Das Gentechnikrecht der Europäischen Gemeinschaft: Gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik und Gentechnikregulierung [1 ed.] 9783428483693, 9783428083695


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German Pages 332 Year 1995

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Das Gentechnikrecht der Europäischen Gemeinschaft: Gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik und Gentechnikregulierung [1 ed.]
 9783428483693, 9783428083695

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MATTRIAS SCHENEK

Das Gentechnikrecht der Europäischen Gemeinschaft

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von Thomas Oppermann in Gemeinschaft mit Heinz-Dieter Assmann, Hans v. Mangoldt Wernhard Möschel, Wolfgang Graf Vitzthum sämtlich in Tübingen

Band 33

Das Gentechnikrecht der Europäischen Gemeinschaft Gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik und Gentechnikregulierung

Von Dr. Mattbias Schenek

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schenek, Matthias: Das Gentechnikrecht der Europäischen Gemeinschaft : gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik und Gentechnikregulierung I von Matthias Schenek. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht ; Bd. 33) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08369-5 NE:GT

D21 Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 3-428-08369-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Meinen Eltern

Vorwort Vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der EberhardKarls-Universität Tübingen im Sommersemester 1994 als Dissertation angenommen. Für die Druckfassung habe ich die Literatur bis Sommer 1994 eingearbeitet. Spätere Veröffentlichungen und Dokumente konnten nur noch am Rande berücksichtigt werden. Die Anregung, Fragen der EG-Biotechnologiepolitik und des Gemeinschaftlichen Gentechnikrechts zu bearbeiten, stammte von Prof. Dr. Wolfgang Graf Vitzthum. Neben dem interessanten naturwissenschaftlich-technischen Kontext mit seinen vielfältigen umwelt-, Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Problemstellungen reizte mich an dem Thema die Frage: Inwieweit ist das EG-Recht in der Lage, die Probleme dieses zukunftsorientierten Feldes modernen Umwelt- und Technikrechts zu lösen? Was ist das Charakteristikum, was der spezifische Beitrag des EG-Gentechnikrechts? Im Vordergrund standen dabei naturgemäß die Probleme, die aus der engen Verschränkung von mitgliedstaatlichem und europäischem Recht erwachsen. Nur wenige Monate nach dem Beginn der Bearbeitung dieses Themas wurden die EGtypischen Schwierigkeiten durch die zwischen Brüssel und Bonn im Sommer 1992 aufbrechende Debatte über die im deutschen Gentechnikrecht angeblich ungenügende Berücksichtigung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben illustriert. Auch nach lokrafttreten der Novellierung des Gentechnikgesetzes am 22. Dezember 1993 sind diese Umsetzungs- und Kompatibilitätsprobleme nicht ausgeräumt. Weder die Vertiefung der europäischen Integration durch das Maastrichter Vertragswerk noch die Ausweitung des Kreises der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zum I. Januar 1995 bringen diesbezüglich Erleichterungen. Mein besonderer Dank gilt Prof. Graf Vitzthum. Er eröffnete mir die für mein Promotionsvorhaben so wertvolle Möglichkeit der Mitarbeit an seinem Lehrstuhl und in der Tübinger DFG-Forschergruppe "Europäische und Internationale Wirtschaftsordnung aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland". Mein Doktorvater begleitete die entstehende Arbeit dann stets mit besonderem Interesse, sachkundigem Rat und notwendiger Kritik - fordernd und fördernd zugleich. Darüber hinaus vermittelte Graf Vitzthum die Kontakte zu Wissenschaftlern, Praktikern und Behörden, die sich insbesondere für die empirische und normative Befundnahrne als unentbehrlich erwiesen.

8

Vorwort

Aufrichtig danke ich ebenfalls Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Oppermann. Er erstellte das an wertvollen Hinweisen reiche Zweitgutachten und nahm die Studie in die "Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht" auf. Dank schulde ich auch Dr. Tatjana Geddert-Steinacher und Dr. Wolfgang März. Ihre Spezialkenntnisse des Gentechnikrechts bzw. seine umfassende rechtswissenschaftliche Bildung, vor allem aber die freundschaftliche Zusammenarbeit am Lehrstuhl, an dem wir alle assistierten, eröffneten mir neben wichtigen fachlichen Perspektiven die zeitlichen Freiräume, die den zügigen Promotionsabschluß ermöglichten. In Doris Hoppe, Sylvia Aldinger, Elisabeth Schlegel, Dr. löm Axel Kämmerer, Alexandra Zoller und Annin Weidt standen mir weitere hilfreiche Gesprächspartner zur Seite. Annin Weidt bin ich auch für das Korrekturlesen meines Manuskripts zu Dank verpflichtet. Die Reinhold- und Maria-Teufel-Stiftung hat die Arbeit mit einem Preis ausgezeichnet. Auch hierfür sage ich meinen aufrichtigen Dank. Esslingen, im Januar 1995

Matthias Schenek

Inhalt Einrührung

17

Erster Teil

EG-Biotechnologiepolitik

28

I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe, Chancen- und Risikopotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

1. Biotechnologie, Gentechnik, Humangenetik . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

2. Chancen- und Risikopotential in Forschung und Nutzung

. .. . . . . .

34

II. Biotechnologie als Politikfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. Aufgabenzuweisungen an die Politik: Wohlstands- und Umweltvorsorge, Chancengenerierung und Nutzungsförderung . . . . . . . . . . . . . .

41

2. Die Europäisierung des Politikfeldes Biotechnologie: Historische Entwicklung, Schwerpunkte, externe und interne Motive . . . . . . . . .

56

111. EG-Biotechnologiepolitik im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

1. Industriepolitik: Forschung, Technologie, Binnenmarkt . . . . . . . . . .

81

2. Umwelt- und Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100

IV. EG-Biotechnologiekompetenz im EWG-Vertrag: Grundlagen, Prinzipien und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

1. Das Verhältnis von industrie-, umwelt- und gesundheitspolitischen Teilaspekten der EG-Biotechnologiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

2. Das Verhältnis zur Kompetenz der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . .

110

Zweiter Teil

EG-Gentechnikrecht

120

I. Systematik des EG-Gentechnikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124

1. Gentechnikregulierung als Materie des Umwelt- und des Technikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124

2. Gentechnik-, Umwelt- und Technikrecht im EG-Rahmen: Die Wahl der richtigen Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

10

Inhalt 3. Regelungsansatz und Verhältnis zum restlichen EG-Umweltrecht

138

4. Die Gentechnik-Regelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

II. Schutzgüter und -zwecke des horizontalen Ansatzes (System- und Freisetzungsrichtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

1. Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt

... ... ....

182

2. Industriepolitischer Förderzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

III. Schutzgüter und -zwecke des vertikalen Ansatzes (Produktsicherheitsrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

198

IV. Die System- und die Freisetzungsrichtlinie als Paradigma des Gemeinschaftlichen Gentechnikrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

1. Umsetzung umweltrechtlicher Prinzipien (Vorsorge- und Kooperationsprinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

2. Die verfahrensmäßige Zulassung gentechnischer Arbeiten in geschlossenen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

214

3. Die verfahrensmäßige Zulassung von Freisetzungen (mit Ausnahme des Inverkehrbringens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219

4. Die verfahrensmäßige Zulassung des Inverkehrbringens nach der Freisetzungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

I. Systemrichtlinie

AusbOck

223

Anhang

230

....... .... .... ..... ..... ....... ... .

230

1. Richtlinie des Rates vom 23.4.1990 über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen (90 /219/ EWG), ABI. Nr. L 117/1 vom 8.5.1990 (Systemrichtlinie) . . . . . . .

230

2. Richtlinie 94/ 51/ EG der Kommission vom 7.11.1994 zur ersten Anpassung der Richtlinie 90/219/EWG über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen an den technischen Fortschritt, ABI. Nr. L 297 /29 vom 18.11.1994 . . . . . . . . .

244

3. Interpretationshilfen der EG-Kommission I GD XI zur Systemrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

246

a) Explanatory Notes (Dok. XI/596/91-Rev. 1) . . . . . . . . . . . . .

246

b) Guidance for Identification of Type A Operations according to Directive 90/219/EEC (Dok. XI/535/91-Rev. 1) . . . . . . . . . .

253

Inhalt II. Freisetzungsrichtlinie

11 258

I. Richtlinie des Rates vom 23.4.1990 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt (90 I 220 I EWG), ABI. Nr. L 117 I 15 vom 8.5.1990 (Freisetzungsrichtlinie) . . . . . . . .

258

2. Richtlinie 941151EG der Kommission vom 15.4.1994 zur ersten Anpassung der Richtlinie 90/220 I EWG des Rates über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt an den technischen Fortschritt, ABI. Nr. L 103/20 vom 22.4.1994 . . . .

271

3. Interpretationshilfen der EG-KommissioniGD XI zur Freisetzungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

a) Explanatory Notes (Dok. XI/401191-Rev. 2) . . . . . . . . . . . . .

279

b) Guidance for Interpretation of the Term ,,Placing on the Market" with Reference to Directive 90/220 I EEC (Dok. XI /57 /92-fin) .

287

III. Arbeitnehmerschutzrichtlinie: Richtlinie des Rates vom 26.11.1990 iiber den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (Siebte Einzelrichtlinie i.S.v. Art. 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (90/679/EWG), ABI. Nr. L 374/1 vom 31.12.1990 (Arbeitnehmerschutzrichtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

IV . .,Novel Food"-Verordnung (Kommissionsvorschlag): (Geänderter) Vorschlag der Kommission filr eine Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates iiber neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (94/ C 16/ 07), KOM(93) 631 endg. - COD 426, ABI. Nr. C 16110 vom 19.1.1994 (Novel Food) . . . . . . . . . . . . . . .

303

Literatur

307

Abkürzungen A.A., a.A.

Anderer Ansicht, anderer Ansicht

a.a.O.

am angegebenen Ort

ABI.

Amtsblatt

Abs.

Absatz

a.E.

am Ende

A.I.D.

Artificial Insemination by Donor

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung ,Das Parlament')

Art.

Artikel

BAP

Biotechnology Action Programme

BCC

Biotechnology Coordination Committee

Bd.

Band

Beil.

Beilage

BEP

Biomolekular Engineering Programme

BFE

Biotech Forum Europe

BGBI.

Bundesgesetzblatt

BIOTECH

Biotechnologie (Förderprogrammn der EG)

BR

Bundesrat

BRIC

Biotechnology Regulations Inter-service Committee

BRITE

Basic Research and Development in Advanced Communications Technologies for Europe

BSC

Biotechnology Steering Committee

BT

Bundestag

Bull. EG

Bulletin der EG

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

CEN

Comit~

COSHH

Control of Substances Hazardous to Health Regulations

COST

Coo~ration

CUBE

Concertation Unit for Biotechnology in Europe

Ders., ders.

Derselbe, derselbe

Europren de Normalisation

europrenne dans le domaine de Ia Recherche Scientifique et Technique

13

Abkürzungen d.h.

das heißt

Dies., dies.

Dieselbe(n), dieselbe(n)

DNA,DNS

Desoxyribonukleinsäure

Dok.

Dokument

Drs.

Drucksache

DtÄrzteBl.

Deutsches Ärzteblatt

EAG

Europäische Atomgemeinschaft

EAG-Vertrag

Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM)

ebd.

ebenda

ECLAIR

European Collaborative Linkage of Agriculture and Industry through Research

ECU

European Currency Unit

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EEC

European Economic Community

EFfA

European Free Trade Association zone

EG

Europäische Gemeinschaft(en)

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGKS-Vertrag

Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

EGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

EG-Vertrag

Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft

Ein!.

Einleitung

= Europäische

Freihandels-

EL

Ergänzungslieferung

endg.

endgültig

EP

Europäisches Parlament

ESPRIT

European Strategie Programme for Research and Development

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EUREKA

European Research Coordination Action

EUV

Vertrag über die Europäische Union [Maastricht-Vertrag]

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EWGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

f., ff.

folgend(e)

Abkürzungen

14 FAR

Fisheries and Aquacultural Research

FAST

Forecasting and Assessment in Science and Technology

F.A.Z.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FDA

Food and Drug Administration

Fed.Reg.

Federal Register

FEMS

Federation of European Microbiological Societies

FLAIR

Food-Linked Agro-Industrial Research

Fn.

Fußnote(n)

FS

Festschrift

FuT

Forschung und Technologie

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade

GD

Generaldirektion

GenTG

Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz)

GenTVtv

Gentechnik-Verfahrensverordnung

GG

Grundgesetz

ggfs.

gegebenenfalls

GILSP

Good Industrial Large Scale Practice

GVMO

Genetisch veränderte Mikroorganismen

GVO

Gentechnisch veränderte Organismen

H.

Heft

HER

Handbuch des Europäischen Rechts

Hrsg., hrsg.

Herausgeber, herausgegeben

HStR

Josef /sensee/Paul Kirchlwf (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland

i.d.F. (d. Bek.)

in der Fassung (der Bekanntmachung)

i.S., i.S.d., i.S.v.

im Sinne, im Sinne der I des, im Sinne von

I.V.F.

In-Vitro-Fertilisation

i.V.m.

in Verbindung mit

KOM

Kommission

LAG

Länderausschuß Gentechnik

Lbl.

Loseblattsammlung

lit.

Buchstabe

Lit.-Hinw.

Literatur-Hinweise

Mio.

Millionen

Mrd.

Milliarden

Abkürzungen m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

Nachw.

Nachweise(n)

NIH

National Institutes of Health

NOTA

Netherlands Organization for Technology Assessment

15

Nr.

Nummer(n)

OECD

Organisation for Econornic Cooperation and Development = Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

OTA

United States Congress/Office of Technology Assessment

RACE

Research and Development in Advanced Communications Technologies for Europe

RE

Regierungsentwurf

RL

Richtlinie

Rn.

Randnummer(n)

Rs.

Rechtssache

Rspr.

Rechtsprechung

RTDE

Revue trimestrielle de droit europeen

s.. s.

Seite(n), siehe

Slg.

Sammlung

s.o., s.u.

siehe oben, siehe unten

SPRINT

Strategie Programm for Innovation and Technology Transfer

Sp.str.

Spiegelstrich

STD

Science et technique au service du developpement

TAB

Deutscher Bundestag I Büro für Technikfolgenabschätzung

Tab.

Tabelle

UA

Unterabschnitt

u.a.

unter anderem, und anderswo

UNCED

The United Nations Conference on Environment and Development

USA

United States of America

UTR

Umwelt- und Technikrecht

UVP

Umweltverträglichkeitsprüfung

uvv

Unfallverhütungsvorschrift

V.

vom, von

Vgl., vgl.

Vergleiche, vergleiche

vo

Verordnung

16 Vol.

Abkürzungen Volume

vs.

versus

WHO

World Health Organisation= Weltgesundheitsorganisation

wib

Woche im Bundestag

WSA

Wirtschafts- und Sozialausschuß

Z.B., z.B.

Zum Beispiel, zum Beispiel

zit.

zitiert

ZKBS

Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit

Im übrigen wird auf Hildebert Kirchner (Bearb.), Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 4. Auf!. Berlin/New York 1993 verwiesen.

Einführung Als am 8. Mai 1990 die Systemrichtlinie1 und die Freisetzungsrichtlinie2 der Europäischen Gemeinschaft (EG) in Kraft traten3, erreichte ein ebenso ehrgeiziges wie schwieriges Unterfangen seinen vorläufigen Höhepunkt: die Herstellung eines gemeinschaftsrechtlichen Rahmens für die sichere Erschließung eines besonders zukunftsweisenden biotechnologischen Verfahrens, der Gentechnik. Diese Rechtsetzung war Teil eines politischen Gesamtkonzepts. Mit der Durchführung von Förderprogrammen berücksichtigt dieses nicht allein den Sicherheitsaspekt, sondern zielt auch auf die Entwicklung der Technik ab. Bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, daß die Gemeinschaft kaum ein komplexeres Thema hätte wählen können. Die aufgeworfenen rechtswissenschaftliehen Fragen sind insofern auch besonders kompliziert. Sie harren noch einer umfassenden Beantwortung4 • Der gemeinschafts1 Richtlinie des Rates vom 23. April 1990 über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen (90 I 219 I EWG), ABI. Nr. L 117 I I vom 8.5.1990 (Systemrichtlinie) i.d.F. der Richtlinie der Kommission 94151 lEG vom 7.11.1994 zur ersten Anpassung der Richtlinie 9012191EWG des Rates über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen an den technischen Fortschritt, ABI. Nr. L 297 I 29 vom 18.11.1994. Die Richtlinientexte sind abgedruckt in Anhang I. 2 Richtlinie des Rates vom 23.4.1990 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt (9012201EWG), ABI. Nr. L 117115 vom 8.5.1990 (Freisetzungsrichtlinie) i.d.F. der Richtlinie der Kommission 941 15 I EG vom 15.4.1994 zur ersten Anpassung der Richtlinie 9012201EWG des Rates über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt an den technischen Fortschritt, ABI. Nr. L 103120 vom 22.4.1994. Die Richtlinientexte sind abgedruckt in Anhang II. 3 Gemäß Art. 191 Abs. 2 EWGV werden Richtlinien mit ihrer Bekanntgabe (z.B. durch Veröffentlichung im Amtsblatt) wirksam. Einer gesonderten Festsetzung des Datums ihres Inkrafttretens bedarf es nicht. 4 Zur rechtlichen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland s. u.a. Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, 1990; dies., Standortgefährdung. Zur Gentechnikregelung in Deutschland, 1992; Graf Vitzthum, Das Forschungprivileg im Gentechnikgesetz, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 341 ff.; ders., Gentechnik und Grundgesetz. Eine Zwischenbilanz, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 185 ff.; ders., Das Gentechnikgesetz auf dem Prüfstand, ZG 1992, S. 243 ff.; ders., Zur Gentechniknovelle 1993 - Eher Neuanstrich als Umbau, ZG 1993, S. 236 ff.; ders., Ist der Standort noch zu retten? Fragen und Thesen zur Gentechniknovelle 1993, Politische Studien 44 (1993), H. 332, S. 27 ff.; Winter, Gentechnik als Rechtsproblem, DVBI. 1986, S. 585 ff.; ders., Entfesselungskunst. Eine Kritik des Gentechnik-Gesetzes, KJ 1991, S. 18 ff.; ders., Grundprobleme des Gen-

2 Schenek

18

Einführung

rechtliche Fragenausschnitt soll nachfolgend, in seinen wichtigsten Teilen5 , geklärt werden. Die deutsche Blickrichtung soll dabei im Mittelpunkt stehen. Rund zwanzig Jahre nach den ersten gentechnischen Experimenten in den USA hat das moderne biotechnologische Verfahren weltweit erhebliche ökonomische und gesellschaftliche Relevanz erlangt. Es besitzt ein großes wirtschaftliches und entwicklungsoffenes Potential. Die Gentechnik zählt als Verfahrenstechnik der modernen Biotechnologie zum Kreis der modernen Hochoder Schlüsseltechnologien. Ihre Nutzung wird für die mittel- bis langfristige gesellschaftliche Entwicklung und die Sicherung des Lebensstandards für notwendig erachtet. Ein allgemeiner Konsens über die mit der Anwendung verbundenen spezifischen Risiken besteht indes nicht. In einzelnen Industrieländern, wie in der Bundesrepublik Deutschland und Dänemark, hat die Risikodiskussion mittlerweile schon verschiedene Stadien durchlaufen; sie erweist sich gleichwohl von unveränderter Lebendigkeit. Gentechnische Anwendungen begegnen hier wie dort vergleichsweise höheren Sicherheitsbedenken und bioethischen Vorbehalten, mit einer folglich geringeren gesellschaftlichen Akzeptanz als etwa in Nachbarländern wie Frankreich und den Benelux-Staatechnikrechts, 1993; Hirsch/Schmidt-Didczuhn, GenTG. Gentechnikgesetz mit Erläuterungen, 1991; dies., Gentechnik-Gesetz. Ein Schritt in gesetzgeberisches Neuland, ZRP 1989, S. 458 ff.; Koch/lbelgaufts, Gentechnikgesetz. Kommentar mit Rechtsverordnungen und EG-Richtlinien, Lbl. Stand 1992; Pohlmann, Neue Entwicklungen im Gentechnikrecht, 1989; Brocks/Pohlmann/Senft, Das neue Gentechnikgesetz, 1991 ; Kloepfer/Delbrück, Zum neuen Gentechnikgesetz (GenTG), DÖV 1990, S. 897 ff.; dies., Gentechnikrecht zum Schutze der Umwelt, UPR 1989, S. 281 ff.; Breuer, Ansätze für ein Gentechnikrecht in der Bundesrepublik Deutschland, in: Breuer u.a. (Hrsg.), Gentechnikrecht und Umwelt. Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1991 (UTR, Bd. 14), S. 37 ff.; Richter, Gentechnologie als Regelungsgegenstand des technischen Sicherheitsrechts, 1989; Deutscher Bundestag (Hrsg.), Chancen und Risiken der Gentechnologie. Bericht der Enquete-Kommission "Chancen und Risiken der Gentechnologie" des 10. Deutschen Bundestages, 1987 (Zur Sache 1/87) (zitiert nach: Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages/ Catenhusen, Wolf-Michael/ Neumeister, Hanna (Hrsg.), Chancen und Risiken der Gentechnologie, 2. Auf!. Frankfurt a.M. 1990 [im folgenden: Enquete-Kommission]); Kraatz, Die Zweckambivalenz des Gentechnikgesetzes. Der Schutz- und Förderzweck in § I GenTG, 1993; Martens, Parlamentsvorbehalt und Gentechnikgesetz, Jur. Diss. (ms.), 1993; Lukes, Der Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Fragen der Gentechnik, DVBI. 1990, S. 273 ff.; Nicklisch, Rechtsfragen der modernen Bio- und Gentechnologie, BB 1989, S. 1 ff. ; Eberbach/Lange, Gentechnikrecht, Lbl. Stand 1992; Simon/Weyer, Die Novellierung des Gentechnikgesetzes, NJW 1994, S. 759 ff.; Wahl/Melchinger, Das Gentechnikrecht nach der Novellierung, JZ 1994, S. 973 ff. s Im Rahmen der Arbeit wird der Bezug des EG-Gentechnikrechts zum Gentechnikrecht der Mitgliedstaaten nur am Rande behandelt (dazu Graf Vitzthum/Schenek, Die Europäisierung des Gentechnikrechts, S. 83 ff.). Verzichtet wird, da zu weit führend, auch auf rechtsvergleichende Ausführungen zum Gentechnikrecht der anderen Mitgliedstaaten und sonstiger Staaten, wie etwa dem der USA oder Japans.

Einführung

19

ten. Jede Biotechnologiepolitik begibt sich damit auf eine Gratwanderung. Sie hat diese Widersprüche in der Politikformulierung zu berücksichtigen. Die realen Regelungsergebnisse erscheinen dann als die Resultante des Parallelogramms dieser widerstrebenden Kräfte. Daß die doppelte Aufgabe der Hege und Förderung der Gentechnik nicht immer einfach zu lösen ist, illustrierte in den Jahren 1989 I 90 das Gesetzgebungs verfahren zum Gentechnikgesetz in Deutschland6 sowie, knapp drei Jahre später, die Debatte um den Gentechnikstandort Deutschland und die erste Novellierung des Gentechnikgesetzes7 • In der deutschen Novellierungsdebatte wurde die Relevanz des EG-Gentechnikrechts, unseres Themas, besonders deutlich. Realisiert wurde, daß eine mitgliedstaatliche (De-)Regulierung nur mit, nicht gegen die gemeinschaftsrechtlichen Festlegungen möglich ist8 • Mit ihrer hohen Regelungsdichte belassen die gemeinschaftlichen Gentechnik-Richtlinien den mitgliedstaatliehen Gesetzgebungsorganen aber nur wenig Freiraum zu inhaltlich abweichenden Bestimmungen9 • Die Probleme im Rahmen der derzeitigen deutschen Novellierung öffnen zudem den Blick auf ein tiefergehendes Problem. Es ist in dem von der EG schon seit 1958 verfolgten Konzept der funktionalen Integration 10 angelegt. Die europäische Integration ist aufgrund der expansiven Vereinnahmung von Politikfeldern und Kompetenzbereichen an einem Verdichtungspunkt angelangt, der sich zunehmend in einem erhöhten Rechtfertigungsdruck für gemeinschaftliche Maßnahmen bemerkbar macht. Obwohl dieser Prozeß durch das Binnenmarktprojekt und den in der Einheitlichen Europäischen Akte 6 Vgl. hierzu die kontroversen Stellungnahmen verschiedener Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft anläßlich der am 17.- 19.1.1990 vom Bundestags-Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit veranstalteten Anhörung in Bonn (Deutscher Bundestag, Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Ausschuß-Drs. II /1, Stand 10.1.1990). 7 Dazu Graf Vitzthum, ZG 1993, S. 236 ff., sowie Simon/Weyer, NJW 1994, S. 759 ff.; zur Situation unmittelbar vor Einleitung der Novellierung Graf Vitzthuml Geddert-Steinacher, Standortgefahrdung. 8 Vgl. Graf Vitzthum, ZG 1993, S. 236 ff. 9 Die Frage nach den verbleibenden nationalen Spielräumen im Zuge einer Harmonisierungsmaßnahme der EG gehört nicht erst seit der neu entflammten Subsidiaritätsdebatte zu den schwierigsten Kapiteln des EG-Primärrechts. Evident wird sie anband der Auslegung der Art. IOOa Abs. IV EWGV und 130t EWGV (vgl. aus dem umfangreichen Schrifttum u.a. Palme, Nationale Umweltpolitik in der EG; Hailbronner, Der "nationale Alleingang" im Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1989, S. I 01 ff.). 10 Zum Begriff s. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 198 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 24; Fuhrmann-Mittelmeier, Die deutschen Länder im Prozeß der Europäischen Einigung, S. 38 ff. ; Wessels, Staat und (westeuropäische) Integration, s. 38 f.

20

Einführung

(EEA) 11 neu verankerten Politikbereichen zusätzlich forciert wurde, hinkt die institutionelle Veränderung dieser Entwicklung hinterher. Spätestens mit der Debatte um das Vertragswerk von Maastriche 2 wird deutlich, daß es der EG immer schwerer fällt, ihre Politik auf das Konzept der ökonomischen Legitimität zu stützen, ohne gleichzeitig eine fortschreitende Ausweitung der demokratischen Legitimationsbasis herbeizuführen. Das Legitimationsproblem wird partiell entschärft, solange und soweit wirtschaftlicher Erfolg die einzelnen Maßnahmen rechtfertigt: Legitimation durch Leistung. In Zeiten schwieriger gesamtwirtschaftlicher Konjunktur - wie derzeit - erhebt sich schnell die Frage nach dem Nutzen der Übertragung von Hoheitsrechten an eine Europäische Gemeinschaft, deren Problembewältigungskompetenz fraglich erscheint. Letztlich stellt sie demnach die grundsätzliche Frage nach dem Wert europäischer Integration an sich 13 • Besonders relevant sind hier die Politikfelder der Gemeinschaft, die nicht unmittelbar ökonomisch motivierte Agenden abdecken, etwa der Umweltoder der Verbraucherschutz. Die rechtsetzungspolitischen Aktivitäten der Gemeinschaft haben gerade im Bereich des Umweltschutzes in den beiden letzten Jahrzehnten zur Ausbildung eines dichten regulativen Netzes geführt. Auch der Verbraucherschutz wird mit dem Maastrichter Unionsvertrag nun explizit zur primärrechtlich verankerten Gemeinschaftspolitik 14• Nicht direkt zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragend, bedürfen diese Maßnahmen aus der Perspektive der funktionalen ökonomischen Integration verstärkter inhaltlicher Rechtfertigung. Ein weiteres kommt hinzu. Ausgelöst durch zahlreiche Umweltkatastrophen und die kontinuierliche, immer sichtbarer werdende Verschlechterung natürlicher Ressourcen und der Umwelt vollzog sich jedenfalls in den Industriegesellschaften ein Wertewandel, der den Nutzen einer Fortschritts- und Technikorientierung in Frage zu stellen beginnt. Eine Folge davon war, daß das Risikothema und die Umwelt- und Technikgesetzgebung innerhalb des industriestaatliehen Rechtsgefüges in den letzten zwanzig Jahren wachsende Bedeutung erlangte, die sich ebenfalls in vielzähligen Gesetzgebungsaktivitäten niederschlug. Mit der Ausweitung der Politikfelder überträgt sich dieser Bedeutungszuwachs und die damit verbundene Erwartungshaltung auch auf ABI. 1987, Nr. L 169/1. Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (vgl. Zustimmungsgesetz vom 28.12.1992 [BGBI. II S.l251] sowie das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 [BGBI. I S. 2086]). 13 Wieland (Verfassungspolitische Probleme der "Staatswerdung Europas", S. 437) qualifiziert das effizienzorientierte Integrationskonzept deshalb als "Schönwetterverfahren". 14 Vgl. Art. 129a EG-Vertrag. 11

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die entsprechenden Maßnahmen der EG. Zum allgemein ökonomischen kommt somit ein sachimmanenter, sektorieller Rechtfertigungsdruck hinzu. Aufgrund ihres komplizierten, nur schwer vermittelbaren Rechtsetzungsverfahrens15 und unter dem Vorzeichen einer Wirtschaftsgemeinschaft mit vermeintlichem Hang zu ökonomisch-motivierten Kompromißformeln hat die Gemeinschaft häufig Schwierigkeiten, mit ihrem Umwelt- und Verbraucherrecht Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung zu gewinnen. Zu diesen rechtsund akzeptanzpolitischen Problemen kommt ein weiteres hinzu. Wirkebene der Gemeinschaftspolitik sind die Mitgliedstaaten, sie haben die Gemeinschaftsprogramme und Regelungen umzusetzen und durchzuführen. Durchsetzung und Kontrolle, Umsetzung und Vollzug sind damit den nationalen Besonderheiten ausgesetzt, die sich aus der jeweiligen politischen Interessenlage im Land ergeben. Gerade im Umweltrechtsbereich besteht die Gefahr, daß Gemeinschaftsmaßnahmen auf nationaler oder regionaler Ebene nur verzerrt zur Anwendung kommen. Die EG-Biotechnologiepolitik ist damit nicht nur mit den sachimmanenten Formulierungsproblemen konfrontiert. Sie hat sich vielmehr auch mit den geschilderten Eigenheiten der Integrationspolitik auseinanderzusetzen. Die Biotechnologiepolitik ist somit auch ein Gradmesser der Leistungsfähigkeit und des Stands der funktionalen Integration Europas. Ein weiterer Gesichtspunkt, der zu einer eingehenderen Betrachtung des EG-Gentechnikrechts zwingt, ist der Umstand, daß es, trotz der gewachsenen Bedeutung der Gentechnik, bis heute keine zwischenstaatlichen Abkommen zur Regelung der Gentechnik gibt 16. Es gibt allein nationales und gemeinschaftliches Gentechnikrecht International kommt den Gentechnik-Richtlinien der EG damit eine Vorreiterrolle zu 17 • Diese Bedeutung verstärkt sich durch die Aufnahme der EG-Gentechnik-Richtlinien in den EWR-Vertrag 18 . Das 15 Tomuschat (FS Pescatore, S. 741) spricht in diesem Zusammenhang pointiert von der "umweltpolitischen Lethargie des Geleitzugprinzips".

16 Ansätze für völkerrechtliche Gentechnikreglementierungen finden sich mittlerweile in dem auf der UNCED-Konferenz in Rio im Jahr 1992 verabschiedeten Übereinkommen über die biologische Vielfalt ("Artenschutzkonvention") und der an gleicher Stelle ebenfalls verabschiedeten allgemeinen Absichtserklärung "Agenda 21" (16. Kapitel: "Environmentally sound management of biotechnology"), vgl. dazu Graf Vitzthum/Schenek, Die Europäisierung des Gentechnikrechts, S. 52 (Fn. 8). 17

So ausdrücklich Kloepfer, Umweltrecht, § 13 Rn. 204-207.

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2.5.1992 (BGBI. 1993 II S. 266); vgl. außerdem das Anpassungsprotokoll zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 17.3.1993 (BGBI. II S. 1294). Der Europäische Wirtschaftsraum trat - mit einem Jahr Verspätung - am 1.1.1994 in Kraft (s. Bekanntmachung vom 14.10.1993, BGBI. I S. 1666). 18

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gemeinschaftliche Gentechnikrecht wird dadurch auch für diese Vertragsstaaten19 zum ,.aquis communautaire". Die gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik und ihr Ausschnitt, die Gentechnikregulierung, gewinnen damit unter zwei Gesichtspunkten erhöhte Bedeutung: zum einen als Gradmesser und Prüfstein der Europäischen Integration, der Legitimität einer nicht mehr primär an ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichteten Gemeinschaftspolitik; zum anderen wegen der wachsenden internationalen VorreiterroHe der Gentechnik-Richtlinien, die via EWR-Abkommen noch weiterreichende Verbindlichkeit im industrialisierten Teil Europas (mit Ausnahme der Schweiz) erlangt haben. Vor diesem Hintergrund ist die Fragestellung der Arbeit wie folgt - in einzelnen Teilfragen - zu formulieren: Welche Anwendungsbereiche der Biotechnologie werden von der Gemeinschaftspolitik erfaßt, mit welcher Schwerpunktbildung? Handelt es sich eher um Wirtschafts- oder um Umweltschutzpolitik, oder geht es um eine Kombination beider Aspekte? - Welche Motive haben dazu geführt, daß die EG ihre Politik auf dieses Gebiet ausgedehnt hat? Ist ein "europäischer Mehrwert" in der Sache selbst begründbar, z.B. als optimale Handlungsebene für Umweltschutz oder die Entwicklung der Technologie? Inwieweit ist das Binnenmarktprojekt für die Expansion verantwortlich, bzw. lassen sich weitere integrationspolitische Erwägungen anführen? Wie verfährt die Gemeinschaft konzeptionell? Sind Parallelen zu anderen Sachpolitiken erkennbar? Wie ist die EG-Biotechnologiepolitik kompetentiel1 verankert? Verhältnis zu den Kompetenzen der Mitgliedstaaten? Relevanz des Grundsatzes der Subsidiarität? - Welche Bedeutung kommt der EG-Förderpolitik und -programmatik zu? Welche Rolle ist dem Gentechnikrecht im Gesamtgefüge der gemeinschaftlichen Biotechnologiepolitik zugewiesen? 19 Vertragsparteien des EWR sind die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), ihre zwölf Mitgliedstaaten sowie sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA), Finnland, Island, Liechtenstein, Norwegen, Österreich und Schweden. Das Abkommen verpflichtet die genannten Staaten, die EG-Gentechnik-Richtlinien bis zum 1.1.1995 in Kraft zu setzen. Sein Ziel ist die Errichtung eines "dynamischen und homogenen" Europäischen Wirtschaftsraums (zu Entstehungsgeschichte und Inhalt des EWR-Vertrags Streit, NJW 1994, S. 555 ff.).

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Wie ist die Zugehörigkeit des Gentechnikrechts zum EG-Umwelt- und/ oder EG-Technikrecht zu beurteilen? Wie läßt sich das Harmonisierungsziel einschätzen? Favorisieren die Richtlinien eher den Umweltschutzaspekt, oder bilden sie primär einen Rahmen für die Entwicklung der Technik? Konkret: Zielen die Richtlinien eher auf das Erreichen eines hohen Sicherheitsniveaus, oder geht es lediglich um Mindeststandards für Entwicklung und Produktion, um mit dieser Rechtsharmonisierung eine Grundlage für den im Binnenmarkt erstrebten freien Warenverkehr auch mit gentechnisch erzeugten Produkten zu bilden? Welche Schutzgüter und -zwecke beinhaltet das EG-Gentechnikrecht? Läßt sich analog zur Förderpolitik im Recht auch - wie im nationalen deutschen Reche0 - ein Förderzweck nachweisen? Zu welchem Ergebnis gelangt die Bewertung der strukturellen Ausgestaltung von System- und Freisetzungsrichtlinie? Handelt es sich bei beiden Richtlinien um modernes Umweltrecht, welches den Vorsorgecharakter zum Leitprinzip erhoben hat, oder eher um traditionelles Gefahrenabwehrrecht, welches Sofortmaßnahmen gegen den Umweltnotfall vorsieht? Diese Teilfragen machen deutlich, daß es nachfolgend nicht um Aspekte der Humangenetik geht21 • Die Untersuchung konzentriert sich vielmehr auf zentrale Aspekte der Gemeinschaftspolitik und des Gemeinschaftsrechts im Bereich der Gentechnik. Im Hinblick auf die Sicherheits- und Nutzungsseite gentechnischer Verfahren an Pflanzen und Tieren werden hier die Schwerpunkte gesetzt. Nicht Gegenstand der Arbeit sind zivilrechtliche Fragestellungen, insbesondere solche haftungs- und patentrechtlicher Art. Wie Bemühungen um den Schutz biotechnologischer Erfindungen und Pflanzensorten sowie diverse, sachbereichsunabhängige Haftungsrichtlinien zeigen, ist die Gemeinschaft auch auf diesem Gebiet aktiv22 • 20 Dazu Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht; Kraatz, a.a.O., S. 36 ff. 21 Der Vollständigkeit halber ist auf die EG-Aktivitäten im Bereich der Analyse des menschlichen Genoms hinzuweisen. Im Jahr 1991 wurde durch die Europäische Gemeinschaft das biomedizinisches Forschungsförderungs-Programm "BIOMED I" gestartet, welches mit einer Laufzeit von 1991 - 1994 in seinem Teilbereich 111 die Analyse des menschlichen Genoms zum Gegenstand hat (ABI. 1991, Nr. L 267 /25). 22 Im Oktober 1988 nahm die Kommission einen Richtlinienvorschlag an, der helfen soll, ein "Europäisches Patentrecht für die Biotechnologie" (Pressemitteilung der Kommission P-111 , Oktober 1988) zu verwirklichen (Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zum Schutz biotechnologischer Erfindungen, KOM[88] 496 endg. [= ABI. 1989, Nr. C 10/3]; s. dazu Pemice, NVwZ 1990, S. 420). Ein Verordnungsvorschlag für den gemeinschaftlichen Sortenschutz bei Pflanzenzüchtungen wurde wenig später

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Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile. Zunächst geht es um die Biotechnologiepolitik der Gemeinschaft. Im Zweiten Teil rückt dann die Gentechnikregulierung als Herzstück dieser Politik in den Mittelpunkt. Angesichts der "Spezialität" der Materie bedarf es zunächst einer Skizze des naturwissenschaftlichen Themenbereichs sowie der einschlägigen Begriffe. Hierher gehört das Chancen- und das RisikopotentiaL Der Brückenschlag zur EG-Politik erfolgt im Zuge einer Analyse der Motive, die dafür verantwortlich sind, daß die Biotechnologie überhaupt Gegenstand staatlicher (und damit auch gemeinschaftlicher) Politiken ist. Hieran anknüpfend wird die Frage beantwortet, weshalb gerade die EG dieses Politikfeld besetzt, es also nicht (allein) den Mitgliedstaaten überläßt. Den dritten Schwerpunkt des Ersten Teils bildet die real existierende Biotechnologiepolitik der Gemeinschaft. Die Bereiche Forschungs- und Technologiepolitik sowie die Umweltpolitik stehen hier im Mittelpunkt. vorgelegt (KOM[90] 347 endg.). Hauptzweck des Richtlinienentwurfs ist der verbesserte Schutz biotechnologischer Erfindungen. Die Sortenschutzverordnung soll es ermöglichen, Sortenschutzrechte für die ganze Gemeinschaft zu erlangen. Ziel beider Vorschläge ist die Stärkung der Wettbewerbsfahigkeit der Wissenschaft und Industrie in der Gemeinschaft (zur Diskussion in der EG Straus, GRUR 1992, S. 263 ff.; Kucziensky, DuR 1992, S. 297 ff.). Im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit [Art. 189c EG-Vertrag] stieß der Richtlinienvorschlag im Europäischen Parlament auf erheblichen Widerstand. Am 10.2.1992 stimmte das Plenum gegen den Entwurf (zur Haltung des Europäischen Parlaments Rothley, Dritter Bericht des Ausschusses für Recht und Bürgerrechte vom 5. Oktober 1992 [A3-0286/92] über den Vorschlag der Kommission an den Rat für eine Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen [KOM(88) 0496 endg.- C3-0036/89- SYN 159). In Folge dieser Haltung legte die Kommission mittlerweile einen geänderten Vorschlag vor (KOM [92] 589 endg. (= ABI. 1993, Nr. C 44/36]). - Die Anwendung des gewerblichen Rechtschutzes auf biotechnologische Erfindungen wirft eine Vielzahl ethischer und rechtlicher Fragen auf (zur ethischen Debatte s. u.a. Rothley, a.a.O., S. 35 ff; Straus, GRUR 1992, S. 252 ff.; Moufang, GRUR lnt. 1993, S. 439 ff.). Rechtspolitisch unterliegt das gentechnikspezifische Patent- und Sortenschutzrecht gegenüber dem Sicherheitsrecht einem höheren Rechtfertigungsdruck. Es beschäftigt sich mit Schutzrechten der Wirtschaft und der Forschung, d.h. mit Rechten einzelner. Erhebliche Schwierigkeiten bereitet auch die besondere strukturelle Eigenschaft biotechnologischer Erfindungen. Es handelt sich bei ihnen um eine Technik, die selbstreplizierend ihr "Knowhow" an ihre Erzeugnisse weitergibt (sog. "eingebaute Technik"; dazu und zum folgenden s. Rothley, a.a.O., S. 32 ff.). Die technischen Besonderheiten können mit den Erzeugnissen erlangt werden. Der Drang nach Schutz des geistigen Eigentums ist in diesem Bereich naturgemäß sehr groß. Probleme zeigen sich auch in der rechtlichen Definition des Schutzbereichs: erstreckt sich der Schutz auf die ganze Pflanze wenn ihr ein patentiertes Gen eingepflanzt wurde, erlöschen die Erfinderrechte beim lnverkehrbringen der Iransgenen Pflanze und erfaßt das Erfinderrecht über das unmittelbare Erzeugnis hinaus auch die im normalen Verfahren gewonnenen "Nachfolgegenerationen", lauten die hier zu beantwortenden Fragen. Allgemein dazu Winter, Journal of Environmental Law 1992, S. 167 ff; Wiebe, GRUR 1993, S. 88 ff.; Moufang, a.a.O., Straus, a.a.O., sowie ders., Politische Studien 44 (1993), H. 332, S. 132 ff.

