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German Pages 115 Year 1994
WOLFGANG KAHL
Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassungen Osteuropas
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 81
Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassungen Osteuropas Eine Studie am Beispiel von Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Rußland
Von
Dr. Wolfgang Kahl
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Kahl, Wolfgang::
Das Grundrechtsverständnis der postsozialistischen Verfassungen Osteuropas : eine Studie am Beispiel von Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Russland I von Wolfgang Kahl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 81) ISBN 3-428-08214-1 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08214-1
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken
,.Deine Regierung, oh Volk, ist zu Dir zurückgekehrt." (Vaclav Havel, 1990)
Inhaltsverzeichnis Einführung
13
Teil A
Das sozialistische Grundrechtsverständnis I. Die kollektivistische Grundrechtskonzeption ..............................................
19 20
II. Die Grundrechte als subjektive Rechte ........................................................
24
III. Die Einheit von Rechten und Pflichten ........................................................
25
IV. Die Relativierbarkeit der Grundrechte.........................................................
26
V. Die mangelnde justizielle Durchsetzbarkeit ................................................
30
VI. Die Dominanz der sozialen Grundrechte ............................................ .........
31
VII. Zwischenergebnis...........................................................................................
33
Teil B
Der (verfassungs-)politische TransformationsprozeH
35
I. Polen .............................................................................................................
36
II. Ungarn ............................................................................................................
43
III. Tschechien, Slowakei.....................................................................................
48
IV. Rußland ...........................................................................................................
55
V. Zwischenergebnis ...........................................................................................
62
Teil C
Das postsozialistische Grundrechtsverständnis
67
I. Das naturrechtliche Fundament ....................................................................
67
II. Die Anpassung an europäische und internationale Standards.....................
69
8
Inhaltsverzeichnis
III. Die Verarbeitung historischer Erfahrungen ..................................................
71
1. Parteienfreiheit ..........................................................................................
72
2. Marktwirtschaft und Privateigentum.......................................................
73
3. Justizgrundrechte ......................................................................................
75
4. Verbot der Folter ............................................ .............................. .............
77
5. Minderheitenschutz...................................................................................
77
6. Sonstiges ......................................................................................... ...........
78
IV. Die Aufwertung der politischen Freiheitsrechte ..........................................
80
V. Die Aktivierung des objektiven Grundrechtsgehalts ...................................
82
VI. Die Reduktion der Grundpflichten ................. .... ...........................................
83
VII. Die materiellen Grundrechtssicherungsmechanismen ................................
84
VIII. Die formellen Grundrechtssicherungsmechanismen ...................................
87
1. Rechtswegegarantie ..................................................................................
87
2. Verfassungsgerichtsbarkeit .......................................................................
88
a) Polen....................................................................................................
88
b) Ungarn.................................................................................................
91
c) Tschechien, Slowakei .........................................................................
94
d) Rußland ................ ................................ .... ...........................................
95
3. Der Bürgerbeauftragte (Ombudsmann/-frau) ..........................................
97
Teil D
Resümee und Würdigung
99
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
Abs.
Absatz
AdG
Archiv der Gegenwart
AJPIL
American Journal of Public and International Law
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
AP
Außenpolitik
APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
Art.
Artikel
Bd.
Band
BiS
Der Bürger im Staat
Blätter
Blätter für deutsche und internationale Politik
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
ders.
derselbe
DSt
Der Staat
DuR
Demokratie und Recht
EA
Europa Archiv
EB
Eichholz Brief
ebd.
ebenda
ER
Europäische Rundschau
EuGRZ
Europäische Grundrechtszeitung
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FB
Freibeuter
GG
Grundgesetz
H.
Heft
Hb.
Halbband
HK
Herder Korrespondenz
Hrsg.
Herausgeber
10
Abkürzungsverzeichnis
IPbürgR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966
IPwirtR
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966
JCS
Journal of Communist Studies
JD
Journal of Democracy
JfO
Jahrbuch für Ostrecht
Jfp
Jahrbuch für Politik
Jhd.
Jahrhundert
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
m.E.
meines Erachtens
MEW
Marx-Engels-Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (Ost), 1957 ff.
MfOR
Monatsschrift für Ostrecht
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
m.z.w.N.
mit zahlreichen weiteren Nachweisen
n.F.
neue Folge
OE
Osteuropa
OER
Osteuroparecht
PA
Parliamentary Affairs
Pari.
Das Parlament
PSQ
Political Science Quarterly
PS
Political Studies
PSt
Politische Studien
PVS
Politische Vierteljahresschrift
RCEEL
Review of Centrat and East European Law
Rdnr(n).
Randnummer(n)
RFEIRL
Radio Free EuropetRadio Liberty
ROW
Recht in Ost und West
S.
Seite
SOE
Südosteuropa
SOEM
Südosteuropamitteilungen
sog.
sogenannte(r)
Abkürzungsverzeichnis Sp.
sz
11
Spalte Süddeutsche Zeitung
UdSSR
Union der sozialistischen Sowjetrepubliken
UNC
Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945
UNEMR
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossenen Fassung
vgl.
vergleiche
VRÜ
Verfassung und Recht in Übersee
WiRO
Wirtschaft und Recht in Osteuropa
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZfP
Zeitschrift für Politik
ZfRV
Zeitschrift für Rechtsvergleichung
zit.
zitiert
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
Einführung Im Jahre 1989 wurde die Welt Zeuge eines historischen Umbruchs, einer "Beschleunigung der Geschichte" (Havel), welche die Systeme des realexistierenden Sozialismus mit atemberaubender Rasanz und Leichtigkeit zur Überraschung der meisten, auch der Wissenschaftler 1, in sich zusammenstürzen ließ. Es kam zum Zerfall eines Imperiums, das aus westlicher Perspektive für unerschütterlich gehalten wurde; mit anderen Worten zur "Rückkehr der mittelund osteuropäischen Völker nach Europa, ihrer Emanzipation aus langer Gefangenschaft, aus der Hegemonie jenes 'großen Bruders', der die Bewegung anstieß"2 • Hierfür den Terminus (Ketten-)Revolution zu verwenden, erscheint durchaus angebracht, versteht man unter einer "Revolution" doch, bei allen Kontroversen und Unklarheiten in den Details, "tiefgreifende Veränderungen der gesamten politischen und sozialen Strukturen und unter Umständen auch des kulturellen Normensystems einer Gesellschaft"3• Für den Revolutionscharakter der Ereignisse des Jahres 1989 spricht vor allem die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Veränderungen, auch wenn nicht verkannt werden soll, daß die Systemtransformationen, zumal in der Sowjetunion, aber auch in Ungarn und Polen, wesentlich durch die von den Regierenden eingeleiteten Reformen mitbestimmt waren, es sich also partiell um ,,Revolutionen von oben" handelte. Timothy Garton Ash hat deshalb sogar Zweifel, ob in Ungarn überhaupt von einer "Revolution" gesprochen werden könne und hält den Zwitterbegriff einer "Refolution" für treffender". Klaus von Beyme präferiert den Begriff "Systemwechsel", welcher der kämpferischen Konnotationen des Revolutionsbegriffs entbehre und eine tiefere Wandlungsperspektive eröffne als der ReformbegriffS. Die Revolutionen des Jahres 1989, die von der Sowjetunion ihren Ausgang nahmen, in Polen und Ungarn erstmals konsequent zu Ende geführt wurden, 1 Vgl. K. von Beyme, PVS 31 (1990), S. 457, 462, 468; ders., Systemwechsel, S. 16 ff.; G. Simon, APuZ B 52-53/1992, S. 32 ff. ("Die Osteuropawissenschaft hat versagt") sowie eingehend zum Ganzen G. Riescher/R. Gabriel, Systemwandel, insbes. S. 7 ff., 158 ff. 2 D. Geyer, Freiheit, S. 9. 3 H.- W Krumwiede/B. Thibaut, Revolution, S. 593. • T.G. Ash, Jahrhundert, S. 295; ebenso G. Da/os, Ungarn, S. 241 ; ähnlich M. Schneider, Jahrhundertmythos, S. 296 f., der die aufbegehrenden Völker des Jahres 1989 mit den "Rebellen" im Sinne von A. Camus, "Der Mensch in der Revolte" vergleicht; wie hier z.B. D. Geyer, Freiheit, S. 10; /. K6nya, Oppositionelle, S. 46. ' Vgl. K. von Beyme, Systemwechsel, S. 50.
14
Einführung
sich sodann über die DDR, die Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien ausbreiteten und mit Verspätung wieder in der Sowjetunion ankamen, waren stets auch konstitutionelle Revolutionen. Die, auch verfassungsrechtliche, Rückkehr der früheren sowjetischen Satellitenstaaten nach Europa ist - in Umkehrung von Loewensteins Einschätzung Ende der fünfziger Jahre6 - Ausdruck einer Renaissance der geschriebenen, normativen Verfassung in der konstitutionellen Demokratie. Die Schaffung von "offenen Verfassungen"7 stellte sich in Osteuropa als "erste Stufe" des Wegs von der Unfreiheit in die "offene Gesellschaft"8 dar. "Sicher ist", so Klaus Stern, "daß wir wiederum - 200 Jahre nach der französischen Revolution - an einer konstitutionellen Zeitenwende stehen"9 • Eine herausgehobene Funktion kam dabei den Grundrechten zu 10 : "Wenn durch eine große politische Tat ein neues Staatswesen gegründet oder durch eine Revolution ein völlig neues Prinzip der staatlichen Integration aufgestellt wird, so ist eine feierliche Erklärung (der Grundrechte; der Verf.) der natürliche Ausdruck des Bewußtseins, in einem entscheidenden Augenblick dem eigenen politischen Schicksal eine bestimmte Wendung zu geben" 11 • Ziel der Arbeit ist es, diesen verfassungspolitischen 12 und -rechtlichen Aspekt des Wandels einer eigenständigen Betrachtung zu unterziehen. Dabei soll die Reformierung der Verfassungsordnung ("polity") 13 nicht insgesamt, sondern unter Ausklammerung von Fragen des Staatsaufbaus 14 - exemplarisch anband der jeweiligen Grundrechtskapitel dargestellt werden 15 • Es geht ausschließlich um den Aspekt der Beschränkung der Regierungsgewalt respektive der Regelung des Verhältnisses von Staat und Bürger als einer klassischen Komponente der Lehre von den politischen Systemen 16• Diese Eingrenzung des thematischen Ansatzes läßt sich auf zweifache Weise rechtfertigen. Erstens zeigt sich - unter dem Gesichtspunkt der normativ-ontologischen und der institutionellen Dimension politischer Realität 17 - gerade am Beispiel der Grundrechtsfrage besonders deutlich, mit welchem Paradigmenwechsel hinsichtlich der Vgl. K. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 157 ff. Vgl. K. von Beyme, Vergleich, S. 144 f. ' Vgl. R. Dahrendorf, Betrachtungen, S. 82 ff.; ebenso B. Ackermann, Transit 4/1992, S. 46 ff. 9 K. Stern, Menschenrechte, Rdnr. 44. 10 Vgl. K. Stern, ebd. 11 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 161. 12 Zur Verfassungspolitik als Gegenstand der Politikwissenschaft vgl. M. Hällich, Politikwissenschaft, S. 210 ff. 13 Vgl. D. Berg-Schlosser/f. Stammen, Politikwissenschaft, S. 33 ff. 14 Mit Ausnahme des Aspektes der (unmittelbar grundrechtsrelevanten) Verfassungsgerichtsbarkeit (siehe unten "C. VIIl. 2."). 15 Zum Verhältnis "Grundrechte und Verfassungsstaat" vgl. K. Stern, Menschenrechte, Rdnm. 30 ff. 16 V gl. G.A. Almond/G.B. Powelljr., Comparative Politics, S. 239 ff.; K. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 127 ff. (131). 17 Vgl. D. Berg-Schlosser/f. Stammen , Politikwissenschaft, S. 39 ff. 6
