in Sherrow, Encyclopedia, pp 151–153; exhaustively in Ralf Junkerjürgen, Haarfarben: Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike, Cologne et al , 2009, pp 40–51, 115–116, 118–122, 228–234 and passim; Christine Vogt (ed ), Hair! Das Haar in der Kunst: Meisterwerke aus der Sammlung Ludwig von der Antike bis Warhol, von Tilman Riemenschneider bis Cindy Sherman [= exhibition catalogue Ludwiggalerie Schloss Oberhausen], Bielefeld, 2013, pp 29–30 1867, Metropolitan Museum (Rogers Fund 1908, accession nr 08 162 1) It is based on an earlier version in oils in the Delaware Museum of Art, in which the hair is of an even deeper shade of golden red (Samuel and Mary R Bancroft Memorial, 1935, obj nr 1935–29) Shelley’s translation makes Lilith more fatal than did Goethe, Faust I, Tübingen, 1808, p 272, lines 4118–4123: ‘Faust. Wer? Mephistopheles. Lilith ist das, Adams erste Frau / Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren,/ Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt / Wenn sie damit den jungen Mann erlangt,/ So läßt sie ihn so bald nicht wieder fahren ’ The film, set in New York, was directed by Raoul Walsh; its script was by the Epstein twins The actual plot is slightly more complex than is suggested here It is a musical film, ‘with all the warmth and color that made those gay nineties so gay’, according to the original trailer, and included many hits from that period, among which is its signature tune, ‘And the band played on’, the refrain of which contains the line ‘Casey would waltz with a strawberry blond’ The trailer is available on YouTube: www youtube com/watch?v=WUrSwmp4CjI (29 11 2016) URL: https://en wikipedia org/wiki/Midge (Barbie) (12 12 2016)

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Fig. 3 Poster for the film The Strawberry Blonde, directed by Raoul Walsh, produced by Warner Brothers (1941)

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Fig. 4 Midge, one of Barbie’s companions in Mattel’s set of fashion dolls

Whatever the head mould, whenever the hair on that head was red, as it often was with Midge, it was formally labelled as ‘Titian’ 8 It is time, therefore, to have a look at the origin of the term ‘Titian blond’ or ‘Titian red’ 2 Titian’s golden-red hair Many of the instances of ‘Titian blond’ hair referred to above implicate a smaller or larger degree of artificiality I have not mentioned – and found no reference to – any person naturally having hair of that colour, though they have doubtless existed and exist But even in the time of Titian himself, hair of that colour was considered an ideal of beauty, rather than a reality In Titian’s Venice, it appears to have been a specialty of the courtesans, who had developed several recipes first to bleach, and then to colour

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As it still is, see the official website URL: www thebarbiecollection com (04 02 2021)

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their hair, in order to attract their lovers or customers, using substances such as alum, sulphur, soda, henna, saffron, turmeric, rhubarb, and so on The procedure used by Venetian ladies to bleach their hair is described and illustrated by Titian’s own nephew and one-time collaborator, Cesare Vecellio, who illustrates the wide, crownless hat which allowed the hair, moistened with a bleaching solution, to be exposed to the sun, while protecting the complexion [fig 5] 9

Fig. 5 Venetian lady bleaching her hair in the sun, woodcut from Cesare Vecellio: De gli habiti antichi, e moderni di diverse parti del mondo libri due, Venice, 1590, fol 144v

But Cesare does not refer to the colouring present in his uncle’s paintings, from which the term ‘Titian blond’ derives In Titian’s paintings the colour is found primarily in history paintings, that is in paintings providing idealised images of mythological heroines, goddesses, or saints A good example is the Bacchus and Ariadne in the National Gallery in London, one of the master’s most splendid works, painted in 1522–1523 for Alfonso I d’Este, Duke of Ferrara [fig 6] From a gender point of view it may be interesting that in this case both heroine, Ariadne, and hero, Dionysus, have the same type and colour of hair: a golden blond with a reddish tinge [figs 7–8] 9

Cesare Vecellio, De gli habiti antichi, e moderni di diverse parti del mondo libri due, Venice, 1590, ff 144v–145v The passage given in English and discussed in Corson, Fashions in Hair, pp 172–174

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Fig. 6–8 Titian, Bacchus and Ariadne, oil on canvas, ca 1522–23; and detail of the two protagonists, London, National Gallery

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Fig. 8

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Fig. 9 Titian, Venus Anadyomene, oil on canvas, 1522–23, Edinburgh, National Galleries of Scotland

Fig. 10–11 Titian, Noli me tangere, oil on canvas, ca 1514, and detail of Mary Magdalene, London, National Gallery

In the Venus Anadyomene of the Scottish National Gallery in Edinburgh [fig 9], the goddess Venus, rising from the sea, wrings out a luxuriant head of Titian blond hair As the ideal of female beauty, this is only to be expected But even a saint, such as Mary

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Magdalene, could be painted with reddish golden hair: for instance in the moving Noli me tangere, likewise in London [figs 10–11] Was it deemed appropriate, when representing a saint who in the New Testament certainly does not figure as an ugly woman, to paint her with this attribute of idealised beauty? Even the Virgin Mary herself was sometimes painted with the same deep golden-brown hair 10 On the other hand the choice may be a more specific allusion to the ancient tradition considering the Magdalene as a repentant harlot Titian was not only a very imaginative painter, inventing beautiful, idealised women; he was also the most important and influential portrait painter of the Renaissance It is of some interest that Titian blond as a hair colour is much rarer among his realistic portraits than among his idealised history paintings This may have partly been due to the fact that most sitters were men, and did not dye their hair, and partly to the fact that many sitters had reached a venerable age – with the corresponding grey hair – before they were sufficiently important or rich to be painted by Titian There is, however, one example in which a slightly reddish tint is not only found in the hair of one of Titian’s male sitters, but is also recorded in a contemporary written document I refer to the famous portrait of the Imperial architect and antiquary Jacopo Strada (Mantua 1515–Vienna 1588) in the Kunsthistorisches Museum in Vienna [figs 12–13] 11 Just at the time this portrait was painted, in Venice in the summer of 1568, and while he made a quick visit to his native Mantua, Strada was caught up in the persecution campaign against heretics in Italian territories, which had begun after the accession of Pope Pius V, himself a former general inquisitor 12 Although there is quite a lot of evidence that Strada, who had lived in Germany since at least the early 1540s, had been in contact with many heretics – both German Lutherans and Italian exiles, such as Mino Celsi and Pietro Perna – he himself always stressed his adherence to the Roman Catholic Church 13 In fact it may well be that he was singled out by the Inquisition because it was a way in which Rome could attack his patron, Emperor Maximilian II,

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12 13

As in Titian’s early Bache Madonna (ca 1508; New York, Metropolitan Museum, The Jules Bache Collection, 1949, acc nr 49 7 15) Vienna, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, inv nr GG–81 On Strada, see Dirk Jacob Jansen, ‘Jacopo Strada’, s v in The Dictionary of Art, ed Jane Turner, London, 1996, vol 29, pp 737–740; id , Urbanissime Strada: Jacopo Strada and Cultural Patronage at the Imperial Court [= Diss Leiden University], Maastricht, 2015, which supply further bibliography First described by Stefano Davari, Cenni storici intorno al tribunale della Inquisizione di Mantova, Milan, 1879, repr Mantova, 1973, and more recently in great detail by Sergio Pagano, Il processo di Endimio Calandra e l’Inquisizione a Mantova nel 1567–1568, Vatican City, 1991 On Strada’s confessional position, as little explicit as his patron Maximilian II’s, see Jansen, Urbanissime Strada, pp 437–441, and now more in detail Dirk Jacob Jansen, ‘“A House for All Sorts of People”: Jacopo Strada’s Contacts With Italian Heterodox Exiles’, in Cornel Zwierlein, Vincenzo Lavenia (eds), Fruits of Migration: Heterodox Italian Migrants Preparing Baroque Culture in Northern Europe 1550–1620, Leiden, 2018, pp 178–231

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Fig. 12–13 Titian, Portrait of Jacopo Strada, oil on canvas, 1567–1568, and detail, Vienna, Kunsthistorisches Museum

who had not only had to make many concessions to his many protestant subjects, but maintained strong evangelical sympathies himself.14 That Strada’s persecution was part of a premeditated plan is clear from the fact that the Inquisitor in charge, Camillo Campeggi, set spies on his track, who reported from Venice, ‘I will send there [= Venice] the particulars of Giacobo Strada, and will also employ spies in order to know where he may be.’15 Campeggi even circulated a description of Strada’s appearance which Monsignor Sergio Pagano, the present Prefect of the Archivio Segreto Vaticano, to whose study of the Mantuan persecution I owe this material, has described as a veritable ‘identikit’: ‘I send the description which I have been able to get of that Giacobo Strada Antiquary to the Emperor, so that we can arrange to have him in our hands.’ In the attached ‘identikit’ Strada is described as,

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Jansen, Strada’s contacts, pp. 179–181, 193; on Maximilian II’s ‘mysterious’ attitude towards the confessional questions of his time, see Howard Louthan, The Quest for Compromise: Peacemakers in Counter-Reformation Vienna, Cambridge, 1997, which describes Strada as one of these ‘peacemakers’. Pagano, Il processo di Endimio Calandra, p. 197, n. 15: The inquisitor Camillo Campeggi to Scipione Rebibba, Mantua 18 June 1568: ‘Mandarò li contrassegni di Giacobo Strada e vi porrò anche delle spie dietro per saper ove sarà.’

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[ Jacopo Strada is an] Antiquary from Mantua: he has red hair that tends towards the black or rather the dark [brown?]; his beard is beginning to get grey hairs; he will be about fifty years of age, is of middle height, and is well-to-do He lives in Vienna, and has a German wife 16

If we compare Strada’s beard as shown in the portrait with the description, it seems to tally very precisely [fig 13] In the painting, Strada’s hair is indeed of a dark shade of red; and although I had never noticed the grey hairs until I found Monsignor Pagano’s reference to the document, they are unmistakably there So I think we may conclude that, at least in this case, Titian appears to have followed nature to a very large extent, including the slightly reddish tint of Strada’s hair 3 Clues: Ginzburg, Peirce, Holmes, and Morelli With an identikit, with spies, we have moved into the realm of the thriller, the spy story, detective fiction, and popular television series on forensic sciences like Criminal Scene Investigation and Bones; the realm of James Bond and, even more so, of Sherlock Holmes This, as an historian, reminds me of a famous article by Carlo Ginzburg, which has been published and republished in many versions and in many languages, but to a German audience is probably best known under the title ‘Spurensicherung: Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst’, the earliest version of which was published in 1983, as a translation of Ginzburg’s Italian article of 1979 For this chapter, however, I have used the first English version, ‘Morelli, Freud, and Sherlock Holmes: Clues and Scientific Method’, included in a fascinating collection of essays on scientific and historical method edited by Umberto Eco and Thomas Sebeok 17 The essays all discuss aspects of scientific method as expounded by the American pragmatic philosopher Charles Sanders Peirce, in particular the method to elicit scientific knowledge from particular facts he called abduction or retroduction All the essays in the book relate Peirce’s method to that developed to solve mysterious crimes by the famous – although fictive – detective Sherlock Holmes, as propounded in Sir Arthur Conan Doyle’s versions of Holmes’ cases written down by his faithful, though equally fictive, amanuensis, Dr Watson

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Ibid , p 199, n 22: Campeggi to Rebibba, Mantua 25 June 1568: ‘Mando la descrittione che ho potuta havere di quel Giacobo Strada antiquario dell’Imperatore, accioché si possi procurar di haverlo nelle mani’; the attached ‘identikit’ describes Strada as ‘mantovano antiquario; è di pelo rosso che tiro al nero overo al scuro, comincia a far la barba canuta, può havere cinquanta anni, di statura mezzana, et è prosperoso Habita in Vienna et ha una moglie alemana’ Carlo Ginzburg, ‘Spie Radici di un paradigma indiziario’, in Aldo Gargani (ed ), Crisi della ragione, Turin, 1979, pp 59–106; id , Spurensicherungen: über verborgene Geschichte, Kunst u soziales Gedächtnis, Berlin, 1983, pp 61–96; id , ‘Morelli, Freud, and Sherlock Holmes: Clues and Scientific Method’, in Umberto Eco, Thomas Sebeok (eds ), The Sign of Three: Dupin, Holmes, Peirce, Bloomington, 1988, pp 81–118 Most of the other essays in this volume are equally interesting

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For Peirce, abduction was a method to acquire knowledge that was complementary to accepted methods like induction – obtaining knowledge about a general law or rule from the observation of individual facts – and deduction – deriving knowledge about an individual fact from a given general law Abduction obtains knowledge about an individual fact or problem by interpreting it in the light of other observed facts, on the basis of which a hypothesis or conjecture is formulated and subsequently tested This is why Ginzburg speaks of the conjectural paradigm, and he emphasises that it presupposes both a well-stored and a well-ordered memory – to quickly find the information relevant to interpret the observed indications or ‘clues’ – as well as a creative and analytical mind, in order to formulate the simplest and most likely hypothesis This involves an intuitive thought process which is as rational as induction and deduction, even when the individual steps of the argument are not always explicit, or even conscious And its results can be as convincing and self-evident, at least to its practitioners, although it is not certain that these would always obtain the assent of others as easily as Sherlock Holmes did, in the theatrical denouements of his cases Central to Ginzburg’s discussion is the work of the Italian art historian Giovanni Morelli, a quite interesting personality born in Verona in 1816, but who had studied medicine as well as history and German literature in Munich and Erlangen, rather than in Italy [fig 14] Therefore, he had many contacts in Germany, including illustrious literati and scientists such as Friedrich Rückert, Clemens and Bettina von Brentano, and Alexander von Humboldt At a later date he would translate Schelling into Italian He was a firm supporter of the Risorgimento and after the unification of Italy he would have considerable political influence, becoming a senator of the Regno d’Italia and significantly contributing to political and diplomatic relations between Italy and Germany His interest in the history of Italian art was expressed in the small but fine collection which he brought together, and which can still be admired in the Accademia Carrara in Bergamo It is quite surprising that no full biography of him has been written, and even the recent monograph, published online by Dietrich Seybold, concentrates primarily on the art-historical method developed by Morelli, and investigates the way he practiced it himself 18 As an art historian, Morelli was an amateur His inherited wealth allowed him the leisure to read very widely, including literary and archival sources, and provided him

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Dietrich Seybold, The Giovanni Morelli Monograph, published online, URL: www seybold ch/ Dietrich/ TheGiovanniMorelliMonograph (12 12 2016), provides a huge quantity of structured information and a number of essays on various aspects of Morelli’s activity as a connoisseur, an exhaustive survey of sources, and a bibliography The first brief account of Morelli’s life was given by his friend Gustavo Frizzoni, as a preface to his posthumous edition of the third volume of the Kunstkritische Studien of 1893 (see below, note 20), pp XI–LXIII On Morelli’s method, see Edgar Wind, Art and Anarchy, London, 1963, pp 32–51; Richard Wollheim, ‘Giovanni Morelli and the Origins of Scientific Connoisseurship’, in id , On Art and the Mind Essays and Lectures, Cambridge, Mass , 1974, pp 177–201; Giacomo Agosti, Maria Elisabetta Manca, Matteo Panzeri (eds ), Giovanni Morelli e la cultura dei conoscitori, 3 vols , Bergamo, 1993

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with the means to travel extensively in order to study works of art in reality, instead of from prints – which were not always precise – or from photographs, which were always in black and white Having had solid academic training, both as a physician and in the humanities, he soon developed a professional approach to the questions posed in the emerging discipline of art history Chief among those were the attribution of works of art that were either documented insufficiently or not at all, the distinguishing of copies or outright fakes from authentic works, and how to determine the relative roles of master, assistants, and pupils in the execution of the products of a given workshop Carlo Ginzburg relates Morelli’s method to his training as a doctor, which taught him how to draw conclusions on the basis of a number of indications, symptoms, or ‘clues’: observed facts from which inferences can be drawn, allowing provisional conclusions or conjectures about other facts, such as the illness causing the symptoms Such conclusions can only be drawn by someone whose remembered earlier experience, coupled to a particular talent – a sort of rational but imaginative intuition – allow him to correctly interpret these clues, to use them to formulate and test a number of hypotheses, and ultimately to identify the true solution of the mystery As of 1874 Morelli began publishing, under the Russian pseudonym Ivan Lermolieff, a number of articles in the Zeitschrift für bildende Kunst, proposing new attributions that often, sometimes spectacularly, differed from received opinion 19 Doubtless the most important of these was his upgrading, in a subsequent monograph on Italian paintings in German galleries, of the Dresden Sleeping Venus from ‘Wahrscheinliche Kopie (!!) und überdies von Sassoferrato (!)’ to the original by Giorgione, finished by Titian, which is mentioned in an anonymous early sixteenth-century manuscript describing works of art in Venetian collections, which was published by Morelli’s close friend Gustavo Frizzoni [fig 15] 20 It is no coincidence that Ginzburg relates Morelli’s method of attributing a painting to Sherlock Holmes’ interpretation of clues to identify the murderer, and to Sigmund Freud’s reading a patient’s irrational behaviour to diagnose an early trauma – just as it

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Iwan Lermolieff [Giovanni Morelli], ‘Die Galerien Roms: Ein kritischer Versuch’, Zeitschrift der bildenden Kunst 9 (1874), pp 1–11, 73–81, 171–178, 249–253; ibid 10, 1875, pp 97–106, 206–211, 264– 273, 329–334; ibid 11, 1876, pp 132–137, 168–1739, 1874, pp 1–11, 73–81, 171–178, 249–253; ibid 10, 1875, pp 97–106, 206–211 264–273, 329; id , Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin Ein kritischer Versuch, Leipzig, 1880; they were all republished in three volumes, Iwan Lermolieff [Giovanni Morelli], Kunstkritische Studien über italienische Malerei, 3 vols , Leipzig, 1890–1893, the edition which I have used Lermolieff, Kunstkritische Studien, vol 3, pp 286–291; the author of the manuscript notes, confusingly known as the ‘Anonimo Morelliano’, after the librarian of the Biblioteca Marciana who edited the first edition of the manuscript, was later identified with Marcantonio Michiel: Jacopo Morelli, Notizie d’opere di disegno nella prima metà del secolo XVI esistenti in Padova, Cremona, Milano, Pavia, Bergamo, Crema e Venezia, scritta da un anonimo di quel tempo, Bassano, 1800; second edition by Gustavo Frizzoni, Venice, 1884

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Fig. 14 Franz von Lehnbach, Giovanni Morelli, frontispiece from vol 3 of his Kunstkritische Studien

Fig. 15 Giorgione, Sleeping Venus, oil on canvas, ca 1510, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie

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seems no coincidence that both Morelli and Freud, as well as Arthur Conan Doyle, Sherlock Holmes’ creator, had trained as physicians The basis of Morelli’s method to assess the authenticity of a painting, or to assign it to an individual artist, is the assumption that small, insignificant detail, often executed without conscious thought, provides a much better indication of the author, than the more obvious and immediately recognisable characteristic of a painting, such as Leonardo da Vinci’s smile, which would be the first to – and could most easily – be imitated by an emulator, a copyist, or a forger Morelli’s essays on Italian painting, written in the form of guided tours through various important galleries, such as the Gallerie Borghese and Doria Pamphili in Rome, and the Gemäldegalerie in München, Dresden, and Berlin, are therefore littered with small drawings representing relatively insignificant details, such as hands or ears, for which each artist during his earliest training develops his own, often unconscious formula, which he will generally retain even when copying a work of another master This constitutes a parallel with handwriting, which is considered sufficiently personal to the individual to provide legal evidence of his identity In illustrations 16 and 17, two flanking pages from the first volume of Morelli’s study, dedicated to the Borghese and Doria Pamfili collections in Rome, show a wide selection of hands and ears as drawn by various masters from the Quattrocento Hands and ears were parts of the human anatomy which Morelli considered particularly useful in determining the author of a given painting Although he often also described the individual characteristics of these features as drawn by various painters, it is obvious that mere text could never replace such images Therefore these illustrations were an absolute necessity when comparing paintings of various masters, in order to determine for each, which of these masters may have painted it

Fig. 16–17 Hands and ears in the works of various Quattrocento painters, from Giovanni Morelli’s Kunstkritische Studien, I: Die Galerien Borghese und Doria Panfili in Rom, Leipzig, 1890, pp 98 and 99

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Although the method has met with severe criticism, in fact it has been extremely influential, and is used by both experts and dealers A comment by Norman Bryson is perhaps illuminating in this respect: The Morellian method, with its focus on the tell-tale details of drapery, hands, and hair, is entirely forensic; style betrays itself, in the manner of crime And the agency with an active interest in such detective-work will be a market hungry for precise attribution in order to maximise the worth of the authentic commodity, and to introduce into its transactions the stability of standard measurement 21

That explains why Morelli’s best known disciple, the American art-historian Bernard Berenson, providing expertise to many American museums and private collectors, could afford to acquire and expand the Villa I Tatti at Florence, just by practising what he had learned from Morelli Although Bryson mentions hair among the details of works of art that serve the purpose of the Morellian method, Morelli himself uses it rarely as an indicator of an artist’s individuality, and provided no comparative illustration of it similar to those he included of hands and ears This is somewhat odd: in his article cited above, Carlo Ginzburg showed that Morelli was not the first to formulate this method It had in fact already been described and practised in the Rome of Galileo, by Giulio Mancini, who – again, not coincidentally – was the personal physician of Pope Urban VII In his manuscript treatise, Alcune considerazioni sulla pittura come diletto di un gentilhuomo nobile e come introduzione a quello si deve dire, Mancini refers explicitly to the usefulness of hair and of drapery folds in distinguishing hands When assessing a painting, it is important to see, […] whether the resolute hand of the master can be detected, especially where it would take much effort to sustain the imitation, as in hair, beards, or eyes Curls and waves of hair, if they are reproduced exactly, will look too laborious, and if the copyist fails to get them right they will lack the perfection of the master’s version And these parts of a painting are like strokes of the pen and flourishes in handwriting which needs the master’s sure and resolute touch The same care should be taken to look for particularly bold or brilliant strokes, which the master throws off with an assurance that cannot be matched; for instance in the folds and glints of drapes, which may have had more to do with the master’s bold imagination than with the truth of how they actually hung 22

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Norman Bryson, ‘The Natural Attitude’, in Jessica Evans, Stuart Hall (eds ), Visual Culture: The Reader, London, 1999, pp 23–32 Giulio Mancini, Alcune considerazioni sulla pittura come diletto di un gentilhuomo nobile e come introduzione a quello si deve dire, ed Adriana Marucchi, vols 1–2, Rome, 1956–1957, vol 1, p 134; translation from Ginzburg, ‘Morelli, Freud, and Sherlock Holmes’, p 96

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4 Antinous’ hair The rendering of hair has certainly played a big role in determining origin and date of less than perfectly documented works of art: perhaps the best example is the use made of design and technique in sculpting hair in the dating, classifying, and interpreting of classical sculpture A good example is provided by Caroline Vout’s critical case study of the role the style of hair has played in establishing the canon of the portrait tradition of Antinous 23 The deified beloved of the Emperor Hadrian appears to have been blessed with a quite attractive mass of luscious, curly hair, one of the reasons – although perhaps not the most important – for Hadrian’s affection After his mysterious death, the cult the Emperor devoted to him caused the erection of many statues all over the Empire, making Antinous one of the best represented personalities in Roman sculpture It is significant, and to an outsider rather surprising, that the identification of these portraits is based on the admittedly rather spectacular hair style, rather than on the youth’s expressive features: the square eyebrows over deep-lying eyes, the wide bridge of the slightly aquiline nose, the full lips, and the slightly dreamy, passive air of his expression Given the assumption that such public portraits were generally based on an officially licensed type, sculptures deemed worthy to be included in the canon are selected by an analysis of the disposition of the curls and locks of the hair on the front, over the ears, and in the neck of the subject [fig 18] 24 This is quite an old procedure: perhaps as early as the early seventeenth century, certainly before 1756, a fragment consisting of the back part of a head, a neck, and a bust, documented in the Ludovisi collection since about 1641 and now in the Palazzo Altemps in Rome, had been identified and restored as Antinous on the basis of the locks of hair in the neck, by means of this so-called ‘lockscheme methodology’ [fig 19] In this particular case, the effectiveness of the procedure has been recently proved by the discovery that a fragmented head of Antinous in the Art Institute of Chicago is in fact the missing face of the Altemps bust This is very similar to the eighteenth-century restoration except, ironically, for the curls [fig 20–21] 25 23 24

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Caroline Vout, ‘Antinous, Archaeology and History’, The Journal of Roman Studies 95 (2009), pp 80–96 For instance in Christoph W Clairmont, Die Bildnisse des Antinous: ein Beitrag zur Porträtplastik unter Kaiser Hadrian, Rome, 1966, and in the most recent canon of Antinous Iconography, Hugo Meyer, Antinoos: die archäologischen Denkmäler unter Einbeziehung des numismatischen und epigraphischen Materials sowie der literarischen Nachrichten; ein Beitrag zur Kunst- und Kulturgeschichte der hadrianisch-frühantoninischen Zeit, Munich, 1991 The Ludovisi bust, the Chicago fragment, and a careful three-dimensional reconstruction of the original appearance of the bust were shown in an exhibition in the Art Institute and the Palazzo Altemps in the summer and autumn of 2016; see Katharine A Raff, Roman Art at the Art Institute of Chicago [= online catalogue], Chicago, 2016, cat nr 9 The restoration has been attributed to Ippolito Buzzi (1562–1634), who is documented to have restored antiques for the Ludovisi; it certainly antedates the 1756 visit by Winckelmann, who recognised that the larger part of the head, including the face, was modern For the 3D reconstruction by Studio MCM in Rome, see URL: www studiomcm it/prot_antinoo html (22 12 2016)

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Fig. 18 Portrait busts of Hadrian and Antinous in the British Museum

Fig. 19 The ‘lock-scheme’ of the principal portrait-type of Antinous, shown on the bust in the National Archaeological Museum in Athens, illustration from Christoph Clairmont, Die Bildnisse des Antinoos, pl 38

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Fig. 20 Fragment of a Portrait Head of Antinous, mid-second century A D Roman Art Institute, Chicago, Gift of Mrs Charles L Hutchinson

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Fig. 21 Antinous: ancient bust and neck, from the Ludovisi Collection; restoration of the face from the seventeenth or early eighteenth century on the basis of known portraits of Antinous Rome, Palazzo Altemps, inv nr 862

Although Vout does refer to Morelli, in this case the style of the hair depicted, rather than the style of the carving, is used for the identification of the sitter, that is for an iconographic purpose; whereas Morelli’s method aims to establish, on the basis of specific details of its execution, by which individual artist or workshop, and in which period, the statue had been carved 26 Vout seems to misunderstand Morelli’s method when she refers to details where ‘an artist’s efforts to “copy” a model are most apparent’, whereas Morelli’s connoisseurship focuses on the opposite, on those details which are so insignificant in terms of iconography or style, that they are not carefully copied, and therefore show the actual copyist’s involuntary but identifiable idiosyncrasies, unmistakably, like handwriting In addition to the iconographical analysis, the attempt to attribute antique statues to a school, a region, a period, on the basis of purely technical details, such as the level of relief, the specific drill marks, etc – a method which more closely conforms to Morelli’s connoisseurship – is standard procedure in cataloguing any collection of antique sculpture, as well as in identifying the die-cutters for ancient coins Not to explode the limits of this chapter, I will refrain from discussing this theme, and return instead to Jacopo Strada, whose drawings, not of the statues, but of the coins of Antinous appear to have excited rather more scholarly attention than his other numismatic drawings Thus in the second volume of his Commentariorum de Augustissima Bibliotheca Caesarea of 1669, the Imperial Librarian Peter Lambeck illustrated and

26

Vout, ‘Antinous’, p 81

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amply commented upon the obverse and the reverse of a coin of Antinous [fig 22] 27 These he had copied not from the Imperial coin cabinet, but from Strada’s manuscript Series Romanorum ac Graecorum ac Germanorum imperatorum a C. Iulio Caesare usque ad Maximilianum II. ex numismatibus delineatae, kept in the Imperial Library, in which this coin is both illustrated and described [fig 23–24] 28

Fig. 22 Engravings after a coin of Antinous as drawn by Jacopo Strada, in Peter Lambeck, Commentariorum de Augustissima Bibliotheca Caesarea, vol 2, Vienna, 1669, illustrations between pp 686 and 687 27 28

Lambeck printed Strada’s complete description: Petrus Lambecius, Commentariorum de Augustissima Bibliotheca Caesarea, 8 vols , vol 2, Vienna, 1669, p 684–686, illustrations between pp 686 and 687 Mss 9413–9418 The drawings are found in the second volume of Greek imperial coins, Εν τουτου μεν τομω ο των αυτοκρατορων ρομαιων αταλογοσ απο του Μ∙ Κοκκηιου, Νερουα, αυτοκρατοροσ καισαροσ σεβαστοσ εωσ του Αλεξανδρου Σεουηρου vol 2 (Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Ms 9417, ff 2v–3r (description) and 26r and 27r (images). The description is not included in Strada’s earlier manuscript numismatic corpus, although this does include a coin with a similar obverse, but with a reverse with Mercurius and Pegasus ( Jacopo Strada, A ∙ A ∙ A Numismatωn Antiquorum Διaσκευη, hoc est, Chaldaeorum Graecorum, Hetruscorum, ac Macedoniae , Romanorum Regum, a primordio Urbis, Deûm, Coss tempore Reipub: & crescente adhuc, tam sub Caess Latinis, in occidente, quam Graecis Impp in oriente , metallicarum eiconum explication, Vienna, University Library, ms III-160898, vol 4, fol 45r/p 1142, nr 4) This coin is probably a ‘Paduan’, a Renaissance imitation (cf Michel Amandry, Andrew Burnett, Jerome Mairat: Roman Provincial Coinage, 3 vols , vol 3: Nerva, Trajan and Hadrian (AD 96–138), pt 1, pp 39–41, “Marcellus for the Corinthians”, nr F265)

Curls as Clues

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Fig. 23–24 Jacopo Strada, obverse and reverse of a coin of Antinous, drawings in pen and wash in the second volume of the Greek imperial coins in his Series Romanorum ac Graecorum ac Germanorum imperatorum a C. Iulio Caesare usque ad Maximilianum II. ex numismatibus delineatae, Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, ms 9417, fols 26r and 27r

Even without the inscription, the image on the obverse – Strada describes it as ‘Antinous juvenis vultu decoro et venusto videtur; crispis capillis, pectore tenus nudus, nullo ornato’ – and in particular the style of the hair, make clear that it represents the deified Antinous It is therefore all the more unfortunate that Strada’s version cannot have existed in this form, at least not as an authentic Roman provincial coin 29 Lambeck’s conclusions – he refers the coins to a famous bronze statue of an adolescent that had been excavated in 1592 at the Helenenberg near Klagenfurt – are therefore less solid than he may have thought himself 30

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30

The obverse is a version of coins struck by Hostilius Marcellus, appointed Priest of Antinous in Corinth (ibid pp 39–41); being large, medallion-like coins struck on the occasion of the first games dedicated to Antinous in Corinth, they were attractive and therefore incited the invention of Jacopo Cavino and other imitators and forgers, as may have been the case with Strada’s exemplar: image and inscription of the reverse refer to a friendship treaty between Smyrna and Perinthos, which makes it very unlikely that obverse and reverse belong together; and this type of reverse is not found among the coins of Antinous even without the inscription (cf Amandry, Burnett, Mairat Roman Provincial Coinage, vol 3; Rainer Pudill, Antinoos: Münzen und Medaillons, Regenstauf, 2014) The statue, the original of which is lost, is now confusingly known as the ‘Jüngling vom Magdalensberg’; Lambeck discusses and illustrates it in the same volume, pp 672–674 and engravings A later copy is in the Kunsthistorisches Museum in Vienna; see Kurt Gschwantler, ‘Der Jüngling vom Magdalensberg in Aranjuez: Die Suche nach dem Verschollenen Original’, in Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 89–90 (1993/1994), pp 311–339

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5 Imperial hair in Strada’s Magnum ac Novum Opus Elsewhere in his Commentariorum Lambeck cited and illustrated other coins he had found and studied in Strada’s Series 31 This work, commissioned by the Emperor Maximilian II, was based on the numismatic research, almost all of which remained in manuscript, done by Strada under the aegis of Hans Jakob Fugger, a highly intellectual scion of the famed banking family from Augsburg Probably sometime before 1550, the date of the title page of the first volume, Strada began to work on a huge, structured corpus of numismatic drawings, the Magnum ac novum Opus continens descriptionem Vitae, Imaginum, numismatum omnium tam Orientalium quam Occidentalium Imperatorum ac Tyrannorum By 1566, when financial difficulties constrained Fugger to sell it, unfinished, to Duke Albrecht V of Bavaria, it had grown to 34 volumes including close to 10,000 drawings of obverses and reverses of, mostly, Roman and Roman provincial coins 32 The drawings were complemented by an almost equally voluminous textual corpus, his A. A. A. Numismatωn Antiquorum ΔΙAΣΚΕΥΗ […], in which Strada described each coin that he had studied and sketched during his learned peregrinations 33 From these works it appears that Strada observed the coins he drew and described with great care, noting every little detail that might have some bearing on the iconography of the piece; but in his finished drawings he often also noted details which were not really there, in order to produce a pristine reconstruction of the coin as he thought it had been, or had been intended In the preface of his printed treatise, the Epitome thesauri antiquitatum, printed in Lyon in 1553, Strada stressed that he had done his best to select the best-cut examples for his illustrations 34 But he rarely, if ever, comments on the artistic style of a coin, except to indicate when it was of exceptional beauty A Mo31 32

33 34

Lambeck, Commentariorum, vol 1, Vienna, 1665, pp 74–75; pp 76–78; vol 2, Vienna, 1669, pp 524, 739 (and accompanying engravings) In the Thirty Years’ War the drawings of the Magnum ac Novum Opus were taken from the Munich Kunstkammer by the Swedes; 30 volumes were later acquired by Duke Ernst the Pious of Saxe-Gotha-Altenburg, and now in the Forschungsbibliothek Gotha, mss Chart A 2175 1–14 and 16–29 (volume 15 is lost); four volumes were acquired by Thomas Howard, Earl of Arundel, and are now in the British Library, Ms Arundel 65, 1–4 ; cf Dorothea Diemer, Peter Diemer, Willibald Sauerländer (eds ): Die Münchener Kunstkammer, 3 vols , vol 1, Katalog, pt 1, pp 1–4 (nrs 1–34); pp 5–6, nr 36–37; Cornelia Hopf, ‘Jacopo Strada: Descriptio vitae, Imaginum et numismatum omnium …’, in Bayerische Staatsbibliothek (ed ): Kulturkosmos de Renaissance: Die Gründung der Bayerischen Staatsbibliothek [=exhibition catalogue Staatsbibliothek, Munich], Wiesbaden, 2008, cat nrs 94, pp 262–263; Jansen, Urbanissime Strada, pp 98–104; 611–628 At present the drawings are being studied in conjunction with the descriptions in the Diaskeuè by the archaeologist Volker Heenes and myself, as the subject of a research project undertaken at the Forschungszentrum Gotha, financed by the Deutsche Forschungsgemeinschaft Preserved in two complete versions, each of eleven volumes, in the library of Vienna University, mss III, 160898, 1–11, and in Prague, Czech National Library, mss VII A 1, a–l; copies of volumes I and IV in Munich, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 163–164 Jacopo Strada, Epitome Thesauri antiquitatum, hoc est, Impp Rom Orientalium et Occidentalium Iconum, ex antiquis Numismatibus quam fidelissime delineatarum, Lyon, 1553, fol A4r

Curls as Clues

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rellian type of analysis in order to classify the objects, to attribute them to a particular epoch and/or a local or regional ‘school’ of designers and die-cutters, never occurred to him In this he was no exception: among his contemporary colleagues, only Enea Vico and Antonio Agustín appear to have devoted miniscule passages in their writings to the technical and artistic quality of coins and its development, or rather its degeneration after Emperor Septimius Severus (for Vico) and Gallienus (for Agustín) 35 So it comes as no surprise that Strada’s coin-drawings do not show any real stylistic differences between the various models reproduced In fact it is clear that Strada insisted on a uniform technique and style, which he closely supervised This cannot have been very simple, since the drawings were made over a period of at least 15 years; moreover, although presented as ‘ex Musaeum Iacobi de Strada Mantuani Antiquarii’, many of them were in fact made by assistants In his treatise I veri precetti della pittura of 1587, one these assistants, Giovanni Battista Armenini, related how when a young art student in Rome in the 1550s, he had lived for a while in Strada’s house, for whom he had copied certain antique medals in bronze and in gold, in watercolours, at the size of a “palmo”; which drawings, with their reverses, he then sent to the Fuggers, rich merchants, after having bound them together into beautiful books […]

And Armenini was not Strada’s only assistant: elsewhere he relates how ‘the most talented young artists in Rome in my time’ had been employed to make such documentary drawings of plans, temples, medals, arches, columns, statues and other ancient objects that have been found throughout that city in the course of time, particularly those however that were more notable, and more perfect than the others 36

Even a cursory examination of Strada’s Magnum ac Novum Opus in Gotha confirms Armenini’s account that these drawings were in fact made by several draughtsmen employed by Strada, although doubtless there are also many among them which are in his own hand Only a few names of draughtsmen who have been employed by Strada over the years are documented, not always with an exact indication of what they actually did To better understand the genesis and the raison d’être of this ambitious, long-lasting, though finally unfinished project, a number of questions must be asked to which the available documentary evidence provides no ready answers, such as: – How did Strada organise his workshop? – How did he plan the Magnum opus – was there a master plan behind it, of did he just collect material and sort it out as it came along? 35 36

Enea Vico, Discorso sopra le medaglie degli antichi, Venice, 1555, p 53 Antonio Agustín, Dialoghi intorno alle medaglie, inscrittione et altre antichità, Rome, 1592, p 13–14; cf Frances Haskell, History and its Images: Art and the Interpretation of the Past, New Haven et al , 1993, pp 112 Giovani Battista Armenini, De’ veri precetti della pittura, Ravenna, 1587, pp 65 and 180

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How did he organise his source material? How closely did he supervise the draughtsmen he employed? Did he draw the rough sketches, remains of which are often visible, himself? Did he use specialised draughtsmen for special subjects, such as the architectural reverses, and specialised scribes for the inscriptions? When and where did he work on the project? What contacts did he maintain with other antiquaries and scholars?

Not all of these questions can be answered by a Morellian type of analysis of the drawings, but it may provide clues to at least some of them 37 Combining such clues with data from other sources may allow inferences, conjectures, occasionally perhaps even conclusions A few of Strada’s drawings will serve as examples of the types of information a Morellian analysis might elicit Thus a comparison of four portrait heads of Caesar, all included in the very first Gotha volume, shows four different manners of drawing hair, of different degrees of elaboration Fol 5 [fig 25] shows rather lush, curly hair, which strongly contrasts with the bald forehead; it is relatively carefully drawn, emphasising its sculptural, three-dimensional quality by means of the pronounced shade in wash In fol 11 [fig 26], which is also carefully drawn, with a more refined wash, the hair is drawn quite differently, concentrating much less on the individual curls and showing more flowing locks In fol 113 [fig 27], the curls are indicated almost symbolically, small squiggles of the pen, without any depth, and an almost invisible wash; whereas in fol 3 [fig 28] the hair is reduced to a mere surface pattern To some extent the differences in the rendering of the hair in these drawings may reflect the different ways hair was represented on Roman portrait statues and busts, and Strada’s draughtsmen may well have applied their earlier experience in drawing antique sculptures to the task at hand But this appears insufficient to explain the differences in the hair; comparing other elements in addition to the hair, such as the technique of the brushwork or the rendering of the laurel leaves, I would be tempted to assign these four drawings to four different hands But such a conclusion can never be certain: after all, a draughtsman working in a similar project will develop his talents, and fol 3 [fig 25] might simply represent an earlier stage in the career of the draughtsman of fol 113 [fig 24] Moreover, in view of the large scale of Strada’s enterprise, one cannot exclude that occasionally a division of hands may be found even in the individual drawings, one draughtsman specialising in the pen drawing, another adding the shading with the brush 38

37 38

For an attempt to answer some of these questions, see Ch 2: ‘The Making of the Magnum ac Novum Opus: Art, Craft or Manufacture’, in Volker Heenes, Dirk Jacob Jansen, Jacopo Strada’s Magnum ac Novum Opus: A Sixteenth-Century Corpus of Ancient Numismatics, forthcoming The legends of the coins, always written in black ink over an underdrawing in pencil, were almost certainly added by a specialised draughtsman or scribe

Curls as Clues

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Fig. 25–26 Jacopo Strada, two obverses of coins of Caesar, drawings in pen and wash, in his Magnum ac Novum Opus, vol 1, fol 5 and fol 11

Fig. 27–28 Jacopo Strada, two obverses of coins of Caesar, drawings in pen and wash, in his Magnum ac Novum Opus, vol 1, fol 113 and fol 3

Strada’s obvious attempt to ensure uniformity makes the evaluation of the individual characteristics of the draughtsmen rather problematic A good example are the ears, which in Morelli’s method are the preferred pointers or clues: in Strada’s drawings they are so mechanically traced that they allow no conclusion at all To distinguish hands, other elements will be more useful, such as the representation of the eyes, the mouth, and the feet, but also the ductus of the line in general, the technique of the wash, and the individual artist’s approach to human and animal anatomy and proportions

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This exercise is not without some use: to distinguish groups of drawings made by different hands will help in analysing the contents of the Magnum ac Novum Opus, and the process of its manufacture It can already be concluded that the several volumes were not put together according to a rigid scheme planned beforehand, in which each single volume was commissioned from a single artist On the contrary, the drawings were made separately, probably dependent on the availability of the sources, and filed away until the time a volume was to be made up This conclusion is corroborated by the watermarks of the paper, which indicate that drawings not only by different draughtsmen, but also from different stages of the project, were gathered together in the various sections; and it is further confirmed both by archival records and by the present make-up of the albums, which dates back to 1571, when the various sections were bound prior to their collocation in the Munich Kunstkammer It is not very likely that it will be possible to identify any of the various ‘hands’ that can be individuated in the Magnum ac Novum Opus, with any of the many documented artists who had gathered in Rome, and subsisted partially or entirely on what they earned by drawing and engraving antiquities They came from all over Europe: Italians, Frenchmen, Dutch and Flemish, Germans, and even Croatians such as Martino Rota Kolunić, with Armenini one of the few masters whom we know were employed in Strada’s projects 39 However, because these same draughtsmen also must have provided material to other patrons, it is perfectly possible that the same anonymous hands can be found in other collections of antiquarian drawings of the mid-sixteenth century Thus comparison of the Gotha albums with other collections of antiquarian drawings of the period may well provide further clues that help to reconstruct the genesis of the Magnum ac Novum Opus more precisely, and to throw more light on its intellectual and artistic context 6 Curls as clues: Homage to Clio The few examples presented here demonstrate that curls, in their individual form, their arrangement, and their colour, have served and can still serve as clues; clues leading by a process of abduction to rational conjectures, to hypotheses, and to conclusions which appear convincing They are emblematic for most historic research, which tries to find coherence in, and to assign significance to a finite number of arbitrarily or subjectively selected individual facts, but can rarely – if ever – present conclusions that can be either conclusively proved, or effectively falsified 39

Martino Rota, who also worked in Vienna, is documented to have worked for the Stradas in the 1570s, engraving Ottavio Strada’s portrait and working on the Series Romanorum ac Graecorum ac Germanorum imperatorum prepared for Maximilian II; cf Jansen, Urbanissime Strada, pp 362– 363; transcr of the relevant document pp 687–690

Curls as Clues

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Thus the examination of a finite number of Roman portrait busts with a specific pattern of curls, compared with a finite number of similar busts with different patterns of curls, a certain quantity of related textual documents (the inscriptions found on some of the busts or in their context), visual documentation (the coins dedicated to Antinous), and numerous literary sources on the Hadrianic era, has led a small group of experts to discern a coherence within this group of portraits that allows them the assumption that this pattern of curls, rather than the facial features, are crucial to the identification of the person depicted, postulated as being Antinous, Hadrian’s favourite This assumption is based on a web of threads – Ginzburg’s, Morelli’s, and Holmes’ clues – that is much stronger than any of the individual fibres of which it is composed: in this case it is so strong that even curators who may be unaware of the underlying assumption generally accept without question the identification as Antinous of any individual bust conforming to the pattern In other words, the experts have convinced these curators to accept their conclusion by finding, selecting, and persuasively presenting a careful selection of relevant items of evidence, clues – in this case clues relating to curls Persuading, convincing: these terms are related to Rhetoric, one of the seven liberal arts, and it is no coincidence that the qualities Ginzburg considered necessary for the application of his conjectural paradigm – a well-stored and a well-ordered memory, and a creative and analytical mind – are those traditionally associated with the practice of the orator The ancients classed both Rhetoric and History under the Arts, protected by the Muses, daughters of Zeus and Mnemosyne, the personification of Memory, and it can be assumed that their particular Muses, Polyhymnia and Clio, were their mother’s most favoured daughters This tends to be forgotten in the era of academic history, which continually aspires to the condition of science This is a misguided ambition which denies the chasm existing between a discipline based partly on a priori knowledge, partly on observed phenomena that are impersonal, repetitive, and can be measured, together resulting in the formulation of universally accepted abstract generalisations – natural laws – on the one hand, and, on the other, a discipline that is rooted in the concrete, the contingent, the unique, the immeasurable With Paula Findlen, I would plead not to forget that historiography is also a form of art Sometimes it is a fine art, producing immortal masterpieces – one thinks of the Augustan prose of Gibbon’s Decline and Fall of the Roman Empire – which provide inklings, intimations – that is, clues – for possible answers to the deeper questions of the human condition Sometimes it is an applied art, like the art of the hairdresser, producing agreeable though ephemeral works – one thinks of the historical introduction in a highbrow travel guide or an exhibition catalogue – that fulfil immediate needs with elegance, sense of context, fashion, and style In both cases the aim is both to instruct and to delight In addition, historiography is also a craft, like the barber’s, in that it presupposes innate aptitudes, acquired techniques, and the honest pride of the worker

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in observing the standards of his guild Its most important standard is the adherence to external and internal truth In as far as history is a science, the presentation or at least the approximation of truth is an ethical imperative In as far as history is an art, and given that art is the imitation of nature, it is an aesthetic imperative Clues are an indispensable means to fulfil that imperative List of Figures Fig 1: www haircolor-professional de/die-farbe (29 11 2016] Fig 2: Metropolitan Museum of Art, New York, 08 162 1, https://www metmuseum org/, public domain Fig 3: Wikimedia Commons, public domain Fig 4: privat Fig 5: Bibliothèque nationale de France, public domain, www europeana eu/de/item/9200518/ ark__12148_btv1b8446755d Figs 6–8: © The National Gallery, London, inv nr NG35 Fig 9: © The National Galleries of Scotland, Edinburgh, inv nr 2751 Accepted in lieu of Inheritance Tax by HM Government (hybrid arrangement) and allocated to the Scottish National Gallery, with additional funding from the Heritage Lottery Fund, the Art Fund (with a contribution from the Wolfson Foundation), and the Scottish Executive, 2003 Figs 10–11: © The National Gallery, London, inv nr NG 270 Figs 12–13: © KHM-Museumsverband, Wien, GG 81 Fig 14: privat Fig 15: © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gal -Nr 185, Foto: Elke Estel/ Hans-Peter Klut Figs 16–17: privat Fig 18: Osama Shukir Muhammed Amin/ Wikimedia Commons, CC BY-SA 4 0 Fig 19: privat Fig 20: Art Institute Chicago, gift of Mrs Charles L Hutchinson, public domain Fig 21: Marie-Lan Nguyen ( Jastrow, 2006)/ Wikimedia Commons, CC-BY Fig 22: privat Figs 23–24: privat Figs 25–28: Forschungsbibliothek Gotha, Chart A 2175, Bd 1, fol 5 & 11, fol 113 & 3 Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Dr Dirk Jansen Art historian at the Gotha Research Centre, University of Erfurt

Um des Kaisers Bart Gelehrte Traktate „De barba“ zwischen Späthumanismus und Numismatik Martin Mulsow

Zusammenfassung: In der Frühen Neuzeit erschien eine Reihe von gelehrten Traktaten über Bärte, die ein Wissen über die Bartpracht prominenter Figuren der Heilsgeschichte (wie Moses) oder der säkularen Geschichte (wie Kaiser Hadrian) vermitteln, das oftmals aus Münzporträts abgeleitet ist Der Beitrag prüft zum einen, wie fundiert dieses Wissen ist, und untersucht zum anderen die Intertextualität zwischen den diversen Traktaten Außerdem werden die Kontexte skizziert, in denen solche Schriften verfasst wurden, und die Themen (wie Eid oder Strafe), die dabei angesprochen wurden Abstract: A number of learned treatises on beards appeared in the early modern period They provide information about the beards of prominent figures in sacred history (such as Moses) or secular history (such as Emperor Hadrian), which is often derived from portraits on coins The article explores how well this knowledge is founded and examines the intertextual ties between the various treatises It also outlines the contexts in which such treatises were written and the subjects (such as oaths or punishments) that were addressed

Am 6 Dezember 1671 sollte der Kandidat Gottfried Barth in Leipzig sein Examen ablegen und die Dissertation verteidigen, die sein Professor für ihn vorbereitet hatte 1 Der Professor hieß Jacob Thomasius und hatte Humor 2 Er hatte sich gedacht, wenn der 1 2

Jacob Thomasius (praes ), Gottfried Barth (resp et auctor): De barba disputatio Jena 1672 Zu Jacob Thomasius vgl Raph Häfner: Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien, in: Friedrich Vollhardt (Hg ): Christian Thomasius (1655–1728) Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung Tübingen 1997, S 141–164; Christia Mercer: Leibniz and His Master: The Correspondence with Jakob Thomasius, in: Paul Lodge (Hg ): Leibniz and His Correspondents Cambridge 2004, S 10–46; Alice Ragni: Ontologia e analogia entis tra Johannes Clauberg e Jacob Thomasius, in: Archivio di Filosofia – Archives of Philosophy 84 (2016), S 155–166 Vgl auch die mit

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Kandidat schon Barth hieß, dann solle er sich doch auch über den Bart prüfen lassen Vielleicht war die Idee ursprünglich sogar vom Studenten selbst gekommen, denn auf dem Titelblatt steht ein „proposuit“ vor dem Namen Barths, und sogar ein gesperrt gedrucktes „AUTOR“ dahinter (Abb 1)

Abb. 1: Thomasius/Barth: De barba disputatio (1672)

Die nicht ganz kurze Abhandlung hat zwei Teile: „Der lange Bart“ oder Vollbart (De barba promissa), und „Der abrasierte Bart“ (De barba rasa) 3 Zuvor wird erwähnt,

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Einleitungen versehene Reprint-Werkausgabe: Jakob Thomasius: Gesammelte Schriften, hg von Walter Sparn, 7 Bde Hildesheim 2003–2009 Jacob Thomasius’ Sohn Christian hat die beiden Teile wieder abgedruckt als zwei Essays in: Observationes selectae, Bd 9 (1704), S 355–378, und Bd 10 (1705), S 47–68, ohne Nennung von Autornamen Zu den Observationes vgl Martin Mulsow: Ein kontroverses Journal der Frühauf-

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dass nach Galen der Grund für den Bartwuchs in der Umwandlung dickerer in dünne Materie zu suchen sei; sie werde durch die Körperwärme durch die Hautporen getrieben und dann hart „Weshalb auch Choleriker,“ heißt es, „da sie besonders viel Wärme haben, schneller als andere einen Bart besitzen “4 Die Haare nehmen eine unterschiedliche Farbe an, denn die Wärme ist unterschiedlich stark und die Poren sind unterschiedlich eng – dahinter steht zudem die Zusammensetzung der Körpersäfte (humores) Man kann daher umgekehrt anhand der Haarfarbe etwas über das Temperament der Person sagen 5 Ganz so simpel allerdings möchte es Barth auch nicht durchgehen lassen Leute mit roten Haaren, sagt er, würden oft als auf üble Weise müßig oder ausschweifend gelten, es könne sich aber auch ganz anders verhalten So sei es auch möglich, dass ganz hervorragende darunter seien „Ich würde das exemplifizieren anhand von Christus“, sagt Barth, „dem der Brief von Lentulus, dem Präfekten der Jerusalemer, eine rote Farbe der Barthaare zuschreibt, wenn es nicht feststünde, daß dieser Brief untergeschoben ist “6 Wie schade! „Sein Haar hat die Farbe einer völlig reifen Haselnuß, bis zu den Ohren beinahe glatt, von da abwärts etwas gelockt über seine Schultern wallend und nach Sitte der Nazarener in der Mitte gescheitelt“, heißt es in diesem apokryphen Machwerk, das auch zur Zeit von Thomasius schon für nicht mehr für echt gehalten wurde 7 Ja, die Gestalten der Bibel Was wissen wir über ihre Bärte? Gottfried Barth kommt schon bald wieder auf solche brisanten Fragen zurück, denn der Ursprung des lang

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klärung: Die Observationes selectae, Halle 1700–1705, in: Aufklärung 17 (2005), S 79–99 – Zur Kulturgeschichte des Bartes vgl an heutiger Literatur Jörg Scheller, Alexander Schwinghammer (Hg ): Anything Grows. 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes Stuttgart 2014; Christina Wietig: Der Bart Zur Kulturgeschichte des Bartes von der Antike bis zur Gegenwart Hamburg 2005; Barbara Martin: Der bärtige Mann Handbuch zur Geschichte des Bartes Berlin 2010; Allan Peterkin: One Thousand Beards: A Cultural History of Facial Hair Vancouver 2002; Jean-Marie Le Gall: Un idéal masculin? Barbes et moustaches (XVe–XVIIIe siècles) Paris 2011; Christopher Oldstone-Moore: Of Beards and Men: The Revealing History of Facial Hair Chicago 2015; dt : Von Männern und Bärten Eine Geschichte der Gesichtsmode Köln 2017 Thomasius, Barth: De barba disputatio, 2 (die Zahlen bedeuten keine Seitenzahlen, sondern am Rand vermerkte Abschnittszahlen in diesem unpaginierten Buch): „Quamobrem quoque cholerici, quoniam calore nimis abundant, prae aliis citius barbam emittunt “ Vgl Galen: De temperamentis II,5, in: ders : Works on Human Nature: Bd 1: Mixtures (de Temperamentis), hg v P N Singer, Philip J van der Eijk, Piero Tassinari Cambridge 2018 Thomasius, Barth: De barba disputatio, 4: „Solent praeterea nonnulli ex diversis his barbarum qualitatibus, morum tradere τεκμησια; ita ut ruffa crispa malignum et iracundum, nigra valde et dura, durum ac malum; non admodum nigra sed mollis, rectum justitiaeque amatorem, subfusca prudentem; iracundum flava et rubea; alba timidum et avarum denotet “ Vgl Johannes Sperling: Physica Anthropologia Wittenberg 1668, lib 2, cap 4, quaestio 7 Thomasius, Barth: De barba disputatio, 6: „Provocarem hic ad Christum, cui rubram capillorum colore barbam tribuit Epistola Lentuli Hierosolymitanorum Praesidis, nisi hanc epistolam constaret esse supposititiam “ Vgl Ernst von Dobschütz: Christusbilder Untersuchungen zur christlichen Legende Leipzig 1899; Cora E Lutz: The Letter of Lentulus Describing Christ, in: The Yale University Library Gazette 50 (1975), S 91–97

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herabhängenden, ungestutzten Bartes wird von ihm nicht etwa bei den Juden, Römern oder Ägyptern gesucht, sondern gleich ganz zu Beginn, im Paradies „Warum fragen wir nicht nach dem letztgültigen Altertum dieser Sitte im Paradies selbst?“8 Wie sah Adam denn aus? Sicher hatte er einen Bart „Denn wer würde sagen, er hätte sich selbst die Haare geschnitten, wo doch die Werkzeuge dazu noch gar nicht erfunden waren?“9 Ist das ironisch gesagt? Man weiß das bei Barth nie so genau, aber der Erfolg der Dissertation – sie wurde mehrmals nachgedruckt – spricht dafür, dass die Leser sie nicht nur als gelehrt, sondern auch als amüsant und witzig wahrgenommen haben So geht das auch später Was ist denn mit Moses? „Von Mose berichten die Heiligen Schriften nichts; dennoch scheint es keinen Grund zu geben anzunehmen, er sei bärtig gewesen Ich übergehe jene äußerst alten Münzen, die seinen Bart zeigen “10 Solch ein Satz macht neugierig Es gibt Münzen, auf denen Moses zu sehen ist? Trotz der Bilderfeindlichkeit der Juden? Und auf denen man seine Frisur verifizieren kann? Ja, es gibt sie – oder zumindest glaubte man, es gäbe sie Claude Saumaise (Salmasius) hat 1644 in seinem 700-Seiter über das Haar eine solche Münze abgedruckt (Abb 2) 11

Abb. 2 Saumaise: Epistola ad Andream Colvium, S 79 8 9 10 11

Thomasius, Barth: De barba disputatio, 8: „Sed cur moris hujus ultimam antiquitatem non ex ipso repetamus Paradiso?“ Ebd : „Nam quis dicat ipsum pilos detondisse, cum ferramenta tunc temporis nondum fuerint reperta et usurpata, sed longe demum post?“ Ebd , 11: „De Moyse vero sacrae quidem literae nil referunt, dubitandi tamen, quin barbatus ille fuerit, nulla apparet causa Omitto vetusta quaedam numismata, quae barbatum illum exhibent “ Claude Saumaise: Epistola ad Andream Colvium super cap XI primae ad Corinth Epist de Caesarie virorum et mulierum coma Leiden 1644 Vgl dazu Dirk van Miert: The Emancipation of Biblical Philology in the Dutch Republic, 1590–1670 Oxford 2018, S 170–192

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Saumaises Buch ist selbst ein Witz – zumindest in seinem Titel, der es als Brief an Andreas Colvius bezeichnet: ein etwas zu lang geratener Brief Aber das war bei Saumaise immer so Ein kleiner Anlass wuchs sich bei ihm zu einem monströsen Gelehrtenunternehmen aus 12 Hier war es ein Streit der theologischen Fakultäten Aus Frankreich war die Mode in die Niederlande gekommen, sich als Mann die Haare lang wachsen und sich kräuseln zu lassen, während man den Bart kurz hielt Das schien manchen Calvinisten, in Utrecht, Dordrecht und anderswo, eine Sünde zu sein, für die man in der Hölle schmoren sollte Sie trugen die Haare, mit Berufung auf Paulus an die Korinther, wie von alters her kurz, den Bart aber lang (Abb 3) 13

Abb. 3 Der kurzhaarige Mediziner Aelius Everardus Vorstius Ölfarbe auf Holz, Gemälde von Joris van Schooten (1587–1651), Porträtsammlung der Universitätsbibliothek Leiden 12 13

Zu Saumaise allg vgl Gustave Cohen: Écrivains français en Hollande Paris 1920, S 311–333; D J H ter Horst: Isaac Vossius en Salmasius Een episode uit de 17de-eeuwsche geleerdengeschiedenis Den Haag 1938 Vgl hier das Porträt des Mediziners Aelius Everardus Vorstius von Joris van Schooten (Abb 3) Zum entsprechenden „Haar-Krieg“ vgl van Miert: The Emancipation; der Text erschien auch separat: van Miert: Claudius Salmasius and the „Hairy War“ (1640–50) – historicizing the bible in the Dutch Republic on the eve of Spinoza, in: Sixteenth Century Journal 49/2 (2018), S 419–439

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Saumaise gehörte zur Fraktion der Inkriminierten: Er hatte wallend lange Haare – noch im Alter – und nur einen kleinen Schnurrbart (Abb 4) 14

Abb. 4 Der langhaarige Claude Saumaise Öl auf Leinwand, Gemälde von Johannes de Vos (1620–1663), Sammlung der Universität Amsterdam

In seinem 700-Seiten-Brief an seinen Freund Colvius durchwandert er die gesamte Haargeschichte seit der Antike Schon Adriaen de Jonghe – Hadrianus Junius – hatte im 16 Jahrhundert über 400 Seiten De coma geschrieben (Abb 5), aber Saumaise übertraf ihn mit Leichtigkeit 15 Da konnte es gar nicht ausbleiben, dass Saumaise auch auf einen Moses zu sprechen kam, der wallend lange und lockige Haare besessen habe 16 Im Prinzip ist das nicht verwunderlich, da es in Lev 21,5 heißt, Priester sollten den Bart lang wachsen lassen;

14 15 16

Vgl das Porträt von Saumaise durch Johannes de Vos (Abb 4) Hadrianus Junius: Animadversorum libri sex, omnigenae lectionis thesaurus, in quibus infiniti pene autorum loci corriguntur et declarantur, nunc primum et nati et in lucem aediti Ejusdem de coma commentarium Basel 1556 Vgl den Beitrag von Dirk van Miert in diesem Band Saumaise: Epistola ad Andream Colvium, S 79

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Abb. 5 Hadrianus Junius’ Buch zur Haargeschichte Hadrian Junius: Animadversa, ejusdemque de coma commentarium Frontispiz und Titel der Ausgabe Rotterdam 1708

Sklaven hingegen durften bei den Juden keinen Bart tragen, weil der das Zeichen des freien Mannes war Die Juden schworen auch gern bei ihrem so heiligen Bart All das ließ, ein wenig zurückprojiziert, einen bärtigen Moses erwarten Aber ein Beweis war das nicht Evident machen ließ es sich dagegen durch die Münze, die Saumaise abdruckte Er hatte diese Münze allerdings nicht selbst gesehen, sondern verwies mit seiner Abbildung auf ein Buch des Tübinger Orientalisten Wilhelm Schickhard aus dem Jahr 1628, das Tarich hoc est Series Regum Persiæ betitelt war – eine Abhandlung auf der Basis eines türkischen Manuskriptes über die Genealogien von Herrschern (übrigens auch seit Adam) 17 In diesen Genealogien kommt natürlich Moses vor, und Schickard präsentiert stolz einen Fund, der über dessen Bart Aufschluss gibt (Abb 6) „Daß sein Haar rötlich gewesen sei“, berichtet er, „glauben die Muselmanen, und kräuselig, weil es Mohammed in seiner himmlischen Vision so erschien, wie es Rodrigo Ximenes,

17

Wilhelm Schickard: Tarich hoc est Series Regum Persiæ ab Ardschir-Babekan, usque ad Iazdigerdem a Chaliphis expulsum, per annos fere 400 Tübingen 1621 Zu Schickard vgl Friedrich Seck (Hg ): Wilhelm Schickard, 1592–1635: Astronom, Geograph, Orientalist, Erfinder der Rechenmaschine Tübingen 1978 Vgl zu diesen Kontexten Martin Mulsow: Fremdprägung Münzwissen in Zeiten der Globalisierung Erscheint Berlin 2022

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der Erzbischof von Toledo, in Kapitel 5 seiner Geschichte der Araber berichtet, was aber auch auf einer Münze abgebildet ist, die unser Thomas Lansius besitzt “18 Lansius war ein Kollege Schickards, dessen Münzen heute in Wien aufbewahrt werden, Rodrigo Jiménez de Rada hingegen ein Gelehrter des 13 Jahrhunderts, der aus arabischen Quellen schöpfen konnte 19

Abb. 6 Wilhelm Schickard präsentiert eine Moses-Münze Schickard: Tarich, S 34

Die bronzene Moses-Münze, die Schickard abbildet und Saumaise übernimmt, ist in Wirklichkeit eine venezianische Medaille aus dem 15 oder frühen 16 Jahrhundert (vgl Abb 7) – ebenso jung wie der Lentulus-Brief –, auf der Moses in der Tat bärtig (wenn auch nach Renaissance-Art) und wie so oft gehörnt, hier mit Ammons-Horn, dargestellt wird, das Schickard fälschlicherweise für die „kräuseligen“ Haare hielt Sein Exemplar war wohl an dieser Stelle etwas abgenutzt Auf der Rückseite stand der Spruch aus Ex 20,3: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ 20 18 19

20

Schickard: Tarich, S 33: „Crine quidem rufum credunt Musulmanni, et Crispum, quod in coelesti visione talis apparuerit Muhammedi eorum: ut refert Rodericus Ximenez Archiepiscopus Tolet cap 5 hist Arab qualis etiam effictus est in nummo, quem asservat noster Th Lansius […] “ Zu Lansius vgl Franz Pfeiffer: Thomas Lansius (1577 bis 1657) aus Perg – Europäische Perspektiven in der frühen Neuzeit, in: Oberösterreichische Heimatblätter 3–4 (2016), S 177–191 Zum Verbleib seiner Münzsammlung vgl Max Doblinger: Zur Pflege der Numismatik in Oberösterreich, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 92 (1947), S 260–261 Zu Jiménez vgl Matthias Maser: Die Historia Arabum des Rodrigo Jiménez de Rada Arabische Traditionen und die Identität der Hispania im 13 Jahrhundert Studie – Übersetzung – Kommentar Berlin 2007 Lessing ist später auf dieses Manuskript gestoßen und hat über Schickards Buch, dessen Vorlage er in einer alten Kiste in der Wolfenbütteler Bibliothek fand, geurteilt, Schickard habe nur den unguten Rand des türkischen Stammregisters abgeschöpft, von dem er ausging Gotthold Ephraim Lessing: Beyträge zur Geschichte und Litteratur IV: Von dem Schickard Marchtalerschen Tarich Beni Adam, in: ders : Vermischte Schriften, 14 Bde , Bd 13 Berlin 1793, S 296–321 Es handelt sich um eine venezianische Bronzemedaille mit einem gehörnten Brustbild des bärtigen Moses im Jupiter-Ammon-Typus und hebräischer Schrift mit Spruch des ersten Gebots, Mo-

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Abb. 7 Longue durée einer Darstellungstradition: Medaille mit gehörntem Moses Bronzeguss, ca 1800

Die sehr seltene Medaille wurde nämlich Konvertiten zum Judentum überreicht Für Schickard war sie viel älter: „Auch wenn ich nicht so unvernünftig bin zu glauben, daß die Münze von Moses selbst oder auf seinen Befehl von Bezaleel geschlagen wurde“, hatte er gemeint, „zweifele ich nicht daran, daß sie sehr alt und von einem Künstler jenes Volkes geformt ist, dem durch die Kabbala mehr von der Person Mosis bekannt sein konnte als uns, den zeitlich viel späteren “21 Schickard dachte an die Kabbala als mündliche Geheimüberlieferung seit Moses’ Zeiten, also an eine unbestimmte vorchristliche Epoche Es gab ja rabbinische Texte wie die Catena Cabalae des Rabbi Gedalia oder den ebenfalls rabbinischen Divre ha-yamin u-fetirato shel Moseh (Liber de vita et morte Mosis).22 Das Wissen um Moses’ Bart war für Schickard und Saumaise auf der Münze materialisiert, ebenso wie das um die Bärte römischer Kaiser, die ihr Porträt auf ihre Gepräge setzten Numismatiker haben oft darauf hingewiesen, dass sich die Bartmode wunderbar an