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Der Zweite Teil der Arbeit befaßt sich mit der EG-Gentechnikrechtregulierung. Zunächst erfolgt die Verortung der Gentechnik als Regelungsmaterie des EG-Umwelt- und EG-Technikrechts. Anschließend werden die Ausformung und Inhalte des gemeinschaftlichen Umwelt- und Technikrechts erläutert, um dadurch einen besseren Überblick für materieübergreifende Zusammenhänge zu gewinnen. Anschließend wird die Systematik des Gentechnikrechts untersucht. Das EG-Recht enthält neben den beiden genannten Richtlinien weitere Richtlinien oder Verordnungen, die sich zumindest teilweise mit Aspekten der Gentechnik befassen. Mitte 1994 befanden sich zudem zahlreiche einschlägige Entwürfe in der "pipeline" des EG-Rechtsetzungsverfahrens, insbesondere sektorale Regelungen zur Produktsicherheit und -Zulassung. Die systematisierende Betrachtung der Struktur, der inhaltlichen Reichweite und des Verhältnisses der Regelungen untereinander wird dadurch erforderlich. Im Überblick werden die Regelungen und Regelungsentwürfe anschließend vorgestellt. Nach der eher quantitativen Analyse des Regelungsgefüges rücken in den nachfolgenden Abschnitten Qualitätsgesichtspunkte in den Vordergrund. Welche Handlungsziele hat sich die Gemeinschaft mit den Gentechnikregelungen gesetzt? Zur Beantwortung dieser Teilfrage analysieren der zweite und dritte Abschnitt den normativen Gehalt und die Zielrichtung der Schutzgüter und -zwecke des horizontalen und vertikalen EG-Gentechnikrechts anband der in den einzelnen Regelungen verankerten Schutzgüter und -zwecke. Im letzten, vierten Abschnitt des Zweiten Teils richtet sich der Blick auf die Herzstücke des EG-Gentechnikrechts, die soeben erwähnten System- und Freisetzungsrichtlinien und ihre regulatorischen Details. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf der Adaption umwelt- und technikrechtlicher Prinzipien. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Modernität des Rechts und des mit ihm verwirklichten Sicherheitsstandards ziehen. Inwieweit ist das EG-Gentechnikrecht überhaupt zu einer zukunftsgerichteten Rechtsfortbildung in der Lage? Kann es auf die für die Gentechnik typischen naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritte angemessen reagieren? Die verfahrensrechtlichen Details bilden den Schluß der Untersuchung. Die europarechtliche Terminologie bedurfte schon immer der besonderen Klarstellung. War es bis 1992 die Begriffsprägung "Europäische Gemeinschaften" oder "Europäische Gemeinschaft", die Kopfzerbrechen bereitete, so sind es heute Fragen danach, ob es sich um die "Verträge von Maastricht" bzw. das "Vertragswerk von Maastricht" oder schlicht: um den "Vertrag von Maastricht" gehandelt hat, die terminologische Schwierigkeiten bereiten. Jede Begriffsform mag Argumente für sich ins Feld führen - am materiellen Ergebnis ändert sich im Grunde jedoch nicht viel. Differenziertere Betrachtungen erfordert der Gebrauch der Wendungen "Europäische Union" oder "Europäische Gemeinschaft" nach dem lokrafttreten des Maastrichter Unionsver-

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trags am 1. November 1993. Im Gegensatz zu den vorstehenden Begriffen handelt es sich hier nicht um .,begriffliche Spitzfindigkeiten", die letztlich inhaltlich das gleiche aussagen. Die Begriffe sind zu unterscheiden. Richtig ist, daß einer der Hauptbeiträge des Maastrichter Vertrags vom 7. Februar 1992 darin bestand, daß er die Einführung einer ,,Europäischen Union" bewirkte23. Art. A Abs. 2 EUV verdeutlicht, daß die Union einen Hauptbeitrag zum Zusammenwachsen der Völker Europas leisten soll. Schon der folgende Absatz 3 zeigt aber, daß die ,,Europäische Gemeinschaften" trotzoder gerade im Rahmen der Union auch in Zukunft fortbestehen und eine ihrer wesentlichen Grundlagen bilden24. Hervorzuheben ist zudem, daß die Union selbst keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, sondern lediglich zentrales Element einer übergreifenden integralen Dachkonstruktion ist, die die einzelnen Gemeinschaften zukünftig überlagert25 . Das sekundäre Gemeinschaftsrecht bezieht seine supranationale Geltungswirkung und -kraft auch weiterhin aus den einzelnen Gemeinschaftsverträgen. Dies gilt es zu beachten. Träger der hoheitlichen Befugnisse26 sind im Prinzip27 allein die Gemeinschaften28 . Rechtsverbindliche Handlungen oder spezifische politische Maßnahmen sind darum, aufgrund der Kompetenzzuweisung und den Verantwortlichkeiten, konsequenterweise auch weiterhin den einzelnen Europäischen Gemeinschaften zuzurechnen29 und nicht der Europäischen Union. Diese Überlegung hat tenninologische Konsequenzen für die vorliegende Arbeit. Die maßgebliche Biotechnologiepolitik sowie das Gentechnikrecht sind allein der Europäischen Gemeinschaft zuzurechnen. Beide eng zusammengehörende Sachbereiche entstammen und entwickeln sich auch nach lnkrafttreten der Union weiterhin aus ihrem Verantwortungsbereich. Dem Sprachgebrauch der Arbeit wird aus diesem Grund der Begriff .,Europäische Gemeinschaft" (EG) zugrundegelegt Diese Handhabung ist auch aus praktischer Sicht vorteilhaft. Biotechnologiepolitik ist ein langwieriger Dauerprozeß. In ihren einzelnen Entwicklungfeldern wurzelt die EG-Biotechnologiepolitik deshalb fast ausschließlich in der Zeit vor lokrafttreten der EuropäiVgl. Art. A Abs. 1 EUV. Zu Struktur und Rechtsnatur der Europäischen Union s. u.a. Oppennann/Classen, NJW 1993, S. 5 ff.; Everling, DVBI. 1993, S. 936 ff.; Wolf, JZ 1993, S. 594 ff.; Schwarze, JZ 1993, S. 585 ff.; Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 491 f. 23 Vgl. Beutler/Bieber/Pipkom/Streil, Die Europäische Union, S. 73 f. (74); Oppennann/Classen, NJW 1993, S. 7; Everling, DVBI. 1993, S. 940 ff. 26 Gemäß Art. 0 EUV ist allerdings nur ein Beitritt zur Union möglich. 27 Mit Ausnahme der durch den Unionsvertrag eingeführten, neuen spezifischen Politiken und Formen der Zusammenarbeit. 28 Vgl. insoweit auch die "Unberührtheitsklausel" in Art. M EUV. 29 Dies verdeutlicht auch Art. 3b EGV; Bleckmann, NVwZ 1993, S. 824. 23

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sehen Union. Diese politischen Maßnahmen tenninologisch der Union zuzurechnen wäre allein deswegen schon nicht möglich. Zuordnungsprobleme resultierten aus politischen Dauennaßnahmen, wie Förderprogrammen, etc. Ein Begriffswirrwarr käme außerdem hinzu, würde eine tenninologische Zäsur vorgenommen. Gleiches gilt für die Handlungen der EG-Komrnission. Auch hier wäre der Begriff Europäische Kommission30 nicht korrekt, da dieser auf Maßnahmen der Europäischen Union ausgerichtet wäre. Außerdem verzichtete der EU-Vertrag auf eine Änderung von Art. 9 FusionsV. Jener verbindet die Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu einem Organ. Es ist somit auch nach dem lokrafttreten des Unionsvertrags bei politischen oder rechtlichen Maßnahmen im Tätigkeitsbereich der EG terminologisch von der EG-Kommission zu sprechen31 • Abschließend ist zudem darauf hinzuweisen, daß in dem Fall, daß Regelungen des EGKS-Vertrags32 und des EAG-Vertrags33 im Text zugrundegelegt sind, an der entsprechenden Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen wird. Hinzuweisen ist ferner auf die methodische Handhabung. Nachdem die für die vorliegende Arbeit maßgeblichen Gentechnikrechtsakte (System- und Freisetzungsrichtlinien) auf der Grundlage des EWG-Vertrags erlassen wurden, ist dieser maßgeblich. In der Betrachtung wird darum der EWG-Vertrag zugrundegelegt Nur soweit dies im Kontext als notwendig erscheint, werden Bezüge zum nunmehr gültigen EG-Vertrag unternommen, die dann ihrerseits im Einzelfall kenntlich gemacht sind.

30 Aufgrund des Inkrafttretens des Maastrichter Unions-Vertrags am 1.11.1993, der Entscheidung des Allgemeinen Rates vom 8.11.1993 sowie der Entscheidung der Kommission vom 17.11.1993 wurden die Organe in "Rat der Europäischen Union" und in "Europäische Kommission" umbenannt. Bei juristischen und formellen Texten gilt jedoch die bisherige Bezeichnung fort, da juristisch korrekt (vgl. EuZW - Europareport H. 2/1994).

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Bleckmann, NVwZ 1993, S. 824. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Europäische Atomgemeinschaft (Euratom/EAG).

Erster Teil

EG-Biotechnologiepolitik I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe, Chancen- und Risikopotential 1. Biotechnologie, Gentechnik, Humangenetik

"Biotechnologie" Für den Begriff Biotechnologie gibt es keine international anerkannte und gebräuchliche Definition•. Der Begriffsgehalt paßt sich vielmehr zumeist dem jeweiligen Blickwinkel an2 • Dieses Fehlen einer Universaldefinition führt zwangsläufig zu Problemen. International vergleichbare Statistiken über nationale forschungs- und industriepolitische Maßnahmen lassen sich nur schwer aufstellen. Die Daten können aufgrund der uneinheitlichen Bewertungsparameter nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden 3 . Der Terminus Biotechnologie beschränkt sich in seiner begrifflichen Reichweite nicht allein auf den naturwissenschaftlichen Verfahrensablauf oder die Methode. Er verknüpft diesen Teilaspekt mit dem ökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Nutzungspotential der Technik. Nach der European Federation of Biotechnology4 handelt es sich bei der Biotechnologie um die integrierte Anwendung von Biochemie, Mikrobiologie und Verfahrenstechnik, mit dem Ziel, das Potential von Mikroorganismen, Zell- und Gewebekulturen zu nutzen. Der Gestaltungshorizont orientiert sich an den biologischen Möglichkeiten des Menschen, d.h. an seinen Fähigkeiten, Naturabläufe 1 Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD), Biotechnology, Agriculture and Food, S. 145. Nach OECD-Angabe (ebd.) finden sich allein im Bereich der EG mindestens 41 verschiedene Definitionen des Biotechnologiebegriffs. 2 Kaufmann, JZ 1987, S. 838. 3 Vgl. z.B. BCC, Interim Report 1992 (Teil 2), S. 1; Field, Biotechnology R&D, S. 9. Hinzu kommt der weitere Aspekt, daß das industrielle Potential biotechnologischer Produkte häufig in der Unternehmensstatistik direkt in die allgemeinen Produktionsziffern integriert ist und in dieser somit nicht mehr als eigenständiger Wert ausgewiesen wird. 4 Zitiert nach Kaufmann, JZ 1987, S. 838; ebenso Pohlmann, Neuere Entwicklungen im Gentechnikrecht, S. 20 (Fn. 15).

I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe

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zu beobachten und, mittels der damit gewonnenen Erkenntnisse, auf diese steuernd einzuwirken. Der Begriff läßt sich nach den verfahrensmäßigen Fähigkeiten des Menschen grob in drei Entwicklungsstufen einteilen5 • In der ersten reichen primitive Formen der Biotechnologie bis in die jüngere Steinzeit zurück. Die Menschen begannen für ihren Haushalt Pflanzen zu züchten und Tiere zu domestizieren. Hierher gehören auch der Gebrauch von Bakterien und Pilzen zur Herstellung von Käse und anderen Milchprodukten, die Broterzeugung oder die alkoholische Gärung zur Erzeugung von Bier bzw. Met und Wein6 • Obwohl im 16. und 17. Jahrhundert die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften einsetzte, vollzog sich die entscheidende Wandlung im Bereich der Biologie - und damit die zweite Entwicklungsstufe der Biotechnologie- erst relativ spät im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Biologie erhielt nun ihr heutiges Gesicht. Die systematische Suche nach dem naturwissenschaftlichen Grund biologischer Vorgänge rückte in den Vordergrund. Folge war unter anderem die thematische Aufspaltung in die Bereiche Molekularbiologie, Genetik und Evolutionsbiologie7 • Erst auf dieser Grundlage gelang es, die Biotechnologie mit ihrem bis dahin primär häuslichen Wirkkreis zu einem industriellen Produktionsfaktor von größerer praktischer Relevanz weiterzuentwickeln8 • Biotechnologie dieses Zuschnitts begann in der späten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Erforschung mikrobiologischer Vorgänge in der Zelle und der Wirkweise von Enzymen9. Der Erkenntniszuwachs ist maßgeblich mit Namen einzelner Forscher verbunden 10• Ein nochmaliger Erkenntnissprung erfolgte, als die Wissenschaft begann, ab Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts die Grundstruktur von Viren näher zu untersuchen. Vgl. Sharp, Pharmaceuticals and biotechnology, S. 219 ff. Schon die alten Babylonier, Sumerer und Ägypter nutzten vor ca. 6.000 Jahren die Fermentationstechnik zum Bierbrauen und Brotbacken (vgl. Gassen/Martini Bertram, Gentechnik, S. 343). Diese Entwicklungsstufe wird zum Teil auch als "empirische" Biotechnologie beschrieben (Enquete-Kommission, a.a.O., S. 41). 1 Hinsichtlich der beiden letzteren Teilbereiche waren die Mendelschen Gesetze und die Veröffentlichungen von Charles Darwin (1809-1882) zur Evolutionstheorie wegbereitend. 8 Yoxen, Historical Perspectives on Biotechnology, S. 19 ff. 9 S. dazu Yoxen, a.a.O., S. 20 ff.; Pohlmann, a.a.O., S. 21/22. 10 Im Jahr 1869 gelang J. Friedrich Mieseher (1844-1895) die Isolierung von Nukleinsäure aus Zellkernen. Weiter sind aus den wissenschaftlichen Leistungen dieserzweiten - Entwicklungsstufe biotechnologischer Verfahren die Arbeiten Louis Pasteurs ( 1822- 1895) herauszuheben, die Arbeiten Robert Kochs (1843- 1910) zu den Ursachen von Infektionskrankheiten oder die Entdeckung von Penicillin als erstes Antibiotikum 1927 durch den britischen Bakteriologen Sir Alexander Fleming (1881-1955). 5

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Den Übergang zu der bislang letzten, dritten Stufe der Biotechnologie markierten folgende Schritte: die chemische Analyse der Erbanlage als Desoxyribonukleinsäure (DNA 11 ) 12, die Entdeckung der DNA-Doppelhelixstruktur durch Watson und Crick, sowie 1961 die EntschlüsseJung der Struktur des genetischen Codes 13 , die Entdeckung von Restriktionsendonukleasen und die Entwicklung geeigneter Methoden zur Sequenzierung der DNA. Die letzten Schritte auf dem Weg zur gentechnischen Methode bestanden in der Isolierung von DNA-Ligasen, die die Eigenschaft haben, DNA-Fragmente wieder zusammenzufügen und dem Erkennen von Plasmiden als Transportmoleküle (sog. Vektoren) für die DNA-Fragmente. Die Klonierung von DNA gelang erstmals 1973 Peter Berg, Henry W. Boyer und Stanley N. Cohen. Im Rahmen der politischen Diskussion wird der Begriff "Biotechnologie" heute regelmäßig unter dem Vorzeichen seines neuen industriellen Nutz- und Innovationspotentials verwendet. Er verengt sich damit inhaltlich in Richtung auf diese dritte Entwicklungsstufe, also die modernen mikrobiologischen Verfahren, insbesondere die Gentechnik, ihre Umsetzung und industrielle Nutzung. Bisweilen wird zur Klarstellung dementsprechend von der "neuen" oder "modernen" Biotechnologie gesprochen 14• Auch die Sprachregelung der EG setzt "Biotechnologie" mit dieser jüngsten Entwicklungsstufe gleich 15 • 11 Auf eingehende naturwissenschaftliche Begriffserläuterungen wird bewußt verzichtet. Insoweit wird auf die vertiefenden Darstellungen bei lbelgaufts, Gentechnologie von A bis Z; Winnacker, Gene und Klone, oder Gassen/Martin/Bertram, Gentechnik, verwiesen.

Dies gelang 1944 dem amerikanischen Forscher Oswald Avery ( 1877- 1955). Durch Severo Ochoa und Marshall Nirenberg. 14 Vgl. u.a. United States Congress/Office of Technology Assessment, Biotechnology in a Global Economy (OTA), S. 29; ebenso OECD, Biotechnology, Economic and Wider Impacts, S. 9; OECD, Biotechnology, Agriculture and Food, S. 29. Nach Auffassung der OECD definiert sich "Biotechnologie" als "the application of biological organisms, systems and processes based on scientific and engineering principles, to the production of goods and services for the benefit of man" (vgl. OECD, International Trends and Perspectives, S. 21); ebenso auch die Definition in Chapter 16 ("Environmental Sound Management of Biotechnology" - Introduction [Nr. 16.1]) der auf der UN-Umweltkonferenz in Rio 1992 verabschiedeten Agenda 21: .. Biotechnology is the integration of new techniques ernerging from modern biotechnology with the well-established approaches of traditional biotechno/ogy. Biotechnology, an ernerging knowledge-intesive field, is a set of enabling techniques for bringing about specific man-made changes in desoxyribonucleic acid (DNA), or genetic material, in plants, animals and microbial systems, leading to useful products and technologies. " 12

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IS Die EG-Kommission definierte "neue Biotechnologie" innerhalb ihrer ersten Mitteilung an den Rat im Jahr 1983 als Funktion der wissenschaftlichen Durchbrüche in der Biologie, im Sinne eines fachübergreifenden Konzeptes für die Domestizierung biologischer Organismen zur Entwicklung neuer Konzepte, Prozesse und Produkte, die für einige der Bedürfnisse des Menschen lebensnotwendig sind. Sie zählte dazu

I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe

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.. Gentechnik" Der Begriff Gentechnik 16 bezeichnet eine moderne mikrobiologische Verfahrenstechnik, als Teilbereich der Biotechnologie. Nach Definition der Enquete-Kommission17 handelt es sich um die Gesamtheit der Methoden zur Charakterisierung und Isolierung von genetischem Material, zur Bildung neuer Kombinationen genetischen Materials sowie zur Wiedereinführung und Vermehrung des neukombinierten Erbmaterials in anderer Umgebung 18 . Konkret handelt sich bei Gentechnik im engeren Sinn um eine molekularbiologische Methode zur Isolierung und Neukombination von genetischem Material insbesondere die folgenden Verfahrensbereiche: Fermentation und Enzymtechnologie, Gentechnik, Molekular-Pathologie, Mikrobiologie und Zellkultur sowie Verfahren zur Pflanzenzellendifferenzierung zur Regeneration ganzer Pflanzen (vgl. KOM(83) 672 endg./ Anhang, S. 2/3; s. ebd. außerdem die graphische Darstellung des Geltungsbereichs in Abb. 1 (ebd., S. 5). Die Gemeinschaft vertritt noch heute in allgemeinen Betrachtungen einen eher moderaten Definitionsansatz, der über den Einzelbereich Gentechnik hinausgeht und sämtliche Aspekte moderner biologischer Verfahren in sich integriert (vgl. z.B. EG-Kommission, BR-Drs. 278/91, S. 12). Im Bereich der Umweltschutzpolitik konzentriert sich die EG-Betrachtung dann allerdings vorwiegend auf den Vorsorgeaspekt, den Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor potentiellen Risiken der Anwendung gentechnischer Verfahren (vgl. dazu Punkt 4.4 "Biotechnologie" im vierten Aktionsprogramm der Gemeinschaft für den Umweltschutz, ABI. 1987, Nr. C 328/1 [26 f.]). Diese Schwerpunktbildung hängt damit zusammen, daß Gefahren für die Umwelt vor allem im Zusammenhang mit der Anwendung genetisch veränderter Organismen vermutet werden. 16 Die Bezeichnungen Gentechnik und Gentechnologie werden vielfach synonym verwendet. Genaugenammen sollte allerdings zwischen "Technik" und dem allgemeineren, auf die wissenschaftliche Einbettung der Technik in das gesellschaftliche Umfeld abhebenden Begriff "Technologie" unterschieden werden (vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 79 I 80). Ebenso häufig verwandte Bezeichnungen: genetic engineering, rekombinante DNA-Technik. 17 Entsprechend ihrem Mandat erarbeitete die Enquete-Kommission zu verschiedenen Anwendungsbereichen, Querschnittsthemen und Rechtsfragen der Gentechnologie umfangreiche Empfehlungen an den Deutschen Bundestag. 18 Enquete-Kommission, a.a.O., S. 7. Der naturwissenschaftliche Verfahrensablauf wird zumeist anband eines Standardexperiments veranschaulicht: Im ersten Schritt erfolgt die Isolierung und gezielte Spaltung zellulärer DNA durch Restriktionsendonukleasen. Die gewonnenen DNA-Fragmente werden daraufhin mit einem Plasmid als Vektor zu einem rekombinanten DNA-Molekül verbunden, welches als Überträger der Information in die Wirtszelle fungiert. Im dritten Schritt erfolgt die Einschleusung des rekombinanten Vektors in die Wirtszelle (Transformation oder Transfektion). Im letzten Stadium des Versuchs beginnt die Vermehrung (Exprimierung) der fremden DNA, die im Zuge der normalen Zellteilung stattfindet (vgl. u.a. Enquete-Kommission, S. 7 [s. dort auch Abb. 2-1]; Winnacker, Gene und Klone, S. 1 [graphische Übersicht in Abb. 1-1 ]; ders., Das Angebot der Gentechnik, S. 18 ff. [graphische Übersicht in Abb. 4]).

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

über die Artgrenzen hinweg. Der Wissenschaft gelang es, verschiedene Techniken zu entwickeln, die eine künstliche in-vitro Veränderungen der Nukleinsäuresequenz herbeiführen 19• Gentechnik kann darum im Grunde auch als Sammelbegriff verstanden werden20 • Gemeinsamer Nenner der gentechnischen Verfahren ist die künstliche Veränderung und Neukombination der Erbsubstanz mit dem Ergebnis einer gezielten mikrobiellen Änderung des Geno- oder Phänotyps. Hierin liegt der Unterschied zu herkömmlichen, traditionellen Züchtungsverfahren. In der politischen Behandlung der Materie durch die EG ist fast nur von der Biotechnologiepolitik und nur ganz selten von der Gentechnik die Rede. Diese begriffliche Weite ist korrekt. Gegenstand der politischen Maßnahmen ist selten die Gentechnik allein. Im folgenden wird die EG-Politik darum ausschließlich als Biotechnologiepolitik bezeichnet. Wird auf die technische Anwendung im einzelnen bezug genommen, so wie dies bei der rechtlichen Behandlung der Materie der Fall ist, ist die Gentechnik als spezifisches Verfahren dem Sprachgebrauch der Arbeit zugrunde zu legen. Aus diesem Grund ist dann auch im zweiten Teil der Arbeit ausschließlich vom EG-Gentechnikrecht die Rede. ,.Humangenetik"

Mit Humangenetik ist nur die Wissenschaft von den Vererbungsvorgängen beim Menschen bezeichnet21 • Er enthält sowohl traditionelle Elemente als auch eine moderne Begriffsverengung. Als historisch weiter Begriff beinhaltet Humangenetik, neben der individuellen Anwendung in der medizinischen Behandlung, den vom einzelnen Individuum abgehobenen abstrakt-anthropologischen Aspekt, der unter dem Begriff Eugenik oder Rassenhygiene22 19 Dazu zählen die Zellfusion und Hybridisierungsverfahren (zu den Begriffen s. Jbelgaufts, Stichworte Nucleinsäure-Hybridisierung [S. 340] und Zellfusion [S. 481)). Das GenTG und das EG-Gentechnikrecht unterscheiden zwar nicht in der rechtlichen Regelungsbedürftigkeit aber doch zumindest in der gesetzlichen Terminologie zwischen Gentechnik i.e.S. und diesen Verfahren der Zellfusion und Hybridisierung (vgl. z.B. § 3 Nr. 3 GenTG; Art. 2 b, i) System-RL [i.V.m. Anhang I A, Teil I) sowie Art. 2 Nr. 2, i) der Freisetzungs-RL [i.V.m. Anhang I A, Teil 1)). Noch der RegE zum Gentechnikgesetz sah ursprünglich allein die Einbeziehung des Rekombinationsverfahrens i.e.S. in den gesetzlichen Regelungsbereich vor (vgl. Hirsch/ SchmidtDidczuhn, § 3 Rn. 15 I 16). 20 Pohlmann, a.a.O., S. 20; ebenso auch die vorstehende Definition der EnqueteKommission (ebd., S. 7). 21 Zur Definition vgl. Vogel/Koch, Humangenetik, S. 514.

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Eugenik bezieht sich auf die Befindlichkeit der Gesamtpopulation. Zu unterschei-

I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe

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einen berüchtigten Bekanntheitsgrad erlangt hat. Die moderne HumangenetikDiskussion beschäftigt sich primär mit den medizinischen Möglichkeiten und Konsequenzen verfassungsmäßiger und ethischer Art, die aus dem Potential der Übernahme gentechnischer Methoden in die Humanmedizin für den einzelnen und die Allgemeinheit erwachsen23 • Konkrete Anwendungsbereiche der Humangenetik sind die Genomanalyse24 und die Verfahren der Gentherapie2s. Von der Gentechnik grundsätzlich zu unterscheiden ist die Fortpflanzungsoder Reproduktionsmedizin. Diese Verfahren26 haben nicht den Eingriff in die Erbsubstanz zum Gegenstand, sondern stellen allein eine künstliche, verfahden ist zwischen der positiven Eugenik, die die Verbesserung der Art durch entsprechende Auslese ("Höherzüchtung") zum Inhalt hat. Ziel ist die Verbesserung des Gesamterbguts der Bevölkerung (Genpool). Die negative Eugenik beschäftigt sich hingegen mit der Verhinderung der Degeneration des Genpools (zur Definition vgl. Weingart, Rasse, Blut und Gene, S. 16; Enquete-Kommission, a.a.O., S. 1491150). Bis zur Entdeckung und Diskussion der im Prinzip vorstellbaren gentechnischen Möglichkeiten zur Beeinflußung des Genpools bezog sich die Eugenik ausschließlich auf externe Methoden der sozialen Kontrolle bzw. Steuerung der menschlichen Fortpflanzung. 23 Kloepfer, Umweltrecht, § 13 Rn. 189 (mit umfangreichen weiteren Nachweisen in Fn. 286). Instruktiv zu den einzelnen Anwendungsbereichen Enquete-Kommission, a.a.O., S. 140 ff. 24 Als Genomanalyse werden Verfahren bezeichnet, die mittels genetischer Analyse die Feststellung genetisch bedingter Eigenschaften des Menschen zum Ziel haben. Untersucht werden hierbei Funktionsfähigkeit und Struktur der Gene (vgl. zu Begriff und Methodik Enquete-Kommission, a.a.O., S. 144 ff.); aus deutscher Sicht s. die Entschließung des Bundesrates vom 16.10.1992 zur Anwendung gentechnischer Methoden am Menschen, BR-Drs. 42411 I 92, sowie Simon, Risikoregulierung und Rechtspolitik im Bereich der Genomanalyse, S. 19 ff. In Deutschland soll in mittlerer Zukunft die Anwendung von Gendiagnostik und Gentherapie am Menschen durch ein spezifisches Gesetz geregelt werden (Beschluß des Bundestages vom 12.11.1992, in dem der Bundesregierung die Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzes aufgegeben wird [zit. nach Simon, ebd., S. 19]). 25 Bei der Gentherapie ist zu unterscheiden zwischen somatischer Therapie und Keimbahn-Therapie. Beide Verfahren haben zwar einen gentechnischen Eingriff in das menschliche Erbgut zum Gegenstand, doch besteht ein wesentlicher, qualitativer Unterschied darin, daß die somatische Gentherapie Gene in den Gewebe- oder Organzellen des Körpers zur Korrektur genetischer Defekte gezielt verändert, die Keimbahntherapie dagegen genetische Defekte in Zellen der Keimbahn therapiert. Korrigiert wird bei letzterem somit auch die Vererbbarkeit genetischer Defekte an die nachfolgende Generation (vgl. Enquete-Kommission, a.a.O., S. 177 ff.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Der aktuelle Begriff, Nr. 13 I 93 vom 11.6.1993); zu den Gentherapie-Versueben in Deutschland s. BT-Drs. 1214720 vom 13.4.1993. 26 Im einzelnen handelt es sich um künstliche Insemination (A.I.D. = Artificial Insemination by Donor), ln-Vitro-Fertilisation (I.V.F.) und Embryonentransfer. 3 Schenelc.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

rensmäßige Modifikation der natürlichen Fortpflanzungsvorgänge dar27 • Im Bereich der pränatalen Diagnostik ergeben sich aber Berührungspunkte in der Behandlung menschlicher Embryonen. Die Möglichkeit zu selektiver Geburtenkontrolle und zu eugenischen Maßnahmen markiert einen ähnlichen bioethischen Fragen- und Problemkreis, wie er von der Humangenetik bekannt ist. Zusammenfassend: Gentechnik ist eine Verfahrensform der Biotechnologie. Der Begriff Biotechnologie verknüpft das technische Verfahren mit einer Nutzungsperspektive. Begriffsgegenstand ist demnach nicht allein das Verfahren, sondern auch das externe Nutzungspotential der Technikanwendung. Im bewußten Gegensatz zum traditionellen, historischen Verständnis, verkörpert die moderne Version des Begriffs das umgesetzte Forschungspotential sämtlicher molekular- und mikrobiologischer Verfahrenstechniken, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erforscht wurden. Aufgrund dieser finalen Ausrichtung auf die Nutzungsaspekte ist es präziser, die Politik in diesem Feld nicht als Gentechnik-, sondern als Biotechnologiepolitik zu titulieren. 2. Chancen- und Risikopotential in Forschung und Nutzung Chancenpotential der Forschung

Zwei Jahrzehnte nach den ersten Versuchen in den USA gehört die Gentechnik zu den wichtigsten Arbeitsmethoden der mikrobiologischen und medizinischen Forschung. Sie ist Instrument zu entscheidenden Durchbrüchen in der biomedizinischen Grundlagenforschung. Aufgrund der Gentechnik war es möglich, die biologische Bedeutung und den funktionalen Aufbau von Genen sowie ihre Einwirkung auf biologische Abläufe zu erforschen. Mit ihrer Eigenschaft als bereichsneutrale Verfahrenstechnik wurde die Gentechnik darum mittlerweile in nahezu alle biologischen und medizinischen Fachbereiche integriert; aus dem Forscheralltag ist sie heute nicht mehr wegzudenken 28 • In der medizinischen Grundlagenforschung zeigen sich die wissenschaftlichen Innovationskräfte in den Bereichen der Genomanalyse von Erbkrankheiten und ihrer somatischen Gentherapie29• Positiv zu Buche stehen daneben subKaufmann, JZ 1987, S. 838; Schleuning, Die Gentechnikdebatte, S. 204. Gareis, Industrielle Nutzung der Biotechnologie und rechtliche Regelungen, S. 31; zu Anwendungsbereichen und Nutzungspotential der Gentechnik siehe u.a. OTA, a.a.O., S. 73 ff.; Eberbach, in: Eberbach/Lange, Einführung, Rn. 34 ff.; Enquete-Kommission, a.a.O., S. 40 ff.; OECD, Economics and Wider Impacts, S. 23 ff.; Winnacker, Das Potential der Gentechnik für Erkenntnisgewinn und Praxis, S. 125 ff. 29 S. dazu Hobom, F.A.Z. Nr. 269 vom 19.11.1992, S. N 1; Ruderisch, ZRP 1992, 27

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I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe

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stantielle Wissenserweiterungen über die Wirk- und Funktionsmechanismen von Onkogenen als Bestandteile des Genoms, die nach derzeitigem Kenntnisstand der Krebsforschung für das Entstehen von krebsartigem Zellenwildwuchs als mitverantwortlich anzusehen sind30• Ebenso konnte die Funktionsweise von Interferonen erforscht und das Wissen in gentechnisch hergestellten Arzneimitteln umgesetzt werden. Im Bereich der Virusforschung erreichte die Gentechnik noch mehr den Status einer elementaren Arbeitsmethode, ohne deren Einsatz entscheidende Durchbrüche etwa bei der Bekämpfung von AIDS nicht zu erwarten sind31 • Gewinn für die Humanmedizin läßt sich auch aus der Enzym- und Eiweißforschung ziehen. Mittels gentechnischen Proteindesigns lassen sich Proteine und Enzyme konstruieren, die im Gegensatz zu natürlichen Wirkstoffen gezielt die Wirkung von Arzneimitteln optimieren, indem sie schädlichen Nebenwirkungen, wie septischen Schockreaktionen, entgegenwirken, oder im Gegensatz zum Naturstoff eine wesentlich längere Wirkdauer haben. Möglich wird durch diese Methode beispielsweise aber auch die Stabilisierung des Hämoglobins und damit eine Steuerbarkeit des Blut-Gerinnungsvorgangs32 • Gentechnische Forschung erlangt zunehmend größere Bedeutung in der Nahrungsmittelindustrie und in der Landwirtschaft. Mittel- bis langfristig wird in diesem Bereich eine Steigerung von Qualität und Ertragssicherheit zu erwarten sein33 • Weitere noch in der Entwicklung begriffene Einsatzbereiche der Gentechnik sind der Umweltschutz34, die biologische Stoffumwandlung und die Versorgung mit nachwachsenden Rohstoffen35• S. 260 Fn. 4 (mit Verweis auf die deutschen Richtlinien zur Gentherapie beim Menschen [DtÄrzteBI. 1986, H. 41, C-1793]). 30 Vgl. Ferdinand, in: Eberbach/Lange, Einführung, Rn. 124 f. 31 Fleckenstein/Rüger, Fortschritte in der Virusforschung, S. 37 ff. ; Goebel, Die Komplexität der Virulenz, S. 55 ff.; Enquete-Kommission, a.a.O., S. 127 ff. ; Gareis, a.a.O., S. 30. 32 Zu dieser Methode und ihren Anwendungsmöglichkeiten DER SPIEGEL Nr. 27 vom 5.7.1993, S. 160 ff. ("Lebens-Lego im Genlabor"). 33 OECD, Biotechnology, Agriculture and Food; Logemann/Schell, GRUR 1992, S. 248 ff.; Gareis, a.a.O., S. 31/32; Bye, Biotechnology and Food/ Agricultural complexes, S. 67 ff.; Junne/Bijman, The Impact of Biotechnology on European Agriculture, S. 75 ff.; Enquete-Kommission, a.a.O., S. 57 ff. (Pflanzenproduktion), S. 84 ff. (Tierproduktion); Himmighofen, EurUm 3/88, S. 27 ff. Zum Aspekt "transgene Pflanzen" Willmitzer, Transgene Pflanzen, S. 125 ff. ; zum Aspekt "transgene Tiere" vgl. auch Brehm, Transgene Tiere, S. 67 ff. 34 Z.B. durch den Einsatz gentechnisch veränderter Organismen zum biologischen Abbau umweltbelastender Chemikalien oder zur Schädlingsbekämpfung, bzw. -kontrolle (vgl. Enquete-Kommission, a.a.O., S. 99 ff.). Es bestehen daneben auch Überlegungen, transgene Pflanzen mit erhöhter Schädlingsresistenz in der Landwirtschaft einzusetzen (vgl. F.A.Z. Nr. 125 vom 2.6.1993, S. N 3).

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Chancenpotential der Nutzung

Im pharmazeutischen Bereich, bei der Produktion von Diagnostika und Therapeutika, vollzog die neue Biotechnologie erstmals den Sprung aus den Forschungs- und Entwicklungslabors36 in die industrielle Produktion. Als erstes Produkt wurde 1982 in den USA gentechnisch erzeugtes Humaninsulin der Firma Eli Lilly durch die FDA37 zum Verkauf zugelassen. Zu Beginn der 80er Jahre erlebten insbesondere die USA einen wahren BiotechnologieBoom. Zwischen 1980 und 1984 wurden ca. 60% der heute in den USA existierenden Biotechnologie-Unternehmen gegründet. Nach wie vor ist die pharmazeutische Industrie der wichtigste Sektor für die kommerzielle Anwendung der Biotechnologie38 . Hohe Erwartungshaltung in das Potential der Technik und die Hoffnung auf absehbare Kommerzialisierung der Produkte sind wesentlichen Gründe dafür, daß finanzielle Mittel gerade in diese Felder flossen. Vertrauen in das industrielle Potential führte in den USA auch dazu, daß große Mengen an Risikokapital in kleinen oder mittleren BiotechnologieUnternehmen investiert wurden. Verschiedene OS-Unternehmen wie Genentech, Genex oder Biogen gingen schon nach kurzer Zeit selbst an die Börse, was zu der erhofften Ausweitung des zur Verfügung stehenden Kapitals führte39. Die amerikanische Unternehmensstruktur innerhalb der kommerziellen Biotechnologie unterscheidet sich deutlich von der in Europa und Japan, wo es jeweils zu keinen nennenswerten Gründungen ähnlicher kleinerer und mittlerer Unternehmen gekommen war; große pharmazeutische Unternehmen prägen hier das Feld. Gründe für diese unterschiedliche Entwicklung in den USA liegen in der gegenüber Europa und Japan vergleichsweise engen Verknüpfung universitärer Forschung mit privaten Unternehmen und dem noch entscheidenderen Aspekt, daß die großen pharmazeutischen Unternehmen in Europa in die neue Biotechnologie erst in den Jahren 1984/85, d.h. vergleichsweise spät zu investieren begannen. Nachdem der zeitliche Verzug gewahr wurde, stockte die europäische Pharmaindustrie die Mittel der eigenen Forschung für den Biotechnologie-Bereich erheblich auf'O; zugleich tätigte sie zusätzliche, zum Teil spektakuläre Investitionen in den USA41 • Enquete-Kommission, a.a.O., S. 40 ff. Schon in den 70er und zu Beginn der 80er Jahre. 37 Food and Drug Administration (FDA). 38 Im Jahr 1990 waren insgesamt 63 Prozent der Unternehmen im Bereich der Humantherapeutika und Diagnostika tätig, nur 8 Prozent dagegen im Bereich der Landwirtschaft (OTA, a.a.O., S. 45/46). 39 OTA, a.a.O. (s. vorstehende Fn.). 40 Sharp, a.a.O., S. 224. 41 Näher dazu Raugel, BFE 1992, S. 738 ff. Bekanntester Fall ist der Erwerb eines 35 36

I. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe

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Die Anfangseuphorie ist mittlerweile eher kühlen, ökonomischen Erwägungen gewichen. Die realen Erfolge in der industriellen Fertigung und Umsetzung entsprechen noch nicht ganz den durch Forschungserfolge geweckten Erwartungen. Im August 1991 waren insgesamt 15 gentechnisch erzeugte Medikamente auf dem Markt, weit über 100 befanden sich in den (vor-)klinischen Erprobungsphasen42 • Der weltweite Umsatz biotechnologisch erzeugter Pharmazeutika betrug im Jahr 1991 insgesamt 1,2 Mrd. US-$, davon allein in den USA 900 Mio. US-$. Für das Jahr 2000 wird ein Anstieg dieser Umsatzquote auf 10 Mrd. US-$ erwartet43 , bei einem weltweiten Gesamtumsatz der pharmazeutischen Industrie von insgesamt 120 Mrd. US-$44 • An der Schwelle zur industriellen Nutzung steht mittlerweile auch die Gentherapie. Vergleichbar zur allgemeinen Situation der Biotechnologie anfangs der 80er Jahre begegnet nun auch die Gentherapie einem erheblichen Vertrauensvorschuß der Finanzmärkte. Auch hier liegt der Anwendungsschwerpunkt bislang indes nahezu ausschließlich im Bereich der Forschung. Der Zeitpunkt, ab dem dieser Bereich die Gewinnzone erreicht, ist derzeitig im einzelnen noch nicht absehbar45 • Die gentechnische Erforschung der Grundlagen und Wirkungszusammenhänge der Natur des Menschen und der biologischen Bausteine des Lebens Anteils von 60% an der amerikanischen Firma Genentech durch den Schweizer Pharmakonzero Hoffmann-La Roche (Schweiz) zu einem Verkaufspreis von 2,1 Mrd. US-$ (vgl. OTA, a.a.O., S. 56 [Box 4-B]). 42 OTA, a.a.O., S. 75 ff.; vgl. auch die tabellarischen Übersichten bei Eberbach, in: Eberbach/Lange, Einführung, Rn. 35-37. Nach Sharp (ebd., S. 222) sollen sich im Jahr 1989 sogar schon 803 biotechnologisch erzeugte pharmazeutische Produkte in verschiedenen Stadien der Entwicklung befunden haben; zur Frage, welche gentechnischen Diagnostika und Medikamente in der Bundesrepublik im Handel sind, vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die entsprechende Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer und der Gruppe der POS/Linke Liste (BT-Drs. 12/ 5568), BT-Drs. 12/5642 vom 8.9.1993. Bekannteste Beispiele pharmazeutischer Produkte sind das schon erwähnte Humaninsulin zur Diabetes-Behandlung, Wachstumshormone oder der Blutgerinnungsfaktor VIII. Vorteile der gentechnisch erzeugten Pharmazeutika liegen darin, daß neben der Verfügbarkeit des Produkts an sich die gentechnische Herstellungsweise zu deutlich erhöhten Produktionsmengen eines qualitativ höherwertigen Produkts von gleichbleibend konstanter Qualität führt, welches darüber hinaus kaum Verunreinigungen aufweist. Mit diesem Qualitätsvorteil konnte so zum Beispiel das bislang für Bluterkranke hohe Risiko der Infektion mit HIV-Viren durch verunreinigte Blutkonserven ausgeschlossen werden (vgl. Bräutigam, DIE ZEIT vom 25.12.1992, S. 41 : "Gentechnik bietet Blutern neue Hoffnung"). 43 Sharp, a.a.O., S. 225; vgl. hierzu zusätzlich die umfangreiche Auflistung verschiedener Prognosen durch die OECD (Biotechnology, Economic and Wider Impacts, S. 20 [Table I]). 44 Sharp, a.a.O., S. 223. 45 Griffith, in: Financial Times vom 1.7.1993, S. 10 ("A market that could spiral").