7
Einführung
15
Ordnungsmaßstäbe 18, in concreto der anthropologischen Prämissen und der grundlegenden Wertentscheidungen eines politischen Systems wir es in den "osteuropäischen"19 Staaten zu tun haben. Zweitens stellte die Verankerung und juristische Absicherung eines dem bürgerlich-liberalen Verfassungsverständnis entsprechenden Grundrechtsstandards und Rechtsstaates, neben den Forderungen nach Selbstbestimmung, Pluralismus, Marktwirtschaft und freien Wahlen, eine der zentralen Antriebskräfte der unterdrückten und aufbegehrenden Menschen Osteuropas dar, so daß sich hierin zugleich ein Stück der subjektiven, die Einstellungen und Attitüden der Bürger betreffenden Dimension der politischen Realität widerspiegelt. Die Bearbeitung des damit umrissenen Themas wird sich an folgendem Gedankengang orientieren: Zunächst sollen, um den wahrlich revolutionären Charakter der neu entstandenen Verfassungen im Kontrast hierzu deutlicher hervortreten zu lassen, die Grundzüge des (früheren) sozialistischen Grundrechtsverständnisses dargelegt werden (.,Teil A. "). Dies sollparspro toto anhand der sowjetischen Verfassung von 1977 geschehen. Denn das sowjetische Verfassungs- und Grundrechtsverständnis fungierte als Vorbild und Modell für die Satellitenstaaten des ehemaligen Warschauer Paktes, in denen die stalinistische Verfassung von 1936 regelmäßig nur abgeschrieben bzw. allenfalls geringfügig modifiziert worden war, sieht man einmal von dem hier nicht behandelten "Sonderfall" Jugoslawien ab20• Sodann soll der Versuch unternommen werden, eine, wenn auch skizzenhafte und zwangsläufig unvollständig bleibende, länderspezifische Chronik der Ereignisse zu zeichnen, die zu dem "heißen Herbst" des Jahres 1989 geführt haben ( .. Teil B. "). In diese Chronik wird die Darstellung der jeweiligen Verfassungsgebungsprozesse eingebettet. Die Koppelung von "Verfassung und politischem System"21 erscheint unabdingbar, da die konstitutionellen Umgestaltungen nicht isoliert betrachtet werden können, sondern einen integralen Bestandteil der historischen Gesamtentwicklung in und um das Jahr 1989 bilden. Der Verfassungsgebung liegt, so Hättich, "in der Regel ein Ausnahmezustand des politischen Systems zugrunde"22 • In unserem Fall ist dies die osteuropäische Kettenrevolution. Nur im Lichte der Geschichte des Jahres 1989, beispielsweise des geistigen Einflusses der Intellektuellen in den Bürgerrechtsbewegungen, aber auch der ebenso bedeutsamen Vorgeschichte (Volksaufstand in Ungarn, Prager Frühling, Charta 77, "SolidaVgl. dazu M. Hättich, Politikwissenschaft, S. 213. Der Begriff .. osteuropäisch ", der in seiner egalisierenden Semantik Ausdruck des im Jahre 1989 gleichermaßen untergegangenen Blockdenkens ist, wird hier nur aus Vereinfachungsgründen verwendet, soll aber inhaltlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es um .. ost-, südost- und mitteleuropäische" Länder geht. 20 Vgl. T. Stammen, Regierungssysteme, S. 168 oben. 21 Vgl. hierzu K. von Beyme, Vergleich, S. 129 ff. 22 M. Hättich, Politikwissenschaft, S. 205; vgl. zum Ganzen auch K.G. Banting/R. Simeon, Constitutional Change, S. I ff. 18 19
16
Einführung
rität") läßt sich der für ein tieferes Verständnis der neuen Grundrechtskonzeptionen notwendige ideengeschichtliche Hintergrund ausleuchten. Die postsozialistischen Grundrechte sind - wesensimmanent - Errungenschaften23 der Kettenrevolution von 1989. Sie beziehen ihr Wesen und ihre Natur gerade aus der Überwindung des und der Abkehr von dem grund- und menschenrechtsverletzenden Vorläufersystem des real-existierenden Sozialismus. Sie sind mit Wilhelm Henke gesprochen - "Grenzsteine gegen den Staat ( ... ), die (... ) dort gesetzt worden sind, wo die staatliche Herrschaft in unerträglichem Maße in Gewalt und Willkür ausartete"24 • Es war im Rahmen dieser Studie nicht möglich, sämtliche der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten in die Untersuchung einzubeziehen, weshalb einige Staaten stellvertretend ausgewählt wurden, an denen sich die grundlegende Wende im Staat-Bürger-Verhältnis für die gesamte "area"25 Osteuropa idealtypisch aufzeigen läßt. Dies sind: Polen, Tschechien und die Slowakei (Mitteleuropa), Ungarn (Südosteuropa) und Rußland (Osteuropa). Auch wenn es in den hier nicht berücksichtigten Ländern verschiedene Abweichungen und Spezifika gibt26 , können bei aller "Einzigartigkeit" der Phänomene die hier getroffenen Aussagen bezüglich des neuen Grundrechtsverständnisses tendenziell bzw. im Grundsätzlichen eine den Einzelfall übersteigende Gültigkeit beanspruchen27 • Dies gilt in besonderem Maße für die im zentralen "Teil C. " bewußt nicht nach Ländern, sondern nach Sachtopoi auf entsprechendem Abstraktions- und Generalisationsniveau28 getroffenen Feststellungen bezüglich der Wesensmerkmale des postsozialistischen Grundrechtsverständnisses. Es geht dem Verfasser mit anderen Worten in erster Linie darum, mehr oder weniger allgemein-gültige, auch für den NichtOsteuropa-Spezialisten aufschlußreiche, Entwicklungstendenzen aufzuzeigen und damit einen Beitrag zur quantitativen Ostforschung zu leisten, "die als
Vgl. zum Begriff T. Stammen, Demokratie, S. 119. W Henke, Grundrechte, S. 689; ähnlich K. von Beyme, Vergleich, S. 139; vgl. auch den 1. Erwägungsgrund der UNC sowie den 2. Erwägungsgrund der UNEMR. 2s Zum Begriff der "area studies" vgl. D. Berg-Schlosser/F. Müller-Rommel, Vergleichende Politikwissenschaft, S. 18. Im Kontext mit ,.Osteuropa" ist dieser aus dem Ost-West-Gegensatz entstammende Begriff nicht unbedenklich, da der vermeintliche ,.Block" der Warschauer PaktStaaten bereits vor seinem endgültigen Zerfall durchaus inhomogen war; vgl. 0. Massing, Vergleichende politische Analyse, S. 245 (252). 26 Dies gilt vor allem ftir das in puncto Demokratisierung noch hinterherhinkende Albanien, aber auch für Serbien, die meisten GUS-Staaten sowie, in abgeschwächter Form, für Rumilnien; vgl. J. luch/er, OE 44 (1994), S. 125 ff.; K. Westen, MfOR 33 (1991), S. 11 ff. 27 Vgl. K. von Beyme, Vergleichende Methode, S. 35: ,.Im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft neigt die vergleichende Methode in der Politikwissenschaft stärker dazu, das Ähnliche oder Äquivalente zu betonen als das Verschiedene und das Unvergleichbare." 28 Vgl. zu der damit verbundenen Problematik, ,.den konkreten Exemplaren durch die typologisch festgelegte ' Norm' Gewalt anzutun", 0. Massing, Vergleichende politische Analyse, S. 245 (254). 23
24
Einführung
17
public policy-Forschung ohne detaillierte Sprach- und Landeskenntnisse gleichsam über die Länder 'hinwegrechnet'"29 • Was die Methodik anbelangt, so wird (auch) der "Teil C." primär auf einer vergleichenden Vorgehensweise beruhen. Der Vergleich zielt dabei in eine dreifache Richtung: Er ist zum einen rückwärts gewandt auf das frühere sozialistische Grundrechtsverständnis (Differenzmethode). Er soll aber auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Grundrechtskonzeption der hier gesichteten, osteuropäischen Verfassungstexte herausarbeiten sowie einige Übereinstimmungen und Divergenzen zur westlichen (repräsentativ der deutschen) Theorie der Grundrechte an das Tageslicht befördern (Konkordanzmethode) 30• Die interdisziplinär angelegte Arbeit liegt auf der (fließenden) Grenzlinie zwischen politischer Philosophie, politischer Systemelehre und vor allem vergleichender Politikwissenschaft (.,comparative politics")31 einerseits sowie Staats-, genauer Verfassungslehre, Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie und vor allem (Ost-)Rechtsvergleichung32 andererseits. Am Ende der Arbeit steht eine Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse sowie eine abschließende persönliche Stellungnahme ("Teil D. ").
K. von Beyme, Systemvergleich, S. 37. Zu der auf J.S. Mill zurückgehenden grundlegenden Unterscheidung zwischen der Differenz- und der hier hauptsächlich angewandten Konkordanzmethode vgl. K. von Beyme, ebd., S. 31 ff.; zu den Auswirkungen des Zusammenbruchs des Sozialismus auf die Komparatistik vgl. ders., PVS 31 (1990), s. 467 ff " Vgl. zu dieser aus der vergleichenden Regierungslehre (.,comparative govemment") heraus entstandenen Forschungsrichtung D. Berg-Schlosser/J. Stammen, Politikwissenschaft, S. 220 ff.; K. von Beyme, ebd., S. 17 ff. ; T. Stammen, Einleitung, S. I ff. jeweils m.z.w.N. 32 Vgl. zur Rolle der Rechtsvergleichung im ost- und mitteleuropäischen Reformprozeß K. Westen, ROW 35 (1991), S. I ff. ; ders., MfOR 33 (1991), S. 18 ff. 29
30
2Kahl
Teil A
Das sozialistische Grundrechtsverständnis Die Konstitutionen der sozialistischen Staaten enthalten prima vista Grundrechtskataloge, die vom Umfang her denen "westlicher" Verfassungen zumindest entsprechen, sieht man einmal von der zumeist fehlenden Freizügigkeit, Ausreise- und Heimkehrfreiheit ab. Häufig gehen sie sogar über die Grundrechtsverbürgungen liberaler Staaten hinaus. Sind die sozialistischen Verfassungen damit nicht fortschrittlich, vielleicht sogar vorbildlich? Eine derartige, durch "tenninologische Äquivokationen" 1 geblendete Konklusion, die auch von Experten im Westen vertreten wurde2 , wäre jedoch zu kurz gegriffen, da zu formal-superfiziell. Entscheidend ist nämlich "nicht so sehr die schriftliche Fixierung, als vielmehr die tatsächliche Geltung"3 , damit wir es mit einer normativen und nicht nur einer semantischen bzw. bestenfalls nominalistischen Verfassung (Loewenstein) 4 zu tun haben. "Eine fonneUe Verfassung macht einen Staat - außer in der engsten Wortbedeutung - noch lange nicht zu einem echten Verfassungsstaat."5 Blickt man aber hinter die potemkinschen Grundrechtsfassaden6 des real-existierenden Sozialismus, so offenbart sich eine mit dem geschriebenen Verfassungstext mehr oder weniger in Widerspruch stehende Verfassungswirklichkeit Eine Wirklichkeit von totalitären7 bzw. zumindest autoritären Regimen8 , in denen die Verletzung zentraler Grund- und Menschenrechte an der Tagesordnung war (ist) 9• "Rigoros eingeschränkte MeinungsfreiT. Stammen, Regierungssysteme, S. 168. Vgl. die zu formalistische und damit euphemistische Einschätzung von H. Roggemann, Verfassungsentwicklung, S. 257 (314 ff.), demzufolge von dem ,jugoslawischen Modell eines demokratischen Sozialismus nach wie vor bemerkenswerte Denkanstöße und Herausforderungen für die europäische Verfassungstheorie und vergleichende Verfassungslehre ausgehen" (S. 320); zu unkritisch auch F.-0. Kopp, Verfassungsverständnis, S. 573 (600 ff.). 3 M. Hättich, Politikwissenschaft, S. 205. 4 Vgl. zu dieser "ontologischen" Klassifizierung K. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 151 ff. (156), 418 ff. (421). 5 K. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 140; vgl. auch ders., S. 148 ff. (ISO). 6 Vgl. A. Blankenagel, JfO 31 (1990), I. Hb., S. 9 (29) sowie V. Havel, Wahrheit, S. 66 ("Welt des Scheins"). 7 Vgl. T. Stammen, Ordnungsformen, S. 164; V. Havel, ebd., S. 13, verwendet das mißverständliche Adjektiv .. posttotalitär". ' Vgl. zur Terminologie K. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 12 ff., 26 ff., 50 ff. (55), 424. 9 Vgl. nurM. Kriele, Menschenrechte, S. 26 ff. sowie UnabhängigeWissenschaftlerkommission, Menschenrechte, S. 12 ff., 21 ff. 1