21

22

ses Ex 20,3 Bange 56 (15 Jhdt ), Toderi/Vannel 813 (16 Jhdt ), Prospero Rizzini: Illustrazione dei Civici Musei di Brescia Parte 2/1 Medaglie Serie italiana, secoli XV a XVIII Brescia 1892, Nr 1413 Ich danke Bernhard Woytek für die Identifizierung der Münze Vgl jetzt auch Max Küchler: Geschichte der jüdischen Numismatik Bd 1: 2 –16 Jh Göttingen 2022, S 506 Schickard: Tarich, S 34: „Quamvis autem non adeo sim absurdus, ut credam ab ipso Mose, vel eius iussu a Bezaleele, cusum; nil tamen dubito, quin sit antiquissimus, et ab illius gentis artifice quodam formatus, cui per Cabalam plus de Mosis persona constare potuit, quam nobis, tempore multo posterioribus […] “ Gedalya Ibn-Yahyâ Ben-Yôsef: Hakkabbalah sive catena tradtionum sive catena Cabalae, liber historicus a M O usque ad tempora auctoris Venedig 1587 Zu diesem Buch vgl Abraham David: Gedalia Ibn Yahia, auteur de Shalshelet ha-Qabbalah, in: Revue des Études Juives 154 (1995), S 101–32; De vita et morte Mosis libri III, hg von Gilbert Gaulmin Paris 1629 Zur Rezeption dieser Schriften im 17 Jahrhundert vgl Martin Mulsow: The Seventeeth Century Confronts the Gods: Bishop Huet, Moses and the Dangers of Comparison, in: Martin Mulsow, Asaph Ben-Tov (Hg ): Knowledge and Profanation Leiden 2019, S 159–196, hier ab S 173

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diesen Porträts ablesen lasse: Der erste Kaiser mit Vollbart war Hadrian (Abb 8), davor galt Rasiertsein als Zeichen republikanischer römischer Gesinnung, und nur griechische Philosophen trugen Bärte Da Hadrian sich aber im Zeichen der Zweiten Sophistik die Griechen und ihre Bildung als Vorbild nahm, wagte er den unüblichen Schritt 23

Abb. 8 Der bärtige Kaiser Hadrian Aureus, ca 125–128 n Chr

Und er wurde Trendsetter Nach ihm sieht man auf Münzen viele Kaiser mit Bärten, denn seine Bartmode wurde von der römischen Oberschicht übernommen Sie hielt sich bis in die Zeit der Severer-Kaiser im 3 Jahrhundert Bei den Franken hingegen, berichtet Barth, sei der Bart allein für die Herrscher reserviert gewesen; damit hätten sie etwas besessen, was ihnen Majestät gegeben habe Nicht viel anders, meint der Leipziger Doktorand, sei es wohl bei den Götterdarstellungen: Auch diese soll der Vollbart verehrungswürdiger machen Er nennt den angeblich goldenen Bart des Äskulap, aber auch Jupiter, Apollo, Neptun und Pan 24 Das wollten andere genauer wissen Georg Friedrich Guehling rühmte sich 1725, sein kleiner Text De Barba Deorum sei die erste Monographie zum Thema, ein rein philologisch argumentierendes Stück, ohne Bilder und ohne rechte These 25 Aber natürlich hatten sich immer wieder Humanisten darüber geäußert, und für Numismatiker waren Götterbärte ohnehin ein vertrautes Sujet Ezechiel Spanheim etwa fragte sich in seinem numismatisch aufgeladenen Kommentar zu Julians Göttermahl, warum Bacchus auf einigen Münzen bartlos, auf anderen aber bärtig dargestellt werde (Abb 9) 26 23 24 25 26

Zu Hadrian vgl Anthony R Birley: Hadrian The Restless Emperor London 1997; Paul Zanker: Die Maske des Sokrates: Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst München 1995, S 206– 221 Thomasius, Barth: De barba disputatio, 15 Georg Friedrich Guehling: De barba Deorum ex priscarum Graeciae et Latii maxime religionum monumentis Wittenberg 1725 Ezechiel Spanheim: Les Cesars de l’Empereur Julien Amsterdam 1683, S 30 Zu Spanheim vgl Martin Mulsow: Kaisermünzen und Konkurrenten Ezechiel Spanheim, Andreas Morell und ihre

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Abb. 9 Bacchus-Münze in Spanheim: Les Cesars de l’empereur Julien Amsterdam 1683, S 30

Die bärtige Darstellung wirkt offenbar dem Image des Dionysos entgegen, ein wenig ernsthafter Gott zu sein Auf Naxos, der Lieblingsinsel des Gottes, wo man solche Münzen schlug (Abb 10), wollte man lieber den Aspekt des Philosophen und Gesetzgebers betonen, des Schülers von Silen, des Eroberers von Indien 27 So ist auch die Barttracht von Göttern keineswegs überzeitlich und interesselos, sondern wird bewusst als Zeichen eingesetzt

Abb. 10 Bacchus-Münze aus Naxos Litra (Silber), ca 460–431 v Chr

27

Gegner, in: Ulrike Peter, Bernhard Weisser (Hg ): Translatio nummorum Römische Kaiser in der Renaissance Mainz [u a ] 2013, S 39–46; Sven Externbrink: Diplomatie und République des Lettres Ezechiel Spanheim (1629–1710), in: Francia Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte 34/2 (2007), S 25–59 Die abgebildete antike Münze zeigt einen bärtigen Dionysos-Kopf mit Efeukranz und auf der Rückseite Trauben mit Weinranken sowie die Inschrift NAXI Katalognummer: Cahn, Naxos 69; HGC 969

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Auch in der Frühen Neuzeit gab es immer wieder Verfechter von gepflegten Vollbärten So erschien 1619 auf Latein ein Traktat Barbae Maiestas, der die Eleganz und Würde des Barttragens verteidigte und in gut humanistischer Manier durch Exempel aus der Geschichte illustrierte (Abb 11) 28 Pseudonymer Verfasser war ein „Johannes Barbatius“

Abb. 11 Die Verteidigung des Bart-Tragens durch „Johannes Barbatius“ Barbae Maiestas […] Frankfurt 1614, Titel 28

Barbae Maiestas hoc est, De Barbis Elegans, Brevis Et Accvrata Descriptio, In Qva Significatur, qualis Barba Virum deceat, quantumque decus, authoritatem, commoditatemque illi afferat, an abradenda sit necne, an Veteres illud in more habuerint, quisue primus Tensores Romam adduxerit, Barbamq[ue] radi curauerit; Vltimo quaeritur: An Sacerdotibus Barbam gestare conueniat; Omnia Pvlchris Et Ivcvndis Argvmentis, rationibusq[ue] ex S Scriptura, vtroque Iure, aliisq[ue] probatis Authoribus desumptis, pertractata & collecta Frankfurt 1614 Für die italienischen Humanisten vgl Douglas Biow: On the Importance of Being an Individual in Renaissance Italy: Men, Their Professions, and Their Beards Philadelphia 2015

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1644 erschien der Text erneut, diesmal in deutscher Übersetzung, verfasst von einem „Barbatius Schönbart“ und gedruckt in „Haarburgk“ 29 Der Anhang lieferte jetzt eine amüsante Semantik von Adjektiven und Komposita (Abb 12), die im Zusammenhang mit Bärten benutzt werden konnten – zunächst vom „Lobe des Barts“, dann aber auch zur Abqualifizierung und Verspottung von Bärten

Abb. 12 Das Alphabet der Verspottung von Bärten Barbae Maiestas […] Haarpurgk 1644, o P

29

Barbae Maiestas, Das ist: Ein schöner/ lustiger und außführlicher Real-Discurs Von den Bärten/ : In welchem angezeiget wird: 1 Die Majestätische Würdigkeit deß Barts […] Alles mit anmuthigen höfflichen Argumenten und Rationen auß heiliger Schrift […] tractirt und colligirt/ Durch M Barbatium Schönbart Haarburgk 1644, o P

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Der Traktat wurde im Jahr 1714 nochmals nachgedruckt – lange Zeit nach Thomasius’ und Barths gelehrter Dissertation –, als sich in Dresden eine kleine Haaraffäre um Balthasar Permoser, den berühmten barocken Bildhauer am Hof Augusts des Starken, entsponnen hatte 30 Anders als es die Mode seiner Zeit wollte, trug Permoser eine ungewöhnliche Kleidung und vor allem: einen langen Bart (Abb 13) „Über ¼ Elle lang“ sei sein Vollbart gewesen, schrieben die Curieuse Nachrichten von bärtigen Frauenzimmern, und das, obwohl sonst jedermann rasiert gewesen sei 31

Abb. 13 Balthasar Permoser in der Pracht seines Vollbartes Nach einer Zeichnung von Moritz Bodenehr (1665–1749) Balthasar Permoser: Der […] Bart […] Frankfurt [u a ] 1714, Frontispiz 30 31

Zu Permoser vgl Sigfried Asche: Balthasar Permoser – Leben und Werk Berlin 1978; Johannes Glötzner: Permosers Bartbuch – Eine bärtige Recherche über den Dresdner Bildhauer München 2006 Curieuse Nachrichten von bärtigen Frauenzimmern Dresden 1733

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Der Unmut mancher seiner Zeitgenossen trieb Permoser schließlich dazu, sein Aussehen in einem Pamphlet zu verteidigen Der ohne Ursach verworffene und dahero von Rechts wegen auff den Thron der Ehren wiederum erhabene Bart / Bey jetzigen ohnbärtigen Zeiten sonder alle Furcht zu männigliches Wohl und Vergnügen ausgefertiget stand darauf zu lesen, und angehängt war die deutsche Fassung der Barbae Maiestas (Abb 14) 32

Abb. 14 Permosers Verteidigung des Bartes Balthasar Permoser: Der […] Bart […] Frankfurt [u a ] 1714, Titel 32

Der ohne Ursach verworffene und dahero von Rechts wegen auff den Thron der Ehren wiederum erhabene Bart/ Bey jetzigen ohnbärtigen Zeiten sonder alle Furcht zu männigliches Wohl und Vergnügen ausgefertiget vor und von BALTHASAR PERMOSERN, Königl Pohln und Churfl Sächßl bestalten Hoff-Bildhauern Samt Anhang eines schönen/ lustig und ausführlichen Real-Discurs von den Bärthen/ In welchem angezeiget wird Frankfurt [u a ] 1714

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Und der „barba rasa“, der rasierte Bart? Gottfried Barth widmet ihm viele kleinere Kapitel, vom Abrasieren des Bartes als Zeichen der Knechtschaft schon der Juden im Babylonischen Exil33 über das Rasiertwerden als Schande34 bis hin zum Verzaubern Man erkennt schnell, dass der abrasierte Bart das brisantere Thema darstellt, dass man hier zügig zum Opfern und zum Martern kommt, auch zum Schwören Beim Bart zu schwören ist ja etwas, das in vielen Kulturen begegnet Neun Jahre nach Barths kleinem Opus war das keineswegs nur Historie, sondern völlig aktuell: in der antiklerikalen Satire Le Rasibus, Ou le Proces Fait à la Barbe des Capucins par un Moine défroqué (Abb 15) 35

Abb. 15 Das anonyme Le Rasibus, Ou le Proces Fait à la Barbe des Capucins, Titel

Darin wird von einem ehemaligen Mönch dem Kapuzinerbart der Prozess gemacht, denn bei den Kapuzinern gehörte der Bart zur Pflichtausstattung (Abb 16) Das Büchlein von Barth und Thomasius wurde, wenn auch nicht im Original des Kapuzinerbuchs, so doch in der etwas gelehrt aufgeblähten deutschen Übersetzung benutzt Denn noch 1760 war das Thema im Heiligen Römischen Reich so aktuell, dass die Schrift ins Deutsche übersetzt wurde 36 Es war überhaupt eine Zeit, als man sich – mit einer neuen Sensibilität für Kulturhistorie – auf dem Buchmarkt zunehmend für Haargeschichten interessierte So enstanden am Ende des Jahrhunderts die großen Wälzer von Augustin Fangé über die Geschichte des männlichen Bartes, die 1797 von Karl Gottlob Schelle ins Deutsche gebracht wurden, oder von Friedrich Nicolai über die

33 34 35 36

Thomasius, Barth: De barba disputatio, 62 Ebd , 64 Le Rasibus, Ou le Proces Fait à la Barbe des Capucins par un Moine défroqué Köln [Amsterdam] 1680 Rasibus oder der Procès, welcher den Capuziner-Bärten gemacht worden: eine Satyre entworffen von einem aus dem Kloster gelauffenen Mönch O O 1760 Das Buch enthält ab S 65 bis S 94 den Anhang: Dissertatio philosophico-juridica de jure barbae, sive vom Bart-Rechte

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Abb. 16 Ein Kapuziner mit Vollbart – Claude Mellan: Porträt des Paters Yves Kupferstich, 1677, Musée Carnavalet, Paris

Geschichte der Perückenmode „in alten und neuern Zeiten“, erschienen 1801 37 Dort konnte man die alten Auseinandersetzungen noch einmal rekapitulieren, nun betrachtet von einem Standpunkt der bürgerlichen Neugierde „De barba rasa“ führt in der Tat in die Kulturgeschichte hinein wie nur wenige andere Sujets Gottfried Barth behandelt etwa die Bartrasur als Zeichen der Trauer oder auch als Zeichen der Aggressivität bei kahlrasierten Kriegervölkern Gerade im

37

Augustin Fangé: Geschichte des männlichen Barts unter allen Völkern der Erde bis auf die neueste Zeit Für Freunde der Sitten und Völkerkunde Leipzig 1797 Fangé war Benediktinermönch und hatte durchaus eine Motivation, die Bärte von Geistlichen zu verteidigen Friedrich Nicolai: Über den Gebrauch der falschen Haare und Perrucken in alten und neuern Zeiten Eine Historische Untersuchung Mit 66 Kupferstichen Berlin 1801 Zu Nicolai vgl Rainer Falk, Alexander Košenina (Hg ): Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung Hannover 2008

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Mittelalter finden sich zahlreiche ungewöhnliche Beispiele einer erhöhten Bedeutung des Bartes, etwa im Zusammenhang mit Bünden und Freundschaften Barth beruft sich hier auf einen Fall, den schon der militante Katholik Antoine Hotman, der Bruder des hugenottischen Widerstandstheoretikers François Hotman, in seinem Dialog ΠΩΓΩΝΙΑΣ sive de barba von 1586 angeführt hatte – aus Paulus Diaconus, dem langobardischen Geschichtsschreiber, und Paulus Aemilius – nämlich den Umgang mit Bärten bei diesem Volk der „Langbärte“ 38 So heißt es: Den frühen Langobarden galt als das größte Band der Liebe, jemanden den Bart abzunehmen Der nämlich war aufs Engste an zu einem Bündnis verpflichtet, bei dem irgendeine Schwäche festgestellt wurde Auch die Edelleute des Herzogtums Spoleto der Langobarden, die sich geweigert haben, Desiderius, dem König der Langobarden, gegen die Franken zu Hilfe zu kommen, haben sich, nach Rom gekommen, für ein Bündnis mit dem Papst die Haare und Bart abrasiert, was bei ihnen ein Zeichen der Unterwerfung war 39

Bärte konnten also von größter symbolischer Bedeutung sein Auch Otto der Große und Friedrich Barbarossa, so Barth, pflegten bei ihren Bärten zu schwören 40 Und da wir mit einem Barth angefangen haben, wollen wir auch mit einem Barth aufhören Das letzte Zitat in seinem Traktat nämlich reserviert Gottfried Barth seinem Namensgenossen Caspar Barth, dem großen und zu Unrecht vergessenen Leipziger Privatgelehrten: Verehrungswürdig aber war nicht nur der eigene Bart jenen, die etwas schworen, sondern auch der fremde denen, die etwas erbitten wollten Dahin gehört die uralte Sitte der Supplikanten, dass sie mit der einen Hand den Bart, mit der anderen das Knie dessen, von dem sie etwas wollten, berührten; das hat der berühmte Caspar Barth bestätigt, indem er einige Stellen bei Homer und Euripides angeführt hat; und hier fügt er auch eine Sitte der 38

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Antoine Hotman: ΠΩΓΩΝΙΑΣ sive de barba Leiden 1586, S 22 Vgl Paulus Diaconus: Historia Langobardorum, lib IV, cap 14 Paulus Diaconus Historia Langobardorum (Geschichte der Langobarden) Lateinisch und deutsch, hg u übers von Wolfgang F Schwarz Darmstadt 2009; Paulus Aemilius Veronensis: De rebus gestis Francorum, lib XXIII, in der Ausgabe Basel 1601 S 57 Vgl auch Antonius de Bonfinis: Rerum Ungaricarum Decades, 4 Bde , hg v József Fógel, Béla Iványi, Laszló Juhász Bd 1 Leipzig 1936, Dec I, Lib VIII und IX, 8; S 165 und 184–185 Thomasius, Barth: De barba disputatio, 106: „Priscis Longobardis maximum fuit amoris vinculum, apud aliquem ponere barbam; Is enim intimo foedere adstrictus erat, apud quem languinem quispiam deposuisset Nobiles quoque Longobardorum Spoletani Ducatus incolae, qui [ich korrigiere an dieser Stelle den verderbten Text bei Barth] auxilio adversus Francos Desiderio Regi Longobardorum ire recusarunt, Romam profecti in fidem Pontificis venientes capillum barbamque ponebant, quod apud eos deditionis erat argumentum “ Zu dieser Episode und diesem Brauch vgl auch ausführlicher Johann Peter Miller: De adoptione per comam atque barbam Ulm 1766 S 13–14 Ob die Langobarden etymologisch wirklich die „Langbärte“ sind, ist zumindest umstritten Vgl Art „Langobarden“ in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde2, 35 Bände, Bd 18, S 50–51; Karin Priester: Geschichte der Langobarden Gesellschaft – Kultur – Alltagsleben Stuttgart 2004; Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung München 2019, S 825–851 Thomasius, Barth: De barba disputatio, 108

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Hebräer an, die man aus der Geschichte von Amasa erkennen kann, der von Joab aus dem Weg geräumt wurde Der frevelhafte Mörder ergriff ihn am Bart, was die Bedeutung haben sollte, daß er seiner Seele ergeben sei, und brachte ihm dann unerwartet die Wunde bei 41

Der Barth hat also bei Barth über den Bart das letzte Wort, und am Ende sind alle tot Abbildungsnachweise Abb 1: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Hist misc A 290,135, Titelseite; urn:nbn:de:bsz:14-db-id3640176782, public domain Abb 2: Forschungsbibliothek Gotha, Ant 8° 243/1, S 79 Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Abb 3: Universität Leiden, http://hdl handle net/1887 1/item:1581923, CC BY Abb 4: Allard Pierson, Universität Amsterdam, APM13418; https://hdl handle net/11245/3 1920, CC BY Abb 5: Librería Anticuaria Margarita de Dios, Madrid Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Abb 6: Bayrische Staatsbibliothek, 4 A or 2380, S 34; urn:nbn:de:bvb:12-bsb10219588–8 Abb 7: CHS Basel, https://img ma-shops de/sesambestcoins/pic/38315 jpg Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Abb 8: Gorny & Mosch, Gießener Münzhandlung GmbH, Katalog zur Auktion 249: Münzen der Antike vom 11 10 2017, Los 641, S 138 Fotografie B Seifert / Lübke + Wiedemann, Leonberg Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Abb 9: Forschungsbibliothek Gotha, P 4° 354, S 27 Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Abb 10: Gorny & Mosch, Gießener Münzhandlung GmbH, Katalog zur Auktion 232: Hochwertige Münzen der Antike vom 05 10 2015, Los 63, S 25 Fotografie B Seifert / Lübke + Wiedemann, Leonberg Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung

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Thomasius, Barth: De barba disputatio, 109: „Venerabilis autem barba fuit non sua tantum illis, qui aliquid promittere, sed et aliena, qui duid impetrare vellent Quo pertinet supplicantium mos vetustissimus, ut altera manu barbam, altera genu ejus, cui supplicarent, attingerent, quem aliquot Homeri atque Euripidis advocatis locis confirmat illustris Barthius, atque huc Hebraeorum quoque morem accommodat, quem discas ex historia Amasae a Joabo interemti, quem sceleratus latro barba prehensum, quod signum haberi volebat animi ipsi devoti, inopinato vulnere contrucidavit “ Vgl Caspar Barth: Ad Claudianum Lib I de rapt Proserp S 877–878 Barth bezieht sich auf die Bibelstelle 2 Sam 20 Zu Caspar von Barth vgl den Artikel s v von Wilhelm Kühlmann in: Killy Literaturlexikon2, 12 Bde und Registerbd , Bd 1, S 321–322 Adalbert Schröter: Caspar von Barth, in: Beiträge zur Geschichte der neulateinischen Poesie Berlin 1909, S 267–325; Johannes Hoffmeister: Kaspar von Barths Leben, Werke und sein „Deutscher Phoenix“ Heidelberg 1931; George Schulz-Behrend: Caspar Barth und sein Exemplar von Opitz’ „Acht Bücher Deutscher Poematum“, in: Daphnis 11 (1982), S 669–682 Zu Barth als Philologen und Kommentator vgl Valéry Berlincourt: Commenter la Thébaïde (16e–19e s ) Caspar von Barth et la tradition exégétique de Stace Leiden 2013

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Abb 11: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Hist misc A 290,130, Titelseite; urn:nbn:de:bsz:14-db-id4484542706, public domain Abb 12: Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle (Saale), S [34]; urn:nbn:de:gbv:3:1–526048, CC BY-SA Abb 13: Bayrische Staatsbibliothek München, Fiche L eleg m 596 m, Frontispiz; urn:nbn:de:bvb:12-bsb10576659–7 Abb 14: Bayrische Staatsbibliothek München, Fiche L eleg m 596 m, Titel; urn:nbn:de:bvb:12-bsb10576659–7 Abb 15: Bayrische Staatsbibliothek München, H mon 470 m, Titelseite; urn:nbn:de:bvb:12-bsb10030405–1 Abb 16: Musée Carnavalet Paris, CC0 Dr Martin Mulsow Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha

Uvae barbatae Deplatzierte Bärte und ihr Platz in der Kunstgeschichte Julia Saviello Zusammenfassung: Zwischen 1541 und 1615 traten mehrfach Trauben mit ‚Bart‘ auf, die als Prodigien aufgefasst und durch Flugblätter rasch über ihre eigentlichen Fundorte hinaus bekannt wurden Der Beitrag stellt alle dokumentierten uvae barbatae vor und analysiert ihre Überlieferung in Wort und Bild Besonderes Augenmerk gilt der formalen Analogie von Haar und Teufelszwirn, einer parasitär lebenden Pflanze, die schon bald als eigentliche Ursache des irritierenden ‚Bartwuchses‘ der Reben erkannt wurde Die Analogie wird zunächst aus Sicht der Botanik erörtert und sowohl in die Kräuterbücher der Frühen Neuzeit als auch in die Signaturenlehre zurückverfolgt Abschließend wird die Frage nach dem künstlerischen Moment in der bildlichen Darstellung der ‚Pflanzenbärte‘ aufgeworfen und das Gestaltungspotential beleuchtet, das sich aus der formalen Nähe von Stängel, Haar und Linie ergibt Abstract: Bearded grapes appeared several times between 1541 and 1615 Regarded as prodigies, they were quickly publicised beyond their actual places of discovery via pamphlets The article presents all documented uvae barbatae and analyses their transmission in word and image Particular attention is paid to the formal analogy between hair and cuscuta (also known as devil’s hair), a parasitic plant that was soon recognised as the actual origin of the vines’ irritating ‘beards’ This analogy is first examined from the perspective of botany and traced back to early modern Kräuterbücher and the theory of signatures Finally, the question of the artistic element within the pictorial representation of the herbal ‘beards’ is raised and the creative potential resulting from the formal proximity of stems, hairs and lines is illuminated

Die bärtige Traube (uva barbata) fand in den bisherigen Überblickswerken zum Bart und seiner Geschichte keine Berücksichtigung – obgleich mit Titeln wie One Thousand Beards oder Anything Grows ein breites Spektrum an analysierten Fällen in Aussicht ge-

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stellt wird 1 Erstmals erfasst wurde eine solch ungewöhnliche Naturerscheinung 1541 in Albersweiler, einem Dorf in der Nähe von Landau Das dort gefundene Gewächs gelangte im folgenden Jahr über den pfälzischen Kurfürsten Ludwig V auf den Reichstag zu Speyer, wo es neben anderen wundersamen Erscheinungen gezeigt wurde Im Auftrag von König Ferdinand I entstand in diesem Zusammenhang auch ein Flugblatt, das das Aussehen der bärtigen Trauben und ihre Herkunft festhält (Abb 1) 2 Bild und Text geben in dem kolorierten Holzschnitt einander ergänzende Informationen; beide stammen von der Hand Heinrich Vogtherrs d Ä , der am Ende des Textes namentlich genannt wird 3 Das obere Drittel und die rechte Spalte des Blattes sind der bildlichen Darstellung beider Trauben vorbehalten, die noch mit der Astgabel des Rebstocks verbunden sind Diese wurde nicht farblich gefasst, sodass die Weinbeeren in hellem Grün und ihr vermeintlicher Bart in grellem Rot umso mehr hervorstechen Im Text, der sich in der linken Spalte ungefähr vom Ansatz des ‚Bartes‘ bis zu dessen unterem Abschluss erstreckt, werden genauere Angaben zur Länge der ‚Barthaare‘ und zu ihrer Verbindung mit den Weinbeeren gemacht: Sie seien eine Spanne, d h ca 20 bis 25 Zentimeter lang, und wüchsen aus dem Innern der Beeren hervor 4 Außerdem werden die Auffindung der Barttrauben durch die Ehefrau eines Winzers und ihr weiterer Verbleib in den Händen des Kurfürsten dargelegt, wobei auch ihre Präsentation in Speyer zusammen mit anderen Wundern Erwähnung findet: Ein warhafft wunderbarlich vor unerhörte/ Figur unnd gewächs So zu Alberweiler bey/ Landauw am Rhein im Jar der geburt/ Christi M D XLI zu Herbst/ zeit erfonden worden / Zwen Trauben an eim reben ast/ Zusamen seind eingwachsen fast/ Darauß ein rotter bart für trang/ Sein lengt ist einer Spannen lang/ Zu underst von einander gate/ Sein ursprung auß den steinlein hat/ Die inn des Treybels berlein ligen/ Gantz krefftigklich herauß getriben/ Und als des rebmans Weib in fand/ Verwundert sich lang vor im stand/ Auß fürwitz ettlich har außropfft/ Zeletzt in gar herausser zopfft/ Jedoch wid zum so gwachsen ist/ An sondern trug und

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Allan Peterkin: One Thousand Beards: A Cultural History of Facial Hair Vancouver 2001; Jörg Scheller, Alexander Schwinghammer (Hg ): Anything Grows: 15 Essays zur Geschichte, Ästhetik und Bedeutung des Bartes Stuttgart 2014 Grundlegend zu diesem Flugblatt: Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hg ): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16 und 17 Jahrhunderts, Bd 6: Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich, Teil 1: Die Wickiana (1500–1569) Tübingen 2005, Nr 25, S 50–51 (Ulla-Britta Kuechen) Erwähnung fand der Holzschnitt bereits bei Friedrich von Bassermann-Jordan: Geschichte des Weinbaus, Bd 1, 2 wesentl erw Aufl Frankfurt am Main 1923, S 10, Anm 1; Konrad Böhner: Die bärtige Traube oder ‚Uva barbata‘, in: Mitteilungen der Bayerischen Botanischen Gesellschaft zur Erforschung der heimischen Flora 4/8 (1928), S 120–126, hier: 122; Frank Muller: Heinrich Vogtherr l’Ancien Un artiste entre Renaissance et Réforme Wiesbaden 1997, Nr 249, S 315–316 „Diser traub ist Roemischer Koenigklicher/ Maiestat zu Speir von Heinrich Vogt-/ herren Malern burger zu Straßburg wie/ hiezu gegen warhafftig abconterfeit / 1542 / Mit Kayserlicher und Koenigklicher/ Maiestat Freyheit “ Zum Künstler: Muller: Heinrich Vogtherr l’Ancien Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50

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argen list/ Do wards dem Churfürst angezeigt/ Zuletst im geschenkt und zu geeigt/ Der in zu Heydelberg noch hatt/ All Fürsten Herren sehen latt/ Auch ietz zu Speir uff dem reichstag/ Ward darvon gar ein grosse sag/ Der Pfalzgraff lies in bringen dar/ Trüg in bein Fürsten und bar/ Des sich mengklich verwundert hart/ Das ein wein traub solt han ein bart/ Und ein halm fünffzehn ehern tragen/ Auch thet man vom jungfraewlin sagen/ Welchs lange zeit nichts gessen hatt/ Wie Gott ietz zeigt sein wunder thatt/ On zweyfel schwer bedeutnus hatt

Abb. 1 Heinrich Vogtherr d Ä , Flugblatt 1542, Zürich, Zentralbibliothek

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Schon die ersten dokumentierten Barttrauben wurden als Zeichen Gottes gedeutet, dem eine große Bedeutung innewohne 5 Während diese auf dem Flugblatt von 1542 aber nicht weiter erläutert wird, gehen Flugblätter zu späteren Funden genauer auf die Auslegung derartiger Naturwunder ein, wobei auch die Fundorte und damit sowohl der Kontext des Weinanbaus als auch der Weinkonsum in die Deutung eingeschlossen werden Etwas mehr als 100 Jahre galt die Barttraube in Europa so als ein denkwürdiges Prodigium, bis der französische Mediziner Pierre Borel eine natürliche Erklärung für den angeblichen Bartwuchs der Trauben fand In seiner Historiarum, et observationum medicophysicarum von 1656 räumte Borel mit dem Wunderglauben um die Trauben auf und erkannte in ihren ‚Barthaaren‘ die Schmarotzerpflanze cuscuta, die im deutschen Sprachraum auch als ‚Seide‘ oder ‚Teufelszwirn‘ bezeichnet wird 6 Wie Ulla-Britta Kuechen in ihrer eingehenden Analyse des Flugblatts herausstellt, war dieses Windengewächs in der Mitte des 16 Jahrhunderts kein Unbekannter 7 Schon Leonhart Fuchs erwähnt es in seinen De historia stirpium commentarii insignes von 1542 und hebt auch in der deutschen Fassung New Kreüterbuch von 1543 den Bezug zu „harlöck“ sowie die charakteristische weiße oder rote Färbung hervor 8 Laut Kuechen war der Befall von Weintrauben allerdings eher ungewöhnlich und habe aus diesem Grund buchstäblich Verwunderung hervorgerufen 9 Die spezifische Gestalt des Teufelszwirns war dafür gewiss ausschlaggebend Aufgrund ihrer formalen Nähe zu Haaren bzw zu einem langen Bart erweckte die Pflanze den Eindruck einer chimärenhaften Kombination mit einem Teil des menschlichen Körpers Der Bartbezug der Seide wurde durch die bildliche Überlieferung und Verbreitung der Trauben noch gefestigt, während die begleitenden Texte teils mit botanischem Anspruch zusätzliche Informationen zur Länge oder zur Verbindung der ‚Barthaare‘ mit den einzelnen Weinbeeren bereitstellten Ein Überblick über alle dokumentierten Fälle von uvae barbatae wird im Folgenden zunächst diese enge Verschrän-

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Eine solche Deutung findet sich häufig in Flugblättern, die außergewöhnlichen Naturerscheinungen gewidmet sind Vgl Ulla-Britta Kuechen: Botanische illustrierte Flugblätter der Frühen Neuzeit Ein frühes Medium als Basis für die Einordnung von Phänomenen der Teratologie in den Wissensdiskurs und dessen Voraussetzungen, in: Wolfgang Harms, Alfred Messerli (Hg ): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700) Basel 2002, S 265–303, hier: 267–268 Pierre Borel: Historiarum, et observationum medicophysicarum, centuriae IV Paris 1656, S 16 Vgl Böhner: Die bärtige Traube, S 124, jedoch im Verweis auf eine spätere Edition; Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50 Zur Gattung der Cuscuta allgemein: Hans Christian Weber: Parasitismus von Blütenpflanzen Darmstadt 1993, S 25–27 Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50 Leonhart Fuchs: New Kreüterbuch, Nachdr der Ausg Basel 1543 Wiesbaden 2002, Kap CXXXI Vgl ders : De historia stirpium commentarii insignes Basel 1542, Kap CXXX, S 347: „Cirri dilutiore rutilant purpura, nonnumquam ex rubro rufescunt, fidibus lyrarum crassitie pares “ Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50

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kung von Text und Bild aufzeigen und zugleich die unterschiedlichen Deutungen des Gewächses nachzeichnen,10 die über die Flugblätter einen weiten Rezipientenkreis erreichten Es folgt ein kurzer Streifzug durch die ‚Naturgeschichte‘ des Haares, in dem die formale Angleichung einer Pflanze oder von Teilen einer solchen an menschliches Haar in botanischen Schriften vorgestellt wird Dieser Exkurs führt abschließend zur Frage nach der künstlerischen Umsetzung von Haaren, die nicht immer dem natürlichen Vorbild verhaftet bleiben muss und zu einem gewissen Grad ihren eigenen Regeln folgen kann Die Barttrauben eignen sich in besonderer Weise für einen solchen Blick auf das Verhältnis von Vorlage und Abbildung Reale Exemplare haben sich kaum erhalten,11 und wenn dies der Fall war, verzerrte der natürliche Verfallsprozess den visuellen Eindruck teils so sehr, dass eine künstlerische Nachbildung der ursprünglichen Gestalt nötig wurde 12 Hier wie überhaupt in der Darstellung von Haaren eröffneten sich kreative Freiräume, die stets mitbedacht werden sollten, wenn die Flugblätter als Zeugnisse für die uvae barbatae heranzogen werden 1 Die bärtigen Trauben von Albersweiler und ihre Rezeption Bärte galten und gelten vielen als ein typisches Zeichen von Männlichkeit 13 Sie erregen vor allem dann Aufsehen, wenn sie eine ungewöhnliche Form aufweisen, wie im Fall von Albrecht Dürer, dessen „Schnabelbart“ (barba bechina) den Spott einiger seiner

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Vgl Michael Schilling: Illustrierte Flugblätter der frühen Neuzeit als historische Bildquellen Beispiele, Chancen und Probleme, in: Brigitte Tolkemitt, Rainer Wohlfeil (Hg ): Historische Bildkunde Probleme, Wege, Beispiele Berlin 1991, S 107–119; Franz Mauelshagen: Was ist glaubwürdig? Fallstudie zum Zusammenspiel von Text und Bild bei der Beglaubigung außergewöhnlicher Nachrichten im illustrierten Flugblatt, in: Harms, Messerli (Hg ): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs, S 309–338; Kerstin te Heesen: Das illustrierte Flugblatt als Wissensmedium der Frühen Neuzeit Opladen 2011, S 114–123 In der Wunderkammer von Schloss Ambras befand sich laut Christoph Besold zum Beispiel eine solche Rarität (Christoph Besold: Thesaurus practicus, erweitert durch Christoph Ludwig Dietherr von Anwanden, Bd 1 Nürnberg 1679, S 946); vgl Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hg ): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16 und 17 Jahrhunderts, Bd 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, Teil 1: Ethica, Physica Tübingen 1985, Nr 220, S 452 (Ulla-Britta Kuechen) Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50 Vgl als bekanntes historisches Beispiel Giovanni Battista della Porta: De humana physiognomia Neapel 1586, S 132–133 Zum Bart: Londa Schiebinger: Nature’s Body: Gender in the Making of Modern Science Boston 1993, S 120–125, sowie: Reginald Reynolds: Beards: Their Social Standing, Religious Involvements, Decorative Possibilities and Value in Offence and Defence Through the Ages New York 1949; Christina Wietig: Der Bart Zur Kulturgeschichte des Bartes von der Antike bis zur Gegenwart, Dissertation Hamburg 2005 Mit dem männlichen Bart in einem engeren zeitlichen Rahmen oder spezifischen Kontext beschäftigen sich auch: Will Fisher: Staging the Beard: Masculinity in Early Modern English Culture, in: Jonathan Gil Harris, Natasha Korda (Hg ):

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Zeitgenossen auf sich zog,14 oder wenn sie im Gesicht einer Frau wachsen, wie im Fall von Wilgefortis 15 Auch ein Geistlicher hatte bartlos zu sein, wie erstmals aus den Dekretalen Papst Gregors IX (1234) hervorgeht 16 Daher ist es nur verständlich, dass der temporäre Bart Papst Julius’ II bereits zu seinen Lebzeiten ausgiebig diskutiert wurde und inzwischen Gegenstand mehrerer kunsthistorischer Studien geworden ist 17 Wenn ein Kind mit einem Bart erscheint, wie in Leon Battista Albertis Beschreibung eines

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Staged Properties in Early Modern English Drama Cambridge 2002, S 230–257, hier: 231 Für den größeren Kontext: ders : The Renaissance Beard: Masculinity in Early Modern England, in: Renaissance Quarterly 54 (2001), S 155–187; Douglas Biow: The Beard in Sixteenth-Century Italy, in: Julia L Hairston (Hg ): The Body in Early Modern Italy Baltimore 2010, S 176–194; Jean-Marie Le Gall: Un idéal masculin? Barbes et moustaches (XVe-XVIIIe siècles) Paris 2011; Douglas Biow: On the Importance of Being an Individual in Renaissance Italy: Men, their Professions, and their Beards Philadelphia 2015 Lorenz Beheim an Willibald Pirckheimer, Brief vom 19 März 1507, in: Albrecht Dürer: Schriftlicher Nachlass, hg v Hans Rupprich 3 Bde , Bd 1 Berlin 1956–1969, Nr 11, S 254 Vgl hierzu und mit Verweis auf die zentrale Literatur Julia Saviello: Verlockungen Haare in der Kunst der Frühen Neuzeit Emsdetten 2017, S 123–132 Allgemein zum Künstlerbart sowie zum Bart des Schweizer Malers Jean-Étienne Liotard: Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Liotards Bart Transkulturelle Maskerade der Männlichkeit, in: Mechthild Fend, Marianne Koos (Hg ): Männlichkeit im Blick Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit Köln 2004, S 161–180; Marianne Koos: ‚La jouissance du détail‘: Liotards Bartlocke, in: Kritische Berichte 36/3 (2008), S 19–27 Zum Künstlerbart vgl auch Beat Wyss: Die kurze, aber wahrhaftige Kunstgeschichte als Bartgeschichte, in: Scheller, Schwinghammer (Hg ): Anything Grows, S 183–205 Vgl Della Porta: De humana physiognomia, S 133 Zum Bart der Wilgefortis: Regine Schweizer-Vüllers: Die Heilige am Kreuz Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit Bern 1999; Ilse E Friesen: The Female Crucifix: Images of St Wilgefortis Since the Middle Ages Waterloo 2001; Britta-Juliane Kruse: Die bärtige Heilige Wilgefortis als Identifikationsfigur für Eheverweigerinnen und Helferin der Ehefrauen, in: Ulrike Gaebel, Erika Kartschoke (Hg ): Böse Frauen – gute Frauen Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Trier 2001, S 155–193; Martin Kraatz: Die heilige Kümmernis und ihre Erforschung zwischen Legende und Wirklichkeit, in: Sigrid Glockzin-Bever, Martin Kraatz (Hg ): Am Kreuz – eine Frau Anfänge – Abhängigkeiten – Aktualisierungen Münster 2003, S 10–20; David A King: The Cult of St Wilgefortis in Flanders, Holland, England and France, ebd , S 55–97 Für spätere Beispiele: Susanne Thiemann: ‚Sex trouble‘: Die bärtige Frau bei José de Ribera, Luis Vélez de Guevara und Huarte de San Juan, in: Judith Klinger, dies (Hg ): Geschlechtervariationen Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit Potsdam 2006, S 47–82 Vgl Emil Ludwig Richter, Emil Friedberg (Hg ): Corpus Iuris Canonici, Teil 2: Decretalium Collectiones Decretales Gregorii p IX Leipzig 1881, III, 1, 5 (Sp 449): „Clericus neque comam nutriat, neque barbam “ Hierzu Philipp Hofmeister: Der Streit um des Priesters Bart, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 13 (1943/44), S 72–94, hier: 83–85; Ursula Lehmann: Die ‚heikle‘ Bartfrage Verhandlungen und Zeremoniell anläßlich der Wahlannahme von (Gegen-)Papst Felix V , in: Archiv für Kulturgeschichte 81/1 (2009), S 79–98, hier: 93 Für die Analyse des Klerikerbartes in einer weiteren Perspektive: Jörg Seiler: Soma und Dogma Der Klerikerbart im theologischen Streit, in: Scheller, Schwinghammer (Hg ): Anything Grows, S 229–257 Vgl Mark J Zucker: Raphael and the Beard of Pope Julius II, in: The Art Bulletin 59/4 (1977), S 524–533; Bram Kempers: Augustus and Julius II: An Archeological and Art Historical ‚Aperçu‘ on the Beard, in: Anton W A Boschloo (Hg ): ‚Aux Quatre Vents‘ A Festschrift for Bert W Meijer Florenz 2002, S 191–198; Andreas Beyer: Der Bart als ‚ex voto‘ Der Fetisch in der Pogonologie, in: Hartmut Böhme, Johannes Endres (Hg ): Der Code der Leidenschaften Fetischismus in den Künsten München, Paderborn 2010, S 230–243

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Ringes mit dem „Gesicht einer bärtigen Jungfrau“ (barbatam virginis faciem) oder in Dürers Bild eines bärtigen Jungen,18 wird dies entweder als ein „Scherz“, als Allegorie oder als Prodigium ausgelegt 19 Die Barttrauben wurden – wie der Bart der Wilgefortis oder jener des puer senex in Dürers Werk – als göttliche Wunderzeichen aufgefasst Erstmals traten mit ihnen jedoch pflanzliche ‚Bartträger‘ in Erscheinung 20 Als solche erlangten insbesondere die wundersamen Trauben von Albersweiler weite Bekanntheit Schon Conrad Lycosthenes nahm sie in seine Schrift Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) auf 21 Das Bild der bärtigen Weinbeeren, wie es auf dem Flugblatt zirkulierte, erscheint hier in kleinerem Maßstab und seitenverkehrt (Abb 2), der begleitende Text wurde auf wenige Angaben zum Fundort und zum weiteren Verbleib beschränkt Der Schöpfer der ersten bildlichen Darstellung des Prodigiums findet allerdings auch in diesem Fall Erwähnung 22 Ebenso in Johann Wolfs Lectionum memorabilium (1600), in der Lycosthenes’ Kurzfassung mit Verweis auf den Urheber abgedruckt ist, nun allerdings ohne die Abbildung 23

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Leon Battista Alberti: Intercenales, hg v Franco Bacchelli, Luca d’Ascia Bologna 2003, S 774 Bei Dürers Werk handelt es sich um eine um 1527 entstandene Tüchleinmalerei, die heute im Département des arts graphiques im Louvre aufbewahrt wird Diese Deutungsansätze beziehen sich allein auf das Bartkind Dürers Vgl Eduard Flechsig: Albrecht Dürer Sein Leben und seine künstlerische Entwicklung, 2 Bde , Bd 1 Berlin 1928–1931, S 431; Hans Tietze, Erica Tietze-Conrat: A Hieroglyph by Dürer, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 70/407 (1937), S 80–82; Erwin Panofsky: Albrecht Dürer, 2 Bde , Bd 2 Princeton 1945, Nr 84, S 18; Edgar Wind: Pagan Mysteries in the Renaissance London 1958, S 90–91, Anm 4; Leonie von Wilckens (Hg ): Albrecht Dürer 1471–1971, Ausst -Kat Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, München 1971, Nr 453, S 227; Christian Gnilka: ‚Aetas spiritalis‘ Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens Bonn 1972, S 38– 39, Anm 14; Fedja Anzelewsky: Albrecht Dürer Das malerische Werk, 2 Bde , Bd 1 Berlin 1991, Nr 186, S 281 Auch in der Welt der Tiere sind Bärte verbreitet Zum Ziegenbart: Conrad Gessner: Historia animalium, 4 Bde, Bd 1 Zürich 1551–1558, S 272–273 Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50 Ohne genauere Angaben zu den Umständen der Auffindung erscheint eine Barttraube auch in einem Manuskript, das unter dem Namen Wunderzeichenbuch bekannt ist Zwar wird nur eine bärtige Traube gezeigt, doch legt die Kombination mit einer Wunderähre und einer Jungfrau, die über zwei Jahre ohne Nahrung ausgekommen sei, nahe, dass hier auf den Traubenfund von Albersweiler alludiert wird Zu dieser Darstellung: Joshua P Waterman, Till-Holger Borchert: The Book of Miracles The Augsburg Manuscript from the Collection of Mickey Cartin Köln 2017, S 214 Conrad Lycosthenes: Prodigiorum ac ostentorum chronicon Basel 1557, S 575–576 Johann Wolf: Lectionum memorabilium et reconditarum centenarii XVI, 2 Bde , Bd 2 Lauingen 1600, S 497 Dagegen erscheint in Jacob Theodor: Eicones plantarum Frankfurt am Main 1590, S 891, nur das Bild Vgl Böhner: Die bärtige Traube, S 123

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Abb. 2 Conrad Lycosthenes, Prodigiorum ac ostentorum chronicon Basel 1557, S 576

Wolfhart Spangenberg griff in seinem Anmutiger Weisheit Lustgarten von 1621, wie er selbst anmerkt, auf diese beiden Schriften zurück und übertrug die Beschreibung der Barttrauben ins Deutsche Möglicherweise lag ihm sogar ausschließlich Wolfs Lectionum memorabilium vor Dies würde den Übersetzungsfehler erklären, durch den aus zwei Trauben mit einem einzigen ‚Bart‘ zwei Trauben mit je einem eigenen ‚Bart‘ geworden sind 24 In Lycosthenes’ Chronicon hätte Spangenberg dies dagegen

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Wolfhart Spangenberg: Anmutiger Weisheit Lustgarten, erster Teil, in: ders : Sämtliche Werke, hg v Andor Tarnai, András Vizkelety 7 Bde in 9 Teilbden , Bd 5 Berlin u a 1982, S 172 Vgl Böhner: Die bärtige Traube, S 121: „Anno 1541 Hat man in Teutschland zu Albersweyler/ nicht weit von der Statt Landaw/ zu Herbest zeiten/ zwo Trauben gefunden/ deren jede einen langen Bart gehabt “ Bei Lycosthenes und damit auch bei Wolf ist dagegen von uvae barbatae die Rede Lycosthenes: Prodigiorum ac ostentorum chronicon, S 575

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leicht am Bild überprüfen können Dieser Fehler setzt sich fort bis in die Monstrorum historia des Bologneser Naturforschers Ulisse Aldrovandi, die 1642 posthum erschien Zwar verweist Aldrovandi im Text selbst auf den aus dem Elsass stammenden Universalgelehrten,25 doch legt insbesondere die eine gesamte Seite füllende Abbildung nahe, dass ihm auch andere Berichte über die Trauben von Albersweiler vertraut waren

Abb. 3 Ulisse Aldrovandi, Monstrorum historia Bologna 1642, S 668

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Ulisse Aldrovandi: Monstrorum historia Bologna 1642, S 666 Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50 Anders als Wolf übernimmt Aldrovandi den früheren Text nicht wortgetreu

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In mehreren Details weicht die Darstellung der Trauben in der Monstrorum historia von dem Bild in Lycosthenes’ Schrift ab (Abb 3) 26 Zwar wurde die Seitenverkehrung des Flugblattes wieder aufgehoben, doch erscheinen die beiden Weintrauben nun getrennt voneinander und hat jede von ihnen einen individuellen ‚Bart‘ erhalten Aus der Astgabel ist ein einzelner Ast geworden, der neben den Trauben auch drei Blätter trägt Vor allem aber wurden die äußeren ‚Barthaare‘ ihrer kunstvollen Schnörkel beraubt und fallen nur noch leicht gewellt in dicken Strähnen nach unten, wo sie unterschiedlich stark abknicken, um die Grenzen der Druckplatte bzw den unteren Seitenrand nicht zu übertreten Diese Unterschiede lassen sich einerseits durch die abweichende Beschreibung Spangenbergs erklären, andererseits könnte die deutlich abweichende Gestaltung der Barttrauben in Aldrovandis Schrift auch auf das Fehlen eines Bildes in dessen Lustgarten zurückzuführen sein Diese visuelle Leerstelle bot dem Schöpfer der Buchillustration die Möglichkeit zu einer alternativen Interpretation des Gelesenen, in die möglicherweise auch die Darstellungen anderer Barttrauben eingeflossen sind Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Aldrovandis Kompendium, 1642, waren bereits weitere Barttrauben entdeckt und über Flugblätter verbreitet worden, bei denen die ‚Haare‘ glatt und schnörkellos nach unten fallen 2 Weitere Barttrauben, 1560–1615 Die Trauben mit ‚Bart‘, die 1560 und 1580 gefunden und über Flugblätter bekannt gemacht wurden, stammten aus den Weinbergen um Prag Anders als die Barttraube von 1541, die, wie eingangs dargelegt, nur allgemein als ein göttliches Zeichen von großer Bedeutung bezeichnet wurde, wurden die beiden Funde aus Prag im Text genauer auf ihren Sinn hin befragt und als Prodigien mit dem Konsum von Wein in Beziehung gesetzt 27 Das Flugblatt von 1560, das der Nürnberger Künstler Hans Glaser schuf, zeigt die gesamte Weinrebe, an der die beiden Trauben entdeckt wurden (Abb 4) 28 Deren ‚Bärte‘ sind von unterschiedlicher Länge und Form, bei der linken sind die ‚Barthaare‘ 26

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Im Unterschied dazu weist die Abbildung in Fortunio Licetis De monstrorum natura, caussis, et differentiis (Padua 1634) größere Ähnlichkeiten zu Lycosthenes’ Schrift auf, auf die im Text (S 24–25) auch explizit verwiesen wird Zu Aldrovandis botanischen Studien: Enrico Baldini: Prodigi, simulacre e mostri nell’eredità botanica di Ulisse Aldrovandi, in: Giuseppe Olmi, Lucia Tongiorgi Tomasi, Attilio Zanca (Hg ): Natura-cultura L’interpretazione del mondo fisico nei testi e nelle immagini Florenz 2000, S 215–243 Der Alkoholkonsum wurde in Flugblättern der Frühen Neuzeit häufig thematisiert Vgl B Ann Tlusty: Trinken und Trinker auf illustrierten Flugblättern, in: Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hg ): Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit Frankfurt am Main 1998, S 177–203; Heesen: Das illustrierte Flugblatt, S 273–306 Zu dem Holzschnitt allgemein: Eugen Holländer: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts Kulturhistorische Studie Stuttgart 1921, S 96–98; Walter L Strauss: The German Single-leaf Woodcut, 1550–1600 A Pictorial Catalogue, 3 Bde , Bd 1 New York 1975, S 361

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Abb. 4 Hans Glaser, Flugblatt 1560, Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett

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leicht gewellt, bei der rechten fallen sie dagegen glatter aus Im Anschluss an die Überschrift, in der der genaue Fundort, nämlich ein Weinberg bei einem Kloster, genannt wird, geht der Text auf die allgemeine Bedeutung von solchen „wunderbarliche[n] zeychen“ ein Diese entsende Gott, um das „Gotlose volck“ zu bekehren und „zur buß“ zu bewegen 29 Das Aussehen der ‚Bärte‘ erfährt auch im Text große Aufmerksamkeit: Do nemblich ein yetzlicher derselben Weintrauben hat von sich gelassen/ und abhangend gehabt/ ein seltzamen langen Bart/ Inn der erst etwas gelblich/ und grawhärig durch einander/ Wie an eynem alten Man anzusehen/ biß zur Erden langend/ hernach aber verändert er sich/ und ward an der gestaldt/ gleich wie ein dicker Rot farber Mans Bart/ zweymal so lang/ als der schwartz strich hie unden verzeychnet

Nicht nur die Farbe der ‚Barthaare‘, die in Gelb und Grau aus den Weinbeeren wachsen, dann aber in ein Rot übergehen, werden hier genau erfasst, sondern auch ihre Länge, welche durch einen Maßstab am unteren Bildrand unmittelbar nachvollzogen werden kann – gleichsam als Korrektur der in dieser Hinsicht verklärenden Darstellung auf dem Flugblatt Nachdem der Autor zunächst einräumt, dass nur Gott den wahren Sinn solcher Zeichen kenne, unternimmt er im weiteren Verlauf des Textes dennoch den Versuch einer Deutung Diese greift vor allem den Vergleich der gräulichen ‚Traubenbärte‘ mit dem Bart eines alten Mannes auf: Verstendige leut aber/ deuten dise Rot bärtige Weintrauben/ auff den grossen zoren Gottes/ uber das grewliche unnd verdammliche laster der Trunckenheyt/ So leyder schier in allen Landen/ Beyde bey jungen und alten Personen/ seer uberhand genommen/ Dardurch denn aller unrath (wie vor augen) thut entspringen/ Als nemblich/ Ein heßliches blödes alter/ vor der rechten zeyt/ Ja auch endlich ein jehes erschröcklichs ende/ mit todtschlagen/ zu todt fallen/ und Rürung [?] Gottes gewalts/ unnd dergleichen

Es ist das so naheliegende Laster der Trunkenheit, das im Flugblatt von 1560 als Ursache der wundersamen Erscheinung angeführt wird Schließlich sei dieses bei Jung und Alt verbreitet, obwohl es doch bekanntermaßen zu einer vorzeitigen Alterung und einem grausamen Tod führe

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Der Gottesbezug, der hier in negativer Weise hergestellt wird, konnte in Flugblättern auch in positiver Weise aufgerufen werden, wenn etwa Christus mit einem Weinstock gleichgesetzt wurde, wie im Nürnberger Flugblatt Der Geistliche Weinstock deß Herrn JESU aus der Mitte des 17 Jahrhunderts Vgl Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hg ): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16 und 17 Jahrhunderts, Bd 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, Teil 3: Theologica, Quodlibetica, Bibliographie Tübingen 1989, Nr 29, S 62–63 (Renate Haftlmeier-Seiffert); Tlusty: Trinken und Trinker, S 198–200

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Abb. 5 Hans Weigel, Flugblatt 1580, Zürich, Zentralbibliothek

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Auf dem Flugblatt zu den Barttrauben, die 1580 im Weinberg des Prager Tuchhändlers Georg Benatzky gefunden wurden, rückt diese Deutung noch stärker in den Vordergrund (Abb 5) 30 Der kolorierte Holzschnitt wurde von dem Nürnberger Künstler Hans Weigel d J gedruckt, wie im unteren Teil des Blattes vermerkt ist Durch einen schwarzen Rahmen wurde das Bild auf der rechten Blatthälfte vom erläuternden Text abgesetzt Insgesamt vier rote Trauben sind hier zu sehen Je zwei von ihnen hängen an einem Ast der Rebe, der zu beiden Seiten über die Rahmung hinausgeht, sodass der Eindruck entsteht, als befinde er sich in seiner natürlichen Umgebung Von allen vier Trauben gehen lange, gelb hinterlegte ‚Haare‘ aus Bei dem Paar oben links vereinigen sich diese zu einem einzigen ‚Bart‘, die beiden verbleibenden Trauben verfügen jedoch über individuelle ‚Bärte‘, die ungefähr gleich lang sind In der Textkolonne wird, nach einem kurzen Appel an alle Menschen (ob „Jung/ alt/ fraw/ Man“), der römische Weingott Bacchus schon zur Bestimmung der gewöhnlichen Gestalt von Weintrauben aufgerufen: „Es ist nicht die Natur fürwar/ Das auß dem Wein solt wachsen Har Darzu malt man des Bachus art/ Gleich wie ein Jüngling on ein Bart “ Zwar folgt diesem Vergleich eine kurze Charakterisierung eines „Truncknen“, der bald singe, bald weine wie ein Kind bzw wie „das unweise gesind“, doch ist es schließlich nicht nur die Trunkenheit, die der Autor durch die Barttrauben angeprangert sieht, sondern auch damit eng verbundene Laster wie Unkeuschheit und Spielsucht: „Die Weintrauben so mit dem Bart/ Gewachsen sein aus Gottes rath Vermanen uns von Trunckenheit Abzustehen/ und Unkeuschheit Auch uns vom Spil und pancketirn Von Hochmut/ stoltz/ möchte abfürn “ Als ein Beispiel hierfür dient der König Neubabylons, Nebukadnezar II , der aufgrund seiner Weigerung, Gott anzuerkennen, sieben Jahre lang dem Wahnsinn verfallen sei (Dan 4) Sicher nicht zufällig fiel die Wahl auf Nebukadnezar, denn während der Zeit, in der er wie ein Tier gelebt habe, sei sein Haar „so groß wie Adlerfedern“ (Dan 4,30) gewachsen Am Ende ist es jedoch eine weitere Traube mit ungewöhnlichem ‚Bartwuchs‘, die den Autor zu einer klaren Deutung des zweiten Prager Traubenfunds anregt: Auch wist das vor etlichen Jaren/ Trauben gewachsen sind mit harn Darnach ein grosser sterben kam/ Durch welchen Gott sein Volck weg nam Drumb auß dem wunder erkennen wir/ Der zorn Gottes sey für der Thür Leget nun ab die böse sitten/ Thut Gott mit reinem hertzen bitten Das er uns wolt sein gnade geben/ Hie zeitlich/ und dort das ewige Leben

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Allgemein zu diesem Einblattdruck: Böhner: Die bärtige Traube, S 125–126; Strauss: The German Single-Leaf Woodcut, Bd 3, S 1142

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Eine vergleichbar eindeutige Auslegung von uvae barbatae als Prodigium Gottes findet sich in den Flugblättern zu den nachfolgenden Funden nicht Schon Spangenberg unterließ in seiner Erwähnung von Barttrauben, die 1599 in der Eifel entdeckt wurden und später nach Straßburg gelangten, eine solche Deutung 31 Im Flugblatt zu den 1602 bei Landau gesichteten Trauben werden allein der Fundort und der weitere Verbleib der allgemein als „Gottes Wunder“ beschriebenen Trauben angegeben sowie Angaben zur Länge des ‚Bartes‘ gemacht (Abb 6) 32 Ähnlich verhält es sich bei zwei Flugblättern von 1610 und 1615, die die Auffindung bärtiger Trauben im Weinberg von Hans Hildebrand in Maikammer bei Speyer (Abb 7) und an einer unbestimmten Stelle in Steinfels (Abb 8) festhalten 33 Der Fundort gab in ersterem Fall sogar zu einer alternativen Einschätzung der Naturerscheinung Anlass, die sich von jener 1580 deutlich abhebt Im begleitenden Text werden die als „Wundergewächs“ bezeichneten Trauben zwar als ein Zeichen Gottes gewertet, ob dies nun allerdings seine Gnade oder seinen Zorn verdeutliche, bleibt offen Die genaue Bedeutung des Gewächses sei schließlich nur „dem Allmechtigen“ bekannt Zugleich aber wird eingeräumt, dass der Wein ein „Edle[s] Geschoepff[]“ und nur sein übermäßiger Konsum als verwerflich anzusehen sei 34 Einleitend wird außerdem die Autorität Plinius’ d Ä in Anspruch genommen, der den Wein in seiner Naturalis historia als „Miracul und Wunderwerck“ rühme 35 In formaler Hinsicht differieren die Barttrauben in den letzten drei Flugblättern stark Fällt der ‚Bart‘ in jenem von 1602 in gleichmäßigen Wellen herab und weist Schnörkel auf (Abb 6), wie sie auch bei den Trauben von Albersweiler gegeben waren (Abb 1), scheinen die ‚Haare‘ auf den Flugblättern von 1610 und 1615 eher schütter und strähnig (Abb 7 und 8) Gerade in letzterem erinnern sie nur noch vage an einen Bartwuchs: Ein längerer, bis über die untere Bildgrenze reichender ‚Bartstrang‘ wird

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Vgl Spangenberg: Anmutiger Weisheit Lustgarten, erster Teil, S 172–173: „Ebener massen hab Ich selbsten auch Anno 1599 gleicher gestalt solcher zwo Trauben zu Straßburg/ in deß Wolgebornen Herrn Graven von Mansfeld/ etc damals Capitularen selben Stiffts/ Behausung gesehen/ welche Ihr Gn[aden] auch/ zu besonderem Wunder von der Eyfel uberschickt worden Deren die eine einen Bart/ ohngefehr einer halben Straßburger Elen lang/ die ander aber viel kuertzer Und waren die Haar der rohen Seyden nicht ungleich/ von Farben etwas dunckel Gelb und mehr auff Braun geneigt: hiengen fein ordentlich nach einander herab/ wie ein langer Bart eines Mannes “ Von einem weiteren Bartfund aus diesem Jahr berichtet Johannes Bauhin: Historia plantarum universalis nova et absolutissima cum consensu et dissensu circa eas, hg v Dominique Chabré 3 Bde , Bd 2 Yverdon 1650–1651, S 75 Vgl Harms, Schilling (Hg ): Die Wickiana (1500–1569), S 50 Zu diesem Einblattdruck: Böhner: Die bärtige Traube, S 122–123; Meinrad Maria Grewenig (Hg ): Mysterium Wein Die Götter, der Wein und die Kunst, Ausst -Kat Speyer, Historisches Museum der Pfalz Ostfildern-Ruit 1996, S 110 Zu diesen Flugblättern: Harms, Schilling (Hg ): Ethica, Physica, Nr 220, S 452–453 (Ulla-Britta Kuechen), und ebd , Nr 221, S 454–455 (Ulla-Britta Kuechen) Eine solche Lesart findet sich auch in anderen Flugblättern, die dem Konsum von Wein gewidmet sind Vgl Heesen: Das illustrierte Flugblatt, S 302 Harms, Schilling (Hg ): Ethica, Physica, Nr 220, S 452–453, vgl Plinius: Naturalis historia, XIV, xxii, 116: „Sunt et in vino prodigia “

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Abb. 6 Johann Hogenberg (?), Flugblatt 1602, Speyer, Historisches Museum der Pfalz

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Abb. 7 Dominicus Custos, Flugblatt 1610, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek

von zwei kürzeren ‚Bartsträhnen‘ flankiert, womit der einem Dreizack ähnelnde Kontur der Traube aufgegriffen wird Möglicherweise kam dieses Erscheinungsbild der ‚Haare‘ aber dem tatsächlichen Aussehen der bärtigen Trauben deutlich näher als ein gepflegter ‚Vollbart‘ wie der im Flugblatt von 1602

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Abb. 8 Jacob von der Heyden, Flugblatt 1615, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek

3 Haare in der Welt der Pflanzen Haarähnliche Erscheinungen sind in der Pflanzenwelt keine Seltenheit Dies wird noch heute an der Benennung einzelner Gewächse deutlich So ist die Drahtalge im Deutschen auch als Borstenhaar bekannt (engl green hair weed, franz crinière flottante) und es gibt verschiedene Arten von Bartflechten (engl beard lichen, franz usnée barbue) 36 Eine generelle Assoziation von Haarlocke und Blattwerk findet sich sowohl im Lateinischen als auch im Italienischen, in beiden Sprachen werden sie mit dem Wort coma bzw chioma aufgerufen 37 Alberti wusste diese Doppeldeutigkeit in seinem Ge36 37

Vgl Miek Zwamborn: Algen Ein Portrait Berlin 2019, S 140; Bruno P Kremer, Hermann Muhle: Flechten, Moose, Farne Europäische Arten München 1991, S 12 Vgl Hadrianus Junius: De coma commentarium, in: ders : Animadversorum libri sex, Basel 1556 S 302–432, hier: 303; Giovanni Battista della Porta: Phytognomonica Neapel 1588, Kap 35, S 129; Salvatore Battaglia: Grande dizionario della lingua italiana, 21 Bde , Bd 3 Turin 1961–2004, S 86 (chioma) Im Rätoromanischen wird die Alge mit der Haarsträhne in Beziehung gesetzt Vgl Zwamborn: Algen, S 78–79

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dicht Lauromina zu nutzen 38 Er wandelte damit den Mythos um die Metamorphose der schönen Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum, in deren Verlauf ihre Haare zu Blättern transfomiert werden, auf ungewöhnliche Weise ab,39 wobei ihm die Rezeption dieses Mythos in Francesco Petrarcas Canzoniere als zusätzliches Vorbild diente 40 Im Tischgespräch Somnium schildert Alberti dagegen die Vision einer Wiese, auf der an Stelle von Gräsern und Blättern verschiedene Arten von Menschen- und Tierhaar wachsen – darunter auch Bärte 41 Eine solche Annäherung von Haar und Gras kann bis in Tertullians De carne Christi (ca 210) zurückverfolgt werden;42 auch der Arzt Tomaso Tomai griff sie in seiner Idea del giardino del mondo (1582) auf, um die Ausbildung von Barthaaren im Gesicht eines Mannes zu begründen 43 Wie diese wenigen Beispiele zeigen, wurden Haare und Pflanze bzw die Teile von solchen aus unterschiedlichen Gründen miteinander in Beziehung gesetzt Die Bezugnahme basiert einerseits auf der Vorstellung von einer Ähnlichkeit zwischen dem Pflanzenwachstum und dem Wachstum des menschlichen Haares, die bereits in der Antike verbreitet war und zu Beginn des 16 Jahrhunderts noch Leonardo da Vinci beschäftigte 44 Andererseits verdeutlicht die botanische Nomenklatur, dass der Vergleich

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Leon Battista Alberti: Rime/Poèmes, übers v Marco Sabbatini, hg , eingel u komm v Guglielmo Gorni Paris 2002, Nr 6, S 27 Für eine ausführliche Diskussion dieses Gedichts: Saviello: Verlockungen, S 33–43 Ovid: Metamorphosen, I, 452–567 Die Verwandlung Daphnes gilt als ein zentrales Beispiel anthropomorpher Naturerscheinungen Vgl Gerte Lexow-Hahn: Vegetabilische Metamorphosen in der Kunst, in: Femme Fleur Anthropomorphe Pflanzendarstellungen in der Graphik vom 15 Jahrhundert bis zur Gegenwart, Ausst -Kat Zürich, Graphische Sammlung der ETH Zürich 1997, S 7–49, hier: 13; Giacomo Berra: Immagini casuali, figure nascoste e natura antropomorfa nell’immaginario artistico rinascimentale, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 43/2–3 (1999), S 358–419, hier: 394–395 Vgl Marga Cottino-Jones: The Myth of Apollo and Daphne in Petrarch’s ‚Canzoniere‘: the Dynamics and Literary Function of Transformation, in: Aldo Scaglione (Hg ): Francis Petrarch, Six Centuries Later North Carolina 1975, S 152–176 Alberti: Intercenales, S 238 Vgl hierzu auch Horst Bredekamp: Albertis Flug- und Flammenauge, in: Christoph Brockhaus (Hg ): Die Beschwörung des Kosmos Europäische Bronzen der Renaissance, Ausst -Kat Duisburg, Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg 1994, S 297–302, hier: 300 Tertullian: De carne Christi, 9, 13–14: „comam ut caespitem “ Vgl Hartmut Freytag: Kommentar zur frühmittelhochdeutschen Summa Theologiae München 1970, S 76 Tomaso Tomai: Idea del giardino del mondo Bologna 1586, S 69–70 Vgl Paolo Savoia: Gaspare Tagliacozzi and Early Modern Surgery: Faces, Men, and Pain London 2019, S 153 Vgl Lydia Matthews: Health and Hygiene, in: Mary Harlow (Hg ): A Cultural History of Hair in Antiquity London 2019, S 85–96, hier: 86, 90 Zu Leonardo: Domenico Laurenza: De figura umana Fisiognomica, anatomia e arte in Leonardo Florenz 2001, S 61–62 Menschliche Körperteile und Teile von Pflanzen wurden schon von Aristoteles miteinander in Beziehung gesetzt (De plantis, 818a15–20) Vgl hierzu sowie zur Rezeption dieser Vorstellung in Aldrovandis Dendrologia (1668) Savoia: Gaspare Tagliacozzi, S 151–153 Im 18 Jahrhundert gewann die Assoziation von Haar und Pflanze dann nochmals eine andere Facette Vgl Jayne Lewis: Gender and Sexuality: ‚Hairs Less in Sight‘ Some Vibrant Ideas of Gender, 1714–1795, in: Margaret K Powell, Joseph Roach (Hg ): A Cultural History of Hair in the Age of Enlightenment London 2019, S 109–133, hier: 125–126