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

eröffnet somit ein industrielles Wirkungsfeld, welches allmählich an ökonomischer Relevanz gewinnt. Sie ist eine Technik mit einem noch nicht in allen ökonomischen und gesellschaftlichen Konsequenzen voll überschaubaren industriellen Wirkungsfeld. In vielen Bereichen steht die industrielle Umsetzung der erzielten Forschungsergebnisse, wie dargestellt, noch am Beginn der Entwicklung. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse und den konkreter abschätzbaren Perspektiven für die Industrie läßt sich aber schon jetzt sagen, daß die Gentechnik in geradezu revolutionärer Weise das Verhältnis des Menschen zur Natur verändert und auf eine qualitativ neue Ebene gehoben hat. Mit dem ihr immanenten Wachstumspotential reiht sie sich in die Phalanx der modernen Hochtechnologien46 ein, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts entwickelt und als Schlüsselindustrien bezeichnet, von vielen als entscheidend für den Erhalt und den Ausbau des gesellschaftlichen Wohlstandes im kommenden Jahrhundert erachtet werden47 • Risikopotential in Freisetzung und Nutzung

Wie hoch aber ist der Preis, der für den gentechnischen Fortschritt gegebenenfalls zu zahlen ist? Spiegelbildlich zur Analyse der Vorteile und des gesellschaftlichen Gewinns erhebt sich die Frage nach den möglichen Risiken der Rekombinationstechnik für den Menschen und die Umwelt. Bis heute gehen bei ihrer Beantwortung und den daraus zu ziehenden Konsequenzen die Meinungen auseinander48 • Prämisse der Betrachtung einschlägiger Risiken ist die Feststellung, daß die Komplexität der Materie einer pauschalen Risikobewertung entgegensteht. Die Heterogenität der Anwendungsbereiche - Arbeiten im Labor, Freisetzungsversuche oder die Vermarktung von gentechnisch erzeugten Produkten - zwingen zu einer differenzierten Betrachtung49 • Ausgangspunkt der Kritik an der Gentechnik ist die prinzipielle Infragestellung der rationalen Beurteilbarkeil und Kontrolle gentechnischer Verfahrensabläufe. Eines der beklagten Probleme, auf welchem die Kritik an modernen 46 Neben der Biotechnologie werden auch die Informationstechnik (Halbleiter, Computertechnik, Unterhaltungselektronik und Telekomunikation), die neuen Werkstoffe (z.B. Hochleistungskeramik und Kohlenfaser-Verbundwerkstoffe), sowie die Solarenergie und Luft- und Raumfahrttechnik für strategische Schlüsseltechnologien in der zukünftigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung gehalten. 47 Vgl. Seitz, .,Fortschritt fängt im Kopf an", DIE ZEIT Nr. 20 vom 14.5.1993,

s. 23.

48 Überblick zum Meinungsspektrum bei Eberbach, in: Eberbach I Lange, Einführung, Rn. 48 ff. 49 Pohlmann, a.a.O., S. 27; ausf. zu naturwissenschaftlichen Chancen und Risiken Hobom, Verantwortung für die Gentechnik, S. 1 ff.

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Technologien wie Atomkraft oder auch der Gentechnik beruht, ist der Mangel an Erfahrungswerten, deren Fehlen nach dieser Auffassung zu einem nicht hinnehmbaren "Operieren in Ungewißheit" führt. Gleichzeitig seien Schadensfolgen zu befürchten, die der Anwendung des traditionellen Schemas zum Gewinnen von Erfahrungswerten "trial and error" prinzipiell entgegenstehen würden50 • Gentechnikspezifisch wird das Risiko einer "Entgleisung" oder mangelnden Berechenbarkeil des neugeschaffenen gentechnisch veränderten Organismus als grundsätzlich nicht ausschließbar erachtet und - entgegen der additiven Sicherheitskonzeption gesetzlicher Regelungen, welche sich an den biologischen Eigenschaften der verwendeten Organismen orientiert51 - synergistisch bedingte Fehlentwicklungen der Organismen befürchtet52. Diesen generellen Befürchtungen steht die positive Bilanz gentechnischer Anwendung entgegen. Bis heute sind gentechnisch bedingte Unfälle nicht bekannt geworden53 . Die Tätigkeit im Labor- und Produktionsbereich gilt bei Beachtung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen prinzipiell als technisch beherrschb~4 • Aufgrund der gesammelten Erfahrungswerte im Umgang mit der Materie ist davon auszugehen, daß Gefahrenpotentiale für Anwender und Umwelt nicht aus spezifisch gentechnischen Veränderungen entstehen, sondern im Pathogenitätsgrad der Spender- oder Empfängerorganismen gründen55 . Damit unterscheidet sich die gentechnische Rekombination im Labor in ihrem Gefahrenpotential nicht wesentlich vom Gefahrenpotential traditioneller, nicht gentechnikspezifischer Versuchsbedingungen. Neben diesen Unfall- und Kontrollrisiken werden zudem Gefahren darin gesehen, daß die Anwendung der Gentechnik im Agrarsektor mittelfristig, durch Sortenverarmung von Nutztieren und -pflanzen, zu einer negativen Einwirkung auf die biologische Vielfalt führen könnte56. Bei einer Systematisierung nach Gefahrensituationen lassen sich im wesentlichen zwei Fallgruppen bilden57. Die erste betrifft die mit der Tätigkeit 50

Ladeur, NuR 1987, S. 63; Murswiek, VVDStRL 48 (1990), S. 215 ff.

51 Zum "additiven Sicherheitsmodell" und den befürchteten synergistischen Effek-

ten vgl. Eberbach, in: Eberbach/Lange, Einleitung GenTSV, Rn. 80 ff. 52 Vgl. die Lit.-Hinw. bei Eberbach, in: Eberbach/Lange, Einführung, Rn. 49 ff. 53 Eberbach, in: Eberbach/Lange, Einführung, Rn. 50 ff.; GassenfMartini Bertram, a.a.O., S. 358; Pohlmann, a.a.O., S. 27. 54 Winnacker, Das Potential der Gentechnik für Erkenntnisgewinn und Praxis, s. 124. 55 Z.B. bei der Verwendung von HIV-Viren, etc. 56 von Weizäcker, Erdpolitik, S. 135 ff. 57 Auf dieser Untergliederung beruht z.B. gerade auch die Struktur des horizontalen, auf den Technikprozeß ausgerichteten Gentechnikrechts der EG (aus Sicht der Gemeinschaft vgl. dazu eingehend EG-Kommission, KOM(86) 573); allgemein m.w.N. Pohlmann, a.a.O., S. 27/28.

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im Labor verbundenen Risiken, die aus einer unkontrollierten Verbreitung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt entstehen können. Von diesem eher auf den unmittelbaren Rekombinationsprozeß und der direkten unkontrollierten Einwirkung auf die Umwelt ausgerichteten Risikoszenario wird die zweite Fallgruppe unterschieden, die auf die Wirkungen kontrollierten Ausbringens von gentechnisch veränderten Organismen ausgerichtet ist. Im Bereich der kontrollierten Freisetzung in die Umwelt stellt sich noch mehr das Problem der hinreichenden Prognostizierbarkeil ökologischer Auswirkungen und Risiken auf die Umwelt. Der Blick wendet sich in diesem Bereich darum zwar nicht ausschließlich, aber doch weitaus mehr den mittelund langfristigen Folgen der Technik zu. Befürchtet wird, daß nachhaltige ökologische Störungen durch biologische Verdrängungsprozesse hervorgerufen werden könnten, genauso wie Ansteckungsgefahren, Pathogenizität und Toxität für Organismen außerhalb der Zielgruppe58 oder auch ein artenübergreifender, horizontaler Gentransfer zu anderen Organismen59 mit Komplikationen fürs Ökosystem60• Diese Fallgruppe dürfte sich noch auf absehbare Zeit als problembeladen erweisen. Gleichwohl ist auch hier eine Gleichschaltung der Szenarien nicht möglich. Das Gentechnikprinzip, lediglich ein oder nur wenige Gene in das Wirtszellengenom einzufügen, führt im Endeffekt zu keinen oder nur geringfügigen Veränderungen der Eigenschaften des Wirtsorganismus, so daß ökologische Probleme in diesen Fällen kaum zu erwarten sind. Hinzu kommt ein rapide gewachsener empirischer Erfahrungsschatz aus über tausend Freisetzungsversuchen, die 1993 weltweit durchgeführt worden sind6 1• Auch ist zu bedenken, daß Sicherheitssysteme einen schrittweisen Übergang aus dem geschlossenen System in die Umwelt vorschreiben62 • Auf dieser Grundlage läßt sich eine mögliche Interaktion des auszubringenden rekombinanten Organismus besser prognostizieren.

Andere Pflanzen, Tiere oder Menschen. Als horizontalen Gentransfer bezeichnet man die Übertragung rekombinanter genetischer Information auf andere Organismen. Der Prozeß ist bei Bakterien häufiger zu beobachten. Der Gentransfer geschieht in der Regel durch Abläufe, die als Tausformation, Konjugation und Transduktion bezeichnet werden. Bislang nicht geklärt ist die Frage, inwieweit ein horizontaler Gentransfer auch bei höher entwickelten Organismen wie Pflanzen oder Tieren möglich ist (vgl. Lange, in: Eberbach/Lange, EGFreisetzungsrichtlinie, Einleitung, Rn. 30/31 ). 60 Zu Risikopotentialen der Freisetzung s. den Überblick bei Mantegazzini, EurUm, Heft 1-2/1987, S. 4; Lange, in: Eberbach!Lange, EG-Freisetzungsrichtlinie, Ein!. Rn. 25 ff. 61 Vgl. European Biotechnology Information Service (EBIS) 3 (1993), Nr. 3, S. 34; zur Situation 1990 vgl. Lange, in: Eberbach/Lange, EG-Freisetzungsrichtlinie, Einleitung, Rn. 18 (Tabelle 1). 62 Sog. "step-by-step"-Prinzip. 58

59

II. Biotechnologie als Politikfeld

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Zusammenfassend: Die Gentechnik besitzt ein großes Chancenpotential sowohl in der Grundlagenforschung als auch in ihrer industriellen Nutzung. Insbesondere in der Forschung wird sie immer mehr zu einem unentbehrlichen Bestandteil, ohne den entscheidender Erkenntniszuwachs nicht mehr als möglich ist. Ursprünglich vermutete Risiken haben sich bis heute weder in der Forschung noch in der Herstellung gentechnischer Produkte realisiert. Gleichwohl setzt sich die Risikodebatte bis heute fort. Gegenstand ist nicht mehr so sehr die Anwendung im Labor, sondern die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt. Die Biotechnologie unterscheidet sich deutlich von den anderen Schlüsseltechnologien. Letztere betreffen vornehmlich aus der Physik abgeleitete Bereiche, von nicht vergleichbarer existenzieller und grundsätzlicher Art, so wie sie bei der biologischen Grundlagenforschung angesprochen werden. Sie bieten schon deswegen weniger Anhaltspunkte für Kritik. Das Verhältnis der Gesellschaft zu ihnen ist anders als zur Gentechnik, die gerade aufgrund der Eugenik-Erfahrungen, des technologischen Mißbrauchs und der Fehlentwicklungen in diesem Jahrhundert eine mehrfache bioethische Rechtfertigungslast trägt. Im Gegensatz zu den gentechnischen Entwicklungen geben sie ein "berechenbareres" Bild ab, welches sich im Rahmen mathematisch-physikalischer Theorienmodelle weitmehr voraussehen, bestimmen und abschätzen läßt. Dies erleichtert auch die Entscheidungen über die Technikanwendung selbst.

II. Biotechnologie als Politikfeld 1. Aufgabenzuweisungen an die Politik: Wohlstands· und Umweltvorsorge, Chancengenerierung und Nutzungsforderung Kennzeichnend für das zwanzigste Jahrhundert ist die beispiellose Ausweitung des menschlichen Horizonts. Die wachsende Spezialisierung und Komplexität des Lebens ist ein Resultat dieser Entwicklung. Unter dem Eindruck des gewachsenen Wissens und des dadurch ausgelösten technologischen Wandels verändern sich die gesellschaftlichen und politischen Strukturen der modernen Industriegesellschaften zusehens, der nationale Wobistand erreicht eine noch nie dagewesene Größe. Das Wachstum der marktwirtschaftlich strukturierten Volkswirtschaften ist ebenso Indiz wie Faktor dieses Erfolgs. Die exponentielle Wohlstandssteigerung ist gekoppelt mit der Erweiterung staatlicher Aufgabenfelder. Sie führt in fortschreitender Entwicklung zur zunehmenden "Entstaatlichung" gesellschaftlicher und politischer Abläufe. Ausgangs des 20. Jahrhunderts erfordern politische und wirtschaftliche Verflechtungen mehr und mehr überstaatliche Verarbeitungs- und Problemlösungskapazitäten.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Ende 1993 scheint dieser Wachstumsprozeß an einem Wendepunkt angelangt zu sein. Verschiedene Faktoren stellen seinen mittel- bis langfristigen Erfolg in Frage. Neben dem Wegfall des Ost-West-Konflikts erfordern Veränderungen des ökonomischen Umfeldes und der Bedingungen wirtschaftlicher Betätigung Beachtung. Der Auftritt von Unternehmen aus Japan und den südostasiatischen Schwellenländern auf den Weltmärkten führte zu einem intensiveren und härteren Wettbewerb, der global ausgerichtet ist. Die Ausbildung der Hochtechnologien kommt hinzu. Sie gewinnen als Schlüsseltechnologien zunehmend Einfluß auf den Wirtschaftsablauf. Aufgrund des prognostizierten hohen Innovationspotentials wird ihnen eine strategische Bedeutung für die Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstandes beigemessen63 • Im Zentrum unternehmenscher Aktivitäten steht darum immer mehr die moderne Technik als Determinante des Erhalts eigenen wirtschaftlichen Erfolgs. Der Erhalt der Wettbewerbsfahigkeit wird immer mehr allein durch Anpassung an diese Entwicklung für möglich gehalten. In der ökonomischen Theorie läßt sich diese Bewußtseinsänderung auf den Namen Robert M. Solow zurückführen. Ihm gelang es erstmals in den 50er Jahren aufzuzeigen, daß neben den traditionellen Variablen Arbeit und Kapital im Sinne Adam Smiths auch und vor allem der technische Fortschritt auf das Wirtschaftswachstum einwirkt64 • Die Neue Wachstumstheorie65 entwickelt Solows Gedanken weiter. Nach ihrer Auffassung ist die Entwicklung und effiziente Allokation der Technik und des Humankapitals durch die nationale Ökonomie steuerbar. Das Ergebnis seien nicht allein Produktionseffizienzen bei den Investoren, sondern auch "gesamtwirtschaftliche Synergieeffekte' 666 • Aber nicht nur private Wirtschaftssubjekte reagieren auf die Entwicklungen. Veränderte Rahmenbedingungen erfordern auch die Anpassung des politischen und rechtlichen Instrumentariums. Gerade die moderne Technik zeigt dies auf. Wie am Beispiel der Gentechnik vorstehend dargestellt, ist die "technische Realisation"67 und das mit ihr verbundene Handlungspotential von einer Ambivalenz begleitet, die zu einer Doppelbetrachtung der Technik nach Chancen und Risiken zwingt. Diese ,)anusköpfigkeit" moderner Technik und ihrer Folgen prägt auch das Gefüge der korrespondierenden staatliVgl. dazu Seitz, DIE ZEIT Nr. 20 vom 14.5.1993, S. 34 f. Solow, A Contribution to the Theory of Economic Growth, Quarterly Journal of Economics 70 (1956), S. 76-90. 6s Nachweise bei: Hofman I Koop, Die "Neue Wachstumstheorie" und ihre Bedeutung für die Wirtschaftspolitik, Die Weltwirtschaft 1991 , S. 86 ff.; Mackscheidt, Alte und neue Wachstumspolitik, APuZ 43 (1993), B 18, S. 10 f. 66 Hofman I Koop, a.a.O., S. 90; kritisch Stehn, Theorie des fiskalischen Föderalismus, S. 42 (m.w.N.). 67 Begriff nach Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 30 ff., 42 ff. 63

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chen Politik. Sie versucht, beiden Aspekten durch integrative Maßnahmen gerecht zu werden. Moderne Technologien entfalteten im Ergebnis eine dreidimensionale politisch-ökonomische Wirkung68 : zum einen als unternehmensstrategischer Erfolgsfaktor; als internationaler Wettbewerbsfaktor und - drittens - als politischer Machtfaktor69• Die staatliche Biotechnologiepolitik unterliegt seit Anbeginn, d.h. seit ungefahr 15-20 Jahren, dieser vermeintlich spannungsreichen Zielrichtung70• Sie verfolgt als Industriepolitik den Ansatz, die für gesellschaftlich wichtig erachtete Entwicklung der Technik71 mit politischen Maßnahmen in gemeinwohl- und umweltverträglicher Weise zu fördern 72 • Um dieses Doppelziel zu verwirklichen, sind verschiedene technologiespezifische Entwicklungen und externe Faktoren zu berücksichtigen. Als voranzustellende Prämisse ist davon auszugehen, daß Technik und TechnikentFleck, Technologieförderung, S. 20 f. Mit diesem Punkt ist die Rolle der Technik als Basis für eine starke außenpolitische Position gegenüber Drittstaaten angesprochen. Befürchtet wird, daß übermäßiger technologischer Rückstand zu großer wirtschaftlicher und letztlich damit auch politischer Abhängigkeit gegenüber Drittstaaten führt: Technologiepolitik als Machtpolitik. 70 OECD, Biotechnology and the Changing RoJe of Govemment, S. 16. Die Ambivalenz kommt deutlich in § I GenTG zum Ausdruck; dazu Graf Vitzthum/GeddertSteinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 11 ff. 71 Unter diesem Begriff ist die der Technik inhärente Dynamik zu verstehen. Technischer Wandel/ Entwicklung bezeichnet nach wirtschaftswissenschaftlicher Auffassung die Gewinnung und Verbreitung neuen technologischen Wissens (vgl. Neumann, Volkswirtschaftslehre I, S. 12; Pfeiffer, Allgemeine Theorie der technischen Entwicklung, S. 89). Den Begriff der technischen Entwicklung charakterisiert nach Pfeiffer (ebd., S. 28 ff.) eine Zweistufigkeit: Zu unterscheiden ist die erste Stufe, die in der Informationsgewinnung und -Übertragung besteht; die zweite Stufe besteht in der sozialen Distribution dieses gesammelten Wissens. - Die Informationsgewinnung besteht insbesondere im Bereich der Hochtechnologien aus den verschiedenen Stufen der Forschung, d.h. angefangen bei der Grundlagenforschung bis hin zu marktnäheren StadienangewandterForschung (vgl. Fleck, Technologieförderung, S. 27 f.). Je weniger die Technik entwickelt ist, desto größere Bedeutung erlangt der Bereich der Forschung. Dies ist insbesondere im Bereich der Biotechnologie von größter Wichtigkeit, da hier viele Entwicklungen noch am Anfang stehen (vgl. oben 1.). 72 Angesichts der Komplexität der realen Vorgänge werden die faktischen Möglichkeiten, technische Entwicklungen lenkend oder gar steuernd zu beeinflußen, in der Literatur z.T. äußerst skeptisch beurteilt (vgl. Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung, S. 27; Murswiek, VVDStRL 48 [1989], S. 227 f.). Studien des OTA in den USA aus den Jahren 1984 und 1991 (vgl. OTA, S. 151) kommen für den Bereich der Biotechnologie übereinstimmend zu dem Fazit, daß die staatlichen Bemühungen für die Entwicklung der Technik bislang keinen entscheidenden Faktor dargestellt haben. 68

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wicklung im Grunde private Aufgaben sind73 • Die Agende des marktwirtschaftliehen Staates erschöpft sich gegenüber der Gesellschaft, von Ausnahmen abgesehen74, in einer Schutz- und korrespondierenden Fördenunktion bzw. -pflicht. Wirtschaftssteuerung (und damit Technologieentwicklung) hat sich an dem das Sozialstaatsprinzip begrenzenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszurichten; sie wird durch die grundrechtlich verbürgten Forschungsund Berufsfreiheiten sowie den Schutzpflichten des Staats determiniert. Maßnahmen im Bereich der Technikpolitik können und dürfen also privates Handeln nicht ersetzen. Der einer sozialen Marktwirtschaft verpflichtete Staat agiert und reagiert, mit dem strategischen Ziel des gesellschaftlichen Wohlergehens, aufgrund gesellschaftlich-wirtschaftlicher Entwicklungen - er schafft sie sich in der Regel nicht selbse5 • Bezugspunkt staatlicher Wettbewerbspolitik ist demnach das Unternehmen als mikroökonomische Einheit, das in toto für die makroökonomischen Wirtschaftsabläufe verantwortlich ist. Die Entwicklung der Schlüsseltechnologien begleitet ein Trend verstärkter Globalisierung von Unternehmensstrategien und Marktstrukturen insbesondere bei der Biotechnologie. Ihr Hauptanwendungsbereich ist die pharmazeutische Industrie. Die Mehrzahl der in diesem Bereich tätigen Unternehmen sind multinationale Unternehmen der pharmazeutisch-chemischen Industrie, die eine globale Struktur aufweisen76 und in ihrer Aktivität sektoral alle Aspekte erfassen. Dieser Branchenbereich ist in den letzten Jahren durch einen beständig zunehmenden Wettbewerb gekennzeichnet. Die Unternehmen unterliegen dem wirtschaftlichen Zwang, Wettbewerbsvorteile durch den verstärkten Einsatz superiorer Technologien und Erzeugung qualitativ höherwertiger Produkte zu erzielen77 • Der komparative Vorteil hängt nicht mehr ausschließlich vom Produkt, sondern mehr noch von der überlegenen Verfahrenstechnik ab78 • Folge 73 Gusy, Techniksteuerung durch Recht, S. 252; EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 3/1991, s. 5, 7. 74 In einzelnen Bereichen wird die Exekutive selbst technikinitiierend tätig. Dies sind insbesondere die Telekommunikation, die Militärtechnik oder das Bahnwesen. In engen Grenzen ist auch die Unterstützung privater Vorhaben etwa im Bereich der Grundlagenforschung zulässig, bei denen der Staat ein eigenes, u.U. auch gesamtökonomisch veranlaßtes Interesse an ihrer Durchführung hat (vgl. Gusy, a.a.O., S. 242 ff.). 15 Um es in den Worten von Roman Herzog (in: Maunz/Dürig, Art. 20 Rn. VIII 62) auszudrücken: Der immanente staatliche Planungsauftrag legitimiert nicht die unbegrenzte Freiheitsbeschränkung, sondern muß "Planung zur Freiheit" sein, zu einem "Mehr an Freiheit" führen (ebenso Stern, Bd. I, § 21, S. 907 ff.). 76 OTA, a.a.O., S. 81. 77 Sharp, a.a.O., S. 214; OTA, a.a.O., S. 81. 78

Thurow, Kopf an Kopf, S. 46.

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davon sind spürbar erhöhte Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen79• Die Grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung erhält im Entwicklungsprozess ein überproportionales Gewicht, ebenso wie das Human- und Wissenskapital in Form qualifizierter Mitarbeiter und Nachwuchskräfte, aber auch Kapitalressourcen für die Unternehmen an gesteigerter Bedeutung gewinnen80. Der verstärkte Einsatz von Hochtechnologien, wie der Biotechnologie, führt im Ergebnis somit zu einem geänderten Faktorverhältnis der Produktionsfaktoren81. Die Verfügbarkeit von Basistechnologien, Lohnkosten oder die Infrastruktur am Produktionsstandort haben im Vergleich eine geringere Relevanz. Human- und Wissenskapital sowie finanzielle Ressourcen sind spezielle Fortschrittsfaktoren82, die nicht standortgebunden sondern international mobil sind. Neben dieser prinzipiellen Mobilität haben sie die weitere Eigenschaft, nicht von vornherein verfügbar zu sein, wie etwa Bodenschätze, billige AIbeitskräfte oder die Infrastruktur. Sie müssen primär durch das Unternehmen selbst erarbeitet werden. Die Koppelung beider Aspekte beinhaltet eine Tendenz zur Optimierung der Unternehmensstrategie durch Globalisierung der Aktivitäten83 • Entscheidungen für Produktionsstandorte orientieren sich an dem systematischen Vergleich der Produktionsbedingungen. Prinzipielle oder weitgehende Mobilität der Produktionsfaktoren führt zu einer globalen Abwägung der Vor- und Nachteile. Als Resultat steht dabei am Ende eventuell sogar die regionale Aufteilung der Tätigkeiten des Unternehmens, entsprechend der regional verfügbaren Faktorstrukturen. Deshalb verlagert sich häufig die Produktion geringwertiger Produkte oder Stoffe, die hierfür nur zu einem kleinen Teil oder gar keine hochwertige Technologie erfordern, auf Tochterunternehmen, Unternehmensteile oder Lizenznehmer in Niedriglohnländern. Das Unternehmen orientiert sich zur Entwicklung hochwertiger 79 Gleichzeitig erhöht sich im Sektor höherwertiger Arzneimittel das Entwicklungsrisiko, wenn man bedenkt, daß statistisch gesehen nur eines von zehn klinisch getesteten Medikamenten am Markt eingeführt wird. Von diesen Medikamenten gelingt es wiederum nur ungefähr 30%, die hohen Entwicklungskosten auf dem Markt zu erwirtschaften (vgl. OTA, a.a.O., S. 82/83). Die weltweite Vermarktung von Medikamenten ist oftmals allein aus diesem Grund unumgänglich. 80 Thurow, a.a.O., S. 42 ff. 81 Der Begriff Faktorverhältnis bezeichnet die Kombination der eingesetzten Produktionsfaktoren. Produktionsfaktoren sind Produktionsmittel, die zur wirtschaftlichen Betätigung in einer Branche unerläßlich sind. Dazu zählen Humankapital, Rohstoffe, regionale Infrastruktur, Wissens- und Kapitalressourcen. Die Faktoren stehen, je nach Branche, in einem unterschiedlichen Wertigkeits- und Rangverhältnis (vgl. Porter, Nationale Wettbewerbsvorteile, S. 97 ff.). 82 Porter, a.a.O., S. 100 ff. 83 Allgemein dazu Grewlich, Europa im globalen Technologiewettlauf, S. 23 ff., 175 ff.

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Technologien an dem regional vorhandenen qualifizierten Humankapital, daneben auch an dessen Verbindung zur universitären Forschung84 • Diese Faktoren gewinnen so große Bedeutung, daß bisweilen diese globale Struktur die regionale Trennung der Forschung und Entwicklung vom Produktionsprozeß durch diese globale Struktur hervorruft85 • Ein ähnliches Bild bietet sich bei der Biotechnologie. Als Schüsseltechnologie ist sie besonders wissensabhängig und in ihrer Entwicklung von traditionellen Produktionsfaktoren in großem Maße unabhängig86• Das Vorhandensein qualifizierter wissenschaftlicher Arbeits- und Nachwuchskräfte erlangt demnach innerhalb der Entwicklung erhöhte Bedeutung (s.o.). Als weitere externe, nicht unmittelbar produktionsbedingte Determinanten in der Unternehmensstrategie kommen die Größe des Absatzmarktes, die Nähe zu den Genehmigungsbehörden, das bessere Image und die Ausformung des Patentrechts hinzu87 • Die Politik des Staates erlangt unter diesen Gesichtspunkten globaler Unternehmensstrukturen erhöhtes Gewicht. Zwar sind es, wie gesagt, die einPorter, a.a.O., S. 650 f. Die Trennung von Forschung und Produktion in den forschungsintensiven lndustriebereichen, den sog. .,Schumpeter-Industrien", wird beeinflußt durch die Organisationsstruktur der Forschung. Besteht der Forschungsprozeß größtenteils aus Laborarbeit - gerade in der chemischen und pharmazeutischen Industrie ist das der Fall ist die räumliche Trennung von Forschung und Produktion leichter durchzuführen, da eine beständige Rückkopplung nicht notwendig ist (vgl. Klodt/Schmidt u.a., Weltwirtschaftlicher Strukturwandel und Standortwettbewerb, S. 28). 86 Thurow, Kopf an Kopf, S. 46 f. 87 Vgl. Daniels, Angst vor Rüben und Kartoffeln, DIE ZEIT Nr. 6 vom 5.2.1993, S. 24, und Fehr, Forscher, Finanziers und Biotechnik, F.A.Z. Nr. 43 vom 20.2.1993, S. 13. Dies und die bis heute sehr enge Verzahnung mit der universitären Forschung, verbunden mit einer entsprechenden Risikobereitschaft des Kapitalmarktes, waren mit ausschlaggebend dafür, daß die Entwicklung der Biotechnologie in der Frühphase primär in den USA stattfand. Die gewachsene Industriestruktur, mit zahlreichen rein auf biotechnologische Forschung und Entwicklung spezialisierten kleineren und mittleren Unternehmen, wirkt sich als Standortvorteil der USA bis heute fort. Firmengröße und -Spezialisierung führen zu einer hohen Attraktivität für Großunternehmen, die in den Biotechnologiesektor einsteigen oder investieren. Ab Mitte der 80er Jahre erlebten die USA eine Welle an Unternehmenskäufen und -übernahmen kleinerer und mittlerer Biotechnologieunternehmen durch nationale und internationale Großunternehmen aus der pharmazeutischen Industrie (Raugel, BFE 1992, S. 747). Auch die deutschen Pharmaunternehmen haben große Teile ihrer biotechnologischen Forschungs- und Entwicklungszentren in die USA verlagert. Dies geschah entweder durch strategische Allianzen, Neugründungen von Tochterunternehmen oder durch Einkauf bei Unternehmen der Branche (vgl. F.A.Z. Nr. 2 vom 2.1.1993, S. 12 [Sehering], F.A.Z. Nr. 3 vom 5.1.1993, S. 14 [Hoechst], und F.A.Z. Nr. 8 vom 11.1.1993, S. 14 [BASF]. 84

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zeinen Unternehmen, welche mit ihrer Strategie den Wettbewerbsvorteil am Markt erringen und realisieren müssen. Unternehmerischer Erfolg, und damit mittelbar gesellschaftlicher Wohlstand, wird aber nicht allein durch diese Faktoren bestimmt. Auf seiten des Staates88 begegnet dieser privaten Dynamik eine immer ausgeprägtere, aktiv gestaltende Industriepolitik, deren Elemente die gezielte Forschungs- und Technologieförderung89 sowie die gesellschaftliche Ausgestaltung des institutionellen Umfeldes sind90 • Beide Bereiche sind aufgrund ihrer engen Verzahnung nicht als streng getrenntes Begriffspaar zu verstehen91 • In den Mitgliedstaaten der EG (und in der Gemeinschaft selbst) ist seit einigen Jahren die Tendenz zur Steigerung der Aufwendungen und zur Verlagerung der Forschungsförderung in Richtung auf die Schlüsseltechnologien zu vermerken92 • Im Hinblick auf die Ergebnisse dieser Förderung, d.h. Erkenntnisgewinn und höhere Qualifikation des Humankapitals, kann von einer Instrumentalisierung der Wissenschaft gesprochen werden93 • In Deutschland wird, ebenso wie in anderen Staaten, in den letzten zehn Jahren politisch der Bereich der Grundlagenforschung verstärkt gefördert94 • Bemerkenswerterweise hat die betonte Förderpolitik des Bundes und der Länder in Deutschland im Ergebnis schon nach kurzer Zeit zu einem überproportionalen Anstieg der wirtschaftseigenen Forschungsausgaben geführt. Zweiter Aspekt, in seiner gesellschaftlichen und politischen Relevanz häufig politisch brisanter, ist die optimale Gestaltung der strukturellen Standortbedingungen für Unternehmen, um deren internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen95 : Optimierung der 88 Zur Situation in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich s. Klodt u.a., Forschungspolitik unter EG-Kontrolle, S. 3 ff. Zur Entwicklung in der EG s. Starbatty/Vetterlein, Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, S. 15. 89 Vgl. dazu eingehend Fleck, Techno1ogieförderung, S. 42 ff.; Klodt u.a., a.a.O., s. 3 ff. 90 Grewlich, a.a.O., S. 24. 91 Zur Unterscheidungs. Starbatty/Vetterlein, APuZ 42 (1992), B 10-11, S. 16. 92 Dazu und zum folgenden s. Klodt u.a., a.a.O., S. 3 ff. 93 So Oppermann, HStR VI, § 145 Rn. 62. 94 In der Bundesrepublik Deutschland konzentriert sich die Forschungs- und Technologieförderung vornehmlich auf vier Bereiche (geordnet nach dem jeweiligen Anteil an den gesamten Forschungs- u. Entwicklungsausgaben (FuE) [Stand: 1988; Quelle: Klodt u.a., a.a.O., S. 11 ff.]): (1.) Marktorientierte Technologieförderung; (2.) Programmübergreifende Grundlagenforschung; (3.) Vorsorgeprogramme; (4.) Langzeitprogramme. Das Verhältnis zwischen (1.) und (2.) verschiebt sich zusehends zugunsten der Grundlagenforschung. 95 Porter, a.a.O., S. 151; Siebert, Die Weltwirtschaft 1992, S. 419; Hofman/Koop, Die Weltwirtschaft 1991, S. 92. Deutschland erlebte im Jahr 1993 eine intensive Dis-

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Technikentwicklung als Staatsaufgabe96• Der private Wettbewerb erhebt sich zu einem Wettbewerb der Staaten um die besten Standort- und Faktorbedingungen für die Entfaltung der Technologie im eigenen Land97 : vom Marktwettbewerb der Unternehmen zum Technologiewettbewerb der Staaten98 • Strategisches Ziel der Politik ist es, die Technik mittel- bis langfristig an das eigene Land zu binden und dadurch die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit der heimischen Wirtschaft auch für die Zukunft zu sichern. Dieser strukturelle Wettbewerb wirkt sich in drei Bereichen besonders aus99: er erfaßt die öffentlichen Güter, d.h. vor allem Infrastrukturen in den Bereichen Verkehr, Kommunikation und Energie. Erfaßt werden unter diesem Aspekt aber auch die kulturelle Infrastruktur und - angesichts der gewachsenen Bedeutung qualifizierten Humankapitals besonders wichtig - das Ausbildungssystem100. Weiterer Sektor staatlicher Einflußnahme ist das Steuersystem101. Hinzu kommen die institutionellen Regelungen, die die Rahmenordnung privaten Agierens markieren, die Bereiche sozialregulativer Politiken wie Arbeitsmarktpolitik, Sozial- und Umweltpolitik. Neben seinen konkreten normativen Aussagen vermittelt ein institutioneller Rahmen Rechts- bzw. Planungssicherheit für die Investitionen der hiervon betroffenen Unternehmen102. Dieser Aspekt war, in Folge auch des Gentechnik-Beschlusses des kussion über die Zukunft des "lndustriestandorts Deutschland". Katalysator dieser Diskussion waren die schlechte wirtschaftliche Situation und die Debatte um die Situation der Schlüsseltechnologien in der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen und die Abwanderungstendenzen der bundesdeutschen Gentechnikforschung und -industrie im besonderen. Resultat dieser Debatte war das Gesetzespaket zur Sicherung des Standorts Deutschland (vgl. dazu die Gesetzentwürfe der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. [BT-Drs. 12/4158 vom 20.1.1993] sowie der Bundesregierung [BR-Drs. 1/93 vom 4.1.1993 = BT-Drs. 12/4487 vom 5.3.1993] zum Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Europäischen Binnenmarkt [sog. "Standortsicherungsgesetz" - StandOG]. Ergänzt wurde dies etwas später durch ein von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt vorgelegtes Strategiepapier über weitere standorterhaltende Maßnahmen des Staates (vgl. F.A.Z. Nr. 205 vom 4.9.1993, S. 2). 96 Gusy, Techniksteuerung durch Recht, S. 253.

Siebert, a.a.O., S. 419. Dazu Grewlich, a.a.O., S. 21 ff. 99 Vgl. zum folgenden Siebert, a.a.O., S. 419; Grewlich, a.a.O., S. 24. 100 Die Reform des Schul- und Ausbildungssystems ist ein wesentlicher Aspekt im Regierungsprogramm des US-Präsidenten Clinton. Bemerkenswerterweise stehen aber nicht soziale Ziele der Förderung von gesellschaftlich Unterprivilegierten im Vordergrund, sondern die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit (vgl. Die Wirtschaftswoche Nr. 2 vom 8.1.1993, S. 30-32). 101 S.o. Fn. 95. 102 Auf diesen Aspekt hinweisend Kloepfer/Delbrück, UPR 1989, S. 286; Pohlmann, a.a.O., S. 119 f. 97

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Hessischen Verwaltungsgerichtshofs 103 , ein wichtiges Motiv für das deutsche Rechtsetzungsverfahren zum Gentechnikgesetz 104• Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang somit dem spezifischen Umwelt- und Technikrecht zu. Es trägt maßgeblich entweder zur Chancengenerierung und -nutzung 105 oder aber zur Hemmung der Entwicklung des technischen Potentials bei. Mit den rechtlichen Determinanten im Gentechnikgesetz für gentechnische Anwendungen gelangt nicht nur der Schutzzweck zum Ausdruck, sondern, explizit mit der Förderklausel des § 1 Nr. 2 GenTG"l6 formuliert, die Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers zur Legitimität der Gentechnik als Gegenstand der Forschung und industriellen Nutzung 101 • Diese Eindeutigkeit vermittelt Rechtssicherheit Sie wirkt, bei Beachtung der Konkordanz zum Schutzzweck des Gentechnikgesetzes, wie er in § I Nr. I verlautbart ist, im Sinne eines "öffentlichen Bekennens" zur Gentechnik108 • Er ist Maßstab für den sicheren Umgang mit der Gentechnik. Ein gänzlicher Ausstieg aus der Gentechnik, etwa in Form eines entsprechenden restriktiven Vollzugs, wäre danach nicht mehr möglich 109 • Welch hohe Bedeutung gerade staatliche umwelt- und technikrechtliche Regelungen im Standortwettbewerb entfalten können, läßt sich anband der 103 Beschluß vom 6.11.1989 - 8 TK 685 I 89, JZ 1990, S. 88. Der VGH war in seinem Beschluß zum Ergebnis gelangt, daß eine Anlagengenehmigung zur gentechnischen Herstellung von Humaninsulin nicht auf der Grundlage des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erteilt werden dürfe. Analog zum Atomrecht sei auch hier, angesichts einer eigenen gentechnikspezifischen Sicherheitsproblematik, zur Legitimation ein Spezialgesetz zur Zulassung und Regelung der Anwendungen notwendig. Der Beschluß stieß in der anschließenden Kommentierung durch die juristische Fachliteratur beinahe ausschließlich auf heftige Ablehnung (vgl. u.a. Graf Vitzthum/GeddertSteinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 29 ff.; Hirsch/ Schmidt-Didczuhn, Ein!. Rn. 18 m.w.N.). 104 Pohlmann, a.a.O., S. 119. 105 Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikgesetz, S. 36 ff., die ausdrücklich auf diese Mehrdimensionalität hinweisen. 106 Vgl. z.B. die Förderklauseln in § I Nr. 2 GenTG; § I Nr. I AtG oder § I BWaldG (s. eingehend dazu Kraatz, Die Zweckambivalenz des Gentechnikgesetzes, s. 56 ff.). 107 Vgl. auch Amt!. Begr., S. 22.

Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefahrdung, S. 58. Ein Ausstieg aus der Gentechnik wäre dem deutschen Gesetzgeber aber schon allein aufgrund der EG-Gentechnikrichtlinien verwehrt. Diese enthalten zwar keine dem deutschen Gentechnikgesetz vergleichbare Förderklausel; sie sind jedoch konzeptionell insgesamt dichotom auf die umwelt- und sozialverträgliche Entwicklung der Gentechnik ausgerichtet. Hinzu kommt, daß sie die Existenz eines freien Warenverkehrs gentechnisch veränderter Produkte innerhalb der Gemeinschaft anstreben oder voraussetzen. 108

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4 Schenek

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jüngsten Entwicklung der Situation der Gentechnik in Deutschland darstellen. Die im internationalen Vergleich als zu rigide empfundenen Normen des deutschen Gentechnikgesetzes führten - neben anderen Gründen - zur Abwanderung der gentechnikspezifischen Forschungsaktivitäten in andere europäische Länder und insbesondere die USA. Diesem Prozeß korrespondierte eine ausgeprägte amerikanische Biotechnologie-Förderpolitik unter Präsident Bush 110. Mit strategischer Wettbewerbspolitik versuchen die USA die Weichen für eine globale Führungsrolle in der Biotechnologie zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu stellen. Die US-Politik ist entsprechend der oben dargestellten Bereiche mehrdimensional. Sie umfaßt sowohl Deregulierungs- als auch umfangreiche staatliche Fördermaßnahmen. Die Prioritätensetzung läßt sich am besten durch einen Blick auf den US-Haushalt verdeutlichen 111 • Im Jahr 1992 waren im US-Forschungsetat für die Biotechnologie Fördermittel in Höhe von 3,76 Mrd. US-$ ausgewiesen. Diese wurden 1993 auf 4,03 Mrd. US-$ erhöht. Noch nicht in jenen Zahlen enthalten ist das "Human Genome Project", für das 1992 zusätzliche 164 Mio. US-$ im Haushalt ausgewiesen sind. Zum Vergleich: In Europa betrug der Biotechnologieforschungsetat der EG, ihrer Mitgliedstaaten und der EFTA-Staaten zusammen im gleichen Zeitraum etwas mehr als 900 Mio. ECU - d.h. er erreicht alles in allem lediglich die Hälfte des amerikanischen Etats. Angesichts dieser nationalen Förderpolitiken verwundert es nicht, daß sich dies auch auf das wirtschafts- und handelspolitische Verhältnis der Staaten untereinander auswirkt. In vielen Sektoren belasten nationale Wettbewerbspolitiken das wirtschaftliche Verhältnis der Staaten zueinander und gefährden mit diesem Trend zur Politisierung die Freiheit des Welthandels ll2. Verantwortlich für die stärkere Einbindung des Staates in die Wirtschaftslenkung ist ein geändertes Verständnis der Aufgaben des modernen Staatswesens. Mit der Globalisierung der Wirtschaftsströme wandelt sich der traditionell primär auf Abwehr ausgerichtete "laissez-faire"-Staat, der ursprünglich streng von einer autonomen Gesellschaft getrennt war113 , zu einem aktiven, 110 Handelsblatt vom 10.3.1992: "Bush für ungehindertes Wachstum der Gentechnik". Bush hatte die Biotechnologie zu einer der insgesamt fünf Initiativen des Präsidenten ("Presidential Initiatives") gemacht. 111 Zahlen zit. nach einer Erhebung der EG-Kommission (vgl. Interim Report of the Biotechnology Coordination Committee, Regulatory Framework and Research Policy Effort on Biotechnology in the EC and the US, Brüssel, 16.11.1992). 112 Grewlich, a.a.O., S. 24. Ein schlagender Beweis für diese Entwicklung waren die komplexen und zähen Verhandlungen der sog. "Uruguay-Runde" zur Neuregelung des GATT. Sie zeigten deutlich, wie sehr die Handelspolitik politisiert ist und in welchem Maße hier nationale Egoismen ("Handelskrieg") zum Ausdruck gelangen. 113 Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 20 (mit Anmerkungen zur Entwicklung in England und Frankreich); Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 46 ff.

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auf Steuerung bedachten politischen Partner. Der Blickwinkel des Staates ändert sich: Aus der internen, übergeordneten Hierarchie gegenüber der eigenen Gesellschaft wird ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht, in dem der Staat als Funktionsträger zunehmend aktiv für die gesellschaftliche und gesamtökonomische Entwicklung verantwortlich ist114• Er tritt der Gesellschaft als Wohlstandsgarant weniger imperativ-hierarchisch, als vielmehr gleichgeordnet-kooperativ gegenüber. In diesem Funktionszuwachs drückt sich die Fortentwicklung des modernen Staats zum "Wohlfahrtsstaat" aus. In Phasen wirtschaftlicher Rezession wird besonders deutlich, in welch großem Ausmaß die Gesellschaft in der heutigen Zeit Aufgaben der Sozialgestaltung sowie der Verantwortlichkeit für gesellschaftlichen Wohlstand und das gesamtwirtschaftliche Wachstum auf den Staat übertragen hat 115 • Die bis dahin geltende Prämisse von der Selbststeuerungsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft wird aufgegeben 116. Die Verfassungslehre sieht in dieser staatlichen Punktionserweiterung eine Ausprägung des Sozialstaatsprinzips, welches den staatlichen Auftrag zur Wachsturnsvorsorge und globalen Wirtschaftssteuerung beinhalte 117 • Diese Veränderung läßt sich mit einer Formel Dieter Grimms 118 wie folgt zusammenfassen: In seiner Funktion orientiere sich der Staat immer stärker von retrospektiver Ordnungswahrung auf prospektive Ordnungsgestaltung. Die Funktionserweiterung hat notwendigerweise einen gewachsenen Bedarf an Koordination und Planung durch den Staat zur Folge 119 . Der politisch-planerische Entscheidungsprozeß 120 mündet regelmäßig in gestalten114

Vgl. Scharpf, PVS 1991, S. 622 ff.; GrafVitzthum, a.a.O.

Nach Graf Vitzthum (Parlament und Planung, S. 48/49) " ... liegt dieser Aufgabe letztlich die ständige Aktivität des modernen Rechtsschöpfungs- und Verwaltungsstaates zugrunde"; vgl. auch Wessels, Staat und (westeuropäische) Integration, s. 42. 116 Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 19. 115

117 V gl. u.a. Stern, Bd. I, § 21, S. 902 ff.: Zacher, HStR I, § 25 Rn. 48 ff. (52); (beide jeweils mit umfangr. bibliograph. Nachw.); Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 21 ff.; Fürst, Diversifikation staatlicher Steuerungsinstrumente, S. 292 ff.; Wahl, Staatsaufgaben im Verfassungsrecht, S. 40/41; Graf Vitzthum, a.a.O.; kritisch: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 215. Aus deutscher Sicht spiegelt sich diese staatliche Aufgabe im Wortlaut des § 1 Stabilitätsgesetz wider. 118 Grimm, Staat und Gesellschaft, S. 22. 119 Vgl. Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 48: "Wer den bewußt sozialgestaltenden Staat will, der muß auch·den planenden Staat wollen."

120 Dieser wird gerade im Technologie- und Forschungsbereich häufig durch Planungs- und Bewertungsgremien - etwa, um ein Beispiel zu nennen, im Feld der Technikfolgenabschätzung - vorbereitet (zum Begriff und seiner Entwicklung auch in Deutschland s. u.a. Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung, S. 47 ff). Auch die EG kennt die Technikfolgenabschätzung als politisches Instrument. Ver-

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de, dem Charakter nach nicht hierarchisch-imperative Maßnahmen ein. Dabei sind insbesondere Förderprogramme, Sozial- und Wirtschaftsgesetze, Einzelpläne, Steuerlasten, Investitionsanreize und mitunter auch die Informationspolitik zu nennen 121 • Dieses Instrumentarium taucht bei einer näheren Betrachtung der nationalen Biotechnologiepolitiken 122 gleichermaßen auf. Auch hier spielen Forschungsförderprogramme oder die Ausgestaltung des wirtschafts- oder patentrechtliehen Kontextes innerhalb der Industriepolitik, eine zentrale Rolle 123 • Speziell in der Bundesrepublik Deutschland findet Forschungs- und Technologieförderung in drei Ebenen statt. Zunächst ist ein Teilbereich auch hier die Schaffung und Förderung von Rahmenbedingungen. Forschungsförderung im engeren Sinn teilt sich auf in die Bereiche der institutionellen Förderung ganzer Organisationen 124 und andererseits in Projektfördermaßnahmen aufgrund individueller Anträge an Universitäten, sonstigen Forschungseinrichtungen oder in der Wirtschaft 125 •

Umwelt- und Risikovorsorge als staatliche Aufgabe Zulassung der Technik und Förderung ihrer Entwicklung bedeuten, daß der Staat für ihre Folgen die Mitverantwortung trägt 126• Er hat sich mit diesen Folgen politisch auseinanderzusetzen. Der Schutz der Gesellschaft und der schiedene EG-Forschungsprogramme beschäftigen sich mit diesen Aspekten. Zu nennen sind u.a.: FAST (Forcasting and Assessment in Science and Technology), SAST (Strategie Analysis in Science and Technology), und SPEAR (Studien zur Unterstützung der Bewertung gemeinschaftlicher Forschung). 121 Aufzählung nach Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 48 (Fn. 10). 122 Umfassende Betrachtungen der nationalen Biotechnologiepolitiken finden sich bei OTA, a.a.O., S. 147 ff.; OECD, Biotechnology and the changing Role of Govemment, S. 16 ff. 123 Der wirtschaftliche Aspekt kommt auch in der Novelle des Gentechnikgesetzes zum Ausdruck. Die Förderklausel des § 1 Nr. 2 GenTG wird um den Aspekt der wirtschaftlichen Möglichkeiten ergänzt. Diese Formulierung wurde im Gesetzgebungsverfahren vom Bundesrat mit dem Hinweis auf seine etwaige Mißverständlichkeit abgelehnt. Er befürchtete, daß es später angesichts der Formulierung eventuell zu Versuchen der Ableitung und Begründung von Subventionsansprüchen kommen könnte (s. den Beschluß des Bundesrats, BR-Drs. 357/93 vom 9.7.1993). 124 Z.B. Max-Planck-Gesellschaft; Fraunhofer-Gesellschaft oder Großforschungseinrichtungen (vgl. Ziller, Staatliche Forschungs- und Technologieförderung und die Unternehmens- und Forschungsfreiheit am Beispiel der Gentechnik, S. 147). 125 Vgl. Ziller, a.a.O., S. 149. 126 BVerfGE 53, S. 30 ff. (58) - Mülheim-Kärlich; Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 23; Murswiek, Die Verantwortung des Staates für die Risiken der Technik, S. 89 ff.; Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung, S. 73 ff.

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Umwelt vor den Risiken moderner Techniken ist darum eine in den letzten Jahren und Jahrzehnten gleichermaßen expandierende Staatsaufgabe 127 • Hierin begründet sich die zweite, zentrale politische und rechtliche Gestaltungsaufgabe des Staates im Feld der Biotechnologie128 • Risikobewältigung und die gesellschaftliche Verarbeitung der technischen Realisation sind ein klassisches Thema, welches in den letzten Jahrzehnten zunehmend Raum in der gesellschaftlichen und staatlichen Diskussion und Politik beansprucht. Wortführer der wissenschaftlichen Diskussion waren die Soziologie und die Rechtswissenschaft. Insbesondere die Soziologie beschäftigte sich intensiv mit dem Begriff des Risikos 129• Starke Kritik erfuhr die zunehmende Technisierung aus der (konservativen) Staatsrechtswissenschaft Namen wie Carl Schmitt 130, Ernst Forsthoff131 und Georg Friedrich Jünger 132 belegen diese Tradition. Im Mittelpunkt stehen insbesondere bei Forsthoff die Probleme, die durch die beständig ausgeweiteten Einflüsse der Technik auf Staat und Gesellschaft entstehen. Die technische Realisation ersetze die soziale133.

Mit der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie hatte sich immer mehr auch die Verfassungsrechtsprechung in Deutschland mit dem Risikopotential moderner Hochtechnologien auseinanderzusetzen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema sind bekannt 134 • Mit ihnen übertrug das Bundesverfassungsgericht seine im Urteil zur Fristenregelung 135 begründete Rechtsprechung zum Schutzcharakter der Grundrechte 136, die als 127 Vgl. dazu u.a. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik; Graf Vitzthum, Parlament und Planung, S. 48 ff.; Graf Vitzthum/GeddertSteinacher, Standortgefährdung, S. 23 ff.; dies., Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 12 ff.; Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung, S. 73 ff. 128 Vgl. z.B. § 1 Nr. 1 GenTG. 129 Vgl. u.a. Luhmann, Soziologie des Risikos, S. 17 ff.; Beck, Die Risikogesellschaft; Bechmann, Risiko als Schlüsselkategorie der Gesellschaftstheorie, KritV 1991, S. 218 f.; Damm, Neue Risiken und neue Rechte, ARSP 1993, S. 159 ff.; Köck, Die rechtliche Bewältigung technischer Risiken, KJ 1993, S. 125 ff. 130 Der Begriff des Politischen, S. 86. 131 Der Staat der Industriegesellschaft 132 Die Perfektion der Technik. 133 Forsthoff, Der Staat der lndustriegesellschaft, S. 31 ff. Ausführlich dazu Roßnagel, Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung, S. 43 ff. 134 BVerfGE 49, 89 ff.- Kalkar; 53, 30 ff.- Mülheim-Kärlich. 135 BVerfGE 39, 1 ff.- Fristenregelung. 136 Diese wird vom BVerfG insbesondere (aber nicht ausschließlich) aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (oftmals i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) abgeleitet (vgl. u.a. BVerfGE, a.a.O. [vorstehende Fn.]; w.N. bei Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 109 ff.).

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Elemente einer objektiven Wertordnung eine staatliche Verantwortung für das Handeln Dritter begründen 137, auf den Bereich des Umwelt- und Technikrechts. Demnach ist der Staat im Bereich der Technik zur Risikoabwehr verpflichtet, um mit geeigneten legislativen und administrativen Maßnahmen Grundrechtsgefährdungen auszuschließen 138 • Die Schutzpflicht setzt also nicht erst mit einem konkret-faßbaren Gefahrentatbestand 139 ein, sondern bedingt eine präventive Risikominimierungs- und -steuerungspjlicht140 des Staates gegenüber der Anwendung moderner Techniken. 140 Die Reichweite der staatlichen Schutzpflicht bemißt sich an den betroffenen Schutzgütern, der Art und Schwere dieser Schadensfolgen und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts. Je höher das mögliche Schadensausmaß, desto entferntere Wahrscheinlichkeiten genügen, um die staatliche Schutzpflicht zu begründen. Die Grenze ist erreicht, wenn die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausge-

137 Vgl. BVerfGE 39, I ff. - Fristenregelung; 46, 160 ff. - Schleyer; 56, 54 ff. Fluglärm; s. dazu Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 2, Rn. 67 ff.; Stern, Bd. III/ I, S. 736 ff.; Lorenz, HStR VI, § 128 Rn. 23 ff.; Pieroth/Schlink, a.a.O., Rn. 103 ff.; Klein, Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates, NJW 1989, S. 1633; Kirchhof, Kontrolle der Technik als staatliche und private Aufgabe, NVwZ 1988, S. 98; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 101 ff.; Hennes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 219. 138 BVerfGE 49, 89 ff. (141)- Kalkar: " ... Die Vorschrift [§ 7 Abs. 1, 2 AtG] nimmt insoweit, wie bereits erwähnt, ein Restrisiko in Kauf. Bei Regelungen dieser Art kann ein Verfassungsverstoß nicht schon mit dem Hinweis abgetan werden, das Risiko eines künftigen Schadens stelle nicht schon gegenwärtig einen Schaden und mithin keine Grundrechtsverletzung dar. Auch Regelungen, die im Laufe ihrer Vollziehung zu einer nicht unerheblichen Grundrechtsgefährdung führen, können selbst schon mit dem Grundgesetz in Widerspruch geraten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die grundrechtliehen Verbürgungen nicht lediglich subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sondern stellen zugleich objektivrechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben . . . dies wird am deutlichsten in Art. I Abs. 1 Satz 2 GG angesprochen, wonach es Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen." 139 Mit dem Terminus "Gefahr" ist eine Sachlage bezeichnet, die - nach klassischer Formulierung - bei ungehindertem Geschehensablauf erkennbar zu einem Schaden, d.h. zu einer Rechtsverletzung bzw. einer Minderung von Rechtsgütern führen würde (vgl. Martens, in: Drews!Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 220 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rn. 9; lpsen, VVDStRL 48 [1989], S. 186 f.).

140 Der Begriff "Risiko" bezeichnet, im Gegensatz zur Gefahr, einen theoretisch möglichen Schadenseintritt, der jedoch relativ unwahrscheinlich ist (so die Definition bei Kloepfer, Umweltrecht, § 2 Rn. 17). Zur Abgrenzung von Gefahr, Risiko und Restrisiko s.a. Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 77 ff. (83).

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schlossen werden kann 141 . Nach Auffassung des BVerfG ist Abschätzungsmaßstab hierfür die "praktische Vernunft" 142 . Verbleiben jenseits der praktischen Vernunft Ungewißheiten, so sind diese als sozialadäquate Restrisiken in Kauf zu nehmen 143. Die gesetzlich kontrollierte Zulassung gentechnischer Arbeiten bedeutet die Einschätzung des Gesetzgebers der möglichen Restrisiken als sozialadäquat Durch die primäre Ausgestaltung des Gentechnikgesetzes als Schutzgesetz144 ist ersichtlich, daß der Staat seiner Schutzverpflichtung nachkommt. Obwohl bislang ohne spezifisch gentechnische Schadensfolge, kann für den Umgang und die Anwendung der Technik dieses "Besorgnispotential" nicht mit der geforderten Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden 145 . Es verbleibt mangels genügenden empirischen Erfahrungsschatzes ein Maß an Ungewißheit, das Schutzmaßnahmen erforderlich werden läßt. Medium zur Bewältigung und Gewährleistung dieser Schutzpflicht ist das Technikrecht Es hält als Instrumentarium einen den Risiken entsprechenden Überwachungsapparat für die Technikzulassung, -anwendung und -forschung bereit. Konkret sind dies Anzeigepflichten, Genehmigungsvorbehalte und die begleitende Techniküberwachung 146 .

Gentechnik-Chancengenerierung und Gentechnik-Nutzung147 als Gewährleistungsaufgabe des Staates Die Sphäre der Grundrechte ist allerdings nicht nur aufgrund der Schutzverantwortung des Staates tangiert. Regelmäßig beanspruchen innerhalb einer, typischerweise polygonalen Interessenkonstellation die gleichermaßen grundrechtlich verbürgten Rechte der Forscher und Betreiber (Art. 5 Abs. 3, 12, 141 BVerfGE 49, 137 ff.- Ka1kar; aus dem Schrifttum Breuer, DVBI. 1978, S. 829 ff. (839 ff.); Kloepfer, DVBI. 1988, S. 311; Ossenbühl, DÖV 1982, S. 833; Rengeling, DVBI. 1988, S. 257 ff. 142 BVerfGE 49, 143 - Kalkar. 143 BVerfGE, ebd. Nach der Rechtsprechung des BVerwG können gerade im Bereich der Nukleartechnik aber auch rein theoretische Überlegungen, die zu einem "Besorgnispotential" Anlaß geben, Schutzmaßnahmen rechtfertigen (BVerwGE 72, 200 (315) - Wyhl; s. dazu Graf Vitzthum/ Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, s. 84). 144 S. § 1 Nr. l GenTG; vgl. Hirsch/Schmidt-Didczuhn, § l Rn. 10. 145 Näher dazu Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefahrdung, S. 85 ff. 146 Jpsen, VVDStRL 48 (1989), S. 180 ff. 147 Terminologisch angelehnt an Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 37.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

14 GG) eigene Geltung. Auch diese Tätigkeiten besitzen aufgrund ihrer grundrechtliehen Dimension eine Freiheitsvermutung gegenüber dem Staat148• Die Verantwortung des Staates erweist sich somit im Bereich des individuellen Grundrechtsschutzes als mehrdimensional 149• Ebenso, wie er seiner objektiven Schutzverpflichtung in genügendem Maß nachkommen muß, darf der Staat bei der Lösung seiner Gestaltungsaufgabe - unabhängig vom Gefahrenpotential der einzelnen Situation - mittels einer rechtlich-normativen Ausgestaltung oder eines entsprechenden Vollzugs nicht die pauschale Entwertung dieser auf Freiheit ausgerichteten Grundrechtspositionen herbeiführen. In dieser Verpflichtung zum Schutz der individuellen, gentechnikbejahenden Positionen drückt sich zusätzlich noch eine weitere objektive Schutzpflicht des Staates aus: Die staatliche Verpflichtung zur Generierung des naturwissenschaftlichen Chancenpotentials der Gentechnik zum Wohle der Gesellschaft und einzelner 150• Somit entfaltet selbst die objektive Schutzpflicht des Staates die der Materie anhaftende, inhärente Ambivalenz. Zusammenfassend ist festzustellen: Die staatliche Biotechnologiepolitik unterliegt auf mehreren Ebenen einem Zielkonflikt Sie hat sowohl in ambivalenter Weise ihrer Verantwortung gegenüber der ganzen Gesellschaft nachzukommen, als auch individuell einen Ausgleich zwischen Förderungsziel und Risikovorsorge zu leisten. Diese Bipolarität ist gerade im Bereich des Umwelt- und Technikrechts, in dem sich die Frage bei der Formulierung angemessener Regelungen häufig zuspitzt, nichts Seltenes 151 • 2. Die Europäisierung des Politikfeldes Biotechnologie: Historische Entwicklung, Schwerpunkte, externe und interne Motive Die Entwicklung und Förderung moderner Hochtechnologien gehört seit längerem zu einem Kernbestandteil der EG-Politik 152• Zahlreiche Namen gemeinschaftlicher Programme zur Forschungs- und Technologie-Förderung, 148 Graf Vitzthum-Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 37; Graf Vitzthum, FS Lerche, S. 347; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 90, 249 ff. 149 Graf Vitzthum!Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht, S. 37. 150 Dieser ist im deutschen Gentechnikrecht in § I Nr. 2 GenTG verkörpert (vgl. Hirsch/Schmidt-Didczuhn, § I Rn. 23). 151 Kloepfer, Umweltrecht, § I Rn. 32.

152 Zur historischen Entwicklung der Gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik s. Starbatty/Vetterlein, Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, S. 18 ff.; dies., APuZ 42 (1992), B 10-11, S. 16 ff; Oppermann, Europarecht, Rn. 1947 ff.; Oppermann/Conlan/Klose/Völker, ORDO 1987, S. 210 ff.; Narjes, FS von der Groeben, S. 268 ff.; Hellmann, HER, Rn. 53 ff.

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wie RACE (Research and Development in Advanced Communications Technologies for Europe), BRITE (Basic Research and Development in Advanced Communications Technologies for Europe), ESPRIT (European Strategie Programme for Research and Development) oder SPRINT (Strategie Programm for Innovation and Technology Transfer) 153 künden davon. Die EG-Politik hatte sich gleichermaßen mit den Schattenseiten der zunehmenden Industrialisierung und intensiven Nutzung der Erde durch den Menschen zu beschäftigen. Ein Teilbereich der Politik befaßt sich darum zunehmend mit dem Schutz vor negativen Begleiterscheinungen dieser Entwicklung. Wichtige Bezugspunkte sind auch hier die Technik und ihre Produkte, mit ihren Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Ein Bereich, der all dies verdeutlicht, ist die Biotechnologie. Im Bewußtsein ihrer strategischen Zukunftsbedeutung aber auch ihrer potentiellen Risiken formuliert die EG seit ca. 15 Jahren in diesem Bereich zunehmend eine von ihren Mitgliedstaaten abgehobene, eigenständige Biotechnologiepolitik. Erste Anfänge sind in den Jahren 1977/78 zu vermerken. Sie berühren Sicherheits- und Schutzaspekte gentechnischer Forschungsarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte die Kommission Vorschläge für eine Gemeinschaftliche Regulierung gentechnischer Anwendungen im Labor154• Bereits zwei Jahre zuvor, im Februar 1975, hatte die Konferenz von Asilomar stattgefunden155, die vor allem in den USA Bestrebungen zur Regulierung der

153 Umfassender Überblick und Fundstellennachweise bei Starbatty/Vetterlein, a.a.O., S. 152 ff. •s4 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Sicherheitsmaßnahmen gegen hypothetische Gefahren beim Umgang mit neukombinierter DNS, ABI. 1978, Nr. C 301/5; s. dazu auch die differenzierende Stellungnahme des Wirtschaftsund Sozialausschusses der Europäischen Gemeinschaften (WSA) vom 17./18.7.1979, ABI. 1979 Nr. C 247/3. •ss Auf Veranlassung der Science community, die sich zunehmend ihrer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft bewußt wurde, fand im Jahr 1975 in Asilomar/ USA eine Konferenz statt, auf der erstmals geeignete Sicherheitsregelungen beraten wurden. Am Ende der Konferenz wurde der Entwurf eines Sicherheitskonzepts für gentechnische Arbeiten im Labor vorgestellt, das in einem kombinierten Ansatz physikalisch-technische und biologische Sicherheitsvorkehrungen (Containment) in sich vereint. Weiteres Ergebnis war der Verzicht auf ein generelles Moratorium für gentechnische Arbeiten. Die Forderungen aus der Wissenschaft bildeten den Anstoß für die in den USA ein Jahr später erlassenen Guidelines der National Institutes of Health (NIH): "Guidelines for Research lnvolving Recombinant DNA Molecules" vom 7.7.1976, 41 Fed.Reg. 27911-27922. Die Guidelines gelten noch heute. Sie wurden mehrfach überarbeitet und aufgrund der gesammelten Erfahrungen dereguliert (51 Fed.Reg. 16958; 52 Fed.Reg. 31848; 53 Fed.Reg. 43410; 54 Fed.Reg. 10508; 55 Fed.Reg. 7438 sowie FedReg. vom 5.7.1994, Seperate Part IV). Zu den NIH-Guidelines s. TAB, a.a.O., S. 211.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Gentechnik ausgelöst hatte 156 • Dies war auch der Startschuß für die EG, nachdem es in Brüssel zu einer Debatte um die Regulierung der Gentechnik gekommen warm. Im Jahr 1982 mündete der Richtlinienvorschlag von 1978 schließlich in eine Empfehlung des Rates zur Erfassung gentechnischer Arbeiten im Laborm. Neben diesen Präventionsaspekten berücksichtigte die EG gleichzeitig auch den Förderkomplex im Rahmen ihrer Politik. Ab 1979 bildete das FAST-Programm 159 das Forum zur Ausarbeitung eines ersten, sämtliche Aspekte berücksichtigenden Politikkonzepts 160, welches im Oktober 1983 vom damaligen Vizepräsidenten der EG-Kommission Etienne Davignon auf der Tagung des Rates vorgestellt wurde 161 . Diesen Anfangen sind bis heute zahlreiche detaillierte, gentechnikspezifische Richtlinien und Verordnungen gefolgt. Gleichzeitig läßt sich ein beständiger Ausbau der gemeinschaftlichen Fördermittel feststellen, die in immer zahlreicheren Forschungs- und Technologieförderprogrammen umgesetzt werden. Mittlerweile hat die EG im Bereich der Biotechnologie ein dichtes politisches Netz an regulatorischen und fördernden politischen Maßnahmen geknüpft. Die EG-Biotechnologiepolitik erreicht dadurch eine horizontale Dimension, indem sie mehrere Bereiche der Gemeinschaftspolitik verbindet. Schwerpunktbildung und Ziele werden jeweils durch Strategiepapiere festgelegt, die, von der EG-Kommission ausgearbeitet, als Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament verlautbart werden. 156 Pohlmann, a.a.O., S. 38 ff. Der Forscherblick richtete sich zu jener Zeit automatisch auf die Vorgänge in den USA; die dortige Forschung war Maßstab der internationalen Entwicklungen. Es verwundert deshalb kaum, daß die hauptsächlich von USForschern besuchte Asilomar-Konferenz international einen so großen Widerhall fand (vgl. EG-Kommission, BR-Drs. 278/91, S. 28). 157

EG-Kommission, a.a.O., S. 28.

Empfehlung des Rates vom 30.6.1982 betr. die Erfassung von Arbeiten über neukombinierte Desoxyribonukleinsäure (DNS): (82/472/EWG), ABI. 1982, Nr. L 213115. Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarats hatte am 1.1.1982 Empfehlungen zur Gentechnik verabschiedet (Empfehlung 934 [1982]). 159 Forecasting and Assessment in Science and Technology, (FAST 1: 1978-1983, ABI. 1978, Nr. L 225/38; FAST li: 1983-1987, ABI. 1982, Nr. L 293/20). Zur Bedeutung der im MONITOR-Programm integrierten spezifischen Programme FAST, SAST (strategische Wirkungsanalyse von wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen) und SPEAR (Methodologie und Wirksamkeit der Bewertung von Forschung und Entwicklung) für die Gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik vgl. EG-Komm., BR-Drs. 278/91, S. 30. 158

Cantley, Biotechnology in Europe, S. 10 f. KOM(83) 672 endg./ Anhang.; Cantley/de Nettancourt, Federation of European Microbiological Societies (FEMS) Microbiology Letters 1992, S. 2. 160 161

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Eigenständiges Gewicht erlangt die Biotechnologie zudem als Teilaspekt innerhalb der EG-Rahmenprogramme für Forschung und technologische Entwicklung162. Diese stellen das konzeptionelle Zwischenglied dar zwischen den strategischen Grundsätzen, wie sie in den zuvor genannten Grundsatzpapieren niedergelegt sind, und den einzelnen Durchführungsmaßnahmen in Form spezifischer Biotechnologieprogramme. Weiter für die EG-Biotechnologiepolitik von Bedeutung sind die Aussagen im Vierten und Fünften UmweltschutzAktionsprogramm163. Hier werden die Positionen der Kommission und des Rates zu den umweltschutzpolitischen Implikationen der Biotechnologie vorgestellt; letzteres auch im Hinblick auf die Vereinbarkeil dieser Grundsätze mit ihrer industriellen Nutzung. Aus der Reihe der Strategiepapiere ragen zwei hervor, die sich aufgrund ihrer umfassenden Formulierung als Grundsatzpapiere bezeichnen lassen 164. In beiden bemüht sich die EG um einen integrativen politischen Gesamtansatz. Er soll allen tangierten Aspekten gleichermaßen gerecht werden. Es sind dies die vorstehend schon genannte Mitteilung aus dem Jahr 1983 und die Mitteilung der EG-Kommission an den Rat und das Parlament vom 19. April 1991 165. Die Auswirkungen der Biotechnologie auf die Landwirtschaft und die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Sicherheitsregelungen zum Schutz von Umwelt und Gesundheit bilden den Gegenstand zweier weiterer Kommissionsmitteilungen166. Obwohl nur Einzelaspekte berührend, beziehen sich auch diese Mitteilungen zumindest indirekt auf einen Gesamtansatz, der m 162 Vgl. Erstes Rahmenprogramm (ABI. 1983, Nr. C 208/1 [Laufzeit: 19841987]); Zweites Rahmenprogramm (ABI. 1987, Nr. L 302/1, geänd. ABI. 1988, Nr. L 89/35 [Laufzeit: 1987-1991]; s. dazu die Leitlinien KOM[86] 129 endg., Nr. 3.6-1 ["Biotechnologien und agrarwissenschaftliche Technologien"]), Drittes Rahmenprogramm (ABI. 1990, Nr. L 117/28 [Laufzeit: 1990-1994]), sowie Viertes Rahmenprogramm ([Laufzeit: 1994-1998], s. dazu den Vorschlag der Kommission an den Rat KOM[92] 406 endg. sowie die Leitlinien hierzu in den Vermerken P[92] 54 vom 30.9.1992 und P[93] 13 vom 22.4.1993 der informatorischen Aufzeichnungen im Dienste des Sprechers der EG-Kommission). 163 Das ursprünglich auf 4 Jahre Laufzeit angelegte erste Umweltschutzaktionsprogramm (Abi. 1973, Nr. C 11211) wurde zwischenzeitlich viermal verlängert (Zweites Aktionsprogramm 1977 [ 1977- 1981 ], Abi. 1977, Nr. C 13911; Drittes Aktionsprogramm 1983 [1982-1986], Abi. 1983, Nr. C 46/ I; Viertes Aktionsprogramm 1987 [ 1987- 1992], ABI. 1987, Nr. C 32811; Fünftes Aktionsprogramm 1992 [19921996], ABI. 1993, Nr. C 138/1). 164 Vgl. zuletzt aber auch EU-Komm., KOM(94) 219 endg. 165 "Förderung eines wettbewerbsorientierten Umfeldes für die industrielle Anwendung der Biotechnologie in der Gemeinschaft", BR-Drs. 278/91 vom 30.4.1991. 166 KOM(86) 221 endg.: Diskussionspapier von der Kommission vom 18.4.1986 ("Stimulierung der agrarindustriellen Entwicklung"); KOM(86) 573 endg.: Mitteilung der Kommission an den Rat vom 4.11.1986 ("Ein Gemeinschaftsrahmen für die Regelungen auf dem Gebiet der Biotechnologie").

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der Entwicklung und Stärkung der gemeinschaftlichen Biotechnologieindustrie 167 bestehen soll 168 • Historische Entwicklung

Vor dem Hintergrund dieses auf Entwicklung der Technik angelegten Gesamtkonzepts geben die Aussagen der Strategiepapiere Anlaß, überblicksartig von einer bislang dreiphasigen Entwicklung der EG-Biotechnologiepolitik zu sprechen 169• Die erste Phase (1978-1985) stand ganz im Zeichen der Verbesserung der Wettbewerbsfahigkeit der gemeinschaftlichen BiotechnologieIndustrie im internationalen Wettbewerb. Das Strategiepapier von 1983 170 setzt vorwiegend wirtschaftspolitische Akzente. Die Risiken der Technik und insbesondere Gesundheits- und Umweltschutzgesichtspunkte spielten hier allenfalls eine nachrangige Rolle 111 • Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre befand sich die Gemeinschaft, angesichts der vorherrschenden weltweiten Rezession, in einer tiefen Krise, die im Nachhinein oftmals mit dem Begriff "Eurosklerose" belegt wird 112 . Aus Sicht der EG sah man damals die Bedrohung der eigenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit insbesondere durch die technologische Überlegenheit Japans und der USA. Auch im Bereich der Biotechnologie hatten zu dieser Zeit Äußerungen des amerikanischen OTA 173 167 Mit diesem Begriff sind die jeweils betroffenen sektoralen Industrien gemeint. Wie erwähnt, gibt es einen homogenen Komplex der "Biotechnologieindustrie" nicht. 168 Vgl. etwa KOM(86) 573 endg., S. 4 ff. (s. ebd. Nr. 7, 8, 11 und 12). 169 Vgl. Graf Vitzthum/Schenek, Die Europäisierung des Gentechnikrechts, S. 53. 17 KOM(83) 672 endg. 171 Nach damaliger Auffassung der EG-Kommission sind mit der Gentechnik keine erkennbaren Risiken verbunden (so ausdrücklich KOM[83] 672 endg. / Anhang, S. 62). Die Akzentuierung spiegelt sich in der Gewichtung der einzelnen Projekte des BEP-Programms. Von insgesamt 103 Vorhaben beschäftigten sich lediglich zwei mit Fragen zu Risiken der Gentechnik. - Differenzierend dazu aber das Ergebnis einer multidisziplinären Arbeitsgruppe "Social Dimensions of Biotechnology", die sich, zusammengesetzt aus lndustrievertretem, Risikoanalytikern und einem Philosophen, im Zeitraum zwischen 1980 und 1982 im Rahmen des FAST-Programms mehrfach getroffen und fünf generelle Prinzipien ausgearbeitet hatte, wonach sich öffentliche (und gemeinschaftliche) Politik im ,,Management unserer Bio-Gesellschaft" richten sollte. Der Bericht kam zu dem Fazit, daß nach wie vor grundsätzlich eine wissenschaftliche Unsicherheit fortbesteht (vgl. KOM[83] 672 endg./ Anhang, S. 64; Mantegazzini, The Environmental Risks from Biotechnology, S. 102/103). 172 Vgl. Starbatty/Vetterlein, Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, S. 25 mit dem Hinweis auf die Begriffsprägung durch Herbert Giersch, F.A.Z. Nr. 76 vom 30.3.1985, S. 15 ff. 173 Vgl. EG-Kommission, KOM(83) 672 endg./ Anhang, S. 15, bezugnehmend auf: OTA, Commercial Biotechnology: An intemal Analysis, Washington, D.C. 1984.

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dazu geführt, daß die EG-Kommission einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit der gemeinschaftlichen Biotechnologie-Industrie konstatierte. Verstärkte Bemühungen auf Gemeinschaftsebene sollten dem entgegenwirken und die Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaftsindustrie verbessern 174 • Hierzu entwickelte die EG-Kommission ein Konzept, das intensivierte Forschung und Qualifikation der Arbeitskräfte sowie die Ausgestaltung günstiger Rahmenbedingungen für die Biotechnologieindustrie in Europa zum Ziel hatte. Sechs Schwerpunktbereiche wurden für die zukünftige Politik benannt (.,six-point strategy" 115). Im einzelnen waren dies: Forschung und Ausbildung; Konzertierung der Maßnahmen und Politiken; neue Regelungen für eine ausreichende Versorgung mit biologischen Rohstoffen für den industriellen Gebrauch; die Ausgestaltung eines eigenen gemeinschaftlichen Rechtsrahmens; ein europäischen Konzept zum Schutz des geistigen Eigentums auf dem Gebiet der Biotechnologie; Demonstrationsvorhaben. In der ersten Phase stand somit die konzeptionelle Erarbeitung und Vorbereitung der späteren EG-Biotechnologiepolitik im Vordergrund. Zur Umsetzung dieser Vorgaben waren in der Folgezeit sechs Generaldirektionen mit Aspekten der Biotechnologie befaßt176• Die Entwicklung der gesetzgebensehen Politik wurde eigens dafür von der Kommission eingerichteten, zum Teil direktoratsübergreifenden Komitees übertragen. Dabei handelt es sich zum einen um das am 2. Februar 1984 eingesetzte Biotechnology Steering Committee (BSC), unterstützt durch die sog. Cancertation Unit for Biotechnology in Europe (CUBE) und den BRIC-Ausschuß (Biotechnology Regulations Inter-service Committee). Gebildet aus Mitgliedern der DG XII (Wissenschaft und technologische Entwicklung) war CUBE für die Koordination und technische Abwicklung der Förderprogramme BAP und BRIDGE verantwortlich. Als sich im Jahr 1990 abzeichnete, daß der Fokus der EG-Politik zunehmend auch andere politische Aspekte miteinbeziehen würde, bildete die Kommission 1991 mit dem Biotechnology Coordination Committee (BCC) ein neues, direktoratsübergreifendes Koordinations-Gremium. Die Tätigkeit von BRIC 174 173

KOM(83), 672 endg. I Anhang, S. 19 ff. Vgl. Cantley, Biotechnology in Europe, S. 10; Mantegazzini, a.a.O., S. 99 f.

176 Dies waren im einzelnen: Generaldirektion (GD) III (Binnenmarkt und gewerbliche Wirtschaft); GD IV (Wettbewerb); GD VI (Landwirtschaft); GD XI (Umwelt, nukleare Sicherheit und Zivilschutz); GD XII (Wissenschaft, Forschung und Entwicklung; GD XIII (Telekommunikation, Informationsindustrie und Innovation); vgl. Mantegazzini, a.a.O., S. 101 ff.