2
2*
Teil A: Das sozialistische Grundrechtsverständnis
20
heit, Geheimhaltung der Rechtsakte, Pflicht statt Recht zur Partizipation, Akklamation statt Wahl, Fehlen des Begriffs der Menschenrechte, keine Begrenzung der Staatsmacht, sondern deren Glorifizierung, Religionseinschränkung, kein Habeas Corpus, sondern psychiatrische Kliniken für Andernsdenkende, keine fairen Strafprozesse, sondern Drohung des Gulag, Willkür und äußerste Ungleichheit zwischen Privilegiertenklasse und terroristischer Verfolgung von Dissidenten - kurz, statt Bürgerrecht ein Untertanenstaat." 10 Der Grund für diese beträchtliche Diskrepanz 11 liegt in dem von der bürgerlich-rechtsstaatliehen Tradition abweichenden Verfassungsverständnis 12 im allgemeinen und dem divergierenden sozialistischen Grundrechtsverständnis im besonderen 13 • Dessen wesentliche Grundzüge sollen im folgenden in gedrängter Form dargestellt werden. I. Die kollektivistische Grundrechtskonzeption
Die ideologische Grundlage für die Grundrechtskonzeption sozialistischer Staaten bildet die Lehre vom Marxismus-Leninismus 14• Nach dem historischen und dialektischen Materialismus 15 ist die Geschichte aller Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen. Durch die Revolution des Proletariats gilt es, die kapitalistischen Klassenunterschiede zu beseitigen und damit zugleich der Ausbeutung und Entfremdung der Menschen ein Ende zu bereiten. Die Revolution zielt auf die Vergesellschaftung des Menschen und auf ein "Reich der Freiheit" 16, das mit der klassenlosen Gesellschaft gleichgesetzt wird. Für Marx macht somit die Zugehörigkeit des Menschen zur Gesellschaft den Kern seines Menschendaseins aus. Es gelte nicht nur eine "politische", sondern eine "menschliche Emanzipation" in die Wege zu leiten, sprich einen "neuen Menschen" zu schaffen, dessen Dualität (citoyen/bourgeois) aufgehoben und der in erster Linie Glied einer klassenlosen, freien Gesellschaft ist17 • Damit wird bereits deutlich: Die Gesellschaft hat nach der marxistischen Ideologie Vorrang vor dem Individuum, aber auch vor dem Staat. Der Marxismus-Leninismus versteht den Menschen nicht als Staatsbürger. Der Staat soll -so die wesent-
°
K.D. Bracher, Die Aktualität des Totalitarismusbegriffes, S. 19 (24). Vgl. K. Stern, Menschenrechte, Rdnr. 39m. Anm. 84. 12 Vgl. dazu F.-0. Kopp, Verfassungsverständnis, S. 573 ff. 13 Vgl. M. Fainsod, How Russia is Ruled, S. 291; T. Rakowska-Harmstone. Communist Constitutions, S. 203 ff. 14 Zum Begriff vgl. R. Ahlberg, Marxismus-Leninismus, S. 363 ff. " V gl. hierzu stellvertretend/. Fetscher, Marx, S. 188 ff. ; L. Reichart/J. Stammen, Marx, S. 60 (77 ff.)jeweils m.z.w.N. 16 Vgl. L. Reichart/J. Stammen, ebd., S. 87 f. 17 Vgl. K. Marx, MEW, Bd. !, S. 347 ff. (356, 370); /. Fetscher, Staat, S. 96. 1
11
I. Die kollektivistische Grundrechtskonzeption
21
lieh von Engels geprägte Vorstellung - nach der als unvermeidlich betrachteten Zwischenphase der "Diktatur des Proletariats", letztendlich auf revolutionärem Wege durch den Kommunismus überwunden werden 18 . In einer klassenlosen Gesellschaft sind sowohl der Staat als auch das Recht ,.abgestorben " 19 bzw. ,. eingeschlafen " 20 • An ihre Stelle tritt eine ,,Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist"21 • In seinem viel zitierten Vorwort zur Schrift von 1859, "Zur Kritik der Politischen Ökonomie", hat Marx festgestellt: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. " 22
Motor des historischen Entwicklungsprozesses einer Gesellschaft sind die ökonomischen Verhältnisse (die Basis). "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt."23 Basis und Überbau sind in ihrer Entwicklung korreliert und interdependent24 • Oder in den Worten des offiziellen Staatsrechtslehrbuchs der UdSSR gesprochen: "Dem Gesellschaftstyp entspricht folglich auch der historische Typ der Rechte, Freiheiten und Pflichten. "25 Nur durch Veränderungen der Produktionsverhältnisse könnten auch das Denken und die Produkte des Denkens, also der Überbau modifiziert werden 26• Das Recht allgemein und die Grundrechte im besonderen, die in der Lehre des Marxismus-Leninismus eine sehr untergeordnete Rolle spielen, rechnen zu den Institutionen und damit zum Überbau27 • Sie sind mithin ebenfalls Spiegelbild des jeweiligen Standes der Produktion28 • "In diesem Beziehungsschema soll die Verfassung den jeweils erreichten sozialökonomischen und politischen Entwicklungsstand widerspiegeln und gleichzeitig- im Sinne der 'aktiven Rolle des Überbaus' - als sozialgestalterisches Instrument die Weiterentwicklung der sozialökonomischen 18 Vgl. K. Marx, MEW, Bd. 19, S. 28; ders., MEW, Bd. 4, S. 482 sowie hierzu/. Fetscher, ebd., S. 93 ff.; M. Buhr/A. Kosing, Wörterbuch, S. 78 ff., 285 ff., 295 ff. 19 F. Engels, MEW, Bd. 19, S. 224. 20 F. Engels, ebd., S. 228. 21 K. Marx, MEW, Bd. 4, S. 482. 22 K. Marx, MEW, Bd. 13, S. 8. 2' K. Marx, MEW, Bd. 13, S. 9. 24 Vgl. L. Reichartlf. Stammen, Marx, S. 85; R. Zippelius, Staatsideen, S. 170 (174). 2s Jur. Fakultät der Staatlichen Universität Moskau, Staatsrecht der UdSSR. Lehrbuch, 1982, S. 95. 26 Vgl. K. Marx, MEW, Bd. 3, S. 26 f. 27 Vgl. L. Kühnhardt, Universalität, S. 132; T. Schweisfurth, Verfassung, S. 513 ff. 28 Vgl. M. Buhr/A. Kosing, Wörterbuch, S. 209; R. Zippelius, Staatsideen, S. 174.
Teil A: Das sozialistische Grundrechtsverständnis
22
Basis fördern. Widerspiegelung und sozialgestalterische Rückwirkung auf die Basis sind so die einer sozialistischen Verfassung zugedachten Haupt- oder Grundfunktionen." 29 Von diesen ideologischen Prämissen ausgehend verneint der MarxismusLeninismus ein metaphysisches, naturrechtliches Grund- und Menschenrechtsverständnis30, wie es der im Zuge der Aufklärung zunächst in England (17. Jhd.) und sodann in Nordamerika und Frankreich (18. Jhd.) entstandenen westlichen Grundrechtskonzeption entspricht und wie es mit Namen wie Locke, Kant und Montesquieu oder den "Federalist Papers" untrennbar verbunden ist31 . Der Mensch wird "auf ein durch die ökonomischen Klassen mediatisiertes Wesen"32 reduziert. Es gibt nach dem sozialistischen Grundrechtsverständnis und dem ihm zugrundeliegenden anthropologischen Prämissen33 keine universalen, unveräußerlichen, vorstaatlichen Rechte34 . Entgegen den auf die Aufklärung zurückgehenden Vorstellungen freiheitlich-demokratischer Staaten35 , erkennt der Marxismus-Leninismus eine sittliche Wert- und Seinsautonomie des Menschen nicht an. Der Mensch wird nicht als ein bei aller Gemeinschaftsgebundenheit und -bezogenheit im Willen und in der Handlung freies, vernunftbegabtes Wesen verstanden. Konsequent negieren die Staaten des realexistierenden Sozialismus auch bis Mitte der sechziger Jahre die Kategorie der als "droits du bourgeois" dechiffrierten Menschenrechte und bekennen sich ausschließlich zu den Bürgerrechten (,,droits du citoyen ")36• Dabei konnten sie sich unmittelbar auf Marx berufen: ,.Keines der sogenannten Menschenrechte geht über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gerneinwesen abgesondertes Individuum ist."37
Folglich verfügte auch "keiner der sogenannten Klassiker des Marxismus (... )über eine Konzeption der Menschenrechte"38. T. Schweisfurth, Verfassung, S. 516; vgl. auch T. Stammen, Rechtsstaat, S. 202 f. Vgl. H. von Mangoldt, ROW 33 (1989), S. 83. 31 Zur Genese der Grund- und Menschenrechte vgl. die Überblicke bei K. Löw, Grundrechte, S. 39 ff. (47 ff.); H. Maier, Grundrechte, S. 10 ff.; H.-0. Mühleisen, Geschichte, S. 5 ff. ; K. Stern, Menschenrechte, Rdnm. 9 ff., 13 ff. jeweils m.z.w.N. 32 0. Luchterhandt, UN-Menschenrechtskonventionen, S. 27. 33 Vgl. dazu W Blum, Marxismus, S. 181 ff.; V. Petev, Rechtstheoretische Aspekte, S. 12 ff. sowie zum Ganzen T. Stammen, Grundlagen, S. 15 (17 ff.). 34 Vgl. M. Buhr/A. Kosing, Wörterbuch, S. 209; H. Klenner, Marxismus und Menschenrechte, S. 126; 0 . Luchterhandt, Grundpflichten, S. 166 f. 35 Vgl. dazu T. Stammen, Demokratie, S. ll9 ff.; K. Stern, Menschenrechte, Rdnrn. 7 f. 36 Vgl. K. Marx, MEW, Bd. 1, S. 369; Bd. 23, S. 189 f. sowie ferner M. Buhr/A. Kosing, S. 209 ff.; H. Klenner, Marxismus und Menschenrechte, S. 101 ff. 37 K. Marx, MEW, Bd. 1, S. 366. 38 G. HalfTUli, JöR n.F. 39 (1990), S. 235 (237); vgl. auch H. Schmidt, Die Deutschen und ihre Nachbarn, S. 517. 29
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I. Die kollektivistische Grundrechtskonzeption
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Die Grundrechte werden erst vom Staat verliehen und stehen dem einzelnen nicht kraft seines Menschseins zu, sondern aufgrund seiner Eigenschaft als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (6. Feuerbach-These)39 , das dem "egoistischen Wesen" der bürgerlichen Gesellschaften gegenübergestellt wird40 • Es handelt sich somit um ein kollektivistisches Grundrechtsverständnis, das im Gegensatz zu dem individualistischen Grundrechtsverständnis bürgerlich-rechtsstaatlicher Tradition 41 die Funktion der Grundrechte nicht so sehr in der Abwehr staatlicher Eingriffe in den nach dem .,Verteilungsprinzip" (Carl Schmitt)42 zunächst einmal unbegrenzten Bereich der persönlichen Freiheit43 (status negativus respektive libertatis44), sondern vielmehr in der Zurverfügungstellung bestimmter materialer Güter sowie der Eingliederung und Einbindung des einzelnen in die Gesellschaft sieht45 . Der einzelne "wird reduziert auf den Nutzwert für den Staat"46 • Die Grundrechte werden umgedeutet zu "Mitwirkungs-, Beteiligungs- und Anteilsrechten"47 • Repräsentativ hierfür ist etwa der als "Muttergrundrecht" der DDR-Verfassung (1974) verstandene Art. 21, der an der Spitze des Grundrechtsteils stand und ein allgemeines Mitbestimmungsund Mitgestaltungsrecht des einzelnen vorsah. Wenn somit von ,,Freiheit" im Sinne sozialistischer Grundrechtstheorie die Rede ist, ist damit nicht etwa die Freiheit vom Staat, sondern nur die Freiheit im und zum Staat gemeint48 . Diese Freiheit ist nach Hans Maier .,staatlich vermittelt, in einer hegelischen Übersteigerung des Wohlfahrtsstaates zur sittlichen Totalität aller Staatsbürger'"'9 • Bezeichnend hierfür ist, daß die sozialistischen Verfassungen nicht von der Menschenwürde als oberstem Wert ausgehen50 und keine allgemeine Handlungsfreiheit kennen. Auch die sozialistischen Eigentumsregelungen können als Beleg herangezogen werden. Sie statuieren kein Freiheitsrecht im liberalen Sinn, sondern verpflichten den einzelnen, das sozialistische Eigentum zum Wohl des Ganzen einzusetzen. Das Eigentum wird somit ebenfalls den omni-dominanten Pro-
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K. Marx, MEW, Bd. 3, S. 6; vgl. auch ders. , MEW, Bd. I, S. 370 (.,Gattungswesen").