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mit dem Haar gerade dann gesucht wurde, wenn es darum ging, die äußere Gestalt einer Pflanze sprachlich zu fassen 45 Dieser formale Rekurs auf das Haar ist auch in dem schon zu Beginn dieses Beitrags zitierten Kräuterbuch des Tübinger Medizinprofessors Fuchs von zentraler Bedeutung Darin werden nicht nur die Wirkungen verschiedener Pflanzen auf den Haarwuchs und ihre Verwendung als Haarfärbemittel thematisiert,46 sondern wird das Haar zugleich als formales Analogon für die Beschreibung pflanzlicher Fasern (capillamenta) eingeführt Fuchs erläutert dieses Vorgehen im Glossar Vocum difficilium explicatio, das in De historia stirpium den ‚Pflanzenporträts‘ vorangestellt ist, im New Kreüterbuch aber fehlt: „Capillamenta particulae teretes & oblongae in capilli modum extenuatae dicuntur “47 Sein Vergleich der Seide (cuscuta) mit „harlöck“, auf den ebenfalls bereits hingewiesen wurde, reiht sich in diese morphologische Bestimmung ein In der sie begleitenden Abbildung wird der formale Bezug zum Haar jedoch nicht weiter ausgeführt Die Stängel der Pflanze bleiben als solche kenntlich und werden nicht derart dünn gestaltet, dass sie wie wirkliche Haare erscheinen (Abb 9) 48 Die formale Nähe der Haare zu bestimmten Pflanzen konnte auch Gegenstand komplexerer Interpretationen werden Giovanni Battista della Porta deutete sie in seiner Phytognomonica von 1588 im Sinne der Signaturenlehre Ähnlichkeit (similitudine), die sowohl in der äußeren Gestalt als auch in der Farbigkeit bestehen kann, bildet den Kern dieser Lehre 49 Sie zeigt an, welche heilsame Kraft in dem jeweiligen Gewächs 45

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Eine eingehendere Betrachtung von anthropomorphen Einschüben in botanischen Beschreibungen müsste auch die Erläuterung des Lebenszyklus einer Pflanze nach dem Vorbild der Lebensalter (Otto Brunfels) und die Sexualität der Pflanzen (Carl von Linné) berücksichtigen Hierzu: Schiebinger: Nature’s Body, S 11–39; Luca Zucchi: Brunfels e Fuchs: l’illustrazione botanica quale ritratto della singola pianta o immagine della specie, in: Nuncius 18/2 (2003), S 411–465, hier: 428 Vgl die entsprechenden Einträge im „Kranckheyten Register“ in Fuchs: New Kreüterbuch Fuchs: De historia stirpium, S β3 Eine andere Form des Rückgriffs auf das Haar findet sich in Linnés Philosophia botanica (1751), in der ein einzelnes Haar als kleinste Maßeinheit zur Größenbestimmung von Pflanzen herangezogen wird Vgl Carl von Linné: Philosophia botanica Wien 21783, § 331, S 262 Hierzu: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge Frankfurt am Main 2020, S 176–177 Dies entspricht der Leitlinie der Schrift Fuchs maß der visuellen Darstellung zwar eine zentrale Bedeutung in der Memorisierung und Identifizierung von Pflanzen bei, doch hielt er es für geboten, den Künstlern Grenzen zu setzen und ihr Streben nach Anerkennung zu zügeln (Fuchs: De historia stirpium, S α7) Vgl David Freedberg: The Failure of Colour, in: John Onians (Hg ): Sight & Insight: Essays on Art and Culture in Honour of E H Gombrich at 85 London 1994, S 245–262, hier: 248– 250; Zucchi: Brunfels e Fuchs, S 429; Sachiko Kusukawa: Picturing the Book of Nature: Image, Text, and Argument in Sixteenth-Century Human Anatomy and Medical Botany Chicago 2012, S 111–113 Della Porta: Phytognomonica, Buch I, Kap 8, S 16–17 Vgl Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Die ‚Phytognomonica‘ Giovan Battista della Portas als medizinische Signaturenlehre, in: Maurizio Torrini (Hg ): Giovan Battista della Porta nell’Europa del suo tempo Neapel 1990, S 93–99, hier: 94; Wilhelm Kühlmann: Begriffshermetik und Signaturen Grundzüge und Probleme der naturkundlichen Hermeneutik im frühneuzeitlichen Paracelsismus, in: Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt (Hg ): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen Berlin 2005, S 15–42, hier: 31–32 Zur Analogie und ihrer Bedeutung für die Signaturenlehre: Foucault: Die Ordnung der Dinge, S 50–53, 56–61

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Abb. 9 Leonhart Fuchs, De historia stirpium commentarii insignes Basel 1542, S 348

oder Tier verborgen liegt und für welchen Teil des menschlichen Körpers sie nutzbar gemacht werden kann 50 Die Behaarung hebt Della Porta in einem der einleitenden Kapitel als eines unter verschiedenen wichtigen Merkmalen zur Bestimmung der Heilkraft hervor 51 Er kommt auf diesen Umstand im dritten Buch zurück und lotet die vor-

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Vgl Della Porta: Phytognomonica, Buch I, Kap 8, S 17: „Est quippe per similitudinem demonstrandi modus, quo saepissime sumus rerum opifex divinas & occultas res solet patefacere, ut supremam idaeatum similitudinem referrent “ Della Porta: Phytognomonica, Buch I, Kap 20, S 30: „Ad exempla veniebat adiantum, & trichomanes, que rigidiusculis cincinnis, exilibusque fibrillis capillorum faciem exprimebant & crines

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Abb. 10 Giovanni Battista della Porta, Phytognomonica Neapel 1588, S 130

teilhaften Bezüge des Haares zur Welt der Pflanzen in drei Kapiteln weiter aus 52 Hatte schon Fuchs die positive Wirkung des Frauenhaarfarns auf das Haar gerühmt,53 führt

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densos, crispos & pulchriores reddebant “ Vgl Müller-Jahncke: Die ‚Phytognomonica‘ Giovan Battista della Portas, S 96 Della Porta: Phytognomonica, Buch III, Kap 35–37, S 129–133 Vgl Michel Weemans, Bertrand Prévost: Introduction, in: Walter S Melion, Bret Rothstein, Michel Weemans (Hg ): The Anthropomorphic Lens: Anthropomorphism, Microcosmism and Analogy in Early Modern Thought and Visual Arts Leiden 2014, S 1–18, hier: 10 In Bezug auf die im Fokus dieses Beitrags stehende Seide lässt sich der Hang zur Anthropomorphisierung schließlich bis zu Adolf Koelsch verfolgen Der Autor interessierte sich weniger für die Gestalt der Pflanze als vielmehr für ihr Verhältnis zu ihrem Wirt, das sie in seinen Augen zum Exempel eines „Würgers“ macht Vgl Adolf Koelsch: Würger im Pflanzenreich Stuttgart 1912, S 78–85 Zur überaus problematischen Rezeption dieser Form der Anthropomorphisierung und ihrer Rückübertragung auf den Menschen vgl Judith Elisabeth Weiss: Disziplinierung der Pflanzen Bildvorlagen zwischen Ästhetik und Zweck Berlin 2020, S 105–106 Fuchs: De historia stirpium, Kap XXVIII, S 81–83

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Della Porta diese nun auf die äußerliche Ähnlichkeit beider zurück und unterstreicht seine Überlegungen mit einer Abbildung, in der sich die Darstellung eines Haarschopfes zwischen die Ansichten verschiedener Pflanzen einfügt (Abb 10) 54 Derartige Schaubilder wurden im Anschluss an Della Porta bis in das 17 Jahrhundert hinein verbreitet Als Beispiel dafür sei hier nur auf Wolfgang Ambrosius Fabricius’ Aporema botanikon, de signaturis plantarum von 1653 verwiesen 55 Wie im Fall der Signaturenlehre beruhte die Auffassung des Teufelszwirns als Traubenbart, wie sie in den Flugblättern überliefert ist, auf der formalen Analogie des Windengewächses zu menschlichen Haaren Die Deutungen dieser Analogie könnten jedoch kaum gegensätzlicher sein Während sie für Della Porta und seine Nachfolger eine Art Schlüssel zum medizinischen Einsatz der Pflanze – für den Haarwuchs bzw die Färbung des Haares – bereithielt, wurde sie im Fall der Traubenbärte zu einem teils auf den Anbau und den Konsum von Wein bezogenen Warnsignal Gottes 56 4 Fazit: Die Schnörkel des Teufelszwirns Der zur Deutung dieser Prodigien ebenfalls herangezogene Plinius schätzte den Wein nicht nur als „Miracul und Wunderwerck“,57 sondern erhob Trauben zum Prüfstein künstlerischer Mimesis Ein Wettstreit zwischen den Künstlern Zeuxis und Parrhasius bot ihm hierfür bekanntermaßen den narrativen Rahmen: Zeuxis habe zunächst Weintrauben so naturgetreu gemalt, dass Vögel herbeigeflogen seien, um an diesen zu picken Doch letztlich habe sein Konkurrent Parrhasius den Sieg davongetragen, da der von ihm gemalte Vorhang kein Tier, sondern mit Zeuxis einen erfahrenen Künstler in die Irre geführt habe 58 Maßgeblich für dieses künstlerische Verwirrspiel sind die Farben und ihre illusionistische Gesamtwirkung Mit den ‚Barthaaren‘ der Trauben verlagert sich der Fokus nun

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Zur Bedeutung der Bilder für die Vermittlung der Signaturenlehre: Guido Jüttner: Die Signatur in der Pflanzenabbildung, in: Pharmazeutische Zeitung 51 (1971), S 1998–2001 Berra: Immagini casuali, S 388–399, behandelt die Darstellungen in der Phytognomonica als Parallelerscheinung zu natürlichen Zufallsbildern Vgl Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit Bemerkungen zur mittelalterlichen Vorgeschichte und zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wissenschaft, Literatur und Kunst, hg v Uwe Ruberg, Dietmar Peil Stuttgart 1999, S 8–9 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Prodigien und Signaturen: Jörg Jochen Berns: Nachwort, in: ders (Hg ): Von Strittigkeit der Bilder Texte des deutschen Bilderstreits im 16 Jahrhundert, 2 Bde , Bd 2 Berlin 2014, S 1065–1213, hier: 1143–1146 Siehe oben, Anm 35 Plinius: Naturalis historia, XXXV, xxxvi, 65–66 Zu den Implikationen dieses Künstlerwettstreits: Stephen Bann: The True Vine: On Visual Representation and the Western Tradition Cambridge 1989, S 27–101; Hans Körner, Costanze Peres (Hg ): Die Trauben des Zeuxis Formen künstlerischer Wirklichkeitsaneignung Hildesheim 1990

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aber vom farblichen Illusionismus zu den Eigenheiten der künstlerischen Form – und das ist in diesem Fall die Linie Als eine natürliche Linie verbindet sich das Haar mit einem zentralen Element künstlerischer Mimesis, das insbesondere in der Druckgrafik das alleinige Gestaltungsmittel ist Welche Konsequenzen dies für die Darstellung hat, erläutert der französische Grafiker Abraham Bosse in seiner Schrift Moyen universel de pratiquer la perspective sur les tableaux ou surfaces irregulieres (1653): Die lineare Gestaltung von Körpern und Körperoberflächen im Medium der Druckgrafik sei stets fiktiv und gleiche einer Hilfskonstruktion, nur das Haar und mit ihm der Faden wiesen von sich aus eine lineare Form auf und müssten nicht in Linien übersetzt werden 59 Dies machte das Haar allerdings nicht nur zum idealen Gegenstand einer möglichst getreuen Naturnachahmung Im Gegenteil: Auch die Fantasie nahm entscheidenden Anteil an seiner künstlerischen Darstellung 60 Eindrücklich zeigt sich dies im Werk Dürers Als Beispiel sei an dieser Stelle nur auf die Federzeichnungen verwiesen, die er einem Exemplar des 1513 in Augsburg gedruckten Gebetbuches für Kaiser Maximilian hinzufügte (Abb 11) Mit Linien gestaltete er hier nicht nur Figuren und figürliche Szenen, die auf die gedruckten Gebete, Hymnen und Psalmen Bezug nehmen, sondern auch groteske Ranken und abstrakte Schlaufen und fügte einzelnen Bildelementen surreal anmutende Schnörkel hinzu 61 Solche Schnörkel sind eine kalligrafische Zierformel, die bereits für den Druck des Gebetbuches aufgegriffen und in spezielle Typen übertragen wurde 62 Dürer führte die virtuosen Federschwünge in den Randzeichnungen wieder auf ihre handschriftlichen Wurzeln zurück, verlängerte einige der Lettern um frei gezogene Schwünge und übertrug diese zugleich auf Elemente der figürlichen Darstellung – wie Blätter, Ranken, Kopf- und Barthaare 63 Dabei erscheinen die Schnörkel wie Varianten der Schlangenlinie, für die er keine gestalterischen Grenzen gegeben sah und die er in seiner Unterweisung der Messung von 1525 mit der Aussicht auf „wunderbarlich ding“ dem Wirken der künstlerischen Fantasie unterstellte 64 59 60 61

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Abraham Bosse: Moyen universelle de pratiquer la perspective sur les tableaux ou surfaces irrégulières Paris 1653, S 36–37 Vgl Robert Felfe, Karin Leonhard: Lochmuster und Linienspiel Überlegungen zur Druckgraphik des 17 Jahrhunderts Freiburg i Br 2006, S 84–85 Die Darstellung des liniengleichen Haares wurde in der Frühen Neuzeit darüber hinaus mit der Darlegung künstlerischer Virtuosität assoziiert Vgl Koos: Liotards Bartlocke; Saviello: Verlockungen, S 132–138 Zum fantastischen Zuschnitt dieser Zeichnungen: Anja Grebe: Albrecht Dürer als Buchkünstler, in: Imprimatur 20 (2007), S 39–70, hier: 47 Zu den symmetrisch angeordneten Knotungen und ihrem Bezug zu den figürlichen Partien: Friedrich Teja Bach: Struktur und Erscheinung Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst Berlin 1996, S 165–302 Vgl Grebe: Albrecht Dürer als Buchkünstler, S 41–42 Ein wichtiger Vorläufer für diese Übertragung von kalligrafischen Schnörkeln in das künstlerische Bild ist Martin Schongauer Hierzu sowie für eine detailliertere Ausführung zu den Haarschnörkeln: Saviello: Verlockungen, S 100–108 Albrecht Dürer: Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit Faksimiledruck, hg v Alvin Jaeggli Zürich 1966, fol A2r–v Vgl Horst Bredekamp: Die Unüberschreitbarkeit der Schlangenlinie, in: Christian Schneegass (Hg ): Minimal – Concept Zeichenhafte Sprachen im

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Abb. 11 Albrecht Dürer, Randzeichnungen im Gebetbuch Oratio ad suum proprium angelum Maximilians I 1514–1515, München, Bayerische Staatsbibliothek, fol 16v

Was Dürer in der Unterweisung allgemein für die „krume Lini“ in Anspruch nahm, übertrug der niederländische Künstler und Kunstliterat Karel van Mander später explizit auf das Haar Im Lehrgedicht Grondt der Edel vry Schilder-Const, mit dem sein Schilder-Boeck (1604) einsetzt, stellt er heraus, dass die Darstellung von Kopf- und Barthaaren, wie die von Blättern übrigens auch, durch den gheest – also individuelles

Raum Dresden 2001, S 193–208, hier: 206; Sabine Mainberger: Experiment Linie Künste und ihre Wissenschaften um 1900 Berlin 2010, S 31

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Talent und Fantasie – bestimmt werde 65 Er zielt damit nicht auf die Legitimation von Linienschnörkeln als eine Form der fantastischen Überhöhung einzelner Haare, sondern auf die Gesamterscheinung von Bärten und Schöpfen „In order to render hair through paint, be it oil or tempera,“ so erläutert Ann-Sophie Lehmann Van Manders Ansicht, „artists had to grapple with its somewhat paradoxical constitution – the fact that it is one and many at the same time “66 Diese Besonderheit des Haares erfordere eine künstlerischen Nachschöpfung aus dem Geist, bei der nicht jedes einzelne Haar im Abgleich mit dem natürlichen Vorbild generiert werde Eine ähnliche künstlerische Leistung war auch bei der Darstellung der Barttrauben gefragt, wie gerade das Flugblatt von 1542 bezeugt (Abb 1) Die Gattin des Weinbauerns hatte den Trauben „auß fürwitz“ nach ihrer Auffindung etliche Haare ausgerupft, wie es im Begleittext heißt Vogtherr musste seine Einbildungskraft also allein schon deshalb einbringen, um den verbleibenden Stängeln des Teufelzwirns wieder eine bartähnliche Gestalt zu verleihen Er tat dies, indem er die einzelnen ‚Barthaare‘ zusätzlich um Schnörkel verlängerte Mit ihnen ließ Vogtherr die natürliche Erscheinung des Teufelszwirns nun gänzlich hinter sich und schloss an eine von Dürer maßgeblich geprägte Darstellungsform an Die Haarschnörkel wurden in der Rezeption seines Bildes bald getilgt und auch die Abbildungen anderer Barttrauben verzichten mit nur einer Ausnahme auf solche Zierformeln, die letztlich nicht der botanischen, sondern allein der kunsthistorischen ‚Klassifizierung‘ dienlich sind Abbildungsnachweise Abb 1: Zentralbibliothek Zürich, PAS II 12/25, 10 7891/e-manuscripta-92145, public domain Abb 2: Bayerische Staatsbibliothek München, 4 L impr c n mss 11, S 576 Abb 3: The Wellcome Library, London, public domain Abb 4: © Kupferstichkabinett Staatliche Museen zu Berlin (Foto: Dietmar Katz) Abb 5: Zentralbibliothek Zürich, PAS II 25/24, 10 3931/e-rara-55691/, public domain Abb 6: Aus: Meinrad Maria Grewenig (Hg ): Mysterium Wein Die Götter, der Wein und die Kunst, Ausst -Kat Speyer, Historisches Museum der Pfalz Ostfildern-Ruit 1996, S 111 Foto privat Abb 7: Aus: Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hg ): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16 und 17 Jahrhunderts, Bd 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, Teil 1: Ethica, Physica Tübingen 1985, Nr 220, S 453 Foto privat Abb 8: Aus: Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hg ): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16 und 17 Jahrhunderts, Bd 1: Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, Teil 1: Ethica, Physica Tübingen 1985, Nr 220, S 455 Foto privat Abb 9: Staatsbibliothek Bamberg, 22/ 1 A 20, S 348 65 66

Karel van Mander: Het Schilder-Boeck Haarlem 1604, fol 37r–v, 43r Ann-Sophie Lehmann: Hair, in: Anika Reineke u a (Hg ): Textile Terms: A Glossary Emsdetten 2017, S 135–139, hier: 138

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Abb 10: The Wellcome Library, London, public domain Abb 11: Bayerische Staatsbibliothek München, 2 L impr membr 64, fol 16v, urn:nbn:de:bvb:12-bsb00107790–3 Dr Julia Saviello Wiss Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt am Main

Religiöse Kämpfe, Decorum und Politik

In Praise of Bald Men The Cultural Significance of Baldness in the Early Middle Ages Irene van Renswoude Abstract: This chapter explores attitudes to baldness in the early medieval West and takes up the question of whether hair loss was always considered a problem Seeing that hair and hairstyles were important social markers, how did the absence of hair affect one’s social status? The ninth-century poem In Praise of Bald Men (Ecloga de calvis) displays a surprisingly positive attitude towards the bald pate and, whether by ironic inversion or in complete seriousness, highlights the cultural connotations and social significance of hairlessness in early medieval society Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht Einstellungen zur Kahlheit im westeuropäischen Frühmittelalter und widmet sich der Frage, ob Haarausfall stets als Problem angesehen wurde Wie wirkte sich Haarlosigkeit – vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Haare und Frisuren wichtige soziale Merkmale waren – auf den sozialen Status aus? Das Gedicht Lob der Kahlen (Ecloga de calvis) aus dem neunten Jahrhundert offenbart eine überraschend positive Haltung gegenüber der Glatze und zeigt, ob durch ironische Umkehrung oder in vollem Ernst, die kulturellen Konnotationen und die soziale Bedeutung von Haarlosigkeit in der frühmittelalterlichen Gesellschaft auf

‘Why is there stigma around male baldness?’, a recent BBC news report asked The reporter, Alex Therrien, addressed the question of where man’s preoccupation with hair loss stems from ‘Is the pain some men feel about balding new or has it always existed?’, he wondered 1 This chapter takes up this question and explores attitudes to baldness in early medieval society Was hair loss always considered a problem? In the early medieval West, as in most other periods and areas of the world, hair was

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‘Why is there stigma around male baldness?’, Alex Therrien, health reporter, BBC News, 10 May 2018, https://www bbc com/news/health-44052917 (20 10 2020)

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charged with cultural meaning Hair and hairstyles were markers of cultural, ethnic, social, religious, and gender identity A well-known image is that of the long-haired Merovingian kings, whose hair symbolised their military and political strength, or the hirsute female saints, whose body hair formed a liminal barrier between ascetic interior and the outside world 2 The way hair was worn and styled was connected to questions of honour, status, and group affiliation 3 But if hair was a social marker, how was the absence of hair interpreted? What was the social status of people whose hair was partly or completely missing, either from natural causes or by deliberate choice? In this chapter, I will look into early medieval cultural connotations of baldness, with special attention to a late ninth-century poem, In Praise of Bald Men, composed by Hucbald of Saint-Amand (840–930) Hucbald, a poet, hagiographer, and music theorist, did not consider baldness problematic at all On the contrary, to his mind bald men were more skilful than those with a full head of hair In his poem, Hucbald highlighted the benefits of the bald pate and the superior qualities of bald men The poem is a remarkable literary achievement that consists solely of words starting with the letter ‘c’ – a tour de force that Hucbald manages to sustain for 146 hexameter lines The historian Richard Sullivan was of the opinion that ‘it would take a congress of eminent psychiatrists to explain what prompted Hucbald of Saint-Amand to write such a poem ’4 Yet this unusual poem offers insights into the cultural connotations and social significance of hairlessness in the early Middle Ages But before discussing the poem in more detail, we will look into perceptions of baldness in antiquity, and consider general views on voluntary and involuntary hair loss in late antique and early medieval society The most articulate discussion of baldness before the Middle Ages is no doubt Synesius of Cyrene’s eulogy of baldness, written almost five centuries before Hucbald composed his eclogue Synesius (c 370–c 413) was a neo-platonic philosopher, who became bishop of Ptolemais, a city in ancient Cyrenaica (now part of Libya) With his playful Encomium on Baldness, Synesius responded to a speech the sophist-philosopher Dio Chrysostom had written in praise of hair – a work that, according to Synesius, was so brilliant that every bald man must be covered with shame upon reading its arguments We need to take Synesius’ word for it, because Dio’s composition has only been preserved embedded in Synesius’ Encomium In his speech, Dio had claimed that 2

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Maximilian Diesenberger, ‘Hair, Sacrality and Symbolic capital in the Frankish Kingdoms’, in Richard Corradini, id , Helmut Reimitz (eds ), The Construction of Communities in the Early Middle Ages, Leiden, 2003, pp 173–212; Ian Wood, ‘Hair and Beards in the Early Medieval West’, Al-Masaq 30/1 (2018), pp 107–116; Kimberley Knight Roberta Milliken, Ambiguous Locks: An Iconology of Hair in Medieval Art and Literature, Jefferson, NC, 2012 Walter Pohl, ‘Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity’, in id , Helmut Reimitz (eds ), Strategies of Distinction: The Construction of Ethnic Communities, 300–800, Leiden, 1998, pp 17–69 Quoted in Paul Edward Dutton, Charlemagne’s Mustache and Other Cultural Clusters of a Dark Age, New York, 2009, p 39

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men with hair were far more beautiful than bald men Synesius felt he could hardly argue against that, since he had noticed himself that he had become less attractive since he had lost his hair In the opening of his Encomium, Synesius describes the shock he felt when he started to grow bald: I was wounded to the heart when the terrible thing began, and my hair began to fall off When it proceeded further, and one hair went after another – then two at a time, and finally several – and the war became keenly contested, my head being plundered, then indeed I esteemed myself to suffer more harshly than did the Athenians at the hands of Archidamus when their groves at Acharnae were destroyed 5

Synesius’ ironic lament about the loss of his hair is a remarkable testimony We come across medical explanations, jokes, unflattering portraits, and remedies for baldness in this period, but we rarely encounter personal experience of hair loss such as Synesius shared with his audience, however ironic its tone Yet this personal disclosure is but a prelude to building a strong case for the benefits of going bald As Synesius observed, the most intelligent of all people, the philosophers, were all bald: ‘You may look at the pictures in the Museum’, he writes, ‘I mean those of Diogenes and Socrates, and whomsoever you please of those who in their ages were wise, and your survey would be an inspection of bald heads ’6 This mere fact, he argues, offers proof of his thesis that ‘brains are there whenever hair has taken its departure, and hair is there where brains have taken their departure’7 In his opinion, the bald skull was not only a sign of intelligence, it was also stronger and a token of good health 8 The bald head had the most perfect shape that existed on earth: the sphere, and the shimmer of a bald skull was a source of light 9 Synesius says that, even if Dio Chrysostom was right in stating that men with hair were more beautiful, baldness had advantages that men with luscious locks could only dream of Synesius’ eulogy brought a new perspective to an old literary theme Until then, the theme of baldness was mainly addressed in relation to negative social responses One of the earliest stories featuring a bald man, who was mocked for his appearance, can be found in Scripture In the Second Book of Kings, a rowdy group of children followed the prophet Elisha when he left town They taunted him, jeering, ‘Get out of here, baldy’; ‘Get lost baldy’ Elisha took the insult badly: he turned around and cursed the children in the name of God, whereupon two bears came out of the woods and killed

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Synesius of Cyrene, Encomium calvitii 1, ed J -P Migne, Patrologia graeca 66, col 1168, translation Augustine Fitzgerald, The Essays and Hymns of Synesius of Cyrene: Including the Address to the Emperor Arcadius and the Political Speeches, Oxford, 1930, vol 2, p 244 Id , Encomium calvitii 6, 1, ed Migne, PG 66, col 1176, translation Fitzgerald, vol 2, p 246 Id , Encomium calvitii 6, 6, ed Migne, PG 66, col 1177, translation Fitzgerald, vol 2, p 247 Id , Encomium calvitii 12, 13, ed Migne, PG 66, cols 1188–1192 Id , Encomium calvitii 9 and 11, ed Migne, PG 66, cols 1181 and 1185

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the 42 children 10 Another famous person from antiquity who was highly sensitive to jokes about his receding hairline was Julius Caesar According to Suetonius, Julius was annoyed that his balding head was a laughing matter and often the subject of the sneers of critics To hide his bald patches, he ‘used to comb forward his scanty locks from the crown of his head’ 11 Suetonius notes that of all the honours bestowed on Caesar by the senate, there was none which he received more gladly and used more gladly than the privilege of wearing a laurel wreath at all times 12 Balding men who did not own up to the fact that they were losing their hair were a target of taunts Martialis, the Roman poet famous for his witty epigrams, wrote these mocking verses about a man who tried to conceal his baldness with painted hair: You fabricate false hair with ointment, Phoebus, and your dirty bald pate is covered with painted locks No need to call in a barber for your head A sponge can shave you better, Phoebus 13

What was so problematic or shameful about the bald head that men like Caesar and Martial’s acquaintance Phoebus felt the need to resort to comb-overs or even paint to conceal their baldness? For one thing, the bald head was associated with shame and loss of honour 14 Slaves and male prostitutes could be recognised by their shaved heads, while women who transgressed the laws and morals of society were punished by cutting and shaving their hair The shaved head was a marker of a lowly status or liminal position People in mourning also shaved their heads to express their grief Evidently, a shaved head was not the same as natural baldness, yet hair loss that resulted from old age or illness was also associated with shame and humility Old age occasionally proved to be an exception, for the wisdom, experience, and judgment of old men, who had demonstrated their value for society, commanded respect 15 Yet their

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4 Regum (or: Liber Malachim) 2 23–24: ‘ascendit autem inde in Bethel/ cumque ascenderet per viam/ pueri parvi egressi sunt de civitate et/ inludebant ei dicentes/ ascende calve ascende calve/ qui cum se respexisset vidit eos/ et maledixit eis in nomine Domini/ egressique sunt duo ursi de saltu/ et laceraverunt ex eis quadraginta/ duos pueros’ Biblia sacra: iuxta vulgatam versionem (Stuttgart, 1975, 2nd edition), vol 1, pp 504–505 Suetonius, Lives of the Caesars I, 45, translated by J C Rolfe, Loeb Classical Library 31, Cambridge, MA, 1914, p 92: ‘Ideoque et deficientem capillum revocare a vertice adsueverat’ Ibid: ’ex omnibus decretis sibi a senatu populoqe honoribus non aliud aut recepit aut usurpavit libentius quam ius laureae coronae perpetuo gestandae ’ Martial, Epigrams 6, 57, translated by D R Shackleton Bailey, Loeb Classical Library 95, Cambridge, MA, 1993, vol 2, p 42: ‘Mentiris fictos unguento, Phoebe, capillos/ et tegitur pictis sordida calua comis/ tonsorem capiti non est adhibere necesse/ radere te melius spongea, Phoebe, potest ’ Anu Korhonen, ‘Strange Things Out of Hair: Baldness and Masculinity in Early Modern England’, The Sixteenth Century Journal 41/2 (2010), pp 371–391, at p 376 Ovid, Fasti, V 53, translated by J G Frazer, Loeb Classical Library 253, Cambridge, MA, 1996, p 265: ‘The senate-house was then open only to men of mature years, and the very name of senate signifies a ripe old age […] An elder man used to walk between two younger men, at which they did not repine, and if he had only one companion, the elder walked on the inner side Who would dare to talk bawdy in the presence of an old man?’

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wisdom was rarely explicitly linked to their bald(ing) heads 16 Moreover, bald old men were not exempt from derision, since the loss of hair was interpreted as a loss of vigour and masculinity, which was still a cause for mockery Healthy hair was considered a sign of strength and virility That fact in itself almost automatically rendered hair loss as something shameful and unmanly At best, baldness was associated with excessive sexual activity and adultery 17 Suetonius wrote that whenever Caesar returned to Rome after a military campaign, soldiers used to shout: ‘Men of Rome, protect your wives; we are bringing in the bald adulterer’ 18 The joke, however, may have resided in ambiguity, the result of a perceived incongruity between baldness and virility Perceptions of baldness in antiquity appear to be inconsistent Men were not supposed to care too much about their physical appearance,19 yet were ridiculed for any perceived physical flaws, such as baldness, a limp, or a stooped posture, that put their masculinity and authority into doubt Attempts to cover up such flaws only made matters worse Since baldness evoked contradictory responses, the topic could only be approached with irony Anu Korhonen observes, with respect to discussions of baldness in antiquity as well as in the early modern period, that ‘Nobody lamented his baldness or indeed celebrated it, in the genre of personal writing, as far as can be found ’20 Apparently, he concluded, hair loss was not a topic of personal reflections Synesius of Cyrene’s Eulogy of Baldness appears to be the exception to prove this rule, were it not for the fact that it is heavy with irony and does not fit the genre of ‘personal writing’, even though the eulogy has been, and still is, read as autobiographical Female hair loss was rarely a topic of derision in literature, perhaps because it was not supposed to exist As medical theory had it, women did not go bald According to Aristotle, hair loss resulted from a cooling of the head, a process that was accelerated by sexual intercourse, while Galen held that baldness was caused by a dryness of the scalp 21 Since women did not produce semen and were fortunate to possess ‘moist heads’, it was not in their nature to go bald 22 A thinning of a woman’s hair spelled

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With the exception of Synesius, who did link baldness to the wisdom of old men, Synesius of Cyrene, Encomium calvitii 6, 6, ed Migne, PG 66, col 1177 On medical theories on hair loss as a result of too much sex, see below ‘Urbani, servate uxores: moechum calvom adducimus ’ Suetonius, Lives of the Caesars I, 52, transl Rolfe, Loeb Classical Library 31, p 100–101 See Suetonius criticism of, again, Caesar, whom he considered to be ‘over-particular in the care of his person’ Not only was he carefully trimmed and shaved, but it was also rumoured that he had superfluous hair plucked out Suetonius, Lives of the Caesars I, 45, translated by J C Rolfe, Loeb Classical Library 31, Cambridge, MA, 1914, p 92 Korhonen, ‘Strange Things’, p 376 Aristotle, Generation of Animals V, 3 (783b), translated by A L Peck, Loeb Classical Library 366, Cambridge, MA, 1942, p 523 Aristotle also states, in the same chapter, that the front part of the male head goes bald, because the brain is there Galen, Commentary on Hippocrates’ Epidemics, book 6, ed Uwe Vagelpohl, Berlin, 2016, vol 2, p 755 Galen, Commentary on Hippocrates’ Epidemics, book 4, ed Vagelpohl, vol 2, p 717

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diminished sexual attractiveness, but was not explicitly linked to loss of honour, authority, identity, and dignity It was a different matter if a woman had her head shaved in punishment, or if she voluntarily cut her hair short, or lost her hair as a result of an unhealthy and immoral lifestyle In that case, female hair loss was indeed perceived as dishonourable and shameful Seneca complained about the moral depravity of women in his days who were losing their hair because they acted like men: they were drinking too much, stayed up late, were given to vomiting, and had too much sex As a result, Seneca had observed, they suffered from gout and went bald Women who rejected their womanly nature and appropriated the privileges of men, he concluded, were condemned to also suffer the diseases of men 23 1 Bald monks and nuns Christian asceticism and monastic culture brought new interpretations of baldness in the form of monastic tonsure: a voluntary shaving of the head The monastic tonsure was believed to go back to St Peter, whose head was shaved to punish him for spreading the word of Christ Christians saw in Peter’s shaved head a re-enactment of the crown that was put on Christ’s head as an act of humiliation, and decided to wear this mark of shame as a badge of honour 24 From about the fourth or fifth century, ascetics and hermits shaved their heads in imitation of Christ and Peter Monks, however, did not remove all their hair, but only shaved a part of it There were different customs: Irish monks only shaved the front, from ear to ear, and wore their hair long at the back of their heads (sometimes also leaving the front of the brow unshaved); while the Roman custom featured a bald patch on top, surrounded by a ring of hair 25 The shaving of the head, and sometimes the beard as well, became an important aspect in the ceremony surrounding a monk’s entry into the monastic life A male member of the elite who entered the monastic life ungirded his sword-belt, took off his secular clothing, put on the monastic habit, and received tonsure 26 A charter of the monastery of Cluny, dated to 951, records the testimony of an adult convert confirming his entrance into the religious life:

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Seneca, Epistles, vol 3: Epistle 95, translated by R M Gummere, Loeb Classical Library 77, Cambridge, MA, 1925, p 71 Robert Mills, ‘The Signification of the Tonsure’, in P H Cullum, K J Lewis (eds ), Holiness and Masculinity in the Middle Ages, Toronto, 2004, pp 109–126, at p 109 Daniel McCarthy, ‘On the Shape of the Insular Tonsure’, Celtica 24 (2003), pp 140–167, at p 143 Giles Constable, ‘The Ceremonies and Symbolism of Entering the Religious Life and Taking the Monastic Habit from the Fourth to the Twelfth Century’, in Segni e riti nella Chiesa altomedievale occidentale, 2 vols , Spoleto, 1987, vol 2, pp 808–816; Katherine Allen Smith, ‘Ungirded for Battle: Knightly Conversion to Monastic Life and the Making of Weapon-Relics in the Central Middle Ages’, in Radosław Kotecki, Jacek Maciejewski, John S Ott (eds ), Between Sword and Prayer Warfare and Medieval Clergy in Cultural Perspective, Leiden, 2018, pp 182–206

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I, Leotbald, loosening my warrior’s belt and shaving the hair of my head and beard for the love of God, received the habit in the said monastery 27

The ceremony signified a break with one’s family, a renunciation of hereditary rights and ambitions, as well as a commitment to a life of sexual abstinence and self-denial Removing one’s sword, secular clothing, and hair symbolised a voluntary renunciation of the values and prerogatives one had been born into By receiving monastic tonsure, a man lost the identifiable marker that tied him to his family: his hair Length and style of hair were significant identifiers of kinship In the Merovingian period (c 450–751), male members of the ruling family never had their hair cut, while their subjects were not allowed to wear their hair as long as the ruling elite, to mark the distinction The close connection between length of hair and family identity is exemplified in a Frankish law, which forbade cutting children’s hair without the permission of their parents 28 When a man received monastic tonsure, he severed the ties with his family to take on the identity of a new community, whose members could be recognised by the shape of their tonsure While tonsure was in essence a voluntary act, it could also be employed as a political tool, to disqualify rival members of one’s family from ruling Although the shaved head retained its connotation of shame and submission, there was now honour in this act of submission, since it was Christ to whom the monk submitted himself, rather than any conqueror or lord Women religious, however, were not expected to shave their heads upon entering a convent Instead, they had to cover their heads and wear their hair underneath a veil For women, even for women religious submitting themselves to Christ and renouncing sexual desires, a shaved head was still considered shameful and dishonourable When ascetic women in late antiquity started to cut their hair short, this was seen as an act to subvert their gender and claim male prerogatives The fourth-century church father Jerome railed against women who ‘change their garb to male attire, cut their hair short and blush to be seen as they were born-women; they impudently lift up faces that appear those of eunuchs’ 29 In his eyes, this was deceptive, immoral behaviour, even when it was presented as an act of commitment to the ascetic life His contemporary, Archbishop Ambrose, did acknowledge the religious use of female tonsure, but only as an extraordinary ritual of penance, not

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‘Ego denique predictus Leotbaldus cingulum militiae solvens et comam capitis barbamque pro divino amore detundes monasticum […] habitum in predicto monasterio dispone’ Receuil des chartes de l’abbaye de Cluny, ed Auguste Bernard, Alexandre Bruel, 5 vols , Paris, 1876–1903, vol 1, p 756, no 802, as cited in Smith, ‘Ungirded for Battle”, p 188, n 122 Wood, ‘Hair and beards’, p 110, with reference to Pactus Legis Salicae 24, 2, ed Karl A Eckhardt, Monumenta Germaniae Historica, Leges Nationum Germanicarum, 4, Hannover, 1962, pp 80–81 Jerome, Letter 22, To Eustochium, The Letters of Jerome, vol 1, translated by Charles Christopher Mierow, Ancient Christian writers, New York, 1963, p 162, discussed in Jane Tibetts Schulenburg, Forgetful of Their Sex: Female Sanctity and Society, ca 500–1100, Chicago, 1998, p 157

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as a regular feature of religious vocation 30 The Codex Theodosianus, a compilation of the laws of the Roman Empire under the Christian emperors, composed between 429 and 438, stated the rejection of female tonsure in even stronger terms: Women who cut off their hair, contrary to divine and human laws, at the instigation and persuasion of some professed belief, shall be kept away from the doors of the churches Moreover, if a bishop should permit a woman with shorn head to enter a church, even the bishop himself shall be expelled from his position, and kept away, along with such comrades 31

Notwithstanding patristic and imperial prohibitions, we do find stories in early medieval hagiography of religious women cutting their hair or shaving their head to renounce marriage and dedicate themselves to Christ In the seventh-century Life of St. Gertrude of Nivelles, a young girl by the name of Gertrude was tonsured by her mother 32 Gertrude’s mother, Itta, is said to have cut her daughter’s hair to conceal her beauty and save her from violent abductors According to the author of the Life, Itta did not merely give Getrude a drastic haircut, but grabbed a tonsure blade (ferrum tonsoris) and cut her hair ‘in the likeness of a crown’ (instar coronis) The word corona, crown, refers to monastic tonsure according to Roman custom, which was the norm in Gaul at the time Later, Gertrude enters the monastery of Nivelles The author of the Life does not mention whether she retained her monastic tonsure afterwards, or let her hair grow back again, once she was safely inside the precincts of the monastery Debates were had not only about the specific shape of monastic tonsure, or about the question of whether women religious were allowed to have their heads shaved, but also about the spiritual meaning of monastic tonsure The liturgist Amalarius of Metz (c 775–850) offered an explanation as to why the head was shaved in a particular pattern In his view, the head signified the summit of the mind, where there is knowledge of God, while the hair signified mundane thoughts and concerns Therefore, he argued, monks should shave the top of their head, and so, as it were, remove everyday thoughts out of the mind, to be able to contemplate eternal matters Thus, they created an open connection between the mind and God A ring of hair was allowed to stay on the lower part of the head Amalarius explains the significance of this ring (circulus or corona) as follows:

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Ambrose, De lapsu virginis consecratae, ed J -P Migne, Patrologia Latina 16, I, 8, 35, col 377–378 Codex Theodosianus, 16, 2,27: ‘Feminae quae crinem suum contra divinas humanasque leges instinctu persuasae professionis absciderint, ab ecclesiae foribus arceantur Non illis fas sit sacrata adire mysteria neque ullis supplicationibus mereantur veneranda omnibus altaria frequentare; adeo quidem, ut espiscopus, tonso capite feminam si introire permiserit, deiectus loco etiam ipse cum huiusmodi contuberniis arceatur …’, as cited in Wood, ‘Hair and beards’, p 110, with reference to The Theodosian Code and Novels and the Sirmondian Constitutions, ed Clyde Parr, New York, 1952, p 445 Vita sanctae Geretrudis virginis, ed Bruno Krusch, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Merovingicarum 2, Hannover, 1888, pp 453–464 The Life was composed around 670 Susan W Wade, ‘Gertrude’s tonsure: an examination of hair as a symbol of gender, family and authority in the seventh-century Vita of Gertrude of Nivelles’, Journal of Medieval History 39/2 (2013), pp 129–145

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Now the ring of hair signifies the virtue of equality that consents to reason on all sides For temporal matters are governed well if they accord with reason […] we often renew the higher part of our head with a razor when we cut the superfluous and mundane thoughts out of the higher part of the mind with forthright care We carry a crown on the lower part, when we bring those things that, of necessity, we have to govern according to the world into harmonious accord with reason 33

Even though Amalarius held that the ring of hair represented mundane thoughts, he saw no reason to shave it off After all, it was not forbidden for Christians to think about everyday matters Without temporal concerns, he added pragmatically, the present life could not be lived, for a monk could not survive on contemplation alone Amalarius’ allegorical interpretation of monastic tonsure was quite novel For some of his contemporaries, it was in fact too novel In the margins of a ninth-century manuscript (Paris, Bibliothèque nationale de France, Nouv Acq lat 329) a snappy reader wrote, ‘If superfluous hair signifies superfluous thoughts, and it should therefore be cropped or shaved off, you very much needed to shave not only the head of your body but also your mind, where such superfluities come from ’34 2 In praise of bald men In the late ninth century, Hucbald, a monk of Saint-Amand, composed a poem in praise of baldness He dedicated his encomium to Hatto, the bald-headed archbishop of Mainz, in or after 891 Hucbald may, however, initially have composed the poem with the Carolingian ruler Charles the Bald in mind, who became emperor in 875 It seems probable that the emperor’s name, Carolus Calvus, inspired Hucbald to construct his poem solely with words starting with the letter ‘c’ In a book catalogue written shortly before 1112, we find a note saying that Hucbald wrote his encomium for Charles the Bald 35 Seeing that the author of the catalogue, Sigebert of Gembloux, was a regular visitor of the monastery of Saint-Amand and had access to its manuscripts, 33

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Amalar of Metz, On the Liturgy (Amalarius of Metz, Liber officialis), ed Eric Knibbs, Cambridge, MA, 2014, vol 1: Books 1–2, p 392: ‘Circulus vero capillorum virtutem aequalitatis rationi undique consentientem significat Tunc gubernator bene res temporariae, si rationi convenerint […] Superiorem partem capitis rasorio saepe renovamus, cum forti sollicitudine superfluas temporariasque cogitationes de superiore parte animi resecamus In inferior parte coronam portamus, cum ea quae secundum mundum necessario gubernare debemus, concorditer cum ratione aequamus ’ Amalar of Metz, On the Liturgy, ed and trans Knibbs, vol 1, p 527: ‘Si capilli superflui superfluas cogitationes significant, et ideo tonderi aut radi debent, multum tibi necesse erat ut non solum caput corporis sed etiam mentem raderes, unde tanta superflua prodeunt ’ Sigebert of Gembloux, Catalogus illustrium virorum, ed J -P Migne, Patrologia Latina 160, col 571: ‘Hucbaldus, monachus Sancti Amandi […] scripsit etiam ad imperatorem Carolum Calvum librum trecentorum (sic) versuum, in laudem calvorum, cuius omnia verba incipient ab una littera, id est C ’

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he may have obtained information, orally or written, confirming that Hucbald indeed composed his poem for the emperor 36 The first editors of the poem in the fifteenth and sixteenth century seem to have thought so as well, as they gave it the title De laude calvorum ad Carolum Imperatorum: In Praise of Bald Men to Emperor Charles.37 There has been much discussion among historians as to whether Charles the Bald was actually bald Contemporary illustrations in manuscripts depict Charles with a full head of hair, and an equestrian statue, dating to c 870, does not portray him as bald-headed either 38 It has been suggested that the nickname calvus, which can already be found in the so-called Genealogy of Frankish Kings (c 869), was ironic and that Charles was actually extremely hairy 39 Yet it is now commonly accepted that Charles was, indeed, bald The fact that he was portrayed with hair may be taken as an indication that in this period baldness was still perceived as shameful and dishonourable Notwithstanding new, positive, connotations of baldness as a sign of piety and learning, hair loss from natural causes may still have undermined the ruler’s masculinity and authority in the eyes of the public Perhaps a eulogy of baldness, such as Hucbald’s In Praise of Bald Men, was much needed to boost the public image of a bald ruler As could be expected in a poem in praise on baldness written by a monk, Hucbald made much of the honourable baldness of monastic tonsure But he did not stop there: he went to great lengths to point out that the greatest men in history, poets, men of learning, bishops, kings, judges, soldiers, and physicians had been naturally bald The poem is written as a response to an unnamed critic who had written a mock poem to ridicule bald men Hucbald refers to this insult in the opening lines of his eclogue: ‘A madman who attempted to abuse the bald with mockeries, chanted songs’40 One might suspect that no such mock poem ever existed and that Hucbald created a literary fiction to frame his praise of baldness, just as Synesius probably invented a fictional speech of Dio Chrysostomos to situate his eulogy But one of the oldest surviving manuscripts that transmits the poem, Cambridge, University Library, ms Gg V 35, dating to the mid-eleventh century – a manuscript that contains classical, late antique, and medieval poetic texts – actually contains a short mock poem on folio 367 recto (see plate I), which precedes the opening of Hucbald’s eulogy on the same page The poem is headed by a rubric, which reads, ‘Irrisio cuiusdam scolastici contra calvos’; ‘a mockery of

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On Sigebert’s visits to the monastery of Saint-Amand, see Eligius Dekkers, ‘Sigebert of Gembloux en zijn De viris illustribus’, Sacris Erudiri 26 (1983), pp 57–102, at p 64 For an overview of editions of the poem, published between the fifteenth and the nineteenth century, see Yves Chartier, ‘Clavis Operum Hucbaldi Elnonensis: Bibliographie des oeuvres d’Hucbald de Saint-Amand’, The Journal of Medieval Latin 5 (1995), pp 202–224, at pp 207–208 Paul Edward Dutton, Charlemagne’s Mustache and Other Cultural Clusters of a Dark Age, New York, 2009, p 36 Janet L Nelson, Charles the Bald, London, 1992, p 13 Hucbald, De laude calvorum, ed von Winterfeld, p 267: ‘Carmina conviciis cerritus carpere calvos/ Conatus, cecinit ’

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Fig. 1 Cambridge, University Library, ms Gg V 35, s XImed, fol 367r41

a certain scholar against the bald’ The mockery consists of six verses and features a gadfly who pesters a bald traveller – a theme that was probably taken from Aesop’s fable Neumes have been added to the first few lines of the mock poem, which suggests it was intended for oral performance The presence of neumes (inflective marks that indicate notes or rhythm) does not necessarily mean that the poem was meant to be sung; it may also have been prepared for rhythmic reading or chanting Other poet41

The digital facsimile of the manuscript can be consulted here: https://cudl lib cam ac uk/view/ MS-GG-00005-00035/737 The manuscript was copied by perhaps four scribes in the Benedictine Abbey of St Augustine in Canterbury It was copied from an exemplar that was produced on the continent, probably in Germany

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ic compositions in this manuscript, such as the famous Cambridge songs, are also neumed At the top of the page, in the margin above the mock poem, an annotator addressed the anonymous author directly: ‘What are you jabbing at the honour of the bald, you goat-haired ’42 The eleventh-century annotator appears to have been as piqued by the mockery of the (hairy) critic as Hucbald was in the late ninth century Hucbald’s eclogue follows the mock poem directly, and is preceded by a rubric: ‘Incipit responsio hugbaldi de laude calvorum’; ‘Here begins the response of Hugbald in praise of bald men’ In the margin to the right of the poem, rubrics are added that summarise the topic of each section of the poem, such as ‘how the bald are kings, emperors, consuls, legislators and judges’, or ‘how the bald are well-trained dukes and skilled and powerful fighters’ 43 Further to the right, another hand wrote comments to Hucbald’s eclogue Yet since the pages have been trimmed (probably when the manuscript was rebound), these annotations can no longer be read in full The scribe who wrote the main text of the eclogue also added explanations and synonyms in the interlinear space to elucidate the meaning of the poem Apparently Hucbald’s decision to use only words starting with a ‘c’ did not enhance the comprehensibility of his eclogue, not even to medieval readers Hucbald’s eclogue and Synesius’ encomium are the only two philosophical treatments of baldness written before the early modern period 44 It has been suggested that Hucbald took Synesius’ Encomium of Baldness as a model,45 but it is highly improbable that Hucbald had direct knowledge of Synesius’ eulogy The oldest surviving manuscript containing the Greek text of Synesius’ Encomium of Baldness (Paris, Bibliothèque nationale de France, ms Coislin 249) dates to the tenth century Even if earlier versions were around in the ninth century, Hucbald did not read Greek (as far as we know), nor was the monastery in which he was active as a poet, hagiographer, and music theorist, Saint-Amand, a centre of Greek learning But since knowledge does not only travel via texts, Hucbald may have heard of Synesius’ Encomium of Baldness via other routes, and this may have inspired him to compose his own eulogy of baldness Hucbald’s poem shares an admittedly unusual theme with Synesius’ encomium, but the two texts are very different in tone and outlook Whereas Synesius eulogy is highly ironic, Hucbald’s tone is very serious indeed He turns baldness into a proud marker of power, status, and competence, without a hint of irony Not a shred of humour can be detected in the entire poem, except perhaps in the mock poem that precedes it, if indeed Hucbald wrote that mockery himself 42 43 44 45

Cambridge, University Library, ms Gg V 35, f 367r : ‘Quid tu setose calvoru(m) pungis honore(m)’ Cambridge, University Library, ms Gg V 35, f 367v: ‘Q(uo)d calvi reges sint (et) imp(er)atores c(on)sules q(uo)q(ue) legislatores et iudices’; ‘carm(en)que calvi sint duces exercitus (et) bellatores docti ac robusti’ Frederic Raby, A History of Secular Latin Poetry, Oxford, 1957, 2nd edition, vol 1, p 249 Yves Chartier, ‘Clavis Operum Hucbaldi Elnonensis’, p 208

In Praise of Bald Men

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Even though the content of the poem is far from ironic, Hucbald chose a playful form for his eulogy As mentioned earlier, every word of its 146 verses starts with a ‘c’ (pronounced as ‘k’); a literary device known as paramoion (or paramoeon) or tautogram The refrain that returns every ten words is ‘carmina, clarisonae, calvis cantate Camenae’ (‘clear-sounding Muses, sing the praise of the bald with songs’) Frederic Raby, in his handbook of secular medieval poetry, described the poem as a ‘dizzy maze of alliterations’ 46 It is indeed hard to read the poem aloud without tripping over one’s tongue For modern translators, it has proven quite a challenge to retain the alliterating force of the poem, while remaining close to its content Thomas Klein produced a translation that consists of alternating b-lines and c-lines (pronouns, articles, and prepositions excepted) 47 I will render the first lines of the poem in Klein’s translation, alongside the Latin text: Carmina convitii cerritus, carpere calvos Conatus, cecinit: celebrentur carmine calvi Conspicuo clari; carmen cognoscite cuncti Carmina, clarisonae, calvis cantate, Camenae Comedere condigno conabor carmine calvos, Contra cirrosi crines confundere colli. Cantica concelebrent callentes clara Camenae; Collaudent calvos, concludant crimine cluras Carpere conantes calvos crispante cachinno.48

A brainless bloke has badly abused the bald, Composing crude carols: so commend in chorus The blameless bald, and below the ballad besides. Bless now the bald with bright ballads, O Bards. I will begin to braid the bald with bright ballads, Conversely, to confuse the critic’s kinky curls. Let all brave Bards with ballads brightly bless the bald And cast their kudos far; but confine for their crimes Those brash baboons that bray abuse about the bald.

The rhythm of the translation remains close to that of the Latin original, but as far as content is concerned, it is a rather free rendition In his encomium, Hucbald does not make a distinction between voluntary and involuntary baldness The baldness he praises is a congenital baldness, reflecting inborn talents and abilities Even monastic tonsure is presented as a natural phenomenon When a crown arises (crescit) around a bald top, says Hucbald, this is a sign that this person is destined to become a bishop or a monk He argues from the (poetic) assumption that the form and shape of baldness signify one’s talents and stations in life He observes that bald physicians are remarkably competent, that bald kings and emperors are exceptionally powerful, and that bald judges are extraordinarily just and wise To his mind, this cannot be a coincidence; their baldness must be an outward sign of inner qualities Hucbald adds another, quite unusual type of expert to his list of bald professionals: the bald censor (censor calvus or calvaster censor), who dispenses just censure The bald cen-

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Frederic Raby, A History of Secular Latin Poetry, Oxford, 1957, 2nd edition, vol 1, p 249 Thomas Klein, ‘In Praise of Bald Men: A translation of Hucbald’s Ecloga de calvis’, Comitatus: A Journal of Medieval and Renaissance Studies 26 (1995), pp 1–9 Paul von Winterfeld (ed ), Poetae Latini aevi Carolini, Berlin, 1899, pp 267–271 Translation: Klein, ‘In Praise of Bald Men’, p 2

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sor is juxtaposed with the curly critic who wrote the mock poem and insulted the bald: the latter flippant and slanderous, the first serious and unbending The combination of the tropes of baldness and censure is not entirely novel, but is usually employed in a self-mocking way 49 According to Hucbald, two biblical figures in particular exemplify the type of the bald censor: the prophet Elisha and the apostle Paul Elisha, the Old Testament prophet mentioned earlier, who cursed a group of boys who made fun of his bald head, is called ‘a keen critic and a bright-eyed bald’ 50 Hucbald seems to consider the sudden emergence of two bears that ripped the boys apart a just punishment for mocking a bald prophet In Hucbald’s presentation of the event, the bear symbolises the sharp censure of the bald censor The apostle Paul, Hucbald’s second biblical example, did not suffer hair loss according to the canonical books of the Bible – or at least it is not mentioned in the Acts of the Apostles or in any of the letters of Paul In medieval art and manuscript illumination, however, Paul is traditionally depicted with a bald head Hucbald ends his poem with a call to his readers to follow the example of the bald censors, Paul and Elisha, and curb, blind, and tie up the curly critic who dared to make fun of bald men: ‘Compress that cruel cad, captured for the crime of carping/ at all the bald in bootless brute behaviour/ Close up this convict who concocted this corrupt/ abuse, bind him in black and burdensome bondage ’51 3 Epilogue There are no indications of a contemporary positive (or negative) reception of Hucbald’s eclogue We do not even know whether it ever came to the attention of Charles the Bald, if Hucbald indeed initially composed it in his honour When Charles died in 877, Hucbald may have felt induced to dedicate his poem to another bald patron: Archbishop Hatto of Mainz (891–913), in the hope of finding some recognition and recompense for his literary achievement In the dedicatory verses he composed for Hatto, Hucbald is quite frank about his expectations: he hopes to receive a reward for the trouble of composing these verses in praise of baldness 52

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Irene van Renswoude, The Rhetoric of Free Speech in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Cambridge, 2019, p 151 See also (although the link here is old age, not baldness as such), Ovid, Fasti, V 53, translated by J G Frazer, Loeb Classical Library 253, Cambridge, MA, 1996, p 265: ‘censuram longa senecta dabat’; ‘Old age conferred a right of censorship’ Klein, ‘In Praise of Bald Men’, p 6 and 7: ‘censorem cautum’ and ‘clarividum calvum’ ‘Crudelem calvos casso cocamine cunctos/ carpere conantem compescite crimine captum/ Convitii commentantem commenta caduca/ concito convictum caecis concludite claustris’, trans Klein, ‘In Praise of Bald Men’, p 8–9 Hucbald, ‘Versus Hucbaldi calvorum laude canendi’, Poetae Latini aevi Carolini, ed Paul von Winterfeld, 6 vols , vol 4,1, Berlin, 1899, pp 265–267

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The oldest manuscripts to transmit Hucbald’s poem date to the tenth and eleventh centuries 53 Apart from the scribes who added interpolations and annotations to the poem when they copied and edited the text, no medieval poet or author referred to Hucbald’s eclogue, or used it as a model Hucbald’s work fared better in the Renaissance and early modern period, when acrostics, tautograms, alliterations, and other forms of wordplay came back into vogue The poem was first published by Peter Friedberg at Mainz in 1496, and five further editions followed in the sixteenth century The subtitle that one of the sixteenth-century editors gave to his edition demonstrates the main attraction the text held at the time: ‘mirabile opus centum triginta trium versuum, in quo omnia verba a litera C incipiunt’; ‘an admirable work of hundred and thirty-three (sic) versus, in which all words start with the letter C’ 54 Erasmus was familiar with Hucbald’s poem, and referred to it in his dialogue on the correct pronunciation of Latin and Greek He even recommended reading the eclogue aloud as a cure for stammering 55 According to Erasmus, reciting the poem was a perfect remedy for speech impediments, especially for those who had trouble with the ‘k’ sound But besides expressing appreciation for Hucbald’s display of technical virtuosity, no one seems to have engaged with the content of the eclogue: the beneficial benefits of baldness Yet the poem may offer solace to bald men, who, according to BBC reporter Alex Therrien, still suffer from a social stigma surrounding male pattern baldness, affecting their confidence and career 56 Bald men may take comfort in the fact that baldness was once considered the hallmark of a successful professional List of Figures Fig 1: Cambridge, University Library, ms Gg V 35, f 367r Reproduced by kind permission of the Syndics of Cambridge University Library Dr Irene van Renswoude Professor for Medieval Manuscripts and Cultural History at the University of Amsterdam

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See the list of the manuscripts in Chartier, ‘Clavis Operum Hucbaldi Elnonensis’, p 207 But as Chartier himself indicates, the list is not exhaustive [Hugbald,] De laude calvorum ad Carolum Calvum Imperatorem, mirabile opus centum triginta trium versuum, in quo omnia verba a litera C incipient Auctore Hugbaldo monacho Elnonensis coenobii ordinis S Benedicti Claruit anno 880, Louvain, 1562 (Hieronymus Wellaeus) See also other subtitles in Chartier, ‘Clavis Operum Hucbaldi Elnonensis’, p 208, that emphasise the form rather than the content of the poem Daniel J Sheerin, ‘A Carolingian cure rediscovered: Erasmus’ citation of Hucbald of St Amand’s Ecloga de Calvis’, Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 42/1 (1980), pp 167–171 See note 1

Early Modern Philologies of Hair* Hadrianus Junius’ Commentary on Hair (1556) and Boxhorn’s Little Mirrors (1644) Dirk van Miert

Abstract: This article shows that the Commentary about hair (1556) by the Dutch humanist Hadrianus Junius was a source of inspiration for the two ‘Little Mirrors’ on long and short hair (1644) produced by the Leiden professor Marcus Zuerius Boxhorn Junius focused on Greek and Roman antiquity, whereas Boxhorn was prompted by the ‘Hairy War’, a heated public debate in Holland in the the 1640s about the question whether long hair on men was in conflict with 1 Cor 11:14 Unlike his contemporaries, Boxhorn ignored the biblical discussion and adopted, just like Junius did, a philogical and antiquarian approach, but one focused on near-contemporary and regional customs Both men imply that hair fashion is historically situated and should hence not be policed Zusammenfassung: Der Beitrag stellt den Kommentar De coma (1556) des niederländischen Humanisten Hadrianus Junius als Inspiration für die beiden Spiegeltjen über langes und kurzes Haar (1644) des Leidener Professors Marcus Zuerius Boxhorn dar Während Junius sich der griechischen und römischen Antike gewidmet hatte, wurde Boxhorn durch die niederländische ‚Haarkrieg‘-Debatte der 1640er Jahre angeregt, die um die Frage kreiste, ob langes Haar bei Männern im Widerspruch zu 1 Kor 11,14 stehe Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, die biblisch argumentierten, verfolgte Boxhorn, genau wie Junius, einen philologischen und antiquarischen Ansatz, der sich jedoch auf zeitgenössische und regionale Bräuche konzentriert Bei beiden Autoren wird deutlich, dass die Haarmode historisch bedingt ist und keiner Reglementierung bedarf

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I am indebted to Jonathan Grayson for his very helpful editorial work on this chapter

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Dirk van Miert

In 1556, the Dutch scholar and physician Hadrianus Junius (1511–1575) complained of the narrow mindedness of his countrymen: For when a couple of years ago I returned from Italy (where I went to cultivate my mind) to my homeland with a shaved head, in the custom of the Italian people to which (as befits “a much-traveled” man) I had culturally conformed myself, several sulky and stubborn people, who had never traveled beyond the borders of their homeland (just like the Arcadian Aglaus never left his tiny stretch of land) started to groan against me and scoff at me that I was dishonouring the gravity that became a physician 1

Junius complains of the tyranny of customs that denounce all that is new: ‘Thus these men will rather clutch to the rule of an old habit than to adopt new ones, even if they are preferable ’2 The story about Junius’ cold reception in his homeland (usually taken to be Hoorn, his place of birth, but he does not specify this) is commonplace in the overviews of Junius’ life And who would want to throw doubt on the veracity of this delightful anecdote? Why scrutinise the few sentences from the dedicatory letter of Junius’ De coma commentarium on which it is based, let alone write about the actual treatise? It might reasonably be doubted that anyone in the modern period ever read it entirely in the first place 3 Early modern scholars might not have cut deeply into the text either, but some at least used the book 90 years later in the so-called ‘Hairy War’, a polemic in the Dutch Republic about the question of whether the apostle Paul did or did not permit men to wear long hair During this polemic in the 1640s, hair was analysed from a variety of perspectives Some commentators discussed the physiological aspects: Was hair part of the living body or was it excrement? Did it consist of horn, like nails, or was it some kind of sticky emulsion of fat?4 Other interlocutors grappled with hair in legal ways Most of them, 1

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4

Hadrianus Junius, Animadversorum libri sex, omnigenae lectionis thesaurus, in quibus infiniti pene autorum loci corriguntur et declarantur, nunc primum et nati et in lucem aediti Ejusdem de coma commentarium, Basel, 1556, pp 294–295: ‘Nam quum paucos ante annos ex Italia (quo ad capiendum animi cultum fueram profectus) in patriam redissem attonso vertice, ex more Italae gentis, cui me (sicuti πολύτροπον virum decet) in cultu non infeliciter attemperaram, plerique difficiles homines et refractarii, qui cum Aglao Arcade nunquam patriae, ut ille agelli sui, fines excesserant, coeperunt obgrunnire, factumque gravi viro, qualem deceret esse medicum, indignum suggillare ’ Ibid : ‘Sic isti pristinae consuetudinis legem tenere mordicus malunt, quam ad nova, licet potiora, transire ’ The sole article devoted specifically to Junius’ Commentary, as well as providing a Dutch translation of the full third chapter, appeared in the magazine of the Hoorn historical association, authored by my former school teacher of Latin: Ben Leek, ‘Hadrianus Junius draagt geen lang haar meer’, Oud Hoorn 32 (2010), pp 168–173 The question was also posed in academic disputations in the 1650s and 1660s; see Dirk van Miert, Humanism in an Age of Science The Amsterdam Athenaeum in the Golden Age, 1632–1704, Leiden, 2009, pp 316–317

Early Modern Philologies of Hair

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however, approached the issue from a biblical standpoint: What exactly did Paul mean when he wrote in his first letter to the Corinthians (11:14–15) ‘Doth not even nature itself teach you, that, if a man have long hair, it is a shame unto him? But if a woman have long hair, it is a glory to her: for her hair is given her for a covering ’?5 Quite a few of the hairy warriors of the 1640s referred to Junius’ work, which apparently acted as a historiographical anchor for Dutch humanists One of them was the Leiden professor of politics, Marcus Zuerius Boxhorn (1612–1653) In this chapter I will first introduce Junius’ Commentary and then look at two treatises about hair by Boxhorn Junius and Boxhorn share an approach to hair which sets them apart from others: both apply philological and antiquarian methods while largely ignoring the biblical component that took centre stage during the Hairy War, in particular the letter to the Corinthians Yet, whereas Junius frames his hefty project as a paradoxical encomium drawing on the vast literature of Greek and Latin antiquity, Boxhorn presents two slender exercises in domestic antiquarian anthropology Even if Junius and Boxhorn are closer to one another than to other combatants in the Hairy War, their widely diverging methods show the myriad of approaches available to the subject of hair, even to early modern scholars Still, their philological and antiquarian approach falls within the tradition of humanism, and it is precisely in the development of ‘antiquarianism’ that we recognise the stem from which much later in history developed such disciplines as anthropology and art history 6 1 Junius’ Commentary: A failed paradoxical encomium The fact that scholars, now and then, defend hair as a serious subject, worthy of scholarly scrutiny, signifies that the initial readers’ response is one of amusement: hair appears at first sight to be trivial yet delightful ‘Hair-splitting’ is an ingenious pastime, but no serious business Even if we can argue that hair offers numerous avenues to access early modern culture, or any culture, the subject is liable to parody The double character of hair as both light and grave, playful as well as serious, was not lost on erudite men in Western Europe Well-known texts include the Praise of Hair, by the Greek sophist Dio Chrysostom (ca 40–115), and the belated response by the Greek bishop Synesius of Cyrene (ca 373 – ca 414): The Praise of Baldness The Eclogue about bald men by the Frankish monk and musical scholar Hucbald of Saint-Amand (ca 850 – ca 930) counts 146 hexameters, and every word of it starts 5 6

Dirk van Miert, The Emancipation of Biblical Philology in the Dutch Republic, 1590–1670, Oxford, 2018, pp 170–171 For the idea that the modern humanities all root in early modern philology, see James Turner, The Forgotten Origin of the Humanities, Princeton et al , 2014