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war demgegenüber weniger auf Koordination, als auf die Entwicklung konkreter Vorschläge ausgerichtet 177 . In der ersten Phase erschöpfte sich die Tätigkeit dieser Komitees in der Vorbereitung und Ausarbeitung der politischen Maßnahmen, d.h. vor allem des rechtlichen Rahmens, der in der zweiten Phase dann später verwirklicht werden sollte. Obwohl in diese frühe Phase die Ausarbeitung der erwähnten Empfehlung178 für gentechnische Laborarbeiten fiel, wurde die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen hauptsächlich im Bereich des Biotechnologie-Patentschutzes gesehen 179. Trotz des Umstandes, daß die Ausarbeitung eines eigenständigen EG-Gentechnikrechtsrahmens als einer der sechs Punkte ausdrücklich benannt wird, blieben die Vorschläge an dieser Stelle vage. Zu den Gesichtspunkten des Umwelt- oder Arbeitsschutzes fanden sich im Rahmen der Erörterung nur allgemein gehaltene, wenig konkrete Festlegungen 180. Die gemeinschaftliche Aufgabe wird eher im Bereich der überstaatlichen Kontrolle und Konzertierung der mitgliedstaatliehen Rechtsentwicklungen gesehen 181 . Auch hinsichtlich der sektoralen Warenregelungen und des freien Warenverkehrs wurde das zu jenem Zeitpunkt existente, sektoral strukturierte, nicht eigens auf gentechnische Anwendungen zugeschnittene Regelwerk als vorläufig ausreichend angesehen 182. Die Politik beschränkte sich somit in dieser Phase auf 177 Dem BR/C-Ausschuß waren folgende Aufgaben übertragen: (I.) Analyse und Benennung des existenten Gemeinschaftsrechts, das Einwirkungen auf die kommerzielle Anwendung der Biotechnologie hat; (2.) Überprüfung dieser Richtlinien hinsichtlich ihrer Auswirkungen für die Rekombinationsforschung; (3.) Entwurf einer Regulierungsstrategie für biotechnologische Produkte; (4.) Überprüfung des Sicherheitsstandards der gegenwärtigen Regelungen, gegebenenfalls Ausarbeitung der für notwendig erachteten Regelungen; (5.) Sicherstellung der Koheränz bei der Verbreitung des gesammelten Wissens, als Basis für Risikovorsorgemaßnahmen und zur Vermeidung von Mehrfachforschung (vgl. Mantegazzini, a.a.O., S. 102). 178 Empfehlungen nach Art. 189 Abs. 1 EWGV sind ohne bindende Wirkung. Dem Adressaten wird ein bestimmtes Verhalten lediglich nahegelegt (vgl. Daig !Schmidt, in: von der Groeben!Thiesing/Ehlermann, Art. 189 Rn. 46 ff.). 179 KOM(83) 672 endg., S. 56 ff. Trotz dieser frühzeitigen Aufmerksamkeit war es der Gemeinschaft bis heute nicht möglich, einen geeigneten rechtlichen Rahmen für den Schutz des geistigen Eigentums zu schaffen. Bemühungen zur Ausarbeitung einer Patentschutzrichtlinie haben sechs Jahre später, im Jahr 1989 zum ersten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zum Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABI. 1989, Nr. C 10 /3) geführt. Bis heute gelang es der Gemeinschaft nicht, das Rechtsetzungsverfahren abzuschließen (s. dazu den geänderten Vorschlag der Kommission, KOM (92) 589 endg., ABI. 1993, Nr. C 44/36, sowie die Position des Parlaments im dritten Bericht des Ausschusses für Recht und Bürgerrechte [Berichterstatter: Rothley] vom 5.10.1992, PE 201.664/endg.); s. im übrigen oben Fn. 22. 18 KOM(83) 672 endg., S. 62 ff. 181 KOM(83) 672 endg., S. 65. 182 KOM(83) 672 endg./ Anhang, S. 69. Hierzu werden insb. folgende Regelungen

°

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Maßnahmen fördernden oder evaluierenden Charakters. Rechtlich verbindliche, gentechnikrelevante Regelungen wurden nur vereinzelt erlassen 183• Diverse horizontale Umweltschutzregelungen entfalteten einen mittelbaren Einfluß auf die technische Anwendung der Gentechnik. Insbesondere waren dies die "Seveso-Richtlinie"184, die UVP-Richtlinie aus dem Jahr 1985 185 und die Richtlinie "über die Überwachung und Kontrolle - in der Gemeinschaft der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle" 186• Erwähnt sei abschließend, daß die oben aufgezählten Punkte (1.) und (2.) die konzeptionelle Grundlage für das am 12.3.1985 beschlossene Förderprogramm BAP 181 bildeten, welches dem Vorläuferprogramm BEP188 nachfolgend überwiegend in der zweiten Phase der gemeinschaftlichen Biotechnologiepolitik durchgeführt wurde. Die zweite Phase ( 1986- 1990) dominierte das Streben nach einem gemeinschaftsrechtlichen Sicherheitsrahmen für den Gesundheits- und Umweltschutz auf möglichst hohem Schutzniveau. Die umwelt- und technikrechtliche Risikokontrolle gewann in diesem Zeitabschnitt bei der Regulierung der Biogezählt: Richtlinien 65/65/EWG, 75/318/EWG, 75/319/EWG und 78/25/EWG (Phannazeutika); Richtlinien 81/35/EWG und 81/852/EWG (Veterinärmedizin); Richtlinie 79/831/ EWG (Gefährliche chemische Stoffe); Empfehlung 80/1089/ EWG (Nahrungsmittelzusätze); Richtlinie 82/471/EWG (Bioproteine für Tiere). 183 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Richtlinie vom 22.12.1986 ,.zur Angleichung der einzelstaatlichen Maßnahmen betr. das loverkehrbringen technologisch hochwertiger Arzneimittel, insbes. aus der Biotechnologie", ABI. 1986, Nr. L 15/38. 184 Richtlinie über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten vom 24.6.1982, (82/501/EWG), ABI. 1982, Nr. L 230/1. Die Richtlinie wurde bis heute zweimal novelliert, wobei der Anwendungsbereich ausgeweitet und die in Art. 8 enthaltene Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit neugefaßt wurden (vgl. dazu Wagner, Der technisch-industrielle Umweltnotfall im Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 89 ff.). 185 Richtlinie des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten vom 27.7.1985 (85 /337/EWG), ABI. 1985, Nr. L 175/40. 186 Richtlinie 84/631/EWG vom 6.12.1984, ABI. 1984, Nr. L 326/31 (i.V.m. der Richtlinie über giftige und gefährliche Abfälle vom 20.3.1978 [78/319/EWG], ABI. 1978, Nr. L 84/43 [s. insbes. Punkt 20 im Annex der Richtlinie, der den Anwendungsbereich der Richtlinie auf pharmazeutische Materialien erstreckt], vgl. Mantegazzini, a.a.O., S. 122). 187 "Biotechnology Action Programme" (BAP), Laufzeit 1985-1989, (851195/ EWG und 88/420/EWG), ABI. 1985, Nr. L 83/1 , und ABI. 1988, Nr. L 206/38. 188 " Biomolecular Engineering Programme" (BEP), Laufzeit 1982-1986, (81/ 1032/EWG und 83/533/EWG), ABI. 1981, Nr. L 375/1, und ABI. 1983, Nr. L 305/11.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

technologie die politische Oberhand über den Förderaspekt189. Auf der Grundlage der am 4.11.1986 veröffentlichten Kommissions-Mitteilung an den Rae 90 waren die herausragenden gesetzgeberischen Maßnahmen die Ausarbeitung und Verabschiedung der System- und der Freisetzungsrichtlinien im Jahr 1990191. Eine vergleichbare Entwicklung in Richtung auf eine Neubewertung und eventuelle Konsolidierung des sicherheitsrechtlichen Rahmens hatte sich zeitgleich innerhalb der OECD und in den USA vollzogen. Im Jahr 1986 hatte die OECD ihre .,Recombinant Safety Considerations" vorgelegt, die wenig später die Bildung des gemeinschaftlichen Gentechnikrechts im allgemeinen und die Ausarbeitung der Systemrichtlinie im besonderen inhaltlich beeinflußte192. Ebenfalls 1986 erfolgte im Rahmen eines "coordinated framework" die Revision des existierenden amerikanischen Biotechnologierechts 193 . Auch dieses ist für die bis heute fortbestehende sektorale, nahezu ausschließlich produktorientierte Struktur des amerikanischen Gentechnikrechts verantwortlich. In der dritten Phase ihrer Biotechnologiepolitik sucht die EG den Ausgleich zwischen industrie- und umweltschutzpolitischen Zielen. Grundlage bildet das im Jahr 1991 vorgestellte Strategiekonzepe 94 . Nachdem zunächst mit der System- und der Freisetzungsrichtlinie ein horizontales, rein tätigkeitsorientiertes Regelungsgefüge errichtet wurde, rücken dann wieder strukturelle, industriepolitische und erstmals auch flankierende Maßnahmen in das Blickfeld der Politikgestaltung. Katalysator des sektoralen regulatorischen Aktionismus ist zudem die Verwirklichung des Binnenmarktes für biotechnologische Produkte, der, zur Vermeidung nichttarifärer Handelshemmnisse, die Notwendigkeit zur Schaffung gemeinschaftsweiter, vereinheitlicher Produktzulassungsverlabren begründet. Die Entwicklung soll nach Auffassung der 189 Dokumentiert wird dies auch durch die bislang noch nicht erfolgte Regelung des Schutzes des geistigen Eigentums in der Biotechnologie, die ja ursprünglich sogar als eines der primären Ziele genannt worden war (s.o.). 190 KOM(86) 573 endg. 191 ABI. 1990, Nr. L 11711 (Systemrichtlinie), und ABI. 1990, Nr. L 117115 (Freisetzungsrichtlinie). 192 S. nur etwa die Äußerungen der EG-Kommission in ihrer Mitteilung aus dem Jahr 1986, KOM(86) 573 endg., S. 2 ff. Hiernach waren die Sicherheitsvorstellungen, wie sie von der OECD vorformuliert wurden, Leitbild für die Ausarbeitung der Systemrichtlinie. Dies ist nicht besonders verwunderlich, nachdem Vertreter des BRieAusschusses der EG-Kommission an der Entwicklung der OECD-Richtlinien maßgeblich mitgewirkt hatten. 193 Eingehend Shapiro, Ecology Law Quarterly 17 (1990), S. I ff. 194

BR-Drs. 278/91 vom 30.4.1991.

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Kommission soweit gehen, daß das horizontale Gentechnikrecht nur noch in den Bereichen gelten soll, die nicht durch speziellere sektorale Produktregelungen abgedeckt sind 195 • Die flankierenden Maßnahmen betreffen die mit der Gentechnik aufgeworfenen sozialen lmplikationen und Fragen der Ethik. Die in den Jahren zuvor teilweise schon aufgegriffenen Ethikfragen 196 sollen nun verstärkt und systematisch durch eigens dafür von der EG-Kommission eingesetzte Expertengremien aufgearbeitet werden. Die Arbeit aufgenommen haben bislang die Working Group on the Ethical, Social and Legal Aspects of Human Genome Analysis (WG-ESLA) sowie die Working Group on Human Embryos and Research (HER). Hinzu kommen intensive Bemühungen des EG-Parlaments in diesem Feld. Im Jahr 1992 wurde hier zum Beispiel der Bericht der STOAArbeitsgruppe (Scientific and Technological Options Assessment) "Bioethics in Europe" vorgelegt. Ziel insbesondere der Kommissionsarbeit ist es, mit diesen Maßnahmen das Image der Biotechnologie in der Gemeinschaft bei den politischen Entscheidungsträgern und in der Bevölkerung zu stärken 197 • Sie richten sich auf die Förderung der Akzeptanz der Biotechnologie als konstituierendes Element des Fortschritts. Folgende Bereiche sind sonach bis heute schwerpunktmäßig Gegenstand der EG-Biotechnologiepolitik: aktive Industriepolitik (Forschungs- und Technologiepolitik, Binnenmarktharmonisierung); 195 EG-Kommission, a.a.O., S. 16 ff. Grundlage dieser Position ist die schon im Rechtsetzungsverfahren umstrittene Klausel des Art. 10 Abs. 2 der Freisetzungsrichtlinie. 196 Früher schon hatte sich die EG auch außerhalb der schon genannten Aktivitäten im FAST-Programm mit sozialen und ethischen Aspekten der Gentechnik beschäftigt. So hatte am 14./15.5.1981 der Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA) in Brüssel ein gesamteuropäisches Kolloquium ausgerichtet, bei dem die Gentechnik umfassend, unter Einbezug ethischer Aspekte, diskutiert wurde (vgl. Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften: "Gentechnologie - Sicherheitsaspekte beim Umgang mit neukombinierter DNS" [Kolloquium vom 14./15. Mai 1981 in Brüssel), Brüssel 1981. Auch die von der EG gegründete Europäische Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (European Foundation for the lmprovement of Living and Working Conditions) hatte im Rahmen verschiedener Publikationen die Biotechnologie mit ihren Auswirkungen auf die natürliche und soziale Umwelt zum Thema gemacht (vgl. European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions u.a. "The Impact of Biotechnology on the Environment" [1987); dies.!Yoxen/Di Martino, "Biotechnology in Future Society. Scenarios and Options for Europe" [1989); dies., "Scenarios for Biotechnology in Europe: A research Agenda" ( 1990); dies., "Public Attitudes to Genetic Engineering: Some European perspectives" [1993)). 197 EG-Kommission, a.a.O., S. 19.

5 Schenek

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

- sozialregulative und genuine Schutzpolitik 198 (Umwelt-, Gesundheits-, Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz); - sonstige flankierende Maßnahmen.

Die genannten Bereichen sind interdependent; die einzelnen Maßnahmen entfalten zwangsläufig ambivalente Wirkungen 199• Die Zuordnung ist darum nur als Anhalt zu verstehen. In diesem Politikspektrum gelangt der Querschnittscharakter der Biotechnologie, mit der Gentechnik als primärem Regelungsgegenstand, auch innerhalb der EG-Politik zum Ausdruck. Motive und Zwecke der EG-Biotechnologiepolitik

Wie im historischen Entwicklungsprozeß schon aufgezeigt, entwickelte sich die gemeinschaftliche Biotechnologiepolitik in ihrer inhaltlichen Ausrichtung ("policies") nicht geradlinig. Industrie- und wettbewerbspolitische Interessen suchen in ihr den politischen Ausgleich zu dem auch von der EG empfundenen Bedürfnis nach Schutz menschlicher Gesundheit und Umwelt. Zum Ausdruck gelangt dieses Spannungsverhältnis innerhalb der EG-Förderpolitik und dem umwelt- und technikrechtlichen Regelungsgefüge der Gemeinschaft. Eine Bewertung hat immer auch den politischen Kontext im Auge zu behalten. Wie kaum eine andere Spitzentechnologie ist die Biotechnologie, mit der Gentechnik als ihrem modernen Element, in ihrer gesellschaftspolitischen Brisanz eine politische Technologie. Dieses Phänomen wird in unterschiedlicher Weise auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutlich. Politikgestaltung bedeutet hier - mehr noch als auf Gemeinschaftsebene - die politische Rezeption und Verarbeitung pluralistischer Meinungsbildungsprozesse, die durch gesellschaftliche Interessengruppen und politische Parteien geprägt werden. Als Faktor kommt ein unterschiedlich stark entwickeltes ökologisches Bewußtsein gegenüber der Gentechnik hinzu. 198 Die Aufgabe der Sozialregulierung ist, negativen Phänomenen funktionellen Marktversagens entgegenzusteuern, die sich in externalen Bereichen der wirtschaftlichen Betätigung (öffentliche Güter) niederschlagen. Konkret handelt es sich dabei in der Regel um negative Effekte des Wirtschaftswachstums und Konsumzuwachses in Form von Umweltzerstörung, Verbraucherschädigung und Risikoerhöhung. Zum Begriff Reagan, Regulation, S. 85 ff.; Reich, Staatliche Regulierung, S. 14 ff.; Joerges, Markt ohne Staat? Die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft und die regulative Politik, S. 251; Majone, JCMS 1993, S. 156. 199 Es handelt sich um eine immanente Interessenambivalenz. Beispielhaft zu erwähnen sind die Produktzulassungsregelungen im Arzneirnittelsektor. Gemeinschaftseigene Regelungen dienen hier der Herbeiführung des freien Warenverkehrs, d.h. der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ebenso, wie sie im Rahmen der Produktsicherheit und präventiven Produktkontrolle Verbraucherschutzgesichtspunkte gewährleisten sollen (vgl. Reich, Europäisches Verbraucherschutzrecht, S. 325 ff.).

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Die Diskussionen in den Mitgliedstaaten weichen darum, als Resultanten dieses gesellschaftlichen Diskurses, in ihrer nationalen Akzentuierung stark voneinander ab200• Im Ergebnis führte dies frühzeitig, noch im Vorfeld der gemeinschaftlichen Gentechnikrichtlinien, in Dänemark und in der Bundesrepublik Deutschland zur Ausbildung eher restriktiv formulierter gesetzlicher Zulassungsvoraussetzungen, während in anderen EG-Mitgliedstaaten verbindliche Regelungen überhaupt fehlten. Angesichts dieser mitgliedstaatliehen Heterogenität ist von Bedeutung, wo im Vergleich dazu die Akzentuierungen der EG liegen. Dies gilt umso mehr, als der wenig transparente politische Willensbildungsprozeß in der EG nur mittelbar durch die Öffentlichkeit beeinflußbar ist, die Vermittlung nationaler Positionen bislang vorwiegend im Ministerrat und in den Beratungsgremien der Kommission erfolgte. Wie schlägt sich dies in der EG-Politik nieder? Fällt die gentechnikspezifische Spannungslage hier nicht so sehr ins Gewicht, können sich in dieser Konstellation Umweltinteressen überhaupt nachhaltig artikulieren? Bei dem im Umweltschutz durch die EG bislang praktizierten hierarchischen Politik-Schema des top-down201 , welches die programmatisch niedergelegten Aussagen der Umweltschutz-Aktionsprogramme durch den Erlaß verbindlicher Rechtsvorschriften umzusetzen sucht, schlagen sich diese Willensbildungsprozesse unmittelbar in den Rechtsvorschriften nieder. Im Biotechnologiebereich sind dies die System- und die Freisetzungsrichtlinien. Ihren rechtspolitischen Hintergrund und Gesamtkontext gilt es deshalb zunächst einmal zu erhellen, um ein notwendiges Maß für das spätere Verständnis der einzelnen Norm zu gewinnen. Zu einem erheblichen Teil ist die Biotechnologiepolitik der EG das Resultat externer Entwicklungen. Dies gilt für ihre industriepolitische wie auch für ihre umweltschutzpolitische Seite. Movens in der Genese der EG-Biotechnologiepolitik war die Erkenntnis der Gemeinschaftsorgane von den aufgezeigten grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der immer existenzielleren Bedeutung des präventiven Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt. Die EG-Politik ist überwiegend ein Transfer der staatlichen industriepolitischen Axiome auf die Gemeinschaftsebene und deren konzeptionelle Verbindung mit gemeinschaftseigenen Besonderheiten, wie etwa den durch die EG angenommenen Größen-, Koordinations- und Synergievorteilen supranationaler Forschungs-, Technologieund Umweltschutzpolitik202• Die EG-Biotechnologiepolitik ist im Ergebnis Vgl. zum Spektrum Cantley, Biotechnology in Europe, S. 9. EG-eigene Terminologie, dazu Fünftes Umweltschutz-Aktionsprogramm, a.a.O., S. 17. 202 S. dazu die differenzierende Analyse von Starbatty/Vetterlein, a.a.O ., S. 121 ff. (147 ff.). 200 201

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

das Substrat sowohl industriepolitischer als auch umweltschutzpolitischer Motive203 • Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der gemeinschaftsweiten Industrien ist seit langem ein vorrangiger Faktor in der Entwicklung der gemeinschaftlichen industriepolitischen Aktivitäten204 • Nach Auffassung der EGKommission ist nur eine wettbewerbsfaltige Industrie in der Lage, die Position der Gemeinschaft in der Weltwirtschaft zu erhalten205 . Maßstab und Gradmesser waren (und sind bis heute206) auch das Niveau der gemeinschaftlichen Wissenschaft und Forschung in der Entwicklung moderner Technologien und die industrielle Nutzung der Erkenntnisse. Die bevorzugte Entwicklung moderner Technologien, insbesondere der Schlüsseltechnologien, ist nach Auffassung der EG einer der Schlüssel für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaftsindustrie und die damit verbundene Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, eines der grundlegenden Ziele der Gemeinschaft207 • Diese Grundhaltung dokumentiert seit 1987 Art. 130f EWGV. In seinem Absatz 1 formuliert er jenes Ziel, in den Absätzen 2 und 3 deren politische Verwirklichung. Zu seiner Erreichung hat die Gemeinschaft frühzeitig eine eigenständige Industriepolitik entwickeie08 • In verschiedenen Sektoren soll der für notwendig erachtete Strukturwandel gefördert werden. Die Politik zielt auf die Förderung des technischen Fortschritts209 • Es 203 Zum industriepolitischen Aspekt s. EG-Kommission, a.a.O., S. 2 ff. Zum weltschutzpolitischen Aspekt vgl. Viertes Umweltschutz-Aktionsprogramm der ABI. 1987, C 328/1. 204 Vgl. etwa schon im Jahr 1970: EG-Kommission, Die Industriepolitik der meinschaft. Memorandum der Kommission an den Rat, Brüssel 1970; Narjes, FS der Groeben, S. 267 ff.

umEG,

Gevon

203 So die EG-Kommission in ihrem 1990 vorgestellten industriepolitischen Gemeinschaftskonzept "Industriepolitik in einem offenen und wettbewerbsorientierten Umfeld: Ansätze für ein Gemeinschaftskonzept" (KOM[90] 565 = Beilage 3/91 Bull. EG, S. 1-25); dazu Frees, EuR 1991, S. 281 ff. 206 Vgl. u.a. EG-Kommission, SEK(92) 682 endg. 207 S. dazu Narjes, FS von der Groeben, S. 269. Primärrechtlich läßt sich dies ableiten aus dem zweiten Erwägungsgrund zur Präambel des EWG-Vertrags sowie Art. 2 EWGV. In ihrem Strategiepapier für die zukünftige Ausrichtung der gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik stuft die Kommission die gemeinschaftliche Wettbewerbsfähigkeit als einen der drei großen vorrangigen Tätigkeitsbereiche der EG ein (vgl. EG-Kommission, Beil. 2/92- Bull. EG, S. 7, 10). 208 Vgl. Hellmann, HER, Rn. 9 ff.; Starbatty/Vetterlein, aaO., S. 18 ff. ; dies., APuZ 42 (1992), B 10-11, S. 16 ff.; Vetterlein, List Forum, S. 206 f. ; Narjes, FS von der Groeben, S. 268 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 828 ff. (834-836). 209 Die andere Zielrichtung der EG-Industriepolitik - vorliegend nicht relevant beschäftigt sich mit stagnierenden, oftmals krisengeschüttelten Wirtschaftsbereichen (z.B. Stahl- oder Werftenindustrie); vgl. Mestmäcker, FS von der Groeben, S. 29 f.

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läßt sich festhalten, daß die EG somit auch im Bereich der Biotechnologie eine ausgeprägte Standortpolitik betreibt. Elemente sind eine Forschungs- und Technologiepolitik i.e.S., die im wesentlichen vorwettbewerbliehe Forschungsförderung zum Gegenstand hat und eine allgemeine Strukturpolitik, mit dem Binnenmarktprojekt als ihrem bekanntesten Teil210• Angesichts ihres kongruenten Ziels lassen sich beide Teilbereiche auch in der EG-Politik vielfach nur schwer oder gar nicht auseinanderdividieren211 • Beweggrund der Forschungs- und Technologiepolitik der EG ist somit der Erhalt und Ausbau des Technologieniveaus der gemeinschaftlichen Industrie. Primärer 12 Anlaß sind die weltwirtschaftliehen Veränderungen im Technologie- und internationalen Wettbewerbsgefüge der Staaten. Hierzu entwickelte die Gemeinschaft als Instrument seit den frühen 60er Jahren eine eigenständige Forschungs- und Technologiepolitik213 • Den Durchbruch markierte die Beschlußfassung der Staats- und Regierungschefs auf deren Pariser Gipfelkonferenz im Jahr 1972 und die Entschließung des Rates über eine gemeinsame Industriepolitik ein Jahr später14• Hier wurden die Basis für die spätere Forschungs- und Technologiepolitik der Gemeinschaft gelegt215 • Es herrschte Konsens über die industriepolitischen Notwendigkeiten zur Koordinierung der mitgliedstaatliehen Politiken und über die Durchführung gemeinsamer Aktionen. Mehrjährige Rahmenprogramme und eine große Zahl von Förderprogrammen dokumentieren die danach ständig gestiegene Bedeutung der Forschungs- und Entwicklungspolitik in der Gemeinschafe 16• Seit Mitte der 80er S. Art. 130f Abs. 2 EWGV. Vgl. auch EG-Kommission, Beil. 3/91 - Bull. EG, 16. 211 Die Verschränkung kommt auch in Art. 130f Abs. 3 EWGV zum Ausdruck. 212 Neben dem überwiegend außengerichteten technologiepolitischen Motiv der internationalen Wettbewerbsflihigkeit kommt als weiterer, bislang allerdings nachrangiger Grund die Erzielung technologischer Kohärenz in der Gemeinschaft hinzu (sog. "binnengerichtete" europäische Technologiepolitik, vgl. dazu Starbatty/Vetterlein, EA 1989, s. 145 ff.). 213 Narjes, FS von der Groeben, S. 269; Glaesner, in: Grabitz, vor Art. 130f Rn. 3 ff.; vgl. dazu auch die Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 18.10.1966 (ABI. vom 5.11.1966) und vom 27.11.1969 (ABI. 1969, Nr. C 307 /6). 214 Entschließung des Rates über eine gemeinsame Industriepolitik vom 17.12.1973, ABI. 1974, Nr. C 117 I 1; vgl. dazu Hellmann, HER, Rn. 53 ff. 215 Vgl. Glaesner, in: Grabitz, vor Art. 130f Rn. 3. 216 Hellmann, HER, Rn. 53 ff. Dokumentiert wird der Bedeutungszuwachs auch durch die Aufstockung der Mittel. Der Anteil des Forschungsetats am Gesamthaushalt der Gemeinschaft stieg von 2,6% im Jahr 1988 auf 3,8% im Jahr 1992. 1993 erhöhte sich der Anteil noch einmal auf 4% (vgl. Informatorische Aufzeichnungen der EGKommission vom 8.4.1992 ["Die Forschung nach Maastricht - Bilanz und Strategie"], P-20, sowie vom 22.4.1993 ["Forschungspolitik im Dienste des Wachstums"], P-13).

s.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Jahre tituliert die EG diese Entwicklung als "Europäische Technologiegemeinschaft"217. Ihre primärrechtliche Verankerung erhielt sie allerdings erst 1987 im Zuge der Vertragsrevision durch die EEA mit dem neu in den EWG-Vertrag eingefügten Titel VI (,,Forschung und technologische Entwicklung"). Die institutionelle Verankerung der gemeinschaftlichen Industriepolitik wird fortgesetzt durch das Maastrichter Vertragswerk. Zu den neuformulierten Bestimmungen im nunmehrigen Titel XV kommen eine Reihe anderer Bestimmungen hinzu, die industriepolitischen Charakter haben218 • Seitens der EG wird diese expansive Entwicklung mit einer neuen, staatenübergreifenden Problemqualität begründet219• Nach der Analyse der genannten weltwirtschaftliehen Veränderungen, mit ihrer Tendenz zu transnationalen Strukturen, und der ebenfalls regelmäßig wiederkehrend diagnostizierten nachteiligen Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaftsindustrien 220 basiert das Argument für eine gemeinschaftliche Forschungs- und Technologiepolitik darauf, daß die supranationale Ebene Effizienz- und Synergievorteile, eben durch eine besser koordinierende Gemeinschaftspolitik, herbeiführen könne221 • Als Nachteile nationaler Politik werden insbesondere die beschränkte Handlungsfähigkeit mitsamt der zur Verfügung stehenden limitierten nationalen Ressourcen hervorgehoben. Gemeinschaftliche Koordination könne dem entgegenwirken, indem ein gemeinsamer Markt eine größere gemeinschaftsweite Nachfrage als "europäischen Mehrwert" hervorbringe222, nationaler effizienzmindernder Zersplitterung also entgegenwirke. Doppelforschungen und -entwicklungen sowie die damit bewirkte Ressourcenvergeudung würden vermieden. Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit sei eine transnationale europäische Dimension auch in der Zusammenarbeit und der Mobilität der Arbeitskräfte notwendig. Letztlich stellt diese gemeinschaftsweite Dimension nach Auffassung der Kommission eine integrationspolitische Notwendigkeit dar: Nur wirtschaftliche Stärke bringe den Integrationsprozeß voran223 •

217 S. dazu das Memorandum der EG-Kommission "Towards a European Technology Community" (KOM[85] 350 final) oder, zum anderen die Leitlinien zum Zweiten F&E-Rahmenprogramms der Gemeinschaft (KOM[86] 129 endg.): ,,Die Wissenschafts- und Technologiegemeinschaft". 218

XIII).

Transeuropäische Netze (Titel XII) sowie insbesondere: Industriepolitik (Titel

Vgl. Narjes, FS von der Groeben, S. 268 f. Vgl. zum Beispiel EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 2/1992, S. 10 ff. 221 S. dazu und zum folgenden die Aussagen der EG-Kommission in KOM(85) 350 final, S. 2, sowie KOM(86) 129 endg., S. 2. 222 Vgl. dazu auch den Cecchini-Bericht "Europa '92: Der Vorteil des Binnenmarktes". 223 EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 2/1992, S. 7. 219 220

II. Biotechnologie als Politikfeld

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Die externen Faktoren werden somit als Bedingungen für den Fortgang der funktionalen Integration dargestellt. Ihm müsse sich die Gemeinschaftspolitik stellen. Argumentativ ähnelt dieser Ansatz der politikwissenschaftlichen Theorie, die von Wessels224 als ,,Ebenendilemma" oder als "selbstinduzierte Erosion des geschlossenen parlamentarischen Verfassungsstaates" bezeichnet wird. Jeder expansiv wachsende Wohlfahrts- und Dienstleistungsstaat, der für das materielle Wohlergehen seiner Bürger verantwortlich gemacht wird, beziehe aus diesem materiellen Wohlergehen seiner Bürger einen Großteil seiner politischen Stabilität: Legitimation aus der Leistung. Aus dieser "ökonomischen Legitimität" begründe sich gleichzeitig aber auch die Tendenz zum "offenen Staat"225 • Die Staatswesen würden von ihren Bürgern an einem Leistungsstandard gemessen, der mit nationalen Kapazitäten allein immer weniger erreichbar erscheint. Der einzelne Staat sei dadurch zur internationalen Zusammenarbeit gezwungen, wolle er nicht politische Instabilität risikieren: überstaatliche Bedingtheit des Staates226 • Es läßt sich, so viel ist sicher, eine Wechselwirkung zwischen der Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat und der Entstaatlichung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit begründen - wirtschaftliche Leistungsfaltigkeil bedeutet zunehmende politische Öffnung und transnationale lnterdependenzen 227 • Der funktionale Integrationsansatz der EG und das "wohlfahrtsstaatlich induzierte Ebenendilemma" zeigen sich damit komplementär, der nationale Drang zu einer stabilitätsfördernden Politik kommt der supranationalen Integration entgegen. Externe Motive verbinden sich mit internen, gemeinschaftsspezifischen Integrationsmotiven. Diese mit ihrer Lenkungsintention zum Interventionismus und Zentralismus neigende Gemeinschaftspolitik hat nicht nur Zuspruch gefunden. Unterschiedliche Standpunkte ergeben sich aus den traditionellen, zum Teil diametralen Vorstellungen einzelner Mitgliedstaaten über die Notwendigkeit wirtschaftspolitischer Interventionsmaßnahmen des Staates - pointiert: Die französische "Planifikation" trifft auf deutsche ordoliberale Vorstellungen228 •

Ders., Staat und (westeuropäische) Integration, S. 42. Ders., a.a.O., S. 42. 226 Vgl. von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965: Überschrift zu Kapitel VII; s. dazu auch Schwarze, Die überstaatliche Bedingtheit des Staates, in: Häberle I Schwarze I Graf Vitzthum, Die überstaatliche Bedingtheit des Staates, S. 39 ff. 227 Wessels, a.a.O., S. 42. Zum Begriffsinhalt des Terminus "Interdependenzen" s. Kahler-Koch, Interdependenz, S. 110 ff. 228 An dieser Stelle ist freilich zu betonen, daß sich die Standpunkte in den letzten Jahren pragmatisch immer mehr angenähert haben. Diese prinzipielle Gegenüberstellung spiegelt darum mittlerweile immer weniger die realen politischen Verhältnisse wider (vgl. StarbattyiVetterlein, a.a.O., S. 15 ff.). 224

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Der postulierte supranationale Problemlösungsmehrwert wird aber nicht nur in der praktischen Politik, sondern auch in der politologischen und ökonomischen Fachdiskussion zusehens in Frage gestellt. Dies offenbarte sich nicht zuletzt auch in der Diskussion um den Unionsvertrag von Maastricht. Im Bereich der Politikwissenschaft ist insbesondere die von Scharpf verfochtene "Theorie der Politikverflechtung" anzuführen229 • Jener erkennt institutionell bedingte Problemlösungsdefizite bei der Verlagerung von Entscheidungszuständigkeiten auf die Gemeinschaftsebene. Diese Verlagerung führe nicht zu dem erhofften Integrationsfortschritt durch spillover-Effekte. Verantwortlich seien das noch nicht überwundene, nach wie vor existente, mit den Kompetenzerweiterungen zusätzlich verstärkte, institutionelle Eigeninteresse der Nationalstaaten, das bei der Einflußnahme auf die EG-Entscheidungsprozesse zum Ausdruck gelange, sowie die institutionell veranlagte, politische Priorität von Sachkompromissen, mit inhärenter Neigung zu ineffizienten und problemunangemessenen Entscheidungen. Diese Probleme stehen nach Auffassung von Fritz W. Scharpf institutionellen Reformen entgegen. Institutionelle Selbstblockaden seien die Folge, welche der Lösung dieser Probleme zusätzlich entgegenwirke230. In der ökonomischen Diskussion erfährt die Zentralisierungstendenz gleichfalls Kritik. Diese wendet sich, neben der Frage nach den ökonomischen Notwendigkeiten und den Gefahren einer Wirtschafts- und Währungsunion, vor allem gegen die Ausweitung der strukturpolitischen Kompetenzen der EG. Inhaltlich handelt es sich um die ökonomische Ausprägung der mit Integrationszuwachs und Zentralisierung eng verbundenen Subsidiaritätsdebatte. Sie vollzieht sich im Rahmen der "Theorie des fiskalischen Föderalismus"231. Sie bildet die ökonomische Basis für das Subsidiaritätsprinzip. Sie besagt in allgemeiner Definition, "daß eine Kompetenzverlagerung von einer untergeordneten auf eine übergeordnete politische Ebene stets zu einer Vernachlässigung individueller Präferenzen führt und daher nur dann ökonomischen Effizienzkriterien genügt, wenn hierdurch Effizienzgewinne realisiert werden, die die Wohlfahrtsverluste infolge der Zentralisierung überkompensieren"232. Die Tragfähigkeit der Argumente dieser Politik wird auf der Vgl. dazu ders., PVS 26 (1985), S. 319 ff. (334 ff.). Eingehend Scharpf, a.a.O. 231 Dazu u.a. Stehn, Theorie des fiskalischen Föderalismus, S. 33 ff. 232 So die Definition von Stehn, a.a.O., S. 36. Die Theorie bezieht sich allein auf die Zuteilung solcher Aufgaben, die nicht effizienter auf privater Ebene erreichbar sind. Sie versucht, eine theoretische Begründung für die ökonomische Abwägung des optimalen Zentralisierungsgrades zu finden. Ansatzpunkt ist die Frage nach der Finanzierungskompetenz, d.h. wie die Regelung der Kompetenzen bei der Aufbringung der öffentlichen Mittel im einzelnen ausgestaltet werden soll. Die Bereitstellung fi229

230

II. Biotechnologie als Politikfeld

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Grundlage dieser Theorie in Frage gestellt und Ressourcenfehlleitung, Konzentrationsförderung bei Bevorzugung großer Unternehmen sowie handelspolitischer Protektionismus befürchtet233 • Aus juristischer Sicht verbindet sich dies mit der Frage, inwieweit diese Politik Rückhalt in einer entsprechend gestalteten Wirtschaftsverfassung der EG finden kann. Unterliegen die Zielbestimmungen der Römischen Verträge eher dem Verdikt der marktwirtschaftliehen Neutralität? Das würde bedeuten, daß der EWG-Vertrag einem Trend zu wirtschaftspolitischem Interventionismus zumindest nicht entscheidend entgegenstehen würde, oder aber doch, anstatt dessen, die Wertvorstellungen eher marktwirtschaftlich-freiheitlich geprägt sind. Im Ergebnis dürfte die wohl h.M. eher zu der letzteren Meinung tendieren 234 • Mit der Einfügung der Art. 130f ff. EWGV und dem neuen Art. 130 EG-Vertrag (Titel XIII: lndustriepolitik) sind mittlerweile allerdings die Weichen in Richtung auf eine in Maßen interventionistische Politik gestellt. Die EG-Forschungs-und Technologiepolitik trifft aber auch auf Vorbehalte, die bei der politischen Instrumentalisierung der Forschung durch die EG ansetzen und das Fehlen genuin Wissenschafts- und forschungspolitischer Aspekte bemängeln235 • Die hier zunächst allgemein erörterten Beweggründe für eine gemeinschaftliche Forschungs- und Technologiepolitik lassen sich auf den Sektor der Biotechnologie übertragen. Auch hier waren und sind es bis heute vorwiegend externe Faktoren, der Erhalt und die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die die Bildung der industriepolitischen Seite der EGBiotechnologiepolitik bewirkt haben. Bestand die Diagnose am Anfang noch nanzieller Mittel in optimaler Höhe ist danach nur dann zu erwarten, wenn der Kreis der von der öffentlichen Leistung Begünstigten mit denjenigen übereinstimmt, die zur Finanzierung herangezogen werden (Prinzip der fiskalischen Äquivalenz). Dezentralisierung von Aufgaben führt im Prinzip danach zu einer fiskalischen Äquivalenz von Ausgaben und Steuereinnahmen (vgl. Stehn, a.a.O., S. 37, mit dem Verweis auf frühe, ähnliche Aussagen von Alexander Hamilton, lohn Jay und James Madison aus dem Jahre 1787 in den "Federalist Papers", wonach ein föderatives Regierungssystem in der Lage sei, das von Hobbes im Jahr 1651 angesprochene Problem des "Constraining the Leviathan" zu lösen). 233 Vgl. Streit/Voigt, Die Handelspolitik der Europäischen Gemeinschaft aus weltwirtschaftlicher Perspektive, S. 177 f.; Bletschacher I Klodt, Strategische Handels- und lndustriepolitik, S. 171 ff.; differenzierend Starbatty/Vetterlein, a.a.O., S. 149 ff.; Siebert, Die Weltwirtschaft 1992, S. 412 ff. 234 Frees, EuR 1991, S. 286; Mestmäcker, FS von der Groeben, S. 16 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 807; a.A. Verloren van Themaat, FS von der Groeben, S. 428, der auf eine entsprechende EuGH-Rechtssprechung verweist. 235 Zacher, FS Jahr, S. 213.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

aus Strukturschwäche im internationalen Vergleich236, so werden die vorrangigen Biotechnologiesektoren der Chemie- und Pharma-Industrie seitens der EG nunmehr, bei allgemein sinkender Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Gemeinschaftsindustrien237 , zu den international wettbewerbsstarken Industriezweigen gerechnet238. So hält die EG ein industriepolitisches Konzept in diesem Sektor für weiterhin unverzichtbar39. Insofern steht heute auf dem industriepolitischen Programm der EG, formuliert im Strategiekonzept aus dem Jahr 1991 240, die Sicherung und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfabigkeit der gemeinschaftlichen Biotechnologieindustrien. Angestrebt wird eine internationale Führungsposition241. Notwendig ist hierfür, nach Auffassung der Kommission242 , ein hohes wissenschaftliches Niveau, technologische Führung und eine sachgerechte Sozialpolitik243. Zwei weitere Faktoren werden zusätzlich als besonders wichtig benannt244 : die internationalen Absatzstrategien der Unternehmen und die Rechte am geistigen Eigentum. Es findet somit seitens der Kommission ein Transfer der bereits genannten staatlichen industriepolitischen Axiome auf die Gemeinschaftsebene statt245. Ihre eigene Aufgabe sieht die Gemeinschaft im 236 EG-Kommission, KOM(83) 672 endg./ Anhang, S. 15; ebenso EG-Komission, KOM(86)129 endg., Nr. 3.6-1. 237 EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 2/1992, S. 10 f. Negativstes Beispiel ist die Mikroelektronik. 238 EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 3/1991, S. 5/6, sowie dies., Bull. EG, Beil. 2/1992, S. 14. Etwas skeptischer fallt allerdings die Analyse im Bereich des Humankapitals aus, d.h. des Forschungspersonals und des wissenschaftlichen Nachwuchses. Hier wird ein unzureichendes Angebot und zu geringer Nachwuchs konstatiert (vgl. EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 2/1992, S. 11). 239 EG-Kommission, Bull. EG, Beil. 3/1991, S. 5/6. 240 BR-Drs. 278/91 vom 30.4.1991. 241 EG-Kommission, BR-Drs. 278/91, S. 2 ff. 242 Dazu und zum folgenden EG-Kommission, a.a.O. 243 Explizit werden an dieser Stelle Ausbildung und Humanressourcen genannt (EGKommission, a.a.O.). 244 Die für die internationale Wettbewerbsfähigkeit allgemein entscheidenden Determinanten sind nach Auffassung der Kommission: (1.) Kapital und steuerliche Anreize für Unternehmen; (2.) staatliche Gelder für Grundlagenforschung und angewandte Forschung; (3.) Fachkräfteangebot und Fachausbildung; (4.) rechtlicher Rahmen; (5.) Schutz des geistigen Eigentums; (6.) Beziehungen zwischen Hochschule und Wirtschaft; (7.) Kartellrecht; (8.) internationaler Technologietransfer, Investitionen und Außenhandel; (9.) staatliche Ziele im Bereich der Biotechnologie und (10.) öffentliche Meinung und Wahlfreiheit des Verbrauchers (EG-Kommission, a.a.O.). 245 EG-Kommission, a.a.O. Ein Nachteil der gemeinschaftlichen biotechnologiebezogenen Industriezweige wird auch 1991 noch immer in der mangelnden Ausgestaltung des Patentschutzes für biotechnologische Forschungsergebnisse gesehen. Nach