Vgl. V. Petev, Rechtstheoretische Aspekte, S. 11 (12 f.) . ., Vgl. T. Stammen, Demokratie, S. 119 ff. ., Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 158, 163 ff. 43 Vgl. statt aller J. Isensee, Grundrecht, S. 143 ff. 44 Vgl. G. Jellinek, System, S. 94 ff. ., Vgl. E.-W. Böckenförde, Rechtsauffassung, S. 44; G. Brunner, Staatsrecht, Rdnr. 78; T. Stammen, Ordnungsformen, S. 205. 46 M. Hauser, Menschenrechte, S. 31. 47 E.-W. Böckenförde, Rechtsauffassung, S. 45; ebenso T. Stammen, Ordnungsformen, S. 207. •• Vgl. K. Westen, Rechtsordnungen, S. 324. 49 H. Maier, Grundrechte, S. 49. 50 Vgl. K. Löw, Grundrechte, S. 99 ff. 40
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duktionsverhältnissen untergeordnet51 • Es hat, wie auch die anderen sozialistischen Grundrechte, eine für Klassenrechte typische dienende Funktion52 • II. Die Grundrechte als subjektive Rechte
Während in der Stalin-Ära noch ein objektiv-rechtliches Verständnis der Grundrechte vorherrschte, setzte im Zuge der sog. Entstalinisierung ein Umdenken ein53• Heute kann davon ausgegangen werden, daß auch nach der sozialistischen Grundrechtskonzeption die Grundrechte grundsätzlich54 subjektive Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat verleihen 55• Diese Aussage ist jedoch sogleich in mehrfacher Hinsicht zu relativieren 56 • Die sozialistischen Grundrechte sind nämlich bewußt so abstrakt und gewunden formuliert, daß aus ihnen keine Ansprüche im eigentlichen Sinn abgeleitet werden können. So definiert das bereits erwähnte "amtliche" Staatsrechtslehrbuch der UdSSR die Grundrechte wie folgt: "Das Grundrecht (die Grundfreiheit)57 ist die vom Sowjetstaat festgelegte und in seiner Verfassung fixierte Möglichkeit für jeden Bürger die Art und Weise und das Maß seines Verhaltens zu wählen und die ihm gewährten Güter sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Interesse zu nutzen."58
Demgegenüber ist der im deutschen Staatsrecht herrschende Grundrechtsbegriff wesentlich präziser und klarer. Grundrechte sind danach "verfassungsrechtlich gesicherte und unverbrüchlich gewährte stärkste subjektive Rechte"59 • Dabei handelt es sich nicht nur um einen formalen, lediglich von Sophisten aufspürbaren Unterschied. Die "zahnlose" Textfassung sozialistischer Verfassungen führt auch in der Praxis dazu, daß die Grundrechte nur als generellabstrakte Beachtenspflichten für die staatliche Gewalt interpretiert werden. Konkrete Ansprüche auf ein bestimmtes staatliches Tun, Dulden oder Unterlassen (subjektive öffentliche Rechte)60 sind nur auf einer Stufe niedriger, also auf der Ebene der einfachen Gesetze zu begründen61 • Das ist gemeint, wenn man " Vgl. L. Kühnhardt, Universalität, S. 128. s2 Vgl. M. Buhr/A. Kosing, Wörterbuch, S. 209; H. Laufer, Grundrechte, S. 31; T. Stammen, Rechtsstaat, S. 202 ff. sJ Vgl. A. Blankenage I, Grundrechte, S. 83 ff.; 0. Luchterhandt, Grundrechtsdiskussion, S. 6 ff. s• Zu den Einschränkungen in der DDR vgl. 0. Luchterhandt, Grundpflichten, S. 168. ss Vgl. H. von Mangoldt, ROW 33 (1989), S. 85; K. Westen, Grundrechte, S. 486 m.w.N. s6 Vgl. dazu G. Brunner, Menschenrechtskonzeption, S. 100 ff. s7 Diese beiden Termini werden offensichtlich synonym verwendet, was die Frage nach der sachlichen Rechtfertigung der eher verwirrenden Doppelbegrifflichkeit aufwirft. ss Jur. Fakultät der Universität Moskau, Staatsrecht, S. 96. s• 0 . ModeVC. Creifelds/G. Lichtenberger, Staatsbürger-Taschenbuch, S. 95. 60 Vgl. insoweit zum Grundgesetz C. Schmid, zit. nach W. Matz, JöR 1 (1951), S. 43 sowie allgemein G. Jellinek, System, S. 81 ff. (86). 61 Vgl. 0 . Luchterhandt, Rechtsschutz, S. 36, 42.
III. Die Einheit von Rechten und Pflichten
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im Staatsrechtslehrbuch der UdSSR liest: "Die Verfassungsrechte und -pflichten werden vor allem durch die Begründung konkreter Rechtsverhältnisse realisiert. " 62 Damit reduziert sich nach Georg Brunner63 die Bedeutung der sozialistischen Grundrechte auf den jeweiligen Stand der geltenden Gesetzgebung. Ihnen verbleibt die Funktion von "allgemeinen Auslegungsrichtlinien"64 • 111. Die Einheit von Rechten und Pflichten
Kennzeichnend für das sozialistische Grundrechtsverständnis ist ferner die Synthese von konstitutionellen Rechten und Pflichten zu einem "untrennbaren Ganzen"65 im Sinne eines "funktionalen Abhängigkeitsverhältnisses"66 , wie sie repräsentativ in Art. 59 Abs. I Verf. UdSSR (1977) zum Ausdruck kommt: ,,Die Verwirklichung der Rechte und Freiheiten durch den Bürger ist nicht zu trennen von der Erfüllung seiner Pflichten."
In concreto sind exemplarisch in der sowjetischen Unionsverfassung folgende Einzelgrundpflichten niedergelegt: Arbeitspflicht (Art. 60), Pflicht zur Bewahrung sozialistischen Eigentums (Art. 61), Pflicht zum Schutz der sowjetischen Interessen und zur Verteidigung des Vaterlandes (Art. 62), Militärpflicht (Art. 63), Freundschaftspflicht mit den Angehörigen der Nationen der UdSSR (Art. 64), Pflicht zum Schutz der öffentlichen Ordnung (Art. 65), Erziehungspflicht (Art. 66), Pflicht zum Naturschutz (Art. 67), Pflicht zur Erhaltung kultureller Werte (Art. 68) sowie Pflicht zur Zusammenarbeit mit anderen Völkern (Art. 69). Das Junktim zwischen Grundrechten und Grundpflichten führt tendenziell zu einer Entwertung der Grundrechte, beraubt es die Grundrechte doch eines ihrer wesentlichen Aspekte, nämlich der negativen Grundrechtsfreiheit Wo es eine Pflicht zur Arbeit gibt, führt dies automatisch zu staatlichem Dirigismus und staatlich gelenkter Distribution von Arbeit67 • Es gibt keine "Freiheit nicht zu arbeiten", mit anderen Worten kein "Grundrecht auf Müßiggang". Art. 60 Verf. UdSSR (1977) stellt dies klar: "Die Weigerung, gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, ist mit den Prinzipien der sozialistischen Gesellschaft unvereinbar."68
Im Einzelfall bedeutet dies auch Arbeitszwang bzw. Arbeits verbot, was zahlreiche regimekritische Künstler erfahren mußten, welche die Gestaltung ihrer Jur. Fakultät der Universität Moskau, Staatsrecht, S. 97. G. Brunner, Politisches System, S. 214. 64 G. Brunner, ebd. 6s Jur. Fakultät der Universität Moskau, Staatsrecht, S. 99. 66 0. Luchterhandt, Grundpflichten, S. 168. 67 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 169. 6' Noch klarer der Art. 12 Verf. UdSSR (1936): "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." 62
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Arbeit selbst bestimmen und sich nicht an den Vorstellungen des Systems von der "gesellschaftlichen Nützlichkeit" ihrer Arbeit orientieren wollten. Denn nur "die gesellschaftlich nützliche Arbeit und ihre Ergebnisse bestimmen die Stellung des Menschen in der Gesellschaft"69 • Die Disziplinierung70 und Abqualifizierung Andersdenkender und -handelnder als "Arbeitsscheue" steht für den Zynismus dieser Politik71 , durch die "der ursprüngliche Sinn der Grundrechte als Freiheitsrechte in sein Gegenteil verkehrt"72 wird. Auch gibt es beispielsweise kein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen. Im Gegenteil: Der Militärdienst ist "Ehrenpflicht"73, die Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes ist die "heilige Pflicht" jedes Bürgers der UdSSR. Eine Weigerung gilt als Verbrechen und zieht schärfste strafrechtliche Sanktionen nach sich74 • Dies ist stets mit zu bedenken, wenn es in der offiziellen sozialistischen Grundrechtsdogmatik heißt: "Die Arbeit( ... ) ist frei."75 Eine Wendung, die im übrigen ungute Erinnerungen an einen beinahe wortgleichen Satz wach ruft, den das nationalsozialistische Unrechtsregime geprägt hat. IV. Die Relativierbarkeit der Grundrechte Die Bedeutung der sozialistischen Grundrechte wird dadurch noch weiter ausgehöhlt, daß ihr Gebrauch unter verschiedenen Vorbehalten steht'6 • Diese Vorbehalte berauben die Grundrechte ihres absoluten Charakters und damit streng genommen ihrer Grundrechtseigenschaft selbst77 • Ein allgemeiner Verfassungsvorbehalt ist etwa in Art. 39 Abs. 2 Verf. UdSSR (1977) enthalten: "Die Nutzung der Rechte und Freiheiten durch die Bürger darf den Interessen der Gesellschaft und des Staates sowie den Rechten anderer Bürger keinen Schaden zufügen".
Dieser Verfassungsvorbehalt gilt unabhängig davon, ob er- wie in der sowjetischen Konstitution - explizit niedergelegt ist'8 • Damit sind die Grundrechte zugunsten der, von der Partei aufgrund ihres verfassungsrechtlich verankerten
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70 71
72 73
74 7' 76
77 78
Art. 14Abs. 3 Verf. UdSSR (1977). Vgl. H. von Mangoldt, ROW 33 (1989}, S. 85. So auch 0 . Luchterhandt, UN-Menschenrechtskonventionen, S. 39. W Henke, Grundrechte, S. 692. Art. 63 Verf. UdSSR (1977). V gl. Jur. Fakultät der Universität Moskau, Staatsrecht, S. 112 f. Jur. Fakultät der Universität Moskau, ebd., S. 104. Vgl. den Überblick bei 0 . Luchterhandt, Rechtsschutz, S. 43 ff. Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 166. Vgl. G. Brunner, Menschenrechtskonzeption, S. 106.
IV. Die Relativierbarkeit der Grundrechte
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Erkenntnismonopols und Führungsanspruchs79 nach eigenem Gutdünken bestimmbaren und beliebig abänderbaren, "gesellschaftlichen Interessen" jederzeit einschränkbar und versagbar. Die "Interessen des Staates und der Gesellschaft" werden bewußt nicht konkretisiert, um die Auslegung der Grundrechte entwicklungsoffen zu halten und ihre in die Willkür der Partei gestellte inhaltliche Ausfüllung zu ermöglichen. Im Ergebnis hat dies die weitgehende Elastizität und Disponibilität der Grundrechte zur Folge80 . Man könnte von Grundrechten mit Fluidalstruktur sprechen. Demgegenüber sind beispielsweise die im Grundgesetz festgeschriebenen konstitutionellen Rechte durch die Merkmale der Bestandskraft und Unwandelbarkeit charakterisiert81 . Begründet wird diese weitreichende Limitierbarkeit zugunsten der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung mit dem in seinen Wurzeln aufRousseaus Lehre vom volonte generalund volonte de tous zurückgehenden Prinzip (besser Fiktion; der Verf.) der Identität von Individualinteressen und Gesellschaftsinteresse82 • MitAbschaffung des Privateigentums seien zugleich die Klassenantagonismen beseitigt worden. Dieses Dogma der Interessenidentität wurde später nicht mehr im absoluten Sinne verstanden 83, so daß eine partielle Interessenkollision nicht mehr a limine ausgeschlossen war. Im Konfliktfall gebührte aber den Gesellschaftsinteressen der Vorrang 84 • Die grundrechtsaushöhlende Wirkung dieser immanenten Schranke wird noch dadurch verstärkt, daß die sozialistische Rechtstheorie vom Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit ausgeht und alle drei "klassischen" Gewalten bei der kommunistischen Partei auf monolithische Weise konzentriert85 sind. Der Terminus der "sozialistischen Gesetzlichkeit" besagt zum einen, daß die Gesetze eine objektive Bindungswirkung entfalten und zum anderen (und dazu inhaltlich gegenläufig) daß die Rechtsanwendung primär Kriterien politischer Opportunität und Parteilichkeit zu gehorchen hat. Das Recht wird demnach zuvörderst als politisches Gestaltungs- und Leitungsinstrument zur Durchsetzung der Parteiziele verstanden, denen sich alle Normadressaten unterzuordnen haben86. Die Wirkung dieser Limitierung des Grundrechtsgebrauchs unter dem übergeordneten Gesichtspunkt der Systemkonformität zeigt sich in evidenter Weise 79 Vgl. Art. 6 Verf. UdSSR (1977) sowie allgemein G. Brunner, Staatsrecht, Rdnm. 19 f.; T. Stammen, Ordnungsformen, S. 171 ff. 80 Noch weitergehend K. Westen, Grundrechte, S. 486: "Grundrechtsgewährung wird in derartigen Fällen zur Grundrechtsverweigerung." 81 Vgl.Art.19Abs.2, 79GG. 82 Vgl. T. Stammen, Ordnungsformen, S. 203. 83 Vgl. H. Klenner, Marxismus und Menschenrechte, S. 129. 84 Vgl. 0. Luchterhandt, Grundrechtsdiskussion, S. 48. " Vgl. G. Brunner, Staatsrecht, Rdnm. 27 ff.; T. Schweisfurth, Verfassung, S. 518 f. sowie grundsätzlich K. Loewenstein, Verfassungs lehre, S. 12 ff., 26 ff. •• Vgl. G. Brunner, Staatsrecht, Rdnr. 31; K. Westen, Rechtsordnungen, S. 278 f., 282 ff.