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Dirk van Miert

with a ‘c’ He wrote it in praise of his patron, Charles the Bold, and it is hence a true encomium, although the subject appeared light enough for Hucbald to allow himself the freedom to show off a trivial linguistic virtuosity Such a work offered a challenge to the philologically minded Latin poets of the early modern period, steeped as they were in the classical tradition Thus, the Leiden poet and noble administrator Janus Dousa (1545–1604) penned down a Praise of Sacred Baldness (1576), with reference to Hucbald: every word of the 51 elegiac distichs of this tautogram starts likewise with a ‘c’ In reverse of Hucbald, Dousa presents a mocking satire against a Franciscan friar in Bruges who ardently campaigned against Protestants 7 Dousa wrote that he drew inspiration from Hucbald, but he was no doubt also familiar with the Commentary on Hair by his older friend and mentor Junius In his last chapter, on baldness, Junius cites the first two verses of Hucbald’s Praise,8 alongside numerous other passages in Greek and Roman literature in which the subject of bald men is addressed or in which bald men are at least mentioned Junius’ commentary had been published in 1556, 20 years earlier than Dousa’s tautogram It was printed alongside a larger work with philological observations, the Animadversa The Commentarium has its own title page and dedicatory letter, but the page numbering is continuous with the preceding Animadversa The Animadversa is a serious piece of scholarship, although also a somewhat rebarbative one, with kaleidoscopic juxtapositions of all sorts of philological observations on antiquity 9 The commentary on hair may have acted as a light counterpart In his dedicatory letter (addressed to his friend Martinus ‘Aedituus’ Coster [ca 1520–1592], dated 8 April 1556, in Haarlem), Junius places his work in the literary tradition of the paradoxical encomium: (pseudo-)Vergil’s Culex for example (an epyllion about a mosquito), or indeed Synesius’ praise of baldness, are mentioned as examples Of course, the most important model for any post-Erasmian humanist would have been the Praise of Folly; and Erasmus himself had mentioned Synesius as his source of inspiration 10 In short, Junius prepares the reader for a paradoxical encomium: That literary genre in which all rhetorical resources are marshalled to utterly and eternally prove the dignity, importance, and usefulness of a seemingly irrelevant subject The delight of this genre rests precisely on the playful character of shooting sparrows with a cannon Yet, in practice many a paradoxical encomium was not born out of a sheer 7

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Chris Heesakkers, ‘“Krassende klanken kastijden kleri-kale kruinen”: editie en vertaling met inleiding en annotatie van Janus Dousa’s Sacri calvitii encomium’, in Zweder von Martels, Piet Steenbakkers, Arjo Vanderjagt (eds ), Limae labor et mora Opstellen voor Fokke Akkerman ter gelegenheid van zijn zeventigste verjaardag, Leende, 2000, pp 95–108, at 95 Junius, Commentarium de coma, p 430 Dirk van Miert, ‘Hadrianus Junius’ Animadversa and his Methods of Scholarship’, in id (ed ), The Kaleidoscopic Scholarship of Hadrianus Junius (1511–1575) Northern Humanism at the Dawn of the Dutch Renaissance, Leiden et al , 2011, pp 96–136 Heesakkers, ‘Krassende klanken’, p 95; Junius, Commentarium de coma, p 296

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urge to display virtuosity or please: Hucbald’s was a serious praise of his king, Erasmus’ Praise of Folly was an unmistakable attack on the clergy, and Dousa’s a biting indictment of a monk Successful works in the genre are more than exercises in epideictic (or demonstrative) rhetoric: they are critical responses to actual people and actual objections Junius’ self-proclaimed reasons appear trivial, and set the stage for a light-hearted treatment of the subject Yet, Junius utterly failed in introducing any light touch at all: he merely threads strings and strings of citations together, and thus fills his 124 pages of the octavo edition (170 in the 1708 octavo edition) with all sorts of quotations about cutting, colouring, shaving, and styling hair, and about turning grey and bald After an introductory chapter that defines long hair, there follow chapters on cutting or shaving hair, on nourishing long hair, on the need to cut, on the act of shaving one’s hair as a sign of grief, on the tonsure, on the condemnation of combing and perfuming hair and adorning it with ribbons, on curling and on colouring hair, on having grey hair, and finally, as said, on baldness Junius’ method is straightforward: his book reads as a catalogue of quotations of authorities, listing and sometimes quoting passages in ancient literature about hair To give an example: in chapter 2, Junius treats God’s habit of punishment through shaving, drawing on Isaiah (7:20 and 15:2), Jeremiah (48:37), back to Isaiah again (3:24), Ezekiel (27:31 and 7:18), Micah (1:16), and back to Amos (8:10) 11 Junius jumps back and forth through the prophets, giving the impression of a non-systematic reading But there is some structure, for he continues: I think that I have marshalled quite enough examples from sacred literature, to the point almost of getting sick of it They very clearly show us that ‘shaving’ was an ominous word Now it is time to bring forth unambiguous evidence to the same effect from pagan authors We read that Priamus, in that horde of calamities and disasters, shaved his head to the very skin Hence we can read in the Suda the verb to have been Priamized as a saying for ‘to be thoroughly razored’ 12

That Junius relies on the Byzantine Suda (tenth century) is characteristic of his encyclopedic interest: he worked on an edition of this encyclopedic lexicon for years – it was the largest editorial project he undertook, although he never finished it 13

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Junius, Commentarium de coma, pp 323–324, Ibid , p 324: ‘Puto exemplorum satis e literis sacris a nobis adductum esse pene ad fastidium usque quibus clarissime ominosum rasurae nomen esse docetur Nunc e profanis scriptoribus haud ambigua eiusdem significationis proferenda documenta Priamus in illa calamitatum et malorum Iliade faciem cute tenus erasam habuisse legitur, unde πριαμωθῆναι specie proverbiali, pro obradi penitus apud Suidam legitur ’ For the place in the Suda, see Ada Adler (ed ), Suidae lexicon, 4 vols , Leipzig 1928–1938, vol 4, repr Stuttgart, 1971, π2273 Van Miert, ‘Hadrianus Junius’ Animadversa’, p 128, also 105–106, 122

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Chapter 3, likewise, consists of quotations strung together, but this time Junius sums up passages that value long hair: The opposite task examines and deals with the study of letting down and nourishing hair [coma] (which Tacitus and Suetonius also call “breeding head hair [crines]” and Plinius “letting grow hair [capillus]”) This also includes the praise of hair, which the very eloquent Dio of Prusa is known to have written about His eloquence gave him his nickname of “golden mouth” [Chrysostom] and his reputation allowed him to join Trajan in a triumph in the golden chariot But could anything more grand, more eloquent be said about an orator, than what Ambrosius in book 6 of his Hexameron briefly proclaims in the following words: “Hair should be venerated in old men, revered in priests, feared in warriors, elegant on young people, arranged on women, and delightful on children 14

Ambrosius in the second book of his Hexameron indeed wrote that ‘long hair on old people should be associated with respect, on priests with reverence, on soldiers with fear, on young people with beauty, on women with good care, and on children with sweetness’ As Junius concludes: hair is related to age, sex, and position This is evidenced in practice by the Lycians After all, as Junius cites,15 Aristotle relates in the second book of his Oikonomia that, Noticing that the Lycians were fond of wearing their hair long, Condalus [lieutenant-governor under Mausolus, king of Caria, 4th c BC] proclaimed that a dispatch had arrived from the King ordering him to send hair to make forelocks for his horses; and that Mausolus had therefore instructed him to shave their heads However, if they would pay him a fixed sum per head, he would send to Greece for hair They were glad to comply with his demand, and a large sum was collected, the number of those taxed being great 16

And so Junius keeps on citing With the Getes, the people they called Longhaired were praised in official poetry, witness a remark by Jornandes “Thus a Greek epigram refers to the Huns as the apeirokómas, i e the un-cut” Catullus calls the Celtiberians long-hairy Caesar in his Commentaries mentions

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Junius, Commentarium de coma, p 234: ‘nunc repugnantem huic provinciam (ne quid indictum, quod huc pertineat, omittatur) attingere tempoestivum videtur: ea vero pro mittendi alendique capillitii (quod et summittere crinem Tacitus, Suetonius et submittere capillum Plinius dixerunt) studium tuetur et tractat: qua in parte includitur etiam comae encomium quod eloquentissimus Dion Prusiaeus, cui ab aureo ore cognomen dedit facundia, et in aureo curru triumphare cum Traiano dedit existimatio, scripsisse commemoratur, quanquam quid amplius, quid ne dissertius dici potuit a rhetore quam quod D Ambrosius succincte in haec verba extulit: comam esse reverendam in senibus, venerandam in sacerdotibus, terribilem in bellatoribus, decoram in adolescentibus, comptam in mulieribus, dulcem in pueris ’ Ibid Aristotle, ‘Economics, 2 2 (1348a)’, in Aristotle in 23 Volumes, vol 18, Cambridge (MA) et al , 1935, p 2138

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that the Brits let their long hair untied Solinus writes that the Indians, too, let their hair loose Oppian in his Cynegetica calls the Parthians people with deep-dropping hair because of their loose hairs Ammianus Marcellinus tells in book 23 of his History that the Persians look rough with their long hairs Homer calls the whole army of the Greeks longhaired With the Egyptians …17

After finishing his catalogue of foreign people, Junius then turns to individuals: Gods, mythological people, priests, kings, warriors There is no real end to this inventory either: No conclusion, no final remarks It abruptly ends after the umptieth quotation about baldness, before moving on to chapter 4 about useless maintenance of hair and on why it is best to shave a large bunch of hair (p 350) In the end, Junius’ commentary is more of a commonplace book than of a paradoxical encomium It is also not much of an argument: his position is largely that you should not pay too much attention to idle hairdressing and should cut your hair every now and then, but he never specifies any lengths for men or women The result is an unplayful inventory, intimidating in its learning but boring in its thrust Yet the work had an afterlife: Junius’ treatise was cited occasionally by the combatants who fought in the Hairy War 2 The afterlife of Junius’ De coma A material link between Junius’ book and controversy over the passage in the first letter to the Corinthians is Junius’ own copy of his work, now in Leiden (shelfmark 765 F 21) This copy was once in the possession of Johannes van Beverwijck (1594–1647) from Dordrecht, who like Junius had been a physician and a scholar (and whose sister Dorothea married a grandson of Junius) 18 Beverwijck had a flourishing career when the Hairy War broke out, and he addressed the issue of men wearing long hair in 1646, referring to his fellow citizen, ‘the honourable and highly learned Jacob Borstius, in his soul-moving admonition’ This refers to the preacher Jacob Borst(ius) (1612–1680)

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18

Junius, Commentarium de coma, p 346: ‘Apud Getas capillati dicti publicis etiam carminibus celebrabantur, Iornande teste Capillatos Celtiberos nominant Catullus Caesar in Commentariis Britannos capillo prolixo fuisse est autor Solinus Indis quoque promissam caesariem tribuit Parthos βαθυπλοκάμους ob prolixos crines appellat Oppianus in Cynegeticis Persas longis capillis hirsutos tradit Marcellinus [Lib 23] Apud Homerum exercitus Graecorum universus καρηκομόωντες, id est, comati audiunt Apud Aegyptios …’ See the appendix ‘The fate of Junius’ copy of the Animadversa’, in Van Miert (ed ), The Kaleidoscopic Scholarship, pp 131–135, at p 131

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who in 1643 railed from the pulpit in Dordrecht against men with long hair and women with tarted up hair 19 Borstius himself also mentioned Junius: Hadrianus Junius, doctor in medicine, says in his book about Hair, printed in 1556, chapter 4, that he cannot see the usefulness of long hair, unless one wants to feed a bunch of nits and lice and sees profit in it For these multi-legged animals, after all, long hair offers a spacious place to live in Thus speaks and writes a man who was experienced in the art of medicine, and knew well what served nature and health 20

Borstius’ quotation shows how Junius’ De coma could be used as a set of loci: chapter 4 deals with the need to cut hair, but the previous chapter praises and cites positive accounts of long hair In the audience of Borstius was also Andreas Colvius (1594–1671), a well-connected scholar, who never published anything but who knew everything that was going on in the Dutch provinces of the Republic of Letters Having long hair himself, Colvius was stirred by Borstius’ sermon and one evening, he spoke about the issue with his friend, the Leiden professor Claudius Salmasius (who two years later supplied the Latin subscription in verse to the engraving of Colvius’ portrait in 1646: see illustration 1) As was his style, Salmasius did not stop speaking about the subject, and Colvius encouraged him to write up a diatribe about hair Under Salmasius’ hands, this text grew from a letter to a fat book and was eventually printed as an Epistle to Colvius about 1 Cor. 14 21 Colvius was also cunning enough to get hold of an interesting book formerly in the possession of his fellow citizen Beverwijck: Junius’ author’s copy of De coma (perhaps through a detour to Bois-le-Duc) For in 1668, the French scholarly intellectual informant Paul Colomiès (1638–1692) remembered that he had seen the copy in the library of Colvius 22 As someone interested in Junius and hair, this author’s copy was a fine collector’s item for Colvius 19 20

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Dirk van Miert, ‘The “Hairy War” (1640–50) – Historicizing the Bible in the Dutch Republic on the Eve of Spinoza’, Sixteenth Century Journal 49/2 (2018), pp 419–439, at 421–425 Jacob Borstius, De predicatie van ’t Lang-Hair Over 1 Corinth 11 14 Of en leert u oock de nature selve niet, dat zoo een man langh hair draeght, het hem een oneere is? [Dordrecht], s n , 1645, p 42 (Amsterdam University Library, shelf mark OTM: OK 93–77; the sermon was printed two years after it was delivered) Borstius paraphrases Junius, De coma, 1556, p 321: ‘Nam quorsum aut ad quem tandem usum superflua capillitii seges alenda sit, quid praestantis emolumenti adferat, non video, nisi fortassis lendium atque animalculorum (quibus a pedum multitudine nomen est proventum beneficii loco ponere velimus ’ Claudius Salmasius, Epistola ad Andream Colvium: super Cap XI primae ad Corinth epist de caesarie virorum et mulierum coma, Leiden: ex officina Elzeviriorum, 1644 This treatise was appended to Junius’ Animadversa (Basle, 1556) See Paul Colomiès, Opuscula, Paris, 1668, pp 110–111: ‘Estant allé voir à Dordrecht M Colvius, Theologien fort savant, il me fit monter dans sa Bibliothèque, qui est assez belle; où il me montra quantité de Lettres Manuscrites du Pere Paul, du Pere Fulgence, de Scaliger [presumably Joseph Justus], Casaubon, Marnix, Junius [presumably Hadrianus], & autres J’y vis aussi Hadriani Iunii Animadversa, avec des Additions de sa propre main ’ See van Miert, ‘Hadrianus Junius’ Animadversa’, p 133

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Fig. 1 Engraved portrait of Andreas Colvius, printed by Salomon Savery after Aelbert Cuyp, Rijksmuseum Amsterdam

Apart from Salmasius, another scholar from Leiden also interfered in the Hairy War This was Jacobus Revius, and he, too, referred to Junius’ De coma. Revius was as orthodox a reformed minister and professor as they come, but in this case, he argued with the defenders of the freedom of a man’s right to choose, against the likes of such prominent Utrecht theologians as Gisbert Voetius According to Revius, the visible distinction between man and woman, instituted by God, had to be maintained, but there were enough symbols to do so, even if these symbols were subject to historical and geographical change A comparison with current practices in France and citations from authoritative theologians shored up these arguments, as well as references to Hadri-

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anus Junius and Erasmus Revius wanted to prove that short or long hair is indecorous only if one is the sole exception amongst, respectively, long and short haired men 23 I think this statement is absolutely true And I approve of it not only because of the example of those very people to whom the unusual haircut of Hadrianus Junius (…) was a disgrace, because you will say that these men were uneducated and unaware of public honour – but I will not touch on the importance of this now 24

Overall, Revius stressed the contingency of the historical situation in which Paul’s prescription in the first letter to the Corinthians applied Junius is thus used as an authority by both parties A figure in the Hairy War whom I mentioned only in passing in my previous work about this polemic was the Leiden professor of history Marcus Zuerius Boxhorn (1612– 1653) Boxhorn was primarily involved in political-historical work, but he dropped that for a moment to produce, in Dutch, a Little Mirror, showing the Long Hair and Tresses, worn of old by the people of Holland and Zeeland, followed by a Little Mirror, showing the Short Hair, worn recently by the people of Holland and Zeeland, and taken over from abroad in an attempt to quench the fire 25 Drawing partly on Junius’ De coma, Boxhorn 23 24

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Revius, Libertas Christiana circa usum capillitii defensa; qua sex eiusdem disputationes De coma ab exceptionibus viri cuiusdam docti vindicantur, Leiden: ex officina Adriani Wyngaerden, 1647 Ibid , p 197: ‘Puto ergo dictum illud verissimum esse Idque probo non tantum exemplo eorum quibus inusitata ipsis tonsura displicuit in Hadriano Iunio (nosti quid de eo publicaverit clariss[imus] affinis tuus) forte enim eos fuisse dices homines indoctos et communis honestatis imperitos, quod quanti sit nunc non tango ’ I have not looked into the identity of this ‘affinis’: Revius’ book was dedicated to Salomon van Schoonhoven (1617–1653), lord-lieutenant of Putten, and primarily known as the sitter of a portrait by the painter Jacob Willemsz Delff (II), in the Rijksmuseum in Amsterdam (inventory no SK-A-843) The portrait was made in 1643, on the eve of the Hairy War, and the sitter has hair down to his shoulders URL: https://www rijksmuseum nl/en/collection/ SK-A-843 (18 02 2021) Boxhorn, Spiegeltjen, vertoonende ’t lanck hayr ende hayrlocken, by de oude Hollanders ende Zeelanders gedragen, Middelburg: Jaques Fierens,1644; Spiegeltjen vertoonende ’t cort hayr, by de Hollanders ende Zeelanders joncst ghedragen, ende van vreemde ontleent, Middelburg: Jaques Fierens, 1644 (Leiden University Library, shelfmark 1157 G 30) The two mirrors have separate paginations They were reprinted in the same year by the same printer, with the original paginations kept intact in the margins (the one about short hair is found on pp 33–60) The booklets were reprinted again in 1742 by the Leiden printer Philippus Bonk, with a different page numbering: Spiegeltjen, vertoonende ’t Lanck ende Cort Hayr, by de Hollanders ende Zeelanders ghedragen, Leyden: Philippus Bonk, 1742 (Leiden University Library, shelfmark 688 H 9) This edition, confusingly, contains additional separate title pages for the Mirror showing the Long Hair and Tresses and the Mirror showing the Short Hair that replicate the ones by Jaques Fierens of 1644 and carry the year 1644 It also reproduces the pagination of the first edition in the margin This second edition was reissued in 1745 by another printer from Leiden, Pieter de Does, with a new general title page, but again with the replicated separate title pages of 1644 for two Mirrors, but evidently this ‘third edition’ is taken from the same print run as the 1742 edition and merely repackaged as ‘den derden Druck van veel fauten verbetert’ For example, the ‘e’ on the bottom line of p 50 is in both the second and the ‘third’ edition damaged in exactly the same way, which shows that the text was not reset; numerous such similarities can be found Spiegeltjen vertoonende ’t Lanck ende Cort Hayr,

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discusses sixteenth-century Dutch customs of hairdressing in historical, art-historical, and linguistic perspectives 3 Boxhorn’s Mirrors Boxhorn in his Little Mirrors (indeed pocket-sized booklets) deplored that razor and comb had been brought to the pulpit, with claims that long hair was against God’s law and Dutch tradition 26 One has to search carefully for the truth, and Boxhorn, in doing so, leaves the question of God’s truth to the theologians Instead, he focusses on the custom of wearing long hair in the Low Countries, for it has been claimed that the forefathers would mistake the citizens of today for monsters 27 To be sure, much has changed for the worse in the history of Dutch morals This is clear from the clothing: new generations would be embarrassed to be seen in the clothes of their parents Whether this is good or bad, is not for Boxhorn to say Long hair, in any case, is nothing new 28 In these northern lands, long hair has always been a natural protection against cold Demands for short coups boil down to binding nature’s benevolence Tacitus already described the climate of Batavia as inimical 29 English, Scots, Irish, Swedes, Danes, Poles, German, and Dutch people have always worn long hair as an extra cover Tacitus and Sidonius Apollinaris testify to the long hair of the Dutch forefathers, the Batavians Boxhorn quotes at length from Salmasius’s De coma, where Salmasius relates that the Nijmegen antiquarian Johannes Smetius (1590–1651) showed him sculpted figures in ancient spoons and knives with pictures of Batavians with long hair, bound in a knot on the top of their heads, whence it ran down again, and carrying extensive beards 30 Apart from such antiquarian evidence, Boxhorn also uses linguistic arguments, such as historical semantics ‘Locks’ is a good old Dutch word, meaning a tress of long hair, hanging from the side of the head and around To substantiate this, Boxhorn refers to ‘an old Dutch Nomenclator or Record of several words used in our language, written in manuscript over four or five hundred years ago, on parchment, which I have in my possession and which, God willing, I shall publish in due course, to enrich our language’ 31

26 27 28 29 30 31

by de Hollanders ende Zeelanders ghedragen, Leyden: Pieter de Does, 1745 (Leiden, University Library, shelfmark 193 E 8) On Boxhorn’s political work, see Jaap Nieuwstraten, Historical and Political Thought in the Seventeenth-Century Dutch Republic The Case of Marcus Zuerius Boxhorn (1612–1653) [= Diss Erasmus University Rotterdam], 2012 Boxhorn, Spiegeltjen vertoonende ’t lanck hayr, 1644, p 5 Ibid , pp 7–9 Ibid , pp 13–14 Ibid , p 17 Ibid , pp 24–25 Ibid , pp 26–27

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In this nomenclator, the word locken is translated as ‘manes of men, women, youngsters’ Locks, that is, are not the prerequisite of women and adolescents, but were also worn by aged men These locks were also plaited and worn over the ears The linguistic arguments are also obvious from the idiom of the Dutch language That this was an honourable dressing code is clear from the language, in which the expression ‘to shave someone’ still means to humiliate a person 32 Likewise, to ‘tell someone the hair off his head’, means to abuse people The Dutch ancestors, clearly, thought it honest and civilised to nourish long hair ‘If our ancestors today in the churches, where their bodies are still at rest, would be able to hear the serious condemnation pronounced over long hair, verily it would make their hair stand on end’33 Ancient speech again points out that also during the Christian era, the ancestors had long hair: expressions such as ‘tearing someone by his hair’, ‘sitting in someone’s hair’, and ‘hairplucking’ only make sense if people had locks or long hair Take the old statute of William II, count of Holland There it is forbidden to ‘grab people by their hair’ Another statute, of 1217 AD, reiterated in 1223, forbids the ‘de-hairing and punching of people with clubs and fists’ More examples, Boxhorn claims, are to be found in his future and past editions of such statutes in his historical works on Holland and Zeeland Boxhorn then turns to visual evidence In more recent times, long hair was still the norm, as is clear from the frescos from 1446 in the Hall of David of Burgundy, bishop of Utrecht 34 The Amsterdam magistrate had shown Boxhorn a manuscript, the Chronicle of Aegidius Roya, with pictures of long-haired men Paintings of 100 years earlier also show the custom of covering the ears with cloth, sheltering them from the cold and the wind Boxhorn provides an image of such a picture, ‘as it is found with the most honourable, dignified and learned men of those ages’35 Gravestones of the same period show the same fashion 36

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Ibid , p 32 Ibid , pp 34–35 This presumably refers to the Castle Duurstede, still used in 1640 It became dilapidated only in the second half of the seventeenth century ‘Ik telle t’hans iet meer als dertigh jaeren van mijn leven; echter nochtans hadde ick van daeghe het gheluck van mijne ooghen te laten vinden in het hof ende de zaelen van David van Burgundien, Bischop van Utrecht, die aldaer de staff, onder den welcken de Hollanders ende Zeelanders in het gheestelijcke stonden, in den jaere 1546 vercregen heeft Daer vertoonden sich verscheyden mannen, draghende op haeren cop lange hoeden, als de hedendaegsche suykerbrooden, cort van rand, de ooren dicht overdect en den hals wel gevolt en omhangen met hayr, rechte afdruckselen van de drachten van die tijden ’ (Ibid , pp 40–42) Ibid , p 46 Ibid , p 48

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Fig. 2a & b Boxhorn, Spiegeltjen vertoonende ’t lanck hayr, ed 1644, p 46 (left, Free University Library, Amsterdam, shelf mark 1157 G 30) and 1742, p 26 (right, Leiden University Library, shelf mark 396 G 5)

Boxhorn ends the first Little mirror with an oblique reference to the context of his work: if long hair is forbidden by God, then the breach of the rule is an old one 37 If the sin is mediocre, it should not be decried for a new sin Boxhorn did not aim to defend those who abuse long hair and did not seek to exempt the men who wish to make their appearance similar to that of women Boxhorn was never pleased with effeminate men arranging their hair for hours while watching themselves in the mirror, he assures his readers Here, Boxhorn rounds off, ‘unwilling to curtail others or budge by a hair’s breadth ’ There are numerous pamphlets on much more important political issues (Boxhorn gives a string of examples) But then, this booklet concerns a subject which was treated ‘from the pulpit, where one usually only discusses grave matters’ The implication is clear: effeminate men are a disgrace, but otherwise the discussion is a waste of time The second part of Little mirror treated short hair instead of long hair 38 Boxhorn opens by telling his readers that the first mirror was insufficient to silence those who persisted to regard long locks as foreign These adversaries relied on the group portraits ‘covering the walls of the Doelen everywhere in Holland and Zeeland’, which showed people with exemplary short haircuts 39 Others asked Boxhorn to say some37 38 39

Ibid , p 15 See above, note 25 Boxhorn, Spiegeltjen vertoonende ’t cort hayr, pp 5–6

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thing about the custom of keeping short hair Boxhorn claims that the fashion of short hair was introduced by people from Spain and Italy or by Dutch people having visited those countries At first, this new custom met with resistance in Holland This is proven by a Latin letter of 1556 from Hadrianus Junius to Martinus ‘Aedituus’ Coster, which Boxhorn cites at length 40 This is the dedicatory letter which preceded Junius’ De coma commentarius, mentioned above In this letter Junius deplores the narrow-minded attitude of those fellow countrymen who have never travelled abroad and who were like the people in Plato’s cave, who chose to stick to their ancient custom 41 The Dutchmen responded rudely to Junius, because short hair was regarded as a folly, a meaning which Boxhorn traces back to literary expressions 42 Junius’s letter shows, moreover, that customs are hard to change Dutchmen had learnt from the German ancestors to appreciate long hair: cutting one’s hair was regular punishment This, again, is clear from Dutch idiom, Boxhorn goes on 43 On the other hand, the Westfrisians used to swear oaths by holding their hair (Boxhorn quotes the Frisian oath) Hence another Dutch proverb: ‘Do not trust anyone, but if he is hairyhanded’ 44 Other expressions also refer to the venerated standard of long hair: ‘to shorten someone’ means to harm someone From Junius’s letter, however, it can be deduced that short hair rapidly grew popular, for he speaks of ‘the tradition, received in previous years, of cherishing long hair, was broken off ’ 45 The reason can be easily conjectured: Holland became part of the Habsburg empire, and therefore noblemen adopted the customs of wearing short hair, in order to maintain influence at the royal court The common people followed suit 46 It is therefore, according to Boxhorn, that we see all the ‘Italian’ or ‘Spanish’ shaven heads on these relatively young paintings Junius, finally, did not regard it a

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Ibid , pp 15–21 Ibid , pp 19–20 For the passage in the letter relating to Plato’s cave, see Junius, Commentarium de coma, p 295: ‘Antipodes ex altissima Platonici specus caligine eruti, gratissimam hanc rerum faciem almamque lucem aversantur, longeque praeoptant ad consuetas redire tenebras ’ Boxhorn mentions the Dutch idiom ‘den gek scheren’ (to shave a lunatic, an expression which lives on in modern Dutch ‘gekscherend’ (playing the fool)) and a character ‘Tilibus’, presumably the Tielebuys from a satirical play called Cluyt van Tielebuys, die wederom herdragen wilde sijn, performed in 1541 in the city of Diest by the Haarlem Chamber of rhetoric ‘Tielebus’ or ‘Tierebus’ came to mean crazy or foolish in Dutch See Woordenboek der Nederlandse Taal, s v ‘Tielibuis’ and ‘Tierebus’ Boxhorn, Spiegeltjen cort hayr, p 35: ‘Hy is daar heels huyts, ende heels hayrs afghekomen’ (He escaped with skin and hair intact; still used in modern Dutch: ‘heelhuids ontsnappen’, ‘to escape with skin intact’) Ibid , p 39: ‘Dat men niemandt betrouwen moet, of hy is ruych in de handt ’ Ibid , p 42: ‘Junius secht wel duydelijck receptum superioribus annis alendae comae morem, esse abruptum’ See Junius, Commentarium de coma, p 294: ‘solum de recepto superioribus annis alendae comae more, nunc desito et abrupto ac propterea magnam apud populareis meos invidiam sustinente verba facturus ’ Ibid , pp 43–47

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matter of grave concern; he argued for short hair, but one was free to follow one’s own inclination ‘Oh, I wish such liberal men would be found amongst us today!’47 Junius noticed the futility of the subject; as much as 90 years later Claudius Salmasius would make fun of the issue in a utopian satire But whereas Salmasius turned the disputation of hair into satire, Junius used it primarily as philological and antiquarian research, in the tradition of encyclopedism and the collection of commonplaces For Junius, the subject offered an excuse to demonstrate his vast knowledge of history and literature Salmasius himself in many ways wrote a sequel to Junius’ work, because apart from his brief satire (unusually short for Salmasius’s habit) he published a 700page Epistola ad Andream Colvium de coma, which dealt extensively with sources neglected by Junius, primarily the Bible 48 Boxhorn used hair also as history, but turned it into near-contemporary history: The history of sixteenth-century Dutch custom Unlike Junius, he relied on the vernacular traditions: Proverbs, idiom, and legal documents Also unlike Junius, he relied on visual evidence: portraits, images of clothes In many ways he ‘updated’ Junius, not by re-working the antiquarian study of hair in ancient literature, but by modernising it In doing so, he shared one more peculiar aspect with Junius: he ignored the Bible For Junius, this made sense: the preceding Animadversa moved clearly within the paradigm of ancient literature and circumvented biblical and patristic literature Junius did refer to positive and negative evaluations of hair and beards in the Bible, as we saw above, but he steered clear of Paul’s first letter to the Corinthians That Boxhorn ignored the Bible is more surprising, given the biblical context of the Hairy War that occasioned the two Little Mirrors That context also forced Boxhorn to take a stand: he obviously defended the right of men to wear their hair long, whereas Junius had largely favoured short hair, or at least defended his own right to do so But like Junius, Boxhorn was primarily a historian And perhaps Boxhorn also followed in his footsteps because he loathed theological and biblical polemics After all, his exclamation that he wished ‘such liberal men [as Junius] would be found amongst us today!’ (above, footnote 47) says a great deal about his sympathy for humanist liberalism based on classical philology and antiquarianism For this ‘liberalism’, in the sense of a libertas philosophandi, is predicated on an encyclopedic overview of history that tells the compilator that the symbolic power of hair is strong, but also relative Throughout time and throughout space, hair has been subject to changing human behaviour Since different cultures in the past dealt with hair in widely different ways and since even within the same cultures, long hair on men was assessed in varying ways, hair became a rewarding topic for the rhetorically trained humanists in the West, 47 48

Ibid p 55–57, at 57 Dirk van Miert, ‘The “Hairy War” (1640–1650): Historicizing the Bible in the Dutch Republic on the Eve of Spinoza’, Sixteenth Century Journal 49/2 (2018), pp 428–432

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as an exercise in arguing in utramque partem History taught the humanists to take a relativising stand on hair, and to regard hair as fundamentally situated Yet, hair is universal and it takes effort to make it invisible Every individual or culture is therefore forced to explicitly address the question of what to do with hair The combination of a natural and therefore universal bodily phenomenon on the one hand and the wide variety of positions towards hair caused the antiquarian, as a material and philologically informed historian, to take a relativist position Such a relativisation was part of a secularising movement that came into its own in the eighteenth century The rise of philology and, in its train, of antiquarianism, contributed no less to it than the rise of the natural sciences In many ways, antiquarian approaches in a humanist fashion even foreshadowed a knowledge-producing field that would much later be called ‘anthropology’ 49 The question of hair still invites multidisciplinary approaches today across the natural, social, and human sciences, including art history and history of religion, and is particularly open to a gender approach List of Figures Fig 1: Rijksmuseum Amsterdam, object number RP-P-1898-A-20715, http://hdl handle net/10934/ RM0001 COLLECT 170829, public domain Fig 2a: Leiden University Library, shelf mark 1157 G 30 Fig 2b: Leiden University Library, shelf mark 396 G 5 Dr Dirk van Miert Associate Professor of Early Modern Cultural History at Utrecht University and director of the Huygens Institute for the History of the Netherlands

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According to Arnaldo Momigliano (1908–1987), antiquarianism lost its familiar face but split off into modern disciplines such as sociology, anthropology, archaeology, history of religion and of art See Peter N Miller (ed ), Momigliano and Antiquarianism Foundations of the Modern Cultural Sciences, Toronto, 2014

‚Roundheads‘, ‚Soundheads‘ und „Hair in Characters“ Zum Diskurs der Kurzhaarigkeit im englischen Bürgerkrieg Kai Merten Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die Kultur des Haares in der Frühen Neuzeit anhand der politisch-religiösen Debatten während der Englischen Revolution der 1640er Jahre Während die parlamentarische Partei von den Royalisten als kurzgeschorene ‚Rundköpfe‘ bezeichnet wurde, wurden die Königstreuen von den Gegnern als ‚Langköpfe‘ verspottet Die beachtliche Menge der Texte zu Haaren und deren politisch-religiösen Implikationen in dieser Zeit kann am besten als Diskurs im Sinne eines normierenden und Macht verteilenden Argumentationszusammenhangs bezeichnet werden, wie exemplarisch an zwei Texten deutlich wird: Das pro-parlamentarische Pamphlet Twenty Lookes … (1642/43) muss den diskursiv mächtigen Begriff des ‚roundhead‘ erst einmal mühsam durch seine Geschichte verfolgen und dabei inversiv auch dem Gegner zuschreiben, bevor es ihn positiv aufladen und aktiv aneignen kann Die Royalisten dagegen, hier vertreten durch ein Gedicht John Clevelands von 1649, schreiben zusammen mit dem unnatürlich ‚Geschorenen‘ schlicht das Diskursive an sich dem Gegner zu und inszenieren sich selbst als undogmatisch, natürlich und frei – allerdings nur im Freiraum des satirischen Spiels Abstract: The article examines the culture of hair in the early modern period through the political and religious debates during the English Revolution of the 1640s While the parliamentary party was described by the royalists as close-cropped ‘roundheads’, the royalists were ridiculed by the Parliamentarians as ‘longheads’ or ‘shagheads’ The large number of texts in this period dealing with hair and its political-religious implications can best be described as a discourse in the sense of a normative and power-distributing argumentative context This is clear from the two texts analyzed in more depth: the anonymous, pro-parliamentary pamphlet Twenty Lookes … (1642/43) first has to laboriously trace the discursively powerful term ‘roundhead’ through its history and inversively attribute it to the opponent before it can charge it positively and actively re-appropriate it for the Parliamentarians themselves The royalists on the other hand, represented here by a poem by John Cleveland from 1649, together with the quality of the unnaturally ‘shorn’, simply attribute the discursive in itself to the opponent and stage themselves as undogmatic, natural and free – only, however, in the free space of satirical play

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Kai Merten

Sie tragen die Köpfe geschoren egal Ganz radikal, ganz rattenkahl (Heinrich Heine, „Die Wanderratten“, Nachgelesene Gedichte 1845–1856)

Die Royalisten im englischen Bürgerkrieg (1642–1651)1 hätten ihre Freude gehabt an Heines politischer Denunzierung von Kurzhaarigkeit, die dieser um die Mitte des 19 Jahrhunderts vornahm und laut Peter Sloterdijk auf die frühen Kommunistenbünde münzte 2 Besonders gefallen hätte ihnen sicher das Wortspiel mit „radikal“ und „rattenkahl“, macht es den kurzhaarigen Gegner doch zum Tier – eine beliebte Strategie politischer Denunzierung Auch heute noch haben wir negative Assoziationen mit Kurzhaarigen bzw Glatzenträgern und deren politischer Ausrichtung Es gibt also eine Geschichte politischer Kurzhaarigkeit der anderen, die wohl mit dem englischen Bürgerkrieg, um den es in diesem Beitrag gehen soll, begann, und über die (radi)kahlen Kommunisten des 19 Jahrhunderts bis zu den heutigen Skinheads und Neonazis reicht Dabei zeigt allerdings gerade das Studium des englischen Bürgerkriegs, dass ‚politische‘ Haarschur differenziert gesehen werden muss, handelt es sich doch um ein Diskurs- und Wissens- (und damit Zuschreibungs-) genauso sehr wie um ein Körperphänomen Der politische Frisurenkampf im England des 17 Jahrhunderts nahm nach Quellenlage am Vorabend des Bürgerkriegs seinen Ausgang, genauer gesagt in zwei Ereignissen im Jahre 1641 In diesem Krieg gerieten bekanntlich zwei Mächte der (ungeschriebenen) englischen Verfassung, nämlich König und Parlament, militärisch aneinander, was ab 1651 in die berühmt gewordene Militärdiktatur Oliver Cromwells mündete, auf die aber 1660 eine Rückkehr zur Monarchie folgte Diesem Konflikt gingen neben vielem anderen einige Zusammenstöße im Londoner Stadtteil Westminster zwischen Londoner (Klein-)Bürgern und Handwerkern einerseits und Höflingen und anderen Royalisten im Dezember 1641 voraus 3 Die Royalisten brüllten ‚roundheads‘, die Londoner konterten mit ‚cavaliers‘, nicht zuletzt, da letztere oftmals auf Pferden saßen Den Begriff ‚roundhead‘ benutzte fast zur selben Zeit auch Königin Henrietta Maria im Prozess der Parlamentarier gegen den königstreuen Adeligen Earl of Strafford, indem sie den Chefankläger John Pym despektierlich als „round-headed man“ bezeichnete 4

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Der sog ‚englische Bürgerkrieg‘ umfasste in vielerlei Hinsicht auch Schottland und Wales (sowie Irland); der Begriff (bzw der eher links-liberale Begriff „englische Revolution“) ist aber in der angloamerikanischen Forschung so etabliert Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit: Politisch-Psychologischer Versuch Frankfurt/M 2012, S 188 Tamsyn Williams: ‚Magnetic Figures‘: Polemical Prints of the English Revolution, in: Lucy Gent, Nigel Llewellyn (Hg ): Renaissance Bodies: The Human Figure in English Culture c 1540–1660 London 1990, S 86–110, hier: 88 f , vgl Brian Manning: The English People and the English Revolution 1640–1649 London 1976, S 94 David J Appleby: Roundheads, in: Francis J Bremer, Tom Welster (Hg ): Puritans and Puritanism in Europe Santa Barbara 2006, S 525 Eine andere Version bietet Manning: The English Peop-

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Die Adeligen und Königstreuen konnten die durch kurze Haare sichtbar gewordene Kopfform ihrer Gegner deswegen herablassend kommentieren, da zur selben Zeit in Großbritannien, aber auch vielen anderen Ländern Europas unter den Herrschenden die Langhaarigkeit in Mode war, welche entweder durch Perücken (engl ‚periwigs‘) oder durch besondere Naturhaarschnitte, etwa die beim Manne galant zu einer Seite fallende „lovelock“,5 zum Ausdruck gebracht wurde Diese Langhaarmode war schon seit Beginn des 17 Jahrhunderts vielen (bürgerlichen) englischen Autoren, etwa Thomas Dekker, ein Dorn im Auge 6 In der politischen Auseinandersetzung der 1640er Jahre spielten diese Texte aber keine Rolle; vielmehr machte der Gegenbegriff des kurzhaarigen ‚roundhead‘ rasante Karriere, und wurde, ausgehend von den mündlichen Beleidigungen durch Royalisten, bald zu einer in unzähligen Texten verfochtenen Kampfbezeichnung zur (Stereo-)Typisierung der Parlamentarier Was also die ‚Kapillarisierung‘ des politischen Diskurses angeht, gebührt den Royalisten das Urheberrecht, denn die parlamentarischen Gegner konterten nicht, oder zumindest nicht sofort, mit einem ebenfalls haarigen Gegenbegriff (sondern wie beschrieben mit ‚cavaliers‘) Obwohl der Ausgangspunkt dieser Kapillarisierung in der eminent interessanten Sphäre performativ-lebensweltlicher kultureller und politischer Prozesse wie Straßenkämpfe und Gerichtsverhandlungen liegt, möchte ich den ‚Rundkopf ‘ (und dessen weniger erfolgreiche Gegenbegriffe wie ‚long head‘ oder ‚shag head‘ – mehr dazu weiter unten) in diesem Beitrag dennoch nicht als ein frühneuzeitliches Körperphänomen behandeln, sondern vielmehr als ein Wissens- bzw Diskurselement Zum einen waren, wie die Forschung zu betonen nicht müde wird, viele Parlamentarier, darunter gerade die berühmtesten wie etwa Oliver Cromwell oder John Milton, persönlich gar nicht kurzhaarig 7 Zum anderen wurde der Begriff ‚roundhead‘ innerhalb der mich interessierenden textuellen Debatte gar nicht trennnscharf verwendet Vielmehr wurde er gerade in den faszinierendsten dieser Texte von den Parlamentariern abgelehnt und auch auf die Royalisten und deren kulturelle und religiöse Umgebung angewandt So behauptet etwa ein Flugblatt von 1642, die wahren ‚roundheads‘ seien tonsierte katholische Mönche – eine Anspielung auf den Charles I und seinen Anhängern nachgesagten (Krypto-)Katholizismus 8 Ein andere Flugschrift denunziert die Royalisten

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le, S 93, derzufolge die Königin einen puritanischen Demonstrationsführer von ihrem Fenster in White Hall aus gesehen und bewundernd als „handsome young round-head“ bezeichnet habe Victoria Sharrow: Enyclopedia of Hair: A Cultural History Westport 2006, S 399 Vgl John Twyning: London Dispossessed: Literature and Social Space in the Early Modern City Basingstoke 1998, S 115–123 Williams: ‚Magnetic Figures‘, S 93; Appleby: Roundheads; und zu Milton Will Fisher: Materializing Gender in Early Modern English Literature and Culture Cambridge 2006, S 149 Paul Denzer: Ideologische und literarische Strategie: Die politische Flugblattlyrik der englischen Bürgerkriegszeit 1639–1661 Tübingen 1991, S 192 f , Anm 4

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als syphilitische „Roundheads“ unter ihren Perücken 9 Schließlich ist das ebenso der Fall in dem von mir weiter unten ausführlich diskutierten Twenty Lookes Over all the Round-Heads that ever lived in the world (1642/43) 10 ‚Roundheadedness‘ ist in den 1640er Jahren in England demnach keine Haar- und Körperbeschreibung, sondern vielmehr eine aggressive politische Zuschreibung und Stigmatisierung Die beiden von mir in diesem Beitrag eingehend behandelten Texte, neben dem erwähnten Twenty Lookes ein satirisches Gedicht von John Cleveland, das 1649 erstmals veröffentlicht wurde, rahmen die englische politische Haardebatte in gewisser Weise chronologisch Der erste Text arbeitet intensiv mit dem neuen Begriff des ‚roundhead‘, versucht aber bereits, ihn von der eigenen Identität weg- bzw für diese umzuschreiben Er argumentiert augenfällig aus der Defensive gegen eine aktuelle, akute diskursive Zuschreibung Der spätere von mir behandelten Text steht auf der anderen Seite des Bürgerkriegs: Cleveland war ein bekannter Royalist In seiner Satire wird aber deutlich, dass eine einfache Denunzierung des Gegners als Rundkopf zu diesem Zeitpunkt nicht mehr effektiv ist, da der König seit 1646 im Gefängnis war und die ‚Kurzhaarigen‘ schlicht herrschten. Wohl ist kurzes Haar als (politische) Chiffre und Denunzierung durchaus noch vorhanden, Cleveland versucht aber, das Künstliche und Diskursive insgesamt auf den Gegner zu projizieren und dadurch für die eigene Position Natürlichkeit zu beanspruchen Letztlich trachtet Cleveland danach, die kapillare Deutungshoheit, die den Royalisten als Diskursivitätsbegründer11 des politischen Haares in den frühen 1640er Jahren zugekommen war, auch in (für Royalisten) schweren Zeiten aufrechtzuerhalten und sogar noch fundamentaler zu gestalten Diskursmacht und politische Macht sind im englischen Bürgerkrieg und seinen umfangreichen „media conflicts“ aber, wie wir sehen werden, nicht einfach so gleichzusetzen 12 Haartrachten und ihre Diskurse im englischen Bürgerkrieg sind in den letzten Jahren durchaus in den Fokus literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung gerückt,13 bisweilen auch im Zusammenhang mit Körper- bzw Geschlechtergeschichte 9 10

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Jerome de Groot: Royalist Identities Basingstoke 2004, S 105 Anon : Twenty Lookes Over all the Round-Heads that ever lived in the world O O [London] Laut Druck von 1643; in der Datenbank Early English Books Online findet sich aber in der Ausgabe der Thomason Collection (British Library) neben dieser Jahreszahl der zeitgenössische handschriftliche Vermerk „1642“ So der Begriff von Michel Foucault: Schriften zur Literatur Frankfurt am Main 1988, S 24, für die Urheber von Sprachregeln in Diskursen, etwa Freud und Marx – zugegeben Gründerväter weiterreichender Äußerungszusammenhänge als im vorliegenden Beitrag untersucht Zur Anwendung des aus den sog Media and Conflict Studies stammenden Begriffs ‚Medienkonflikt‘ auf das englische 17 Jahrhundert vgl Kai Merten: Media History in 17th- and 20th-Century Visual Poetry in English: Two Case Studies, in: Guido Isekenmeier, Ronja Roxane Bodola (Hg ): Literary Visualities: Visual Descriptions, Readerly Visualisations, Textual Visibilities Berlin [u a ] 2017, S 203–220, sowie Kai Merten, Claus-Michael Ort (Hg ): Konfessionspolitik und Medien: Konflikte, Konkurrenzen, Theorien Berlin [u a ] 2021 Etwa Williams: ‚Magnetic Figures‘; de Groot: Royalist Identities, S 90–116, Twyning: London Dispossessed, S 115–123

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der Frühen Neuzeit14 oder der Forschung zum Werk John Miltons 15 Allerdings beschränken sich diese Darstellungen lediglich auf Überblicke über die Haardebatten und -stereotypisierungen der 1640er Jahre und gehen nicht näher auf einzelne Texte in diesen Diskursen ein Mein Beitrag möchte die Argumentationen und Strategien von zwei Schlüsseltexten wenigstens im Ansatz würdigen, schlicht auch, um im Fall von Twenty Lookes die Fehlzuschreibung an die royalistische Position durch de Groot (es handelt sich eindeutig um einen parlamentarischen Text) zu korrigieren Für die Prägung von Haarwissen ist daneben auch die Textgattung entscheidend, was noch nicht berücksichtigt wurde 16 Im vorliegenden Fall vergleiche ich eine (parlamentarische) Flugschrift in Listenform mit einem (royalistischen) satirischen Gedicht in heroic couplets Beide Genres sind, wie sich zeigen wird, für die jeweilige Position recht typisch und nutzen die Gattungskonventionen auch zur Stärkung der eigenen Position innerhalb bzw zu einer Positionierung außerhalb des Diskurses Dabei haben beide Texte eine ebenfalls noch nicht genügend gewürdigte diskurs- und wissensanalytische Dimension,17 die in diesem Beitrag auch zur Sprache kommen soll Die beiden bekanntesten und daher umfangreicher behandelten englischen Texte des 17 Jahrhunderts zu kulturellen und religiösen Fragen des Haares sind William Prynnes The Unlovelinesse of Lovelockes von 1628 und Thomas Halls The Loathsomnesse of Long Haire (1653) 18 Durch ihre (wunderbar alliterativen) Titel geben sich beide Texte als Kurzhaarverfechter zu erkennen und lassen sich damit ins Umfeld der parlamentarisch-reformatorischen Position einordnen Allerdings sind die beiden Traktate sowohl aufgrund ihres Umfangs als auch ihrer Erscheinungdaten der hier rekonstruierten politischen Haardebatte in den 1640er Jahren nicht unmittelbar zuzuordnen Sie begründen eher in umfänglichen theologischen Argumentationen beispielsweise, warum Gott langes Haar verhasst ist, ohne kurze Haare unmittelbar weltanschaulich-politisch zu valorisieren, wie das die kürzeren, ‚wendigeren‘ Texte tun, die nach Aufkommen des Begriffs ‚roundhead‘ kursieren Letztere Texte gehören auch insofern

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Fisher: Materializing Gender, S 129–158; Edith Snook: Women, Beauty and Power in Early Modern England: A Feminist Literary History Basingstoke 2011; S 113–179) Stephen B Dobranski: Clustering and Curling Locks: The Matter of Hair in Paradise Lost, in: PMLA 125/2 (2010), S 337–353, 512; Fisher: Materializing Gender, S 147–158 Zur Rolle von literarischen Gattungen in den Diskursen des englischen Bürgerkriegs, aber nicht speziell zum Haar-Wissen: Nigel Smith: Literature and Revolution in England, 1640–1660 New Haven 1994 Zu den bildlichen (nicht textuellen) Körper-Darstellungen und deren Medialität in diesen Diskursen Williams: ‚Magnetic Figures‘ Die Forschung zu Clevelands „Hue and Cry“ ist umfangreicher als die zu Twenty Lookes, da der Autor auch eine (überschaubare) literaturwissenschaftliche Beschäftigung erzeugt hat, etwa Lee A Jacobus: John Cleveland Boston 1975 Die komplexe Diskursanalyse dieses Gedichts ist bislang jedoch nur in Ansätzen untersucht Vgl etwa Kevin Killeen: Biblical Scholarship, Science and Politics in Early Modern England: Thomas Browne and the Thorny Place of Knowledge Farnham 2009, S 210–216; Fisher: Materializing Gender, S 134–136 und Snook: Women, Beauty and Power, S 121–124

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in ein anderes kommunikatives Umfeld, als zwischen 1641 und 1643 die Textzensur in England kriegsbedingt zusammengebrochen war,19 was zu einer berühmt gewordenen interimistischen ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘ avant la lèttre geführt hat, die auch noch für Clevelands 1649 veröffentlichtes Gedicht Gültigkeit hat Die hier behandelten Texte unterscheiden sich von den bekannteren Großtraktaten Prynnes und Halls nicht zuletzt darin, dass in ihnen Religion und Politik unmittelbarer zusammenkommen – je nach (nachgesagter) Frisur unterstützt man im Verfassungsstreit König oder Parlament Nicht umsonst konnte eine aus der behaglichen restaurativen Rückschau von 1683 verfasste Flugschrift den englischen Bürgerkrieg insgesamt als ‚Haar-Krieg‘ ironisieren, den ein Friseur, „had he kept an even hand on both parties and steered them both to an equal cut“,20 leicht hätte beenden können; aus Schwertern, so der Text augenzwinkernd, wären dann „Barbers Scissars“ geworden 21 In meinem Beitrag erhält demnach die große religiöse Debatte über Haare des 16 und 17 Jahrhunderts, die im vorliegenden Band immer wieder im Zentrum steht, mit einem Mal die Zuspitzung zu einem Verfahren der Zuschreibung konkreter Parteienzugehörigkeit 1 Twenty Lookes over all the Round-Heads: Verteidigung politischer Kurzhaarigkeit Bald nach der mündlich-performativen ‚Erst‘verwendung des Begriffs ‚roundhead‘ im Jahre 1641 begann der Terminus auch in Texten zu kursieren und verhandelt zu werden Der früheste textuelle Beleg von ‚roundhead‘ findet sich laut Oxford English Dictionary in einem der parlamentarischen Seite zuneigenden newsbook (Vorläufermedium der Zeitung) aus dem Jahre 1641 22 Titelgebend thematisch wurde ‚roundhead‘ wohl erstmals im darauffolgenden Jahr in der Schrift The Roundhead Uncovered 23 Ein anderer Kandidat für die Erstthematisierung von ‚roundheadedness‘ ist The Devil turn’d roundhead: or, Pluto become a Brownist, ebenfalls 1642, auf dessen Titelblatt Satan einen kurzhaarigen Parlamentarier defäziert An beiden Titeln zeigt sich bereits die Herkunft der Begriffsprägung und -zuschreibung aus dem Lager der Königstreuen, aus deren Mund Kurzhaarigkeit eine Schmähung war

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Susanne Spekat: Politik und Literatur: Die englische Revolution in der Literatur des 17 Jahrhunderts, in: Vera Nünning (Hg ): Kulturgeschichte der englischen Literatur: Von der Renaissance bis zur Gegenwart Tübingen 2005, S 63–75, hier: 64 Zit nach Fisher: Materializing Gender, S 143 Solche Texte, die die Haartrachten beider Seiten aufs Korn nahmen und sich daher keiner Seite des Diskurses zuordnen ließen, gab es auch schon in den 1640er Jahren, etwa die Flugschrift Heads of all Fashions von 1642, vgl Dagmar Freist: Governed by Opinion: Politics, Religion and the Dynamics of Stuart London 1637–1645 London 1997, S 172 f https://www oed com/view/Entry/167961 (23 03 2021) Vgl Appleby

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Das parlamentarische Lager versuchte daraufhin in seinen eigenen Texten, den Begriff von sich zu weisen, wobei es zwei Strategien unternahm Zum einen wurde versucht, den positiven Gegenbegriff „soundhead“ (‚vernünftiger Kopf ‘) zu lancieren 24 Andere parlamentarische Schriften unternahmen es, despektierliche Langhaar-Begriffe in die Welt zu setzen, wie etwa An Exact description of a Roundhead and a long-head shag-pol (1642), das die „langköpfige Moppstange“ aus dem zweiten Teil des Titels auf die Royalisten münzt Bekannt geworden ist die letztgenannte Schrift auch durch ihr Titelbild, das in der modernen Forschung fast zu einer Standardillustration und -kontrastierung von ‚cavalier‘ und ‚roundhead‘ geworden ist 25 Daneben zitiert de Groot aus diesem Text genüsslich eine (antiroyalistische) Gleichsetzung von langen Locken mit den Haaren von Prostituierten 26 Die Geschichte hat aber gezeigt, dass sich weder ‚longhead‘ noch ‚shaghead‘ u Ä jemals zu veritablen Gegenbezeichnungen zu ‚roundhead‘ mausern konnten Was den Haardiskurs angeht, waren die Parlamentarier in den 1640er Jahren schlicht in der Defensive, was sich auch an unserem Beispiel Twenty Lookes Over all the Round-Heads that ever lived in the world zeigt Dieser Text benutzt die Strategie der haarigen Desavouierung der royalistischen Gegner ebenfalls, indem er etwa von „shag-hair’d Ruffians“ spricht 27 Darüber hinaus entfaltet er aber eine einzigartig komplexe Taktik der Umwertung und positiven Gegenaneignung des Begriffs ‚roundhead‘, so dass sich eine Detaillektüre lohnt, nicht zuletzt weil die Forschung, wie sich zeigen wird, den Text wohl auch aufgrund seiner Raffinesse bisher falsch zugeordnet hat Wie viele parlamentarische Traktate der Bürgerkriegszeit, etwa auch jene berüchtigte Rechtfertigung der Hinrichtung eines regierenden Monarchen, John Miltons Eikonoklastes (1649), argumentiert Twenty Lookes vor dem Hintergrund einer historisch-anthropologischen Herleitung seiner Thematik Wo Milton nach der Exekution von Charles I aber die Frage, ob ein König sich den Gesetzen seines Landes zu beugen habe, kasuistisch verhandelt – mit Beispielen von der griechisch-römischen Antike über das Alte Testament bis hin zur ‚profanen‘ Geschichte Englands –, erarbeitet der anonyme Verfasser (oder die Verfasserin) von Twenty Lookes eine Typologie unterschiedlicher kultureller Erscheinungen des kurzen Haares Diese Typologie folgt dabei nicht wie Miltons sehr viel längerer Text dem Beweis einer politischen These ‚durch‘ die Historie, sondern erstellt vielmehr eine singuläre (Pseudo-)Begriffsgeschichte von ‚roundhead‘ von der alttestamentlichen Zeit bis in die Text-Gegenwart hinein Der Text erstellt dazu eine Liste, bestehend aus 20 kurzen durchnummerierten Einträgen, eben den ‚look(e)s‘ Wie wir sehen werden, macht gerade diese Listung aus der diachronen Erkundung auch eine synchrone Diskursanalyse bzw -modifikation 24 25 26 27

Vgl Denzer: Ideologische und literarische Strategie, S 192 f Etwa Spekat: Politik und Literatur, S 65 Vgl de Groot: Royalist Identities, S 102 Anon : Twenty Lookes, A3

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Wie Gary Taylor bezüglich frühneuzeitlicher Listen herausgearbeitet hat, haben diese nicht nur die Funktion, Wissen zu sammeln und zu ordnen, sondern auch, exemplifiziert durch Personenverzeichnisse dramatischer Texte, einen übergreifenden Handlungs- und Tatsachenzusammenhang – und damit einen Diskurs28 – zu suggerieren Listen, so könnte man davon ausgehend pointieren, schreiben ‚dramatische‘ Diskurse, indem sie als eine Abfolge präsentieren, was jenseits der Liste selbst eine komplexe Äußerungs- und Machtstruktur sozial agierender Personen konstituieren soll Die Typologie in Twenty Lookes hat also auch die Funktion, einen Diskurs abzustecken und selbst daran teilzunehmen Wenn der Text die Geschichte der Rundköpfe durcharbeitet und dabei von alttestamentlicher Tabuisierung und Stigmatisierung zu einer gegenwartsbezogenen Würdigung von Kurzhaarigkeit voranschreitet, so referiert er auch einen auf die Textgegenwart bezogenen Diskurs zwischen Ablehnung und Annahme der ‚roundheadedness‘, um sich – nicht zuletzt qua Referat – in diesem Diskurs selbst zu platzieren und ihn zugunsten der eigenen Position zu modifizieren Zu Beginn seiner Geschichte erscheint der Begriff ‚roundhead‘ in diesem Text, vergleichbar mit der politischen Debatte seiner Entstehungszeit, zunächst als Tabu, dann als eine bestrafenswerte Beleidigung und sodann selbst als eine Strafe: „[God] charged [the Canaaites] not to round their heads, nor to shave off their mustachoes“ „[A] company of unruly Boyes mocked [Elias], and called him Round-Head, or bald-pate“ „The Messengers of David, that were sent to Hanun King of Ammon, were shaven and made Round-heads“ „The Prophet Esay told the Israelites, that God would make them round-heads by shaving all the haire off from their heads […] They had highly offended God“ 29 Kurze Haare sind hier etwas zutiefst Negatives – und das vor allem in religiösen Zusammenhängen, für die die parlamentarischen Reformatoren ja hochsensibel waren Obwohl der Text kurze Haare weltanschaulich verteidigen möchte,

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Gary Taylor: The Order of Persons, in: Gary Taylor [u a ] (Hg ): Thomas Middleton and Early Modern Textual Culture: A Companion to the Collected Works Oxford 2007, S 31–79, hier: 31 f Eine Debatte im ‚öffentlichen Raum‘, wie sie die Medienschlachten im London der 1640er Jahre darstellen, lässt sich sehr ergiebig als Diskurs im Sinne Michel Foucaults (Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses [1972 Dt 1974] Frankfurt am Main 1991) beschreiben: Sie werden von außen organisiert und organisieren sich nach innen, sie nehmen normalisierende und entnormalisierende Zuschreibungen vor, und sie ordnen die Sprecher bzw Angesprochenen ‚verknappend‘ nach Parteienzugehörigkeit (‚roundheads‘/‚cavaliers‘) Daneben lassen sich eher inoffizielle Debatten von offiziellen Diskursen der Strafverfolgung etc unterscheiden; beide Diskursarten werden in Clevelands Gedicht (s u ) spielerisch vereint Die Beschreibung der englischen Debatten der 1640er Jahre als Diskurse ist in der historischen und anglistischen Forschung weit verbreitet, etwa auch bei den einschlägigen Überblicksdarstellungen wie Smith: Literature and Revolution, oder Kevin Sharpe, Steven N Zwicker (Hg ): Politics of Discourse: The Literature and History of Seventeenth-Century England Berkeley 1987 (zus mit den nachfolgenden Monographien von Sharpe, etwa: Image Wars: Promoting Kings and Commonwealths in England, 1603–1660 New Haven 2010) Anon : Twenty Lookes, A2–A2 f

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fasst er also zunächst das heiße Eisen von alttestamentlichen Kontexten an, in denen geschnittenes Haar zutiefst problematisiert wird Diese Ausgrenzungsgeschichte wird sodann auch durch die englische Geschichte verfolgt, wobei die französische Langhaarmode die Kurzhaarigen Englands angeblich bereits seit dem Mittelalter marginalisiere (mit der rühmlichen Ausnahme der Zeit von Henry VIII),30 was mit Listenplatz 17 in der systematischen Stigmatisierung Kurzhaariger in der Textgegenwart gipfelt: [The Cavaliers] branded [the Citizens of London], with a resolution among themselves to strive that they might every where be called Round-heads, and therefore spread an universall tearme and appellation on all that cut their haire short, to be called Round-heads 31

An dieser Stelle findet die negative Geschichte Kurzhaariger ihren Höhepunkt in einer sorgfältig organisierten politischen Stereotypisierung und Verfolgung königskritischer Londoner Bürger während der Regentschaft von Mary I (1553–1558), wobei mit dieser Darstellung zugleich eine diskursanalytische Archäologie des zeitgenössischen Kurzhaardiskurs betrieben und der ‚Wille zur Macht‘ der Cavaliers herausgearbeitet werden 32 Allerdings vollzieht der Text hier auch eine Wende in der traurigen Geschichte der ‚roundheads‘: Auf die Überführung des zeitgenössischen Gegners folgt nämlich eine positive Gegenaneignung von kurzer Haartracht, mit der der Text sodann endet Zur Vorbereitung dieser Wende sind in die Leidensgeschichte der Kurzhaarigen aber selbst schon raffinierte Brechungen eingeschrieben Bereits in ihrem Verlauf werden nämlich auf subtile Weise zweimal Langhaarige als ‚roundheads‘ charakterisiert, wodurch die negative Bezeichnung mit einem Mal auf ihre royalistischen Urheber angewandt werden kann Die eben zitierten Kanaaiter, so der Text, „cut their locks round, as some doe now“,33 bevor ihnen das Haareschneiden von Gott verboten worden sei Später im Text wird klar, dass Gott auch Kurzhaarschnitte missfielen, aber zunächst ist ‚roundheadedness‘ hier ein Merkmal der Königstreuen, denn die Lockenträger der Gegenwart sind die Royalisten Weitergeführt wird diese punktuelle Inversion und Projektion der Rundköpfigkeit in Abschnitt 9: In the reigne of Henry I the Englishmen shaved off their beards, and made their faces smooth like women, and let their haire grow round their heads in its full length, wherein they gloried, contending with women who should bee the most absolute feminine RoundHead 34

30 31 32 33 34

Ebd , Abschnitt 14, k S Ebd , A4 f Die beschriebene Stereotypisierung fand allerdings wie beschrieben tatsächlich erst in den 1640er Jahren statt Anon : Twenty Lookes, A2, meine Hervorhebung Anon : Twenty Lookes, A3

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Diese ‚roundheads‘ sind wiederum eindeutig Royalisten, die eine Zeitreise aus dem 12 Jahrhundert in die Gegenwart (und von der diachronen Historie in den synchronen Diskurs) unternommen haben und nun in der zeitgenössischen Debatte selbst als die verhassten ‚Kurzhaarigen‘ firmieren De Groot erkennt zwar ebenfalls, dass in diesem Textabschnitt „Roundheads were effeminate and strangely smooth“,35 übersieht aber die Projektion auf die Royalisten, so dass er diese Worte (und damit implizit den gesamten Text) dem zeitgenössischen Diskurs der Königstreuen gegen die Parlamentarier zuordnet und etwa mit dem Hohn gegen den glattrasierten Oliver Cromwell, der sich in anderen royalistischen Texten findet, vergleicht 36 Es handelt sich aber eindeutig um einen (Pro-)Parlamentarier-Text, nur dass dieser in einer Raffinesse, die heutige Interpreten in diesem Zusammenhang scheinbar nicht mehr vermuten, den diffamierenden Begriff auf dessen Urheber zurückspiegelt Die bereits erwähnte Gegenaneignung des Begriffs ‚roundhead‘ steht sodann im Rahmen zweier performativer Ausbrüche in diesem Text, in denen die Rundkopftypologie mit einem Mal zu einer Invektive gegen Langhaarigkeit und die historische Liste a fortiori zum ‚Theater‘ zeitgenössischen Diskurses wird Das erste Mal bricht es aus dem ‚Erzähler‘ der Lookes heraus, nachdem er die Kontexte des berühmten neutestamentlichen Kurzhaargebots aus dem Korintherbrief (1 Kor 11) im ersten Jahrhundert nach Christus rekonstruiert hat:37 I wonder how such shag Ruffians dare now scorne at the decent wearing of haire, when indeed themselves are the Absolonians that provoke the Lord to curse the land for their foolish pride, and wanton wearing of love-lockes and unseemly haire, (I had almost said periwig )38

Der göttlichen Zorn, der zu Beginn des Textes ja vor allem die Kurzhaarigen traf, richte(t) sich nun voll auf die Langhaarigen, wie der hier hervortretende ‚Ich-Erzähler‘ seinen Gegnern, den göttlichen Fluch gewissermaßen selbst herbei(ver)fluchend, wünscht Die eigentliche Gegenaneignung des Kampfbegriffs ‚roundhead‘ erfolgt am Ende des Textes als zweite performative Wende in Twenty Lookes Trotz der Inseln des Widerstands gegen die Royalisten bleibt Twenty Lookes insgesamt wie bereits beschrieben eine recht bittere Ausgrenzungsgeschichte von Kurzhaarigkeit, welche bis in die Textgegenwart fortgeschrieben wird, da die Royalisten das Stereotyp ‚roundhead‘ ja niederträchtig und systematisch organisiert haben 39 Im letzten ‚Look‘ nun wendet

35 36 37 38 39

De Groot: Royalist Identities, S 102 Ebd Anon : Twenty Lookes, 7 Abschn , A3 Ebd Ebd , Abschnitt 17, s o

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sich das Blatt und wird die Opfergeschichte endlich eine triumphale Umdeutung des Rundkopf-Stigmas: But now if a man have any religion in him, then (say [the Royalists]) he is a Round-head; if he professe the truth heartily, then hee is branded for a Round-head; he that is no swearer, curser, cheater, drunkard, whooremaster, quarreller, he is scandalized with the name of a Round-head; he that abhorreth Atheisme, hates idolatry […] loves the King, and Parliament […] these are the men whom the blades of our time, brand with the name of Round-heads 40

„Wenn dem so ist, dann bin ich gerne ein roundhead“ impliziert der Sprecher hier und in einem abschließenden Distichon („[…] Atheists Round-heads make me,/ Let them joy in their Periwigs, for Rome shall never take me “) Der Ich-Sprecher des Textes erscheint hier wiederum und stilisiert sich als ein Außenseiter, der gegen jeden Widerstand und vor dem Hintergrund einer veritablen Geschichte der Ausgrenzung trotzig an einer Normalität festhält, welche hier neben Religiosität und Wahrheitsliebe vor allem auch die Achtung beider Parteien („King, and Parliament“) umfasst Diese Normalität aber sei in einem royalistischen Gomorrha, das das Anständige systematisch verunglimpfe41, selbst zu einer Minderheitenposition geworden ‚Roundhead‘ sein heiße daher Außenseiter sein, weil das Normale und Anständige selbst gewissermaßen zu einer verfolgten Minderheit geworden sei In einer an postkoloniale Ermächtigungsdiskurse erinnernden Geste eignet sich eine Minderheit in Twenty Lookes demnach ein feindliches Stereotyp an, nicht ohne minuziös die Leidensgeschichte dieses Gruppenmerkmals zu erzählen Die Identifizierung der Reformatoren mit den Opfern der Geschichte, v a auch den alttestamentlichen Israeliten, ist für das Zeitalter der Reformation nichts Ungewöhnliches 42 Verbunden ist diese (Selbst-)Marginalisierung hier aber mit einer bitteren Minorisierung des Normalen Diese ist typisch für die englische Bürgerkriegszeit, in der Parlamentarier und Royalisten abwechselnd behaupteten, sie seien die letzten Verfechter einer nun bekämpften und gefährdeten, letztlich aber urenglischen King-and-Country-Normalität 43 Der diskursive Aufwand, den Twenty Lookes für dieses Manöver der Selbstnormalisierung betreiben muss (und das durchaus auch die subtile Entnormalisierung ihrer Gegner umfasst), kündet zugleich aber einerseits von der Wirkungs- und Diskursmacht der royalistischen Brandmarkung kurzen Haares und andererseits von einer haarigen 40 41 42 43