II. Biotechnologie als Politikfeld

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Bereich der gemeinschaftsweiten Gestaltung günstiger Rahmenbedingungen für die Entfaltung der biotechnologiebezogenen Industrien in freiem Wettbewerb. Hierbei bezieht sich die Kommission auf Grundsatzpositionen, wie sie sie zuvor schon in ihrem allgemeinen industriepolitischen Strategiepapier formuliert hatte246• Die EG-Biotechnologiepolitik ist mithin zu einem großen Teil aktiv gestaltende lndustriepolitik247 • Bei der Fixierung auf die internationale Stärke der gemeinschaftlichen Biotechnologieindustrie im Weltwettbewerb lassen sich keine EG-Positionen finden, die einen primär binnengerichteten Charakter hätten. Der Ausgleich des gemeinschaftseigenen Wohlstandsgefälles, das Streben nach innerer Kohärenz ist bislang kein bestimmendes Kriterium in der EG-Biotechnologiepolitik. Allenfalls in der Fortsetzung des generellen Wohlstandsmotives, welches, wie dargestellt, auch für die Biotechnologiepolitik wichtigste Determinante ist, und den mittelbaren Auswirkungen des erzielten gesellschaftlichen Wohlstands könnte man ein indirektes Motiv erkennen. Keinesfalls erfolgt die EG-Biotechnologiepolitik jedoch unmittelbar zum Abbau der Binnenunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in der Gemeinschaft. Die Erzielung der Gemeinschaftsdimension durch Binnenmarktpolitik oder transnationalen Forschungsprojekte zielt nicht auf das Erreichen innerer Kohärenz, sondern auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie248 • Keinesfalls erschöpft sich die EG-Biotechnologiepolitik jedoch in ihrer industrie-, forschungs- und technologiepolitischen Zielsetzung. Auch auf EGEbene kristallisierte sich frühzeitig die der Gentechnik immanente Ambivalenz heraus. Der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt waren von Anfang an, mit stetig wachsendem Gewicht, zweiter Bezugspunkt der EG. Ausgangsüberlegung der Gemeinschaft bildete die Einsicht, daß nur ein umweltverträglich gestaltetes Wirtschaftswachstum auf Dauer eine sichere Basis für den gesellschaftlichen Wohlstand sein kann249 • Äußerungen in den

Auffassung der Kommission ist der Patentschutz für Industrieforschung, insbesondere hinsichtlich der ausschließlichen Nutzungszeiten, im internationalen Vergleich zu schwach. 246 EG-Kommission, KOM(90) 556. 247 Kritisch dazu Wheale/McNally, Science and Public Policy 1993, S. 261 ff. 248 Um eine stärkere Vemetzung der Forschungsstrukturen und des Technologieund Wissenstransfers innerhalb der Gemeinschaft zu erreichen, wurden seitens der Gemeinschaft mit dem BAP-Programm bei den einzelnen Forschungsprogrammen spezifische Strukturen eingerichtet, die eine gemeinschaftsweite Zusammenarbeit zwingend zum Inhalt haben. Dieses Projekt wird als European Labaratory Without Walls (ELWW) bezeichnet (vgl. EG-Kommission, BAP Progress-Report, S. 4 ff.). 249 Vgl. Art. 2 EG-Vertrag, der erstmals die gemeinschaftliche "Wachstumsaufgabe" unter den Vorbehalt der Umweltverträglichkeit stellt.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

letzten Umweltschutz-Aktionsprogrammen250 und im Rahmen einer Mitteilung der Kommission an den Rae51 zeigen deutlich auf, daß die EG dem Thema nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wohlfahrtsökonomie Bedeutung beimißt, sondern daß auch andere Interessen, insbesondere genuin umweit- und verbraucherschutzpolitische Motive auf dieses "policy-making" der EG Einfluß nehmen. Nach außen wird das Profil der EG-Biotechnologiepolitik derzeit noch zum größten Teil durch das normative umwelt- und technikrechtliche Regelungsgefüge der System- und der Freisetzungsrichtlinie gezeichnet. Durch die Weiterentwicklung der Gentechnik gewinnen aber sektorale Bereichsregelungen Relevanz252 • Zu nennen sind hier insbesondere Aspekte des Verbraucherschutzes, wie z.B. die Marktzulassung von Produkten und deren Nachmarktkontrolle. Die Übergänge sind fließend, die Unterscheidung auch im EG-Recht schwierig. Mit dem Begriff Verbraucherschutz ist vorliegend, bewußt verengt, der Gesichtspunkt des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit des Verbrauchers gemeint. Dieser Bereich war von Beginn an einer der fünf Kernbereiche der EG-Verbraucherschutzpolitik253 • Insgesamt ist aber auch im EG-Recht die Grenzziehung zur Umweltpolitik aufgrund terminologischer Inkonsequenzen nur schwer oder gar nicht möglich254 • Das Gemeinschaftsrecht und die Gemeinschaftspolitik trennen zwischen den Bereichen. So unterscheidet z.B. Art. IOOa Abs. 3 EWGV ausdrücklich zwischen Umweltschutz und Verbraucherschutz, und mit Art. 129a EG-Vertrag wird das 250 Viertes Umweltschutz-Aktionsprogramm, a.a.O., Nr. 4.4 (S. 26 f.); Fünftes Umweltschutz-Aktionsprogramm, a.a.O., Nr. 6.1.

KOM(86) 573 endg. Die beständige Zunahme der Relevanz gründet nicht allein im Aufgreifen der Frage durch die Politik. Diese reagiert in diesem Fall nur auf die Fortentwicklung der Gentechnik und deren immer häufigere Umsetzung in entsprechenden Produkten (Arzneimittel, Novel Food, etc.). 253 Vgl. dazu das bislang letzte Verbraucherschutz-Aktionsprogramm der EG vom 131.7.1992, ABI. 1992, Nr. C 186/1; aus der Literatur s. u.a. Reich, Europäisches Verbraucherschutzrecht, S. 31; Krämer, HER, Rn. 11 ff.; ders., EG-Verbraucherrecht, Rn. 16 ff. (letztere mit umfangr. Lit.-Nachw.). 254 V gl. Krämer, HER, Rn. 2 ff. Zur allgemeinen Abgrenzung gegenüber dem Umweltschutz sei auf einen Ansatz von Steiger verwiesen (AöR 117 [ 1992], S. 104 f.; ders. Begriff und Geltungsprobleme des Umweltrechts, S. 11). Steiger grenzt Umweltrecht zu Nachbargebieten in der Form ab, daß die legislative Intention sich beim Umweltrecht nicht des Schutzes des individuellen einzelnen annimmt, sondern einen globaleren Ansatz verfolgt, der auf die vitale Lebenswelt ausgerichtet ist. Nachbargebiete wie z.B. das Verbraucherschutzrecht verfolgen individuelle Schutzinteressen, so daß sie nach diesem Ansatz vom Umweltschutz zu unterscheiden sind. Breuer (Der Staat 20 [1981], S. 399 ff.) hingegen spricht von konvergierendem integrierten Umweltschutz, der sich auch auf individuelle Interessen beziehe. 251

252

II. Biotechnologie als Politikfeld

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Primärrecht der Gemeinschaft um eine spezifische Verbraucherschutzkompetenz der Gemeinschaft erweitert. Eine Legaldefinition für "Verbraucherschutzrecht" enthält aber auch Art. 129a EG-Vertrag nicht, nur eine relativ allgemeingehaltene, schwerpunktmäßige Aufzählung schützenswerter Interessen (Abs. 1 [b.]). Welche Motive haben die EG als Wirtschaftsgemeinschaft veranlaßt, Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik im Feld der Biotechnologie zu betreiben? Hat die Gemeinschaft (zumindest) in der Phase vor Einfügung des Umweltkapitels in den EWG-Vertrag durch die EEA einen freihandelsbezogenen Ansatz, der mit Deregulierung oder präventiver Vermeidung nationaler Gentechnikrechtsschutznormen und Reregulierung derselben im Binnenmarkt Wettbewerbsverzerrungen und Hemmnisse für den freien Warenverkehr vermeiden helfen soll 255 ? Steht die Biotechnologie Umweltschutzpolitik überhaupt in inhaltlichem Bezug zur ökonomischen Politik - handelt es sich vielleicht gar um zwei Handlungsstränge, die unkoordiniert gegenläufige Interessen verfolgen? Das Interesse an diesem Fragenkatalog wird umso größer, wenn man sich den Regelungsansatz des Gemeinschaftlichen Biotechnologierechts veranschaulicht, der, im Gegensatz etwa zur Regelung in den USA, mit der System- und der Freisetzungsrichtlinie die (Gen-)Technik in den Regelungsmittelpunkt stellt und ein horizontales, sektorübergreifendes Gentechnikrechtsgefüge erzeugt, welches vorrangig Umweltschutzbelange und keineswegs an erster Stelle die Freiheiten des Warenverkehrs im Blick hat. Insgesamt sind es zwei genuin umweltschutzbezogene Aspekte, die als Motive der EG für ihre umweltschutzpolitischen Maßnahmen im Bereich der Biotechnologie angeführt werden. Zum einen ist es das aus der nationalen Politik vertraute Schutzmotiv256 . Die Gemeinschaft fühlt sich in der Pflicht, einen den Erfordernissen des Schutzes der Gesundheit und der Umwelt angemessenen gesetzlichen Rahmen zu schaffen - Umweltschutz als Gestaltungsdirektive. Die Notwendigkeit für eine Gemeinschaftsumweltregelung wird in diesem Zusammenhang aufgrund der transnationalen Dimension potentieller Risiken begründet257 • Die Umweltschutz-Motivation der EG reduziert sich aber keinesfalls nur auf eine imperative "Containment"-Schutzpoli255 Allgemein dazu Hoffmann-Riem, Gemeinschaftspolitik zwischen Marktfreiheit und Umweltschutz, S. 10 ff. 256 Vgl. EG-Kommission, KOM(86) 573 endg., S. 4 (Nr. 7); Viertes UmweltschutzAktionsprogramm, ABI. 1987, Nr. C 328/1, Nr. 4.4.; Fünftes Umweltschutz-Aktionsprogramm, ABI. 1993, Nr. C 138/ I (60 ff. [63]). 257 EG-Kommission (a.a.O.), s. vorstehende Fn. Diesen Aspekt hob auch EG-Umweltkommissar Clinton Davis deutlich hervor, als er am 23.2.1988 auf einem Seminar des "Centre for European Studies" in Brüssel zu diesem Thema referierte (s. dazu den Bericht in EurUm 2/88, S. 41).

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

tik gegen die Technik. Sie erkennt in ihren Verlautbarungen auch die Chancen der Technik. Der Umweltschutz soll keinesfalls die Nutzung der Gentechnik in engen Grenzen halten. Selbst aus der Sicht des Umweltschutzes wird das Potential der Gentechnik von der Gemeinschaft erkannt und als nutzbringend bewertet258 • In der Formulierung der umweltschutzrelevanten Implikationen und in der Entwicklung des umweltschutzbezogenen Gemeinschaftsrechts kommt die Gemeinschaft - unausgesprochen - der ihr in Art. 2 EWGV sowie in den Zielen des Art. 130r Abs. 1 EWGV überantworteten politischen Aufgaben zur Erhöhung der Lebensqualität259 und zum Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit nach260 • Auf der anderen Seite lassen sich in den einschlägigen, umweltschutzbezogenen Äußerungen auch unmittelbare Bezüge zur wirtschaftspolitischen Dimension der Biotechnologie aufzeigen261 • Industriepolitische Motive drängen die Gemeinschaft zu ihren Umweltschutzmaßnahmen. Argumentiert wird seitens der EG, daß die erstrebenswerte Entwicklung dieser Technik nur auf der Grundlage eines sicheren Umweltrechtsrahmens stattfinden kann. Die damit in der Öffentlichkeit bewirkte erhöhte Akzeptanz gegenüber der Gentechnik wird als weiterer Gesichtspunkt genannt und das hohe Umweltschutzniveau als Wettbewerbsfaktor klassifiziert. Die Erwägungsgründe zur Freisetzungsrichtlinie zeigen einen weiteren Grund auf. Das durch die Regelungen erreichte Umweltschutzgefüge soll über die Harmonisierungswirkung gleichzeitig nationalen Wettbewerbsverzerrungen entgegenwirken. Intention der EG ist es, einer protektionistischen, die Marktfreiheiten einschränkenden Politik der Mitgliedstaaten durch Umweltschutzmaßnahmen mit Harmonisierungsmaßnahmen vorzubeugen. Mit der ausgesprochenen Zielsetzung präventiver Verhinderung von Integrationshemmnissen verfolgt die Gemeinschaft eine Strategie, in der die Verwirklichung der Grundfreiheiten im EWG-Vertrag vorrangig die Deregulierung nationaler Regelungen, die aus umweltschutzund gesundheitspolitischen Gesichtspunkten heraus gerechtfertigt sind, und deren Reregulierung auf Gemeinschaftsebene erfordert262• Die Biotechnologie-Umweltpolitik verfolgt also ein doppeltes Ziel: Beseitigung von Hemm-

258 Viertes Umweltschutz-Aktionsprogramm, a.a.O., Nr. 4.4.2.; s. dazu auch Punkt d.) der Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zum Vierten Umweltschutz-Aktionsprogramm (ebd., a.a.O., S. 3); ebenso das Fünfte Umweltschutz-Aktionsprogramm, a.a.O., S. 28. 259 Vgl. Zuleeg, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 2 Rn. 15. 260 Vgl. zu Interpretation und Systematik des Art. 130r Abs. I EWGV Krämer, in: von der Groeben/Thiesing!Ehlermann, Art. 130r Rn. 9 f. 261 S. dazu und zum folgenden die vorgenannten Zitate. 262 Vgl. dazu Hoffmann-Riem, Gemeinschaftspolitik zwischen Marktfreiheit und Umweltschutz, S. 10 ff.

III. EG-Biotechnologiepolitik im Überblick

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nissen für den freien Warenverkehr und Erhalt und Sicherung der Umweltqualität bzw. der menschlichen Gesundheit. Im Unterschied zur Situation in den Mitgliedstaaten bezieht sich die EG in keiner ihrer Erwägungen auf eine objektiven Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane zum Schutz grundrechtlicher Positionen der EG-Bürger. Bei der Kompetenzausübung durch die EG spielt dieser Aspekt, anders als in der Bundesrepublik Deutschland, keine RoHe. Gewiß ließe sich fragen, inwieweit die deutsche Grundrechtsdogmatik hier auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden kann. Lassen sich die auf EG-Ebene entwickelten Grundsätze für gemeinschaftsrechtlich begründete grundrechtliche Abwehransprüche i.S. des "status negativus" auch in eine Teilhabe- und Schutzfunktion weiterentwikkeln, mit daraus begründeten Handlungs- und Schutzpflichten für die Gemeinschaftsorgane? Die Äußerungen in der Literatur sind hierzu bislang positiv-verhalten bis skeptisch263 • Angesichts der geringen Relevanz dieses Aspekts für unser Thema soll dieser hier lediglich erwähnt, nicht aber vertieft werden.

111. EG-Biotechnologiepolitik im Überblick Die inhaltliche Darstellung spezifisch der EG-Biotechnologiepolitik konzentriert sich auf zwei Schwerpunkte: Industrie- und Umweltschutzpolitik. Die vorstehend referierten Überlegungen zur Motivation der Gemeinschaft weisen den Weg. Die EG-Biotechnologiepolitik erfaßt darüber hinaus die flankierenden Maßnahmen, die sich aufgrund ihres Querschnittscharakters weder den industrie- noch den umweltpolitischen Zielsetzungen zuordnen lassen. Hier geht es - erstens - um die mittlerweile erheblichen Anstrengungen der EG zur Aufarbeitung bioethischer Grundsatzfragen. Die Anfänge reichen hier zurück bis zum Anfang der 80er Jahre. Sie wurden durch das Strategiekonzept im Jahre 1991 intensiviert, das der Akzeptanzfrage verstärkte Aufmerksamkeit schenkte264 • Die Bioethikdebatte erfaßt auch Aspekte der Fortpflanzungsmedizin, des Tierschutzes265 und der allgemeinen biologischen 263

s. 28.

Vgl. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 206; Steinberger, VVDStRL SO (1991),

264 EG-Komm., BR-Drs. 278/91, S. 13, 19; vgl. dazu Elizalde, Bioethics as a New Human Rights Emphasis in European Research Policy, Kennedy Institute of Ethics Journal 2 (1992), S. 159 ff. 265 Zu denken ist hier an gentechnische Methoden zur Entwicklung und I oder Leistungssteigerung der Nutztiere in der Landwirtschaft, als Versuchsobjekte für die Forschung etc. Diese Aspekte werden vom EG-Recht ebenfalls (wenn auch nur am Rande) erfaßt. Neben den Gentechnikrichtlinien, die den Schutz der Umwelt vor den mit diesen transgenen Tieren verbundenen potentiellen Risiken bezwecken, sind Über-

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

und ökologischen Forschung. Ersichtlich sollen die Maßnahmen helfen, das verbreitete Unbehagen gegenüber dem ausgeweiteten Potential der modernen Biologie abzubauen. Dabei kooperiert die Gemeinschaft mit dem Europarat, der sich mit diesen Fragen schon seit längerem auseinandersetzt266. Die flankierenden Maßnahmen betreffen - zweitens - den politischen Dialog, den die EG-Kommission mit verschiedenen Staaten außerhalb der EG unterhält und deren Einbindung in die gemeinschaftliche Forschungs- und Technologie-Politik267. Zum einen handelt es sich dabei um bilaterale Maßnahmen auf Verwaltungsebene, zwecks Informations- und Erfahrungsaustausch. Ein Beispiel ist die von der EG-Kommission und der OS-Regierung gebildete Arbeitsgruppe ("Permanent Technical Warking Group on Biotechnology" [sog. "USEC-Task Force on Biotechnology"]), die sich seit 1990 zu Konsultationen trifft268 . Andere Beispiele sind die Einrichtung eines gemeinsamen Biotechnologiezentrums EG/Volksrepublik China im Jahre 1991 in Peking269 oder das Abkommen der Europäischen Gemeinschaft und Australien über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit im Jahr 1994270, welches auch die Biotechnologie als Tätigkeitsfeld vorsieht. Eine weitere außenpolitische Dirnen-

lappungen mit dem Tierschutzrecht der EG festzustellen. Transgene Versuchstiere, die speziell für Laborzwecke gezüchtet werden, fallen in den Regelungsbereich der EGTierversuchsrichtlinie (Ratsrichtlinie vom 24. November 1986 zur Annäherung der mitgliedstaatliehen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum Schutze der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere [86/609/EWG], ABI. 1986, Nr. L 358/1 ). Ein Beispiel ist die berühmt gewordene, gentechnisch entwickelte "Harvard Onko-Krebsmaus" (vgl. Straus, Die "Harvard Krebsmaus", EG-Magazin Nr. 1111991, S. 18 ff.). Die genetische Veränderung führt zu einem frühzeitigen, intensiven Wachstum von Krebszellen. Der Anwendungsbereich des deutschen Tierschutzgesetzes im vorliegenden Problemfeld ist gegenüber dem EG-Recht weiter (vgl. Custers/Sterrenberg, Regulation and Diskussionon Genetic Modification of Animals: The situation in the European Community, the Netherlands, the United Kingdom, Germany, Denmark, France, and the United Staates (working document No. 38 der Netherlands Organization for Technology Assessment [NOTA]) S. 9 ff. [EG-Recht], 35 ff. [Deutschland], mit Ausführungen zur Situation in den anderen EG-Mitgliedstaaten und in den USA). 266 Zu den Bemühungen des Europarals im Bereich der Humangenetik s. Übersicht in Forum extra vom Februar 1993, S. 24 ff. 267 Rechtsgrundlage dafür sind die Art. 228 EWGV i.V.m. 130n (Forschung und technologische Entwicklung) und 130r Abs. 5 EWGV (Umweltpolitik). 268 Vgl. EBIS, Zero lssue, November 1990, S. 3 f.; dazu: Szczepanik, Regulation of Biotechnology in the European Community, Law and Policy in International Business 24 (1993/94), s. 643. 269 EBIS, Issue six, Dezember 1991, S. 15. 270 Vgl. Beschluß des Rates vom 27.6.1994 über den Abschluß des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Australien über die wissenschaftlichtechnische Zusammenarbeit (94/457/EG), ABI. 1994, Nr. L 188117.

III. EG-Biotechnologiepolitik im Überblick

81

sion verleiht die EG ihrer Biotechnologiepolitik mit der Ausdehnung ihres Förderprogramms auf Drittstaaten im Rahmen des COST-Abkommens271 • 1. Industriepolitik: Forschung, Technologie, Binnenmarkt Die Motive der biotechnologiebezogenen EG-Industriepolitik sind wie erwähnt zweigleisig. Nachfolgend sind deshalb zwei Wege zu beschreiten. Entsprechend dem Willensbildungsprozeß sind zum einen Gefüge und Inhalt der Forschungs- und Technologiepolitik herauszuarbeiten. Zum zweiten sind die konkreten, binnenmarktbezogenen Rahmenmaßnahmen zu erörtern. Gegenstand sind hier der Harmonisierungsansatz der Gentechnik-Rechtsetzung sowie die Ausarbeitung technischer Normen und Standards für gentechnische Arbeiten272. Forschungs- und Technologiepolitik

Seit 1987 bilden die Art. 130f-q EWGV (Titel VI des EWG-Vertrags) die Grundlage der gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik (FuT-Politik). Die Gemeinschaftsverträge enthielten bis dahin keine ausdrückliche und umfassende primärrechtliche Kompetenz. Nur an Einzelpunkten fanden sich in den drei Gründungsverträgen normative Aussagen zu einer gemeinschaftseigenen FuT-Politik273 • Politischer Konsens über die Notwendigkeit einer EG-eigenen Forschungs- und Technologiepolitik bewirkte, daß bis 1987 verschiedene Programme sowie das erste Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung 274 auf Art. 235 EWGV und Art. 7 EAGV ge271 Die Ausdehnung der Maßnahmen findet im Rahmen des Abkommens über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und technischen Forschung (Cosn statt. Vertragspartner sind sämtliche EFfA-Länder sowie einzelne weitere Drittstaaten, etwa die Türkei. Die Grundlage bilden verschiedene Biotechnologie-Forschungsprogramme. Vgl. u.a. den Beschluß des Rates vom 2. März 1992 (ABI. 1992, Nr. L 85/31 [BRIDGE]) sowie die Kommissionsvorschläge KOM(91) 289 endg. (:::: BR-Drs. 543/91 vom 16. September 1991) (FLAIR). 272 Zwar enthält Art. 130f Abs. 2 2. Hs. EWGV einen Hinweis auf Rahmenmaßnahmen (u.a. Festlegung gemeinsamer Normen, Beseitigung rechtlicher und steuerlicher Hindernisse). Sie sind aber als binnenmarktbezogen einzustufen, konstituieren also keine weiteren Ziele der Forschungs- und Technologiepolitik (vgl. Glaesner, in: Grabitz, Art. 130f Rn. 4). Dafür spricht auch, daß Abs. 3 ausdrücklich zwischen beiden Bereichen trennt. Insofern erscheint es schon deswegen stringenter, zwischen Forschungs- und Technologiepolitik einerseits und binnenmarktbezogener Industriepolitik andererseits zu unterscheiden. 273 Vgl. Art. 55 EGKSV; Art. 2 lit. a, 4- 10 EuratomV; Art. 41 EWGV. 274 ABI. 1983, Nr. C 208/1 (Laufzeit: 1984-1987); im folgenden: FuT-Rahmenprogramm.

6 Schenek

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

stützt wurden 275 • Bis zum Inkrafttreten der EEA verabschiedete der Rat die Programme durch schlichte Beschlüsse. Seit 1987 erfolgt die Verabschiedung gern. Art. 189 Abs. 1 und 4 EWGV in Form von rechtlich für die Adressaten verbindlichen Entscheidungen. Politische Zielsetzungen und Aufgaben geben seit 1987 die Art. 130f-q EWGV vor276• Sektoral wurde sie durch Strategiepapiere der Kommission in Form von Mitteilungen an den Rat und das Europäische Parlament fixiert. Umsetzung und Realisierung vollziehen sich dann innerhalb einer von den Bestimmungen im EWG-Vertrag vorgezeichneten Ablaufstruktur in drei miteinander verzahnten Ebenen277 : oberste Ebene sind die FuT-Rahmenprogramme; die mittlere Ebene bilden die einzelnen Förderprogramme, welche auf der Grundlage der Vorgaben der FuT-Rahmenprogramme durchgeführt werden; auf unterster Ebene werden die einzelnen Vertragsprojekte innerhalb des Förderprogramms konkret abgewickelt. Die Gemeinschaft hat die Aufgabe, alle geplanten Förderaktionen in einem mehrjährigen Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung zusammenzufassen (gern. Art. 130i EWGV i.V.m. Art. 130g EWGV). Die FuT-Rahmenprogramme, die gern. Art. 130q Abs. 1 EWGV vom Rat einstimmig beschlossen werden278, bilden mit ihrer programmübergreifenden Ausgestaltung die oberste Aktionsebene. In ihnen werden die wissenschaftlichen und technischen Ziele, Prioritätsstufen, die Grundzüge der geplanten Aktionen, der für notwendig erachtete Betrag und die Einzelheiten der finanziellen Beteiligung der Gemeinschaft am gesamten Programm sowie die Aufteilung dieses Betrags auf die verschiedenen Aktionen festgelegt (Art. 130i Abs. 1 EWGV). Mit dieser Akzentuierung wird die politische Marschzahl für die kommenden Jahren definiert279 , die später spezifische Programme umsetzen (vgl. Art. 130k EWGV).

275 Zur Kompetenzenfrage Glaesner, in: Grabitz, vor Art. 130f Rn. 5; Krüger, WissR 1989, S. 202 ff.; Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, S. 143 f. 276 Vgl. Art. 130f Abs. I EWGV: Stärkung der wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der europäischen Industrie und Förderung ihrer Entwicklung und internationalen Wettbewerbsfähigkeit

277 Vgl. Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, S. 144. 278 Die Vorschriften der Art. 130f-q EWGV waren indes, aufgrund der zeitlichen Abfolge, erst für das Zweite FuT-Rahmenprogramm ( 1987- 1991) von Anfang an verbindlich. 279 Dusak, in: Röttinger/Weyringer, Handbuch der europäischen Integration, 1991, S. 941 ff. (949 f.).

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Bis zum Jahr 1993 konzipierte die EG insgesamt drei FuT-Rahmenprogramme; das vierte befindet sich in der Beschlußphase280. Mit dem ersten Programm vollzog die Gemeinschaft eine forschungs- und technologiepolitische Trendwende. Der Mittelaufwand für die bis dahin favorisierte Energieforschung wurde erstmals erheblich reduziert, eine Neuorientierung der Forschungpolitik an dem Ziel der Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der gemeinschaftlichen Industrien und Forschung wurde verkündet und die finanziellen Schwerpunkte verstärkt in diesen Bereichen gesetze81 . Dennoch enthielt das erste Programm noch keine ausdifferenzierte Abgrenzung der verschiedenenen Schlüsseltechnologien. In Rubrik 2 ("Förderung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit") wies es diese undifferenziert als "neue Technologien" aus282 • Berechnungen über die prozentuale Entwicklung der Forschungsprioritäten zeigen, daß im ersten FuT-Rahmenprogramm für den Bereich "Nutzung biologischer Ressourcen", der sich neben der Biotechnologie außerdem aus den Bereichen agroindustrielle Technologie, Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft und Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Ressourcen zusammensetzt, insgesamt 5,6% der Gesamtmittel eingesetzt wurden283. Nach kurzzeitigem, anteilsmäßigen Absinken auf 4,8% zwischen 1987 und 1991 stieg das Fördervolumen für Biotechnologieforschung im Zeitraum 1990-1994 mit 13% umfangmäßig auf über das Doppelte. Entsprechend diesem Bedeutungszuwachs ist die Biotechnologie ab dem Zweiten Rahmenprogramm als eigenständiger Teilbereich ausgewiesen. Unter der Rubrik "Erschließung und optimale Nutzung der biologischen Ressourcen" sowie ,,Nutzung der natürlichen Ressourcen" erfolgt im beiden Programmen eine entsprechende Differenzierung. Diese AufschlüsseJung belegt den beständigen Ausbau der Mittel für die Biotechnologie. Waren im zweiten Rahmenprogramm für den Bereich vier (,,Erschließung und optimale Nutzung der biologischen Ressourcen") insgesamt 280 Mio. ECU veranschlage84, so sind es im gerade auslaufenden dritten Rahmenprogramm (Nr. 4: "Biowissenschaften und -technologien") schon 741 Mio. ECU, die bereitgestellt wer280 Erstes Rahmenprogramm (s. Fn. 293); Zweites Rahmenprogramm (1987-1991), ABI. 1987, Nr. L 30211 ; Drittes Rahmenprogramm (1990-1994), ABI. 1990, Nr. L 117 /28; Viertes Rahmenprogramm (1994-1998), KOM(92) 406 endg. sowie überarbeitete Fassung in KOM(93) 158. Mangels ausdrücklicher Grundlage wurde das erste Rahmenprogramm auf Art. 235 EWGV gestützt. 281 Narjes, FS von der Groeben, S. 270. 282 Erstes Rahmenprogramm, a.a.O., Anhang I, Nr. 2.

Sturm, Konkurrenz oder Synergie?, S. 248 (Tab. 1). Hierunter sind die folgenden Sachgebiete zusammengefaßt (in Klammer die spezifisch ausgewiesenen Förderrnittel): Biotechnologie (120 Mio. ECU); agroindustrielle Technologien (105 Mio. ECU); Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft und Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Ressourcen (55 Mio. ECU). 283

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den285 • Der Entwurf für das kommende vierte Rahmenprogramm 286 sieht sogar eine Mittelzuteilung in Höhe von ca. 1,31 Mrd. ECU vor. Dabei müssen die Fördermittel der EG noch etwas höher kalkuliert werden. Mittelzuwendungen, die im Wege horizontaler Aktionen vorgenommen werden, sind kaum oder gar nicht aufzuschlüsseln. Alle FuT-Rahmenprogramme führen in ihrer Prioritätenliste derartige Maßnahmen auf, die indirekt ebenfalls sektoraJe Förderwirkungen entwickeln287• Sie zielen allgemein auf die Verbesserung des Rahmens für wissenschaftliche Betätigung288 • Es ist darum davon auszugehen, daß aus diesen Posten ebenfalls Mittel für die indirekte Förderung der Biotechnologieforschung und -Wissenschaft verwendet werden. Immerhin waren es gerade Studien des FAST-Programms, d.h. eines bereichsübergreifenden Programms, die den Anstoß und die Grundlage für die Entwicklung des ersten Biotechnologie-Gesamtkonzepts der EG bildeten289 • Die interne Bereichs-Untergliederung zeigt den Grundansatz, der, in der Materie angelegt, für die EG-Biotechnologiepolitik typisch ist und in allen Teilbereichen als Grundprinzip wiederkehrt: die Koppelung von horizontalem und vertikalem Ansatz. In bezug auf die Förderprogrammatik bedeutet dies einerseits horizontale Programme, die die Gentechnik und ihre Entwicklung selbst in den Mittelpunkt stellen290, andererseits vertikale Programme, welche sich aus dem Ein285 Dieser umfaßt neben der Biotechnologie i.e.S. (164 Mio. ECU) die weiteren Bereiche der agrar- und agrarwirtschaftlichen Forschung (333 Mio. ECU); biomedizinische Forschung und Gesundheit (133 Mio. ECU); Biowissenschaften und -technologien für die Entwicklungsländer (111 Mio. ECU) (in Klammer die spezifisch ausgewiesenen Fördennittel). 286 Vgl. KOM(92) 406 endg. und KOM(93) 158. 287 Erstes Rahmenprogramm, s. Anhang I, Nr. 7 (,.Verbesserung des Wirkungsgrads des wissenschaftlichen und technischen Potentials der Gemeinschaft"); Zweites Rahmenprogramm, s. Art. I Abs. 2, Nr. 8 ("Verbesserung der wissenschaftlich-/technologischen [W /T] Zusammenarbeit in Europa"); Drittes Rahmenprogramm, s. Art. 1 Abs. 2 (dritter Maßnahmenbereich "Nutzung der geistigen Ressourcen"). 288 Dies soll z.B. durch die Schaffung eines "Europas der Forscher", d.h. durch die Stimulierung der europaweiten Zusammenarbeit und des Austauschs der Forschungslabors an den Universitäten zur besseren Nutzung des menschlichen Potentials erreicht werden ("Nutzung der geistigen Ressourcen"), durch den Ausbau der computergestützten Informations- und Kommunikationsnetze oder auch mittels vorausschauender Technologiebewertung und verbesserter Verbreitung und Nutzung der Ergebnisse. 289 KOM(83) 672 endg. Vgl. Cantley/de Nettancourt, Biotechnology research and policy in the European Community, FEMS Microbiology Leners 1992, S. 2. 290 Vgl. ,,Biomolecular Engineering Programme" (BEP), (1982-1986), ABI. 1981, Nr. L 375/1; ,,Biotechnology Action Programme" (BAP), (1985-1989), ABI. 1985, Nr. L 83 I 1; ,,Biotechnology Research for Innovation, Development and Growth in Europe" (BRIDGE), (1990-1993), ABI. 1989, Nr. L 360/32; ,,Biotechnologie" (BIO-

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zeihereich heraus problembezogen und aufgabenorientiert definieren und die gentechnische Anwendung zur Entwicklung eines spezifischen Sachbereichs instrumentalisieren291 . Letztere Programme verfolgen eine unterstützen-de Funktion gegenüber den horizontalen Hauptprogrammen292 • Schon auf der übergeordneten Ebene der Strategiepapiere wird dieser Ansatz vorgezeichnet (s.o.). Ein ähnliches Gefüge weist das gemeinschaftliche Gentechnikrecht auf. Auch hier findet sich ein doppelter Ansatz, der allerdings, im Gegensatz zu den einzelnen Förderprogrammen, keine so scharfe Trennung zuläßt. Er hat darum einen Ausgleich zu suchen zwischen horizontalem Technikbezug, der mit den System- und Freisetzungsrichtlinien die Gentechnik in den Mittelpunkt stellt und einem vertikalen, sektorbezogenen Regelungsansatz, der sich von diesem alleinigen Technikbezug löst und spezifisch produkt- und problemorientiert ansetzt. Hierbei handelt es sich zumeist um Produkte, die mit Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellt wurden und gentechnisch veränderte Organismen enthalten. Regelungszweck ist ihre sichere bestimmungsgemäße Nutzung. Gesetzt werden Sicherheits- und Risikokontrollen bei der Marktzulassung und Verfahren der Nachmarktkontrolle. Ebenfalls problembezogene Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums kommen hinzu. Die mittlere Ebene der gemeinschaftlichen FuT-Politik wird durch die spezifischen Forschungsprogramme gebildet, die gern. Art. 130k EWGV die Rahmenprogramme durchführen. Sie werden im Verfahren der Zusammenarbeie93 mit qualifizierter Mehrheit im Rat beschlossen. Die EG-Forschungsund Technologiepolitik vollzieht sich somit in einem zweistufigen Beschlußverfahren. Im ersten, einstimmig zu fassenden Beschluß setzt der Rat im Rahmenprogramm zuerst, wie gesagt, die Ziele fest. Um diese zu realisieren, ist zusätzlich die neuerliche Abstimmung über das spezifische Programm TECH) (1992-1996), Vorschläge der Kommissions. ABI. 1990, Nr. C 174153 sowie ABI. 1991, Nr. C 28916. 291 Vgl. die Programme "European Collaborative Linkage of Agriculture and lndustry through Research" (ECLAIR) (1988-1993), ABI. 1989, Nr. L 60148; "Food Linked Agroindustrial Research" (FLAIR) (1989-1993), ABI. 1989, Nr. L 2001 18; ,,Agrarforschung" (1990-1994), ABI. 1991, Nr. L 265133; aufgrund ihrer problembezogenen Orientierung ebenso die Förderprogramme ,,Biomedizinische und Gesundheitsforschung [Teilbereich 111: Analyse des menschlichen Genoms]", (BIOMED 1) (1991 - 1994), ABI. 1991, Nr. L 267 I 25 und im Bereich Biowissenschaften und -technologien für die Entwicklungsländer die Programme "Wissenschaft und Technik im Dienst der Entwicklung (Science et technique au service du diveloppment)" (STD) ( 1987- 1991 ), ABI. 1987, Nr. 355 I 41 und ,,Biowissenschaften für Entwicklungsländer" (1991-1994), ABI. 1991, Nr. L 196131. 292 So die Begründung der Ratsentscheidung zu ECLAIR. 293 Gemäß Art. 149 Abs. 2 EWGV I Art. 189c EGV.

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erforderlich, um dieses durchführen zu können. Die Umsetzung der FuT-Politik gestaltet sich dadurch als langwieriger Entscheidungsprozeß. Der Ausbau der Politikstruktur in der EG und die Ausweitung der spezifischen Förderleistungen verliefen parallel. Im Bereich der Biotechnologie und -wissenschaft wurden, wie gesagt, zwischenzeitlich eine erhebliche Anzahl von Programmen durchgeführt294 • Ihr gemeinsames, sektorübergreifendes Merkmal ist ihr vorwettbewerblieber Charakter95 • Ausgeschlossen ist die zielgerichtete, u.U. verdeckte und gegenleistungsfreie Subventionierung einzelner Unternehmen. Das offenbart schon der Wortlaut des Art. 130g lit. c EWGV. Er schreibt die Verbreitung und Auswertung der Forschungsergebnisse und der Ergebnisse der technologischen Entwicklung und Demonstration vor. Die Förderung setzt unabhängig von der Marktnähe des Projekts die Eröffnung des Zugangs zu den Ergebnissen voraus296 • Es soll nicht nur der Geförderte Vorteile haben, sondern es muß die Allgemeinheit (Mit-)Nutznießer der Fördermaßnahmen sein. Zum gleichen Schluß führt die Analyse des Art. 130f Abs. 2 2. Hs EWGV. Dieser bezieht den Grundsatz der Förderung von Bemühungen zur Zusammenarbeit auch (und insbesondere) auf Unternehmen. Die vorwettbewerbliehe Ausrichtung liegt weitestgehend auch der Biotechnologieförderung zugrunde. Schon im Programm BAP findet sich der Hinweis auf den Vorwettbewerbscharakter der geförderten Forschung und Ausbildung. Die Folgeprogramme, unter diesem Blickwinkel betrachtet, weisen Parallelen auf, der Grundsatz gilt auch hier. Beachtlich ist des weiteren, daß die Projekte grenzüberschreitend angelegt und in der Regel Teilnehmer aus mehr als einem Mitgliedstaat beteiligt sind. Die verstärkte Ausrichtung auf die Erforschung von Grundlagenbereichen297 , sowie die im Programm prinzipiell verankerte Öffnung der Projekte nach außen, dokumentieren zusammen mit den Konzertierungsmaßnahmen ebenfalls ihren Vorwettbewerblichen Charakter. 294 Anzumerken ist, daß außerdem mehrere Projekte zur Biotechnologieförderung im Bereich von EUREKA ("European Research Coordination Action") durchgeführt werden (1989: 40 Einzelprojekte; allgemein zu EUREKA Oppermann, Europarecht, Rn. 1971 ). Motor dieser zusätzlichen Ausweitung der Förderebenen und -aktionen war vor allem Frankreich. Der Zuschnitt der Vorhaben reicht über den Bereich der EG hinaus. Er integriert auch EFTA-Staaten und andere Drittländer, z.B. die Türkei (vgl. dazu OTA, a.a.O., S. 158 ff.). 295 Vgl. Dusak, in: Röttinger/Weyringer, a.a.O., S. 946 mit dem Hinweis auf die Präambel des Dritten Rahmenprogramms, ABI. 1990, Nr. L 117/28 (S. 29 [2. Abs., a.E.]).