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bei den - aus Sicht der Machthaber als besonders "gefährlich" eingestuften87 politischen Freiheitsrechten88 • So wird die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit gemäß Art. 50 Abs. I Verf. UdSSR (1977) nur "in Übereinstimmung mit den Interessen des Volkes und zur Festigung und Entwicklung der sozialistischen Ordnung" gewährleistet. Eine noch verräterischere Sprache spricht die Kommentierung im offiziellen Staatsrechtslehrbuch: ,,Die Auffassungen, Meinungen und Urteile der Menschen hängen von ihrer Weltanschauung ab, die von vielen Faktoren, letztlich aber von der Klassenzugehörigkeit und der Ideologie der jeweiligen Klasse bestimmt wird. Die reaktionären Klassen sind Träger und Verteidiger reaktionärer Ideen, Anschauungen und Meinungen, die den sozialen Fortschritt der Gesellschaft hemmen. Die revolutionären Klassen verfechten im Gegensatz dazu Ideen, die den sozialen Fortschritt fördern. Daraus folgt, daß wahre Freiheit der Meinung nicht jegliche ungehinderte Verbreitung von Ideen, Urteilen u.a. ist, sondern nur die freie Verbreitung von fortschrittlichen, revolutionären Anschauungen, Ideen und Meinungen, die den Interessen der Volksmassen (. .. ) entsprechen. "89
Durch diesen ,,Zweckbindungsvorbehalt"90 wird der Meinungsfreiheit bildlich gesprochen ihre für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung unverzichtbare Funktion amputiert: Kritische Stimmen, die zu einem Meinungspluralismus, zur Kontrolle der staatlichen Organe, zum Aufzeigen von Alternativen, zur Information und damit zur Gewährleistung eines offenen, vielschichtigen politischen Willensbildungsprozesses beitragen könnten91 , werden auf strafrechtlicher Ebene92 durch Bespitzelung, Denunziation, Überwachung, Hausarrest, Zensur, Arbeits verbot, Inhaftierung, physische und psychische Mißhandlung bis hin zur Eliminierung unterdrückt93 • Die Ausführungen, die hier zur Meinungsfreiheit erfolgten, gelten entsprechend für andere politische Freiheitsrechte94 • Auch die Vereinigungsfreiheit besteht nur "in Übereinstimmung mit den Zielen des kommunistischen Aufbaus"95. Die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und Forschung wird "entsprechend den Zielen des kommunistischen Aufbaus" proklamiert%.
Vgl. H. Maier, Grundrechte, S. 49 f. Vgl. M. Hauser, Menschenrechte, S. 195 ff. 89 Jur. Fakultät der Universität Moskau, Staatsrecht, S. 114. 90 0 . Luchterhandt, Rechtsschutz, S. 43. 91 Vgl. zur dahinterstehenden demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie E.-W Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 133 ff.; K. Hesse, Grundrechte, Sp. 1114; H.-0. Mühleisen, Theorie, S. 14 ff. 92 Vgl. z.B. die "Auffangtatbestände" der "Verbreitung verleumderischer Behauptungen" (Art. 190 StGB UdSSR) oder der "antisowjetischen Agitation und Propaganda" (Art. I 06 StGB). 93 Vgl. A.D. Sacharow, Menschenrechte, S. 79 ff. 94 Vgl. V. Petev, Rechtstheoretische Aspekte, S. 20 ff. "' Vgl. Art. 51 Verf. UdSSR (1977) sowie G. Halmai, JöR n.F. 39 (1990), S. 235 ff. 96 Vgl. Art. 47 Verf. UdSSR (1977). 87 88
IV. Die Relativierbarkeit der Grundrechte
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Das Eigentum wird nicht in jeder Form gleichermaßen geschützt. Protektion genießt ausdrücklich nur das "sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln in Form des staatlichen (dem ganzen Volk gehörenden) sowie des kollektivwirtschaftliehen und anderen genossenschaftlichen Eigentums"97 • Das "persönliche Eigentum" des Bürgers ist dagegen von vornherein auf eine begrenzte Zahl von Gegenständen (vorwiegend des Konsums und häuslichen Gebrauchs) beschränkt. Zudem darf das Vermögen, das sich im persönlichen Eigentum der Bürger befindet, "nicht zum Erzielen von Einkünften ohne eigene Arbeit dienen oder zum Schaden der gesellschaftlichen Interessen verwendet werden" 98 • Auf eine weitere Konsequenz des mit dem Vorbehalt der Systemkonformität gekoppelten Grundrechtsverständnisses hat Luchterhandt hingewiesen: Die Gleichheitsverbürgungen der sowjetischen Verfassung99 zählen alle nach westlichem Standard üblichen Diskriminierungsgründe auf, mit Ausnahme der Ungleichbehandlung aus politischen oder sonstigen Anschauungen 100 . Diese Auslassung ist in Anbetracht der vielfaltigen Repressionen gegen Dissidenten einerseits und dem großzügigen Privilegien(un)wesen zugunsten der Nomenklatura101 andererseits auf eine unvermutete und damit verblüffende Weise ehrlich. Gerade die Einstufung und Behandlung der Regimekritiker als Bürger minderer Klasse belegt, zu welchen Hohlformeln ("venire contradieturn proprium"102) Verfassungsversprechungen in der Praxis herabsinken können. Zu dem allgemeinen Verfassungsvorbehalt tritt als weitere Hintertür zu einer willkürlichen Einschränkung der Grundrechte zum Teil noch die Aufnahme von unbestimmt formulierten Gesetzesvorbehalten, d.h. einzelne Grundrechte werden nur "im Rahmen der Gesetze" bzw. "durch das Gesetz" gewährleistet. Als Beispiel sei auf die Bestimmung über das Brief-, Telefon- und Telegrammgeheimnis in der Unionsverfassung verwiesen: "Das persönliche Leben der Bürger sowie das Brief-, das Telefon- und das Telegrammgeheimnis werden durch das Gesetz geschützt." (Art. 56 Verf. UdSSR (1977))." 103
In diesen Fällen bleibt es dem Gesetzgeber vorbehalten, entweder durch Untätigkeit das Grundrecht völlig leerlaufen zu lassen oder es durch restriktive legislative Klauseln quasi zu beschneiden 104. In der Praxis geschah dies regelmäßig nicht einmal durch ein Tätigwerden des Parlaments, sondern durch ein
97 98 99 100 101 102 103 104
V gl. Art. I 0 Verf. UdSSR (1977). Vgl. Art. 13 Verf. UdSSR ( 1977) sowie dazu eingehend M. Hauser, Menschenrechte, S. 45 ff. Art. 34 - 36 Verf. UdSSR (1977). Vgl. 0. Luchterhandt, UN-Menschenrechtskonventionen, S. 30, 305 ff. Zum Begriffvgl. G. Brunner, Staatsrecht, Rdnr. 22 m.w.N. G. Brunner, DSt 9 (1970), S . 191. Vgl. ferner Art. 37 Abs. 1, 54, 55 Verf. UdSSR (1977). Vgl. P. Bohata, JfO 32 (1991), I. Hb., S. 175 (176); K. Westen, Grundrechte, S. 491 f.
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Geflecht von unveröffentlichten, aufgrund ihrer Vielzahl für den Bürger nicht mehr überschaubaren Verwaltungsvorschriften und Weisungen 105 • V. Die mangelnde justizielle Durchsetzbarkeil Die gerichtliche Durchsetzbarkeil spielt im sozialistischen Grundrechtsverständnis traditionell so gut wie keine Rolle. Im Mittelpunkt der Verfassungen der früheren Warschauer Pakt-Staaten standen die "ökonomischen Garantien", d.h. gute materielle Voraussetzungen für eine effektive Wahrnehmung der Grundrechte. Im einzelnen wurden als derartige Voraussetzungen "die sozialistischen Produktionsverhältnisse, das sozialistische Eigentum und das auf ihm beruhende Wirtschaftssystem" 106 genannt. An zweiter Stelle rangierten die "politischen Garantien" . Hierzu "gehören vor allem die Macht des Volkes, ihre Verwirklichung durch die Vertretungsorgane sowie die Verwirklichung der Leninschen Prinzipien und des Leninschen Arbeitsstils in der Organisation und Tätigkeit des gesamten Staatsapparats"107 • Übersetzt heißt dies: Der Führungsanspruch der KPdSU und die Lehre des Marxismus-Leninismus. Die "juristischen Garantien" folgten zuletzt und bezogen sich nicht etwa auf ein System verfassungsgerichtlicher Nachprüfbarkeit, sondern auf die "Normen der laufenden Gesetzgebung" 108 • Ein spezifisches System zum Schutz von Grundrechten, vergleichbar dem Institut der Verfassungsbeschwerde oder Popularklage, gab es in keinem der Warschauer Pakt-Staaten 109 • Das einzige Land, das überhaupt eine Verfassungsgerichtsbarkeit sein eigen nannte, war JugoslawienH 0 • Gleichwohl gab es diverse Ansätze, auf sonstige Weise zu einer Kontrolle von Hoheitsakten zu gelangenll 1• So heißt es in Art. 58 Abs. 1 Verf. UdSSR (1977): ..Die Bürger der UdSSR haben das Recht, gegen Handlungen von Funktionären, staatlichen Organen und gesellschaftlichen Organisationen Beschwerde zu führen. Diese Beschwerden müssen in der vom Gesetz festgelegten Ordnung und Frist behandelt werden."
Bei dieser Beschwerde handelt es sich um eine Art Petition, die nach deutschem Rechtsverständnis wohl eher in der Nähe der formlosen Rechtsbehelfe anzusiedeln ist.
' 0 ' Vgl. J. Malenovsky, ROW 37 (1993), S. 12; Unabhängige Wissenschaftlerkommission, Menschenrechte, S. II. 106 Jur. Fakultät der Universität Moskau, Staatsrecht, S. 98. 107 Jur. Fakultät der Universität Moskau, ebd., S. 98 f. 108 Jur. Fakultät der Universität Moskau, ebd., S. 99. 109 Vgl. r Stammen, Ordnungsformen, S. 208 f. 110 Vgl. Art. 375 ff. Verf. Jugoslawien (1974). Die Verfassung der CSSR (1968) sah die Errichtung von Verfassungsgerichten auf Bundes- und Republikebene vor. Zu der Verabschiedung des Verfassungsgerichtsgesetzes kam es aber nicht, vgl. G. Brunner, DSt 9 (1970), S. 202. 111 Vgl. die Details bei 0 . Luchterhandt, UN-Menschenrechtskonventionen, S. 281 ff.