Anon : Twenty Lookes, Abschn 20, k S Indirekt werden die Royalisten natürlich als „swearer[s], curser[s], cheater[s], drunkard[s], whooremaster[s], quarreller[s]“ denunziert Eliane Glaser: Judaism Without Jews: Philosemitism and Christian Polemic in Early Modern England Basingstoke 2007, S 30–63 Die Royalisten taten dies etwa in der Flugschrift Mad Fashions, Od Fashions, All out of Fashion von 1642 (vgl Spekat: Politik und Literatur, S 66 f ) oder im berühmten Traktat Eikon Basilike aus dem unmittelbaren Umfeld Charles I, veröffentlicht zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung 1649

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Problematik, die im reformatorischen religiösen Diskurs, dem sich die Parlamentarier ja verpflichtet fühlten, selbst lag: Die eben zitierte Stelle verschiebt Idolatrie von der eigenen Position („hates idolatry“) ebenfalls auf die Royalisten, was man hier als eine Projektion bezeichnen könnte Obwohl Idolatrie der Standardvorwurf der Reformierten an Katholiken auf dem Kontinent und an Royalisten in England darstellte,44 impliziert das Manöver hier nach meinem Dafürhalten eine Furcht davor, dass man selbst der Idolatrie geziehen werden könnte, wie die oben zitierten Stellen mit Bezug auf das Alte Testament, in denen gerade geschnittene Haare als häretische Selbstpflege erscheinen, es ja auch nahelegen Die trotzige Selbstviktimisierung der Kurzhaarigen in diesem Text richtet sich, wenn man den gesamten Text berücksichtigt, nicht nur gegen die verkehrten Zeitläufte, sondern letztlich auch gegen Gott selbst In Twenty Lookes erscheint die parlamentarische Position daher insgesamt als in gegnerischen und eigenen Diskursen gleichermaßen befangen Und diese diskursive Befangenheit der ‚roundheads‘ ließen sich die Royalisten, wie der nächste Teil meines Beitrags zeigen soll, nicht entgehen – gerade dann nicht, als sie selbst politisch ins Hintertreffen gerieten 2 „The Hue and Cry After Sir John Presbyter“ und die Projektion des Diskurses auf den Gegner „The Hue and Cry After Sir John Presbyter“45 ist ein satirisches Gedicht von John Cleveland, das dieser 1649 erstmals veröffentlicht, aber wohl schon zwei bis drei Jahre zuvor verfasst hat 46 Traditionell sind Gedichte, und das gilt auch für Verssatiren, in der Frühen Neuzeit in Großbritannien eher royalistische, näherhin: höfische Medien, so dass die bedeutende Lyrik der englischen Bürgerkriegszeit häufig aus dem Lager der Königstreuen stammt; zu denken ist an Andrew Marvell, Robert Herrick oder Richard Lovelace Auch John Cleveland ist dem höfischen Kontext zuzuordnen, selbst wenn sich der Hof Charles’ I in den 1640er Jahren natürlich eher in Auflösung befand Sein hier behandeltes Gedicht „Hue and Cry“ ist aufgrund seiner Veröffentlichung auf dem Londoner Buch- und Flugschriftenmarkt aber, wie Nigel Smith bemerkt, auch der Ver44

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Ausgehend von Gottesabbildungen wurde von den Puritanern ja jeglicher liturgische Gegenstand, etwa Messgewänder, als idolatorisch verfolgt, was sich zuletzt zu einer Brandmarkung jeglicher Kultivierung des eigenen Körpers als Götzendienst an der ‚gefallenen‘ Materie steigerte (vgl James Kearney: The Incarnate Text: Imagining the Book in Reformation England Philadelphia 2009; S 21–26 ) Im Gegensatz dazu bezeichnete William Prynne in seiner Unlovelinesse of Lovelockes gerade lange Haare mehrfach als idolatorisch (vgl Snook: Women, Beauty and Power, S 123) Wie mein Beitrag zeigt, arbeiten sich aber die Parlamentarier im England der 1640er Jahre eher am Problem ab, dass ihre geschnittenen Haare als widernatürlich gelten könnten, was von den Royalisten genüsslich vertieft wurde (s u ) Zit nach The Poems of John Cleveland, hg v Brian Morris, Eleanor Withington Oxford 1967, S 45–47 Smith: Literature and Revolution, S 306

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such, Satire „from its courtly and diplomatic context“ zu befreien und dem ‚Populären‘, der aggressiven politischen (Diskurs-)Öffentlichkeit im London der 1640er Jahre, zuzuordnen 47 Gerade in diesem Diskurs gab es in dieser Zeit viele Verssatiren von parlamentarischer Seite – auch zur Haartracht. Eine im Jahre 1642 unter dem Titel Description of the Round-Head and the Rattle-Head veröffentlichte Flugschrift aus drei Gedichten beginnt seinen ersten Teil „The Round-Head“ mit den Worten „His flaxen haire, his damask rosie cheeks“ und liefert in der Folge eine idealisierende Beschreibung des kurzhaarigen Parlamentariers 48 Die durch den Kurzhaarschnitt sichtbar gewordene Kopfform steht gerade für die Vernunft und – wiederum – Wahrheitsliebe des Parlamentariers: 2 His haire cut round, he weares no Indian Lock 3 God made heads round, what ever fellows prattle: 4 Truth is a round dealing, it hath no crochets […] 49

Auf das für eine Satire eher ungewöhliche Lob folgt dann auch eine ebenso umfangreiche (satirische) Abrechnung mit Körper, Erscheinung und Charakter des ‚rattle-head‘, also Royalisten Wie unschwer zu erkennen, gehört das Gedicht damit dem im vorherigen Teil rekonstruierten ‚roundhead‘-Diskurs der frühen 1640er Jahre an, versucht den ‚roundhead‘ zu normalisieren und den mit dem schönen Gegenbegriff ‚rattle-head‘ belegten Royalisten zu verunglimpfen Clevelands Gedicht gehört einer späteren Debatte an, die sich aufgrund der bereits erwähnten geänderten Machtverhältnisse nicht mehr um den Begriff ‚roundhead‘ gruppiert, sondern um eine stock figure namens ‚Sir John Presbyter‘ 50 Diese Figur ist eine Hauptparodie auf die herrschende, von der parlamentarischen Regierung mitgetragenen anti-episkopalische Reformation der Zeit, die auch in England von den ursprünglich aus Schottland stammenden Presbyterianern organisiert wurde, „the main force for religious persecution“, wie Smith lapidar bemerkt 51 Die Sir-John-Presbyter-Satiren versuchten nun, diesen herrschenden Klerikern Adels- bzw Prestigeanmaßung zu unterstellen und sie als „idiot knights and braggart warriors“ dastehen zu lassen – unter anderem auch durch ihre Frisur 52 Clevelands Gedicht ist der komplexeste und analytischste Beitrag zu dieser Form der Satire, weil der Vorwurf der Künstlichkeit gegen den Gegner hier systematisch und hochinteressant ausgeweitet ist

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Ebd Anon , Description of the Round-Head and the Rattle-Head London: J Sweeting, 1642 Anon , Description of the Round-Head, S 1 Smith: Literature and Revolution, S 301 Ebd , S 299 Ebd , S 300

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Vergleichbar der Description of the Round-Head and the Rattle-Head baut Clevelands Gedicht in seinen ersten 20 Zeilen, die eine geschlossene Einheit darstellen und daher hier im Mittelpunkt stehen sollen, ebenfalls ein poetisches Körperbild auf; im Gegensatz zum eben referierten Gedicht aber mit einem kurzhaarigen Parlamentarier als Gegner Das Körperbild von „Hue and Cry“ beruft sich nicht nur auf poetische, etwa satirische oder auch postpetrarkistische Traditionen;53 vielmehr handelt es sich qua Titel um eine Art fiktionalen Steckbrief: Als ‚Hue and Cry‘ (dt vergleichbar ‚Zeter und Mordio‘) bezeichnete man in England ab dem Mittelalter das juristisch verbindliche Ausrufen eines flüchtigen Delinquenten, verbunden mit einem Aufruf zu dessen kollektiver Verfolgung Ursprünglich ein Sprechakt im klassischen Sinne, gab es ab dem 17 Jahrhundert solche juristischen Handlungen auch als Texte 54 In Clevelands Gedicht vereinigt sich demnach eine satirisch-literarische mit der Imitation der juristischen Stereotypisierung einer Person und deren Bezugsgruppe Wie wir sehen werden, weitet „Hue and Cry“ diese intensivierte Diskursivität zu einer Projektion des Diskursiven (und damit auch der Delinquenz) an sich auf den politischen Gegner 55 Die einzelnen Körperteile werden in diesem Gedicht vor allem mit Text- und Sprachfiguren verglichen Vom Text über den Körper scheint der beschriebene Körper hier selbst befallen Als poetisches Körperbild arbeitet sich „Hue and Cry“ von oben nach unten durch und beginnt bei den Haaren: WIth Hair in Characters, and Lugs in text; With a splay mouth, & a nose circumflext;

Dieser Einstieg ist ein schwieriger, gewissermaßen poststrukturalistischer, betont er doch, dass die Haare des Beschriebenen aus Buchstaben („Characters“) und seine Ohren („Lugs“) aus Text bestünden Was wie ein dekonstruktives Klischee erscheint oder als postmoderne Literatur avant la lèttre („Das hier ist kein Körper, sondern Buchstaben/Text“), lässt sich jedoch durchaus auch frühneuzeitlich kontextualisieren, denkt

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Vor allem die Tradition der poetischen Körperbeschreibung stammt in der Frühen Neuzeit in England aus dem höfischen Kontext, wenn man an das Muster des Körperkatalogs (blazon) im Petrarkismus denkt, das der (allerdings bürgerliche!) Autor Shakespeare in „My mistress’ eyes are nothing like the sun“ so schön durchbrochen hat OED: https://www oed com/view/Entry/89136 (23 03 2021) Early English Books Online zeigt für den Zeitraum von 1640–1650 eine ganze Reihe ironischer Hue and Cries, etwa zur Verfolgung von Weihnachten oder von „religion and justice“, „vox populi“, aber auch, und u U ernst gemeint, von Oliver Cromwell Einige der auffindbaren Texte aus diesem Jahrzehnt sind nämlich zweifelsohne auch Reaktionen oder Aufforderungen bezüglich tatsächlicher Suchbefehle Die Haardebatte wird ja in diesem Beitrag als ein Diskurs mit haarbezogenen Zuschreibungen von Parteienzugehörigkeit aufgefasst (s o ) Ein juristischer Schreibzusammenhang ist dabei für die Diskursanalyse geradezu eine Blaupause für die Wirkungsmächtigkeit von Zuschreibungen Der Unterschied zwischen beiden ist die Offenheit (Zugang!) und Inoffizialität des Haardiskurses im Gegensatz zur Reguliertheit (Zugang!) und offiziellen Wirkmächtigkeit des anderen, juristischen Diskurses: Cleveland nimmt an einem ‚inoffiziellen‘ Diskurs teil, imitiert aber einen offiziellen

‚Roundheads‘, ‚Soundheads‘ und „Hair in Characters“

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man etwa an Shakespeares Komödie Love’s Labour’s Lost (geschr 1594).56 Dort stellen die abfällig als „book-men“ titulierten Höflinge am Ende ernüchtert fest, sie hätten nur „the sign of she“, also Zeichen von Frauen, angebetet, nicht zuletzt, da sie Diskurse über Frauen echten Frauen vorgezogen hätten 57 Vergleichbar wird der Presbyterianer von Cleveland hier ebenfalls als reiner ‚Papiertiger‘ charakterisiert, dessen (kurzgeschorene) Haare schon selbst wie kleine schwarze Buchstaben aussehen, während seine Nase wie ein accent circonflexe erscheint Das Bild des Text-Mannes ist visuell schwer aufzulösen und auch leicht katachretisch („splay mouth“ heißt ‚Spreiz-Mund‘ und hat keinerlei textuelle Konnotationen);58 insgesamt hat es daher vor allem expositorische und thematische Funktion: Dieser Mann ist so von Texten dominiert, dass er fast selbst wie einer aussieht In den nächsten Versen wird das Bild zunächst visuell konkreter – Hals und Mund werden mit einem Musketenlauf („Musket bore“) verglichen Doch schon die abgefeuerte Ladung („Pulpit fire-works“, also Predigten) sowie der darauf folgende Gedanke, dass aus seinem Mund „[t]he Negative and Covenanting Oath,/ Like two Mustachoes“ hängen59, führen das Körperbild wieder an die Grundthematik ‚Körper-Text‘ heran An den sodann (wieder)60 angesprochenen Ohren des Presbyterianers hängen ebenfalls Textelemente – in diesem Fall die Beichten von Frauen, die so ausführlich und (obszön) detailreich sind, dass die Ohren von ihnen ganz lang gezogen, „[w]iredrawn“, sind:61 Madams Confession hanging at his eare, Wiredrawn through all the questions, How & Where, Each circumstance so in the hearing Felt, That when his ears are cropt hee’le [he’ll] count them gelt […]

Die Ohren bekommen die Obzönitäten der Beichte so sehr zu spüren („Felt“), dass sie zu Genitalien werden, deren Beschneidung einer Kastration („gelt“ heißt ‚kastriert‘) 56 57 58 59

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William Shakespeare: Love’s Labors Lost, hg v H R Woudhuysen London 1998 Ebd , 4 2 43 und 5 2 469 Vgl Kai Merten: „His Ignorance were wise“: Gendered Knowledge in Love’s Labour’s Lost (1594/95), in: Antje Kley, Kai Merten (Hg ): What Literature Knows: Forays into Literary Knowledge Production Berlin [u a ] 2018, S 27–44, hier: S 39–40 Laut Clevelands Herausgeber bedeutet „character“ „shorthand“ und „text“ „long hand“ Der Presbyterianier habe also kurze Haare und lange Ohren (The Poems of John Cleveland, S 136) Die angesprochenen Schwüre stehen im Zusammenhang mit der Übernahme presbyterianischer Glaubenselemente nach England („Solemn League and Covenant“) sowie mit dem Aufruf, dem König abzuschwören („Negative Oath“) Dabei sind die beiden Schwüre Texte, ‚auf die‘ sodann mündlich geschworen wurde (The Poems of John Cleveland, S 137) Ohren wurden ja bereits im ersten Vers als „Lugs in Text“ genannt, sind also, wie auch das Folgende zeigt, für das Körper-Bild des Presbyterianers fundamental Beichten sind natürlich Sprechakte, aber durchaus auch textförmig, nicht zuletzt, da sie, wie Paul D Stegner: Confession and Memory in Early Modern English Literature: Penitential Remains Basingstoke 2016, beschreibt, in der Frühen Neuzeit oftmals literarisch inszeniert oder auch in belehrenden Traktaten (vgl The Poems of John Cleveland, S 137) erläutert und diskursiviert wurden

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gleichkommt Ohren waren im Kurzhaardiskurs der Zeit in mehrfacher Hinsicht mit den Haaren und deren umstrittener Schur assoziiert: Durch die Schur wurden sie im Gegensatz zu Langhaarfrisuren sichtbarer Teil des ‚roundhead‘, was zu einigem (textuellem) Spott durch die Royalisten führte, etwa zur Vermutung, die Ohren der Parlamentarier lägen frei, um den Teufel besser hören zu können 62 Den Königstreuen spielte dabei auch der Umstand in die Hände, dass ausgerechnet der Hauptkurzhaarverfechter William Prynne am Pranger selbst zweimal an den Ohren verstümmelt wurde, worüber sich noch Aphra Behn in ihrer Restaurationskomödie The Roundheads (1682) mit Bezug auf Prynnes Frisur lustig macht 63 Mit einer Ohrverstümmelung von Sir John Presbyter („when his ears are cropt“) rechnet daher auch ganz selbstverständlich das vorliegende Gedicht, wobei es diese hochimplikativ und freudianisch avant la lettre mit einer sexuellen Kastration gleichsetzt: Die Ohren des Kurzhaarigen sind gerade durch die Schur lächerlich sichtbar gewordene Genitalien/Hoden, welche – wie die Haare selbst – sogleich abgeschnitten werden Mit der Kastrationsfantasie erhält das (Text-)Körperbild seinen Höhepunkt und vertieft vor allem seine Diskursanalyse Der Presbyterianer ist in den theologischen Diskursen der Parlamentarier befangen und gerade dadurch an Haaren, Ohren und Genitalien verstümmelt Gut 300 Jahre später formuliert Jacques Lacan den (wiederum poststrukturalistischen) Gedanken, der Eintritt des Individuum in den Diskurs / die symbolische Ordnung käme einer Kastration gleich, welche gerade (wie in diesem Gedicht) die Erstellung eines Text-Körpers, also die Zurichtung und Beschneidung des Körpers durch sprachliche Bezeichnungen umfasse 64 Solche psychoanalytische Diskurstheorie wird hier im Rahmen royalistischer Satire gewissermaßen in witzig-entspannter Weise vorweggenommen: Die parlamentarischen Gegner (und ihre Körper) sind die gestutzten, kastrierten Gefangenen ihrer eigenen künstlichen fundamentalistischen Dogmatik, während die Königstreuen sich, so wird suggeriert, im nichtdiskursiven Bereich des Natürlichen bewegen sowie sexuell potent und natürlich langhaarig sind Allerdings impliziert gerade die royalistische Selbstbefreiung aus den Diskursen (wiederum) die Strategie, den Gegner mit Stereotypen und Körperbeschreibungen zu überziehen, die im vorliegenden Gedicht sogar juristische Verfolgung nach sich ziehen

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De Groot: Royalist Identities, S 102 „[…] the Hair of the Reformation Cut, beneath which, a Pair of large sanctify’d Souses [ears] appear, to declare to the World, they had hitherto escap’d the Pillory tho’ [they] [sic, KM] deserv’d it as well as Pryn“. Aphra Behn: The Roundheads (1682), in: dies : The Works of Aphra Behn, hg v Janet Todd Bd 6: The Plays 1678–1682 London 1996, S 357–424 Hier: 2 1 127–129) „Pillory“/ ‚Pranger‘ steht hier als Metonymie für die Verstümmelung Widmer etwa erläutert den Lacan’schen Terminus „symbolische Kastration“ als ‚Beschneidung‘ des Kindes und seines Körpers durch Einsenkung in die Sprache, den Diskurs, für Lacan ja die sogenannte ‚symbolische Ordnung‘, Peter Widmer: Zwei Schlüsselkonzepte Lacans und ihre Bedeutung für die Praxis, in: Hans-Dieter Gondek [u a ] (Hg ): Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk Stuttgart 2001, S 15–48, hier: 37–43

‚Roundheads‘, ‚Soundheads‘ und „Hair in Characters“

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sollen Das hier erstellte textuelle Körperbild soll zum (Stereo-)Typus für eine Gruppe von Menschen werden, zu deren Festnahme der Text als „Hue and Cry“ aufruft: „If you meet any that doe thus attire’em [‚sich so anziehen‘]/ Stop them they are the Tribe of Adoniram“, heißt es weiter unten im Gedicht, wobei Adoniram ein verhasster Steuereintreiber des Alten Testament ist, der von den Israeliten ermordet wird Diese Verfolung, so könnte man pointieren, ist (wie ja auch die Verstümmelung am Pranger) nur ein weiterer Aspekt der symbolischen Kastration Der Presbyterianer/Parlamentarier wird also nicht nur durch seine eigenen Diskurse kastriert und normiert, sondern – gewissermaßen in Vorwegnahme der Individidualisierungs- und Normierungspraxis des 18 Jahrhunderts65 – auch durch den Text des Gedichts als (gespielter) Teil eines juristischen Diskurses Clevelands Gedicht „Hue and Cry“ beteiligt sich selbst begeistert an den Diskursen, die den Presbyterianer/Parlamentarier (angeblich) verstricken und verstümmeln 66 Dessen Körper wird konsequent mit Text- bzw Kulturelementen verglichen bzw ‚behängt‘, so dass der Eindruck von Unzugänglichkeit und Unnatürlichkeit entsteht, der mit der Haarschur ‚buchstäblich‘ („Hair in Characters“) beginnt Insgesamt dekonstruiert das Gedicht den „Reformation Cut“67 als lächerlich-künstliche Pose und Diskursfigur, um damit indirekt die diskursferne Natürlichkeit sowie die sexuelle und gesellschaftlich-politische Souveränität des eigenen, royalistischen Körpers zu betonen 3 Zusammenfassung: Haarige Diskursstrategien Wo John Cleveland durch die Brandmarkung und Entnaturalisierung des Gegners geschickt die eigene Position zur normalen und natürlichen erhebt, rekonstruiert Twenty Lookes in seinem Überblick gerade eine solche Strategie, und weist nach, dass die Diskurse, in die sich die Parlamentarier unleugbar verwickeln, von den Royalisten mitverfertigt wurden Der parlamentarische Text gehorcht der Autorität des rekonstruierten Haardiskurses und muss sich performativ-inversiv durch ihn hindurcharbeiten, während Cleveland das ‚politische Haar‘ geschickt als alleiniges Problem seiner Gegner hinstellt und dieses Problem munter verschärft Als Reaktion auf die royalistische Strategie kann der frühere parlamentarische Text ‚rundköpfige‘ Normalität nur 65 66

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Michel Foucault: Überwachen und Strafen [1975 dt 1977] Frankfurt am Main 1994, S 243–250 Für Foucault sind Strafverfolgung und staatliche Erfassung strukturäquivalente Strategien eines Diskurses der ‚Individualisierung‘ im 18 Jahrhundert De Groot hat diese Text-/Körper-Parallelisierung erstmals herausgearbeitet, de Groot: Royalist Identities, S 106 f Er setzt allerdings den Versuch einer besorgten Festschreibung des Rebellen an, um stabile Codes zu sichern Ich sehe hier eher eine viel weiterreichende Dekonstruktion des feindlichen Körpers, im Zuge derer dieser der symbolischen Ordnung überantwortet wird, damit der eigene Körper – per Implikation – real und natürlich bleiben kann Behn: The Roundheads, 2 1 127

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als Minderheitenposition für sich in Anspruch nehmen Interessanterweise stilisierten sich die Royalisten in anderen Texten wie oben beschrieben ja selbst als letzte Verfechter einer ansonsten bedrängten Normalität – gerade auch in der Zeit der Parlamentarierherrschaft, aus der Clevelands Gedicht stammt In dieser Hinsicht ist Clevelands Text ein später, fast schon nachträglicher Vertreter eines früheren und offeneren diskursiven Felds der ersten Hälfte der 1640er Jahre, aus dem Twenty Lookes stammt Die Diskursmacht, die Clevelands Satire zu erarbeiten scheint, entspricht nicht (mehr) den politischen Machtverhältnissen seiner Zeit – nicht umsonst ist das „Hue and Cry“ nur ein gespieltes Die Zelebrierung diskursferner Natürlichkeit bzw des souveränen Spiels mit den Diskursen gegen die Parlamentarier ist daher wohl auch mit einer Projektion verbunden: Tatsächlich sahen sich die Royalisten gerade Ende der 1640er Jahre selbst der Denunzierung und Verfolgung durch satirische, juristische und andere Texte ausgesetzt und waren mithin selbst in die Diskurse verstrickt 68 Zugleich zeigt die in diesem Beitrag in Schlüsseltexten rekonstruierte politische Haardebatte der 1640er Jahre in England eine interessante Wendung der reformatorischen Deutung von langen Haaren als Adiaphoron (Lucinda Martin in diesem Band) bis hin zur Idolatrie, wie sie in dieser Zeit in ganz Europa geführt wurde Sowohl in Twenty Lookes als auch in „Hue and Cry“ sind es gerade die kurzen Haare, mit denen die Parlamentarier die Position des potentiell widernatürlichen und verdammenswerten ‚Kulturellen‘ einnehmen Dies zu widerlegen erfordert, das hat sich an Twenty Lookes gezeigt, gerade innerhalb eines religiösen Argumentationszusammenhangs einigen diskursiven Aufwand, den die Gegner mit Freude aufbringen, wenn sie die Widerlegung ihrerseits genüsslich zerlegen Allerdings ist diese Zerlegung nur ein satirisches Spiel, mit dem die Royalisten (durchaus ernsthaft) die Zeit ihrer tatsächlichen Machtlosigkeit überbrücken und sich die Hoffnung auf eine Rückkehr der Monarchie erhalten Dass diese Hoffnung zuletzt berechtigt war, zeigt das Jahr 1660, in dem nicht nur die Monarchie zurückkehrte, sondern auch (in Gestalt von Charles II ) die französische Langhaarperücke in London Einzug hielt, wodurch es mit der kulturellen und politischen Valeur kurzen Haares in England erst einmal vorbei war – zumindest bis zur nächsten, diesmal französischen Revolution Ende des 18 Jahrhunderts 69 Dr Kai Merten Anglist und Professor für Neuere Englische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt

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Vgl etwa den Abschnitt „The Free State Speaks“ in Smith: Literature and Revolution, S 182–196 Beeinflusst von der Französischen Revolution lehnten viele moderne und (mehr oder weniger) radikale junge Männer in Großbritannien die Perücke ab und trugen ihre Haare wieder kurz, vgl Gillian Russell: „Fashion“, in: An Oxford Companion to the Romantic Age: British Culture 1776– 1832 Oxford 1999, S 506–507 Zu einer regelrechten Parteienbildung nach Haarlänge kam es aber nicht wieder

Die ‚Mitteldinge‘ im Pietismus oder der seltsame Fall von Dittmars Bart und Gichtels Perücke Lucinda Martin Zusammenfassung: Im späten 17 Jahrhundert und bis ins 18 Jahrhundert hinein stritten sich pietistische Reformer über die sogenannten Adiaphora oder ‚Mitteldinge‘, Praktiken, die in der Schrift weder verboten noch für gut befunden wurden Theologische Diskussionen über Mode, Kunst und Freizeitaktivitäten, die ihre Wurzeln in der protestantischen Reformation hatten, lebten in den 1670er Jahren im Pietismus wieder auf und bekamen häufig eine neue soziale und politische Relevanz Für Pietisten markierten Kleidung und Frisuren einen Menschen als ein ‚Kind der Welt‘ oder ein ‚Kind Gottes‘ Unter Pietisten gab es jedoch eine Reihe von unterschiedlichen Positionen Einige sahen modische Frisuren als ein Symbol der korrupten ‚Welt‘, während andere glaubten, dass Adlige aufwändige Frisuren tragen sollten, um ihren ‚gottgegebenen‘ Status als Herrscher widerzuspiegeln Haar- und Bartstile wurden somit als Zeichen für die Akzeptanz oder die Ablehnung der bestehenden sozialen und politischen Ordnung angesehen Abstract: In the late 17th century and extending into the 18th century, Pietist reformers argued about so-called adiaphora, or “middle things,” practices neither forbidden nor encouraged by Scripture Theological discussions about fashion, art and leisure activities that had roots in the Protestant Reformation resurged in the 1670s in Pietism, often taking on new social and political meanings For Pietists, clothing and hairstyles signified one as a “child of the world” or a “child of God” Yet within Pietism, a range of positions were justified Some saw fashionable hair styles as a symbol of the corrupt “world” while others believed that aristocrats should wear elaborate hair styles to reflect their “God-given” status as rulers Hair and beard styles thus came to be seen as a marker for acceptance or rejection of the existing social and political order

Im August 1702 trafen sich zwei deutsche Religionsreformer in Amsterdam, um die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zu erörtern Eine Meinungsverschiedenheit über Haare verhinderte jedoch eine solche Verbindung Sowohl Johannes Dittmar

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(ca 1675–?) als auch Johann Georg Gichtel (1638–1710) waren in radikal-pietistischen Kreisen aktiv und forderten eine Reform von Kirche und Gesellschaft 1 Dittmar war auf dem Weg, eine weitere wichtige Persönlichkeit im transnationalen Reformmilieu zu besuchen: die visionäre Autorin und religiöse Führerin Jane Leade (1624–1704) in London 2 Tatsächlich wurde Dittmar später der kontinentale Agent für ihre „Philadelphische Sozietät“ (Philadelphian Society), eine Gemeinschaft, die versuchte, die Gerechten aus allen Konfessionen in einer universellen Kirche zu vereinen 3 Wie die meisten deutschen Reformer, die nach London pilgerten, machte Dittmar halt in Amsterdam, um den im Exil lebenden Dissidenten Johann Georg Gichtel zu besuchen 4 Letzterer war das Oberhaupt der religiösen Gemeinschaft der „Engelsbrüder“ 5 Gichtel führte auch einen umfangreichen Briefwechsel mit religiösen Nonkonformisten in

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Obwohl einige Wissenschaftler den Pietismus hauptsächlich als eine Bewegung innerhalb der lutherischen Kirche betrachten, sprechen die meisten heute von einer Reihe verwandter internationaler Gruppen und Einzelpersonen, die Mitte bis Ende des 17 Jahrhunderts nach kirchlichen und sozialen Reformen strebten Eine Einführung in die Definitionsdebatten findet sich bei: Douglas H Shantz: An Introduction to German Pietism: Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe Baltimore 2013, S 1–14 Über den Begriff ‚Radikalpietismus‘ und seine Grenzen siehe Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17 Jahrhundert, in: Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler [u a ] (Hg ): Geschichte des Pietismus, 4 Bde , Bd 1: Johannes van der Berg, Martin Brecht (Hg ): Der Pietismus vom 17 bis zum frühen 18 Jahrhundert Göttingen 1993, S 391–406, bes 391–394, und Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie, in: Wolfgang Breul, Marcus Meier, Lothar Vogel (Hg ): Der radikale Pietismus Perspektiven der Forschung Göttingen 2010, S 11–18 Johann(es) Dittmar/ Dithmar besuchte 1695/96 das Gymnasium in Coburg und begann 1698 unter August Hermann Francke das Theologiestudium in Halle Er nahm an mitteldeutschen theosophischen und pietistischen Kreisen teil 1702 unternahm er eine fromme Tournee durch Deutschland, die Niederlande und England und besuchte dabei die ‚Wiedergeborenen‘ Als er in London ankam, wurde er schnell ein Favorit von Jane Leade Er trat ihrer „Philadelphian Society“ bei und wurde ihr ernannter Agent mit der Aufgabe, Mitglieder und Finanzmittel in Deutschland zu suchen Zu Leade (auch Lead genannt) und der Philadelphian Society siehe Nils Thune: The Behmenists and the Philadelphians A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries Uppsala 1948; Ariel Hessayon (Hg ): Jane Lead and her Transnational Legacy New York 2016 Zu den Verhandlungen der Philadelphier zwischen verschiedenen radikalpietistischen Fraktionen siehe Lucinda Martin: Noch eine ‚res publica literaria‘? Die Briefe der Unsichtbaren Kirche als diskursiver Raum, in: Aufklärung 28 (2016), S 135–172; dies : ‚God’s Strange Providence‘: Jane Lead in the Correspondence of Johann Georg Gichtel, in: Ariel Hessayon (Hg ): Jane Lead, S 187–212 Gichtel praktizierte in Regensburg als Anwalt, bevor er 1655 wegen seiner radikalen Ansichten ins Exil geschickt wurde Er suchte zunächst Zuflucht bei Friedrich Breckling im niederländischen Zwolle Doch die beiden zerstritten sich bald und 1668 reiste Gichtel nach Amsterdam ab Siehe Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme und Anhänger, in: Helmut Holzhey, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hg ): Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa (=Grundriss der Geschichte der Philosophie Bd 4/1–2), Bd 1 Basel 2001, S 61–102, hier 96–102 Siehe Günther Bonheim: Johann Wilhelm Überfeld und die Gemeinschaft der Engelsbrüder und -schwestern, in: Theodor Harmsen (Hg ): Jacob Böhmes Weg in die Welt Amsterdam 2007, S 365–382

Die ‚Mitteldinge‘ im Pietismus

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ganz Europa 6 Die gegenseitigen Besuche und die Korrespondenz von Reformern wie Gichtel und Dittmar zielten darauf ab, Koalitionen zwischen den ‚Kindern Gottes‘ zu bilden, um eine umfassende Reformation des gesamten Lebens zu erreichen 7 Dieses gemeinsame Projekt verband viele der Beteiligten, die über nationale Grenzen hinweg durch Briefe, Bücher und Besuche in regem Austausch standen Doch es gab zwischen den Reformern auch heftigen Wettbewerb um Einfluss, Mitglieder und Patrone Bei dem Treffen in Amsterdam im Jahr 1702 war Gichtel dem viel jüngeren Dittmar gegenüber sofort misstrauisch wegen dessen Aussehen In einem späteren Bericht hat Gichtel Folgendes aufgezeichnet: „Sein Verwirrter großer Barth, und seine feurige Aussprache erinnerten mich meiner ersten Mißtritte und Geistlichen trunckenheit “8 Als Dittmar einige von Gichtels Anhängern kritisierte, begann eine Auseinandersetzung zwischen Dittmar auf der einen Seite und Gichtel und seinem Anhänger Johann Gottfried Pronner (1667–1720/1722) auf der anderen Seite 9 Gichtel forderte Dittmar auf, seine spirituellen Fähigkeiten zu demonstrieren, indem dieser Gichtel und Pronner vom Blitz treffen lasse, oder – wenn er seinen Glauben nicht auf diese Weise beweisen könne – sich den Bart zu rasieren Dittmars Bart war laut Gichtel ein Versuch, sich mehr Autorität zu verschaffen, als ihm seine Jugend gewährte Dittmar wies darauf hin, dass Gichtel und seine Anhänger, die Perücken trugen und sich die Gesichter rasierten, ‚welt6

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Zur einflussreichen Korrespondenz der Engelsbrüder siehe zusätzlich zu den oben genannten Untersuchungen: Lucinda Martin: Jacob Böhme and the Spiritualist Reformation of Gender Exemplified by the Correspondence of Anna Magdalena Francke and the Angelic Brethren, in: Daphnis 48 (2020), S 1–33; dies : Pietistische Briefe als Mittel der Erziehung in radikal-pietistischen ‚Philadelphischen‘ Kreisen um 1700, in: Anne Conrad, Alexander Maier (Hg ): Erziehung als Entfehlerung Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit Bad Heilbrunn 2017, S 69–80; Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den hallischen Pietisten, besonders mit A M Francke, in: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S 74–118 Gichtel, Dittmar, Leade und Radikale Pietisten im Allgemeinen waren dem Theosophen Jacob Böhme zutiefst verpflichtet, interpretierten sein Erbe jedoch unterschiedlich Siehe Lucinda Martin: Jacob Boehme and the Anthropology of German Pietism, in: Ariel Hessayon, Sarah Apetrei (Hg ): An Introduction to Jacob Boehme: Four Centuries of Thought and Reception New York 2013, S 120–141 Forschungsbibliothek Gotha [hiernach FBG], Chart A 297, S 227, datiert auf den 28 November 1702 Ich danke Erik Liebscher für seine Unterstützung bei der Arbeit mit den in diesem Aufsatz genannten Briefen und Elisa Theuerl für die Korrektur des Textes Die zitierten Quellen in diesem Aufsatz sind Teil eines vom Theologen Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) angelegten Sammelbands zur zeitgenössischen Kirchengeschichte Es handelt sich um die Korrespondenz (Originalbriefe und Abschriften) der ‚Philadelphier‘ und verwandte Dokumente Die losen Blätter wurden zusammengebunden und durchgehend nummeriert Hier eine Beschreibung der Inhalt mit Seitenangaben: https://kalliope-verbund info/de/ead?ead id=DE-611-BF-43656 Pronner (auch Bronner) besuchte das Gymnasium in Nürnberg und war der Neffe von Loth Fisher, einem Radikalen, der sich mit der Übermittlung spiritueller Literatur befasste 1687 lebte Pronner in Frankfurt am Main und 1688–1696 arbeitete er als Tutor in der Region Oldenburg 1696 zog er nach Bremen, 1698 wurde er wegen seinen heterodoxen Ansichten ins Exil geschickt Nach 1699 lebte er in den Niederlanden Pronner war einer der engsten Mitarbeiter von Gichtel und nach Gichtels Tod neben Johann Wilhelm Überfeld der zweitbedeutendste in der Führung der Engelsbrüder

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lich‘ seien Am Ende änderte niemand seine Frisiergewohnheiten und Dittmar machte sich auf die Suche nach religiösen Gefährten mit besser geeignetem Gesichtshaar Als er jedoch zu den nächsten Stationen seiner Reise aufbrechen wollte, wies Dittmar Gichtel darauf hin, dass Haare nicht das einzige Maß für Frömmigkeit seien Nach Gichtels Aufzeichnungen über das Treffen fragte Dittmar nach Gerüchten über die luxuriöse Kleidung, die der verbannte Theologe Friedrich Breckling (1629–1711) und die Tochter von Jane Leade angeblich getragen hatten 10 Für Dittmar markierten ausgefallene Kleidung, eine Perücke und ein glatt rasiertes Gesicht einen Mann als ‚weltlich‘ Frisuren, Kleidung, Tanz, Theater und andere Zeitvertreibe gehören zur Kategorie der ‚Adiaphora‘ oder ‚Mitteldinge‘, zu den Praktiken, die in der heiligen Schrift weder verboten noch gefordert werden Das Gefecht zwischen Gichtel und Dittmar über Haar- und Bartstile ist nur einer von vielen sozioreligiösen Konflikten, die sich ab den 1680er Jahren bis weit ins 18 Jahrhundert hinein abspielten Pietistische Reformer warfen ihren Gegnern in der lutherischen Orthodoxie vor, sie hätten keine einheitliche Ansicht über Adiaphora Aber wie diese Episode zeigt, konnten sich auch die Pietisten nicht auf eine gemeinsame Position einigen Im Folgenden skizziere ich die Adiaphora-Debatten unter den Pietisten des späten 17 Jahrhunderts, bevor ich mich ihrer Rechtfertigung bestimmter Frisuren sowie des Tragens oder Nicht-Tragens von Perücken und Bärten auf Grundlage der Bibel zuwende Dabei nahmen sie religiöse und soziale Positionen ein, die weit über bloße Modepräferenzen hinausgingen 1 Die Mitteldinge In der Antike verstanden stoische Philosophen Adiaphora oder ‚freie Mitteldinge‘ als Aspekte des Lebens, die für die Tugend irrelevant seien, wie Schönheit oder Reichtum Später fügten die Kirchenväter dem Begriff eine christliche Bedeutung hinzu: Für sie waren Adiaphora keine Seinszustände, sondern Handlungen, die Gott weder geboten noch verboten hatte Diese patristischen Diskussionen konzentrierten sich zunächst auf kirchliche Rituale, schlossen jedoch bald Zeitvertreibe wie Theater, Spiele, Tanz, weltliche Musik und das Tragen von Schmuck und Juwelen ein Für Origenes konnten von sich aus neutrale Dinge gut werden, wenn sie tugendhaft eingesetzt würden Für Augustinus hingegen gab es keine gleichgültigen Dinge zwischen Tugend und Sünde 11 10

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„Er solte wißen, daß wir eben so wohl Feuer hetten und ihme hizig begegnen könten, wie Er uns, wir suchten aber sein Bestes, weil Gott ihn zu uns geführet, und räthen ihm von Herzen: Er solte seinen Bart auf die Probe sezen, wo Er nicht konte Feur vom Himmel bringen, das Pronnern u[nd] Mich verzehrete, so solte Er ihm nur Getrost abscheren Worauf Er auf unsere abgeschorne Barte und peruqven anfiel, wir stelleten uns der Welt gleich “ FBG Chart A 297, S 228 Über den theologischen Hintergrund der Adiaphora im Allgemeinen vgl : Johannes Gottschick: Art Adiaphora, in: Realenzyklopaedie für protestantische Theologie und Kirche, Bd 1 (1896), S 168–179

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Während der Reformation entwickelte sich eine ähnliche Bandbreite von Ansichten, und die extremsten Stimmen behaupteten, dass es keine neutralen Dinge gebe, nur Gut und Böse 12 Die frühesten reformatorischen Debatten über Adiaphora konzentrierten sich auf die Frage, welche Riten für die Errettung notwendig und welche überflüssig oder sogar schädlich seien Im Allgemeinen lehnten Protestanten Prozessionen, Heiligenverehrung und Totenmessen als römische Verirrungen ab, sprachen jedoch einigen älteren Praktiken wie Fasten und Singen pädagogischen Wert zu Eine wiederkehrende Sorge war, dass Laien glauben könnten, diese Praktiken brächten Erlösung Manche Reformatoren befürchteten auch eine schleichende Rekatholisierung, wenn sie nicht eine harte Linie gegen katholische Bräuche verfolgten Eine wichtige Grundfrage in diesen Debatten war, inwieweit der Unterricht in Kirchen und Schulen mit den tatsächlichen kirchlichen Praktiken übereinstimmen müsse und wer prüfen solle, ob sie kompatibel seien – im Wesentlichen die Frage, ob Herrscher oder Kleriker Autorität über solche Angelegenheiten hätten Einige der führenden protestantischen Reformer plädierten für die Integration alter und neuer ritueller Formen, während andere jeden Kompromiss als trügerisch und als Verrat an der protestantischen Sache betrachteten 13 Während des sogenannten ersten Adiaphora-Konflikts vertrat Martin Luther beispielsweise die Ansicht, dass Kirchenkunst es für das einfache Volk leichter machen könne, die Reformation zu akzeptieren Doch zur gleichen Zeit sah Andreas Bodenstein von Karlstadt Kirchenkunst als ein Gräuel an und befahl, sie zu zerstören 14 Luther glaubte, dass Freizeitaktivitäten in Maßen genossen werden könnten Dagegen vertrat Johannes Calvin die Ansicht, dass die menschliche Natur grundsätzlich sündig sei und dass solche Aktivitäten schnell zu Verderbtheit führen würden Er versuchte daher, mit einem kirchlichen Verbot und Polizeiordnungen das richtige Verhalten zu erzwingen Die unterschiedlichen Positionen der protestantischen Reformer, einschließlich der sich im Laufe der Zeit ändernden Positionen von Luther und Melanchthon, darzustellen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen Es genügt hier zu bemerken, dass sich schließlich unversöhnliche Fraktionen gegenüberstanden und erbitterte polemische Kämpfe um zahlreiche

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Solche Ansichten wurden zum Beispiel mit Bibelstellen wie 1 Joh 2,15–16 gerechtfertigt: „Habt nicht lieb die Welt/ noch was in der Welt ist So jemand die Welt lieb hat/ in dem ist nicht die liebe des Vaters Denn alles was in der Welt ist/ nemlich des Fleischeslust ist Hurerey Augenlust ist Geitz vnd reichthum “ Für einen kurzen Überblick und als eine kritische Ausgabe einiger der zentralen Texte in der Debatte siehe Irene Dingel (Hg ): Der Adiaphoristische Streit (1548–1560) Göttingen 2012 Für eine umfassende Untersuchung der verschiedenen Parteien und Positionen siehe dies : Concordia Controversa: die öffentlichen Diskussionen um das lutherische Konkordienwerk am Ende des 16 Jahrhunderts Gütersloh 1996 Dingel: Historische Einleitung, in: dies : Der Adiaphoristische Streit (1548–1560) S 5

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Streitfragen geführt wurden, die von der Trennung von Kirche und Staat bis zum Tragen von Perücken reichten, das von Calvinisten verboten wurde 15 2 Die ‚Wiedergeborenen‘ Obwohl die Konkordienformel von 1577 die Angelegenheit der ‚Mitteldinge‘ offiziell regelte, indem sie feststellte, dass wahre Adiaphora für das Seelenheil nicht notwendige kirchliche Rituale seien, blieben viele Fragen bei Laien und Theologen gleichermaßen offen Diese Zweifel entzündeten 1681 den sogenannten zweiten Adiaphora-Konflikt, als pietistische Reformer den Bau eines neuen Opernhauses in Hamburg scharf kritisierten Der darauffolgende polemische Austausch war ein seltsamer Vorbote der Debatten, die in unserem Jahrhundert die Finanzierung und den Bau eines neuen Konzertsaals in Hamburg, der Elbphilharmonie, begleiteten, die ihre Türen 2017 öffnete In beiden Fällen griffen Gegner die Projekte als verschwenderisch an, weil die Mittel besser für die breite Öffentlichkeit ausgegeben werden sollten 16 Im späten 17 Jahrhundert kämpften vor allem Anhänger des pietistischen Theologen August Hermann Francke (1663–1727) in Halle gegen das Konzept der ‚Mitteldinge‘ im Allgemeinen Bereits als Student argumentierte Francke, dass es nur zwei Kategorien von Taten gebe: erforderliche Handlungen und verbotene Missbräuche 1688 hatten Francke und ein anderer Theologiestudent, Johann Caspar Schade (1666– 1698), begonnen, in einem Bibelkreis eine Gruppe von ‚wiedergeborenen‘ Studenten in Leipzig anzuleiten 17 Anstatt Dogmen zu lernen, diskutierten sie die Schrift und wie man sie im Alltag in die Praxis umsetzen könnte Die Versammlungen in Leipzig zogen bald Männer und Frauen aus allen Gesellschaftsschichten an Ein Schlüssel zum Erfolg der Bewegung war, dass die Gruppenmitglieder ein Elitebewusstsein entwickelten Unabhängig von ihrem sozialen Status in der Welt glaubten sie, dass sie durch ihre 15

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Gottschick: Adiaphora, S 174 Perücken wurden oft mit Bezug auf 1 Kor 11,14 verschmäht: „Oder leret euch auch nicht die Natur/ das einem Man eine vnehre ist/ so er lange har zeuget“ Der folgende Vers lautet: „Vnd dem weibe eine ehre/ so sie lange har zeuget? Das har ist jr zur decke gegeben “ Zum Opernstreit von 1681 siehe Eugen Sachse: Ursprung und Wesen des Pietismus Wiesbaden 1884, S 227–31, 237–41; Christoph Ernst Luthardt: Geschichte der christlichen Ethik, 2 Bde , Bd 2 Leipzig 1893, S 304–309 Die Wiedergeburt, ein Grundkonzept des Christentums insbesondere durch die Taufe, wurde im Pietismus als Konzept zentral, weil man glaubte, dass Individuen, nicht Geistliche, für die eigene Wiedergeburt verantwortlich seien Diese Idee wurde vor allem durch die Schriften von Jacob Böhme verbreitet Siehe dazu: Martin: Jacob Boehme and the Anthropology of German Pietism, S 131–134; dies : Rebirth, in: Claudia Brink, Lucinda Martin, Cecilia Muratori (Hg ): Light in Darkness The Mystical Philosophy of Jacob Böhme Dresden 2019, S 96–103 Zur ‚Wiedergeburt‘ und dem eng damit verbundenen Konzept der ‚Bekehrung‘ in der Leipziger Bewegung vgl Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17 Jahrhundert Tübingen 2004, S 83–102

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‚Wiedergeburt‘ zur Elite im Reich Gottes würden Sie stellten ihren Status als ‚wahre Christen‘ dem der ‚Scheinchristen‘ in ihrer Umgebung gegenüber Diese waren zwar technisch gesehen Mitglieder der Kirche, aber ihre Lebensführung wurde den hohen Standards der Reformer nicht gerecht 18 Bald begannen diejenigen, die an den Konventikeln teilnahmen, sich absichtlich von anderen abzuheben, indem sie sich anders anzogen und benahmen 19 Dinge wie Kleidung und Zeitvertreibe, die man zuvor als gleichgültig in Bezug auf die Religion angesehen hatte, wurden zu Angelegenheiten von Gut und Böse Aufgrund des auffälligen Verhaltens der Gruppe leiteten die Leipziger Behörden im Herbst 1689 Ermittlungen ein, die im März 1690 zu einem Verbot der Konventikel führten Am Ende mussten die meisten teilnehmenden Studenten die Stadt verlassen Sie gaben aber ihre Ideale nicht auf,20 sondern verbreiteten ihr Gedankengut in anderen Städten, in denen sie sich niederließen 21 Als sich in frühen pietistischen Kreisen ein Elitebewusstsein verbreitete, wurden die selbsternannten ‚Wiedergeborenen‘ zunehmend kritisch der Gesellschaft gegenüber Pietistisch orientierte Pastoren lehrten, dass ‚die Kinder Gottes‘ sowohl durch Erscheinung als auch durch Handeln von den ‚Kindern der Welt‘ unterschieden werden können 22 Der Begriff ‚Pietismus‘ kam zwar vor, wurde aber vor allem von Historikern verwendet An den reformerischen Kreisen des 17 und 18 Jahrhunderts Beteiligte bezeichneten sich selber üblicherweise als die ‚Kinder Gottes‘ oder die ‚Wiedergeborenen‘ 23 Gegenstand einer

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Zum ‚Wahren Christentum‘ siehe Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, in: ders , Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler [u a ] (Hg ): Geschichte des Pietismus, 4 Bde , Bd 1: Johannes van der Berg, ders (Hg ): Der Pietismus vom 17 bis zum frühen 18 Jahrhundert Göttingen 1993, S 113–204; hier 130–150; zum zeitgenössischen Vergleich mit ‚Scheinchristen‘ siehe Lucinda Martin: The ‚Language of Canaan‘: Pietism’s Esoteric Sociolect, in: Aries: Journal for the Study of Western Esotericism 12 (2012), S 237–253, bes 237–242 Mori spricht von einem Bewusstsein als die ‚Auserwählten‘ und ‚Vollkommenen‘: Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 68–82; 142–44 Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 17 Hans Leube: Orthodoxie und Pietismus Bielefeld 1975, S 208 Über das Wachstum von Konventikeln siehe Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 25–52; 286–296 Viele pietistische Predigten stellten die ‚Kinder Gottes‘ den ‚Kindern der Welt‘ gegenüber Siehe z B : ‚Philipp Jakob Spener: Die Von dem H Johanne I Epist II/ 15 16 17 Den Kindern Gottes verleidete Liebe der Welt/ Nochmahl Zu Herßlichen derselben ablegung in dreyen predigten vorgestellet von Philipp Jacob Spenern/ D Samt der beantwortung einer frage: Ob die einmahl warhafftig wiedergebohrene/ wo sie sich wieder in die Welt und sünden vertieffen/ noch-malen mögen wahrhafftig bekehret werden Frankfurt a M 1690 Siehe auch: August Hermann Francke: Der Braut-Stand der Kinder Gottes/ In einer Leichenpredigt Bey Christlicher Beerdigung S T Jungfer Christianen Dorotheen Rosciin S T Herrn Albert Friederich Roscii […] aus Psalm XLV, 11 12 In der S Georgen-Kirche zu Glaucha an Halle vorgestellet den 30 Maii 1699, in: August Hermann Francke: Gedächtnis- und Leichenpredigten […] wie auch einigen Trauer- und Trost-Reden Halle 1723, S 93–119 Zur Problematik der Begrifflichkeit siehe: Veronika Albrecht-Birkner: „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss, in: Pietismus und Neuzeit 41 (2015), S 126–153

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der frühesten Kontroversen zwischen pietistischen Reformern und orthodoxen Lutheranern war daher die Vorstellung, man könne einen sündlosen Zustand erreichen Einige Pietisten verkündeten, die ‚Wiedergeborenen‘ seien ohne Sünde und vollkommen oder zumindest auf den Weg zur Vollkommenheit Die Orthodoxie sah den Glauben, dass Menschen ohne Sünde sein könnten, als Hybris an Diese Debatte war mit der Frage der ‚leeren‘ Sakramente verbunden Die Pietisten wollten nicht, dass die Menschen dächten, sie könnten tun, was sie wollten, solange sie am Sonntag um Vergebung bäten ‚Wiedergeboren‘ zu sein bedeutete, immer gottesfürchtig zu leben In der Tat dachten Pietisten, sie müssten sich vor Gott für ihre Zeit auf Erden verantworten und zeigen, dass jede einzelne Sekunde auf eine Weise verbracht worden sei, die Gott gefalle 24 Für Pietisten hatten diese Debatten oft eine soziale Komponente Sie kritisierten etwa übermäßigen Konsum als schädlich für den Einzelnen und die Gesellschaft Ermahnungen gegen ausgefallene Kleidung und Schmuck gingen über die Sorge um persönliche Bescheidenheit hinaus und umfassten die indirekten Auswirkungen verschwenderischer Ausgaben auf die Ärmsten in der Gesellschaft Dabei wurden Pietisten nicht nur von der Religion beeinflusst, sondern auch von den sozialen Bedingungen ihrer Zeit, wenn sie beispielsweise auf den Zusammenhang zwischen dem Konsum von Luxusgütern und dem Gemeinwohl hinwiesen: Wie könnten Herrscher das Tragen luxuriöser Kleidung und Juwelen rechtfertigen, während ihre Untertanen verhungerten? Andere Aktivitäten wurden von den Pietisten ebenfalls unter wirtschaftlichen Aspekten verurteilt Trinken und Spielen seien nicht nur Ablenkungen von Gott, sondern könnten eine Familie in Armut stürzen Pietisten betrachteten Tanzen und Spielen als leichtfertig, aber auch als Tor zu anderen sündigen Aktivitäten, da diese Zeitvertreibe die Geschlechter oft in physischen Kontakt miteinander brächten Ein Tanz könne zu einer ungeplanten Schwangerschaft führen und somit wiederum zu einem Kind, das versorgt werden müsse Auch Herrscher erkannten diese Gefahr und versuchten, sie einzudämmen, indem sie entsprechende Gesetze erließen und etwa Tanzveranstaltungen nur bei Tageslicht erlaubten 25 Pietisten bezeichneten sogar Kegeln als Sünde und behaupteten, ein Kegler könne nicht wiedergeboren werden 26 Einige sahen in ‚nutzlosen Gesprächen‘ und Spaziergängen Hinweise auf mangelnden Glauben Als August Hermann Francke seine Institute in Halle gründete, galten strenge Regeln Die im Waisenhaus und in den

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August Hermann Francke: Der Rechte Gebrauch der Zeit […] Predigt vom 4 Jan 1713, hg v Udo Sträter Halle 2008 Terence McIntosh: Pietism, Ministry, and Church Discipline: The Tribulations of Christoph Matthäus Seidel, in: Christopher Ocker, Michael Printy, Peter Starenko [u a ] (Hg ): Politics and Reformations: Histories and Reformations Boston [u a ] 2007, S 397–424, hier 403 Die Warnungen der Pastoren an die Gemeindemitglieder sind aufgezeichnet, Archiv der Franckesche Stiftungen [nachher AFSt]/ H D77a, 317–327; vgl Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 68

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Schulen untergebrachten Kinder durften nicht spielen, Francke bezeichnete sogar ein Krippenspiel als „Götzendienst“ 27 Auch die Künste waren Gegenstand von Debatten Pietisten akzeptierten Musik innerhalb bestimmter enger Grenzen, aber bezeichneten zu lebhafte Kirchenmusik als eine „Beleidigung“ gegen Gott 28 Oper und Theater, insbesondere Komödien, wurden mit heidnischen Quellen in Verbindung gebracht In einigen Fällen konnten Pietisten die Behörden davon überzeugen, sie zu verbieten Als das Kopenhagener Opernhaus 1689 niederbrannte, bezeichnete das der pietistische Theologe Johann Wilhelm Petersen als Strafe Gottes Ungeachtet der Tatsache, dass der Pietismus für viele sprachliche und literarische Innovationen verantwortlich war und als Motor für den Buchmarkt fungierte, verurteilten Pietisten ‚weltliche‘ Literatur Die Reformer führten geistliche Tagebücher und schrieben religiöse Lieder und Gedichte; sie glaubten jedoch, dass Fiktion zu Unmoral führe, zumal deren Inhalt der „Wahrheit“ nicht entspreche 29 Einige Pastoren, die mit Francke verbunden waren, weigerten sich, Gemeindemitgliedern Absolution zu erteilen, wenn sie glaubten, diese hätten nicht wirklich Reue empfunden Justinius Töllner (1656–1718), Pfarrer in Panitzsch bei Leipzig, geriet mit seiner Gemeinde in einen Konflikt über ein Bierfest zu Pfingsten Seine Weigerung, der Gemeinde das Abendmahl zu gewähren, führte zu einem Streit mit der Kirchenleitung, der ihn seine Stelle kostete 30 Ein weiterer pietistischer Pastor, Christoph Matthäus Seidel, stritt sich mit seiner Gemeinde über Musik und Tanz Gegen den Willen seiner Vorgesetzten versuchte er zunächst erfolglos, ein Verbot zu verhängen Doch Seidels Gemeinde begann, seine Disziplin zu akzeptieren, nachdem schwere Stürme die Gegend verwüsteten Diese wurden als göttliche Bestrafung für den Genuss von Musik und Tanz interpretiert 31 Pietisten waren also nicht nur religiöse Reformer, sondern auch Sozialreformer Ihre Pläne zur Verbesserung der Gesellschaft erforderten jedoch die Beseitigung des gesamten Konzepts der Freizeit

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Zitiert nach Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 63 Tanya Kevorkian: Baroque Piety: Religion, Society and Music in Leipzig, 1650–1750 Burlington 2007; siehe auch Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 39 Hans-Jürgen Schrader: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte Ein Überblick, in: Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler [u a ] (Hg ): Geschichte des Pietismus, 4 Bde , Bd 4: Hartmut Lehmann (Hg ): Glaubenswelt und Lebenswelten Göttingen 2004, S 386–403, bes 392; über Sprache als soziale Kennzeichnung im Pietismus, siehe Martin: The ‚Language of Canaan‘ „Wie man sich soll den Heil Geist lassen in aller Warheit leiten,“ AFSt/H D91, 2r Justinius Töllner: Unrechtmäßige Absetzung, Das ist; Außführliche und deutliche Beschreibung dessen, wie man nehmlich etliche Jahr her mit ihm um der Wahrheit willen sehr übel umgegangen, ihn heftig verfolget […] und endlich gar removiert […] Halle 1697 Vgl Mori: Begeisterung und Ernüchterung, S 60–62 McIntosh: Pietism, befasst sich ausführlich mit Seidel

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3 Pietisten, Hofkritik und Patronage Die Polemik zwischen pietistischen Reformern und der lutherischen Orthodoxie erreichte 1693 mit der Veröffentlichung eines von Gothaer Pietisten verfassten Glaubensbekenntnisses einen neuen Höhepunkt 32 Die Kirchenleitung in Gotha hatte um die Vorbereitung des Textes gebeten, der dann (ohne Wissen der Autoren, die also hereingelegt wurden) zusammen mit einem Text eines Vertreters der Orthodoxie veröffentlicht wurde Letztere Schrift stellte eine vernichtende Widerlegung des Pietismus in Hinblick auf ihren Standpunkt zu den Adiaphora dar Der anonyme Autor behauptete, dass Pietisten nur natürliche Handlungen wie „Stehen“, „Sitzen“ und „Essen“ als Adiaphora akzeptierten, obwohl alltägliche Aktivitäten wie Scherzen, Tanzen und Kartenspielen die „wahren“ Adiaphora seien – Handlungen, die Pietisten verurteilten 33 In den folgenden zwei Jahrzehnten gab es dutzende weitere polemische Traktate, welche die Frage behandelten, was überhaupt die ‚Mitteldinge‘ seien Philipp Jakob Spener (1635–1705), oft als ‚Vater‘ des kirchlichen Pietismus verstanden, stimmte den Pietisten in Gotha im Allgemeinen zu, dass es keine Mitteldinge gebe, sondern nur gute und schlechte Taten Einige Urteile zu den Adiaphora begründete Spener jedoch mit gesundheitlichen Bedenken Er verurteilte „Vollerey“34, ließ aber einen Spaziergang an der frischen Luft zu, wurde dieser von einem Arzt empfohlen Das galt auch für das Tragen einer Perücke Nach den Hygienetheorien der Frühen Neuzeit konnte eine Perücke einigen Männern helfen, die Hitze in ihrem Körper zu regulieren und dadurch bestimmte Krankheiten zu vermeiden 35 Spener lehnte das Tragen von Perücken daher nicht vollständig ab, sondern machte die Bewertung von den Umständen und den Absichten der Träger abhängig Das Anziehen einer Perücke

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Confession, oder Glaubens-Bekäntniß derer Pietisten in Gotha Sampt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken o O 1693 Der Text wurde hauptsächlich von zwei Männern geschrieben: Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730), Subkonrektor des Herzoglichen Gymnasiums in Gotha und Johann Conrad Keßler (1673–1710), Prediger in Bremen, der aus der Gegend von Gotha stammte und in den frühen Kreisen um Francke aktiv war Keßler hatte selbst Prophezeiungen und enthusiastische Anfälle erfahren Philipp Joachim Heybach, Johann Adam Jacobi und Johann Meyfart haben auch zur ‚Confession‘ beigetragen Confessio, oder Glaubens-Bekäntniß derer Pietisten, § 9, S 17; und im gleichen Band aus orthodoxer Sicht: Bedencken, S 49–50 Vockerodt zitiert Spener zu diesem Punkt in seiner Schrift: Gottfried Vockerodt: Auffgedeckter vergönneter Lust- und Mitteldings-Betrug, das ist: gründliche Vorstellung des Unterschieds zwischen der Gläubigen Freude, oder: ohnsündlichen Ergetzung, und der Welt-Fruende, oder so genanten vergönneten Lust […] Frankfurt a M [u a ] 1698, S 55 Theodor Zwinger rät Männern, die an grauem Star litten, sich die Haare zu rasieren und eine Perücke zu tragen Theodor Zwinger: Sicherer und Geschwinder Arzt Oder Neues Artzey-Buch […] Basel 1703, S 198–201 Robert Burton hingegen warnt davor, dass ‚Kopfmelancholie‘ durch unnatürliche Dinge wie Gewürze, heißen Wein und eine überhitzte Perücke verursacht werde, vgl den Abschnitt „Causes of Head-Melancholy“ in: Robert Burton: The Anatomy of Melancholy Teil 1, Sec 2, Subsection 3 (keine Paginierung) Oxford 1638

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sei falsch, wenn man sie aus Stolz trage; ebenso, so Spener, könne eine Perücke aber aus Stolz abgelehnt werden, wie zum Beispiel am Hof, wenn alle anderen Perücken trügen und man sich über anderen erheben wolle 36 Mit dieser Bemerkung wollte Spener sich vielleicht von den sogenannten Radikalpietisten wie beispielsweise Johann Dittmar distanzieren, die behaupteten, ein Gerechter müsse einen Bart, dürfe aber keine Perücke tragen Trotz seiner Offenheit bezüglich der Gesundheitsfragen hatte Spener im Allgemeinen eine strenge Ansicht zu den Adiaphora Er forderte Christen auf, „neue Kreatur[en]“ zu werden und ihre ganze Zeit mit nützlichen Aktivitäten zu verbringen 37 1702 verfasste Spener die Vorrede für ein Buch, das Christoph Matthias Seidel über die Schriften Luthers in Bezug auf die Mitteldinge herausgab Frühere Ausgaben dieses Textes enthielten keine expliziten Verweise auf die Mitteldinge, aber diese Ausgabe hat zwei zusätzliche Anhänge, die anhand von Zitaten von Spener das Trinken, Spielen und Tanzen verurteilten; erstaunlicherweise wollte man Martin Luther selbst korrigieren 38 Bis weit ins 18 Jahrhundert hinein versuchten Spener und andere pietistische Autoren, Luthers Verständnis der Adiaphora rückgängig zu machen oder zumindest zu relativieren 39 Eine der radikalsten Stimmen in den Debatten über die Mitteldinge war der Friseur und Perückenmacher Johann Tennhardt, der seinen 1710 verfassten Traktat Gott allein soll die Ehre sein an über 420 in- und ausländische Herrscher sandte 40 In dem Text erklärte Tennhardt, wie Gott ihm durch eine Reihe von Unglücksfällen offenbart habe, dass das Tragen von Perücken ein Zeichen von Stolz und Weltlichkeit sei Tennhardt

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Philipp Jacob Spener: Von den Perruque, ob dero tragen ein mittelding?, in: Theologische Bedencken […], 4 Bde , Bd 2 Halle 1701, S 476–482 Spener schreibt: „Es kann mit perruquen auch sündlicher pracht getrieben werden/ wie mit allen andern stücken/ die zu des menschen kleidung und habit gehören/ wo wol durch dero kostbarkeit als unzimlichen fleiß und sorgfalt/ […] Es ist aber alsdenn nicht die parruque an sich selbs schuldig/ sondern die sünde stecket in dem hertzen […] “ 2 Kor 5,17; Röm 12,2; Gal 6,15; Gal 3,27 (alle Zitate nach Luther 1545, letzte Hand) [Philipp Jacob Spener: Vorrede, in:] Christoph Matthias Seidel (Hg ): Lutherus redivivus oder des fürnehmsten Lehrers der Augspurgischen Confession Herrn D Martin Luthers Theologi zu Wittenberg, hinterlassene schrifftliche Erklärungen […] Anjetzo mit einem doppelten anhang vermehret von der heutigen Zech- Schwelg- Spiel- und Tantz-Art, darinnern […] erwiesen wird, daß dergleichen fleischliche Wollüste nicht zugelassene Mitteldinge sondern allerdinges verdamliche Sünden seyn […] Mit einer Vorrede D Philipp Jacob Speners, Königl Preuß Consistorial-Raths und Probsts in Berlin Halle 1702 Eine Dissertationsverteidigung liefert ein Beispiel dafür: Johann Heinrich Zopf, Lehrer am Königlichen Paedagogium in Halle und sein Befragter, Leophold Caspar Ising, argumentierten ähnlich wie Spener Johannes Henricus Zopfius, Leopoldus Casparus Ising: Dissertatio de pseud-adiaphoria saltatoria Susati 1735 Johann Tennhardt: Gott allein soll die Ehre sein […] Nürnberg 1710 Siehe Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18 Jahrhundert, in: Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler [u a ] (Hg ): Geschichte des Pietismus, 4 Bde , Bd 2: Friedhelm Ackva, Martin Brecht, Klaus Deppermann (Hg ): Der Pietismus im 18 Jahrhundert Göttingen 1995, S 107–197, hier 139–141