296 Vgl. Glaesner, in: Grabitz, Art. 130g Rn. 5; Grunwald, in: von der Groebenl Thiesing I Ehlermann, Art. l30g Rn. II. 297 Vgl. dazu exemplarisch Anhang I zur Entscheidung des Rates vom 27.11.1989 über ein spezifisches Programm für Forschung und technologische Entwicklung im Bereich Biotechnologie (1990-1994)- Bridge-, ABI. 1989, Nr. L 360/32 (35 ff.).

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Bei der Durchführung ihrer Biotechnologie-Programme bedient sich die Gemeinschaft überwiegend des Instruments der Forschungsverträge auf Kostenteilungsbasis, der "cost-shared actions". Diese indirekte Form der Forschungsförderung wird aufgrund ihrer Elastizität von der Gemeinschaft häufig genutze98 • Die Förderhöhe beträgt i.d.R. 50% der Gesamtkosten. Zu diesen Projekten kommen Ausbildungsstipendien299 , konzertierte Aktionen als Mittel zur Steigerung der strategischen Effizienz (Informationssammlung, Analyse der Informationen und Entwicklungen, Informationsaustausch durch Datenbanken) und flankierende Maßnahmen (Seminare, Konferenzen, hochspezialisierte Ausbildungsförderung u.ä.) hinzu. Inhaltlich decken die Förderprogramme alle molekular- und biotechnologischen Aspekte ab. Der Fokus reicht demnach - wie grundsätzlich in der EGBiotechnologiepolitik - über den Einzelbereich der Gentechnik hinaus. Im einzelnen läßt sich zur Ausgestaltung der einzelnen Biotechnologie-Förderprogramme folgendes sagen 300• Den Einstieg der Gemeinschaft in die Biotechnologieförderung bildete das Biomolekular Engineering Programme (BEP) (1982-1986)301 • Noch vor Verabschiedung des ersten FuT-Rahmenprogramms (1984-1987) wurde es auf der Grundlage des Art. 235 EWGV verabschiedet. Mit dem auf zwei Phasen aufgeteilten Gesamtbudget von 15 Mio. ECU302 zielte es - horizontal angelegt - auf die Förderung von Einzel298 Starbatty/Vetterlein, Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, S. 69 f. mit einem instruktiven Überblick über sämtliche Konzepte und Optionen der EG-Technologiepolitik (direkte Aktionen der Eigenforschung in Gemeinsamen Forschungsstellen, indirekte Vertragsforschung, horizontale Aktionen etc.).

299 Darunter fallen einerseits Förderleistungen in den Programmen BEP, BAP und BRIDGE. Die Gemeinschaft zahlt hier i.d.R. Ausbildungsvergütungen an die ausbildenden Labors. Besonderer Wert wird auf die transnationale Mobilität der Nachwuchswissenschaftler gelegt. Auf der anderen Seite wurde die Förderbreite der Ausbildungsprogramme Comett I, Comett II und des Erasmus-Programms auf die Biotechnologie ausgedehnt (vgl. EBIS 2 (1992), No. I, S. 12, 14 f.; EG-Kommission, BR-Drs. 278/91, S. 31 ff.). 300 Vgl. dazu auch EG-Komm., BR-Drs. 278/91, S. 28 ff. 301 Vgl. den Beschluß des Rates vom 7.12.1981 über ein mehrjähriges Forschungsund Ausbildungsprogramm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der molekularbiologischen Technik (indirekte Aktion April 1982-März 1986), (811 1032/EWG), ABI. 1981, Nr. L 375/1 (erste Programmphase) und den Beschluß des Rates vom 26. Oktober 1983 über die zweite Phase (Januar 1984-März 1986) des mehrjährigen Forschungs- und Ausbildungsprogramms der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der molekularbiologischen Technik (83/533/ EWG), ABI. 1983, Nr. L 305111. Erste Vorschläge für dieses Programm reichen bis in das Jahr 1975 zurück (vgl. Cantley/de Nettancourt, Federation of European Microbiological Societies (FEMS) Microbiology Letters 1992, S. 1). 302 Von diesen 15 Mio. ECU waren 10,4 Mio. ECU reine Fördermittel. Gefördert

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projekten. Diese hatten die Einbindung der Gentechnik in die Entwicklung der Landwirtschaft und die Nahrungsmittelerzeugung zum Gegenstand. Weniger ausgeprägt war die transnationale Dimension.303 Die Biotechnologieförderung setzte sich im ersten FuT-Rahmenprogramm in Gestalt des Biotechnology Action Programme (BAP) (1985-1989)304 fort. Seine Laufzeit erstreckte sich in die erste Hälfte des zweiten FuT-Rahmenprogramms hinein. Mangels ausdrücklicher Rechtsgrundlage stützt sich auch dieses Programm auf Art. 235 EWGV. Das finanzielle Fördervolumen betrug 75 Mio. ECU305• Ebenso wie BEP horizontal ausgerichtet, war BAP durch das 1983 vorgestellte gemeinschaftliche Biotechnologie-Strategiekonzept gepräge06. Das Programm verfolgt aus diesem Grund einen weiteren Ansatz307 • Ausgedehnt wurde einerseits der Förderkreis: die industriebezogene Forschung sollte mehr eingebunden werden308 ; andererseits entfaltete das Programm inhaltlich wie methodisch ein weiteres Spektrum. Der industrielle Nutzen der Vorhaben wurde als Kriterium verstärkt in der Projektauswahl berücksichtigt. Ziel des Programms war deshalb u.a. geeignete Rahmenbedingungen für Forschung und technologische Entwicklung herzustellen. Verschiedene Vorhaben bezogen sich auf die Erstellung bereichsbezogener Dawurden 103 Vertragsprojekte. Daraus errechnet sich eine durchschnittliche Förderleistung von 101.000 ECU für das einzelne Projekt (zu Einzelheiten s. Commission of the European Communities, Evaluation of the Biomolecular Engineering ProgrammeBEP (1982-1986) and the Biotechnology Action Programme-BAP (1985- 1989), Vol. 1, Research Evaluation-Report No. 32, Luxemburg 1988, EUR 11833 EN/1. 303 Cantley I de Nettancourt, Federation of European Microbiological Societies (FEMS) Microbiology Letters 1992, S. 2. 304 Zweites Forschungs-Aktionsprogramm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gebiet der Biotechnologie (BAP), (1985- 1989); vgl. dazu den Beschluß des Rates vom 12.3.1985 (851195/EWG), ABI. 1985, Nr. L 8311, sowie den Beschluß des Rates vom 29.6.1988 zur Revision des Programms (88/ 420/EWG), ABI. 1988, Nr. L 206/38. 305 Ursprünglich waren 55 Mio. ECU bereitgestellt. Im Zuge der Süderweiterung der EG im Jahr 1987 sowie zur Verstärkung der wissenschaftlichen Akzente in den Bereichen Bio-Informatik und Gentechniksicherheitsforschung wurden die Mittel auf 75 Mio. ECU aufgestockt. Gefördert wurden 95 Projekte mit insgesamt 262 einzelnen Vorhaben; die durchschnittliche Förderleistung betrug ca. 144.000 ECU pro Vertrag. 306 KOM(83) 672 endg./ Anhang. Vgl. die Begründung zur Ratsentschließung vom 12.3.1985, ABI. 1985, Nr. L 83/1. 307 Vgl. dazu und zum folgenden Cantley I de Nettancourt, Perleration of European Microbiological Societies (FEMS) Microbiology Letters 1992, S. 2 f. 308 Die Einbindung der Industrie gelang trotzdem - aus EG-Sicht - nur unbefriedigend. Gründe mangelnder Industrie-Resonanz waren die nicht oder zumindest nicht hinreichend vorhandene Rechtssicherheit im Patentrechtsbereich sowie oftmals offenbar schlichte Unkenntnis über die Existenz von BAP.

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tenbanken309 und öffentlicher Sammlungen von Organismenkulturen. Das Programm verfolgte intensiver das Konzept gemeinschaftsweiter, grenzüberschreitender Projekte. So waren in den Einzelprojekten regelmäßig Personen aus verschiedenen Mitgliedstaaten beteiligt. Innerhalb des dritten FuT-Rahmenprogramms erfolgt die horizontale Biotechnologieförderung in den Programmen Biotechnology Research Programme for Innovation and Development Growth in Europe (BRIDGE) und Biotechnologie (BIOTECH) 310• In seiner Struktur ähnelt BRIDGE dem Vorläufer BAP. Gestützt auf Art. 130q EWGV hat das Programm ein Fördervolumen von 100 Mio. ECU; seine Schwerpunkte liegen auf den Gebieten der Verbesserung der Informationsinfrastruktur (z.B. Kulturensammlungen und biotechnologische Datenbanken), Unterstützungstechnologien (Proteintechnik, Genkartierung311 etc.), Biologie von Zellen, pränormative Forschung312 sowie Konzertierungsmaßnahmen (Netzwerke, Informationsaustausch, Workshops, etc.). Das Fördervolumen steigert sich im Programm BIOTECH noch einmal auf 162,36 Mio. ECU. In komplementärer Ergänzung zu BRIDGE konzentrieren sich die Vorhaben in BIOTECH innerhalb von drei Teilbereichen wieder stärker auf die Gewinnung naturwissenschaftlicher Grundkenntnisse. Hinzu kommen Vorhaben, die die ökologischen Auswirkungen der Technik und ihre bioethischen Implikationen bearbeiten. Sektorale Biotechnologie-Förderprogramme wurden durch die Gemeinschaft erstmals während der Laufzeit des zweiten FuT-Rahmenprogramms durchgeführt. Zu nennen ist zunächst das Programm European Collaborative Linkage of Agriculture and Industry through Research (ECLAIR) 313 • Im Vergleich zu den Parallelprogrammen Food-Linked Agro-Industrial Research 309 S. dazu Nieuvenhuis, Biotechnology R&D in the EC/Biotechnology Action Programme (BAP), S. 9 ff. 310 BRIDGE: Laufzeit des Programms 1990-1994; vgl. die Entscheidung des Rates vom 27.11.1989, ABI. 1989, Nr. L 360/32 sowie die Entscheidung des Rates vom 26.3.1992 (92/218/EWG), ABI. 1992, Nr. L 107/11; BIOTECH: geplante Laufzeit des Programms 1992-1996; s. dazu den Vorschlag der Kommission, ABI. 1990, Nr. C 174/53, sowie den geänderten Vorschlag ABI. 1991 , Nr. C 289/6. Zu den Zielen und Aktionsbereichen von BRIDGE Sabathil, Förderprogramme der EG 1989, S. 139; zu BIOTECH EG-Kommission, Leitfaden für Antragsteller zur Forschungsund Technologieförderung der EG im 3. Rahmenprogramm 1990-1994, S. 81. 311 Anzumerken ist, daß humangenetische Fragen nicht zum Projektinhalt gehören. U.a. sind sie Gegenstand des Programms BIOMED (vgl. ABI. 1990, Nr. L 196/8). 312 Unter pränormativer Forschung ist Forschung und technische Entwicklung zu verstehen, die als früheste Phase des Standardisierungsverfahrens vorbereitend und begleitend die Entwicklung neuer Normen zum Ziel hat, vgl. Grunwald, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 130f Rn. 32. 31 3 Laufzeit des Programms: 1988 -1993; vgl. die Entscheidung des Rates vom 23.2.1989 (89/160/EWG), ABI. 1989, Nr. L 60/48.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

(FLA.IR) 314 und Fisheries and Aquacultural Research (FAR)31 s hatte ECLAIR mit 80 Mio. ECU gegenüber 25 Mio. ECU (FLAIR) sowie 30 Mio. ECU (FAR) einen deutlich höheren Etat. Innerhalb dieser Programme wurde allerdings tatsächlich nur jeweils ein Teilbetrag für die Biotechnologieförderung eingesetzt. Deshalb sind die Zahlen im Hinblick auf die biotechnologiebezogenen Förderbeträge nur begrenzt aussagekräftig. In den unterschiedlichen Budgets spiegelt sich gleichwohl die Bedeutung wider, die - gestützt auf ein Diskussionspapier der Kommission aus dem Jahr 1986 - von EGSeite der Einbindung biotechnologischer und insbesondere gentechnischer Verfahren in die Landwirtschaft beigemessen wurde. Förderziele von ECLAIR sind zum einen die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie mit Hilfe einer verbesserten Abstimmung zwischen Landwirtschaft und Industrie; zum anderen geht es um die verbesserte Umwandlung, Nutzung und Verwertung biologischer Ressourcen durch Anwendung der Biotechnologie in Industrie und Landwirtschaft. Das Programm FLAIR bezieht sich vor allem auf die europäische Nahrungsmittelindustrie, die Förderung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, die Erhöhung von Sicherheit und Qualität der Nahrungsmittel für den Verbraucher sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit von Forschung und Industrie. Als zeitlich frühestes Programm beinhaltet FAR nur im Teilbereich ,,Aquakultur" Aspekte mit Biotechnologiebezug. Innerhalb des dritten FuT-Rahrnenprogramms wurden die in den drei Programmen behandelten Teilbereiche im Programm Agrar- und agrarwirtschaftliche Forschung (einschl. Fischerei) (19901994)316 integriert. Das Programm weist mit 329,67 Mio. ECU ein erheblich gesteigertes Volumen auf. Auch hier ist die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der land- und forstwirtschaftliehen Betriebe zentraler Aspekt. Biotechnologie ist außerdem Teilbereich in der EG-Entwicklungshilfepolitik. Auf der Grundlage der Vorgaben im dritten FuT-Rahmenprogramm, das auch die Förderung der Biowissenschaften und -technologien für die Entwicklungsländer vorsieht, wird mit dem spezifischen Programm ,,für Forschung und technologische Entwicklung im Bereich der Biowissenschaften und -technologien für die Entwicklungsländer"317 die Themenstellung der modernen Biotechnologie eingebracht. Angestrebt ist die verbesserte Zusam314 Laufzeit des Programms: 1989-1993; vgl. die Entscheidung des Rates vom 20.6.1989 (89/411/EWG), ABI. 1989, Nr. L 200118. 315 Laufzeit des Programms: 1988 -1992; vgl. den Beschluß des Rates vom I 9.10. 1987, ABI. 1987, Nr. L 314/20. 316 Vgl. die Entscheidung des Rates vom 9.9.1991 (91 /504/EWG), ABI. 1991, Nr. L 265/33. 317 Laufzeit 1990-1994; vgl. die Entscheidung des Rates vom 7.6.1991 (91/366/ EWG), ABI. 1991, Nr. L 196/31.

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menarbeit der Wissenschaftler aus beiden Hemissphären. Dementsprechend sind Gegenstand Forschungsvorhaben, die gemeinsam von EG-Mitgliedstaaten und Entwicklungsländern ausgearbeitet wurden. Die Durchführung der Vorhaben erfolgt ausschließlich in den Entwicklungsländern. Das Budget beträgt ca. 110 Mio. ECU. Vorläufer war das Programm STD (Science et technique au service du developpement)318 • Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle wiederholt, daß humangenetische Aspekte Gegenstand des Programms für Forschung und technologische Entwicklung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens sind319• Die Mittel umfassen hier 15 Mio. ECU.

Binnenmarkt Den zweiten Schwerpunkt industriepolitischer EG-Biotechnologiepolitik bildet die Binnenmarktpolitik. Die ökonomischen Vorteile der Marktausweitung über die nationalen Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg werden seitens der EG, ebenso wie in anderen Bereichen320, auch für die zukünftige Entwicklung und internationale Wettbewerbsfähigkeit der gemeinschaftlichen Biotechnologieindustrie und -forschung als wichtig erkannt321 • Um diese Vorteile zu erreichen, verfolgt die Gemeinschaft zwei strukturbildende Ansätze, die sich inhaltlich ergänzen und dabei zusätzlich die gleichermaßen wichtige umwelt- und gesundheitspolitische Zielrichtung in sich aufnehmen. Vorteile sollen einerseits durch die gemeinschaftsweite Harmonisierung des Gentechnikrechts erreicht werden. Ein Gentechnikrechtsgefüge bestehend aus horizontalen (technikbezogenen) und sektoralen (produktbezogenen) Rechtsnormen soll bereichsabdeckend mit seinen technikbezogenen Sicherheitsvorschriften und sektoralen Produktsicherheits- und -zulassungsregelungen dem Entstehen nichttarifärer Handelshemmnisse, verursacht durch unterschiedliche mitgliedstaatliche Sicherheitsvorschriften, entgegenwirken322 • Der zweite Vgl. ABI. 1987, Nr. L 355/41. Laufzeit: 1990-1991; vgl. die Entscheidung des Rates vom 29.6.1990 (90/ 395/EWG), ABI. 1990, Nr. L 196/8. 320 Vgl. dazu den Cecchini-Report. 321 S. dazu in Ansätzen schon das erste Strategiekonzept aus dem Jahre 1983 (KOM[83] 672 endg./ Anhang). Die Binnenmarktharmonisierung wird besonders im Strategiepapier von 1991 hervorgehoben (vgl. EG-Komm., BR-Drs. 278/91 , S. 9 ff.). 322 Die Gemeinschaft verfolgt das Ziel, verdecktem mitgliedstaatliehen Protektionismus in Form unterschiedlicher Sicherheits- und Zulassungsvorschriften entgegenzuwirken und damit einen vereinheitlichten Wirtschaftsraum mit unverfälschtem Wettbewerb und Chancengleichheit zwischen den nationalen Wettbewerbern zu erreichen. Unverfälschter Wettbewerb war deshalb auch eine zentrale Maxime des Industriepolitischen Konzepts von 1990. 318 319

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

komplementäre Ansatz besteht darin, überbetriebliche technische Normen für die Ausgestaltung gentechnischer Verfahren auf EG-Ebene zu harmonisieren323. Die binnenmarktbezogene Harmonisierung des EG-Gentechnikrechts tangiert vier Teilbereiche des Gemeinschaftsrechts: das horizontale, rein technikbezogene Gentechnikumweltrecht324, das horizontale Wirtschaftsrecht mit Bezügen zur Gentechnik325, sektorale Produktzulassungsregelungen326 und produktspezifische Sicherheitsregelungen zur Nachmarktkontrolle327 . Die teils bereits erlassenen, teils noch im Rechtsetzungsprozeß, teils im bloßen Planungsstadium befindlichen Regelungen stützen sich entweder auf Art. 130s EWGV (Systemrichtlinie) oder auf Art. lOOa EWGV. Dies führt zu einer Problemstellung, die sich aus der besonderen Situation der Gentechnikregulierung in den Mitgliedstaaten ergibt. Zu dem Zeitpunkt, als die System- und die Freisetzungsrichtlinien am 23. Mai 1990 in Kraft traten, bestand innerhalb der EG nur in Dänemark ein eigenständiges, nationales Gentechnikrecht mit Außenwirkung328 • Verschiedene Länder operierten zu diesem Zeitpunkt mit Gentechnikrichtlinien, die allerdings speziell im Bereich der Forschungsvorhaben nur verwaltungsinterne Wirkung zu entfalten

323 Die Grundlage für dieses zweigliedrige Konzept bilden die Ausführungen der EG-Kommission im Stategiepapier aus dem Jahr 1991 (vgl. EG-Komm., BR-Drs. 278/91, s. 9 ff.). 324 Das sind die Systemrichtlinie, die Freisetzungsrichtlinie und die Arbeitnehmersicherheitsrichtlinie. 325 Hierunter fallen insbesondere die geplanten Rechtsvorschriften zum gewerblichen Rechtsschutz: dem Schutz des geistigen Eigentums für Erfindungen der Biotechnologie und dem Sortenschutz für neue Pflanzenzüchtungen (zum Patentschutz vgl. den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zum Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABI. 1989, Nr. C 10/3 sowie den geänderten Vorschlag KOM [92] 589 endg. = Abi. 1993, Nr. C 44/36; zum Sortenschutzrecht für neue Pflanzenzüchtungen siehe den Vorschlag der Kommission KOM[90] 347 endg.). 326 Vgl. dazu die Vorschläge der EG-Kommission zur Neuregelung des Arzneimittelverkehrs und der -Zulassung in der EG, mitsamt den dazu notwendigen Änderungen der bestehenden und davon inhaltlich betroffenen Gemeinschaftsrechtsakte in: KOM(90) 283 endg. = BR-Drs. 882 I 90 vom 30.11.1990. 327 Vgl. u.a. zur Pharmakovigilianz (Arzneimittelüberwachung) die Änderungen am pharmazeutischen Gemeinschaftsrecht gern. den Vorschlägen in KOM(90) 283 endg. (s.o.) sowie Reich, Europäisches Verbraucherrecht, S. 325 ff. 328 Schon im Mai 1986 wurde in Dänemark vom Folketing das Umwelt- und Gentechnologiegesetz verabschiedet (Act. No. 288 vom 4.6.1986). Dänemark war damit das erste Land der Welt, das ein verbindliches Gentechnikgesetz erließ. Das Gesetz wurde im Mai 1989 erstmals geändert (Act. No. 338 vom 24.5.1989) (zum Inhalt vgl. Brocks I Pohlmann/Senft, Das neue Gentechnikgesetz, S. 34).

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vermochten329; in Deutschland stand das Verfahren zum Erlaß des Gentechnikgesetzes Mitte Mai 1990 kurz vor dem Abschluß; in verschiedenen sektoralen Teilbereichen bestanden zudem Vorschriften, die in ihrem Anwendungsbereich auf die Gentechnik ausgeweitet worden waren330. Die Gemeinschaft nahm damit eine Vorreiterrolle in der Gestaltung des Gentechnikrechts ein331 . Diese so erfreulich wirkende Tatsache bedarf aber genauerer Betrachtung. Ziel des EG-Gentechnikrechts - neben seiner Schutzfunktion - war und ist es, mit dem Erlaß der System- und der Freisetzungsrichtlinien332 nichttarifären Handelshemmnissen entgegenzuwirken. Jene entstehen aber vorrangig333 durch nationale, inhaltlich unterschiedliche Normen. Zu fragen ist demnach, welche Wirkungen die weitestgehende Absenz rechtsverbindlicher mitgliedstaatlicher Regelungen entfaltet. Es ist zwar nicht so, daß EG-Rechtsharmonisierung grundsätzlich in jedem Fall existentes nationales Recht voraussetzt334, doch muß man sich die Frage stellen, ob die Gemeinschaft in ihrer Wahl dadurch nicht zumindest eingeschränkt ist. Hätte die EG dem Entstehen derartiger Handelshemmnisse, mit Rücksicht auf die nationalen Kompetenzen und rechtlich weniger intensiv, allein durch Anwendung der primärrechtlichen Verbotsnorm des Art. 30 EWGV entgegenwirken müssen, bei gleichzeitiger gegenseitiger Anerkennung der nationalen Zulas329 Vgl. etwa die deutschen "Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in-vitro neukombinierte Nukleinsäuren" vom 21.3.1978, die zwischendurch mehrmals geändert (i.S.v. dereguliert) wurden (vgl. die 5. Neufassung von 1986, BAnz. Nr. 109 S. 7606). Mit dem Inkrafttreten des GenTG und der GenTSV sind die Richtlinien 1990 außer Kraft getreten. Die Richtlinien waren als Verwaltungsvorschriften nur für die vom Bund geförderten Forschungsvorhaben und Entwicklungsarbeiten verbindlich. Auch die schon erwähnten NIH-Guidelines (USA) entfalten lediglich bei staatlich geförderten Forschungsvorhaben eine bindende Wirkung. Ähnliche Aussagen lassen sich für Großbritannien und Frankreich treffen (dazu Brocks/Pohlmann/Senft, Das neue Gentechnikgesetz, S. 35 f.). 330 Vgl. Pohlmann, Neuere Entwicklungen im Gentechnikrecht, S. 34 ff. 331 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, § 13 Rn. 204. 332 Erklärtes Ziel der Freisetzungsrichtlinie ist die Verwirklichung des Binnenmarktes (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Richtlinie). 333 Als problematisch erweist sich die Frage, inwieweit überbetriebliche technische Normen Handelshemmnisse i.S.d. Art. 30 EWGV ("Maßnahme gleicher Wirkung") sein können. Betrachtet man die technischen Normen isoliert, dann ist dies nach h.M abzulehnen (vgl. Mohr, Technische Normen und freier Warenverkehr in der EWG, S. 79 [m.N. zu den Positionen von EG-Kommission, Schrifttum und EuGH-Rechtsprechung]). Differenzierter stellt sich das Bild dar, wenn die technischen Normen durch indirekte staatliche Rezeption Bindungswirkung entfalten. In diesem Fall ist von einer handelsbeschränkenden Qualifikation bei entsprechender inhaltlicher Ausgestaltung nach Maßstab der "Dassonville-Formel" des EuGH [EuGH, Rs. 8174, Slg. 1974, S. 837 ff.) auszugehen. 334 lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 693 f.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

sungsvoraussetzungen335? Oder war die EG aufgrund der immanenten gesundheits- und umweltpolitischen Zielambivalenz befugt, die binnenmarktbezogene Rechtsharmonisierung aktiv durch den Erlaß von Richtlinien voranzutreiben336? Immerhin steht Art. 30 EWGV nationalen Gesundheits- und Umweltschutzvorschriften nicht von vomherein entgegen. Um die aufgeworfenen Fragen zu klären, ist das Verhältnis des Art. 30 EWGV zu den Art. lOOa und 130s EWGV aufzuhellen. Stehen beide Ansätze in einem sich wechselseitig ausschließenden Altemativverhältnis, oder stehen sie gleichrangig nebeneinander? Ausgangsprämisse bildet die EuGH-Rechtsprechung, nach der Rechtsangleichungsmaßnahmen unter dem Verdikt ihrer konzeptionellen Verhältnismäßigkeit stehen337 • Rechtsangleichung darf niemals weiter gehen, als dies zum Erreichen eines Vertragsziels notwendig ist338 • An dieser Stelle tritt die 335 Sog. "Herkunftsland- oder Anerkennungsprinzip" (zum Bereich des freien Warenverkehrs, s. Oppermann, Europarecht, Rn. 1165). 336 Der Erlaß gemeinschaftlicher Vorschriften, die die Materie selbst regeln, stellt die intensivste Form einer Harmonisierung durch die Gemeinschaft dar. Prinzipiell stehen der EG verschiedene Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedstaaten zur Verfügung. Das gestufte Spektrum reicht von der kontrollierten Nichtharmonisierung gern. Art. 30 EWGV mit gegenseitiger Anerkennung der nationalen Standards, über die Möglichkeit einer (selten praktizierten [vgl. Pernice, NVwZ 1990, S. 209]) Optionellen (fakultativen) Rechtsangleichung, bei der eine gemeinschaftsrechtliche Regelung zusätzlich zu bestehenden nationalen Regelungen erlassen wird und die Betroffenen die Wahlmöglichkeit zwischen beiden Möglichkeiten haben über Teilharmonisierungen bis hin zur Totalharmonisierung mittels bindender Vorschriften in Entscheidungen, Richtlinien oder Verordnungen i.S.d. Art. 189 EWGV (zu den unterschiedlichen Methoden: Langeheine, in: Grabitz, Art. 100 Rn. 53 ff. [57 ff.]). Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Methoden ist in vielen Fällen nur schwer möglich, da sie häufig durchmischt angewandt werden. Beispielhaft ist hierfür das EG-Lebensmittelrecht. Die gemeinschaftliche Konzeption differenziert zwischen Gesundheitsschutz und dem Verbraucherschutz i.e.S. (Täuschungsschutz). Im Gesundheitsschutz erfolgt aus Sicherheitsgründen grundsätzlich eine Totalharmonisierung, wohingegen im zweiten Bereichinanbetracht des zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.d.R. nur eine Teilharmonisierung stattfindet (vgl. Streinz, Gesundheitsschutz und Verbraucherinformation im EG-Lebensmittelrecht, S. 152 ff.). 337 Zur Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in bezug auf die Kompetenzwahrnehmung der Gemeinschaft vgl. Steindorff, Grenzen der EG-Kompetenzen, S. 62; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 184 ff.; Langeheine, in: Grabitz, Art. 100 Rn. 12 (m.w.N.). Die Untersuchung hat sich an der aus dem deutschen Recht bekannten Drei-Stufen-Prüfung zu orientieren. Kriterien sind die Geeignetheit, Erforderlichkeil und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im engeren Sinn (Angemessenheit), vgl. EuGH, Rs. C-331/89 (Fedesa), S1g. 1990, S. 4063 ff. sowie Kahl, a.a.O., m.w.N. zur Rechtsprechung. Mit dem Unionsvertrag wird das Verhältnismäßigkeilsprinzip in Art. 3b Abs. 3 EGV nunmehr im EG-Vertrag verankert. 338 EuGH, Rs. 116/82, Slg. 1986, S. 2519; /psen, Europäisches Gemeinschafts-

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inhaltliche Nähe zum Subsidiaritätsprinzip deutlich zutage. Die Unterscheidung, ob Art. 30 oder Art. 1OOa EWGV zur Anwendung gelangen soll, betrifft die Frage, ob die Gemeinschaft überhaupt regelnd tätig werden soll, d.h. im Grunde eine Frage, die normalerweise vom Subsidiaritätsprinzip erfaßt wird. Nicht zuletzt angesichts dieser inhaltlichen Verwischung der Begriffe, spricht das Bundesverfassungsgericht in seinem ,,Maastricht-Judikat"339 in bezug auf Art. 3b Abs. 2 EGV von einem Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinn. Handelt es sich - argurnenturn e contrario - also nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts beim Verhältnismäßigkeitsprinzip um ein Subsidiaritätsprinzip im weiteren Sinne? Jene enge begriffliche Verwandtschaft beider Prinzipien wird auch dadurch deutlich, daß sich verschiedene Literaturstimmen des Anerkennungsprinzips als Instrument zur Realisierung des in Art. 3b Abs. 2 EGV festgeschriebenen Subsidiaritätsprinzips bedienen340• Die zugrundezulegenden Kriterien sind die Natur der Regelungsmaterie, ihre sachimmanente Relevanz und ihre Bedeutung für die Verwirklichung des gemeinsamen (Binnen-)Markts. Im Umkehrschluß ist, bezogen auf die Abgrenzung zwischen Art. 30 EWGV und der Art. lOOa und 130s EWGV daraus zu folgern, daß Rechtsangleichungsmaßnahmen dann nicht mehr zulässig, weil unverhältnismäßig sind, wenn die Ziele des freien Warenverkehrs auch unter Verzicht auf Rechtsangleichung durch alleinige Anwendung der Verbotsnormdes Art. 30 EWGV erreicht werden könnten. Die Art. 30 und lOOa bzw. 130s EWGV stehen deshalb in einem sich gegenseitig ausschließenden Alternativverhältnis341 •

recht, S. 694; Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 117. 339 BVerfG, Urt. vom 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 446: " ... Das in Art. 3b Abs. 3 EGV verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip findet - im Gegensatz zum Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinn des Art. 3b Abs. 2 EGV - auf alle Maßnahmen der Gemeinschaft Anwendung, mögen sie auf eine ,ausschließliche' oder auf eine sonstige Zuständigkeit der Gemeinschaft gestützt sein." (Hervorhebungen durch Verf.). 340 Micklitz/Reich, EuZW 1992, S. 595; Pipkom, EuZW 1992, S. 699; Langer, ZG 1993, S. 208 ff. (letzterer versucht die Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips durch eine prozedurale Einbindung des Anerkennungsprinzips zu effektivieren; danach habe jeder Gemeinschaftsmaßnahme eine Phase vorauszugehen, in der eine wechselseitige Kooperation der Staaten erweisen solle, ob die Problemlösung tatsächlich auf mitgliedstaatlicher Ebene gelöst werden kann [= politisches Such- und Entdeckungsverfahren)). 341 Matthies, in: Grabitz, Art. 30 Rn. 25; Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 116 ff. (117 f.), mit Verweis auf die Gegenmeinung von Masclet (RTDE 1980, S. 626 ff.), der von gleichrangiger Alternativität ausgeht, die zu einem Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers führe.

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Zu fragen ist demnach nach der Funktionalität einer ausschließlichen Anwendung des Art. 30 EWGV im Bereich der Gentechnik, Funktionalität gemessen an den verfolgten Zielen, d.h. einerseits der Sicherung des notwendigen Schutzniveaus und andererseits der harmonischen Entwicklung der Gentechnik innerhalb der Gemeinschaft. Im Fall des Art. 30 EWGV wird nationales Recht auf seine Vereinbarkeil mit primärrechtlichen Regelungen des EWG-Vertrags geprüft; eine Harmonisierung der betroffenen Materie auf EGEbene findet nicht statt. Das unzulässig beschränkende nationale Recht wird im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gern. Art. 169 EWGV für vertragswidrig und damit nichtig erklärt. Beurteilungsmaßstab ist die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit Art. 30 EWGV. Art. 30 EWGV sieht neben mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen auch ein Verbot nationaler "Maßnahmen gleicher Wirkung" vor. Die Auslegung des Begriffs "Maßnahmen gleicher Wirkung" beschäftigte den Europäischen Gerichtshof in zahlreichen Verfahren 342. Aufbauend auf seiner ,,Dassonville"-Entscheidung343 vertritt der Gerichtshof eine weite Auslegung des Begriffs. Danach unterfallen ihm auch mittelbare negative Beeinflussungen von Einfuhren 344 • Eine Diskriminierungsabsicht ist nicht erforderlich. Die Modalitäten wie Form, Handelstufe oder Zielsetzung spielen keine entscheidende Rolle345• Einschränkungen des Anwendungsbereichs von Art. 30 EWGV346 ergeben sich aus der bekannten "Cassis de Dijon"-Rechtsprechung des EuGH zu Art. 36 S. l EWGV347 • Danach sind Handelshemmnisse neben den in der Norm aufgeführten Gründen auch dann hinzunehmen, wenn "sonstige zwingenden Erfordernisse" dies erfordern, und diese wiederum ihrerseits verhältnismäßig sind. Nach Auffassung des EuGH zählen dazu - neben dem Schutz der Gesundheit - auch die Bereiche des Umwelt- und Verbraucherschutzes348 . Im Bereich des Umwelt- und des Technikrechts ist dieser nationale Spielraum 342 Vgl. dazu Matthies, in: Grabitz, Art. 30 Rn. 12 ff.; ebenso Breuer, Die internationale Orientierung von Umwelt- und Technikstandards im deutschen und europäischen Recht, S. 78 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 1158 ff. 343 Rs. 8 I 14 (Dassonville), Slg. 1974, S. 837 ff. (852). 344 Mohr, Technische Normen und freier Warenverkehr in der EWG, S. 73. 345 Vgl. dazu die Nachweise bei Mohr, a.a.O. (Fn. 33). 346 Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Rs. 113/80 [Kommission/Irland], Slg. 1981, S. 1625 ff.) handelt es sich bei den "zwingenden Erfordernissen" i.S.d. Art. 36 S. I EWGV um tatbestandsausschließende Merkmale (vgl. Matthies, in: Grabitz, Art. 30 Rn. 20). 347 S. hierzu die Rspr.-Nachw. bei Müller-Graf! in: von der Groeben/Thiesingl Ehlermann, Art. 30 Rn. 77 (mit Fn. 245). 348 EuGH, Rs. 240/83 (Procureur de Ia Republique/ ADBHU), Slg. 1985, S. 531 ff. (549). S. dazu auch die "Dänische Pfandflaschen"-Entscheidung des EuGH, Rs. 302/ 86 (Kommission/Dänemark), Slg. 1988, S. 4607.

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weie49 • Jeder Mitgliedstaat ist befugt, das nationale umwelt- und technikspezifische Schutzniveau selbst zu bestimmen, solange eine Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene noch nicht erfolgt ist. Fraglich bleibt, ob sich diese Grundsätze auch auf die Gentechnik übertragbar sind. Zunächst stellt sich die Frage, ob die in den Richtlinien normierten Produktions- und Anlagenstandards350 sowie Freisetzungs- und Zulassungsregelungen aufgrund ihrer Zielrichtung überhaupt ,,Maßnahmen gleicher Wirkung" darstellen können und, bejahendenfalls, ob der Ausschlußtatbestand des Art. 36 S. 1 EWGV auf sie Anwendung findet. Die erste Frage läßt sich nicht ohne weiteres beantworten. Zu differenzieren ist zwischen den produktionsbezogenen und den die Produktzulassung betreffenden Vorschriften. Bei letzteren wird man die Eignung ohne Problem bejahen können. Die Anwendbarkeit von Art. 30 EWGV bei allgemeinen innerstaatlichen Produktionsvorschriften wird dagegen von Teilen der Literatur unter Hinweis auf eine mangelnde transnationale Dimension abgelehnt351 • Dieser Ansicht ist zuzustimmen352. Eine diskriminierende Wirkung von exportierenden Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten findet bei derartigen Produktionsstandards gewöhnlich in der Tat nicht statt. Allein der Umstand, daß diese Rechtsvorschriften Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der Gemeinschaft zwischen den einzelnen Wettbewerbern hervorrufen können, genügt nicht. Letzteres sind die Folgen nationaler Regelungen, die ausschließlich die Wettbewerbssituation der heimischen Industrie gestalten. So bleibt festzuhalten: Art. 30 EWGV findet auf gentechnikspezifische Produktionsstandards keine Anwendung; die Harmonisierungswirkung wäre auf diesem Weg nicht erreichbar. Ein weiteres kommt hinzu. Die Kontrollwirkung des Art. 30 EWGV wäre angesichts der EuGH-Rechtsprechung sicherlich nur gering, eröffnet sie doch, wie gezeigt, über Art. 36 S. 1 EWGV weitreichende Abweichmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten. Gerade im BeEuGH, Rs. 188/84 (Holzbearbeitungsmaschinen), Slg. 1986, S. 419 ff. (435). Anlagen- und Produktionsstandards legen die sicherheitstechnische Beschaffenheit von Produktionsanlagen und -verfahren fest. Sie beziehen sich somit, im Gegensatz zu Produktstandards, auf den Produktionsvorgang (zur Begrifflichkeil Breuer, Die internationale Orientierung von Umwelt- und Technikstandards im deutschen und europäischen Recht, S. 84 ff.; auch das erste gemeinschaftliche Umweltschutz-Aktionsprogramm [ABI. 1973, Nr. C 13911] enthält in Anlage I [Nr. 3.2.2. bzw. 3.2.3.] eine Definition beider Begriffskategorien ["Produktnormen" bzw. "Verfahrensnormen" in Form von "Bauart-" und "Betriebsnormen" für ortsfeste Anlagen]). 351 Epiney/Möllers, Freier Warenverkehr und Umweltschutz, S. 31 f.; Petersmann, Außenwirtschaft 1993, S. 117 f. 352 Damit ist freilich noch kein Präjudiz zum weiteren Problem getroffen, ob der Binnenmarktbegriff i.S.d. Art. 8a EWGV die Chancengleichheit von Unternehmen im Wettbewerb beinhaltet. Diese wird u.a. durch Produktionsvorschriften mitgestaltet 349

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reich der Gentechnikrechtsetzung sind die Grenzen der Verhältnismäßigkeit für die mitgliedstaatliche Gesetzgebungsprärogative weit zu ziehen. Neben der Eröffnung erheblicher nationaler Gestaltungsspielräume hat diese lückenhafte Kontrolle nach Art. 30 EWGV die weitere Konsequenz, daß die nationalen Regelungen sich mittelfristig auf einem niedrigen Niveau einpendeln. Es besteht keine Sperre gegenüber Normen auf niedrigerem Schutzniveau; dadurch würden jedoch erhebliche Wettbewerbsgefälle ausgelöst. Das gilt umso mehr für eine Materie wie die Gentechnik, die ohnehin im nationalen Vergleich großen Akzeptanzunterschieden unterliegt353, so daß das Schutzziel nur unvollständig zu verwirklichen wäre. Im Ergebnis ist danach festzustellen: Art. 30 EWGV steht der aktiven binnenmarktorientierten Rechtsangleichung nicht entgegen. Neben der Formulierung zwingender rechtlicher Vorgaben für die Mitgliedstaaten beinhaltet die Harmonisierungspolitik der EG Bemühungen um den Erlaß gemeinschaftseigener, überbetrieblicher technischer Normen354 • Obwohl unverbindlich, sind technische Normen aufgrund faktischer, ökonomisch bedingter Befolgungszwänge geeignet, indirekt Handelshemmnisse hervorzurufen 355 • Schon im März 1990 richtete die europäische Normungsorganisation Comite Europeen de Normalisation (CEN) 356 eine eigene Biotechnologie-Arbeitsgruppe ein. Auf der Grundlage des gemeinschaftlichen 353 Dazu Cantley, Biotechnology in Europe, S. 9; European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions, Public Attitudes to Genetic Engineering, S. I 0 ff. 354 Zur Verdeutlichung ist darauf hinzuweisen, daß überbetriebliche technische Regeln oder Normen nur unverbindlich sind. Es handelt sich um Festlegungen mit Empfehlungscharakter privater Normungsgremien oder Interessenverbände. Normative Wirkung erfalten sie ggfs. durch Inkorporation in gesetzliche Bestimmungen oder indirekte Rezeption durch normative Standards (vgl. zu Begriff und Rechtsnatur technischer Normen Lukes, Industrielle Normen und Standards, S. 17 ff; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, S. 330 ff. [379 ff.]; ders., Formen, Verfahren und Rechtsprobleme, S. 32 ff.; Breulmann, Normung und Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 29 ff.; Mohr, Technische Normen und freier Warenverkehr in der EWG, S. 7 ff., 21 ff.). 355 Vgl. Breulmann, a.a.O., S. 20 f. 356 CEN ist,- wie die Parallelorganisation CENELEC (Comite Europeen de Coordination des Normes Electriques) - eine unabhängige Normungsorganisation in Form eines internationalen, privatrechtlich organisierten Vereins des belgiseben Rechts (vgl. Breulmann, a.a.O., S. 43 ff.; Mohr, a.a.O., S. 12 f.). Die Zusammenarbeit mit der EG gründet auf einer Vereinbarung, die im Jahr 1984 mit der EG-Kommission geschlossen wurde. Hintergrund war hierfür die Schlußfolgerung des Rates vom 16.7.1984, in der die Grundsätze einer europäischen Normungspolitik festgelegt wurden. Diese wurden wenig später am 7.5.1985 durch die Entschließung über eine neue Konzeption für die technische Rechtsangleichung und Normung in politischen Leitlinien präzisiert (zu Schlußfolgerungen und Entschließungs. ABL. 1985, Nr. C 136/1).