VI. Die Dominanz der sozialen Grundrechte
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Einen gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte hoheitlicher Gewalt gab es bis 1988 grundsätzlich nicht112 • Zwar sah Art. 58 Abs. 2 Verf. UdSSR (1977) die Möglichkeit eines gerichtlichen Einspruchs gegen gesetzeswidrige Handlungen von Funktionären vor, dieser Rechtsbehelf stand jedoch unter dem Vorbehalt eines hierzu ergehenden Ausführungsgesetzes. Mit diesem ließ sich der sowjetische Gesetzgeber bis 1988 Zeit. Das zum 1. Januar 1988 in Kraft getretene "Gesetz über die Anfechtung rechtswidriger, die Rechte der Bürger verletzender Handlungen von Amtspersonen" klammerte a priori alle Rechtsakte von Kollegialorganen sowie alle Angelegenheiten der Landesverteidigung, der Staatssicherheit und der "individuellen Arbeitstätigkeit" aus der gerichtlichen Nachprüfung aus 113 • Bereits dadurch wurde die Tragweite des Art. 58 Abs. 2 erheblich beschnitten. Hinzu kommt, daß für in "verleumderischer Absicht" erhobene Klagen ausdrücklich gesetzliche Sanktionen angedroht wurden, was den Eindruck der politischen Unerwünschtheit des Gebrauchmachens von dieser Bestimmung noch unterstreicht. Daneben gab es in der sowjetischen Verfassung noch einen sehr allgemeinen Anspruch auf gerichtlichen Schutz vor Verletzungen bestimmter persönlicher Rechtsgüter (Art. 57 Abs. 2), sowie einen Amtshaftungsanspruch (Art. 58 Abs. 3). Verfassungsrechtlich nicht geregelt, aber in der Praxis nicht ohne Bedeutung war die Möglichkeit zu formlosen Eingaben an verschiedene staatliche Kontrollorgane, wie die Staatsanwaltschaft, die Volkskontrolle oder die örtlichen Sowjets 114• Alle genannten Instrumentarien zur Durchsetzung der Grundrechte standen in der Praxis nur für systemkonforme Anliegen und Begehren zur Verfügung. Die Aussichten eines von der Regierung unterdrückten oder verfolgten Bürgers, auf diese Weise Recht zu bekommen, tendierten in Anbetracht der Gewaltenkonzentration und der faktisch nicht vorhandenen Unabhängigkeit der Kontrollorgane 115 gegen Null. VI. Die Dominanz der sozialen Grundrechte
Soziale Grundrechte spielen in den liberal-demokratischen Verfassungen des Westens zumeist eine nachrangige Rolle 116 • Anders verhält es sich- nebenbei bemerkt - in den völkerrechtlichen Menschenrechtserklärungen, in denen die Vgl. G. Brunner, Politisches System, S. 217. V gl. A. Blankenage I, JfO 31 ( 1990), I. Hb., S. 24 f. 114 V gl. G. Brunner, Politisches System, S. 218. 115 Vgl. M. Kriele, Menschenrechte, S . 26 ff.; K. Marszal, ZRP 1991, S. 179 ff. 116 Eine Ausnahme machen die südeuropäischen Verfassungen, vgl. Art. 4 ff. Verf. Griechenland (1986), Art. 35 ff. Verf. Italien (1967), Art. 59 ff. Verf. Portugal (1982) und Art. 39 ff. Verf. Spanien (1978), zit. nach A. Kimme/, Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten; zur globalen Entwicklung vgl. auch G.A. Almond/ G.B. Powel/jr., Comparative Politics, S. 241 ff. 112 113
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Teil A: Das sozialistische Grundrechtsverständnis
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte breiten Raum einnehmen 117 • Auch in den sozialistischen Konstitutionen kommt den sozio-ökonomischen Rechten eine herausgehobene Stellung zu. Es ist gerade das Terrain des status positivus 118, auf welchem die Staaten des real-existierenden Sozialismus mit Vorliebe den (subjektiven) Vergleich mit den "bourgeoisen" Gesellschaftsordnungen suchen, um hervorzuheben, in welchem Umfang im kapitalistischen System die materiellen Belange der Menschen mißachtet würden. Gerne wird, so Brunner, der ironische Ausspruch von Anatole France angeführt, wonach die bürgerliche Freiheit die gleiche Freiheit für den Millionär und den Habenichts bedeute, unter einer Brücke zu schlafen 119• Den Defiziten westlicher Staaten bei der Wohnungs-, Bildungs- oder Arbeitsmarktpolitik wird die soziale Lage der Bürger im Sozialismus und vor allem die vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquote gegenübergestellt 120• Die Priorität der sozio-ökonomischen Rechte wird bereits durch deren systematische Stellung an der Spitze des Grundrechtskatalogs manifestiert. So beginnt die Liste von Grundrechten in der sowjetischen Verfassung von 1977 mit dem Recht auf Arbeit (Art. 40), dem Recht auf Erholung (Art. 41), dem Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 42), dem Recht auf materielle Sicherheit im Notfall (Art. 43), dem Recht auf Wohnraum (Art. 44), dem Recht auf Bildung (Art. 45), dem Recht auf Nutzung der kulturellen Errungenschaften (Art. 46) und folgen erst im Anschluß daran einige politische Freiheitsrechte, Mitwirkungsrechte und Einrichtungsgarantien. Damit enthält die sowjetische Verfassung von 1977 mehr als doppelt so viele sozio-ökonomische und kulturelle Rechte als die Verfassung von 1936. Die sozio-ökonomischen Grundrechte weisen dabei allesamt eine zweistufige Struktur auf. Im ersten Absatz wird die Versorgung mit bestimmten materiellen Gütern quasi als Faktum deklariert und im darauffolgenden Absatz wird eine Reihe von "materiellen Garantien" aufgezählt, deren Verwirklichung auf legislativer und administrativer Ebene die Realisierung der Grundrechte sichern soll 121 • Es ist hier nicht der Ort, um eine den Rahmen der Arbeit sprengende Grundsatzdiskussion über das Für und Wider von sozialen Grundrechten zu führen 122 • Auf einen dem Verfasser besonders wichtig erscheinenden Aspekt soll gleich-
Vgl. Art. 22 - 28 UNEMR; Art. 6 - 15 IPwirtR. G. Jellinek, System, S. 114 ff. 119 G. Brunner, DSt 9 (1970), S. 208 f. 120 Vgl. L. Kühnhardt, Universalität, S. 123; vgl. zum ,,Mythos von der höheren Effektivität eines( ... ) totalen Kommandostaates" auchK.-D. Bracher, DieAktualität desTotalitarismusbegriffes, S. 22. 121 Vgl. G. Brunner, OSt 9 (1970), S. 209. 122 Vgl. statt aller E.-W Böckenfö rde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 136 ff., 146 ff. m.w.N. 117 118
VII. Zwischenergebnis
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wohl verwiesen werden: Die Umsetzung dieser Rechte hängt entscheidend von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit eines Staates ab 123 und mußte deshalb aufgrund der Dysfunktionalität und Insuffizienz sozialistischer "Mangelverwaltungswirtschaften"124 häufig zu wünschen übrig lassen 125 • Hinzu kommt, wie schon Tocqueville 126 diagnostizierte, ein den sozialen Grundrechten innewohnendes anti-liberales Moment, führt doch die Dominanz von sozialen Grundrechten faktisch zu einem paternalistischen, staatlichen Verteilungs- und Umverteilungswesen, das der Freiheit des Individuums zuwiderläuft. Zugleich wird- was mehr als ein atmosphärisches Problem darstelltder Bürger auf eine tendenziell quasi-feudalistische Weise in die, seine Würde und sein Persönlichkeitsrecht verletzende, Rolle eines Untertans und Bittstellers gedrängt. VII. Zwischenergebnis Resümierend bleibt zum sozialistischen Grundrechtsverständnis festzuhalten, daß es ein autonomes und originäres sozialistisches Grundrechtsverständnis genaugenommen nicht gibt. Wie Kühnhardt zutreffend bemerkt hat, gewinnt die sozialistische Grundrechtskonzeption ihre inhaltlichenAussagen zuerst durch eine Abgrenzung und Negierung gegenüber der bürgerlich-liberalen Auffassung127. Man könnte demzufolge von einem "negativen" Grundrechtsverständnis sprechen 128• Dieses so verstandene Grundrechtskonzept ist nur im Kontext mit der ihm zugrundeliegenden Doktrin des Marxismus-Leninismus zu verstehen. Nach letzterer werden der Mensch und auch dessen staatlich konzedierte Rechte instrumentalisiert129 zum Wohle der gesamtgesellschaftlichen, vermeintlich determinierten Entwicklung und damit ihres Wesenskerns beraubt. Nach westlichen Denkkategorien gibt es somit streng genommen keine "sozialistischen Grundrechte", da es sich dabei um einen Orwellschen 130 Widerspruch in sich selbst, respektive um "Worte, Worte, Worte" (Havel) 131 handelt132 • In diesem Sinne stellte bereits Carl Schmitt fest:
Vgl. K. von Beyme, Vergleich, S . 139 f. ; M. Kriele, Menschenrechte, S. 17. Vgl. H. Schmidt, Die Deutschen und ihre Nachbarn, S. 517 f. 125 Vgl. A. Blankenagel, JfO 31 (1990), 1. Hb., S. 14. 126 V gl. A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Teil 4, Kap. 4- 6. 127 L. Kühnhardt, Universalität, S. 135; vgl. auchO. Luchterhandt, Grundrechtsdiskussion, S. 28 f. 128 In diesem Sinne auch E.-W Böckenförde, Rechtsauffassung, S. 44 ff. (48). 119 Vgl. T. Stammen, Ordnungsfonnen, S. 170. 130 Vgl. G. Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig. 131 V. Havel, Wahrheit, S . 67. 132 So auch P. Bohata, JfO 32 (1991), 1. Hb., S. 176; G. Brunner, Grundrechte, S. 109 ff. (115); M. Hauser, Menschenrechte, S. 42. 123
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Teil A: Das sozialistische Grundrechtsverständnis "Rechte, welche nach Belieben eines absoluten Fürsten oder einer einfachen oder qualifizierten Parlamentsmehrheit ausgeliefert sind, können ehrlicherweise nicht als Grundrechte bezeichnet werden." 133
Ein derartiger Schluß ist jedoch nur bei einer exogenen, sprich von der Perspektive der "Gegenseite" aus angestellten Betrachtungsweise gerechtfertigt. Endogen betrachtet, also bei systemimmanenter Analyse, stellt die sozialistische Grundrechtslehre durchaus ein in sich schlüssiges und folgerichtiges Gedankengebäude dar134 • In der Verfassungsrealität der Länder des real-existierenden Sozialismus gilt der "Primat der Politik", dem das Recht und damit auch die Grundrechte subordiniert sind. Damit bleibt die juristische Relevanz der Grundrechte in der Praxis zwangsläufig sehr gering. Zu Recht wird im Schrifttum von einer nach innen, aber vor allem nach außen gerichteten ideologisch-propagandistischen Hauptfunktion der Grundrechte gesprochen 135 • In die gleiche Richtung zielt Havel, der den sozialistischen Grundrechten die Funktion eines "Alibis" und eines "Instruments der rituellen Kommunikation innerhalb der Machtstruktur"136 zuspricht.
C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 164. VgL E.- W. Böckenförde, Rechtsauffassung, S. 50 ff. "' VgL G. Brunner, Staatsrecht, Rdnrn. 85 f.; vgL auch K. Stern, Menschenrechte, Rdnm. 41 ff. 136 V. Havel, Wahrheit, S. 65 ff. 133
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Teil B
Der (verfassungs-)politische Transformationsprozeß Im folgenden werden ausschließlich die um das Jahr 1989 gruppierten revolutionären Ereignisse im engeren Sinne fokussiert. Dabei wird nicht verkannt, daß die politischen Transformationsprozesse schon viele Jahre früher begonnen hatten. Viele einzelne Stationen ließen sich hierfür benennen, die sich auf die eigentliche "Wende" impulsgebend und wegbereitend auswirkten. Interne Geschehnisse wie die gescheiterten Volksaufstände von 1953 (DDR), 1956 (Polen, Ungarn) und 1968 (Tschechoslowakei) und 1980/81 (Polen). "1989" war nur die "Akzeleration der von den Kommunisten angehaltenen Zeit" 1• Der schleichende Enttotalisierungsprozeß in Polen ist nachgerade idealtypisch für diesen Faktor der Kontinuität nonkonformistischer und oppositioneller Bestrebungen und der - entgegen einer vor allem im Westen weit verbreiteten Perzeption den kommunistischen Systemen wesensimmanenten, permanenten Instabilität2. Im Jahr 1976 wurde das "Komitee zur Verteidigung der Arbeiter" (KOR) gegründet, das 1977 in "Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung" umbenannt wurde. Dieses Bündnis von bekannten Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst unter Führung von Jacek Kuron arbeitete später eng mit der in der Gewerkschaft "Solidarität" organisierten Arbeiterschaft zusammen3• Die Vertreter der "Solidarität" schlossen 1980 mit der Regierung die sogenannte "Danziger Übereinkunft", in welche in eher allgemein gehaltener Form die Hauptforderungen der polnischen Oppositionskräfte aus den siebziger Jahren Eingang fanden. Diese "Danziger Übereinkunft" wurde ihrerseits zur Verhandlungsgrundlage für die Reformbestrebungen der achtziger Jahre4 • Aber auch externe Einflüsse wären zu nennen, die mit ihren nicht zuletzt die Grund- und Menschenrechte betreffenden Auswirkungen in die sozialistischen Länder hinein ausstrahlten. Es sei hier nur auf die KSZE-Schlußakte von HelsinkP verwiesen, auf die im Zusammenhang mit der "samtenen Revolution" in der Tschechoslowakei - wenn auch nur in skizzenhafter Form - zurückzukommen sein R. Wagner, Völker ohne Signale, S. 9. Vgl. M. Bemhard, PSQ 108 (1993), S. 307 (314 ff.); V. Horsky, Tschechoslowakei, S. 82 ff., 87 ff.; J. Kuron, JD I (1990), S. 72 ff.; W Puhl, Freiheit, S. 38 ff. 3 Vgl. A. Michnik, Abschied, S. 28 ff. • Vgl. K. Ziemer, OE 39 (1989), S. 791 f. ' Auf diesen Zusammenhang weist auch T. Stammen, APuZ B 1011993, S. 22 (25) hin. 1
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Teil B: Der (verfassungs-)politische Transformationsprozeß
wird6 • Wichtig bleibt somit, sich stets zu vergegenwärtigen, daß die hier zu behandelnden kommunistischen Systeme von ihrer Gründung an auf mehr oder weniger ausgeprägten und mehr oder weniger manifesten Widerstand bei der Bevölkerung trafen, der bisweilen abebbte, aber zu keinem Zeitpunkt auszulöschen war7 • Das Beispiel Polen und die- aus Sicht der Machthaber- kontraproduktive, gerade keine "Normalisierung" herbeiführende Ausrufung des Kriegszustands sei hier erneut beispielhaft erwähnt.