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schilderte die Unglücksfälle, die sich alle um das Haar drehen, und beschrieb, wie ein christlicher Mann seine Haare gottgefällig tragen müsse 41 Tennhardt hatte zunächst beschlossen, keine Perücke mehr aufzusetzen, obwohl dies ihn als Perückenmacher lächerlich machte Dann zeigte er sein eigenes Haar, trug es aber gelockt Schließlich fing er an, seine Haare natürlich zu tragen Tennhardt kam weiterhin zu der Überzeugung, dass die Schrift Männern es verbiete, beim Beten den Kopf zu bedecken, Frauen jedoch verpflichte, ihre Haare zu verschleiern 42 Er behauptete, dass Geistliche in der Vergangenheit gegen Perücken gepredigt, dieselbe dann aber getragen und die Praxis von der Kanzel aus verteidigt hätten 43 In der Tat lehnten Pietisten die Mitteldinge ab, machten aber gleichzeitig Ausnahmen für bestimmte Praktiken August Hermann Francke riet wie sein Mentor Philipp Jakob Spener von den Adiaphora im Allgemeinen, berücksichtigte aber Ausnahmen aus gesundheitlichen Gründen Francke entschuldigte daher sein eigenes Pfeifenrauchen als gesundheitsfördernd, da die damaligen Ärzte meinten, dass das Rauchen wie Perücken zur Regulierung der Körpertemperatur beitrage 44 Doch übte Francke Kritik an ständig wechselnden Moden, beispielsweise an weiblichen Turmfrisuren 45 Einer der einflussreichsten Angriffe auf das ganze Konzept der Adiaphora wurde von Franckes Mitarbeiter Joachim Lange (1670–1744) verfasst, der behauptete, dass alles, was nicht direkt eine Folge des Heiligen Geistes sei, eine Sünde sei 46 Lange nannte 19 Gründe, warum die ‚Wiedergeborenen‘ irdische Leidenschaften vermeiden müssten Der lateinische Text richtete sich an Herrscher und Pastoren; er forderte die Ersteren auf, diejenigen zu bestrafen, die an der Sünde festhielten, und die Letzteren, ihnen das Abendmahl zu verweigern 41 42 43 44

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Tennhardt: Gott allein, S 27–32 Dies ist in der Tat die Anweisung in 1 Kor 11,1–5 Tennhardt: Gott allein, S 81–84 Tennhardt: Gott allein, S 84–85 Vgl Christian Soboth: „Das Haar laß recht verwirrt um Kopf und Stirne fliegen“ Hallischer Pietismus, frisiert und unfrisiert, in: Holger Zaunstock, Thomas Müller-Bahlke, Claus Veltmann (Hg ): Die Welt verändern August Hermann Francke Ein Lebenswerk um 1700 Halle 2013, S 273–287, hier 279 August Hermann Francke: Die Lehre von dem Aergerniß (29 9 1697, Michaelis, Glaucha Predigtkatalog Nr 286), in: ders Schriften und Predigten, Bd 9: Predigten 1, hg v Erhard Pesckke Berlin 1987, S 303–327, hier 314: „Man gedencket, man müsse alle neue Trachten, alle neue Moden […] nicht allein sehen, sondern auch nachmachen […] da etwan ein Weibsstück in Franckreich eine neue Mode auf die Bahne brachte, sich auf den Kopf hoch zu thürmen; sihe, so ist solches Aergerniß bald durch alle Land hindurch gelauffen, daß nun das Weibs-Volck an allen Orten meynet, es können nicht leben, wenn es nicht solche neue Mode eben auch mit nachäffe Hiebey ist wol zu verwundern, daß man nun nicht weiß, wie hoch man sich spitzen und thürmen will, damit man ja auch wie andere Leute aussehen möge “ Joachim Lange: Antibarbarus orthodoxiae, dogmatico-hermeneuticus, sive systema dogmatum Evangelicorum solide demonstratorum, a pseudevangelicus autem temer impugnatorum, atque ita simul controversiarum, sub speecid orthodoxiae, ex impietatis affect, adversus B D Phil Jac Spenerum aliosque sincer orthodoxos, Indignissime motzarum […] Pietismusm non esse sectam, sed fabulam […] 2 Bde Berlin 1709, Halle 1711, hier Bd 2, S 11, 32–33

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Die Dinge, die nicht als das Ergebnis des Heiligen Geistes gelten konnten – Unterhaltungen, Mode und Spiele – waren nirgends offensichtlicher als an fürstlichen Höfen Bald wurden diese Höfe selbst zum Gegenstand der pietistischen Reformbestrebungen Der Gothaer Theologe Gottfried Vockerodt (1665–1727) eröffnete die Anklage mit seiner Kritik an der Oper als Inbegriff des aristokratischen Verfalls 47 Für Pietisten standen Tanz, Oper und weltliche Musik für höfisches Leben; sie sahen darin vor allem Künstlichkeit, Unmoral und ein Konsumniveau, das nur mit hohen Steuern, Ausbeutung und Krieg aufrechterhalten werden konnte 48 Vockerodt vertrat die Auffassung, die Reformation könne nur dann als vollendet betrachtet werden, wenn die Mitteldinge ausgelöscht würden, und machte in seiner Fürsten-Schule zu Gotha und anderen Schriften deutlich, dass sein Ziel darin bestehe, den Adel umzubilden 49 Im Gegenzug reagierten Dichter, Musiker und Musikliebhaber auf Vockerodt mit ihren eigenen Schriften, die die Künste verteidigten Sie unterschieden zwischen der Kunst selbst und den sozialen Missständen, die Pietisten damit in Verbindung brachten, etwa Trunkenheit, Verschwendung und uneheliche Schwangerschaften 50 Bald eskalierte die Debatte, und Vockerodt beschuldigte die lutherische Orthodoxie, hinter den polemischen Texten der Musiker zu stehen Er behauptete sogar, dass die Orthodoxie versuche, der Kirche durch das Theater heidnische Elemente zuzuführen 51 In einer Reihe zunehmend aggressiver Veröffentlichungen argumentierte Vockerodt, dass weltlicher Zeitvertreib das Haupthindernis für ein heiliges Leben darstelle und die angeblichen Hüter des Christentums, orthodoxe lutherische Pastoren, die Kanzel

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Vockerodt studierte in Jena und erlangte 1685 seinen Magister 1689 begann er als Konrektor am Gymnasium in Halle und nahm 1693 eine Stelle als Professor am Gymnasium Illustre in Gotha an Johann Conrad Keßler, Johann Heinrich Wiegleb: Gründ- und ausführliche Erklärung der Frage: Was von dem weltüblichen Tantzen zu halten sey? In zwey Tractätlein verfasset; deren das erste einer von dieser Sache zu Langensaltza 1696 […] Mit einer Vorrede M August Hermann Franckens […] Halle 1697 Gottfried Vockerodt: Mißbrauch der freyen Künste […] Frankfurt a M 1697, insbesondere S 56– 61; 162–168 u 109, die ein Gedicht über die richtigen Aktivitäten für den Adel enthält – er solle lernen zu herrschen, anstatt zu reiten, zu jagen, zu malen, Musik zu machen und so weiter Siehe auch Vockerodts Übersetzung: Des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Armand von Bourbon, Printzens von Conty herrliches Tractlein von denen Pflichten grosser Herren/ Nebst Einen Extract aus seinem Testamente aufs neue aus dem französischen übersetzet von Gottfried Vockerodt Frankfurt a M [u a ] 1698 Conty schreibt, Adlige seien nicht davon befreit, der Schrift zu folgen, obwohl viele behaupteten, es zu sein Siehe weiter, Vockerodt: Consultationes de litterarum studiis recte, et religiose instituendis […] Gotha 1705, S 191–199 Vgl Gudrun Busch: Die Beer-Vockerodt-Kontroverse im Kontext der frühen mitteldeutschen Oper oder: Pietistische Opern-Kritik als Zeitzeichen, in: Rainer Lächele (Hg ): Das Echo Halles Kulturelle Wirkungen des Pietismus Tübingen 2001, S 131–170; Reimund Sdzuj: Adiaphorie und Kunst: Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens Berlin 2012, S 259–265 Gottfried Vockerodt: Erleuterte Auffdeckung des Betrugs und Aergernisses, so mit denen vorgegebenen Mitteldingen und vergönneten Lust in der Christenheit angerichtet worden: abgenöthiget durch Herrn M Rothens […] so betitulten Höchstnöthigen Unterricht von Mitteldingen und vergönneter Lust […] Halle 1699, S 124

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benutzten, um diese Bosheit zu unterstützen 52 Das Argument, dass Menschen durch die Künste geistige Erfrischung bekämen, konterte Vockerodt mit der Aussage, dass derartige Phantasiegebilde niemals zufriedenstellten, sondern immer mehr Anregungen erforderten, sodass man im Prinzip süchtig nach ihnen werde 53 Vockerodt verlangte, dass die Vorstellungskraft selbst unterdrückt werden müsse 54 Gerade als die Adiaphora-Debatten an Fahrt gewannen, zog Philipp Jakob Spener an den Dresdner Hof, wo er fünf Jahre (1686–1691) als Hofprediger wirkte Speners Kritik an höfischer Pracht und aristokratischer Zügellosigkeit führte bald zu einer Fehde mit seinem Arbeitgeber, dem Kurfürsten Johann Georg III von Sachsen (1647–1691) Die Frau des Fürsten, Prinzessin Anna Sophia von Sachsen (1647–1717), verteidigte Spener und wurde schließlich, ebenso wie ihre Schwester, Prinzessin Wilhelmine Ernestine von der Pfalz (1650–1706), eine der wichtigsten Gönnerinnen pietistischer Vorhaben, insbesondere was Bauprojekte und Gehälter in Halle anging 55 In einer Folge von Veröffentlichungen, die Francke und Spener diesen Damen und anderen Aristokratinnen widmeten, thematisierten sie das verschwenderische höfische Leben und drängten auf einen gerechteren Einsatz von Macht und Geld 56 Auf diese Weise verbanden sie das höfische Leben, die herkömmliche Politik und die 52

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Vockerodt: Auffgedeckter vergönneter Lust- und Mitteldings-Betrug; ders : Wiederholetes Zeugnüs der Warheit gegen die verderbte Music und Schauspiele, Opern, Comödien und dergleichen eitelkeiten, welche die heutige Welt vor unschuldige Mitteldinge will gehalten wissen […] Frankfurt a M [u a ] 1698; ders : Sieg der Wahrheit in dem zeitherigen Mitteldings- und vergönneten Lust-Streit, von Herr M Rotthen, einem Prediger in Leipzig, […] unwiedertreiblichem Beweiß, daß durch die Mitteldings-Lehre Gesetze, Evangelium, Glaube, Vernunfft, Zucht, Erbarkeit, Christus und Gott verleugnet, und […] gar Abgötterey und schnöder Mammons-Dienst behauptet und öffentlich gelehret werden Halle 1700; ders : Consultationes de litteratum studiis recte, et religiose instituendis; nec non de publicarum scholarum usu, pretio, et disciplina sanctiore Accedit commentatio de vera, et fals eruditione […] Gotha 1705; und ders : De imposture adiaphoristica Thatenio interprete Lipsae 1729 Gottfried Vockerodt: Ad orationes publicas de voluptate concessa […] Gotha 1698; und ders : Auffgedeckter vergönneter Lust- und Mitteldings-Betrug, S 37, 95 Vockerodt: Auffgedeckter vergönneter Lust- und Mitteldings-Betrug, S 37, 95 Zur weiteren Kontroverse und insbesondere zum raffinierten Angriff von Rotth auf Vockerodt siehe Sdzuj: Adiaphorie, S 265–281 Lucinda Martin: Öffentlichkeit und Anonymität von Frauen im (Radikalen) Pietismus – Die Spendentätigkeit adliger Patroninnen, in: Breul, Meier, Vogel (Hg ): Der Radikale Pietismus, S 385–402 Siehe z B Philipp Jakob Spener: Den Kindern Gottes In der Widmung an Christine, Gräfin zu Stolberg, schreibt er, die „pflicht deß wahren Christenthums […] besteht darin, Geld für Gutes und nicht für Pracht auszugeben“ (unpag) Siehe auch ders : Des thätigen Christenthums Nothwendigkeit und Möglichkeit/ in einem Jahrgang über die Sontägliche Evangelia in Franckfurt am Mayn im Jahr 1677 gehaltener Predigten gezeiget; zusamt einfältiger Erklärung Der drey vortrefflichen Episteln deß hocherleuchten Apostels Pauli an die Römer und Corinthier/ so in den Eingängen der Predigten abgehandelt worden Frankfurt 1680 (1687, 1721) Spener widmet die Predigtsammlung Elisabetha Dorothea, Landgräfin zu Hessen In der Widmung behauptet Spener, es sei Teil eines göttlichen Planes, dass Adlige ihren Reichtum und ihre Position nutzten, um das Gute zu fördern Siehe dazu Martin: Öffentlichkeit und Anonymität, S 391–395

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Adiaphora-Doktrin der Orthodoxie Viele Pietisten wollten dieses ‚weltliche‘ Bündnis zwischen den Höfen und einer korrupten (orthodoxen) Kirche durch eine Rückkehr zum Urchristentum ersetzen, so etwa der radikal-pietistisch gesinnte Historiker Gottfried Arnold Arnold schrieb über die Kirche, sie sei von der Gier und der Macht des Staates besudelt 57 Als Mittel gegen die korrupte Staatskirche ermahnten die Pietisten die Adligen, als verantwortungsbewusste Herrscher zu agieren, indem sie ihre Höfe von Prunk befreiten und stattdessen Mittel für wohltätige (pietistische) Projekte zur Förderung des Gemeinwohls bereitstellten Die kritische Auseinandersetzung mit den Mitteldingen und der Aufenthalt an den Höfen erforderten jedoch eine sorgfältige Diplomatie seitens der Pietisten Der Friseur-Aktivist Tennhardt schrieb, dass Perücken höfischen Hochmut förderten 58 Er berichtete von einem Traum, in dem ein bekannter pietistischer Pastor, der eine Perücke und eine Krone getragen habe, diese auf seinem Sterbebett habe entfernen müssen 59 Tennhardt erklärte, dass Perücke und Krone bloß weltlichen Ruhm darstellten 60 Er prangerte jene Pietisten an, die an ‚weltlichen‘ Praktiken wie dem Tragen von Perücken festhielten, und bezog dabei implizit Stellung gegen das gesamte Feudalsystem, das Perücken und Kronen verwendete, um sozialen Rang und Prestige zu kennzeichnen Die öffentliche Darlegung solcher Ansichten führte mehrmals zu Tennhardts Verhaftung und sogar zu Haftstrafen 61 Im Gegensatz dazu betonten Francke und Spener in ihren eigenen Schriften über Adiaphora, dass sie die etablierte Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellen wollten In der Tat bestätigten sie ihre Gönnerinnen in ihrem Hang zum Luxus Sie vermittelten Prinzessin Anna Sophia von Sachsen und Prinzessin Wilhelmine Ernestine von der Pfalz, dass ein gewisses Maß an Luxus, zum Beispiel üppige Kleidung, der Schrift entspräche, da dies dazu beitrüge, soziale Hierarchien aufrechtzuerhalten, die von Gott selber eingerichtet worden wären Diese Argumentation erwiesen sich als sehr nützlich; Francke und Spener konnten viele Edelleute davon überzeugen, großzügig für pietistische Projekte zu spenden

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Laut Arnold hatte die hegemoniale Staatskirche seit der Zeit Konstantins versucht, die ‚wahre Kirche‘ der Gläubigen zu unterdrücken, indem man ihre Anhänger als ‚Ketzer‘ bezeichnete Gottfried Arnold: Die Erste Liebe der Gemeinden Jesu Christi – das ist Wahre Abbildung der Ersten Christen […] Frankfurt a M 1696; und ders : Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Von Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi, 1688, 2 Bde Frankfurt a M 1699–1700 Andere Schriften, die eine mit weltlicher Macht verbündete Kirche kritisierten, waren ebenfalls sehr einflussreich, insbesondere Johann Arndts Schriften über das ‚Wahre Christentum‘ und die Werke von Jacob Böhme, der die äußere ‚Mauerkirche‘ einer unsichtbaren geistlichen Kirche gegenüberstellte Tennhardt: Gott allein, S 104 Er spricht von Johann Friedrich Winckler (1679–1738), dem Sohn des bekannten pietistischen Theologen aus Hamburg Johann Winckler (1642–1705), der ebenfalls ein in pietistischen Kreisen tätiger Theologe war Tennhardt: Gott allein, S 179–180 Schneider: Der radikale Pietismus im 18 Jahrhundert, S 140

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4 Haare und Bärte in der Bibel In Debatten über Haare und andere Adiaphora begründeten Pietisten ihre Argumentation häufig unter Rückgriff auf die Bibel Tatsächlich sind Haare stets Teil kultureller Selbstdarstellung gewesen, bei alten biblischen Völker genauso wie in gegenwärtigen Gesellschaften Jede Kultur schreibt dem Körper Vorstellungen von Schönheit, Männlichkeit und Weiblichkeit und Status ein 62 Diese ‚eingeschriebenen‘ Bedeutungen sind häufig religiös motiviert Haare können damit viele Dinge gleichzeitig symbolisieren und tragen sowohl individuelle als auch kulturelle Bedeutung Die Kontrolle über das Haar steht oft für die gesellschaftliche Kontrolle über die Person Ebenso kann das Haar Veränderungen im Leben markieren Das Alte Testament schreibt vor, auf welche Weise man das Haar tragen und verändern solle, um Lebensveränderungen durch Rituale kenntlich und erträglich zu machen 63 Einige Passagen beschreiben trauernde Männer als kahlköpfig, und weitere weisen Männer an, sich die Köpfe zu rasieren, um Trauer zu bezeugen 64 An wieder anderen Stellen ist die Rede von wilden, ungepflegten Haaren in Zeiten der Not, um eine innere Verzweiflung oder eine psychische Krankheit widerzuspiegeln 65 Die Schrift empfiehlt, gefangenen Frauen feindlicher Stämme ihre Haare abzurasieren, wenn man sie in den eigenen Haushalt aufnehme 66 Dies bedeutet einen Bruch mit der Vergangenheit und einen Neuanfang und ist mit Reinigungsritualen verbunden Es soll zudem die Trauer der Frau über den Verlust ihres Zuhause und ihrer Familie anzeigen Wenn dann neue Haare wachsen, bezeichnet das den Anfang neuen Lebens Ebenso wird von Menschen, die sich von einer schweren Krankheit erholt hatten, erwartet, dass sie sich im Rahmen der rituellen Reinigung und des Neuanfangs die Haare abschnitten und ihren gesamten Körper rasierten, sogar die Augenbrauen 67 Die vollständige Rasur der Haare spiegelt eine vollständige Transformation wider – vom nahen Tod zum Leben Viele der biblischen Vorschriften in Bezug auf Frauenhaare dienen in erster Linie der Kontrolle der Sexualität von Frauen Werde eine Frau des Ehebruchs beschuldigt (aber nicht verurteilt), solle der Priester bei einem Ritual zur Prüfung ihrer Reinheit die gebundenen Haare der Frau lockern – als würde dies die Wahrheit oder vielleicht

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Pierre Bourdieu: Distinction: A Social Critique of the Judgement of Taste Cambridge 1984; Michel Foucault: The History of Sexuality Bd 1: An Introduction New York 1980 Susan Niditch: My Brother Esau is a Hairy Man: Hair and Identity in Ancient Israel New York 2008 Ijob 1,20; Jes 15,2; Jer 47,5; Jer 48,37; Jer 41,5; Ez 7,18; Ez 7,15; Jer 7,29; Ez 5; Jer 16,6; Esra 9,3 Als Nebukadnezar aus seiner Gemeinschaft vertrieben wird, wird er geisteskrank und seine Haare und Nägel wachsen lang und ungepflegt (Dan 4,22–33) Dtn 21,10–14 Als man Joseph aus seiner Gefängniszelle zum Pharao bringt, wird er ebenfalls rasiert, anscheinend um den Erwartungen seiner Entführer zu entsprechen (Gen 41,14) Lev 14,8

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die Sünde selbst irgendwie ‚lockern‘ 68 Dieser intime und demütigende Akt bestätigt die Kontrolle über die Frau und stellte so die soziale Ordnung wieder her Die Haare stehen somit metonymisch für die Frau und ihren Platz in der Gemeinde Im Allgemeinen steht in der Bibel das Haar für die Natur, und Veränderung des Haars steht für die Kultur, die auf diese Weise ihre Kontrolle über die Natur ausübt Der Prophet Elia ist haarig, er lebt in einer Höhle, er wird von Raben gefüttert, und er steht in erheblichem Konflikt mit den Herrschern 69 Sein Meister Elisha hat eine Glatze, doch übt er eine Art ‚haarige‘ Macht über die Natur aus Als sich einige Kinder über Elishas Kahlheit lustig machen, stürzen sich zwei Bärinnen auf die Jungen und zerreißen sie 70 Obwohl Haarigkeit in der Bibel im Allgemeinen ein Zeichen von Männlichkeit ist, wird sie nicht immer positiv geschildert In Genesis 25–27 markiert Körperhaar den Unterschied zwischen den rivalisierenden Brüdern Esau und Jacob Esau ist haarig und jagt gerne Er ist der Natur näher, sehr männlich und wird von seinem Vater bevorzugt 71 Im Gegensatz dazu wird Jacob, dessen Haut glatt und damit eher weiblich ist, von seiner Mutter bevorzugt Dabei schwingt mit, dass auch sein Charakter ‚glatt‘ ist, das heißt schlau Mit der Hilfe seiner Mutter legt Jacob eine Tierhaut an und kann auf diese Weise seinen alten Vater täuschen, damit er ihm den Segen gibt, der für seinen behaarten Bruder Esau bestimmt ist 72 Es mag seltsam erscheinen, dass der schlaue und ‚weibliche‘ Jacob der Vater der zwölf Stämme wird Doch ist es ein Hauptthema des Alten Testaments, dass Gott die ‚Schwachen‘ liebt So wird Israel oft als der weibliche Gegenpart zur männlichen Göttlichkeit dargestellt 73 Das Alte Testament befiehlt weitere Sonderregeln für die Haare und Bärte von Priestern74 und „Naziriten“, Laien, die besondere Gelübde abgelegt und einen erhöhten Status in der Gesellschaft haben 75 Der vielleicht bekannteste alttestamentliche Text über Haare ist die Geschichte von Samson, der von Geburt an ein nazir ist und der daher angewiesen wird, sich niemals die Haare zu schneiden 76 Samsons Haar re68 69 70 71 72 73

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Num 5,11–31, bes 18 2 Kön 1,8; 19,9; 17,4 2 Könige 2,23–24 Gen 25,28 Gen 27,23 Susan Niditch vermutet, dass diese Geschichte ein Fragment sein könnte, das aus sogenannten „Frauengeschichten“ entstammt, in denen Frauen patriarchalische Strukturen überlisten (Niditch: Esau, S 116–117) Ein anderer Autor spekuliert, dass die Geschichte die Verschiebung von der nomadischen Existenz (Natur, Muskeln) zu einem städtischen Leben (Kultur, Gehirn) darstelle: Claus Westermann: Genesis 12–36: A Commentary Minneapolis 1985, S 415–417 Die spezifischen Regeln für Priester würden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass Priester an andere Regeln gebunden sind, weil sie heiliger sein müsse als andere; vor allem muss dieser Unterschied sichtbar sein Siehe Ez 44,20; Lev 8; Num 8 Frauen konnten diesen Status nur als Witwen, Geschiedene oder mit Erlaubnis eines Vaters oder Ehemanns annehmen Siehe Num 6 u Num 30 Vgl Niditch: Esau, S 70–73; 81–94 Ri 13–16 (bes 13,5)

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präsentiert seine Lebenskraft und seinen besonderen Status Dass Delilah sein Haar abschneidet, kann als seine Entmannung verstanden werden, da jemandem das Haar zu schneiden bedeutet, Macht über ihn zu haben Samsons Haar steht für sein Selbst und als er das Haar verliert, verliert er auch seine Identität 77 Zuvor hat Samson sein Haar geflochten und es auf diese Weise gebändigt Doch als sein Haar ungebunden nachwächst, kennt auch seine Stärke keine Grenzen mehr: Mit ungeheurer Kraft bricht Samson los und tötet seine Entführer 78 In dieser Geschichte und vielen anderen in der Bibel sind der individuelle Körper, der soziale Körper und der politische Körper miteinander verbunden So kann das Haar als Israel selbst gedeutet werden In Hesekiel 5 hat der Prophet eine Vision, in der er angewiesen wird, seine Haare zu rasieren und in drei Teile zu teilen Ein Teil soll verbrannt werden, einer soll ‚mit dem Schwert geschlagen‘ werden, und ein Teil soll durch den Wind zerstreut werden Die Bedeutung der Vision wird schließlich offenbart: Ein Drittel der Menschen wird an Krankheit sterben, ein Drittel von dem Schwert erschlagen und ein Drittel wird ins Exil geschickt In einer anderen Vision sagt der Prophet Jesaja eine verheerende Invasion voraus und schreibt: „Zur selbigen zeit wird der HErr das Heubt vnd in die Har an füssen abscheren/ vnd den bart abnemen“ 79 Auch hier steht das Haar für ein ganzes Volk 5 Dittmars Bart und Gichtels Perücke Die Pietisten kannten die Bibel gut und sahen darin eine Art Blaupause für die Gesellschaft Aber auch wenn die ‚Wiedergeborenen‘ sich als feste Gemeinschaft verstanden, gab es viele Unterschiede in ihren Einstellungen Diese Differenzen bedeuteten, dass sie einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachten, über die richtige Praxis innerhalb der eigenen Reihen zu debattieren Diese Diskussionen wurden durch neue biblische Interpretationen angeheizt, welche die Pietisten auf jeden Aspekt des Lebens anwendeten, bis hin zu den Kopfhaaren Wie verschiedene pietistische Gruppen die Bibel auslegten, um für bestimmte Positionen zu argumentieren, wird an den Folgen des verunglückten Treffens von Gichtel und Dittmar in Amsterdam deutlich, das zu Beginn dieses Aufsatzes thematisiert wurde Die Begegnung zwischen den beiden Reformern wurde durch eine Reihe von biblischen Erzählungen geprägt, in welchen das Haar eine entscheidende Rolle spielt Als Gichtel Dittmar aufforderte, seinen Bart zu rasieren, dachte er wahrscheinlich an Schriftstellen, in der die Rasur verwendet wird, um einen widerspenstigen Mann zu 77 78 79

Niditch: Esau, S 67 Niditch: Esau, S 66 Andererseits verheddert sich Absaloms langes und schönes Haar in den Zweigen einer Eiche, als er vorbeifährt, was zu seiner Zerstörung führt (2 Sam 13–18) Jes 7,20

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zügeln 2 Samuel 10 berichtet, wie König David Mitglieder seines Hofes in ein benachbartes Königreich schickt, um anlässlich des Todes des dortigen Königs sein Beileid zu bezeugen Doch die Berater des neuen Königs Hanun überzeugen diesen davon, dass Davids Boten Spione seien Hanun lässt den Männern Davids „die eine Hälfte ihrer Bärte“ gewaltsam abrasieren und die untere Hälfte der Kleider der Gesandten abschneiden Das Ziel ist eindeutig die Demütigung dieser Männer, eine Art symbolische Kastration 80 Wie in der Geschichte von Samson wird das Haar in der Bibel oft mit Männlichkeit und dessen Abwesenheit mit einem Verlust derselben in Verbindung gebracht, insbesondere wenn das Haar gegen den eigenen Willen geschoren wird In 2 Samuel 10 stehen die Bärte der Männer für ihre Männlichkeit, aber auch für die Macht ihres Staates Als die beschämten Männer in ihr Heimatland zurückkehren, sagt König David zu ihnen: „Bleibt zu Jeriho bis ewr Bart gewechset/ so kompt denn wider“ 81 Wie Mary Douglas betont, ist Heiligkeit symbolisch mit Ganzheit verbunden 82 David will nicht, dass die befleckten Männer sein Königreich repräsentieren Während einige alttestamentliche Texte spezielle Regeln für Priester bezüglich ihrer Haare enthalten, machen andere biblische Passagen keinen Unterschied zwischen Priestern und Laien und verpflichten alle gleichermaßen Folge zu leisten 83 Dieselben Regeln sind es, die einige Pietisten wiederbeleben wollten Johannes Dittmar, der Pietist mit dem wilden Bart, sah sich als einen von Gottes Auserwählten, dem eine Schlüsselrolle zukomme Er glaubte, dass die Anweisung an die Nazariten, ihre Bärte nicht zu kürzen, auch ihn betreffe Als Dittmar nach seinem Aufenthalt in Amsterdam in London ankam, waren sich Jane Leade und die Mitglieder ihrer Philadelphischen Sozietät sicher, dass Dittmar von Gott gesandt worden sei, um ihnen bei ihrer Arbeit zu helfen Leade und ihre beiden in Oxford ausgebildeten Assistenten, die Theologen Francis Lee und Richard Roach, erlebten Visionen, in denen ihnen offenbart wurde, dass Dittmar ihnen helfen solle, „das gesalbete pristerliche Heer“ zu sammeln 84 In einigen Briefen und aufgezeichneten Visionen der Gruppe spielt Dittmars Bart eine wichtige Rolle Zum Beispiel berichtet Francis Lee von einem Traum, in dem er sich in einem majestätischen Raum befunden habe, der mit Gemälden der „Weisen“ an den Wänden geschmückt gewesen sei 85 An der Tür zum Zimmer habe ein Porträt von Dittmar gehangen, und

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Wenn in 2 Sam 24,1–7 David das Gewand seines Rivalen Saul zerreißt, kann auch das als ein Machtverlust Sauls verstanden werden Siehe Niditch: Esau, S 96–97 2 Sam 10,5 Douglas: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo New York 1966, S 52–54 Dtn 14,1, aber vor allem Lev 19,27–28; Lev 21,5 Siehe z B FBG Chart 297, S 182 (Leade); Chart 297, S 183 (Roach); Chart 297, S 185 (Lee) Brief von Lee an Dittmar, datiert zum 9 November 1702, FBG Chart 297, S 185

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auf dessen Bart habe Lee goldene Buchstaben mit der Aufschrift „Dionissis der Areopagite“ (sic) gelesen Als Lee Dittmars Bart gestreichelt habe, sei er aus dem seltsamen Traum erwacht 86 Dionysius (d h Pseudo-Dionysius) hatte sich als ein von Paulus konvertierter athenischer Richter dargestellt und versucht, das antike platonische Denken und das Christentum in Einklang zu bringen Francis Lees Interesse an Dionysius beruhte auf einem frühneuzeitlichen Interesse an der Integration verschiedener Denksysteme in die christliche Tradition Nach dem Theosophen Jacob Böhme erkannten die Philadelphier das Göttliche in allen Dingen („Alles in Allem“) und glaubten, dass Gott sich im Laufe der Geschichte zunehmend offenbarte Offensichtlich sah Lee auch in Dittmar das Potential zu einer Person, die zwischen Kulturen vermitteln konnte, wie es auch Dionysius zu seiner Zeit angestrebt hatte Daher engagierten die englischen Philadelphier Dittmar als ihren Agenten in Deutschland und den Niederlanden Die goldenen Buchstaben auf Dittmars Bart wiesen auf Dittmars Status als Priester hin Nur drei Monate vor Lees Traum hatten Dittmar und Gichtel sich in Amsterdam über Bärte und Perücken gestritten Danach korrespondierte Dittmar mit anderen Reformern und fragte nach ihren Meinungen zum Streit In einem Brief an Dittmar vom November 1702 erklärt ein Mitglied der Philadelphische Sozietät in Deutschland, Generalmajor Johann Caspar Hachenberg, bestätigend, dass weder Mose noch Jesus den alten Bund aufgehoben hätten 87 Die meisten Christen waren damals wie heute der Ansicht, dass die Regeln des Alten Testaments in Form von Verhaltensweisen, Ritualen und Lebensmittelgesetzen nicht mehr in Kraft seien Sie glaubten, dass die Bergpredigt Jesu diese äußeren, physischen Markierungen des Volkes Gottes durch innere, spirituelle Kriterien ersetzt habe 88 Hachenberg betont jedoch, dass die Gläubigen beide Bündnisse erfüllen müssten Unter Bezugnahme auf die An-

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Dionysius, d h eigentlich Pseudo-Dionysius, war ein christlicher Neuplatoniker, der im späten fünften oder frühen sechsten Jahrhundert n Chr schrieb und den gesamten heidnischen Neuplatonismus von Plotin auf Proklus in einen christlichen Kontext übertrug Pseudo-Dionysius nannte sich „St Dionysius der Areopagit“, ein athenisches Mitglied des Justizrates(Areopag), der von Paulus bekehrt wurde Diese Selbstzuschreibung gab ihm große Glaubwürdigkeit unter christlichen Lesern im Mittelalter und der Renaissance Moderne Gelehrte glauben, dass Dionysius, anstatt der Schüler von Paulus zu sein, in der Zeit von Proclus gelebt haben muss und wahrscheinlich sein Schüler war Er könnte syrischer Herkunft gewesen sein und wusste genug über Platonismus und Christentum, um sie überzeugend miteinander zu verbinden Andere in Dionysius’ Kreisen übernahmen ebenfalls pseudonyme Namen aus dem Neuen Testament Ihre Werke sind daher weniger eine ‚Fälschung‘ als eine Anerkennung einer bestimmten Übertragungsgeschichte Dionysius präsentiert seine eigene Lehre als von einem bestimmten Hierotheus stammend und an einen bestimmten Timotheus gerichtet Er präsentiert sich also als einen Mittler, dessen Schriften das Judäo-Christentum (St Paul) und das athenische Heidentum verbinden könnten Stanford Encyclopedia of Philosophy, URL: http://plato stanford edu/entries/pseudo-dionysius-areopagite/ #DioPer (14 02 2021) FBG Chart 297, S 149 Aus Neuwied geschrieben Mt 5–7

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weisungen für Priester in Levitikus 19,27 schreibt Hachenberg, dass Gott allen seinen Anhängern verbiete, ihre Bärte zu rasieren Er kritisiert, dass einige wie Gichtel behaupteten, der neue Bund habe den alten Bund ersetzt Hachenberg weist jedoch darauf hin, dass sich solche Menschen auch weigerten, dem neuen Bund zu folgen und die Gestalt des armen, leidenden Christus anzunehmen Stattdessen wollten sie nur den schönen und verherrlichten Christus als Vorbild Hachenberg bekennt sich zu dem Glauben, dass Christus die Gläubigen lehre, ein einfaches, nonkonformistisches Auftreten anzunehmen, das die ‚Welt‘ ablehne und notwendigerweise zur Verfolgung führen werde Das Leiden der Gläubigen sei der Preis für das Besiegen des Tods durch Christus 89 Hachenberg zitiert das Neue Testament und ermutigt Dittmar und alle Nachfolger, Jesu anstatt ‚die Welt zu lieben‘, Christus nachzuahmen – anscheinend glaubte er, Christus habe einen Bart getragen 90 Unter Berufung auf Kolosser 2: 8–9 warnt Hachenberg vor falschen Lehren Er betont, dass Menschen wie Christus handeln und aussehen sollten; alles andere laufe auf ‚die Welt‘ hinaus Hachenberg stellt die Zeichen der Welt, das Schwert, die Perücke und das Schneiden von Schläfenhaar und Bart, den Wunden Christi gegenüber 91 Hachenberg nennt diejenigen, die diese Zeichen der Welt trügen, den „Geist Hanan dieser Welt“ 92 Er vergleicht daher Gichtel und seine Forderung, dass Dittmar sich rasieren solle, mit Hanans erzwungener Rasur von König Davids Männern in 2 Samuel Hachenberg ermahnt Dittmar weiter, in „der statt der gelasenheit Jericho“ zu bleiben 93 Ebenso wie Davids Männer in Jericho hätten warten müssen, bis ihre Bärte nachgewachsen seien, sollten Dittmar und andere ‚Wiedergeborene‘ geduldig darauf warten, bis „das Malzeichen Jesu an [zu] wachsen“ beginne 94 Wie die Gesandten in 2 Samuel auf eine Rückkehr an König Davids Hof warteten, erhofften wahre Gläubige ihre Zeit am Hof des „himmlischen David“, verkündet Hachenberg 95 Schließlich prophezeit er, dass „Babel“ mit seinen kahlen Gesichtern und perückentragenden Köpfen bald zerstört werde 96

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FBG Chart 297, S 149 FBG Chart 297, S 150 Die Bibel ist in diesem Punkt nicht eindeutig und es ist nicht bekannt, inwieweit die griechisch-römische Rasierpraxis die damaligen Juden beeinflusst hat FBG Chart 297, S 152: „alle andere freÿheiten seindt gleichstelln undt der Welt … degen, peruquen, Stirn undt bart scherren, seindt die malzeichen des Geistes dieser Welt, undt nicht die malzeichen Jesu “ FBG Chart 297, S 153 FBG Chart 297, S 153 FBG Chart 297, S 153 FBG Chart 297, S 153 FBG Chart 297, S 153

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6 Fazit: Warum ein Bart nicht nur ein Bart ist … Pietistische Reformer versuchten sich von der sündigen ‚Welt‘ abzugrenzen, strebten jedoch eine universelle Reform der Welt an Adiaphora oder ‚Mitteldinge‘, die weder in der Bibel vorgeschrieben noch verboten sind, lieferten die Kriterien für die Bestimmung, wer ein ‚Kind Gottes‘ oder ein ‚Kind der Welt‘ sei Für Pietisten waren gemeinsame Praktiken wie das Tragen einfacher Kleidung und das Vermeiden von Schmuck, Tanz und Spielen äußerliche Merkmale der Gruppenzugehörigkeit, die sie von dem Großteil der Gesellschaft unterschieden Doch selbst in pietistischen Kreisen gab es eine Reihe von Standpunkten Pietistische Debatten über Adiaphora konzentrierten sich bald auf die Höfe und die Frage, wie viel Luxus ein christlicher Herrscher genießen dürfe Einige Reformer machten Ausnahmen für Adlige und argumentierten, dass ein gewisses Maß an Opulenz am Hof die göttlich festgelegte soziale Ordnung widerspiegele Bezeichnenderweise waren es nicht nur ‚kirchliche‘ Pietisten wie Philipp Jakob Spener oder August Hermann Francke, die solche Zugeständnisse machten Auch der Erzradikale Johann Georg Gichtel machte deutlich, dass er den Adel und all seine Gepflogenheiten gutheiße Vielleicht erhielten Spener, Francke und Gichtel nicht zufällig erhebliche finanzielle Unterstützung von adligen Gönnern Diejenigen, die – wie der Friseur und Reformer Johann Tennhardt – die Adiaphora allgemein für alle ablehnten, was also auch Adlige miteinschloss, neigten dazu, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten Die Bibel lieferte das symbolische Fundament für die pietistischen Debatten über die Rolle der Religion im kulturellen und sozialen Leben Eine Art Grammatik der Haare nach biblischen Vorstellungen könnte somit für eine ganze Reihe von Aussagen über die Organisation des sozialen Lebens stehen 97 Ein Bart, eine Perücke oder ein rasiertes Gesicht verständigten andere sofort über bestimmte Anschauungen Die radikalpietistischen Reformer Gichtel und Dittmar stritten sich um konkurrierende symbolische Systeme 98 Gichtels Perücke stand für Kultur, die Moderne und seinen Status als gehorsamer Untertan Gichtel hielt an dem Grundsatz fest, die göttliche Vorsehung werde den wahren Christen alles geben, was sie benötigten, und lehnte daher bezahlte Arbeit als ‚weltlich‘ ab Für seinen Lebensunterhalt verließ er sich auf

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Vgl Patrick Olivelle: Hair and Society: Social Significance of Hair in South Asian Traditions, in: Alf Hiltebeitel, Barbara D Miller (Hg ): Hair: Its Power and Meaning in Asian Cultures Albany 1998, S 11–49, hier 11–12 Über die Rolle von Individuen in solchen Systemen vgl Willem Frijhoff: Seitenwege der Autonomie Wege und Formen der Erziehung in der Frühen Neuzeit, in: Klaus Peter Horn, Rudolf W Keck, Elke Kleinau [u a ] (Hg ): Vormoderne Bildungsgänge: Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit Köln 2010, S 25–42; N Z Davis: Boundaries and the Sense of Self in Sixteenth-Century France, in: Thomas C Heller, Morton Sosna, David E Wellbery (Hg ): Reconstructing Individualism Autonomy, Individuality and the Self in Western Thought Stanford 1986, S 53–63

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die großzügigen Beiträge adliger Patrone Durch seine Perücke, sein glatt rasiertes Gesicht und sein allgemein modisches Auftreten machte Gichtel deutlich, dass er gesellschaftlich gefestigte soziale Hierarchien nicht bestritt Im Gegensatz dazu stand Dittmars Bart für Natur, Männlichkeit und männliche Autorität, und sein wilder Bart und sein raues Aussehen stellten eine Herausforderung für die bestehenden Sozialnormen dar Dittmar hielt sich nicht an soziale Standards, aber er tat dies auf eine spezifisch biblische Weise In der Tat zitierten Dittmar und seine Verbündeten in der Philadelphische Sozietät das Buch der Offenbarung und sprachen von der bevorstehenden Zerstörung der korrupten Welt und ihrer Ersetzung durch ein Reich Christi Gichtel forderte Dittmar auf, ihn mit einem Blitz niederzuschlagen, und verglich ihn damit sarkastisch mit dem biblischen Propheten Elia, dem haarigen nazir, der die Anbeter des falschen Gottes Baal blitzschnell niederschlug 99 Gichtels Aufforderung implizierte die Kritik: ‚Du magst einen Bart haben, aber du bist kein Elia ‘ Dennoch gibt es gewisse Parallelen zwischen Dittmar und Elia Während viele Pietisten eine Anstellung als Pastor oder Lehrer am Hof fanden, hatte Dittmar Mühe, eine Arbeit zu finden 1709 reiste er offenbar nach Nordamerika, wo die Reformer, die sich in Europa einem nicht geduldeten religiösen und sozialen Wandel verpflichtet hatten, ‚Zion‘ aufbauen wollten Dort bildeten sie neue Religionsgemeinschaften oder lebten sogar als Einsiedler in der Wildnis in der Erwartung von Christi Rückkehr Vielleicht lebte auch Johannes Dittmar in den Wäldern von Pennsylvania wie Elia zu seiner Zeit in einer Höhle, von göttlich gesandten Raben gefüttert Dr Lucinda Martin Germanistin und Direktorin der Bibliotheca Philosophica Hermetica und des Ritman Research Institute in Amsterdam

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1 Kön 18,25 und wieder in 2 Kön 1,10 Feuer vom Himmel war auch der Beweis für den göttlich gewählten Status von Mose (Num 16,35)

Herrschaftsordnungen und Fremdwahrnehmungen

Perfekter Halt Haare auf Reisen in der Frühen Neuzeit Alexander Schunka* Zusammenfassung: Der Beitrag behandelt europäische Haarpraktiken vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Mobilität Es geht um die Frage, wie frühneuzeitliche Zeitgenossen Haare als Markierungen von Macht- und Hierarchieverhältnissen, Geschlechterordnungen und Ausdrucksformen von Fremdheit interpretierten Haare erweisen sich in diesem Zusammenhang gewissermaßen als Hybrid zwischen Körperteil und Ding Insofern verbindet der Aufsatz Körpergeschichte mit Material Culture-Forschung Nach der Einleitung kommt zunächst die Mobilität von Haaren zur Sprache Anschließend werden frühneuzeitliche Haarpraktiken von Europäern auf Reisen thematisiert, bevor schließlich die Wahrnehmung der Haare der ‚Anderen‘ behandelt wird Abstract: This essay addresses European approaches to hair in the context of early modern mobility It focuses on issues of power and hierarchy, gender and otherness as represented in practices and depictions related to hair I argue that hair should be seen as a particularly hybrid object between body part and material thing The present chapter, therefore, attempts to link certain aspects of the history of the body with the history of material culture Its first part after the introduction deals with the mobility of hair while the following paragraphs analyze hair practices of Europeans abroad The final part investigates early modern depictions of ‘foreign’ hair

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Ich danke Merve Tekgürler (Berlin/jetzt Stanford) und Max Hochschild (Berlin) für Recherchen und Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Beitrags

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1 Einleitung Vor mittlerweile rund fünfzig Jahren hat der deutsche Humorist Loriot (1923–2011) die berechtigte Frage aufgeworfen, ob denn Hunde eigentlich fernsehen sollten 1 Seine Antwort ist nicht eindeutig: „Die Programme der Fernsehanstalten sind in der Regel besser geeignet für mittelgroße, langhaarige Hunde als für kleine, kurzhaarige “ Und weiter heißt es, „kleine dünne, langhaarige oder dicke, kurzhaarige“ sollten besser „nicht nach 21 Uhr“ fernsehen Demnach hätte also die Haarlänge – in Kombination mit anderen Körpermerkmalen – Auswirkungen auf die mentale Disposition von Hunden Rund um das Jahr 1967, als Loriots Beitrag entstand, haben manche Zeitgenossen angenommen, dass dies bei Menschen ähnlich sei Man hat von der Länge der Haare auf den Charakter ihrer Träger geschlossen 2 Schon von der Antike bis in die Frühe Neuzeit sind allerdings Haare immer wieder in Verbindung mit menschlichen Charaktereigenschaften gebracht worden Lockige oder glatte Haare deuteten jeweils auf ein bestimmtes Temperament hin, oder – wie der Schriftsteller Paul Jacob Marperger (1656–1730) dies im 18 Jahrhundert in seiner umfangreichen Monographie zum Haar- und Federhandel auf den Punkt brachte: „Krauses Haar/ krauser Sinn “3 Krauses, also lockiges oder unfrisiertes Haar stand für Wildheit und Unordnung, und wilde Haare ließen wiederum Rückschlüsse auf ihren Träger zu Wildes Haar galt nicht allein als ungepflegt, sondern unter Umständen auch als unchristlich 4 Den Gegensatz zwischen wildem, ungekämmtem und gezähmtem, d i gekämmtem Haar findet man zudem verschiedentlich in der vormodernen Kunst 5 Im 18 Jahrhundert wurde unordentliches Haar von den Zeitgenossen gelegentlich als Auflehnung gegen das Establishment gedeutet – so beim jungen Kronprinzen Friedrich von Preußen (dem späteren Friedrich II , dem Großen, 1712–1786) oder im Umfeld der pietistischen Bewegung, für deren Anhänger ‚wilde‘ Haare zum Ausdruck

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Loriots großer Ratgeber (1967); ich zitiere nach: Loriot: Das große Loriot-Buch Gesammelte Geschichten in Wort und Bild Zürich 1998, S 226–227 Vgl Stefanie Pilzweger: Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution Eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung Bielefeld 2015, S 164–182 Paul Jacob Marperger: Ausführliche Beschreibung des Haar- und Feder-Handels […] Leipzig 1717, S 4; vgl auch Art Haar, in: Johann Heinrich Zedler (Hg ): Grosses und Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd 12 (1735), Sp 12–17; Edith Snook: Beautiful Hair, Health and Privilege in Early Modern England, in: Journal for Early Modern Cultural Studies 15/4 (2015), S 22–51; Stefan Hanß: Hair, Emotions and Slavery in the Early Modern Habsburg Mediterranean, in: History Workshop Journal 87 (2019), S 160–187, hier: 173 Zum Kämmen von Haar vgl v a Julia Saviello: Verlockungen Haare in der Kunst der Frühen Neuzeit Emsdetten [u a ] 2017, S 43–57; vgl auch Dirk van Miert: The „Hairy War“ (1640–50): Historicizing the Bible in the Dutch Republic on the Eve of Spinoza, in: Sixteenth Century Journal 49/2 (2018), S 415–436, hier: 420 und passim Vgl Saviello: Verlockungen

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einer neuen, individualisierten christlichen Leiblichkeit werden konnten 6 Ordentliches und ‚sauberes‘ Haar dagegen war gekämmt, denn in ganz praktischer Hinsicht war Kämmen (neben dem Pudern) für Menschen in der Vormoderne fast die einzige Möglichkeit, ihre Haare sauber zu halten Das Waschen von Haaren mit Wasser betrachteten Mediziner als ungesund und gefährlich 7 Haare als kulturelle Markierungen spielten darüber hinaus im Rahmen von Ortswechseln eine Rolle: wenn Haarträger aus unterschiedlichen geographischen oder kulturellen Herkunftsräumen aufeinandertrafen Interkulturelle Begegnungen lassen sich in der Frühen Neuzeit häufig gewissermaßen an den Haaren festmachen, denn Haare konnten als visuell und taktil wahrnehmbare Attribute von Zugehörigkeit oder Andersartigkeit dienen Außerdem – und dies macht Haare so speziell wie interessant – sind Haare dynamische Körperteile, die sich mit weniger Aufwand verändern lassen als etwa Nasen oder Ohren (auch wenn etwa Nasenoperationen, Ohrlochstechen und sogar das Abschneiden von Ohren eine lange Tradition besitzen) Der Umgang mit dem eigenen Haar oder mit den Haaren anderer verweist über die Epochengrenzen hinweg auf bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Praktiken in einem Spannungsfeld zwischen Vertrautheit und Fremdheit Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten stehen Haarpraktiken und Haardiskurse in interkulturellen Zusammenhängen der Frühen Neuzeit im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes Den breiteren Kontext der Untersuchung bilden die spezifischen Bedingungen und Formen räumlicher Mobilität im vormodernen Europa So nähern sich die folgenden Ausführungen dem Thema „Haare auf Reisen“ aus drei unterschiedlichen Perspektiven Zunächst (2) geht es um die Mobilität von Haaren, d h um Haare als Objekte, die auch losgelöst von ihren (ehemaligen) Trägern existieren und gelegentlich quasi ein Eigenleben führen konnten Der daran anschließende Abschnitt (3) beschäftigt sich mit Beschreibungen von Haarmoden und Haarpraktiken europäischer Reisender in anderen Weltgegenden, bevor abschließend (4) Haare zur Sprache 6

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Zum jungen Kronprinzen Friedrich vgl den berühmten Brief seines Vaters vom September 1728, der unterschiedliche Männlichkeitsideale der Zeit auf den Punkt bringt: „Zum Andern weiss er wohl, dass ich keinen effeminirten Kerl leiden kann, der keine menschliche Inclinationen hat der sich schämt, nicht reiten noch schiessen kann, und dabei malpropre an seinem Leibe, seine Haare wie ein Narr sich frisiret und nicht verschneidet, und ich Alles dieses tausendmal reprimandiret, aber Alles umsonst und keine Besserung in nichts ist “ In: [Friedrich II :] Œuvres de Frédéric le Grand, hg v Johann David Erdmann Preuß, 30 Bde , Bd 27,3 Berlin 1856, S 11; URL: http://friedrich uni-trier de/de/oeuvres/27_3/11/text/ (20 8 2020) Den Habitus der Halleschen Pietisten einschließlich ihrer Haarpraktiken behandelt Christian Soboth: „Das Haar laß recht verwirrt um Kopf und Stirne fliegen“ Hallischer Pietismus, frisiert und unfrisiert, in: Holger Zaunstöck, Thomas Müller-Bahlke, Claus Veltmann (Hg ): Die Welt verändern August Herrmann Francke – Ein Lebenswerk um 1700 Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 24 März bis 31 Juli 2013 Halle 2013, S 273–287 Iris Gareis: Art Haar, in: Friedrich Jaeger (Hg ): Enzyklopädie der Neuzeit Online, URL: http:// dx doi org/10 1163/2352-0248_edn_SIM_276852 (16 8 2020) Zum Kämmen vgl auch Hanß: Hair, S 162; zum Haarewaschen ebd , S 176

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kommen, wie sie von Europäern bei Angehörigen fremder Kulturen beobachtet und interpretiert wurden Dabei wird immer wieder der einzigartige Hybridcharakter von Haaren zwischen Körperteil und materiellem Objekt in den Blick genommen Den Ausführungen liegt daher die Annahme zugrunde, dass eine Analyse frühneuzeitlicher Haarpraktiken eine interessante Brücke zwischen historisch-anthropologisch inspirierter Körpergeschichte und der Material Culture-Forschung schlagen kann 2 Haare unterwegs Wie und warum reisen Haare in der Vormoderne? Die Mobilität menschlichen Haars lässt sich in unterschiedlichen Zusammenhängen feststellen: zum Beispiel in Form von Reliquien, die aus dem Heiligen Land mitgebracht wurden, wie die Haare Johannes des Täufers, die ihren Weg bereits im Mittelalter über Konstantinopel bis nach Aachen gefunden haben 8 Zahlreiche weitere Beispiele für Haarreliquien in Deutschland, der Eidgenossenschaft und Italien ließen sich erwähnen 9 Der Königsberger Apotheker und Orientreisende Reinhold Lubenau (1556–1631) – nebenbei bemerkt: ein Protestant, dem der vermeintlich altgläubige Reliquienkult jedoch alles andere als fremd war – scheint ausgangs des 16 Jahrhunderts gar mit solchen Reliquien Handel getrieben zu haben 10 Doch Haarreliquien sind kein christliches Phänomen: Sie finden sich unter anderem auch im Islam, speziell im schiitischen Kontext So berichtete Adam Olearius (1599–1671) im 17 Jahrhundert aus Persien von heiligen Männern, die mit vermeintlichen Haaren des Propheten Mohammed in einer Schachtel herumreisten und damit wundersame Dinge vollbrachten Wenn diese heiligen Männer solche Haare an Interessenten weiterverkauften, ließ sich damit sogar einiges an Geld verdienen 11 Aus Haarreliquien scheinen sich – vor allem in der Epoche der Aufklärung – Haarandenken entwickelt zu haben, die gerade im 18 Jahrhundert verschiedentlich als

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Johann Hubert Kessel: Geschichtliche Mittheilungen über die Heiligthümer der Stiftskirche zu Aachen […] Köln [u a ] 1874, S 77–78 Vgl z B Robert Bartlett: Why Can the Dead Do Such Great Things? Saints and Worshippers from the Martyrs to the Reformation Princeton 2013, S 245 und passim; zu Reliquien als Reisemitbringseln vgl Wolfgang Treue: Abenteuer und Anerkennung Reisende und Gereiste in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (1400–1700) Paderborn 2014, S 301–306 Vgl die Übersicht über erhaltene Reliquien bei [Reinhold Lubenau:] Beschreibung der Reisen des Reinhold Lubenau, hg v Wilhelm Sahm, 2 Bde , Bd 2 Berlin 1930, S 88–93 Zur Attraktivität protestantischer Heilig-Land-Reisen im Gefolge der Reformation vgl Folker Reichert: Protestanten am Heiligen Grab, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 128 (2017), S 41–71 Adam Olearius: Vermehrte Newe Reisebeschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse […] Schleswig 1656, S 684 Nicht nur im Islam, sondern auch im Buddhismus spielen Haarreliquien eine wichtige Rolle, vgl z B Heinz Bechert: „Das Lieblingsvolk Buddhas“ Buddhisten in Birma, in: ders , Richard Gombrich (Hg ): Der Buddhismus Geschichte und Gegenwart 2 Aufl München 2002, S 169–189, hier: 188

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Briefbeilagen versandt worden sind Abgeschnittene Haare, Haarbüschel oder -locken wurden auf solche Weise – wie Christiane Holm dies etwas doppeldeutig formuliert hat – zu einem „vergangenen Zeitabschnitt“; sie dienten als „plastisches Körpergedächtnis“ 12 Die Zeit der reisenden Haare erreichte ihren Höhepunkt in Europa wohl in der Epoche des Barock, als Haare zu einem wichtigen Handelsgut wurden Seit dem 17 Jahrhundert setzten sich Perücken als Kleidungsstücke durch Haarsammler zogen durch die Lande und kauften ärmeren Menschen ihre Haare ab, um sie an Perückenmacher weiterzuverkaufen Zu Beginn des 18 Jahrhunderts herrschte ein schwunghafter Haarund Perückenhandel zwischen Mittel- und Osteuropa (Livland, Russland) 13 Kameralistische Autoren wie Johann Joachim Becher (1635–1682) unterschieden zudem nicht sonderlich klar zwischen dem Handel mit Menschen- und Tierhaaren: Menschliches konnte in der Praxis mit tierischem Haar gemischt und zur Herstellung von Perücken verwendet werden 14 Haare und Perücken reisten zwar gemeinsam mit Menschen, allerdings nicht notwendigerweise auf den Köpfen ihrer Besitzer Dies hing mit Handelswegen und Modeentwicklungen zusammen, aber auch mit bestimmten Bedürfnissen in der Fremde wie dem Wunsch, als Auswärtiger bzw Andersgläubiger so wenig wie möglich aufzufallen Speziell die Reisenden im Umfeld des Halleschen Pietismus August Hermann Franckes (1663–1727) legten großen Wert auf ein möglichst unauffälliges Reiseverhalten 15 So wurden im frühen 18 Jahrhundert die pietistischen Missionare auf dem Weg zu ihrer Wirkungsstätte im indischen Tranquebar vorab angewiesen, sowohl für ihren Zwischenaufenthalt in London als auch für ihre spätere Arbeit in Indien besonders 12 13

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Vgl Christiane Holm: Intime Erinnerungsgeflechte Memorialschmuck aus Haaren um 1800, in: Kritische Berichte: Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaft 32 (2004), S 29–41, Zitate S 31 u 38 Vgl Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 165–171 sowie 199; vgl auch die Beiträge in Jochen Luckhardt, Regine Marth (Hg ): Lockenpracht und Herrschermacht Perücken als Statussymbol und modisches Accessoire Ausstellung im Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig, 10 Mai bis 30 Juli 2006 Leipzig 2006 Zu Perücken im 18 Jahrhundert vgl ferner, mit Schwerpunkt auf Frankreich, Michael Kwass: Big Hair: A Wig History of Consumption in Eighteenth-Century France, in: American Historical Review 111/3 (2006), S 631–659 Johann Joachim Becher: Politischer Discurs Von den eigentlichen Ursachen/ deß Auf- und Abnehmens/ der Städt/ Länder/ und Republicken […] Frankfurt am Main 1668, S 54–56 Für einen ähnlichen Zusammenhang vgl Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 255–323 Zum Reiseverhalten Hallescher Pietisten vgl die Beiträge in Anne Schröder-Kahnt, Claus Veltmann (Hg ): Durch die Welt im Auftrag des Herrn Reisen von Pietisten im 18 Jahrhundert Wiesbaden 2018 Pietistische Reisestrategien beruhten zu einem großen Teil auf Instruktionen des erfahrenen Reisenden und Netzwerkers Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), der sich selbst einmal mit barocker Perücke und Tätowierung eines Heilig-Land-Pilgers porträtieren ließ Zu ihm vgl Alexander Schunka: An England ist uns viel gelegen Heinrich Wilhelm Ludolf als Wanderer zwischen den Welten um 1700, in: Holger Zaunstöck, Andreas Gestrich, Thomas Müller-Bahlke (Hg ): London und das Hallesche Waisenhaus Eine Kommunikationsgeschichte im 18 Jahrhundert Wiesbaden 2014, S 43–62

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an die Mitnahme von Perücken zu denken Dementsprechend hieß es in einer handschriftlichen Reiseanleitung: Perruquen nehme man lieber zu viel, als zu wenig aus Teutschland mit Doch nicht von weichen Haaren, denn die werden auf der Reise, und in Indien, da die Winde öffters frisch werden, gar bald ruiniret Auch ist gut, daß man weißlichte oder greuliche Perruquen nimmt, denn die gelben Haare sind unter den Engelländern nicht gewöhnlich 16

Es ging den pietistischen Reisenden also darum, möglichst nicht aufgrund ihrer ungewöhnlichen Perückentracht über Gebühr aufzufallen Zur selben Zeit wurde einem englischen Austauschschüler namens Georg Gardner, der einige Jahre in Franckes Anstalten in Halle verbrachte, verboten, sein Geld für Perücken auszugeben, um seinerseits nicht unter den gleichaltrigen deutschen Mitschülern herauszustechen: Er musste „seine eigne Haare tragen“, bis er alt genug war, um sich „selbst eine Paruque“ zu verdienen 17 Mit Perücken konnte man sich darüber hinaus auch maskieren, und man konnte sich unter ihnen verstecken Dies gilt nicht allein für die zahlreichen Maskeraden, etwa im Rahmen höfischer Feste, bei denen falsche Haare und Bärte eine wichtige Rolle spielten Auch innerhalb der zeremoniellen Abläufe des Hoflebens konnte es um Maskierung gehen, etwa beim fürstlichen Inkognito Der russische Zar Peter I (der Große, 1672–1725) etwa trug bei seiner berühmten Reise in die Niederlande die blonde Perücke eines Edelmanns Dies verweist auf den speziellen Charakter frühneuzeitlicher Inkognito-Reisen, bei denen die Protagonisten in der Regel keine völlige Geheimhaltung ihres Unternehmens anstrebten, sondern eher spielerisch einen niedrigeren Adelsrang einnahmen: Die eigentliche Identität des jeweiligen Reisenden war den meisten Kontaktpersonen nicht völlig unbekannt Als Zar Peter bei einem zeremoniellen Anlass einmal einen großen Saal durchqueren musste, zog er sich seine Perücke vors Gesicht und eilte so an den Honoratioren vorbei, damit niemand ihn erkannte – auch wenn heutigen Lesern dies nicht gerade besonders unauffällig oder ‚geheim‘ vorkommen mag 18 Einige Jahre später sollte auch Friedrich II (der Große) von Preußen in die Niederlande reisen, und zwar in der Verkleidung eines „Kapellmeisters des Königs von Polen“ und ausgestattet mit einer schwarzen Perücke 19 Bei fürstlichen Inkognito-Reisen des 17 und 18 Jahrhunderts war das passende Haar mithin ein entscheidendes Accessoire Doch nicht nur beim Inkognito berühmter Herrschaften, sondern auch in ganz anderen Milieus dienten Perücken bisweilen der Verschleierung: Wer in Mitteleuro-

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Archiv der Franckeschen Stiftungen, Missionsarchiv, 2 A 1, Nr 10e, S 17 Archiv der Franckeschen Stiftungen, Missionsarchiv, 1 E 2, Nr 55: „Specification der unnöthigen und zum theil unnützlichen Ausgaben“ für den englischen Schüler Georg Gardner Die Episode bei Volker Barth: Inkognito Geschichte eines Zeremoniells Berlin [u a ] 2013, S 117 Zum Charakter von Inkognitoreisen ebd und passim Ebd , S 153

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pa mit einer Perücke unterwegs war und sich eines Verbrechens verdächtig gemacht hatte, der musste bei der Personenidentifikation im Verhör mit der Frage nach seiner echten Haarfarbe rechnen Dabei ging es nicht unbedingt um die (dank heutiger Kriminalromane oder -filme naheliegende) Vermutung, ein Krimineller habe sich zur Ausübung seiner Tat eine Perücke übergestreift: Insinuiert wurde gelegentlich vielmehr umgekehrt, dass Verbrechen ohne Perücke begangen worden seien und sich der Delinquent erst später mit einer entsprechenden Perücke getarnt habe 20 Kritiker einer ‚Verkleidung‘ durch Perücken und Plädoyers zum offenen Tragen des eigenen Haars finden sich verschiedentlich im Umfeld der pietistischen Frömmigkeits- und Erneuerungsbewegung 21 So legt der dem Pietismus nahestehende Philipp Balthasar Sinold genannt Schütz (1657–1742) den Bewohnern seiner utopischen Glückseeligsten Insul eine beißende Kritik an der zeitgenössischen europäischen Perückenmode in den Mund: Nicht auf das durch Perücken bedeckte Haupt gelte es bei anderen Menschen zu achten, sondern auf die Reinheit des Herzens Seine fiktiven Insulaner verstanden zudem nicht, dass „die Europäer ihre falschen und geborgten Haare mit dem besten Waitzen-Mehl bestreuen […], da doch dasselbe weit nützlicher zu Stillung des Hungers einiger Armen und Nothleidenden angewendet werden könte“ 22 3 Haarträger unterwegs Haare und Bärte können Hierarchie und Status symbolisieren und verweisen auf zeitgenössische Geschlechtervorstellungen 23 Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich vorstellt, wie im frühen 18 Jahrhundert pietistische Missionare aus Mitteleuropa bei der Evangelisierungsarbeit an der ostindischen Koromandelküste unter großer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit der indigenen Bevölkerung mit barocken Perücken gegenübertraten Johann Albrecht von Mandelslo (1616–1644) wiederum trug auf seiner Orientreise im 17 Jahrhundert sein eigenes Haar in Form eines langen Zopfes, der ihm an der Seite des Kopfes herunterhing – bei einer Gruppe indischer Tänzerinnen löste dies große Verwunderung aus, denn man hielt ihn zunächst für eine Frau 24 Als sich schließlich kurz nach der Wende zum 19 Jahrhundert der englische Forschungs-

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Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, CalBr 21/4216, fol 48v: Verhör Wilhelm Klein, 29 April 1705 Vgl dazu etwa die aufschlussreichen Andeutungen im ansonsten erstaunlich knappen Artikel im Zedler Art Parucke, Perucke, in: Zedler: Universal-Lexicon, Bd 26 (1740), Sp 1092–1093 Philipp Balthasar Sinold von Schütz: Die glückseeligste Insul auf der gantzen Welt […] Königsberg 1723, S 137–139, zit S 138 Vgl z B Londa Schiebinger: Nature’s Body: Sexual Politics and the Making of Modern Science London 1993, S 120–124 [ Johann Albrecht von Mandelslo:] Des HochEdelgebornen Johan Albrecht von Mandelslo Morgenländische Reyse-Beschreibung […], hg v Adam Olearius Schleswig 1658, S 59

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reisende Mungo Park (1771–1806) eines Tages in der westafrikanischen Handelsstation Pisania seinen Bart abrasierte, verwandelte er sich dadurch „from a man into a boy“ – so hat dies angeblich sein indigener Begleiter formuliert 25 So unterschiedlich die Kontexte dieser drei Episoden – pietistische Missionsarbeit, Orientreisen und Afrikaforschung – auch sein mögen: ihre Gemeinsamkeit liegt im gebrochenen Verhältnis gegenüber Haar- und Barttrachten im interkulturellen Zusammentreffen zwischen Europäern und Nichteuropäern Abhängig von den jeweiligen Machtverhältnissen vor Ort deuten entsprechende Haarpraktiken auf Statusgewinn oder -erhalt (z B ein Auftritt mit europäischer Perücke), unter Umständen aber auch auf einen Statusverlust hin: manifestiert etwa im erzwungenen Abschneiden von Haaren Statusverlust durch Haarverlust kam in frühneuzeitlichen Kontexten insbesondere dort vor, wo Haare gegen den Willen ihres Trägers oder ihrer Trägerin abgeschnitten wurden Frauen mit Kurzhaarfrisuren hat es schon allein deshalb in der Vormoderne kaum gegeben, weil kurze Haare auf Ehrenstrafen, also Körperstrafen, hindeuteten Die wenigen kurzhaarigen Frauen, auf die man treffen konnte, hatten in der Regel ihre Haare durch eine solche Ehrenstrafe verloren, was kein gutes Licht auf sie warf 26 Ansonsten waren es vor allem militärische oder quasi-militärische Zusammenhänge, in denen die Sieger den Verlierern die Haare abschnitten Auch die Praktiken des Skalpierens im nordamerikanischen Raum gehören in diesen Zusammenhang, wobei hier der Skalp zudem als materielle Trophäe verstanden werden muss In einem der zahlreichen Captivity Narratives, die seit dem späten 17 Jahrhundert kursierten, ist sogar die Rede davon, dass eine weiße Gefangene – Hannah Duston (1657–1736) – zehn ihrer indigenen Peiniger eigenhändig skalpiert habe 27 Hier hat man es mit einer spezifischen Umkehrung frühneuzeitlicher Geschlechter- und Machtverhältnisse zu tun: etwas, das die Historikerin Natalie Zemon Davis einst in ganz anderem Zusammenhang unter der Überschrift „Women on Top“ behandelt hat 28 Dass Hannah Duston nach den Aufzeichnungen eines puritanischen Geistlichen die Natives skalpiert und ihnen nicht etwa die Bärte abgeschnitten hatte, verweist auf gewisse Unterschiede bei körperlichen Unterwerfungspraktiken in kriegerischen

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Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790–1870 Paderborn 2014, S 144; Mungo Park: Travels in the interior districts of Africa in the years 1796 and 1797 (1799), 5 Aufl London 1807, S 534 Vgl Gareis: Haare Die Geschichte von Hannah Duston zunächst bei Cotton Mather: Magnalia Christi Americana: Or the Ecclesiastical History of New England [1702], 2 Bde , Bd 2 Hartford 1853, S 634–636; zur Rezeption vgl Sara Humphreys: The Mass Marketing of the Colonial Captive Hannah Duston, in: Canadian Review of American Studies 41/2 (2011), S 149–178 Natalie Zemon Davis: Women on Top: Symbolic Sexual Inversion and Political Disorder in Early Modern Europe, in: Barbara Babcock (Hg ): The Reversible World: Symbolic Inversion in Art and Society Ithaca 1978, S 147–190

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Zusammenhängen zwischen Neuer und Alter Welt Es passte zugleich allerdings gut zur verbreiteten europäischen Vorstellung, wonach die amerikanischen Ureinwohner gar keinen Bartwuchs hatten (analog dazu nahm man übrigens auch an, dass indigene Frauen nicht menstruierten) 29 Im europäisch-mediterranen Raum waren es demgegenüber häufig Bärte, deren erzwungenes Abschneiden einen Statusverlust bei der unterlegenen Seite herbeiführen sollte Betroffen von dieser entehrenden Praxis waren insbesondere die vielen tausend versklavten Europäer im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum: Beim Abschneiden ihrer Haare handelte es sich um ein Ritual der völligen, auch körperlichen Unterwerfung, des Verlusts von Macht über den eigenen Körper,30 das gefangene Christen durch muslimische Sklavenhalter über sich ergehen lassen mussten und das sie in den zahlreich überlieferten Gefangenenberichten wiederholt beschrieben: Das Abschneiden der Haare folgte in der Regel jeweils dem Entkleiden der Gefangenen Der ungarische Lutheraner Georg/Juraj Lani (1646–1701) hatte ausgangs des 17 Jahrhunderts nicht nur erlebt, wie die muslimischen Osmanen und Tataren Gefangene machten und mit ihnen umgingen, sondern er kannte auch die Vorgehensweise der katholischen Seite gegenüber Protestanten Ihm zufolge galten die Muslime gegenüber den Papisten als menschlicher, denn sie rasierten den Gefangenen angeblich nur das Haupthaar ab, nicht jedoch den Bart 31 Lani war zwar nicht der einzige, der eine derartige Beobachtung festhielt Doch liegen gleichzeitig weit mehr Belege darüber vor, dass Muslime sehr wohl Christen die Bärte abnahmen – teils in Form grausamer, erniedrigender Rituale und unter Androhung (weiterer) körperlicher Gewalt 32 Dies geschah nicht nur zu Beginn einer Gefangenschaft, sondern regelmäßig und gemeinsam mit der Haarrasur alle fünf Tage 33 Wer sich dagegen wehrte, weil er den Verlust seines Haars als „Weibisch und Hürisch“ emp-

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Schiebinger: Nature’s Body, S 124 Vgl Penny Howell Jolly: Hair Power, in: dies (Hg ): Hair: Untangling a Social History Saratoga Springs 2004, S 59–73; sowie Hanß: Hair, S 167–172 Juraj Lani: Kurtzer und doch wahrhafftiger Historischer Extract Von der grausamen und fast unerhörten Papistischen Gefängnüß […] Leipzig 1681, § 17, S X iii r–v Im Sinne einer Exegese einschlägiger alttestamentlicher Stellen innerhalb dieser hochkonfessionalisierten Publizistik könnte es sich bei den Schilderungen von Haarverlust auch um einen Ausdruck von Trauer handeln Ich danke Max Hochschild für diesen Hinweis Vgl Hanß: Hair, S 168–169, v a anhand des Berichts des Michael Heberer von Bretten (ca 1560– ca 1623) Vgl auch die Beschreibung eines Barbieraufenthalts bei Joseph Pitts: True and Faithful Account of the Religion and Manners of the Mohammetans, with an Account of the Author’s Being Taken Captive [1704], in: Nabil Matar, Daniel Vitkus (Hg ): Piracy, Slavery and Redemption: Barbary captivity narratives from early modern England New York 2001, S 218–340, hier: 311 So der gefangene Söldner Hans Breisinger, zit bei Ralph C Müller: Prosopographie der Reisenden und Migranten ins Osmanische Reich (1396–1611), 10 Bde , Bd 1 Leipzig 2006, S 398 Zum Auffinden der im Folgenden genannten Stellen in den zahllosen frühneuzeitlichen Orientreiseberichten habe ich meine eigenen Vorarbeiten sowie die hilfreiche zehnbändige Prosopographie von Ralph C Müller genutzt: Müller: Prosopographie Nach Möglichkeit wurden die Stellen an den Originalen überprüft

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fand, dem blieb nichts anderes übrig, als sich den Bart selbst abzurasieren 34 In dieser Hinsicht handelte es sich beim Haare- und Bartschneiden um eine regelmäßige, nahezu beliebig erneuerbare körperliche Vergewisserung über den Status der Unterwerfung – so wie im frühneuzeitlichen Europa alle möglichen Gesetze und Verordnungen in bestimmten Abständen fast unverändert wiederholt wurden, um Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse aufzufrischen 35 Der Orientreisende Salomon Schweigger (1551–1622) erklärte das Abschneiden von Haaren und Bart bei versklavten christlichen Europäern im islamischen Mittelmeerraum damit, dass die Sklaven während ihrer schweren Arbeit bei heißen Temperaturen „vor dem Schweis und Vnzifer ruh haben/ vnd nit an der Arbeit verhindert werden“ 36 Demnach hätten hygienische Erwägungen dieser Praxis zugrunde gelegen – auch, weil wöchentliches Haareschneiden ebenso wie Rasieren unter lokalen Muslimen ebenfalls gebräuchlich gewesen seien 37 Hygienische Gründe standen zudem hinter der Praxis, Sklaven regelmäßig eine kleine Summe Geldes auszuzahlen, das sie dann für Seife, Badbesuche und Haareschneiden zu verwenden hatten 38 Nur christlichen Gefängnisinsassen ließen die muslimischen Wächter unter Umständen die Haare wachsen – hier wohl als Zeichen von Vernachlässigung 39 Wenn Sklaven irgendwann einmal aus der Hand ihrer muslimischen Besitzer flohen, dann versteckten sie sich so lange, bis ihnen Haare und Bart wieder gewachsen waren, damit man sie nicht sofort als entlaufene Sklaven identifizieren konnte – so beschreiben dies ein Zeitgenosse Schweiggers, der Orientreisende Stefan Gerlach (1546–1612), ebenso wie andere Beobachter des Sklavenlebens in der Levante 40 Einiges spricht also dafür, dass der Bericht des ungarischen Lutheraners Georg Lani über Osmanen und Tataren, die ihre Gefangenen die Bärte behalten ließen, kei-

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So bei Michael Heberer: Aegyptiaca Servitus: das ist/ Wahrhafte Beschreibung einer Dreyjährigen Dienstbarkeit […] Heidelberg 1610, S 100 (vgl Müller: Prosopographie, Bd 5, S 23) Vgl Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23/4 (1997), S 647–663 Salomon Schweigger: Ein newe Reyßbeschreibung auß Teutschland Nach Constantinopel und Jerusalem […] Nürnberg 1608, S 97 [Samuel Kiechel:] Die Reisen des Samuel Kiechel, hg v Konrad Haßler Stuttgart 1886, S 267– 268 Johann Wild: Neue Reysbeschreibung eines Gefangenen Christen Nürnberg 1623, S 28 (vgl Müller: Prosopographie, Bd 10, S 184) So der im sogenannten Schwarzen Turm eingesperrte Friedrich Seidel, vgl [Friedrich Seidel:] Friedrich Seidels Merckwürdige Reisebeschreibung Leipzig 1733, S 72–73 (vgl Müller: Prosopographie, Bd 8, S 349) [Stephan Gerlach:] Stephan Gerlach des Aeltern Tage-Buch […] Frankfurt am Main 1674, S 494: „[…] sie verbergen sich bey einem Christen etliche Wochen/ bis ihnen Kopff- und Bahrtahner [sic] (dann in den Gefängnissen wird Ihnen alles Haar/ wegen des Ungeziefers/ glatt hinweg geschoren) wieder wachsen/ und lassen sich anderst kleiden/ als dann streichen sie davon “ Vgl auch Heberer: Aegyptica Servitus, S 213 (vgl Müller: Prospographie, Bd 7, S 345) Etwas anders werden die langen Bärte vormaliger Sklaven interpretiert bei Hanß: Hair, S 170

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ne übliche Praxis schildert, sondern vielmehr gegen die katholische Seite polemisiert Denn bei Lani schwingt ein beliebter Topos protestantischer Gefangenenliteratur mit, der bereits aus der Reformationszeit bekannt ist: Demnach sitze der wahre Antichrist nicht in Konstantinopel, sondern in Rom 41 Gemäß dem dahinter stehenden konfessionspolemischen Narrativ können bzw müssen die ‚Papisten‘ schlimmer sein als die Muslime Haare dienen in diesem Zusammenhang daher nicht (nur) als ethnokulturelle, sondern mehr noch als konfessionelle Markierung Im christlich-muslimisch-jüdischen Mittelmeerraum der Frühen Neuzeit präsentierte sich auswärtigen Besuchern nicht allein eine große Vielfalt der Ethnien und Religionen, sondern auch der Haare So trafen auf Gesandtschaftsreisen westlicher Diplomaten ins Osmanische Reich, die von vielen Mitreisenden mit einer Weiterfahrt ins Heilige Land verbunden wurden, Langhaarige und Kurzhaarige direkt aufeinander: Muslimische Osmanen trugen ihr Haar kurz und gingen jede Woche zum Barbier (in der Regel verbunden mit dem Freitagsgebet) Griechische Geistliche wiederum schnitten ihr Haar nie – zu Beginn des 16 Jahrhunderts unterschieden sich griechische Männer von den muslimischen Türken außerdem schon auf den ersten Blick dadurch, dass die einen einen Vollbart trugen und die anderen einen Schnauzbart 42 Europäische Pilger auf dem Weg ins Heilige Land trugen ihr Haar im 16 Jahrhundert so lang, dass sie darin sogar Wertsachen verstecken konnten 43 Wer von ihnen unterwegs im Jordan badete und nicht schwimmen konnte, der konnte darauf hoffen, an seinen langen Haaren wieder herausgezogen zu werden In einem Fall ging dies schief, und der Pilger ertrank; ein Fall von nicht ganz perfektem Halt (um den Titel des vorliegenden Beitrags in Erinnerung zu rufen) 44 Zum Nachlass eines anderen Pilgers, der im Heiligen Land verstorben war, gehörte immerhin ein „Haartuch“, mit dem der ehemalige Besitzer seine langen Haare – vermutlich beim Schlafen – in Ordnung gehalten hat-

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In zahlreichen Reise- und Gefangenenberichten der Zeit schnitten im Vergleich zu den Katholiken die Muslime besser ab, vgl z B [Richard Hasleton:] Strange and Wonderful Things Happened to Richard Hasleton […] in His Ten Years’ Travails in Many Foreign Countries [1595], in: Matar, Vitkus (Hg ): Piracy, Slavery and Redemption, S 71–95 Ähnliches gilt etwa für Jean de Léry, Michael Heberer von Bretten, John Smith oder Stefan Pilarik [Kiechel:] Reisen des Samuel Kiechel, S 444 Zu den Bartmoden vgl [Arnold von Harff:] Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff […], hg v Eberhard von Groote Köln 1860, S 73: „item eynen Greken ind eynen Turcken kent man an den berdden, as der Turck scheirt vnden off dem kynne den bart gantz aeff ind behelt dat haer boeuen deme monde lanck wassende, dat dreyt he wie tzweyn beren tzeyncle ind der Greecke kurtzt den vndersten bart bij nae off eyn vyngerbreyt ind leyst dat hair boeuen dem munde in des Turcken gestalt wassen “ „Dann die Ritter hatten alle lange haar/ und hatten ihr Gelt und Kleinodien/ mit Bech hinden in der Anckel in das haar eingekleibt und gebicht/ daß also die Mohren vber alles fleissiges suchen/ kein Gelt bey ihnen finden konten “ Michael Heberer: Aegyptiaca Servitus, S 102 „Ich het den armen Menschen erwüscht bei dem Har, mocht Im aber nit zw lannd helfen […] “ Reinhold Röhricht: Zwei Berichte über eine Jerusalemfahrt (1521), in: Zeitschrift für deutsche Philologie 25 (1893), S 163–220, hier: 191 (vgl Müller: Prosopographie, Bd 1, S 113)

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te 45 Vor diesem Hintergrund wird nochmals – auch visuell – vorstellbar, welch große Veränderung es bedeutete, wenn den christlichen Sklaven Haare und Bart komplett abgeschoren wurden 4 Die Haare der Anderen Auf Reisen wurden die Haare und Bärte fremder Menschen genau betrachtet, nach Möglichkeit sogar angefasst und oft ausführlich beschrieben;46 unvertraute Frisuren und Haarpraktiken riefen bei europäischen Beobachtern gelegentlich Erstaunen und Überraschung hervor, sie stellten Geschlechtervorstellungen ebenso in Frage wie heimische Hygienevorstellungen Christliche Autoren scheinen sich gelegentlich – aus den gerade geschilderten, nachvollziehbaren Gründen – geradezu obsessiv für das Haar der Muslime interessiert zu haben So spielten Praktiken des Abschneidens der Haare von Christen durch die muslimischen ‚Türken‘ nicht allein in westlichen Reise- und Gefangenenberichten eine prominente Rolle Diese Episoden fanden ihren Weg auch in die unterhaltende Literatur, etwa in Georg Philipp Harsdörffers (1607–1658) Geschichtsspiegel und auch in Paul Jacob Marpergers schon erwähntes Buch über den Haar- und Federhandel aus dem frühen 18 Jahrhundert 47 Was beide Autoren zudem gleichermaßen faszinierte, war allerdings eine andere Praxis aus dem islamischen Bereich Wer nämlich nach islamischem Gesetz leben wollte – und entsprechende Konvertiten gab es zum Leidwesen christlicher Autoren der Zeit nicht wenige48 –, der musste sich auch an allen anderen Stellen des Körpers von Haaren befreien 49 Die Praxis des Entfernens von Achsel- und Schamhaaren beruhte auf frühislamischen Rechtsauffassungen 50 Schon der Fugger-Agent und Orient45 46

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Müller: Prosopographie, Bd 8, S 23 Der Ostindienreisende Johann von der Behr zeigte sich überrascht, dass Chinesen das Berühren ihrer Bärte nicht zuließen: „Und ist dahero nicht wenig sich zu verwundern/ daß sie ihre Bärthe niemahlen von einigem betasten lassen/ weilen sie unzweifentlich Sorge tragen/ es möghte ihnen auch das wenige vollends ausgerauffet […] werden “ Johann von der Behr: Diarium: Oder Tage-Buch […] Breslau 1668, S 29 Georg Phillip Harsdörffer: Der Geschichts-Spiegel: verweisend hundert denckwürdige Begebenheiten […] Nürnberg 1654, S 522, 524; vgl auch Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 158 An anderen Stellen seines Werkes rezipiert Marperger einiges an Reiseliteratur und landeskundlichen Werken Vgl Tobias Graf: The Sultan’s Renegades: Christian-European Converts to Islam and the Making of the Ottoman Elite, 1575–1610 Oxford 2017; Tijana Krstic: Contested Conversions to Islam: Narratives of Religious Change in the Early Modern Ottoman Empire Stanford 2011 Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 344; vgl auch Harsdörffer: Geschichts-Spiegel, S 522, 524–525 Lena Salaymeh: The Beginnings of Islamic Law: Late Antique Islamicate Legal Traditions Cambridge 2016, S 121–122

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reisende Hans Dernschwam (1494–1568/69) beschrieb dies im 16 Jahrhundert in seinem – erst mehrere hundert Jahre später gedruckten – Tagebuch sehr genau, und zwar anhand eines Aufenthalts im Hamam, wo man das Problem mit Hilfe einer Paste aus Arsenik und ungelöschtem Kalk löste Ähnliches findet sich beim Nürnberger Söldner Johann Wild (1585–nach 1619) 51 So wie eine Beschneidung nicht als hinreichend für die Konversion zum Islam galt, aber doch in diesem Zusammenhang durchaus üblich war, scheint auch die muslimische Haarentfernung an den sogenannten „heimlichen Orten“ auf ähnliche Weise interpretiert worden zu sein 52 Die Praxis des Entfernens von Körperbehaarung verweist nicht allein auf religiöse Traditionen, sondern auf Körperpraktiken und Hygienevorstellungen, die sich je nach kulturellen Räumen unterschieden Im ostmitteleuropäischen Kontext ist hier die sogenannte Plica polonica zu erwähnen, der Weichselzopf oder Wichtelzopf Dieses Phänomen ist zeitgenössisch als hygienisches und auch als medizinisches Problem beschrieben worden; bei auswärtigen Beobachtern sorgte es für Erstaunen und Abscheu Bei der Plica polonica handelte es sich um eine Verfilzung von Kopfhaaren, die wohl noch im 16 Jahrhundert in ganz Mitteleuropa verbreitet war, danach aber vor allem in Polen auftrat Was man heute in ähnlicher Form als Dreadlocks kennt, existierte in Ostmitteleuropa teils als Haarmode, teils auch als Resultat anderer Hygienevorstellungen über Jahrhunderte hinweg Da in der Frühen Neuzeit die Haare üblicherweise nicht gewaschen, sondern allenfalls gepudert und ausgekämmt wurden, konnten sich derartige Verfilzungen bilden, die Ungezieferbefall und Erkrankungen der Kopfhaut auslösten Westeuropäische Besucher Polens diskutierten im 17 und 18 Jahrhundert darüber, ob es sich bei der Plica polonica um eine (möglicherweise ansteckende oder erbliche) Krankheit handle und ob es denn stimme, dass sie mit Schnupfen und Gliederreißen einhergehe Außerdem wurde überlegt, ob das Abschneiden der befallenen Haare zu ihrer Bekämpfung hilfreich sei oder ob dadurch die Krankheit nur viel schlimmer zurückkomme Im Schlesien des 18 Jahrhunderts schickten schließlich habsburgische Behörden spezielle Kommissionen durchs Land, die nach einer Bestandsaufnahme der Bevölkerung ein energisches „Auskämmen“ der Plica befahlen 53 Es scheint, dass 51

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Hans Dernschwam: Tagebuch einer Reise nach Konstantinopel und Kleinasien (1553/55), hg v Franz Babinger Berlin 1986, S 54; vgl dazu u a auch Schweigger: Reyßbeschreibung, S 115; [Kiechel:] Reisen des Samuel Kiechel, S 268; Wild: Neue Reysbeschreibung, S 191; vgl Hanß: Hair, S 162 Das Zitat nach Wild: Neue Reysbeschreibung, S 191 Anton Tantner: Wahrheitsproduktion durch „Auskampelung“: Zum Kampf gegen den Wichtelzopf, in: Martin Scheutz, Vlasta Vales (Hg ): Wien und seine WienerInnen: Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte Festschrift für Karl Vocelka zum 60 Geburtstag Wien [u a ] 2008 Vgl ansonsten zeitgenössisch Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 51–53, sowie aus aktueller medizingeschichtlicher Sicht knapp Axel W Bauer: Der „Weichselzopf “ in medizinhistorischer Perspektive: Eigenständige Hautkrankheit oder mythologisches Konstrukt, in: Aktuelle Dermatologie 30 (2004), S 218–222, URL: https://www thieme-connect de/products/ejournals/ pdf/10 1055/s-2004-814589 pdf (26 08 2020)

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viele Elemente des umfangreichen europäischen Diskurses über die Plica polonica eine vermeintliche zivilisatorische Rückständigkeit des östlichen Mitteleuropa im 18 Jahrhundert belegen sollen, die sich gleichsam an den Haaren festmachen ließ Zugleich aber wirkte die Plica polonica auf auswärtige Beobachter deshalb so schockierend, weil sie das Gegenteil von dem zu sein schien, was Haar ansonsten ausdrücken sollte: Ordnung, Schönheit und Gesundheit 54 Im westlichen, vermeintlich fortschrittlicheren und zivilisierteren Teil Europas galten zur selben Zeit Haare ebenfalls als Markierungen, die Reisenden (und der späteren Leserschaft ihrer Berichte) bei der Identifikation und Einordnung fremder Menschen und neuer Bekanntschaften halfen Dies sei am Beispiel zweier gelehrter Westeuropareisender des frühen 18 Jahrhunderts verdeutlicht: Für Zacharias Konrad von Uffenbach (1683–1734)55 und mehr noch für seinen Zeitgenossen Gottlieb Stolle (1673–1744) diente das Haar zur ersten Einschätzung ihres jeweiligen Gegenübers Bei Stolle spielt Haar – und insbesondere dessen Sichtbarkeit – eine wichtige Rolle; mehrfach vermerkte er, wenn jemand sein „eigen Haar“ und keine Perücke trug Haare und Frisuren stehen bei ihm für Alter und charakterliche Disposition ihrer Träger, fehlende Perücken für religiösen Nonkonformismus – was an die Perückenfeindschaft mancher Pietisten zur selben Zeit erinnert 56 Die Haartrachten und Haarmoden, die frühneuzeitliche Reisende unterwegs zu Gesicht bekamen, erhöhten bei ihnen unter Umständen ein Gefühl von Fremdheit und Exotik Oder anders formuliert: Reisende haben in ihren Berichten die Fremdheit entfernter Weltgegenden auch anhand von Unterschieden in der jeweiligen Haartracht hervorgehoben So etwa der Ostasienreisende Johann von der Behr (ca 1615–ca 1692), der im Auftrag der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) 1644 nach Batavia, dem heutigen Jakarta, gelangte und die Haare der chinesischen Einwohnerschaft wie folgt beschrieb: Ins gemein aber lassen sie ihre Haare/ darauf sie viel Zeit und Kosten spendiren/ durch die Barbierer alle 8 Tage reinigen/ und auf der Weiber Manier entweder in Zöpffe schlagen/ oder schneckweise legen/ mit einer mitten durchgezogenen silbernen Haarnadel/ und haben zu Ende der Haare einen Kamm von Schildkröten/ darüber sie ein schwartzes Pferdhärnes Netz […] zu ziehen pflegen Wer wolte aber nicht ehe ein Weibs-Person/ als einen männlichs Geschlechts/ aus nur berührtem Habit erkennen?57

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Vgl zu diesem Aspekt Snook: Beautiful Hair [Zacharias Konrad von Uffenbach:] Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland, Engelland, 3 Bde , Bd 2 Ulm 1753, S 299 (zu Jacob Rhenferd in Franeker); Bd 3, S 63 (zu William Whiston in Cambridge) Ich danke Martin Mulsow für die Einsicht in das Manuskript des Stolle-Tagebuchs, das in Kürze in einer gedruckten und zitierfähigen Edition vorliegen wird: Gottlieb Stolle: Eine Reise durch die Gelehrtenrepublik Journal der Jahre 1703/04, hg v Martin Mulsow Wiesbaden 2023 (i Vorb) Behr: Diarium, S 30

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Die chinesischen „Haar-Narren“ Batavias stellten Behr zufolge (wie auch in anderen interkulturellen Zusammenhängen) mitgebrachte Geschlechterzuordnungen in Frage:58 Sie trugen dazu bei, Vorstellungen von männlicher und weiblicher Haartracht in Zweifel zu ziehen, wobei für die Betrachter nicht etwa die Länge des Haares den Ausschlag gab, sondern seine aufwändige Pflege und kunstvolle Drapierung Doch Geschlechterordnungen waren nicht der einzige Bereich heimischer Vorstellungen, der unterwegs in Frage gestellt wurde: Nicht immer handelte es sich nämlich bei den Langhaarigen um die ‚Wilden‘ und bei den Kurzhaarigen um die Zivilisierten In der osmanisch beherrschten Levante des 16 Jahrhunderts waren, wie oben bereits dargestellt, die Kurzhaarigen gleichsam die Exoten – vertraute Menschen trugen langes Haar Auch wenn es sich bei den hier präsentierten Beobachtungen natürlich nur um Momentaufnahmen handeln kann, die eigentlich einer viel genaueren Untersuchung bedürften, so soll abschließend doch zumindest darauf hingewiesen werden, dass sich Reisende durchaus auch zum zeitlich-historischen Wandel von Bart- und Haartrachten äußerten Das Fremde – und dies gilt selbstverständlich auch für das fremde Haar – ist keineswegs immer im Sinne des Soziologen Georg Simmel (1858–1918) geschichtslos oder statisch; entsprechende Veränderungen werden, wenn möglich, notiert: zum Beispiel bei den osmanischen Janitscharen, die sich laut dem Arzt Leonhard Rauwolff (1535–1596) im späten 16 Jahrhundert von ihren angsteinflößenden, „scheutzlichen Knebelbärten“ früherer Zeiten getrennt hatten und nun einfach ihre Bärte wachsen ließen 59 Wer allerdings als christlicher Europäer selbst mit einem solchen Knebelbart aus fernen Ländern zurückkam, der konnte gelegentlich für einen „Türckischen kundtschaffter“ gehalten werden und sich im Gefängnis wiederfinden 60 Zwar wurden Veränderungen in den Haar- und Barttrachten registriert und teils goutiert, doch räumliche oder soziale Grenzüberschreitungen, die sich an Bart und Haaren festmachten, stellten gelegentlich ein Problem dar und wurden entsprechend stigmatisiert So hat sich denn auch der Barockschriftsteller Georg Philipp Harsdörffer nicht recht entscheiden wollen, ob denn nun lange oder kurze Haare besser oder gesünder für ihre Träger seien Seinen Lesern empfahl er, sich bei der Haartracht einfach nach den jeweiligen Landessitten zu richten, denn dann könne wenig schiefgehen Regionale Gebräuche, eigene Persönlichkeit und individuelle Beschaffenheit von Kopf und Haaren seien zu beachten Diejenigen Menschen, die dem Landesgebrauch „nicht 58 59 60

Ebd Vgl die recht ausführliche Beschreibung der Haar- und Barttracht der Janitscharen bei Leonhard Rauwolff: Aigentliche Beschreibung der Raiß […] Lauingen 1583, S 83 (vgl Müller: Prosopographie, Bd 7, S 373) So ein Freund des Hans Ulrich Krafft, vgl Konrad Haßler (Hg ): Reisen und Gefangenschaft Hans Ullrich Kraffts Stuttgart 1861, S 370 (vgl Müller: Prospographie, Bd 5, S 46) Die Stelle ebenfalls bei Hanß: Hair, S 170

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folgen/ die sind Sonderlinge/ welche sich mehr veracht/ als beliebt machen“ 61 Noch drastischer formulierte Paul Jacob Marperger im 18 Jahrhundert eine ähnliche Warnung entlang den Linien zeitgenössischer Modekritik Dabei berief er sich auf das Alte Testament: Man solle keine fremden Haarmoden übernehmen, weil Gott „diejenigen im Zorn heimbsuchen will, die ein frembd Kleid tragen“ (Zef 1,8) 62 Harsdörffer wie Marperger dürften bei derlei Warnungen eher an Perücken und weniger an den Weichselzopf gedacht haben 5 Schluss Die bisherigen Ausführungen haben versucht, eine Verbindung zwischen frühneuzeitlichen Haarpraktiken und Mobilität herzustellen Dabei wurden Haare als kulturelle Markierungen betrachtet und zugleich als veränderliche körperliche Attribute Haare erweisen sich gewissermaßen als Hybrid zwischen einem Bestandteil des menschlichen Körpers und materiellen Objekten, die vom Körper ablösbar sind Sie können gleichsam vom Körperteil zum Ding werden Haarpraktiken besitzen zudem nicht allein eine Geschlechterdimension, sondern dienen im Rahmen frühneuzeitlicher Mobilität als soziale und interkulturelle Marker Man könnte Haare daher vielleicht als intersektionale Objekte bezeichnen 63 Oder einfacher formuliert: Von den Haaren schloss man gerne auf ihre Träger Selbst auf Menschen beschränkt sich dies nicht – im Unterschied zu Loriot im 20 Jahrhundert waren es bei Paul Jacob Marperger rund zweihundert Jahre früher nicht Hunde, sondern Pferde: „so bemercket man auch an denen Thieren/ eben wie an den Menschen unterschiedliche Farben von Haaren/ welche dann zugleich vornemlich aber an denen Pferden von ihren Temperament nachricht geben“ Und weiter: „Nachdem nun ein Roß von dieser oder jener Haupt-Farb viel oder wenig hat, nach dem wird auch das Temperament starck oder schwach in dem Pferde seyn “64 Anders als der deutsche Humorist des späten 20 Jahrhunderts äußert sich Marperger jedoch nicht zu den Gefahren tierischen Medienkonsums Dr Alexander Schunka Historiker und Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Freien Universität Berlin

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Harsdörffer: Geschichts-Spiegel, S 528 Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 216 Zur Intersektionalität in der Geschichtswissenschaft (der Frühen Neuzeit) vgl z B die Beiträge in Florian Kühnel, Matthias Bähr (Hg ): Verschränkte Ungleichheit: Praktiken der Intersektionalität in der Frühen Neuzeit Berlin 2018 Marperger: Haar- und Feder-Handel, S 12–14 Zu menschlichen Haarfarben und ihrer Interpretation in historischer Perspektive vgl Ralf Junkerjürgen: Haarfarben Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart Köln [u a ] 2009

Der Zopf als Argument Skizze einer Wissensgeschichte der Haare in China Ines Eben v Racknitz Zusammenfassung: Die Europäer, die nach der Öffnung des Qing-Reiches 1860 das Land bereisten, interessierten sich insbesondere für Haartracht und Kleidung der chinesischen Bevölkerung Dabei sammelten sie die unterschiedlichsten Informationen zum Gesamtbild Innerhalb Chinas, vor Ort, entstand eine erstaunlich differenzierte ‚Wissengeschichte‘ zur chinesischen Haartracht und Kleidung im Allgemeinen, außerhalb von China hingegen, z B in Europa, näherte man sich dem Thema mit einer orientalisierend-abwertenden Haltung Der Zopf als männliche Haartracht in China während der Qing-Zeit (1644–1911) war tatsächlich ein vielfältiger Bedeutungsträger und wurde entsprechend dem sozialen und kulturellen Kontext in China und im Ausland unterschiedlich eingeordnet Im Hinblick auf die Konstruktion von ‚Wissen‘ wird hier sowohl die Einführung als auch die Abschaffung des mandschurischen Zopfes im China der Qing-Zeit diskutiert Abstract: Europeans, who traveled to China after the opening of the Qing Empire in 1860, were particularly interested in the hairstyle and clothing of the Chinese They collected a wide variety of information Within China then, an astonishingly differentiated knowledge emerged about Chinese hair and clothing in general, while outside of China, e g in Europe, the subject was approached with an orientalizing and derogatory attitude The braid or queue as a male hairstyle in China during the Qing period (1644–1911) was indeed a multivalent symbol and was classified differently according to the social and cultural context in China and abroad Under the question of the construction of ‘knowledge’, both the introduction and the abolition of the Manchurian braid in China in the Qing period are discussed

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1 Einführung: Wahrnehmung des chinesischen Zopfes in China und Europa Im Jahre 1894 erschien in Leipzig ein Buch des deutschen Chinadiplomaten der ersten Stunde, Max Scipio v Brandt, unter dem Titel Aus dem Lande des Zopfes – Plaudereien eines alten Chinesen und mit einer Widmung an seine Freunde in Ostasien zu freundlichen Erinnerung 1 Im Vorwort klärt von Brandt seine Intention: dem interessierten Leser zu erklären, wie man in China isst und lebt, was ihm insofern als wichtig erscheint, als das Land global gesehen täglich wichtiger zu werden scheint So schreibt er: Ein Land, das ein Drittel des bewohnbaren Teils Asiens umfasst und mindestens 280 000 000 Bewohner zählt, ist ein höchst ansehlicher Faktor in der Geschichte des Menschengeschlechts, und wir haben alle Veranlassung, ihn uns recht genau anzusehen und zwar so, wie er ist, und nicht, wie wir ihn haben möchten 2

Der Zopf kommt dann länger nicht mehr vor, nur einmal, als er davon schreibt, dass es natürlich auch Aberglauben gebe: „Papiermänner fliegen durch die Luft und schneiden Zöpfe ab, und Missionäre werden verfolgt und ermordet, weil sie den Toten die Augen rauben, um aus ihnen ein Elixir zur Anfertigung von Gold zu machen “3 Das Buch ist ausgesprochen klassisch aufgebaut Brandt beschreibt zunächst die klimatischen Bedingungen Chinas, bevor er den Leser mit der Geografie des Landes vertraut macht Was dann folgt, ist eine Beschreibung chinesischer Lebensart, der Sitten und Gebräuche, der Art des Geschäftemachens, der Sonderbarkeiten des chinesischen Rechtssystems Aber seine Absicht mit diesem Buch ist klar: In unseren Beziehungen zu China wird es jedenfalls gut sein, nicht zu vergessen, daß wir es mit einer gleichberechtigten Nation, der Trägerin einer viel älteren Zivilisation als unserer eigenen zu tun haben, deren Eigenthümlichkeiten wir schonen und achten müssen, selbst da, wo sie uns schwer verständlich erscheinen 4

In einer Form von positivem Orientalismus also liefert Max v Brandt Argumente für eine respektvolle Haltung gegenüber China in einer Zeit, da das positive Chinabild der europäischen Aufklärung zumindest innerhalb Europas einer abwertenden, semikolonialen Haltung und Sichtweise gewichen war 5 Max von Brandt muss als ausgezeichneter Chinakenner gelten: Bereits 1861 kam er das erste Mal nach China, im Gefolge des Grafen Eulenburg, um für Deutschland den 1 2 3 4 5

Max von Brandt: Aus dem Lande des Zopfes Plaudereien eines alten Chinesen Leipzig 1894 Ebd , S 117 Ebd , S 120 Ebd , S 124 Vgl Klaus Mühlhahn: Der Beitrag des Neu-Konfuzianismus zum Dialog der Zivilisationen in einer globalisierten Welt, in: ders , Nathalie van Looy (Hg ): The Globalization of Confucius and Confucianism Berlin 2012, S 22–31

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Abschluss eines Handels-, Schiffahrts- und Freundschaftsvertrages zu erwirken 1875 bis 1893 war er kaiserlicher deutscher Gesandter in China, studierte genau die Verhältnisse in Ostasien und galt im deutschen diplomatischen Corps als der Doyen auf diesem Gebiet, seine Bücher wurden weithin gelesen 6 Aber mit seiner positiven Haltung zu China stand Max von Brandt in Europa durchaus für eine Minderheit Möglicherweise wurde der exotisierende Titel in der Absicht gewählt, die Neugier des europäischen Lesers zu wecken, etwas zu erfahren, was seinem eher negativen Chinabild entspräche Als Akteur in der Wissensvermittlung zwischen Europa und China waren Max von Brandt die unterschiedlichen Wissensvoraussetzungen bekannt 7 Es kann vermutet werden, dass er hier geschickt mit den Erwartungen der Leser spielt, sie aber vom Inhalt des Buches her nicht im Geringsten erfüllt und erfüllen will Ein Großteil der europäischen Leserschaft des ausgehenden 19 Jahrhundert assoziierte mit dem Zopf sicherlich nicht nur den bereits seit mehreren Jahrzehnten abgeschafften europäischen Zopf der Männer, sondern auch die chinesische männliche Haartracht, in Augen des viktorianischen Lesers Symbol für Chinas Rückständigkeit 8 Speziell der chinesische Zopf, ebenso wie die spezifische chinesische Kleidung wurden gegen Ende des 19 Jahrhunderts von europäischen und amerikanischen Karikaturisten, z B im Punch, immer wieder verwendet, um China ins Lächerliche zu ziehen oder als Europa nicht ebenbürtig darzustellen 9 Tatsächlich war der chinesische Zopf, aus globaler Perspektive betrachtet, gegen Ende des 19 und zu Beginn des 20 Jahrhunderts, ein mehrwertiger Bedeutungsträger, der im jeweiligen Kontext – vor dem Hintergrund unterschiedlicher ‚Wissensreservoirs‘ – auf verschiedene Art und Weise eingeordnet und interpretiert wurde Im kolonialen und orientalistischen Narrativ, aus dem sich die europäischen und amerikanischen Karikaturisten bedienten, wurde der chinesische Zopf mit Effeminiertheit assoziiert, mit Primitivität, Anachronismus, rassischer Minderwertigkeit und Rückwärtsgewandtheit, die im Kontrast zur Moderne Europas stand 10 Unter den Chinesen, die außerhalb Chinas lebten, zum Beispiel in den Chinatowns der USA, symbolisierte das Tragen des Zopfes die Zugehörigkeit zum Qing-Reich und diente der Abgrenzung von anderen Einwanderern In einer dritten Gruppe, nämlich der der Europäer, die in China lebten, sah man den Zopf wesentlich differenzierter, als das in

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Otto zu Stolberg-Wernigerode: Neue deutsche Biographie, Bd 2 Berlin 1955, S 531 Vgl Philipp Sarasin: Was ist Wissenschaftsgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36/1 (2011), S 159–172, hier: 167 Susan Thurin Schoenbauer: Victorian Travelers and the Opening of China, 1842–1907 Ohio 1999 Alle Aufsätze in diesem Buch befassen sich in der einen oder anderen Weise mit dem europäischen oder westlichen Chinabild Vgl auch Jonathan Spence: The Chan’s Great Continent: China in Western Minds London 1998 Peter Perdue, Ellen Sebring: The Boxer Uprising I – The Gathering Storm in North China 1860– 1900, URL: https://visualizingcultures mit edu/boxer_uprising/bx_essay02 html (10 3 2021), S 2 Chunmei Du: Gu Hongming’s Eccentric Chinese Odyssey Philadelphia 2019, S 152

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Europa der Fall war In China selbst wussten die Ausländer, dass der Zopf ein hochpolitisches Symbol darstellte Vor allem der historischen Dimension der Zopfmode war man sich durchaus bewusst Der deutsche Kaufmann Albert Henry Rasmussen, der etwas später als Max von Brandt in China weilte, machte in seinem Buch China Trader die folgende Beobachtung: Der durchschnittliche Kuli, Schiffer oder Bauer war ein zugänglicher Geselle Diese Leute waren sittenrein und gesund Mit Vergnügen beobachtete ich sie auf den Friseurstühlen am Ufer, wo man ihnen das Haar rund um den Zopf abschor Der Zopf saß in der Mitte des Schädels, alles Übrige mußte täglich rasiert werden Nur bei Trauer unterblieb das eine Zeitlang Die tägliche, mit Muskelkneten und Ohrenbohren verbundene Rasierpause erzeugte offensichtlich Wohlbehagen und Zufriedenheit Sie bewies auch, daß diese Menschen regelmäßige Arbeit hatten und sich das unglaublich billige Vergnügen leisten durften Der übrige Teil des Leibes kam selten mit Wasser und Seife in Berührung […] Um die Enden der Pumphosen schlangen sich nette schwarzseidne Knöchelbänder Ich fand es merkwürdig, daß die Chinesen so viel auf Zopf und Knöchelband gaben, die ihnen ursprünglich von den erobernden Mandschus als Zeichen der Unterwerfung aufgedrungen worden waren Im Laufe der Zeit gewinnen solche Sinnbilder oft die gegenteilige Bedeutung, und man ist stolz auf sie 11

Und auch in der Zeitschrift Das Ausland hieß es 1873: „Doch ist der Zopf für die Chinesen eine verhältnismäßig neue Mode, welche ihnen vor ungefähr 200 Jahren von der jetzt regierenden mandschurischen Dynastie aufgedrungen wurde “12 In der Tat war der Zopf keine Mode, sondern vor allem während der Qing-Zeit (1644– 1911) Symbol der gewaltsamen Unterwerfung und Beherrschung durch die mandschurische Fremddynastie 13 Michael Godley argumentiert, dass eine Untersuchung des Zopfes als männlicher Haartracht, wenn man ihn als ein öffentliches Symbol interpretiert, ermöglicht, die Geschichte der 260 Jahre des Qing-Reiches auf ein paar Seiten zu kondensieren und wichtige Aspekte von Empire und Herrschaft zu illustrieren 14 Entsprechend existiert in der chinesischen Forschung bereits eine ganze Bandbreite an wissenschaftlichen Abhandlungen, während in den westlichen Sprachen die Li-

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Albert Henry Rasmussen: China Trader London 1954, S 43 Vom Verfasser sind die Kürzel seines Namens bekannt, E B Das deutet auf Ernst Bretschneider hin, der in dieser Zeit als Autor in Das Ausland veröffentlichte Das Zitat findet sich in: Das Ausland 14 (1873), S 265–270 Siehe auch Arsenius Völling: Die Haartracht der Chinesen, in: Anthropos 1 (1906), S 60–65 Weikun Cheng: Politics of the Queue: Agitation and Resistance in the Beginning and End of Qing China, in: Alf Hiltebeitel, Barbara D Miller (Hg ): Hair: Its Power and Meaning in Asian Cultures New York 1998, S 123–142, hier: 123; Christopher Robert Hallpike: Social Hair, in: Man 4/2 (1969), S 256–265, hier: 263 Michael Godley: The End of the Queue: Hair as Symbol in Chinese History, in: East Asian History 8 (1994), S 54

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teratur zu Haaren, Moden und Körperpraktiken in China erst im Entstehen ist Der Zopf wurde bereits aus der Perspektive der politischen Macht und der kaiserlichen Regierung beforscht, als Körperpraktik gesellschaftlicher Gruppen und auch in seiner Bedeutung innerhalb von Sozialstrukturen Zhang Dean fasste im Jahre 2013 die chinesische Haarforschung prägnant zusammen: Forschungen zu Haartracht und Mode gebe es schon sehr lange, sie bewege sich vornehmlich in den Feldern von Religion und Anthropologie und folge Fragestellungen nach Macht und Ordnung, Körper und Gesellschaft, zudem in der politischen Geschichte, der Sozialgeschichte und in der Kulturgeschichte Haartracht, so postuliert Zhang Dean gleich am Anfang seines Aufsatzes, sei ähnlich wie Kleidung zu beurteilen, sie symbolisiere und signifiziere Geschlecht, Alter, Beruf, Besoldungsgruppe, ethnische und nationale Zugehörigkeit und habe somit eine wichtige soziale Funktion Die Veränderung einer Frisur spiegele einen Wandel des Zeitgeistes, des persönlichen Bewusstseins oder der sozialen Normen wider Interessant sei die Forschung unter zwei Gesichtspunkten: Zum einen könne man in den Quellen forschen, was über die Haare geschrieben wurde; zum anderen könne man fragen, wie sich die gesellschaftliche Verfasstheit auf die Haartracht ausgewirkt habe 15 Wissen über China war für die Europäer, die seit 1860 dort lebten, überlebensnotwendig, weshalb es leicht verständlich ist, dass sie informierter waren als ihre Zeitgenossen in Europa Aber aus welchen Kontexten bezogen sie das Wissen, welche Möglichkeiten des Zugangs zu chinesischem Wissen gab es vor Ort, in China? Interessant ist hier natürlich die Frage danach, auf welche Art und Weise die Europäer Wissen produzierten, was den Blick auf interkulturelle, alltägliche ‚Verhandlungen‘ von Wissen im China des 19 Jahrhunderts lenkt 16 Dazu muss zuerst einmal die Frage gestellt werden, wie in China selbst das Wissen um Haartracht überliefert, wie kategorisiert, systematisiert und geordnet wurde, wie und an welcher Stelle es relevant genug war, um in der hochkomplexen Gesellschaft des kaiserlichen Chinas reproduziert zu werden 17 Damit verbunden ist die Frage nach den Wissenskulturen in China, oder, wie Peter Burke es formulierte, nach den „Geschichten des Wissens“, den „histories of knowledge“, die als Grundlage für den Prozess der interkulturellen Verhandlung von Wissen dienen 18 Hier könnte man als erstes etwa das offizielle Wissen anführen, das auf Befehl des Kaisers gesammelt und kompiliert wurde, die kaiserlichen Enzyklopä15 16 17 18

Zhang Dean: Touguo toufa kan lishi-Zhongguo jinshi fa shi bianqian yanjiu shuping (Geschichte am Beispiel der Haare: Eine Übersicht zur Forschung zum Wandel der modernen chinesischen Haartracht), in: Journal of Hubei University 40/3 (2013), S 73–76 Peter Burke: What is history of knowledge? Cambridge 2016, S 37 wies beispielsweise darauf hin, dass die britische Wissenproduktion über Indien eine kulture Verhandlung unterschiedlicher indischer und britischer Akteursgruppen war Dies sind Fragen, die von Philipp Sarasin aufgeworfen werden: Sarasin: Was ist Wissenschaftsgeschichte?, S 159–172, hier: S 167 Burke: What is history of knowledge?, S 8

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dien, wie zum Beispiel das Siku Quanshu (四库全书), das ehrgeizige Editionsprojekt des Qianlong-Kaisers, in dem 361 Wissenschaftler zwischen 1773 und 1782 über 3000 Bücher katalogisierten und herausgaben Denkbar wäre auch, in der Enzyklopädie Gujin tushu jicheng (古今圖書集成), dt „Sammlung von Tafeln und Schriften aus alter und neuer Zeit“, auch: Qinding Gujin tushu jicheng (欽定古今圖書集成), „Auf kaiserlichen Befehl kompilierte und edierte Sammlung von Tafeln und Schriften aus alter und neuer Zeit“, nachzuschlagen, die 1726 in Peking in 5020 Bänden erschien und die erste systematisch aufgebaute und gedruckte sowie die umfangreichste chinesische Enzyklopädie darstellt 19 Diese Herangehensweise wäre aber auch nach Peter Burkes Verständnis zu knapp, da es noch weitere Formen des Wissens gibt, so führt er z B lokales und indigenes Wissen auf, wie es etwa in entfernt liegenden Provinzen des Reiches gepflegt wurde und wiederum in der Metropole wiedergegeben wurde Burke betont, dass Staaten das „local knowledge“ (z B die magisch-religiöse oder medizinische Bedeutung von Haar) zu ihrem eigenen Nachteil vernachlässigten und wissenschaftliche Methoden sich oft aus der Alltagspraxis von Beobachtung, Beschreibung und Klassifizierung entwickelt hätten Zu Wissensgeschichte gehöre auch deren Gegenteil, die Geschichte der Ignoranz: Hier werde gefragt nach Hindernissen auf dem Weg zum Wissen, Wissenskonflikten, verlorenem Wissen, denn die Beantwortung dieser Frage gebe oft Aufschluss über das Verhältnis von Wissen und Macht 20 Die im China des 19 Jahrhunderts lebenden Europäer brachten den chinesischen Zopf korrekterweise mit der Unterwerfung durch die mandschurischen Eroberer in Verbindung Die Antwort auf die Fragen nach ‚Haarwissen‘ nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende der Dynastie, und danach, wie Wissen zu Haaren produziert und genutzt wurde, zeigt, wie Wissen innerhalb unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und Institutionen zirkuliert, sich wandelt und ändert, gezielt genutzt und manipuliert wird Sie zeigt vor allem aber auch, dass es sich bei den ersten Zopfschneidekampagnen zu Beginn der Qing-Zeit um weitaus mehr handelte als um eine bloße Machtübernahme auf politischer Ebene 2 Die Haartracht der männlichen Han-Chinesen bis zur Mingzeit Die Tradition des langen ungeschnittenen Haares bei den männlichen Han-Chinesen lässt sich auf unterschiedliche, im lokalen, indigenen und religiösen Kontext verankerte Vorstellungen und Wissen zurückführen So wurde im chinesischen religiösen 19 20

Guo Songyi: Gujin tushu jicheng (Vollständige Sammlung von Bildern und Büchern aus alter und neuer Zeit), in: Zhongguo da baike quanshu (Hg Hu Qiaomu) Zhongguo lishi, Bd 1 Beijing 1992, S 257–258 Burke: What is history of knowledge?, S 32

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Wissen beispielsweise seit jeher die magische Kraft von Haar überliefert, die im Zusammenhang mit Sexualität, Fruchtbarkeit und spiritueller Macht steht Philip Kuhn weist in seinem Buch zum „Seelenstehlen“ für das 18 Jahrhundert auch die Annahme nach, dass der Diebstahl von fremden Haaren dem anderen Seelenkraft raube, die eigene aber stärke 21 Dieser Glaube an die spirituelle Kraft des Haars führte gleichfalls zu einer Betonung seiner Funktion: Man nahm an, dass es seine Aufgabe sei, das Gehirn zu beschützen Die Kopfhaut zu rasieren bedeutete demnach, das Gehirn der freien Luft und somit einer gesundheitlichen Gefahr auszusetzen, sogar Hirnverletzungen zu riskieren oder vielleicht einen frühen Tod 22 In der chinesischen Beamten- und Literatenkultur, also im schriftlich tradierten Wissen, wenxue, wurde das Haareschneiden als ein Verstoß gegen das Gebot der kindlichen Pietät gewertet, die gegenüber den Eltern zu erweisen sei Dies wird im einschlägigen traditionellen chinesischen Schriftenkanon deutlich: Größte Ehrerbietung, so Menzius, zeige man seinen Eltern zum einen dadurch, dass man den von ihnen geschenkten Körper unversehrt lasse (also Haare und Nägel wachsen lasse), zum anderen durch das Erlangen eines hohen sozialen Status Das Schneiden des Haares konnte als ein Akt der Respektlosigkeit gegenüber den Ahnen interpretiert werden 23 Die Haarpflege war somit Bestandteil der konfuzianischen Riten, die schon im Liji (礼 记, dt „Buch der Riten“) festgelegt waren: Das Haar eines Mannes hatte gepflegt und von einer Kappe geschützt zu sein Allein beim Tode der Eltern war es gestattet, das Haar offen zu tragen und die Kleider ungegürtet und lose Entsprechend hatte das Hochbinden der langen Haare auf dem Hinterkopf für männliche Han-Chinesen, insbesondere für Angehörige der Beamten- und Gelehrtenkaste, eine lange Tradition und bezeichnete verschiedene Lebensstadien: Haare wurden gebunden, wenn ein junger Mann eine Schulausbildung begann, die ihn auf die Beamtenprüfung vorbereitete (sufa shoushu, 酥发收束), oder beim Eintritt ins Militär (jiefa congrong,结发从戎) Seit der Zhou-Zeit ist eine Zeremonie zur Behutung (guanli, 冠礼) bekannt: Sobald ein Student 20 Jahre alt war, erhielt er eine Kappe, die einen Wechsel von der Kinderhaartracht zur Männerhaartracht anzeigte, somit seinen Eintritt in die Erwachsenen- und Gelehrtenwelt

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Philipp Kuhn: Soulstealers: The Chinese Sorcery Scare of 1768 Cambridge 1990, S 129 Cheng zitiert hier Yang Shengmin: Manyi huaxia shimoji (Die Geschichte der mandschurischen Herrschaft in China) Shanghai 1912, S 816 Der einzige Bericht eines Westlers über den Zopf als medizinisch vorteilhaft stammt von einem Arzt Der Arzt Budberg beschreibt die Nützlichkeit des Zopfes, schütze er doch vor Hitze und Kälte und sei sehr hygienisch Roger Baron Budberg: Vom chinesischen Zopf, in: Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift, 25 Juli (1912), S 1421 Cheng zitiert hier auch den Klassiker zur kindlichen Pietät Xiaojing (孝经), der sich in der frühen Han-Zeit (206 v Chr bis 220 n Chr ) zum Grundstein der moralischen Verfassung der Han-Dynastie entwickelte Alan K L Chan, Sor-hoon Tan (Hg ): Filial piety in Chinese Thought and History London 2004, S 2

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Bis zur Ming-Zeit also war das sorgfältig gepflegte Haar notwendigerweise Kennzeichen des Beamten-Gelehrten, was auch die europäischen Missionare faszinierte 24 So schreibt Martin de Rada, ein Augustinermönch, der 1575 von den Philippinen aus China bereiste: Sie sind sehr stolz auf ihre Haarpracht Sie lassen die Haare lang wachsen und winden es zu einem Knoten am Hinterkopf Fixiert wird das Haar durch ein Haarnetz, auf das eine Kappe aus Pferdehaar gesetzt wird … Jeden Morgen wird eine gewisse Zeit darauf verwendet, das Haar zu kämmen und frisieren 25

Die chinesische Literatenelite und zunehmend auch die Han-Männer anderer Kasten schätzten ihre Art, die Haare zu tragen, auch in Abgrenzung ihrer eigenen Kultur zu anderen, in ihren Augen barbarischen ‚Kulturen‘ Die Identifizierung von Barbaren, also von fremden Volksgruppen mit merkwürdigen Kleidern und Frisuren, geht ebenfalls auf Konfuzius zurück, aber auf Menzius wird der Ausspruch zurückgeführt, dass Fremde dadurch zivilisiert würden, dass man sie die eigenen Sitten lehre und nicht dadurch, dass man deren merkwürdige Sitten annehme 26 Langes, hochgebundenes Haar war somit entschieden ein kultureller Marker und Symbol der Zugehörigkeit zur chinesischen Zivilisation, während der Ming-Zeit trugen sogar der Kaiser und die Untertanen dieselbe Frisur 3 Die Machtübernahme durch die Mandschuren und Einführung des Zopfes Im Juni 1645 ließ der neue mandschurische Kaiser Shunzi das folgende Edikt bekanntmachen: Innerhalb von zehn Tagen nach Eingang dieses Schreibens haben alle Einwohner der Hauptstadt und deren Umgebung sowie der übrigen Provinzen ihre Haare zu scheren Wer diesem Befehl folgt, gehört zu unserem Volk; wer zögert oder zweifelt, wird wie ein aufsässiger Bandit behandelt und schwer bestraft werden Wer sich dem Befehl entzieht, an seinem Haar hängt oder spitzfindig dagegen argumentiert, wird nicht leicht davonkommen 27

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Wobei Matteo Ricci allerdings erwähnt, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits auch für Han-Männer anderer Kasten üblich sei, ihr lang gewachsenes und sorgfältig frisiertes Haar unter Pferdehaarkappen zu tragen Matteo Ricci: China in the Sixteenth Century: The Journals of Matthew Ricci New York 1953, S 78 Zitiert nach Charles Ralph Boxer (Hg ): South China in the Sixteenth Century: Being the Narratives of Galeote Pereira; Fr Gaspar da Cruz, O P; Fr Martin de Rada London 1953, S 282; Cheng: Politics of the Queue, S 127 Chen Weikun zitiert hier Ruan Yuan (Hg ) Shisanjing zhushu (Dreizehn Klassiker mit Anmerkungen und Kommentar), Bd 2 Beijing 1978, S 2706 Zitiert nach Kai Vogelsang: Geschichte Chinas Stuttgart 2013, S 410

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Dies war eine Verschärfung des ersten Erlasses zum Haareschneiden, der bereits 1644 von Dorgon ergangen war, dem Onkel des Shunli Kaisers, demzufolge zunächst nur die Soldaten des Mingreiches ihren Schädel rasieren sollten Zunächst eher informell, wurde der Erlass während der Belagerung Nanjings formalisiert: Von nun an hatten alle Männer der Han und anderer Ethnien Chinas die gleiche Haartracht wie die mandschurischen Kaiser zu tragen: Die Stirn war zu rasieren und der Zopf im mandschurischen Stile zu flechten Dorgons Argument für diese Maßnahme und somit für den Zopf war, die physische Ähnlichkeit zwischen den Han und den Mandschu zu betonen und seine gesamten Untertanen zu einem geeinten Volk zu machen sowie gleichzeitig ihre Loyalität zu testen 28 Es wurde auch vermutet, dass es den Mandschuren an kulturellem Selbstbewusstsein gegenüber den gebildeten Ming-Literaten gefehlt habe und sie deswegen den Han-Chinesen umso nachdrücklicher Mandschutracht und -frisur aufzwangen 29 Vermutlich hatten die Qing-Herrscher den Aufruhr unterschätzt, den sie unter den Han-Männern mit dem Zopf-Erlass hervorrufen würden Der Zopf-Erlass wurde vor allem von der Literaten-und Beamtenelite der südlichen Jiangnan-Region als tiefe Demütigung empfunden, als Entwürdigung und eine symbolische Verletzung schlimmer als der Tod In der gesamten Jiangnan-Gegend war es denn auch eher der Zwang zur neuen einheitlichen Haartracht als der Zusammenbruch des korrupten Ming-Regimes, der die Proteste gegen die neuen mandschurischen Herrscher hervorrief 30 Es kam zu Massakern an der Zivilbevölkerung, vor allem in den Yangze-Städten Yangzhou (800 000 Tote), Jiading und Jiaying 31 Auch die schweren Kämpfe in der Provinz Zhejiang richteten sich nicht gegen die Eroberung durch die Mandschuren, sondern gegen die Einführung der neuen Haartracht So berichtet Martino Martini in seiner De bello Tartarico historia: Die Manjuren nahmen die Stadt ohne Widerstand ein und hätten es ebenso mit allen anderen Städten der Provinz Zhejiang machen können Doch als sie per Edikt verkündeten, dass alle ihr Haar schneiden sollten, nahmen Soldaten und Bürger ihre Waffen und kämpf-

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Frederic Wakeman: The Great Enterprise The Manchu Reconstruction of Imperial Order in Seventeenth-Century China, Bd 1 Berkeley 1986, S 646–650 Es wurde auch ein Edikt erlassen, demzufolge es den Han-Frauen verboten werden sollte, ihre Füße zu binden Mit Widerstand in beiden Konflikten konfrontiert, entschieden sich die Qing dafür, sich in der Zopf-Angelegenheit durchzusetzen und die gebundenen Füße auf sich beruhen zu lassen William Rowe: China’s Last Empire The Great Qing London 2009, S 109 Cheng: Politics of the Queue, S 125 Cheng nennt hier Li Tianyou: Mingmo Jiangyin Jiading renminde kangqing douzheng (Der Widerstand gegen die Qing der Leute in Jianying und Jiadong) Shanghai 1955, S 10–32 und Frederic Wakeman: The Great Enterprise: The Manchu Reconstruction of Imperial Order in Seventeenth Century China, Bd 1 Berkeley 1985, S 65–80 Zeugnis davon legt der berühmte Augenzeugenbericht des 21-jährigen Wang Xiuchu ab, der die 10 Tage in Yangzhou im Mai 1645 detailliert schildert Seine Erinnerungen erschienen in englischer Übersetzung: „Horrid beyond Description“: The Massacre of Yangzhou, in: Lynn A Struve (Hg ): Voices from the Ming-Qing Cataclysm Yale 1993, S 28–48

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ten verzweifelter für ihr Haar als für König und Reich Sie schlugen die Tartaren aus der Stadt, trieben sie zum Fluss Qiantang und zwangen sie, den Fluss zu überqueren, wobei sie viele von ihnen töteten 32

Die neuen Regeln wurden rigoros und gnadenlos durchgesetzt Aus dieser Zeit stammt der Slogan: „Wenn Du Deinen Kopf behalten willst, dann sieh zu, dass Du Dein Haar verlierst Wenn Du Dein Haar behalten willst, kann es sein, dass Du Deinen Kopf verlierst “33 In der unteren Yangze-Region organisierten Kaufleute und Handwerker sowie die lokale gentry militärische Einheiten, die ihre körperliche Unversehrtheit garantieren sollten Sie bedrängten örtliche Kollaborateure, behaupteten, Ming-Loyalisten zu sein, und nahmen dafür schwere Verluste an Leib und Leben in Kauf Auch nachdem die mandschurische Regierung konsolidiert war, versuchten viele Beamtengelehrte immer noch, sich dem Zopfbefehl dadurch zu entziehen, dass sie, abgeschirmt von Freunden und Verwandten, zu Hause blieben 34 Unbestritten ist die große politische Bedeutung, die dem Zopferlass zukommt Die Absicht, einer derartig großen Bevölkerungsgruppe wie der der Han-Chinesen eine fremde Haartracht aufzuzwingen, sie somit sichtbar und in symbolhafter Standardisierung einer fremden politischen und kulturellen Hegemonie zu unterwerfen, ist vermutlich einmalig 35 Prinzipiell hatten sich nur jene Mitglieder den politischen Anordnungen zu unterwerfen, die vollwertig als erwachsene Männer in der Gesellschaft integriert waren, Nonnen und Mönche, Kinder, Trauernde, Sklaven oder Gefangene waren von der Regel ausgenommen 36 Der Widerstand gegen den Zopf und das Rasieren des Kopfes wurde von den Han-Chinesen nicht nur als Widerstand gegen die Mandschus begründet, sondern auch damit, dass es im Widerspruch zum überlieferten System der konfuzianischen Riten stand Bei den Beamtengelehrten, den Literati, kamen noch schriftlich festgehaltene Erinnerungen an den Dschurdschen-Einfall in Kaifeng im Jahre 1129 hinzu, als die Invasoren zum allerersten Mal die rasierte Stirn und den Zopf als männliche Haartracht gesetzlich vorgeschrieben hatten Innerhalb der Schicht der Kleinbauern gab es Argumente, die sich aber eher aus Gebräuchen und Vorstellungen der Volksreligion speisten (z B die magische Kraft der Haare) und so

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Zitiert nach Vogelsang: Geschichte Chinas, S 410 Cheng Weikun zitiert hier Frederic Wakeman: Localism and Loyalism During the Ch’ing Conquest of Kiangnan, in: Frederic Wakeman, Carolyn Grant (Hg ): Conflict and Control in Late Imperial China Berkeley 1975, S 43–85 Shengmin Yang: Manyi huaxia shimoji (Die Geschichte der Mandschuherrschaft in China) Shanghai 1912, S 816 Cheng: Politics of the Queue, S 124 Edward J M Rhoads: Manchus and Han Ethnic Relations and Political Power in Late Qing and Early Republican China, 1861–1928 Seattle 2000, S 60 Bei den Nicht-Han-Völkern wurde erwartet, dass sich deren Anführer dem Frisurdiktat unterwarfen, nicht aber die allgemeine Bevölkerung

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einten sich zum ersten Mal die Beamteneliten und die Kleinbauern in ihrem Anliegen Die Kleinbauern wehrten sich mit dem Argument, dass die Tonsur ihre Manneskraft versehren würde, und glaubten zudem, dass ihnen ihre Frauen weggenommen würden 37 Während der 60 Jahre währenden Kriege, die in China zur Zeit der mandschurischen Übernahme herrschten, bürgerte sich gar in manchen Kreisen das Sprichwort ein: Lebendig ein Untertan der Qing, im Tod Untertan der Ming, und die Beamtengelehrten ließen sich teilweise in Kleidung im Stile der Ming-Dynastie beisetzen 38 4 Die Zopfschneidekampagnen des 19. und 20. Jahrhunderts Während der 240 Jahre der mandschurischen Herrschaft übernahmen und konsolidierten die Qing-Herrscher viele Institutionen der Ming, z B das Prüfungssystem und die damit verbundene konfuzianische Weltanschauung, zudem vergrößerten sie das Reich durch ausgedehnte und teure Feldzüge im 18 Jahrhundert 39 Sie blieben bis zur Einführung der Republik 1912 an der Macht Was nun den Zopf betrifft, so fand, nachdem die fast vierzig Jahre währende Machtübernahme im Jahre 1680 abgeschlossen war, ein Prozess der Anpassung und Integration statt: In manchen Überlieferungen und Gesellschaftsschichten der Han-Chinesen, vor allem im bereits erwähnten Kleinbauerntum, vergaß man die ursprünglichen demütigenden Begleitumstände seiner Einführung und interpretierte ihn um in eine indigene Tradition, die zu bewahren sei 40 In der Beamten- und Literatenelite in Jiangnan aber, bei den Adepten der schriftlichen Kultur, blieb die Demütigung der Eroberung lange im Gedächtnis Die Beamtengelehrten litten zusätzlich unter der Zensur der Qing-Kaiser, die sämtliche Bücher, die sich nicht vorteilhaft über die Mandschuren äußerten, verbrennen oder verbieten ließen 41 Daraus erwuchs in verschiedenen Regionen des Reiches Widerstand, der sich bis zum Ende der mandschurischen Herrschaft 1911 nie ganz eindämmen ließ Obendrein machten es die Angehörigen des mandschurischen Kaiserhauses den Han-Chinesen auch nicht leicht, sich an sie zu gewöhnen: Obwohl sie selbst den Han-Chinesen die eigene Haartracht aufgezwungen hatten mit dem Argument, dass alle gleich seien,

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Wakeman: The Great Enterprise, S 650 Godley: The End of the Queue, S 60 Rowe betont die Nutzung der Möglichkeit durch die Qing, durch das Akademie- und Prüfungswesen Einfluss auf die Eliten des Reiches zu nehmen Rowe: China’s Last Empire, S 32 Godley: The End of the Queue, S 63 Er zitiert als Quelle den Reverend Justus Doolittle: Social life of the Chinese A Daguerrotype of Daily Life in China London 1868 Dies tritt besonders zutage bei dem megalomanischen Kompilationsprojekt des Qianlong-Kaisers, dem Siku quanshu, einer Komplettbibliografie der chinesischen Literatur, die zwischen 1773 und 1782 zusammengetragen wurde Der Qianlong-Kaiser trug persönlich dafür Sorge, dass jedwede Anti-Mandschuliteratur ausgemerzt würde Mark C Elliott: Emperor Qianlong Son of Heaven, Man of the World New York 2009, S 121

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also die physische Ähnlichkeit betonten, hielten sie sich von der Han-Bevölkerung fern, verboten Han-Mandschu-Hochzeiten, separierten sich in Garnisonsstädten und behielten ihre Riten des Bogenschießens und Reitkunst sowie die eigene Sprache bei 42 Als sich, hervorgerufen durch soziale Missstände, am Anfang des 19 Jahrhunderts, religiöse Aufstände in ganz China entwickelten und ausbreiteten (der größte unter ihnen war die Taiping-Revolte zwischen 1852 und 1864, die letztendlich 20 Millionen Menschen das Leben kostete), als große Teile der Bevölkerung des Qing-Reiches durch verschiedene Naturkatastrophen Hunger litten und zudem die Briten China durch gezielte Kanonenpolitik seit 1842 den Opiumhandel aufzwangen und Einlass ins Land begehrten, war es nur ein kleiner Schritt, der geschwächten Zentralregierung und vor allem den Kaisern die Schuld daran zu geben 43 Keinesfalls einer Meinung war man aber innerhalb der Gesellschaft über die Haltung zur Abschaffung von Zopf und Ausrasieren der Stirn Dies wurde nach 1860 über alle Gesellschaftsgrenzen hinweg, vom Han-Literaten zum Kleinbauern diskutiert, wobei der Wissenshintergrund, vor dem sich der Symbolgehalt des Zopfes entfaltete, gleichzeitig auch immer Grundlage für die Zusammengehörigkeit einer Gruppe war und Rückschlüsse auf die politische Haltung und das Weltbild des Zopfträgers zuließ, auch wenn die Argumente für und gegen den Zopf teils recht willkürlich zusammengestellt und instrumentalisiert wurden Nach der Niederlage gegen Japan im Jahre 1894 war die technologische und wissenschaftliche Unterlegenheit Chinas nur allzu deutlich geworden, und es wurde klar, dass eine Erneuerung generell nur durch eine grundsätzliche Revision des konfuzianisch geprägten Landes möglich werde; auch die Legitimität der mandschurischen Qing-Kaiser, die jeder männliche Han-Chinese durch die Präsenz des Zopfes tagtäglich erleben musste, wurde zunehmend in Frage gestellt Vor 1912 wurden Aufrufe zum Abschneiden des Zopfes nur selten befolgt und es gab heftige Widerstände in allen gesellschaftlichen Klassen und Kasten Allen Befürwortern des Zopfes gemein war die konfuzianische Auffassung, dass der Zopf von den Eltern und Großeltern geerbt worden sei und jetzt nicht einfach so abgelegt werden könne Innerhalb der Han-Elite und hier vor allem bei den südlichen Beamtengelehrtenklassen wurde nun festgestellt, dass die Han- und Qing-Eliten trotz der schwierigen Herrschaftsverhältnisse zusammengearbeitet und Loyalitäten für die Qing-Regierung entwickelt hätten Hier wurde dafür plädiert, die Qing zu restaurieren und nicht den unberechenbaren Taiping das Feld zu überlassen Der Zopf symbolisierte nun auch Widerstand gegen das Eindringen des westlichen Imperialismus, gegen westliche Sitten und Gebräuche Bis weit in die Republikzeit hinein, also selbst nach 1912, gab es