I. Polen Am Anfang des Systemwechsels in Polen steht der unaufhaltsame Verfall der Polnischen VereinigtenArbeiterpartei (PVAP), deren Legitimationsgrundlage in sozialer, wirtschaftlicher und geopolitischer Hinsicht zunehmend brüchiger wurde 8• Die soziale Machtbasis der Partei war erschüttert, weil Massenstreiks und soziale Unruhen das nach außen vermittelte Bild einer die Interessen der Arbeiter vertretenden und für soziale Gerechtigkeit kämpfenden Partei in Mitleidenschaft gezogen hatten. Die Gründung der illegalen Gewerkschaftsbewegung "Solidarität" war mit dem tradierten Dogma der Interessenidentität nicht mehr zu vereinbaren. Die auf Passivität und Untertänigkeit gegründete Stabilität des Systems9 wurde durch das Aufbegehren breiter Kreise der Bevölkerung (die "Solidarität" zählte bereits kurz nach ihrer Gründung 10 Millionen Mitglieder!) in Frage gestellt. In wirtschaftlicher Hinsicht befand sich das Land in einer schweren Rezessionsphase, die durch überhöhte Auslandsverschuldung, geringe Produktivität, mangelnde Konkurrenzfähigkeit polnischer Produkte und steigende Inflationsraten hervorgerufen wurde. Eine Wirtschaftskrise, deren Auswirkungen in Form von Versorgungsengpässen und steigenden Preisen vor allem die "gewöhnliche" Bevölkerung zu spüren bekam10 • Eine zentrale Rolle spielte schließlich der durch den sowjetischen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, eingeleitete Prozeß der .. Glasnost" 11 und "Perestroika " 12 im allgemeinen und der offizielle Verzicht auf die Breschnew-Doktrin im speziellen. Dies machen die Worte des letzten PVAP-Chefs Mieczyslaw Rakowski auf dem Auflösungsparteitag am 27. Januar 1990 deutlich:
Siehe unten "B. IV." und "B. V.". V gl. auch G. Meyer, APuZ B I 0/1993, S. 10 r. Sp. • Vgl. D. Bingen, HK 43 (1989), S. 212 (213); WN. Knobelsdorf, Politische Kultur, S. 108 (115 ff.); K. Ziemer, BiS 43 (1993), S. 29 (32). 9 Vgl. WN. Knobelsdorf, ebd., S. 117; grundsätzlich zum Ganzen P. Graf Kielmansegg, Fragestellungen, S. I0 ff. 10 Vgl. K. Ziemer, OE 39 (1989), S. 792 f. 11 Vgl. M. Gorbatschow, Perestroika, insbes. S. 92-99. 12 Vgl. M. Gorbatschow, ebd., insbes. S. 15-72. 6
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I. Polen
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"Die Breschnew-Doktrin hing wie ein Beil über der polnischen Partei und ihren Führungskadern. Sie übte politische und psychologische Wirkungen aus. Beide Momente kamen über viele Jahre in der stereotyp hergebeteten Frage zum Ausdruck: Und was werden die sowjetischen Genossen dazu sagen?" 13
Es bleibt das historische Verdienst Gorbatschows, diese Politik des "laissezfaire" gegenüber den früheren "Satelliten-Staaten" eingeleitet und damit diese zu ihren Reformen erst ermutigt zu haben, auch wenn die "Perestroika" selbst -entgegen der Einschätzung Gorbatschows 14 - noch keine "Revolution" darstellte. Der "Faktor Gorbatschow" wird hier zwar am Beispiel des polnischen Weges erörtert, ist aber bei allen osteuropäischen Transformationsprozessen als conditio sine qua non in Rechnung zu stellen 15 • "Ohne militärischen Rückhalt durch die UdSSR fielen die kommunistischen Regime zusammen wie ein Kartenhaus."16 Bei den Ländern Polen und Ungarn, denen innerhalb der Dominorevolution des Jahres 1989 die Protagonistenrolle zukam 17 , wirkte sich dieser Faktor naturgemäß besonders nachhaltig aus. Die nachfolgenden Staaten, wie die DDR oder die Tschechoslowakei, hatten bereits die erfolgreichen Befreiungsversuche ihrer ehemaligen "Bruderstaaten" als Vorbild vor Augen und gingen folglich ein vergleichsweise geringeres Risiko ein, mit einer Intervention des "großen Bruders" rechnen zu müssen. Zum Niedergang und zur Delegitimierung 18 der PVAP trug weiter eine infolge von Korruption, Nepotismus und Machtmißbrauch eingetretene "innere Demoralisierung" 19 der Partei bei. Durch die Ausrufung des Kriegszustandes und Suspendierung der "Solidarität" im Dezember 1981 büßte die Staatspartei an Ansehen ein und verlor allein im Zeitraum von 1980 bis 1983 fast ein Drittel ihrer Mitglieder0 • Auf der anderen Seite stand quasi als Gegenspieler des in Agonie befindlichen Parteiapparates eine in den achtziger Jahren stetig gewachsene Zahl von oppositionellen Organisationen und Gruppierungen, die, wenn auch in ihrer Strategie uneins (Stichwort: "Kooperation oder Konfrontation") und organisatorisch diffus, "nach dem Prinzip kommunizierender Röhren, also ohne klare Abgrenzung voneinander und zum Teil bei individueller Doppelmitgliedschaft"21 agierten. Ende 1988 wurden bereits knapp zwei Dutzend anti-kommunistischer Zit. nach J. Holzer, APuZ B 12-13/1990, S. 17 (18). " Vgl. M. Gorbatschow, Perestroika, S. 60 ff. " Wie hier K. von Beyme, Systemwechsel, S. 53,93 f. ; R. Dahrendorf, Betrachtungen, S. 16 ff.; J. Rupnik/D. Moisi, Transit 211991, S. 5 (6). 16 J. Borko, Sowjetunion, S. 126 (127). 17 So auch Z.D. Barany, SOE 39 ( 1990), S. 318. 18 Vgl. G. Schöpflin, EA45 (1990), S. 51 (53 ff.). 19 V gl. J. Holzer, APuZ B 12-13/1990, S. 18 f. 20 Vgl. J. Holzer, ebd., S. 19. 21 K. Ziemer, OE 39 (1989), S. 794. 13
Teil B: Der (verfassungs-)politische TransformationsprozeB
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Organisationen mit parteiähnlicher Struktur und 150 weitere illegale und halblegale, aber tolerierte Vereinigungen gezählt22 • Die Verhängung des Kriegszustandes wirkte bei der Entstehung und Verbreitung nonkonformistischer Gruppen eher als Katalysator denn als Bremser. Eine Führungsrolle nahm dabei die .,Solidarität" ein, die allenfalls in ihrer unmittelbaren Gründungsphase eine Gewerkschaft im klassischen Sinn war, sich aber schon bald zu der Anti-Partei Polens entwickelte, die mit ihren Forderungen und Thesen nahezu das gesamte politische Spektrum abdeckte23 . Formal noch verboten, war sie gleichwohl seit 1985/86 wieder verstärkt aktiv geworden und nutzte die Schwäche der Regierung konsequent aus24 • Konzeptionell trat die "Solidarität" für die Schaffung verschiedener lokaler, regionaler und berufsständischer Selbstverwaltungsbereiche ein. Der gewerkschaftliche Bereich sollte nur den Anfang bilden für die Erreichung einer schrittweisen Subsystemautonomie. Eine nicht zu unterschätzende Rückenstärkung erfuhr die polnische Opposition durch die einflußreiche katholische Kirche, zunächst eher in passiver, aber spätestens mit der Wahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyla zum Papst Johannes Paul II (1978) auch verstärkt in aktiver Form25 • Die Unterstützung von Seiten des Episkopats hatte verschiedenste Gesichter, sei es das verkündete Wort, das Zur-VerfügungStellen von schutzbietenden kirchlichen Räumen, aber auch die direkte Vermittlung zwischen Regierung und Opposition (so etwa während der Streiks im August 1988)26 • Als sich die regierende Partei Polens 1988 nicht mehr in der Lage sah, die ökonomische Krise aus eigener Kraft zu überwinden, ging sie vom Kurs der Repression zunächst zur Konsultation und anschließend zur Kooperation mit der noch immer formal illegalen "Solidarität" über, um mit vereinten Kräften die als unumgänglich erachteten politischen und wirtschaftlichen Reformen in die Wege zu leiten 27 • "Die Epigonen des Rückzugs", so Hans Magnus Enzensberger treffend, "sind Getriebene."28 Nach dem Ende der Streikwelle vom August 1988, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Situation zumindest als prä-revolutionär zu beschreiben ist, bot Innenminister Kiszczak der Opposition an, sich mit deren Vertretern an einem "Runden Tisch"29 zusammensetzen und über drängende Fragen, ohne thematische Begrenzung beraten zu wollen. Hintergedanke der Kommunisten war es, die Opposition in das System eines Vgl. G. W Strobel, APuZ B 12-13/1990, S. 3 (6). Vgl. M. Kral, JD 5 (1994), S. 85 (86 ff.); W Puhl, Freiheit, S. 38 ff. 24 Vgl. G.W Strobel,APuZB 12-13/1990, S. 5. " Vgl. A. Michnik, Abschied, S. 24 ff. 26 V gl. zur Rolle der katholischen Kirche im polnischen Transformationsprozeß nur M. Alexander, Überblick, S. 17 (34 f.); K. Ziemer, BiS 43 (1993), S. 33. 27 Vgl. D. Bingen, Innenpolitik, S. 176 (207); J. Kis, JD I (1990), S. 75 f. 28 H.M. Enz.ensberger, Die Helden des Rückzugs, S. 156. 29 Zum Symbolgehalt des "Runden Tisches" vgl. P. Häberle, AöR 117 ( 1992), S. 173 f. 22
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zwar zu reformierenden, aber keinesfalls zu liquidierenden Sozialismus einzubinden und sie für ein eventuelles Scheitern der gemeinsamen Politik mitverantwortlich zu machen sowie im Endeffekt zu diskreditieren. Primäres Ziel der vorsichtig-pragmatisch operierenden "Solidarität" war die Wiederzulassung der Gewerkschaftsbewegung30• Zu diesem Zweck sollte eine als realistisch verstandene "Politik der kleinen Schritte" praktiziert werden 31 • Adam Michnik umschrieb dieses Konzept eines Evolutionsweges in seinem Essay "The New Evolutionism": "Such a programme of evolution should be addressed to independent public opinion and not just to the totalitarian authorities. Inslead of acting as a prompter to the govemment, telling it how to improve itself, this prograrnme should tell society how to act. As far as the govemment is concemed, it can have no clearer counsel than that provided by social pressure from below. " 32
Voraussetzung für die folgenden Verhandlungen mit der Opposition war das X. Plenum der PVAP, das zweigeteilt im Dezember 1988 und im Januar 1989 stattfand. Hier wurden parteiintern - trotz erbittertem Widerstands konservativer Kräfte33 - die Weichen in Richtung auf eine Reformierung des sozialistischen Systems gestellt und mehrheitlich Forderungen nach gewerkschaftlichem und politischem Pluralismus, Rechtsstaat und Gewaltenteilung propagiert34• Zeitgleich hierzu hatte der im Oktober 1988 neu gewählte Ministerpräsident Rakowski seine, wenn auch zu sehr ökonomie-zentrische, "Politik des Dialogs mit der Gesellschaft"35 begonnen, die ebenfalls dazu beitrug, daß das innenpolitische Klima in Polen zum Jahreswechsel 1988/89 durch Öffnungs- und Ausgleichsbemühungen gekennzeichnet war. Die Verhandlungen am "Runden Tisch" erfolgten vom 6. Februar bis zum 5. April 198936 • Beteiligt waren auf der Regierungsseite die PVAP samt der mit ihr verbundenen Blockparteien der ZSL (Vereinigte Bauernpartei) und SD (Demokratische Partei) sowie die offizielle staatliche Gewerkschaft OPZZ und auf Oppositionsseite das neu gegründete "Bürgerkomitee bei Lech Walesa"37 • Das "Bürgerkomitee" hatte sich Ende 1988 als politischer Arm der "Solidarität" unter dem maßgeblichen Einfluß Walesas gebildet. Es trat mit dem Anspruch auf, für die polnische Gesellschaft eine Art Ersatz-Parlament zu schaffen und wurde auch als "Schattenkabinett" tituliert38 • Organisatorisch fanden die Ver-
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quer 32
" 34
" 36 37
"
Vgl. J.J. Wiatr, FB 45 (1990), S. 39 (S. 46, Fn. 6). M. Schneider, Jahrhundertmythos, S. 299, spricht von einem "neuen Politikmodell (... ), das zu den alten Klassenkampfmodellen steht". Zit. nach M. Bemhard, PSQ 108 (1993), S. 314. Vgl. AdG 59 (1989), S. 33207 ff. Vgl. D. Bingen, Innenpolitik, S. 205 ff. M. Alexander, Überblick, S. 36. Vgl. zum genauenVerlauf AdG 59 (1989), S. 33209 ff. Zwei Vertreter des Episkopats waren als Beobachter ohne Stimmrecht anwesend. Vgl.G.WStrobel,APuZB 12-13/1990,S.6f.