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Rhoads: Manchus and Han, S 288 Die Taiping folgten ihrem Führer und ließen ihr Haar lang wachsen, ohne sich die Stirn auszurasieren Rowe: China’s Last Empire, S 187

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Personengruppen innerhalb der Elite, die sich weigerten, den Zopf abzuschneiden 44 Für die Beibehaltung des Zopfes und mandschurischer Kleidung sprachen sich entsprechend auch die konservativen Reformer aus, z B Liang Qichao (1873–1929) und Kang Youwei (1858–1927) Die Qing-Kaiser, so argumentierten sie, seien bereits assimiliert und sie selbst strebten als neue Regierungsform die konstitutionelle Monarchie an, dem Vorbild Japan entsprechend Auch als 1912, nachdem die Republik China ausgerufen worden war, der kaiserliche Haarerlass von 1645 widerrufen wurde, waren nicht alle Zopfträger bereit, den Zopf abzuschneiden, obwohl der Widerstand dagegen von der Regierung streng bestraft wurde Vor allem in der Peripherie und im Norden des Landes, wo man abgeschottet von den Ereignissen in Peking war, organisierte sich Widerstand, z B in der Grenzregion von Sichuan und Hubei, wo Geheimgesellschaften das Gerücht streuten, das Abschneiden der Zöpfe bedeute, man werde dadurch so wie die Ausländer 45 Nicht immer allerdings war das Zopftragen mit Qing-Loyalismus gleichzusetzen Die Elder Brother Society in der Yangze-Region beispielsweise nahm am Aufstand gegen die Qing-Dynastie teil Die Mitglieder wurden jedoch von den Befürwortern einer Republik China nicht integriert, da sie von diesen als destruktiv und xenophobisch wahrgenommen wurden In den Augen der Elder Brother Society stellte die Gründung der Republik 1912 außerdem einen Versuch der Verwestlichung Chinas dar, weshalb sie am Zopf festhielt Der Anführer einer anderen Elder Brother Society hingegen, derjenigen der Wudang Berge, Cao Xongfei, war der Auffassung, dass der Qing-Kaiser wieder an die Macht kommen werde, und sah sich in der Pflicht, die Qing-Herrschaft erneut zu stärken Auch sie sahen den Qing-Kaiser eher als einen Vertreter der chinesischen Tradition als einen Mandschu 46 Was nun die Anti-Zopfbewegung vor der Republikgründung 1912 betrifft, so entwickelte sie sich vornehmlich innerhalb jener Gruppe der hanchinesischen Bevölkerung, die im Ausland entweder studierte oder studiert hatte oder als Diplomaten dort wirkte Auch die Argumente der chinesischen Auslandsstudenten gegen den Zopf waren weniger gegen die mandschurische Herrschaft gerichtet, vielmehr sahen sie im Zopf eine Behinderung der notwendigen politischen Transformation und führten als Beispiel Japan an 47 In den Augen des westlichen Auslandes, so wurde weiter argumentiert, war der Zopf indessen zum Zeichen von Lächerlichkeit geworden, und sogar die Studenten, die in Übersee studierten, mussten sich beleidigen lassen, wenn sie darauf beharrten, weiterhin ihren Zopf zu tragen Indem man sich des Zopfes entledigte, tat man kund, dass man bereit war für ein neues China, zudem weltoffen, modern und

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Wie z B der Exzentriker Gu Hongming, über den jüngst eine hervorragende Biografie erschienen ist, nämlich Du: Gu Hongming’s Eccentric Chinese Odyssey Cheng: Politics of the Queue, S 137 Ebd Vgl Rowe: China’s Last Empire, S 265

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fähig, mit den Westmächten und deren Entwicklung mitzuhalten 48 Trotzdem ging es aber auch darum, sich in der neu gegründeten Republik eines wichtigen Symbols der Mandschu-Herrschaft zu entledigen, dies galt auch für die mandschurische Kleidung Daraus entstand gegen Ende des 19 Jahrhunderts auch eine antimandschurische Haltung, die nationalistische Züge annahm, die Ablösung der Kaiser forderte und sich an manchen Orten bis hin zu Mandschuprogromen auswuchs 49 Im Zuge der Republikgründung wurde 1911 auch die hanchinesische Praxis des Füßebindens verboten, was aber erst nach 1949 gesetzlich durchgesetzt wurde Schon zu Beginn des 20 Jahrhunderts versuchten konservative Studenten, die aus Japan zurückgekommen waren, die alte Kaiserin Cixi davon zu überzeugen, das Zopfgesetz zum Zeichen einer allgemeinen Modernisierung abzuschaffen, aber der Hof sträubte sich gegen ein solches Ansinnen Erst nach dem Wuchang-Aufstand von 1911 und der Gründung der Republik China wurde das Zopfabschneiden auch von der Regierung zum Symbol für eine sich ändernde politische Position aufgewertet Sun Yatsen (1866–1925), erster provisorischer Präsident der Republik, erließ eine Verfügung, nach der innerhalb von 20 Tagen nach dem 5 März 1912 alle Zöpfe zu fallen hatten Republikanische Propaganda, Geheimgesellschaften und Gesetzeserlasse führten dann dazu, dass tatsächlich die meisten Männer der allgemeinen Bevölkerung ihre Zöpfe abschnitten 50 Gleichzeitig mit der neuen Haarmode des Kurzhaarschnittes wurde westliche Kleidung eingeführt, die sich anfangs auch nur gegen schwere Widerstände durchsetzte 51 Bei Gründung der Volksrepublik 1949 wurde das mandschurische Zopfgesetz endgültig abgeschafft 5 Epilog Die Machtübernahme der Mandschuren in China und der in diesem Zusammenhang ergangene Erlass, dass jeder Han-Mann sich die Stirn zu rasieren und das Haupthaar zum Zopf zu binden habe, führte zu gewaltigen Widerständen innerhalb der Han-Bevölkerung, die mit der Machtübernahme durch ein fremdes Volk alleine nicht zu erklären war Man hat als mandschurische Intention den Willen zur Vereinheitlichung zwischen Mandschus und Han genannt Weikun Cheng vermutet außerdem ein Gefühl von Unterlegenheit gegenüber der Gelehrsamkeit der Han-Männer, die ihren Stolz und ihre ethnische Zugehörigkeit in langem offenen Haar zum Ausdruck brachten Tatsächlich bedeutete die Änderung der Haartracht für die Han-Männer mehr als nur

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Vgl Rhoads: Manchus and Han, S 114 Joseph W Esherick, Hasan Kayali, Eric Van Young (Hg ): Empire to Nation Historical Perspectives on the Making of the Modern World Oxford 2006, S 238 Cheng: Politics of the Queue, S 131 Antonia Finnane: Changing Clothes in China Fashion, History, Nation New York 2008, S 95

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die Herrschaft der Mandschuren Sie symbolisierte ein neues Wissen, einen Bruch mit der Tradition Wie die Mandschus richtig erkannt hatten, war das lange Haar der Stolz der Gelehrten, seine Pflege auch Zeichen der Ehrerbietung gegenüber den Eltern Daneben, also neben dem Literatenwissen, existierten noch mehr Deutungen und Lesarten aus indigenen und lokalen religiösen Traditionen, bei denen Haare mit Sexualität, Fruchtbarkeit und spiritueller Macht in Verbindung gebracht wurde Von diesen aber wussten die Mandschus entweder nichts oder sie ignorierten sie willentlich Jedenfalls war die neue Haartracht etwas, womit sich jede gesellschaftliche Klasse der Han befassen musste und was sie in ihre eigene Selbstdefinition integrierte Gegen Ende der Qing-Dynastie am Ende des 19 Jahrhunderts, als es darum ging, den Zopferlass wieder abzuschaffen, argumentierten religiöse Geheimgesellschaften, Revolutionäre und Reformer aus den unterschiedlichsten Wissenstraditionen entweder dafür, den Zopf beizubehalten oder ihn abzuschneiden 1912 gab es dann einen neuen Zopferlass, dem sich einige Mitglieder der Elite wie des Kleinbauerntums vehement entgegenstellten, denn auch die Abschaffung des Zopfes war nicht freiwillig Die scheinbare Rückgewinnung der Oberhoheit über das eigene Haar bedeutete für einige einen neuen Zwang, nun im Zeichen westlicher Werte Haartracht in China, hier symbolisiert durch den Zopf, wurde damit zu einem Symbol des eigenen Selbstverständnisses in der Welt, nicht nur im Bereich der Politik Gleichzeitig konstruierte jede Partei und Faktion im alten wie im neuen China besonderes Wissen um den Zopf und reaktivierte verlorenes Wissen, welches oftmals ex post in die Erzählung hineingewoben wurde, sodass es am Ende der Qing-Dynastie nicht nur Gründe gab, den Zopf wieder abzuschaffen, sondern auch vielfältige Gründe, ihn zu beizubehalten Ersetzt wurde er dann nicht durch eine klassische Han-Frisur aus der Ming-Zeit, sondern durch den Kurzhaarschnitt nach westlichem Vorbild Dr Ines Eben von Racknitz Sinologin und Associate Professor an der Nanjing University

Frisuren der Tugend und Untugend Haar und Kopfputz im populären Medium des Gothaischen Hofkalenders Kristina Kandler

Zusammenfassung: Der Beitrag will die vielfältigen Aussagen über das Haar in einem populären Medium der Spätaufklärung darstellen, indem er nach Stellenwert und Funktion von Haar und Kopfputz im Gothaischen Hofkalender fragt, der weit über den Adel hinausgehende Adressatenkreise bediente Haar- und Frisurthemen verhandeln dort Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum sowie zwischen Natur und Kultur: Der Stilisierung der Haarmode als Mittel sozialer Distinktion steht bisweilen ein Appell gegen übermäßig luxuriösen und modischen Kopfputz gegenüber; das Plädoyer für Vernunft, Tugend und ‚Natürlichkeit‘ widerspricht wiederum der Annahme einer subversiven erotischen Komponente des Haars Im Gothaischen Hofkalender zeigt sich, wie populäre Wissensbestände, ästhetische und moralische Wertungen sowie Körper- und Konsumpraktiken in Europa zirkulierten Abstract: This article aims to present the diverse statements about hair in a popular medium of the late Enlightenment by asking about the significance and function of hair and headdress in the Gothaischer Hofkalender, which served audiences far beyond the European nobility Hair and coiffure themes negotiate boundaries between public and private spheres as well as between nature and culture: While hair fashion is considered a legitimate means of social distinction, it is also subject to the accusation of being overly luxurious and fashionable; the plea for reason, virtue and ‘naturalness’ often contradicts the assumption of a subversive erotic component of hair The Gothaischer Hofkalender reveals how popular knowledge, aesthetic and moral evaluations as well as bodily and consumer practices circulated in Europe

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Die Allgemeine Literaturzeitung bezeichnet im Jahr 1785 den Gothaischen Hofkalender1 als „Modebüchelchen“ und „recht artige Taschenbibliothek für viele – für Herren und Damen“ 2 Die weitgehend positiv ausfallende Rezension des Almanachs benennt zwei Aspekte Sie hebt den zu dieser Zeit offiziell von Carl Wilhelm Ettinger3 verlegten Hofkalender als gefragtes Medium hervor und verleiht ihm eine exklusive Stellung in der Almanachkultur des 18 Jahrhunderts, und sie verweist darüber hinaus auf den zeitgenössischen Modediskurs, der ein charakteristisches Element des Kalenders darstellt Mit dem Ziel, durch Beiträge zur Kleidung, Raumausstattung und zu diversen Kunstobjekten auch die weibliche Leserschaft und damit eine noch größere Rezipientengruppe anzusprechen, wird der Hofkalender zu einem aufschlussreichen Beispiel für die Allgegenwärtigkeit des Modebegriffs im ausgehenden 18 Jahrhundert, der sich ganz ausdrücklich in der Thematisierung des Haars und exklusiver Frisuren wiederfindet Erschienen in deutscher und französischer Sprache und ausgestattet mit einer detaillierten Aufstellung aller europäischen Herrscherhäuser sowie einem beinahe alle Themenbereiche umfassenden Textabschnitt gilt er in dieser Zeit als „unverzichtbares Vademecum der Hofgesellschaft“ oder „biographischer Atlas der Macht“ 4 Er wird zu einem prestigeträchtigen Standardnachschlagewerk des europäischen Adels, das mehrere tausend europaweit und sogar bis nach Russland und Amerika verkaufte Exemplare aufweist Seine thematische Vielfalt und die weite Rezeption machen ihn zu einer informativen kulturhistorischen Quelle zur Wissensvermittlung in populären Medien In Text und Bild wird der weiblichen Frisur eine weit größere Rolle zuteil als modischen Vorgaben zur Abendgarderobe

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Vgl zur Geschichte des Gothischen Hofkalenders beispielsweise Justus Perthes: Geschichte der Gothaischen Genealogischen Taschenbücher den Besuchern der Heraldischen Ausstellung zu Berlin April-Mai 1882 gewidmet von Justus Perthes Gotha 1882; Martin Breslauer: Almanach de Gotha und Gothaischer Hofkalender Sammlung Edward Clément Magdeburg Die bedeutendste Vereinigung vollständiger Folgen und einzelner Jahrgänge mit allen ihren Verschiedenheiten Eine Sammlung von unerreichter Vollständigkeit Versteigerung am 18 und 19 Juni 1913 Berlin 1913 (Auktions-Katalog); Thomas Freiherr von Fritsch: Die gothaischen Taschenbücher Hofkalender und Almanach Limburg, Lahn 1968; York-Gothart Mix: Der Almanac de Gotha / Gothaische Hof=Kalender als Medium europäischer Identität, in: Claudia Brinker-von der Heyde, Annekatrin Inder, Marie Isabelle Vogel [u a ] (Hg ): Frühneuzeitliche Bibliotheken als Zentren des europäischen Kulturtransfers Stuttgart 2014, S 233–248 Allgemeine Literatur-Zeitung 1/1 (1785), S 8 Wenngleich das Titelblatt von 1776 bis 1815 Carl Wilhelm Ettinger als Verleger angibt, ist es ab 1785 Justus Perthes, der, mit Ettinger durch die „Handlungs Societaet“ verbunden, bis zum Jahrgang 1815 den tatsächlichen Verlag des Hofkalenders übernimmt York-Gothart Mix: Genealogische Kalender als Medium europäischer Identität, in: ders , Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg ): Französische Almanachkultur im deutschen Sprachraum (1700– 1815) Gattungsstrukturen, komparatistische Aspekte, Diskursformen Göttingen 2013, S 35–50, hier: 41

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1 Haar und Standesbewusstsein. Die Frisur als Mittel der Distinktion Der Titel Hofkalender impliziert die anvisierte Käufergruppe, den adligen oder zumindest mit dem höfischen Habitus vertrauten Leser Optisch kann er je nach individuellem Wunsch und Budget des bibliophilen Käufers als Prestigeobjekt im Duodezformat gestaltet werden, indem er in Seide oder hochwertiges Leder gebunden und mit Kupferstichen und Goldschnitt zu unterschiedlichen Preisen ausgestattet wird Die Bedeutung und das Ausmaß seiner distinkten Materialität sind kaum zu unterschätzen Beatrix Bastl schreibt den unterschiedlichen Auswirkungen des Luxus eine symbolische Komponente zu: „Luxus, oder das was man als solchen empfand, stellte ein probates gesellschaftliches Mittel dar, um sich innerhalb eines bestimmten sozialen Standes integrieren zu können “5 Die Thematisierung des Haars als materieller Markierung seines Trägers und vor allem seiner Trägerin wird zu einem Kernelement des Gothaischen Hofkalenders Dies liegt insofern nahe, als die opulente Ausstattung der Frisur und Perücke schon beim Ersteindruck die Ständeverhältnisse und hierarchischen Beziehungen darzustellen und eine enorme Symbolkraft zu entwickeln vermag In ausgewählten Textbeiträgen sowie zahlreichen Kupferstichen in Form der Modekupfer wird die Haarmode als identitätsstiftendes Element und Mittel sozialer Distinktion herausgestellt Ein für den Hofkalender stilistisch ungewöhnlicher, aber für das übergeordnete Erkenntnisinteresse exemplarischer Beitrag veranschaulicht diese Haltung Im Jahrgang 1790 wird unter der Herausgeberschaft von Heinrich August Ottokar Reichard unter dem Titel „Ueber die verschiedenen Haar= und Bartmoden“ eine kulturgeschichtliche Abhandlung über das Haar abgedruckt, die sich den „Zänckereyen und Erbitterungen“ der Frisurenmode durch alle Zeiten, Völker und Stände, widmet 6 „Ich erhielt Ihren unterhaltenden und lehrreichen Brief zur rechten Zeit, um die drückende Langeweile einer Toilette zu unterbrechen“, wird besagter anonym abgedruckter Beitrag eingeleitet: „Ich befand mich, als ich ihn empfing, unter den Händen meines Kammerdieners, und sogleich ließ ich alles, Puder, Pomade und Papilloten, ruhen, um nicht eine Idee zu verlieren, die, wenn sie gehörig entwickelt würde, mir Stoff zu einer passenden Beantwortung Ihres philosophischen Briefes an die Hand geben könnte “7 Der Sprachgebrauch bietet zwar Spielraum für eine genderunspezifische Auslegung, lässt aber auf eine fiktive, schöngeistig interessierte, höfische Dame schließen, die im Schlafrock aus

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Beatrix Bastl: Weder Fisch noch Fleisch: Wenn alle Gaben zwischen symbolischem und realem Kapital schwanken, in: Werner Paravicini (Hg ): Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12 bis zum 18 Jahrhundert München 2010, S 123–138, hier: 125 Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1790 Gotha, S 28 Ebd , S 27–28

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hochwertigem Atlasstoff am Toilettentisch Platz nimmt und sich die Haare von ihrem privaten Coiffeur in Locken legen lässt 8 Offen bleibt auch die Frage nach besagtem philosophischen Brief Die Klärung dieser Fragen ist in diesem Beitrag aber nur sekundär, wichtiger ist die Einführung der Leserschaft in ein spezifisches Milieu; der Verweis auf den Status der Schreibenden betont die distinkten Merkmale des anvisierten Lesepublikums: die Symbiose von schöngeistigem Interesse und dem Alltagsleben am Fürstenhof Auf diese knappe Einleitung folgt der eigentliche Abschnitt über die Haar- und Bartmode Allgemein wird festgehalten, dass das Schneiden der Haare Anerkennung der Obrigkeit signalisiert und kurze Haare nur von Untertanen und Sklaven getragen werden Langes und schönes Haar wird dem zeitgenössischen Adel zugeschrieben, über den Bart ist man sich im christlichen Europa uneins, wo sich in immer neuen Verordnungen die Frage klären soll, wie der Bart ohne Sünde zu tragen ist 9 Die Perücke vermag ihre Trägerin optisch so zu verwandeln, dass sie bei den amourösen Treffen mit ihrem Favoriten geradezu unkenntlich gegenüber Dritten bleibt Das Haar kann politischer Ausdruck eines Staatskörpers sein, Auskunft über die Ständestruktur geben oder religiöse Motive deutlich machen Hinter dem bloßen Gesagten steht noch eine andere Aussage Eingebettet in dieses fingierte Handlungsumfeld dominieren schließlich die Begriffe der Eitelkeit und Koketterie, die, obwohl dem Beitrag nach unvereinbar mit der Religion, durch den naturgegebenen menschlichen Instinkt erklärt und legitimiert werden; in diesem Sinn schließt die Schreibende am Toilettentischchen: Jedes Alter, jedes Volk, jeder Stand opfert der Koketterie […] Koketterie und Frivolität sind dem Menschen angeboren; von dieser Wahrheit bin ich, als ich dieses schrieb, so fest überzeugt worden, daß ich mich in Zukunft unter den Händen meines Coeffeurs mit weit mehr Geduld und Ergebung im Spiegel betrachten werde, weil ich innerlich überzeugt bin, daß ich bloß dem allgemeinen Instinkt gehorche, der die ganze Welt beherrscht 10

Die Koketterie wird zu einem alle Menschen der Welt einenden Element stilisiert, die zu den Novitäten der Haarkultur beiträgt und durch die ausführliche Toilette mit Puder, Pomade und Papilloten befriedigt wird Die Einbettung eines knappen, räsonierenden Abrisses zur Haar- und Bartmode in den intimen Schauplatz einer Schreibenden am Toilettentisch mit direkter Leseransprache ist für den in der Regel unterhaltend-in8 9

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Im Originaltext heißt es über die Mode: „Es ist ein Gegenstand, wie er sich für ein Toilettenkabinet schickt Erlauben Sie also, daß ich mich den Eingebungen meines atlassenen Schlafrocks überlasse und weiter fortfahre “ Ebd , S 28 Der Bart habe lange für die majestätische Zierde jeglicher Gottheiten gestanden, und nun betrachteten alle Philosophen bis in diese Zeiten „(Zeiten des Luxus und der Weichlichkeit) den Bart als das wahre Symbol ihres Standes Er blieb in eben der Achtung bey den abergläubischen Juden, den weisen Egyptern, den zierlichen Atheniensern, und tugendhaften Römern; nur in der christlichen Kirche wurde er ein Gegenstand der Zwietracht“ Ebd , S 29 Ebd , S 33

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formative Artikel enthaltenden Hofkalender unüblich Exemplarisch steht der Beitrag dennoch für die durchweg präsente Grenzüberschreitung zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen vorgegebenen Konventionen und dem Vordringen in die Privatsphäre, und er bringt das Haar in Verbindung mit dem zeitgenössischen Modediskurs Als einer der frühen Vertreter einer Modetheorie konstatiert Christian Garve in seinem Essay Über die Moden 1792 eine allgemeine Ungleichheit unter den Modeträgern: Es muß also Einer oder es müssen Wenige sein, welche die Augen Vieler auf sich ziehn, und von ihnen als Muster angesehn werden […] Die Begierde, die jeder hat, selbst vortrefflich zu sein und über andre hervorzuragen, reizt die meisten, diejenigen nachzuahmen, die sie schon in dem Besitze eines solchen Vorzugs sehn 11

Garve stellt nichts anderes fest, als es schon die schöngeistig interessierte Schreibende aus dem zuvor zitierten Beitrag über die Haar- und Bartmode getan hat: Jeder Mensch hege den Wunsch zu gefallen und hervorzustechen, die Koketterie wird erneut als einendes Element herausgestellt Wird dem Haupthaar bereits in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigen UNIVERSAL LEXICON nach der Maxime ‚Prodesse et delectare‘ die Funktion zugesprochen, „zu erwärmen und zu zieren“,12 liegt auf dem Schmück- und Ziereffekt auch im Journal der Moden das Hauptaugenmerk In der Einleitung der ersten Ausgabe dieses maßgeblichen Modejournals der Aufklärung heißt es, der „Wunsch zu gefallen, und sich auszuzeichnen, ist der Geist, der mit dem Grundstoffe der menschlichen Natur bey allen Völkern der Erde innigst verwebt ist“ 13 Gilt es an erster, offensichtlicher Stelle, sich stratifikatorisch von den niederen Ständen optisch abzugrenzen und in hoher Gesellschaft zu agieren, steht an zweiter, mindestens ebenso wichtiger Stelle das Ziel der Distinktion auf gleicher sozialer Ebene, also die Betonung der Differenz gegenüber Ebenbürtigen Um sinnlich und begehrenswert zu erscheinen, werden der Leserin zahlreiche Modekupfer mit noblen und bisweilen üppigen Coiffures wie dem „Dernier Cri extravaganter Damenfrisuren“14 aus den Metropolen Paris und Berlin, aber auch aus Leipzig oder Dresden vor Augen geführt, die es nachzuahmen gilt Nach Hans-Jürgen Lüsebrink und York-Gothart Mix können in einem Medium wie dem Gothaischen Hofkalender „die feinen Unterschiede zwischen der Modewelt in der mondänen Metropole und der Duodezresidenz“15 registriert und bestaunt werden 11 12 13 14 15

Christian Garve: Über die Moden, hg v Thomas Pittrof Frankfurt a M 1987, S 14 Art „Haar“, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd 12 Halle, Leipzig 1735, Sp 12–17, hier: 14 Friedrich Justin Bertuch, Georg Melchior Kraus: Einleitung, in: dies (Hg ): Journal der Moden 1 (1786), S 3–16, hier: 11 Hans-Jürgen Lüsebrink, York-Gothart Mix: Einleitung, in: dies (Hg ): Französische Almanachkultur, S 9–33, hier: 16 Ebd

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Stilprägend und in seiner Rolle als modisches Vorbild lange Zeit unangetastet ist Frankreich Garve fasst es treffend zusammen: Es „nehmen die Leute nach der Mode sich vor, Gefallen an den Farben, Kleidungen und Möbeln zu finden, die aus Frankreich oder aus der Hauptstadt kommen: und es gelingt ihnen“ 16 Michel Espagne zufolge schafft der Umlauf von Kunstgegenständen „den Raum für einen europäischen Kunstmarkt und erscheint andererseits als eine komplizierte Kulturvermittlung“ 17 Versteht sich der Hofkalender als weltgewandtes Medium, finden sich daher Tendenzen zur Popularisierung neuester europäischer, vorzugsweise französischer Luxusund Modeartikel, darunter Accessoires wie Kämme, Pomaden, Öle und Wässerchen, deren Konsum Lesern und Käufern soziales Prestige vermitteln soll Die jährlich eingebundene Rubrik „Erfindungen zur Pracht und Bequemlichkeit“ bewirbt ergänzend die Novitäten französischer Perückenmacher, Kosmetikhersteller und Kunsthandwerker zur leichteren Handhabung bei der Kreation neuester Frisuren, häufig unter Angabe von Namen und genauer Adresse der Hersteller oder Händler Dieses konkrete Wissen um bestimmte Accessoires und den Zugang zu ihnen verleiht vor allem der Leserin das Gefühl ständespezifischer Zugehörigkeit und zeichnet sie in vornehmen Zirkeln als Kennerin des höfischen Habitus aus Nach Victoria Sherrow vermag gerade der Gebrauch diverser Haaraccessoires Auskunft über die soziale Stellung der Trägerin zu geben: „Hair can also indicate socioeconomic status The ability to afford certain kinds of hair-care products, services, styling tools, and adornments may signal wealth and confer status on a person “18 Der Gothaische Hofkalender fungiert als Medium der Wissensvermittlung über neueste Haarmoden aus den mitteleuropäischen Metropolen Er zielt, ähnlich den im ausgehenden 18 Jahrhundert populär werdenden Frauen- und Modejournalen, auf ein gebildetes, überwiegend weibliches Lesepublikum, das gegebenenfalls nicht ausreichend über räumliche und soziale Mobilität verfügt, um Informationen über Mode durch direkte Anschauung zu erhalten Damit trägt er zur Überbrückung des Stadt-Land-Gefälles zwischen Metropolen wie Paris, London und Berlin und der Provinz bei Daniel L Purdy resümiert im Hinblick auf die mit der Mode eng verknüpfte Konsumkultur des 18 Jahrhunderts: „[…] fashion is enjoyed in the absence of physical proximity to the sources that generate the newest trends […] For readers isolated from central markets, participating in fashionable society meant, first of all, knowing its distinctions “19 Der verhältnismäßig hohe Preis von 16 Groschen oder in Louisd’or zu 5 Reichstalern gewährleistet wiederum eine ausgewählte Käufer-

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Garve: Über die Moden, S 35 Michel Espagne: Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt (Hg ): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815 Leipzig 1997, S 309–329, hier: 315 Victoria Sherrow: Encyclopedia of Hair A Cultural History Westport, London 2006, S xxiv Daniel L Purdy: The Tyranny of Elegance Consumer cosmopolitanism in the Era of Goethe Baltimore, London 1998, S ix, 22

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gruppe mit Zugang zu den modischen höfischen Vorgaben aus Frankreich und ermöglicht der Leserin die Abgrenzung gegenüber niederen Ständen 20 Die Akzentuierung der Haarmode als Ausdruck der Distinktion, die Beförderung und das Aufzeigen von noch exklusiveren Möglichkeiten im erotischen Concours der Damen scheinen ein modisches Hauptanliegen des Hofkalenders zu sein Wie sich zeigen wird, fungiert er nicht nur als Vermittlungsorgan von neueren Kenntnissen über den Luxus, sondern auch als impliziter Förderer von frivoler Libertinage und Mätressenwesen am Hof Wenngleich er ausdrücklich an Moral und Sittsamkeit appelliert, zeigt sich im Bereich der Thematisierung des Haars der eigentliche Kern des Hofkalenders: ein ständiges Abwägen und Ausloten der Opportunität von Tugend und Untugend 2 Frisur und Verführung. Der Kopfputz als erotische Attraktion Ihren beispielhaften Ausdruck findet die Diskussion um Tugend und Untugend der Haarmode im Jahrgang 1779 Anhand einer Gegenüberstellung von Kupferstichen mit antiken und zeitgenössischen Frauenköpfen wird versucht, die Absurditäten des Kopfputzes zu illustrieren und in einem ergänzenden Beitrag „Schöne Künste Der Kopfputz römischer Damen“ zu kommentieren 21 Die ersten sechs Kupfer zeigen gemmenähnliche Porträtmedaillons mit Profilansichten schöner Römerinnen und ihren verhältnismäßig schlichten, eng am Kopf anliegenden Frisuren,22 die sechs weiteren Kupfer bilden die zeitgenössischen künstlichen, hoch über den Kopf aufgetürmten Coiffures und damit die „wunderlichen Ausgeburten der Mode“ ab 23 Doch schon dem Typus der von Karl August Böttiger gepriesenen Römerinnen ist es darum gegangen, „den Kopf immer besser auszuputzen; die eckelhafte Einförmigkeit zu vermei20 21

22 23

Vgl dazu Wolfgang Cilleßen: Modezeitschriften, in: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hg ): Von Almanach bis Zeitung Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800 München 1999, S 207–224, hier: 211 Vgl Gothaischer Hofkalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1779 Gotha, S 117–129 Der Beitrag findet sich ausführlich in dem Artikel „Calamistrature“ aus der Frankfurter Encyclopädie: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real=Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten Bd 4: Blat–Cam Frankfurt a M 1780, S 747–750 Er ist unter dem Titel „Ueber den Haarputz der Alten, hauptsächlich der Römerinnen“ ähnlich im Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1784 bey Joh. Chr. Dietrich abgedruckt Untertitelt „Faustina MATER“, „Faustina IUNIOR“, „Julia“, „Cornelia“, „Octavia“ und „Claudia“ Richard O Wendelmuth: Zur Geschichte des Hofkalenders 1763–1913, in: Gothaischer Genealogischer Hofkalender nebst diplomatisch=statistischem Jahrbuche Gotha 1913, S VII–XXVI, hier: XVI Die letzten sechs Kupfer sind wie folgt betitelt: „à la FLORE“ (sign „Liebe sc Lipsiae “), „BONNET à la VICTOIRE“ (sign „Liebe sc “), „La CANDEUR“ (sign „Liebe sc “), „Herisson à quatre boucles de chaque côté“ (sign „Liebe sc “), „Casque à la Minerve ou la Dragone“ (sign „Liebe sc “) und „Coeffure moderne de fantaisie“ (sign „Liebe sc“)

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den, und die mannichfaltige Abwechselung des Haaraufsatzes zum Lieblingsgeschäfte zu machen“ 24 Die Feststellung, dass die Antike dem zeitgenössischen Kopfputz des 18 Jahrhunderts Ideenvorlagen geliefert haben muss, stellt den luxuriösen Haarputz in eine lange Kulturtradition Die Mode des Perückentragens wird schließlich mit einer zugeschriebenen historischen Kulturtechnik, der Einbindung von falschem Haar bei den vornehmen Damen Roms, legitimiert Wird die oben zitierte Koketterie als ein dem Menschen angeborenes, dem Instinkt ähnelndes Element gerechtfertigt, erhält das Bedürfnis nach Ausdifferenzierung und Exklusivität seine Befugnis durch die lange Traditionslinie seit der Antike Der Gothaische Hofkalender vereint – unabhängig vom zwischen den Beiträgen und Texten liegenden zeitlichen Abstand – unterschiedliche tradierte Bilder und Vorstellungen des Haars Die eingangs zitierte Dame am Toilettentisch ( Jg 1790) lässt sich ihr Haar zwar ebenfalls auf aufwendige Weise eindrehen, stecken und schmücken, wird aber über das reine Herausputzen hinaus zur Repräsentantin der zeitgenössischen philosophisch-schöngeistigen Salonkultur Demgegenüber dient das Text-Bild-Arrangement römischer und zeitgenössischer Damen ( Jg 1779) der Tradierung von Geschlechterstereotypen, denn womit hätten sich die Frauen, so die rhetorische Frage, „vortheilhafter beschäftigen können, als über die Kunst, am vorzüglichsten gefallen zu wollen […] und neue Umschaffungen der Frisur aus dem Felde tausendfältiger Möglichkeiten in einem blühenden Hervorwuchse“ zu präsentieren 25 Anhand zahlreicher Modekupfer wird einer jeden Dame das Ziel auferlegt, die erste einer Modetracht sein zu wollen, „die in einem Bezirk von zehn Meilen ausserordentlich hervorsticht“, die Illustrationen bieten Anregungen, diesen Vorgaben nachzukommen 26 Die Haarmode steht damit zwischen Nachahmung und Innovation, was zu skurrilem Ausmaße führen kann: Dass die Koketterie der Dame aus Differenzierungsnöten dazu verleitet, sich die üppigen Federn von Raubvögeln ins Haar zu stecken, dass es gar einem Parasol ähnelt, wird gerade nicht dem fast schon sportlich wirkenden antiken Damenputz, sondern „dem wankenden Geschmacke späterer Zeiten“ zugeschrieben 27 Opulenter Kopfputz wäre hier auch, schaut man sich die Mosaiken der sich sportlich betätigenden Damen im Bikini der antiken Villa Romana del Casale an, nur als störend empfunden worden Einen besonders pompösen Umfang nehmen die Damenfrisuren in den 1770er Jahren an, wie die erfolgreiche, 1772 in Paris erschienene Unternehmung L’éloge des coiffures adressé aux dames belegt, die in 39 Bänden 3744 Illustrationen verschiedener Damencoiffures zeigt „Federn- und schmucküberladene Hochfrisuren präsentieren nunmehr auf den Köpfen Stimmungen und Erlebnisbereiche, die vordergründig

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Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1779 Gotha, S 118 Ebd , S 121 Ebd Ebd , S 124

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durch effektvolle Dekorationen dargeboten werden “28 Das alleinige optische Hervorstechen um jeden, auch finanziellen Preis veranlasst die Trägerin zu ungewöhnlichen Maßnahmen, wie Richard Corson ergänzt: „Coiffures were often allegorical and represented rustic poems, settings for an opera, or perhaps just a flower garden, a field with sheep and shepherds, miniature models of Paris, or the garden of the Palais Royal, including all details “29 Daraus ergibt sich eine zugeschriebene Willkür in der Mode, auch der Haarmode, die sie von jeglichem Sinn freispricht, wie Garve konstatiert Mode definiert er als „die zu jeder Zeit herrschende Meinung von dem Schönen und Anständigen in kleinen Sachen“, die „weder durch Anwendung der Regeln des Geschmacks noch der Zweckmäßigkeit mit völliger Übereinstimmung reguliert werden“ könne 30 Während die Sitten besser oder schlechter werden könnten, könne sich die Mode hingegen „in einem weiten Kreise von Abwechselungen umherbewegen, ohne von ihrem Ziele sich merklich zu verirren, und ohne der Vollkommenheit viel näher zu kommen“ 31 Als Ausdruck der herrschenden Meinung statt einer regelorientierten Vorgabe des Geschmacks wird der Mode jedwede tiefere Bedeutung abgesprochen und als allenfalls bedingt hinterfragbare Erscheinung klassifiziert Der Hofkalender präsentiert weitgehend unreflektiert die abstrusen nachzuahmenden Haarneuschöpfungen und steht damit für die Zirkulation der internationalen Modeindustrie en miniature Der Haarschmuck mit Vogelfedern gilt in dieser Zeit als eines der beliebtesten Zierelemente, sie vereinbaren das facettenreiche Farbspektrum der Natur, die Nachfrage nach seltenen Handelsgütern wie Papageienfedern und den abzusehenden Überraschungseffekt durch fremdartige ‚natürliche‘ Objekte auf dem menschlichen Haupt: Die Adaption natürlicher Elemente ermöglicht der Trägerin einen neuen, individuellen Selbstentwurf Dass es sich bei derartigen Zierraten um äußerst hinderliche Accessoires nicht nur beim Einstieg in die Kutsche, sondern beim Theaterbesuch auch für den Hintermann handelt,32 findet in zahlreichen zeitgenössischen Karikaturen ihren Ausdruck 33 Bildliche Gegenüberstellungen von Gegensatzpaaren wie Natürlichkeit 28

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Maria Jedding-Gesterling: Régence, Rokoko und Louis XVI (1715–1789), in: dies , Georg Brutscher (Hg ): Die Frisur Eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart veranschaulicht an Kunstobjekten der Sammlung Schwarzkopf und internationaler Museen München 1988, S 119–148, hier: 119 Richard Corson: Fashions in Hair The first five thousand years London 1965, S 348 Garve: Über die Moden, S 11 Ebd Vgl Jedding-Gesterling: Régence, Rokoko und Louis XVI, S 119–148, hier: 137–139 Ein Jahr zuvor wird im Göttinger Taschen Calender vom Jahr 1778 eine Anekdote abgedruckt, die auf karikierende Weise die modischen Ausschweifungen durch künstliche Schmuckbeigaben veranschaulicht: „Als in England im Jahr 1775 die Straußfedern allen andern Kopfputz der Damen verdrängten, und Versammlungen von vier bis fünfhundert derselben einer Saat nicht unähnlich sahen, mit welcher der West an einem Sommer=Abend spielt; erschien einmal auf einer Masquerade ein niedlicher Vogel=Strauß Er schien um den Verlust seiner Federn äusserst bekümmert, und lief von einem befiederten Damenkopf nach dem andern, und forderte sie mit sanftem Necken wieder Hingegen hatte er über den Theil seines Leibes, dem man die Federn geraubt hatte,

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und Künstlichkeit oder Tugend und Laster sind keine Seltenheit Sie finden sich auch in Daniel Nikolaus Chodowieckis bekannten Monatskupferserien „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens“, die die natürliche Nacktheit der affektierten Grande parure mit einer maßlos über die Stirn toupierten Frisur und einem dem umgekehrten Reifrock ähnelnden Gemüsekorb auf dem Kopf, so die Erläuterung, vorzieht 34 Dominiert bei den antiken römischen Damenköpfen, die mit „Faustina MATER“, „Faustina IUNIOR“ und „Octavia“ Gattinnen römischer Kaiser darstellen, eine – wenn auch durch Kunsthaar hergestellte – unübertreffliche Schlichtheit, handelt es sich bei den weiteren sechs Frauenzimmerköpfen um namenlose junge Frauen im heiratsfähigen Alter, denen das Ziel zugeschrieben wird, Aufmerksamkeit zu erregen und sich so attraktiv wie möglich herauszuputzen Derartige Gegenüberstellungen in einer im Kalendarium abgedruckten, zwölfteiligen Kupferstichserie veranschaulichen die Formen der Selbstinszenierung junger Frauen durch künstliche Accessoires, die gerade kein natürlich anmutendes Ergebnis zu präsentieren suchen Die Kritik am Kopfputz scheint kaum vereinbar mit den Modekupfern Zwar werden die jungen Damenköpfe an dieser Stelle als Negativbeispiele präsentiert, es handelt sich aber nicht um die typischen Modekupfer, die als Markenzeichen des Hofkalenders von 1782 bis 1794 regelmäßig eingebunden sind Sind die zuvor geschilderten Illustrationen als Monatskupferserie ins Kalendarium eingebunden und durch einen ergänzenden Textbeitrag kommentiert, stehen die Modekupfer zumeist ohne jegliche Erläuterungen, zeigen die neuesten Frisuren, Hüte und Kopfschmuck für das Frauenzimmer und dienen damit der Vermittlung und Nachahmung von Modeerscheinungen aus größeren Metropolen Der Gothaische Hofkalender fungiert als Adelskompendium und verschafft durch die langen abgedruckten genealogischen Verzeichnisse einen Überblick für die aktive Heiratspolitik innerhalb Europas Wird der jungen Leserin anhand der Genealogie die Möglichkeit geboten, sich als adäquate Heiratskandidatin zu präsentieren, vermitteln die Modekupfer ein Bild von Libertinage, Mätressenwesen und Frivolität am Hof Auch in anderen Jahrgängen werden Frisuren abgebildet und beworben, die ausdrücklich im privaten Bereich getragen werden Frisurennamen wie „A la facilité“ ( Jg 1782) oder „Nèglige [!] de Matin“ ( Jg 1784) vergegenwärtigen die Existenz einer für die Leserschaft ungewohnt intimen weiblichen Toilette, die durch die ergänzenden Attribute „simple“ oder „légère“ eine einfache Handhabung gewährleisten Derartige

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vielleicht aus einer diesem Thier eignen Schamhaftigkeit, oder auch aus einer kleinen Rache, ein modernes Kopfzeug von 1774 gestürzt “ Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1778, Göttingen, S 73 Die Serie erscheint in zwei Folgen im von Georg Christoph Lichtenberg herausgegebenen Göttinger Taschen-Calender der Jahre 1779 und 1780 Vgl Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1779; Goettinger Taschen Calender vom Jahr 1780 Vgl auch Jens-Heiner Bauer: Daniel Nikolaus Chodowiecki Das druckgraphische Werk (Danzig 1726–1801 Berlin) Die Sammlung Wilhelm Burggraf zu Dohna-Schlobitten Ein Bildband mit 2340 Abbildungen in Ergänzung zum Werkverzeichnis von Wilhelm Engelmann Hannover 1982, S 94–95, Bildnr 533–576

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Frisurendarstellungen stehen anderen, bei offiziellen Anlässen zu tragenden Frisuren wie „pour le théatre“ oder „le deuil“ ( Jg 1785) kontrastiv gegenüber und räumen ihnen einen neuen Bereich der Öffentlichkeit ein: Die im privaten Rahmen getragenen Frisuren stehen gleichwertig neben der passenden Coiffure zur Abendrobe und manifestieren eine offen gelebte, repräsentative Intimität am Hof Noch weiter gehen Frisuren „aux secrets amoureux“ ( Jg 1783), die die Trägerin als junge, zu erotischen Liebesabenteuern neigende Dame adliger Herkunft herausstellt Nur implizit wird auf das weibliche Haar als wesentliches Element der Verführung verwiesen, das schnell und einfach wieder zusammengesteckt werden muss, um den äußeren Schein der Sittsamkeit zu wahren Die dazugehörige Bewerbung von neuen Luxus- und Kosmetikprodukten wie Essigessenzen zum Rotfärben von Wangen und Lippen35 oder mit Echthaar überzogenen, Locken ähnelnden Springfedern, „vermittelst deren sich die Damen selbst aufsetzen, und ihren Kopfputz in weniger als zwey Minuten völlig umschaffen können“,36 deutet auf unsittliche, aber gesellschaftlich legitime secrets amoureux am Hof hin Künstliche Haaraccessoires können gezogen und binnen weniger Minuten wieder angesteckt werden Dass derartige frivole Ausschweifungen wenn überhaupt nur im heiratsfähigen Alter zu rechtfertigen sind, begründet die Auswahl der abgebildeten Frauenzimmerköpfe, die sich auf junge Frauen beschränken Die hier evozierten Bilder und Vorstellungen bilden einen akzeptierten Gegenpart zur offiziell vorherrschenden Tugend und Sittsamkeit des 18 Jahrhunderts Perücke und Kopfputz sind eine Form der Distinktion per se, sie sind der Inbegriff der Selbstinszenierung und der Unkenntlichmachung, dokumentieren den Status der Trägerin, machen sie attraktiv für klandestine Liebesaffären, um sie langfristig als begehrenswerte Heiratskandidatin herauszustellen 3 Natürlichkeit versus Künstlichkeit in der Haarkunst Die Verbreitung derartiger frivoler Vorbilder der künstlich geschaffenen Haarmode im Gothaischen Hofkalender setzt nicht nur einen spezifischen Leser- oder vielmehr Leserinnentypus voraus, der sich, in höfischer Gesellschaft verkehrend, durch ein finanzielles Grundvermögen und ein umfangreiches kulturelles Interesse auszeichnet 35 36

Vgl Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1774 Gotha, S 84 „Herr Andre, Damen=Coeffeur zu Paris“ hat „Springfedern mit Haaren überzogen, und ihnen die Gestalt von Locken, von verschiedener Form gegeben, vermittelst deren sich die Damen selbst aufsetzen, und ihren Kopfputz in weniger als zwey Minuten völlig umschaffen können Diese falsche [!] Locken, die nicht das Viertel der gewöhnlichen wiegen, leiden alle Arten von Aufsatz, als Mützen, Hüthe etc Man kann Blumen und Diamanten hinein stecken, und sie bis ins Unendliche verändern“ Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1779 Gotha, S 110

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Sie gibt außerdem Aufschluss über vermeintliche Rollenbilder Gemeinhin präsentiert der Kalender ein ambivalentes Bild der gesellschaftlichen Stellung der Frau Ihre Rolle innerhalb der Familie und in der Öffentlichkeit findet nur bedingt Erwähnung, doch spricht Wolfgang Cilleßen ihr in wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht „als Motor und Aushängeschild der national-ökonomisch bedeutsamen Luxusindustrie […] eine wichtige gesellschaftliche Funktion“ zu 37 Auf die eigene Wirtschaft wird im Gotha zwar nur marginal zugunsten der in europäischem Ansehen deutlich angeseheneren französischen verwiesen Die Leserin wird in der Hauptsache als eine Adressatin der Mode herausgestellt, deren Hauptaugenmerk auf ihrer ästhetischen Erscheinung liegen soll – ihrem Körper, ihrer Grazie, ihrer Kleidung und eben ihrem Kopfputz Durch aufwendigen Putz ist die Frau Projektionsfläche erotischer Phantasien und Repräsentantin von Schönheit, Erotik und Reichtum 38 Dabei gibt es in den Kalenderbeiträgen auch Tendenzen, einen natürlichen Status des Haars zu betonen und sich – gemäß dem Titelzusatz des Hofkalenders „zum Nutzen und Vergnügen“ – um die populärwissenschaftliche Vermittlung anatomischer Gegebenheiten bemühen Um dem Anspruch auf Wissen und Unterhaltung bei der Leserschaft nachzukommen, wird das Haar als erklärungswürdiges anatomisches Element begriffen und in dem wissenschaftlichen Beitrag „Physikalische Merkwürdigkeiten Zergliederung des Menschenhaares“ im Jahrgang 1784 ausführlich erläutert 39 Dass es sich bei dem anonym veröffentlichten Text um einen Auszug aus Johann Philipp Lorenz Withofs gleichnamiger medizinischer Qualifikationsschrift handelt, bleibt an dieser Stelle unerwähnt;40 die Veröffentlichung von Texten ohne Verfasserangabe ist im Kalender gängige Praxis und exemplarisch für den Transfer und die Popularisierung von Wissen 41 Withof geht es in seiner Abhandlung um die physikalischen Merkmale des Haars als Teil des menschlichen Körpers, es ist einer der wenigen Beiträge, der sich nicht dem Haupthaar allein, sondern ausdrücklich auch Wimpern, Augenbrauen und der Körperbehaarung widmet Fragen um Mode oder Distinktionsformen bleiben in dem medizinischen Bericht fern, hingegen wird vermeintlich anthropologisches Wissen tradiert, wenn das Kräuseln der Haare auf die Wärme und das Tempe-

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Cilleßen: Modezeitschriften, S 207–224, hier: 212 Vgl ebd , S 212 Vgl Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1784 Gotha, S 115–119 Ursprünglich unter dem Titel Dissertationes de pilo humano veröffentlicht, außerdem ganz ähnlich abgedruckt im Allgemeinen Magazin der Natur, Kunst und Wissenschaften. Vierter Theil. 1754. Abschnitt „V Herrn Johann Philipp Lorenz Withofs (1725–1789) Zergliederung des Menschenhaares (Aus den Comment Goetting T II p 668 seqq )“, S 104–123 Zur Popularisierung von Wissen vgl zum Beispiel Silvia Serena Tschopp: Popularisierung gelehrten Wissens im 18 Jahrhundert Institutionen und Medien, in: Richard von Dülmen, Sina Rauschenbach (Hg ): Macht des Wissens Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft Köln, Weimar, Wien 2004, S 469–489

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rament der tragenden Person und die Art, wie sie die Hautoberfläche durchdringen, zurückgeführt wird 42 Zu den sich jährlich wiederholenden populärwissenschaftlichen Beiträgen gehört etwa „Der menschliche Leib“, der Jahr für Jahr nahezu identische Informationen erhält Der Unterabschnitt „Haare“ unterscheidet zunächst die vier „Hauptfarben“, Blond, Braun, Schwarz und Rot und ihre Farbnuancen, und unterzieht sie einer Wertung Werden in Zedlers Grossem vollständigen Universal Lexicon die Haarfarben noch der Temperamentenlehre zugeordnet, wobei blondem, weißem und gelbem Haar die positiven Eigenschaften unterstellt, während schwarze und rote Haare mit Jähzorn, Schwermut und Melancholie in Verbindung gebracht werden,43 werden im Hofkalender derartige Verbindungslinien nicht gezogen Doch wird das aschfarbige Blond gegenüber dem Goldgelben und dem Milchblonden für das schönste gehalten Lediglich das sehr seltene glänzende Schwarz könne ohne Puder getragen werden, an das rote Haar hingegen wolle sich der europäische Geschmack nicht gewöhnen; zudem wird es mit erotischer Zügellosigkeit in Verbindung gebracht Derartige hierarchisierende Aussagen verdeutlichen nur implizit, welche Haarfarbe vorbildhaft zu tragen sei: das blonde Haar, weshalb bei allen anderen Haarfarben der Puder zur Nacheiferung verwendet wird, und Schwarz, das ohne Puder auskommt „Der menschliche Leib“ verfolgt durchaus ein anthropologisches Interesse und enthält einen hinter der Populärwissenschaft versteckten Aufruf zur Mäßigkeit und Sittsamkeit Demnach habe man bei „Männern und Weibern, welche der Liebe zu sehr ergeben sind“ feststellen können, dass deren Haare „weniger Saft haben, eher austrocknen, und eher ihre gute Beschaffenheit verliehren“ 44 Gerade eine medizinisch-anatomische Abhandlung vermag eine Glaubhaftigkeit zu vermitteln, wenn die Beschaffenheit der Haare auf die tugendhafte Lebensführung seiner Trägerinnen und Träger zurückgeführt wird Das Haar wird einer moralischen Wertung unterzogen und als Mittel der Repräsentation behandelt Beide Beiträge stehen damit exemplarisch für die Tradierung vermeintlicher kultureller Fakten gerade in Texten wissenschaftlichen Anspruchs Solche mehr oder minder direkten Aufrufe zu maßvoller Lebensweise oder Kritik am übertriebenen Modezwang sind im Gothaischen Hofkalender zwar nicht vorherrschend, aber durchweg präsent Will man der von Daniel Nikolaus Chodowiecki gestalteten zwölfteiligen Monatskupferserie „Geschichte der Menschheit nach ihren Culturverhältnissen“ aus dem Jahrgang 1785 Glauben schenken,45 hat die europäische Gesellschaft in vager Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau den Gipfel ihrer Kultur 42 43 44 45

Vgl Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1784 Gotha, S 117 Vgl Haar: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd 12 Halle, Leipzig 1735, Sp 12–17, hier: 13–14 Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1779 Gotha, S 66–67 Vgl Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1785 Gotha,

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schon längst überwunden und steuert nun zuverlässig den kulturellen Verfall an Kultur wird hier aber zunächst als Gegenbegriff zum sogenannten wilden Zustand konstruiert, gilt als allgemeines Merkmal der Menschheit und ist grundsätzlich positiv besetzt Dieses Zeugnis einer frühen Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff demonstriert das ambivalente Verhältnis zwischen dem richtigen Maß und Sittenlosigkeit: Die elfte Illustration zeigt eine junge Familie in einem zurechtgestutzten Landschaftsgarten, die in betont unnatürlicher Kleidung mit Reifrock und Degen, Allongeperücke und hoch aufgetürmtem Kopfputz die steife Lebensweise als Folge des steigenden Luxus zur Zeit Ludwigs XIV repräsentiert Der überhandnehmende Luxus wird als große Gefahr für die Kultur gesehen, er fördere Geschwätz statt Wissenschaft, Schwächung der Religion und Geschmacksverirrungen wie die neuen Modefarben „Boue de Paris und Caca Dauphin“ 46 Neben der ständespezifischen Kleidung wird diese Entwicklung durch die überladenen Lockenperücken schon im Kindesalter repräsentiert, die in ihrer ganzen Pracht die Dekadenz der Zeit veranschaulichen Die Verfeinerung der Sitten wird als Entartung durch die Kultur, die Nachahmung französischer Mode als künstlich und affektiert herausgestellt, wenngleich die Koketterie in den eingangs zitierten Sätzen im Sinne einer Gefallsucht als Instinkt und damit als naturgegeben bezeichnet wird Obwohl der Luxus, mit dem die Mode und damit auch die Haarmode eindeutig in Verbindung gebracht wird, im zu seiner Zeit so populären Journal der Moden, später Journal des Luxus und der Moden, noch als „eine der großen Puls=Adern in jedem Staatskörper“ bezeichnet wird, handelt es sich um eine Kritik am Überfluss und einen Appell an den vernunftvollen Umgang damit 47 In seiner Eigenschaft als Modejournal ist der Hofkalender damit ein Diskussionsforum für Fragen um Haarmode und Schönheitspflege im Zusammenhang mit sozialen, moralischen und pädagogischen Fragen, die zum Maßstab der Beurteilung werden 48 Um einem zu starken Überfluss des Luxus entgegenzuwirken, wird bisweilen mit gesundheitlichen Ratschlägen dagegen argumentiert Neue Mode sei es 1787, bei Kälte mit bloßem Kopf zu gehen, um Krankheiten, vor allem dem „Ausfluß einer zähen Feuchtigkeit durch die Nase“, dem „Schnupfen“, vorzubeugen 49 Diese neue Sitte „erstreckt sich sogar bis auf den Kopfputz des schönen Geschlechts Man verabschiedet alle lästigen Zierrathen, und ein natürliches ausgebreitetes Haar, ist für die Gesundheit und körperliche Grazie, gleich vortheilhaft“ 50 Es scheint, ähnlich dem zuvor angeführten Beitrag zum „Kopfputz römischer Damen“, einem Aufruf zur Natürlichkeit zu

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unpaginiert Vgl auch Bauer: Daniel Nikolaus Chodowiecki Das druckgraphische Werk, S 162, Bildnr 1115–1126 Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1785 Gotha, unpaginiert Bertuch, Kraus: Einleitung, S 3–16, hier: 6 Vgl dazu Cilleßen: Modezeitschriften, S 207–224, hier: 209 Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1787 Gotha, S 17 Ebd

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gleichen, um die modischen antiken Überreste der Vergangenheit in ihrer unprätentiösen Schlichtheit zu bewahren 51 Dass sich hingegen das natürlich fallende Haar ohne jegliche Schmuckelemente, wie in dem altrömischen Frisurenkonzept dargestellt, kaum durchsetzen kann, ist dem Verfasser durchaus bewusst: Die Frisur der Octavia gilt schon „dem Garderobenmädchen zu geringschätzig“ und ist „vielleicht auch in den nächsten Tagen der Bauertochter nicht Putz genug“ 52 Die Schlichtheit derartiger Frisuren kommt für die Leserin des Hofkalenders allein aus Distinktionsgründen zur Behauptung ihres gesellschaftlichen Stands nicht in Frage Eine bewusste modische Zurückhaltung kommt im Hofkalender erst in den Revolutionsjahren zum Ausdruck, als sich locker getragene Frisuren ohne Zierrate gegenüber der künstlichen Perücke zunehmend durchsetzen und zum politischen Statement werden:53 „Modebewußtsein, politischer Fortschritt und Sinn für Reinlichkeit stimmten bei der Ablehnung der Perückenmode überein“ 54 Im Jahrgang 1796 werden die Modekupfer im Hofkalender zum letzten Mal eingebunden Die in England schon im Vorjahr durch William Pitt eingeführte Pudersteuer – das vom Adel zum Bestäuben der Haartracht verwendete Mehl wird von der armen Bevölkerung zur Herstellung von Brot benötigt – deutet die staatlichen Auswirkungen auf die ganz Europa betreffenden politischen Ereignisse an 55 Bis Mitte der 1790er Jahre bleibt Frankreich im Kalender aber, wie vom adligen Lesepublikum erwartet, im Bereich der Mode tonangebend, bleiben die fragilen, durchweg französisch betitelten Damenköpfe wie „à la Jardiniere“, „à la modeste“, „à la Noblesse“ im Miniaturformat bestehen und werden ergänzt um Werbeankündigungen zu den dazugehörigen Pariser Haar- und Pflegeprodukten, die beim Erstellen solcher Frisuren unabdingbar sind Die Erwartungen der Leserinnen im Hinblick auf weitere Modebeiträge über die Revolutionsjahre hinaus werden durch

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Vgl zur Verbindung von traditionellen und innovativen Moden im Journal des Luxus und der Moden Angela Borchert: Ein Seismograph des Zeitgeistes Kultur, Kulturgeschichte und Kulturkritik im ‚Journal des Luxus und der Modenʻ, in: dies , Ralf Dressel (Hg ): Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800 Heidelberg 2004, S 73–104, hier: 90 Gothaischer Hof Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1779 Gotha, S 133 Über die Mode während der Französischen Revolution im Journal des Luxus und der Moden vgl Pia Schmid: „… das Rad der Kleider=Moden mauerfest und täglich neue überraschende Phänomene“ Frauen und Französische Revolution im ‚Journal des Luxus und der Moden‘ 1789 bis 1795, in: Holger Böning (Hg ): Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts München, New York, London [u a ] 1992, S 419–437 Manuel Frey: Der reinliche Bürger Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860 Göttingen 1997, S 218 Vgl Hanna Plutat-Zeiner: Französische Revolution, Directoire und Empire (1789– um 1820), in: Maria Jedding-Gesterling, Georg Brutscher (Hg ): Die Frisur Eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart veranschaulicht an Kunstobjekten der Sammlung Schwarzkopf und internationaler Museen München 1988, S 149–164, hier: 151

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Berichte über die unverfänglicheren, politisch nicht aufgeladenen und an ehrwürdigere Traditionen anknüpfenden Damenmoden aus der Antike gestillt 56 4 Resümee Der Gothaische Hofkalender fungiert als literarische kulturgeschichtliche Wunderkammer 57 Er ist variantenreich und aufwendig gestaltet und bietet auf engem Raum im Hinblick auf das Haar unterhaltende Informationen und Illustrationen über Antiquitäten und Kunsthandwerk, über natürliche und künstliche Merkwürdigkeiten Die Vermittlung und Systematisierung von Wissen geschieht nicht nur durch die Bereitstellung historischer oder zeitgenössischer Wissens- und Erkenntnisfortschritte aus neuesten Entdeckungen, sondern vornehmlich durch die Präsentation aktueller (französischer) Moden in Text und Bild Dabei sind die abgedruckten Beiträge nicht als historische, Fakten präsentierende Quellen zu betrachten Vielmehr handelt es sich um Beschreibungsmuster, die in Bezug auf Verbreitung von Wissen und kulturellen Leitbildern eine wichtige Rolle spielen Die Art, das Haar zu tragen, ist sehr eng mit der Frage nach dem richtigen sittlichen Geschmack verknüpft, ist identitätsstiftend und erhält dadurch eine bedeutende Symbolkraft Indem er Frisuren und Kopfputz als Distinktionsmittel präsentiert, zeigt sich der Hofkalender als legitimierendes und beförderndes Medium einer gesellschaftlichen hierarchischen Ständeordnung Der übertriebene Kopfputz wird zwar als Ausdruck des Übermaßes gewertet, und es wird karikierend vor einer falschen Nachahmung adliger Lebens- und Umgangsformen gewarnt Dennoch wird die Haarmode weiterhin thematisiert und durch die permanente Präsenz ausdrücklich gefördert: Je aufwendiger die dargestellten Frisuren, desto interessanter sind die Nachrichten über kosmetische Produkte wie Pomaden, Haarwasser und Puder zur Herstellung von Perücken Es gleicht einem Aufruf an die wohlhabenden Stände zu vermehrtem Konsum, von dem vor allem die französische Wirtschaft profitiert Damit stehen sich im Gothaischen Hofkalender immer wieder Oppositionen gegenüber: die Faszination für die Novitäten der Haarmode und die Kritik am Luxus und übertriebenen Modewahn Nur scheinbar eröffnet er eine Diskussion um Sittlichkeit, unterschwellig proklamiert er Freizügigkeiten Wird nach außen der Tugendkatalog propagiert, wird implizit die ‚unvernünftige‘, den Sinnesfreuden huldigende Lebensweise toleriert und als gegeben angenommen Die Bewertung der Koketterie als menschlichen Instinkt legitimiert eine ausladende Haarzierde ebenso wie die Tradierung der Praxis, Fremdhaar ins ei56 57

Siehe auch die Beiträge von Karl August Böttiger im Journal des Luxus und der Moden, beispielsweise in den Ausgaben von Juli bis August 1796 Vgl auch Cilleßen: Modezeitschriften, S 207–224, hier: 210 Vgl Achim Landwehr: Kulturgeschichte Stuttgart 2009, S 78–79

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gene einzubinden, seit der Antike Ein Ausschluss von Kopfputz und Haarmode lässt sich faktisch nicht durchsetzen, gerade die Modekupfer bleiben über Jahrzehnte hinweg Markenzeichen des Hofkalenders Nicht zuletzt erfolgt die Einbindung von Kupferstichen, Modebeiträgen und Werbung aus marktstrategischen verlegerischen Maßnahmen zur Absatzsteigerung Erst in den 1790er Jahren ist eine Verschiebung bei der Darstellung der Haarmode zu verzeichnen: von der Aussparung eines Bildprogramms zum alleinigen Textbeitrag und von der Berichterstattung modischer Novitäten zur historischen Nachzeichnung der Antike Dieses bewusste Aussparen der Modekupfer deutet die Vorsicht der Kalenderproduzenten während der Revolutionsjahre bei den Redaktionsarbeiten der Folgejahrgänge des Gotha an Die Thematisierung des Haars im Gothaischen Hofkalender belegt die europäische Zirkulation von populärwissenschaftlichen Wissensbeständen, ästhetischen und moralischen Wertungen sowie Körper- und Konsumpraktiken Sie zeigt außerdem die Vielschichtigkeit eines populären Periodikums des ausgehenden 18 Jahrhunderts in seiner Funktion als Modejournal und Sittenforum für Mode und Schönheit, verbunden mit sozialen, moralischen und medizinischen Fragen Der Hofkalender lebt notwendigerweise von seiner Ambivalenz und steht von Beginn an zwischen aufklärerischem Ethos und adliger Repräsentation, maßvollem Lebensstil und Verschwendungslust Kristina Kandler, M A Germanistin und derzeit im pharmazeutischen Bereich tätig

g o t h a e r f o r s c h u ng e n z u r f rü h e n n e u z e i t bis Band 10: Friedenstein-Forschungen

Herausgegeben vom Forschungszentrum und der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt. Schriftleitung: Martin Mulsow und Kathrin Paasch

Franz Steiner Verlag

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ISSN 2510–0793

Ulman Weiß Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder Vom Umgang mit Dissidenten 2007. 640 S. mit 9 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08856-5 Sebastian Lentz / Ferjan Ormeling (Hg.) Die Verräumlichung des Weltbildes Petermanns Geographische Mitteilung zwischen „explorativer Geographie“ und der „Vermessenheit“ europäischer Raumphantasien. Beiträge der Internationalen Konferenz auf Schloß Friedenstein in Gotha vom 9.–11. Oktober 2005 2008. 267 S. mit 23 s/w-Abb. und 27 Farbabb. auf 24 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08830-5 Veit Rosenberger (Hg.) „Die Ideale der Alten“ Antikerezeption um 1800 2008. 199 S. mit 10 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09000-1 Christian Ahrens „Zu Gotha ist eine gute Kapelle …“ Aus dem Innenleben einer thüringischen Hofkapelle des 18. Jahrhunderts 2009. 374 S. mit 31 Abb. und 1 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-09236-4 Günter Mühlpfordt / Ulman Weiß (Hg.) Kryptoradikalität in der Frühneuzeit 2009. 386 S., geb. ISBN 978-3-515-09142-8 Veit Rosenberger (Hg.) Die Acerra Philologica Ein frühneuzeitliches Nachschlagewerk zur Antike 2011. 199 S. mit 15 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09326-2 Veronika Bunk Karlsruhe – Friedenstein Family, cosmopolitanism and political culture at the courts of Baden and Sachsen-Gotha-Altenburg (1750–1790) 2011. 259 S. mit 11 s/w-Abb. und 8 Farbabb. auf 8 Taf., geb. ISBN 978-3-515-09654-6

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Reimar Lindauer-Huber / Andreas Lindner (Hg.) Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) Aspekte von Leben, Wirken und Werk im Kontext 2011. 222 S. mit 7 s/w-Abb. und 1 Farbabb, geb. ISBN 978-3-515-09833-5 9. Miriam Rieger Der Teufel im Pfarrhaus Gespenster, Geisterglaube und Besessenheit im Luthertum der Frühen Neuzeit 2011. 328 S. mit 15 s/w-Abb., geb. ISBN 978-3-515-09869-4 10. Sascha Salatowsky / Winfried Schröder (Hg.) Duldung religiöser Vielfalt – Sorge um die wahre Religion Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit 2016. 313 S., geb. ISBN 978-3-515-11368-7 11. Markus Friedrich / Sascha Salatowsky / Luise Schorn-Schütte (Hg.) Konfession, Politik und Gelehrsamkeit Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582–1637) im Kontext seiner Zeit 2017. 280 S., geb. ISBN 978-3-515-11605-3 12. Martin Mulsow / Kasper Risbjerg Eskildsen / Helmut Zedelmaier (Hg.) Christoph August Heumann (1681–1764) Gelehrte Praxis zwischen christlichem Humanismus und Aufklärung 2017. XVI, 265 S. mit 6 s/w-Abb., geb. ISBN 978-3-515-09647-8 13. Veronika Albrecht-Birkner / Alexander Schunka (Hg.) Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen Religiöse Reform im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts 2018. 327 S. mit 4 s/w-Abb. und 3 Tab., geb. ISBN 978-3-515-12171-2

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Die Autorinnen und Autoren, die ein breites Spektrum literarischer, religiöser, politischer, gelehrter und pharmazeutischer Quellen sowie künstlerischer Werke erschließen, verstehen die Kulturgeschichte des Haares zugleich als seine Wissensgeschichte. Sie diskutieren, wie Wissen über Haar-Praktiken und -Bedeutungen in ‚haarkundigen‘ Gesellschaften archiviert, zirkuliert und als Argument instrumentalisiert wurde. Dabei verbinden sich traditionell textphilologisch und objektbezogen arbeitende Disziplinen mit aktuellen sozial- und körpergeschichtlichen Fragestellungen.

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