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handlungenzwischen der Regierung und der Opposition in Form von drei Hauptausschüssen, zehn Unterausschüssen und sechs Arbeitsgruppen statt, die sich mit den Themenkomplexen "politische Reformen", "gewerkschaftlicher Pluralismus" sowie "Wirtschafts- und Sozialpolitik" beschäftigten. Am Ende standen 14 Übereinkommen fest39 • Die Generallinie lautete, ein "unabhängiges, souveränes, durch gleichberechtigte Bündnisse sicheres, demokratisches und wirtschaftlich starkes Polen''40 zu schaffen. Die "Solidarität" wurde wiederzugelassen. Im Juni 1989 sollten Parlamentswahlen abgehalten werden. Des weiteren konnte hinsichtlich der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, der Umgestaltung der Wirtschaft, der Reformierung des Gerichtswesens und der Liberalisierung der Medien- und Jugendpolitik sowie des Vereinsgesetzes ein grundsätzlicher Konsens erzielt werden41 • Insgesamt, so die Bilanz von Bingen, "wurden praktisch alle Grundlagen des realsozialistischen Systems zur Disposition gestellt"42 • Aus den nur zu einem Drittel freien Wahlen zum Sejm43 sowie den vollständig freien Wahlen zum Senat im Juni 1989 ging das ,,Bürgerkomitee bei Lech Walesa" als eindeutiger Sieger hervor44. Ihm kam - was unter den sonstigen oppositionellen Gruppen auf heftigen Protest stieß - wie schon bei den Verhandlungen am "Runden Tisch", so auch bei den Wahlen ein Oppositionsmonopol zu. Die Wahlen gerieten zu einem wahrhaften Plebiszit über die vorausgegangenen 45 Jahre kommunistischer Regierung. Es kam zu der Bildung der ersten nichtkommunistischen Regierung Polens im Machtbereich des Warschauer Paktes. Ministerpräsident wurde am 24. August 1989 der Kompromißkandidat, katholische Intellektuelle und Berater der "Solidarität" Tadeusz Mazowiecki45 • Als Hauptmandat seines Koalitionskabinetts aus Vertretern des Bürgerkomitees, der ZSL, SD und PVAP bezeichnete Mazowiecki die Etablierung eines Rechtsstaates, um von diesem Fundament aus das gesamte Staatswesen reformieren zu können46 • Mit den Verfassungsnovellen vom 7. April 1989 und 29. Dezember 1989 wurden die wichtigsten der am ,,Runden Tisch" getroffenen Vereinbarungen in rechtlich verbindliche Form gegossen47 • Die bisherige "Volksrepublik Polen" heißt fortan nur noch "Republik Polen". Als solche definiert sie sich gemäß Zu den Inhalten im einzelnen vgl. AdG 59 (1989), S. 33212 f. Zit. nach AdG 59 (1989), S. 33213. 4 1 Vgl. G.W Strobel,APuZB 12-13/1990, S. 7. 42 D. Bingen, Innenpolitik, S. 209. 43 65 Prozent der Sitze reklamierte die PVAP von vornherein für sich und nur die restlichen 35 Prozent wurden durch freie Wahl verteilt. 44 Vgl. AdG 59 (1989), S. 33386 ff. ; 33429 ff. ., Vgl. dazu A. Michnik, Abschied, S. 50 ff. 46 Vgl. K. Ziemer, Probleme, S. 101. 47 Vgl. J.J. Wiatr, FB 45 (1990), S. 44 f. 39
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L Polen
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Art. 1 der Verfassung als "demokratischer Rechtsstaat, der das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verwirklicht"48 • Die verfassungsmäßige Führungsrolle der Partei wurde beseitigt und durch einen unbeschränkten Parteienpluralismus sowie den Grundsatz der Gewaltenteilung ersetzt49 • Hinzu kamen verschiedene das Staatsorganisationsrecht betreffende Revisionen (Einführung des Präsidialsystems, Zweite Kammer etc.)50 sowie eine grundlegende Umgestaltung der Wirtschaftsverfassung51 • Diese Neuregelungen können hier nicht weiter ausgeführt werden. Von mittelbarer Grundrechtsrelevanz sind die Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz sowie die ausdrückliche konstitutionelle Verankerung des Amtes des bereits seit Januar 1988 tätigen Sprechers für Bürgerrechte (Ombudsmann). Während bei der April-Novelle noch das Bestreben vorherrschte, ein im Kern sozialistisches Verfassungsmodell zu konservieren, ging die Dezember-Novelle hierüber hinaus und führte zu der eigentlichen fundamentalen Veränderung der sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in Richtung auf einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung52 • Die Vorarbeiten für eine neue polnische Verfassung reichen bis in das Jahr 1986 zurück53 • 1988 wurde an der Universität Warschau eine Forschungsgruppe eingesetzt, die die Arbeiten für eine künftige polnische Verfassung vorantreiben sollte. Ein unabhängiger Verfassungsentwurf ging hieraus jedoch nicht hervor4 • Am 7. Dezember 1989 setzten der Sejm und der Senat Verfassungskommissionen ein, die im März 1990 ihre Arbeit aufnahmen. Ziel war es, bis zum 200. Jahrestag der Verabschiedung der ersten polnischen und zugleich ersten geschriebenen europäischen Verfassung vom 3. Mai 1791 eine neue Verfassung zu beschließen55 . Daraus wurde jedoch nichts, da von gewichtigen Stimmen im Parlament und aus den Reihen der außerparlamentarischen Opposition die demokratische Legitimation des 1989er-Parlaments zur Verfassungsgebung angezweifelt wurde und es zu der als Kompensationslösung gedachten Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsausschüssen von Sejm und Senat infolge mangelnder Kooperationsbereitschaft des Senats nicht kam56• Das Verfahren blieb somit zweispurig und die beiden Kommissionen legten am 24. August 1991 (Sejm) bzw. 22. Oktober 1991 (Senat) jeweils eigenständige Entwürfe vor. Die Zersplitterung der polnischen Parteienlandschaft als Resultat der Wahlen Vgl. allgemein zu Staatsdefinitionen in der Verfassung K. von Beyme, Vergleich, S. 136 f. Vgl. K. Ziemer, Probleme, S. 101 sowie ferner K. von Beyme, Systemwechsel, S. 229 ff. 50 Vgl. dazu K. Dzialocha, OER 39 (1993), S. I ff. ; K.J. Kuss, DuR 1990, S. 44 (46 ff.). " Vgl. dazu P. Häberle, AöR 117 (1992), S. 178 ff. (183): ,,kongeniale Wirtschaftsform des Verfassungsstaates". 52 Vgl. B. Banaszak, MfOR 35 ( 1993), S. I 09 ( III f.). " Vgl. M. Kallas, OER 38 (1992), S. 277 (279). 54 Vgl. M. Kallas, ebd., S. 279. " Vgl. P. Mohlek, OER 39 (1993), S. 146 (147). 56 V gl. J. Zakrzewska, JfP 2 (1992), I. Hb., S. I 09 (113 f.). 48 '9
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Teil B: Der (verfassungs-)politische Transformationsprozeß
vom 27. Oktober 199P7 beeinträchtigte zudem die politische Handlungsfähigkeil des Parlaments und führte zu weiteren Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt und vor allem das Verfahren zur Verabschiedung der neuen Verfassung. Dabei mangelte es nicht an Vorschlägen und Konzepten. Im Gegenteil: Bis Ende 1991lagen zehn vollständige Verfassungsentwürfe vor. Neben denen des Sejm und des Senats noch einer der Universität Warschau, vier von Parteien und drei von Einzelverfassern. Dazu traten mehrere Abhandlungen und Stellungnahmen zu verfassungsrechtlichen Einzelaspekten58 . Die Rechtsvergleichung spielte bei der Ausarbeitung dieser Entwürfe fast immer eine zentrale Rolle59 • Am 23. April 1992 wurde das (am 22. September 1992 in Kraft getretene) Verfassungsgesetz zur Regelung des Verfahrens erlassen, mit dem die neue Verfassung verabschiedet werden sollte. Man einigte sich auf eine zweistufige Vorgehensweise bestehend aus der Zustimmung der Nationalversammlung und einem anschließenden Referendum. Am 8. Dezember 1992 trat dasapriorials Übergangslösung konzipierte "Verfassungsgesetz vom 17. Oktober 1992 über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt der Republik Polen sowie über die territoriale Selbstverwaltung" (sogenannte "kleine Verfassung ")(:jj in Kraft. Dieses beinhaltet in erster Linie Änderungen in staatsorganisatorischer Hinsicht61 . Die Grundrechtsfrage wurde dabei bewußt ausgeklammert und einer zukünftigen, bis heute nicht erfolgten, "großen" Verfassungsrevision überlassen. Was die Grundrechte betrifft, so gilt in Polen somit weiterhin die stalinistisch geprägte Verfassung von 1952. Polen ist damit, zusammen mit Ungarn, ein Beleg für die These von Beymes: je klarer die raptura in Richtung Demokratie, desto weniger durchgreifend paradoxerweise der Verfassungsgebungsprozeß62 • Das Gelingen des Projektes einer "großen Verfassungsrevision" ist umso dringender, als gerade im Zuge des Reformprozesses der achtziger Jahre die 1952er-Verfassung vielfältigen Änderungen unterworfen wurde und somit heute insgesamt ein eher inkohärentes und eklektisches Bild vermittelt63 . Diese Einschätzung wird von etwa zwei Drittel der polnischen Bevölkerung geteilt, für die nach einer Umfrage aus dem Frühjahr 1992 die Kreation einerneuen Verfassung eine "ziemlich wichtis? Vgl. J. Juchler, OE 44 (1994), S. 125 ff., 130; K. Ziemer, BiS 43 (1993), S. 33. so Vgl. Z. Czeszejko-Sochaki/R. Machacek, EuGRZ 19 (1992), S. 93 (95). s• Vgl. Z. Kedzia, Einwirkungen, S. 155, 162 ff.
60 "Kleine Verfassungen" haben in der polnischen Verfassungsgeschichte eine gewisse Tradition. Bereits 1919 und 1947 entschied man sich für eine derartige transitorische Variante. 6 1 Vgl. K.-O. I.Ang, ROW 37 (1993), S. 172 ff. 62 Vgl. K. von Beyme, Systemwechsel, S. 235 f. 6 3 Vgl. die Beispiele bei G. W Strobel, APuZ B 12-1311990, S. 12 sowie grundsätzlich B. Ackermann, Transit 4/1992, S. 46 (57 ff.) ; krit. auch B. Banaszak, MfOR 35 (1993), S. 109; G. Brunner, Neue Verfassungen, S. 103: "Der Grundrechtskatalog befindet sich hingegen nach wie vor in einem desolaten Zustand."
IJ. Ungarn
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ge" bzw. "sehr wichtige" Aufgabe darstellt64 • Für die Verabschiedung einer im Januar 1993 vom polnischen Präsidenten Walesa- offensichtlich nach tschechoslowakischen Vorbild - vorgelegten Charta der Rechte und Freiheiten65 , die einen integrativen Teil der neuen Verfassung bilden sollte, konnte in den beiden Häusern des Parlaments keine Mehrheit gefunden werden. Als Grundlage für die im "Teil C." folgende Darstellung des polnischen Grundrechtsverständnisses muß mithin auf die seit 1988 veröffentlichten Vorarbeiten und verfassungspolitischen Vorstellungen rekurriert werden. Diese sind jedoch bereits so weit gediehen, daß sich schon jetzt klare und diskussionsfähige Konturen einer zukünftigen Grundrechtskonzeption abzeichnen. II. Ungarn
Der Transformationsprozeß in Ungarn weist deutliche Parallelen zum polnischen Weg, aber auch einige wesentliche Differenzen hierzu auf. Wie in Polen, so läßt sich auch der Systemwechsel in Ungarn nicht an einem bestimmten Ereignis oder Datum festmachen. Es handelt sich vielmehr auch hier um einen graduellen, evolutiven Prozeß bzw.- anders gewendet- um ein "Hinsiechen'