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Strategiekonzepts aus dem Jahr 1991 357 soll CEN in sechs Bereichen technische Sicherheitsnormen entwickeln358 . Im einzelnen handelt es sich um Normen für den Laborbereich, die entsprechend dem jeweiligen Gefahrenpotential Maßstäbe für die praktische Laborarbeit bilden sollen359, um Normen für die Ausgestaltung großvolumiger Verfahren und Industrieanlagen, um Normen für die Geräte360, um Methoden für die Entdeckung und Identifikation genetisch veränderter Organismen, um die Aufstellung von Listen über die Eigenschaften der Organismen und Vektoren, die zur Bildung von Gruppe I-Organismen 361 verwendet werden sowie um Normen für Arbeitsmethoden zur Durchführung von Qualitätskontrollen. Vor dem Hintergrund des nun expressis verbis geltenden Subsidiaritätsprinzips sollen die Normen nur eine Ergänzung des Rechtsrahmens darstellen. Eine Bezugnahme, die zur mittelbaren Rechtsverbindlichkeit führen könnte, ist nicht vorgesehen362 . Die Gemeinschaft bezieht sich somit auf die von ihr im Jahr 1985 entwickelte "Neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung"363. Nach ihr sollen im Prinzip nur die grundlegenden Anforderungen in der Harmonisierungsrichtlinie selbst festgelegt werden 364. Gleichwohl ist festzustellen, daß insbesondere die System- und die Freisetzungsrichtlinien jeweils ein dichtes regulatorisches Netz an Vorgaben für die Betroffenen entfalten. Nicht geregelt wird in ihnen jedoch das technische Detail, z.B. der Ausgestaltung der Labors, um das erforderliche Containment zu erreichen. Es handelt sich darum beim Verhältnis der rechtlichen Regelungen zum vorgesehenen technischen Normenwerk um ein Gemisch aus traditionell hoher Regelungsintensität und "Neuer Konzeption".

Vgl. EG-Komm., BR-Drs. 278/91, S. 11, 17. Vgl. dazu und zum folgenden EBIS 2 (1992), No. 2, S. 3. 359 Z.B. Beschreibungen für das zu verwendende Material oder Methoden für den Umgang, die Beurteilung und die Inaktivierung von Abfall. 360 Z.B. HEPA-Filter, Autoklave etc. 361 I.S.v. Art. 4 Abs. 1 der Systemrichtlinie. 362 Vgl. EG-Komm., BR-Drs. 278/91, S. 11, 17. 363 Vgl. ABI. 1985, Nr. C 136/1. 364 Vgl. Vieweg, Technische Normen im EG-Binnenmarkt, S. 59 ff. (64 f., 75 f.); Anselmann, Die Bezugnahme auf harmonisierte technische Regeln im Rahmen der Rechtsangleichung, S. 101 ff. Das ursprüngliche Gemeinschaftskonzept zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse von 1969 (ABI. 1969, Nr. C 76/1) verfolgte den intensiveren Weg, sektoral in umfassender Weise alle handelshemmenden nationalen Regelungen mittels auf der Rechtsgrundlage des Art. 100 EWGV erlassenen Richtlinien anzugleichen. 357 358

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2. Umwelt- und Gesundheitspolitik Kernbestandteil der umwelt- und verbraucherschutzbezogenen EG-Biotechnologiepolitik ist die Errichtung eines gentechnikrechtlichen Sicherheitsrahmens. Die Aktionsbereiche decken sich, mit Ausnahme des s~zierten wirtschaftsrechtlich-orientierten Gentechnikrechts, weitestgehend mit denen der Binnenmarktharmonisierung. Das Gentechnikumweltrechf65 reiht sich ein in eine Phalanx von mittlerweile etwa 200 Umweltschutzrechtsakten366, die von der EG in den beiden letzten Jahrzehnten erlassen wurden. Diese hohe Aktivität spiegelt die Bedeutung wider, die die Gemeinschaft der Sicherheit gentechnischer Anwendungen beimißt Parallelen zur Ausweitung der EG-FuTAktivitäten sind unverkennbar. Die Entwicklungslinien der gemeinschaftlichen Umweltpolitik verliefen ähnlich zu denjenigen der FuT-Politik. Ebenfalls ohne ausdrücklich im Primärrecht verankerte Kompetenzgrundlage, begann die Gemeinschaft am Anfang der ?Oer Jahre eine eigene Umweltpolitik zu formulieren 367 • Den politischen Rahmen, d.h. Ziele, Schwerpunkte und Vorgehensweise, bestimmen Aktionsprogramme mit fünf- oder sechsjähriger Laufzeit368 • In ihren Anfängen war die EG-Umweltpolitik hauptsächlich auf die Bekämpfung akuter Umweltschäden oder -beeinträchtigungen ausgerichtet. Das Bild wandelte sich im Laufe der Zeit, als wachsende, immer deutlicher sichtbar werdende grenzüberschreitende Belastungen aller Umweltmedien sowie verschiedene durch menschliches Handeln verursachte Umweltkatastrophen die Notwendigkeiten vorsorgender Politik immer drängender werden ließen.

365 Dasselbe gilt für den Verbraucherschutz (vgl. Art. 130r Abs. I [2. Sp.str.: "zum Schutz der menschlichen Gesundheit beizutragen"]). Die folgenden Ausführungen gelten deshalb auch für diesen Bereich. 366 Zum zahlenmäßigen Umfang vgl. die Aussagen der EG in ihrem Fünften Umweltschutzprogramm, ABI. 1993, Nr. C 138/21. 367 Auslöser war die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen im Juni 1972 in Stockholm (dazu BuH. EG 711972, S. 38 ff.; vgl. die Nachw. bei Scheuing, EuR 1989, S. 152/153 [s. dort auch Fn. 1]. In Folge davon entwickelte die Gemeinschaft im Jahr 1973, nach entsprechender Aufforderung von Seiten der Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf dem Pariser EG-Gipfel 1972, ihr erstes Umweltschutz-Aktionsprogramm (ABI. 1973, Nr. C 112/ 1). 368 Erstes Aktionsprogramm 1973, ABI. 1973, Nr. C 11211; Zweites A. 1977, ABI. 1977, C 13911; Drittes A. 1983, ABI. 1983, Nr. C 46/1; Viertes A. 1987, ABI. 1987, Nr. C 328/1, und Fünftes A. 1992, ABI. 1993, Nr. C 138/1. Die Programme sind rechtlich unverbindliche, politische Absichtserklärungen (vgl. Grabitzl Nettesheim, in: Grabitz, vor Art. 130r Rn. 13; Krämer, in: von der Groeben/Thiesing I Ehlermann, Vorb. zu Art. 130r-t Rn. 5). Der nun in Kraft getretene Maastrichter Unionsvertrag sieht erstmals vor, die vorrangigen umweltpolitischen Ziele vorab in den Aktionsprogrammen festzulegen (vgl. Art. 130s Abs. 3 EGV).

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Diese Bedürfnisse realisierend, verlagerte die EG-Umweltpolitik zu Beginn und in der Mitte der 80er Jahre ihren Schwerpunkt auf vorsorgende Maßnahrnen369. Entsprechend der kontinuierlich gewachsenen Bedeutung erfolgte 1987 die Aufnahme einer ausdrücklichen Umweltkompetenz in den EWGVertrag. In Titel VII (Umwelt)370 und an anderen Stellen des Vertrags371 wurden Kompetenzvorschriften zum Erlaß sekundärrechtlicher Umweltnormen eingefügt. Bot bis zu diesem Zeitpunkt die Frage nach der gemeinschaftlichen Umweltkompetenz Anlaß zu umfangreichen Diskussionen372, so änderte sich das Bild nach 1987 insofern, als nun (und dies gilt im Prinzip bis heute) die Auslegung der umweltschutzbezogenen Vertragsbestimmungen erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. Die Fragen der kapitelinternen Kompetenzabgrenzung der Art. 130r-t EWGV, die Abgrenzung zur Binnenmarktharmonisierungskompetenz des Art. 100a EWGV373 sowie das Verhältnis zur mitglied369 Zur Entwicklung des Vorsorgeprinzips in der EG-Umweltpolitik Hohmann, Präventive Rechtspflichten und -prinzipien des modernen Umweltvölkerrechts, S. 209 ff. 370 Art. 130r-t EWGV. 371 Vgl. z.B. Art. lOOa EWGV. 372 Vor lokrafttreten der EEA stützte sich die EG-Umweltpolitik auf die Art. 100 und 235 EWGV. Systematische Bedenken wurden überdeckt von der Einsicht in die Notwendigkeit zur dynamischen Ausweitung der Gemeinschaftszuständigkeit Konkret wurde diese Handhabung zumeist durch die Bezugnahme auf die Präambel ("stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen anzustreben") und Art. 2 EWGV ("beschleunigte Hebung des Lebensstandards in der Gemeinschaft") gerechtfertigt. Zu Rechtslage und Lit-Meinungsspektrum vor der EEA s. Rehbinder/Steward, Environmental Protection Policy, S. 15; Scheuing, EuR 1989, S. 154 ff. (s. dort auch Fn. 37); beide jeweils mit weiteren Nachw. zu Rspr. und Literatur. Auch beim Erlaß von Biotechnologierechtsakten griff die Gemeinschaft auf die "Notkompetenz" des Art. 235 EWGV zurück (vgl. z.B. den auf Art. 235 gestützten Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Sicherheitsmaßnahmen gegen hypothetische Gefahren beim Umgang mit neukombinierter DNS, ABI. 1978, Nr. C 301/5, sowie die auf dieser Grundlage erlassene (unverbindliche) Empfehlung des Rates betreffend die Erfassung von Arbeiten über neukombinierte Desoxyribonukleinsäure (DNS) (82/472/EWG), ABI. 1982, Nr. L 213/ 15). Mit Aufnahme der ausdrücklichen Kompetenznormen im EWG-Vertrag ist ein Rückgriff auf Art. 235 EWGV nicht mehr möglich (h.M., vgl. u.a. Breuer, Die internationale Orientierung von Umwelt- und Technikstandards im deutschen und europäischen Recht, S. 88; Pieper, in: Bleckmann, Europarecht, Rn. 1925; Purps, Umweltpolitik und Verursacherprinzip im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 155 ff.; Kloepfer, Umweltrecht,§ 6 Rn. II ff.; Zuleeg, NVwZ 1987, S. 281; a.A. Grabitz/Zacker, NVwZ 1989, S. 302; Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 28). 373 Hier geht es um die innere Systematik des EWG-Vertrags, also das generelle Verhältnis der primärrechtlichen Kompetenzvorschriften zueinander. Die Wahl der richtigen Rechtsgrundlage betrifft den Transfer dieser vorgeordneten und feststehenden primärrechtlichen Systematik im EWG-Vertrag auf die untergeordnete Ebene der individuellen, vom Einzelfall abhängigen sekundärrechtlichen Zuordnung der Materie zur richtigen Kompetenzvorschrift

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

staatlichen Kompetenz waren Quell immer neuer Erörterungen in der Fach-

literatu~74, und sie beschäftigten letzten Endes auch den EuGH375 • Im Über-

blick bietet sich folgendes Bild. Art. 130r EWGV legt als zentrale Norm des Umweltkapitels die Ziele und Aufgaben der gemeinschaftlichen Umweltpolitik fest (Abs. 1). Er nennt die zugrunde zu legenden maßgeblichen Grundsätze und Prinzipien (Abs. 2 S. 2) und erwähnt in der "Querschnittsklausel" des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV das Binnenverhältnis der Umweltpolitik zu anderen Politikbereichen des EWG-Vertrags. Er dehnt ihren Wirkungsbereich auf Maßnahmen auf internationaler Ebene (Abs. 5) aus376 und legt in der Subsidiaritätsklausel des Abs. 4 S. 1 Grundzüge der konkurrierenden Kompe374 Die Behandlungen in der Literatur sind kaum mehr zu überblicken. Zu Systematik und Inhalt der EG-Umweltkompetenz u.a. Pemice, Die Verwaltung 22 (1989), S. 1 ff.; ders., NVwZ 1990, S. 201 ff., 414 ff.; Scheuing, Umweltschutz auf der Grundlage der Einheitlichen Europäischen Akte, EuR 1989, 152 ff.; ders., Einheitliche Europäische Akte als Grundlage umweltrechtlicher Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaft, S. 46 ff.; Koppen/Ladeur, S. 1 ff; Lietzmann, EEA und Umweltschutz, S. 163 ff.; Glaesner, NuR 1988, S. 166 ff.; Grabitz/Zacker, NVwZ 1989, S. 297 ff.; Zu/eeg, NVwZ 1987, S. 280 ff.; Hailbronner, Stand und Perspektiven der EG-Umweltgesetzgebung, S. 15 ff.; Krämer, EuGRZ 1988, S. 285 ff.; ders., Einheitliche Europäische Akte und Umweltschutz, S. 137 ff.; Nicolaysen, Umweltschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 197 ff.; Molkenbur, DVBI. 1990, S. 677 ff.; Petersmann, Außenwirtschaft 1993, S. 95 ff.; zum Thema s. außerdem die Monographien von Schröer, Die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Umweltschutzes; Vorwerk, Die umweltpolitischen Kompetenzen der europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten nach lokrafttreten der EEA; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht; Palme, Nationale Umweltpolitik in der EG, und Epiney/Möllers, Freier Warenverkehr. Im übrigen wird auf die Kommentierungen des Umweltkapitels mitsamt den Literaturhinweisen bei Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz (EL 5 [Stand September 1992]) sowie bei Krämer, in: von der Groeben/Thiesing/Eh/ermann verwiesen. 375 Gegenstand waren hier die Probleme der RechtsgrundlagenwahL Zur Abgrenzung der Anwendung der Art. 130s und IOOa EWGV, vgl. u.a. die jüngere EuGHRechtsprechung, insbesondere die "Titandioxid"-Entscheidung (Rs. C-300/ 89 [Kommission/Rat], Slg. 1-1991, S. 2867 ff.) oder die Entscheidung zur Rechtsgrundlage der Abfallrahmenrichtlinie (Rs. C-155/91 [Kommission/Rat], DVBI. 1993, S. 777 f.); allgemein zur Rechtsprechung des EuGH auf dem Gebiet des Umweltschutzes: Everling, Umweltschutz durch Gemeinschaftsrecht in der Rechtsprechung des EuGH, S. 29 ff.; Lenz, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf dem Gebiet des Umweltschutzes, S. 15 ff.; Wehrhahn, Die Rechtsprechung des EuGH zum Umweltschutz, S. 367 ff., sowie Zuleeg, Der Umweltschutz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinchaften, S. I ff. 376 Die gewachsenen Notwendigkeiten zu internationaler Kooperation im Umweltschutz werden mit Art. 130r Abs. I, 4. Sp.str. EGV im EG-Vertrag noch mehr hervorgehoben. Jener verfestigt die in Art. 130r Abs. 5 EWGV verankerte Kompetenz (nunmehr Art. 130r Abs. 4 EG-Vertrag) zu außengerichteter Umweltpolitik. Die "Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Probleme" wird mit ihm explizites Ziel gemeinschaftlicher Umweltpolitik.

III. EG-Biotechnologiepolitik im Überblick

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tenzausübung gegenüber den Mitgliedstaaten fest. Art. l30s EWGV stellt die Ermächtigungsgrundlage d~77 und fixiert die Verfahrensvoraussetzungen. In Art. l30t EWGV wird festgeschrieben, daß die Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft keine absolute Sperrwirkung für abweichendes nationales Recht erzeugen, sondern im Rahmen der normativen Voraussetzungen der Art. 30, 36 EWGV schutzverstärkende Maßnahmen zulassen 378 • Sekundärrechtliche Bestimmungen, auf der Grundlage des Art. 130s EWGV erlassen, stellen demnach allein Mindeststandards dar, die "nationalen schutzverstärkenden Alleingängen" geöffnet sind. Dasselbe gilt für Umweltrecht, welches auf der Grundlage des Art. lOOa EWGV erlassen wurde379• Im Gegensatz zu Art. 130t EWGV bietet der hierfür einschlägige Art. lOOa Abs. 4 EWGV breiten Spielraum für unterschiedliche Auslegungen380• Das EG-Gentechnikrecht stützt sich nur bei der Systemrichtlinie auf die Grundlage des Art. 130s EWGV, im übrigen mehrheitlich auf den binnenmarktbezogenen Art. lOOa EWGV. Es vermittelt somit im Prinzip nur Mindestvorschriften. Nationalen Schutzverstärkungsmaßnahmen sind sie nicht grundsätzlich verschlossen. Zusätzlich zu dem Erlaß verbindlicher Rechtsvorschriften tauchen in den letzten Jahren immer mehr umweltschutzbezogene Komponenten auch in den einschlägigen Förderprogrammen auf. Spätestens ab den im Rahmen der Laufzeit des dritten FoT-Rahmenprogramms konzipierten spezifischen Bio377 Längere Zeit wurde die Frage diskutiert, ob innerhalb des Umweltkapitels Art. 130r oder 130s EWGV die einschlägige Ermächtigungsgrundlage sei. Die h.M. wendet Art. 130s EWGV an (s. u.a. Zuleeg, Der Umweltschutz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 5; Pemice, Die Verwaltung 22 (1989), S. 2 ff.; zum Meinungsstand Schröer, Die Kompetenzverteilung, S. 38 ff.). 378 V gl. dazu Grabitzl Nettesheim, in: Grabitz, Art. 130t Rn. 5 ff. 379 Art. 100a Abs. 5 EWGV eröffnet zusätzlich die (fakultative) Möglichkeit zu mitgliedstaatliehen Schutzverstärkungsmaßnahmen. Notwendig ist hierfür, daß das abgeleitete Sekundärrecht Schutzklauseln beinhaltet. Die auf dieser Grundlage erlassenen Maßnahmen sind vorläufig und nur zu nichtwirtschaftlichen Gründen zulässig (vgl. Langeheine, in: Grabitz, Art. IOOa Rn. 88 f.; allgemein Weber, Schutzklauseln im EG-Recht). 380 Die Auslegung dieser Vorschrift zählt mit zu den umstrittensten Problemen im Gemeinschaftsrecht Je nach Blickwinkel der Betrachter lassen sich - im Prinzip zwei Grundrichtungen ausmachen: die eine Linie, die aus Griinden einer weitgehenden Harmonisierungswirkung und der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes mit Verweis auf Art. IOOa Abs. 3 EWGV (hohes Umweltschutzniveau) für einen engen nationalen Abweichungsfreiraum plädiert; dieser Linie gegenüber findet sich die Umweltschutzfraktion, die der Umweltschutzkomponente den Vorzug einräumt und sich für einen möglichst weiten Abweichungsspielraum der Mitgliedstaaten ausspricht (zur Auslegung des Art. 100a Abs. 4 EWGV s. Hailbronner, EuGRZ 1989, S. 101 ff.; Palme, a.a.O., S. 78 ff.; Schröer, a.a.O., S. 226 ff.).

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

technologie-Förderprogrammen achtet die Gemeinschaft mehr auf die umweltschutzbezogene Themenauswahl bei der Vergabe von Fördermitteln.

IV. EG-Biotechnologiekompetenz im EWG-Vertrag: Grundlagen, Prinzipien und Grenzen

Jede Kompetenzausübung der Gemeinschaft bedarf einer korrespondierenden Ermächtigung im Primärreche81 • Dieses Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung382 erfordert eine Untersuchung des gemeinschaftlichen Primärrechts in bezug auf eine entsprechende Verankerung der Biotechnologiepolitik. Im Hinblick auf Entstehungszeit und -geschichte ist es evident, daß der EWG- wie der Euratom-Vertrag direkte Aussagen zur Biotechnologie nicht enthalten. Die Kompetenz der Gemeinschaft resultiert hier, wie anband der EG-Forschungs- und Technologiepolitik sowie der EG-Umweltpolitik bereits dargestellt, aus verschiedenen Vertragsbestimmungen, die eine rechtliche Grundlage für die geschilderten Maßnahmen bilden und damit ihrerseits erheblichen Einfluß auf Konzipierung und Ablauf gewinnen. Maßstab ist nicht die Materie als indifferenter Bereich, sondern die Zielrichtung der jeweiligen Maßnahme. Der Begriff ,,Maßnahme" ist begrifflich weit zu verstehen. In Art. 130s EWGV ist allein vom "Tätigwerden der Gemeinschaft" die Rede. Mitumfaßt sind darum neben dem Erlaß bindender Normen auch Nichtrechtsakte, wie Förder- oder Aktionsprogramme. Auch wenn somit die primärrechtliche Basis vorhanden ist, nach der die Gemeinschaft Biotechnologiepolitik dem Grunde nach betreiben kann, bleiben doch einige Fragen unbeantwortet, die es im folgenden zu klären gilt. Nach der Querschnittsklausel des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV sind die Erfordernisse des Umweltschutzes Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft383. Über die bloße Tatsache der Verschränkung der Umweltpolitik mit den anderen Politiken hinaus lassen sich aus diesem Text allein noch 381 Mit Primärrecht wird das Vertragsrecht in den Römischen Verträgen bezeichnet. Das Primärrecht hat nach allgemeiner Meinung Verfassungsrang. Sekundärrecht bezeichnet demgegenüber das Recht, welches in Ableitung der primärrechtlichen Bestimmungen von Vertragsorganen geschaffen wird. 382 Im französischen Urspung ,.competence d'attribution" genannt. Das Schriftum verwendet verschiedene synonyme Begriffe (vgl. Schröer, Die Kompetenzverteilung, S. 29 [Fn. 79]). Mit dem Unionsvertrag erhält das Prinzip nun expliziten Verfassungsrang (Art. 3b Abs. I EG-Vertrag; vgl. Krauser, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht). 383 Art. 130r Abs. 2 S. 3 EG-Vertrag geht noch einen Schritt weiter. Die Erfordernisse des Umweltschutzes müssen danach bei der Festlegung und Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken einbezogen werden.

IV. EG-Biotechnologiekompetenz im EWG-Vertrag

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keine weiteren Anhaltspunkte dafür gewinnen, nach welchen Kriterien der Ausgleich des hier zwangsläufig entstehenden Spannungsverhältnisses zu geschehen hat - ob etwa prinzipielle Vorrangverhältnisse das Ergebnis determinieren, z.B. zugunsten der Industrie- oder FuT-Politik gegenüber dem Umweltschutzanliegen oder umgekehrt?384 Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Abgrenzung der gemeinschaftlichen Biotechnologiekompetenz zur mitgliedstaatliehen Kompetenz. Beim Erlaß ihrer Rechtsvorschriften ist die EG bislang unproblematisch von der Existenz dieser Kompetenz ausgegangen. Wie oben gezeigt, ist diese Frage in dieser Grundsätzlichkeit indes nicht von vornherein zu bejahen. Vor dem Hintergrund der neu entflammten Subsidiaritätsdebatte fallen die Äußerungen von Seiten der EG neuerdings etwas differenzierter aus385• Darum gilt es, die Meßlatte der Subsidiarität, die mit Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV eine prinzipielle Stütze im EG-Verfassungsrecht hae86, für die Ein- und Abgrenzung der EG-Biotechnologiekompetenz an die spezifischen Maßnahmen anzulegen. 1. Das Verhältnis von industrie-, umwelt- und gesundheitspolitischen Teilaspekten der EG-Biotechnologiepolitik

Die Notwendigkeit des verfassungsmäßigen Ausgleichs kollidierender Rechtsgüter, Werte und Prinzipien ist nicht neu. Stichworte wie .,praktische Konkordanz" oder .,grundrechtsimmanente Grenzen" weisen dazu im deutschen Verfassungsrecht den Weg387 • Auch im EG-Verfassungsrecht verursa384 Bekanntlich bezeichnet erst der Unionsvertrag im Ersten Teil des EG-Vertrags die Umweltpolitik als eigenständige, gleichwertige Gemeinschaftspolitik (Art. 2, 3k EGV). Noch in der EEA war hierauf verzichtet worden. 38s Vgl. Fünftes Umweltschutzaktionsprogramm d. EG, ABI. 1993, Nr. C 138178. 386 Die Auslegung des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV als Subsidiaritätsbestimmung war lange umstritten. Nach h.M. handelt es sich um die erste ausdrückliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag (vgl. dazu Dehousse, Does Subsidiarity Really Matter?, S. 4 f.; Delors, The Principle of Subsidiarity, S. 8; Grabitz/ Nettesheim, in: Grabitz, Art. 130r Rn. 76 ff. ; Stewing, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, S. 97 ff.; ders., DVBI. 1992, S. 1517; Hailbronner, JZ 1990, S. 153; ders., Stand und Perspektiven, S. 23; Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 721; Fischer /von Borries, .,Subsidiaritätsprinzip", S. 535 ff.; Pieper, DVBI. 1993, S. 705 [Fn. 9]; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 27 ff., der zusätzlich weitere, mittelbare Ausprägungen des Subsidiaritätsprinzips im Gemeinschaftsrecht darlegt [S. 32]); ders., AöR 118 (1993), S. 421 f. Äußerungen im Fünften Umweltschutzaktionsprogramm zeigen, daß auch die Gemeinschaft von der Qualifizierung des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV als Subsidiaritätsklausel ausgeht (vgl. ABI. 1993, Nr. C 138179). 387 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

eben unscharfe Begrifflichkeiten388 oder die normative Verschränkung verschiedener Politikbereiche389 vergleichbare materielle Spannungsverhältnisse. Konkret zeigt sich dies gerade beim Umweltschutz und dessen integralem Verhältnis zu anderen Politikbereichen. Art 130r Abs. 2 S. 2 EWGV fixiert lediglich die formelle Aufgabe der Gemeinschaft, Umweltschutzbelange in die anderen Politikbereiche einzubeziehen390• Unmittelbare Aussagen über die Gewichtung dieser Umweltbelange enthält er selbst hingegen nicht391 • Die Beantwortung dieser Frage greift darum weiter: Zu bestimmen ist die materielle Bedeutung der umweltpolitischen Kompetenz im sachpolitischen Gefüge des EWG-Vertrages schlechthin. Nur auf dieser Grundlage lassen sich in einem zweiten Schritt stichhaltige Anhaltspunkte für eine Güterahwägung im Einzelfall gewinnen. Der erste systematisierende, richtungsweisende Ansatz stammt von Manfred Zuleeg392 • Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung der neu eingeführten Umweltschutzvorschriften entwickelte er kurz nach deren lokrafttreten im Jahr 1987 den "Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes" als Leitlinie für die Anwendung393• Nach Zuleeg handelt es sich bei diesem Grundsatz um keine Rechtsnorm394• Systematisch fußt der Ansatz auf einer Gesamtbetrachtung der verschiedenen Umweltschutznormen im EWG-Vertrag395 • Einen Schritt weiter geht eine in jüngerer Zeit vertretene Meinung396 • Sie begnügt sich nicht mit dem vergleichsweise eher positivistischen Begründungsansatz Zuleegs, sondern sucht in Übertragung der modernen, wertorienRn. 310 ff.; von Münch, in: von Münch/Kunig, Gundgesetz-Kommentar, Vorb. zu den Art. 1-19 Rn. 41 ff.; Stern, Bd. III/1, S. 928 ff. (m.w.N. zur Terminologie). 388 Z.B. Definition und Reichweite des ,,Binnenmarktes" i.S.v. Art. 8a EWGV. 389 Art. 130r Abs. 2 S. I EWGV ("Querschnittsklausel"). Aufgrund des Unionsvertrags kommt in Gestalt des Art. 129 Abs. I 3. UA EGV eine weitere Querschnittsklausel hinzu. 390 Zur Auslegung der Querschnittsklausel Jans-Bölvn/Breier, EuZW 1992, S. 49 f. 391 Wiegand, DVBI. 1993, S. 536. 392 Vgl. ders., NVwZ 1987, S. 280 ff. 393 Ohne jeweils im einzelnen damit übereinzustimmen, fand diese Bezeichnung im Schrifttum breite Resonanz. Vgl. die Nachw. bei Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 5 (Fn. 32). 394 Ders., NVwZ 1987, S. 283. 395 Neben den Aussagen in der Präambel, Art. 2 und 36 EWGV sind dies aus der Reihe der Umweltschutzvorschriften vor allem die "Optimierungsklausel" (Zuleeg) des Art. 130t EWGV, die Subsidiaritätsklausel des Art. 130r Abs. 1 S. 4 EWGV sowie die Querschnittsklausel des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV. 396 Vgl. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 69 ff.; ebenso Wiegand, DVBI. 1993, S. 536 ff.; ähnlich Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz, Art. 130r Rn. 32.

IV. EG-Biotechnologiekompetenz im EWG-Vertrag

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tierten Prinzipientheorie eine eigenständige rechtstheoretische Grundlage. Diese Theorie, in Deutschland von Alexy entwickelt397, entfaltet ein neues Verständnis des Normbegriffs398 • Der Begriff ,,Norm" ist danach als Oberbegriff zu verstehen. Unter ihn fallen die ihrerseits voneinander zu differenzierenden Begriffe der "Prinzipien" und "Regeln". Beide stellen "Sollenssätze" dar, wobei Prinzipien als wertorientierte "Optimierungsgebote" und Regeln als "definitive Gebote" (die nur erfüllt oder nichterfüllt werden können) zu verstehen sind399 • Im Transfer auf die EG-Ebene400 wird der Umweltschutz als allgemeines Rechtsprinzip im Sinne von Alexy bewertet. Nach dieser Auffassung handelt es sich beim EG-Umweltschutz demnach um ein Optimierungsgebot401 klassischer Ausprägung402 • Die Umweltschutznormen im EWG-Vertrag sollen darum nur den Ausfluß dieses vorgeschalteten Vertragsprinzips darstellen. Beim Umweltschutz handele es sich demnach um ein Vertragsziel, das in bestmöglicher Form in die anderen Politiken einzubringen ist. 397 Ders., Theorie der Grundrechte, S. 71 ff. Inhaltlich orientiert sich die Prinzipienlehre an Arbeiten Dworkins (faking rights seriously = Bürgerrechte emstgenommen, S. 54 ff., 91 ff.) sowie an der in ähnliche Richtung gehenden Wertetheorie des Bundesverfassungsgerichts (vgl. u.a. BVerfGE 2, 1 [12 f.]; 5, 85 ff. [204 ff.]; 6, 32 ff. [40 f.]; 7, 198 [205]; zur Rechtsprechung des BVerfG s. Stern, Bd. III/1, S. 928 ff.]); näher zur Prinzipienlehre s. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 94 ff.; ders., Der Rechtsstaat im Spannungsverhältnis, JZ 1985, S. 355; Siekmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 52 ff.; Stern, Bd. III /1, S. 501 ff. 398 Nach traditioneller Sichtweise (vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 51 ff., 93 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 474 ff.; Canaris, S. 94) ist zwischen Grundsätzen (= Prinzipien) und Rechtsnormen (= Rechtssätzen/-regeln) zu unterscheiden. Prinzipien sind nach dieser Auffassung allgemeine, relativ unbestimmte Grundlagen mit Bezug zur Rechtsidee (Larenz, Methodenlehre, S. 474). Sie bilden die Basis für die zu ihrer Konkretisierung erlassenen, präzise gefaßten Regelungen (Rechtssätze). Ähnlich für die Bereiche Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz: Ossenbühl, NVwZ 1986, S. 163 f. 399 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 400 Zur Übertragbarkeit der Prinzipienlehre Wiegand, NVwZ 1993, S. 537. Dieser zieht eine Parallele zur Geltungskraft des Prinzips der Gemeinschafts- bzw. europäischen Bundestreue, welches nach h.M. ein Rechtsprinzip auf EG-Ebene darstellt (Nachweise bei Wiegand, DVBI. 1993, S. 537 [Fn. 36 f.]); ebenso Vertragsprinzip ist das Verhältnismäßigkeilsprinzip (std. EuGH-Rspr. [vgl. z.B. Rs. C-8/89 , Slg. 1990, S. 1-2532); zur EuGH-Rspr. s. Rengeling!Heinz, JuS 1990, S. 616 f., vgl. zur Literatur Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 661 ff. (692 ff.). 401 Zu den planungsrechtlichen Wurzeln dieses Begriffs Hoppe, DVBI. 1992, S. 853 ff. 402 Kahl (Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 72): "Beim ,bestmöglichen Umweltschutz' handelt es sich, wie bereits der Name sagt, um ein geradezu klassisches Beispiel eines Optimierungsgebotes im Alexyschen Sinn." A.A. Grabitz/ Nettesheim, in: Grabitz, Art. 130r Rn. 56.

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Dieser wertorientierten Auffassung ist nur eingeschränkt zuzustimmen. Zwar trifft es zu, daß der Umweltschutz als politisches Ziel eine abstrakte Handlungsaufgabe für die EG-Organe bedeutet403, die es auf dem bestmöglichen Niveau, i.S. eines Optimierungsgebots zu konkretisieren gilt. Für die Rechtslage vor dem Unionsvertrag geht es jedoch zu weit, aus den spezifischen normativen Aussagen ein übergreifendes wertorientiertes Rechtsprinzip zu folgern. Ein derartiger Ansatz versucht, aus der Gesamtbetrachtung der legislativen Verankerung des Umweltschutzes weiterreichende Rückschlüsse auf ein übergreifendes, vertragsimmanentes Prinzip zu gewinnen. Im Grunde wird damit aber nur der Ansatz Zuleegs ummantelt, ohne daß substantiell neue Anhaltspunkte gewonnen werden, die auf vorgesetzlicher Ebene liegen404. Der Hinweis auf die immer drängenderen Umweltprobleme allein genügt nicht. Erst mit den Maastrichter Änderungen des EG-Vertrages, der nun ausdrücklich von einem "umweltverträglichen Wachstum" spricht405, läßt sich diese Meinung dogmatisch substantiiert halten. Das Maastrichter Vertragswerk vermittelt die verfassungsrechtliche Basis für die ökologische Neuausrichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Es ändert sich partiell die "Geschäftsgrundlage" der Gemeinschaft. Wie wirkt sich das Verhältnis von umweltrechtlichem Optimierungsgebot einerseits und ökonomischem Ziel des EWG-Vertrags andererseits nun konkret aus? Aufgrund Vertragssituation und -systematik ist zunächst davon auszugehen, daß ein absoluter Vorrang406 der ökonomischen oder der ökologischen Ziele nicht begründbar ist. Die Vorrangthese wird in der Literatur darum auch nur vereinzelt oder (bezüglich des Umweltschutzes) gar nicht vertreten407. Häufiger finden sich hingegen Stimmen, die für den Einzelfall einen relativen Vorrang der ökologischen408 oder der ökonomischen409 Ziele ein403 Die Eigenschaft des Umweltschutzes als "wesentliches Ziel der Gemeinschaft" wurde schon durch den EuGH in seinem ADBHU-Urteil (Rs. 240/83 [ADBHU], Slg. 1985, S. 531 ff. [549)) hervorgehoben. 404 Ebenso Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz, Art. l30r Fn. 56. Schon Zuleeg (vgl. ders., NVwZ 1987, S. 283) versteht seinen Grundsatz in der Auslegung als Optimierungsgebot 405 Vgl. Art. 2 EGV. 406 In diesem Fall würde auf eine Einzelfallbetrachtung von vornherein verzichtet. 407 Vgl. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 161 ff. 408 Becker, Der Gestaltungsspielraum, S. 91; Schröer, Kompetenzverteilung, S. 52; Ress, HdUR I, Sp. 460; Scheuing, Umweltschutz auf der Grundlage der EEA, EuR 1989, S. 176 f. [177); Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 178 ff.; Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz, Art. l30r Rn. 59 (in diesem Punkt zurückhaltender die frühere Bearb. von Grabitz, in: ders., Art. l30r Rn. 45, 47); Hailbronner, Der nationale Alleingang, EuGRZ 1989, S. 101; ebenso wohl ders., Stand und Perspektiven, S. 20 f.; Krämer, EuGRZ 1988, S. 288.

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räumen410 • Der überwiegende Teil der Literatur geht den Mittelweg, der von einer Gleichrangigkeil der ökologischen und sonstigen (ökonomischen) Zielen ausgeht411 • Das Verhältnis soll im Einzelfall nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz412 zum Ausgleich gebracht werden. Der h.M. ist zuzustimmen. Aus der Gesamtschau ergibt sich jedenfalls kein Rückschluß auf eine Präferenz des Umweltschutzes. Die vertraglichen Bestimmungen legen zwar die Verpflichtung der Gemeinschaft zu einem hohen Umweltschutzniveau fest, sprechen sich aber nicht für ein relatives Vorrangverhältnis aus. Daran ändern auch die Änderungen im EG-Vertrag nichts. Hier ist nun zwar von einem .,umweltverträglichen Wachstum" die Rede. Der Akzent liegt damit aber weiterhin auf einem integrativen Ausgleich zwischen gleichrangigen Politiken. Die Neufassung der Querschnittsklausel in Art. 130r Abs. 2, 1. Unterabsatz, S. 3 EGV hat daran nichts geändert. Auch sie spricht ohne wertendes Moment nur von einer Verpflichtung zur Einbeziehung des Umweltschutzes in die anderen Gemeinschaftspolitiken. Die Umweltschutzmaßnahmen haben gemäß Art. 130r Abs. 1 S. 1 EGV auf ein hohes Schutzniveau abzuzielen. Dieser Formulierung ist, bei allem Anspruch auf ein hohes Schutzniveau, eine Abwägung mit anderen Zielen des Vertrags immanent. Den Gemeinschaftsorganen steht in diesem Punkt ein politischer Ermessensspielraum zu 413 • Sie sind in ihrer Entscheidung nicht von vornherein festgelegt, müssen aber im Sinne der praktischen Konkordanz auf ein hohes Schutzniveau ausgerichtet sein. Das gilt sowohl für die Einzelmaßnahme als auch für die maßnahmenübergreifende Gesamtausrichtung der Politik. Diese Lösung bietet zudem den Vorteil verbesserter Einzelfallgerechtigkeit

409 Kloepfer, Umweltrecht, § 6 Rn. 12; Bleckmann, FS Kar! Carstens I, S. 43 (44 ff.); Sedemund/Montag, NJW 1989, S. 1411; Rengeling/Heinz, JuS 1990, S. 617. 410 Die Bewertung der Position des EuGH in dieser Frage ist umstritten. Verschiedene Äußerungen des EuGH (vgl. etwa das Urteil Leybucht [Rs. C-57 /89, Slg. 11991, S. 883 ff. (930)] lassen zumindest auf eine relative, einzelfallorientierte Betrachtung schließen (zur differenzierenden Rechtsprechung des EuGH und ihrer Würdigung in der Literatur Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 166 ff.). 411 Grabitz, in: ders., Art. 130r Rn 45, 47, 60; Beyerlin, UPR 1989, S. 362; Haneklaus, DVBI. 1990, S. 1137; Molkenbur, DVBI. 1990, S. 678; Oppermann, Europarecht, Rn. 2010; Pemice, Die Verwaltung 22 (1989), S. 50; ders., NVwZ 1990, S. 208; Rengeling/Heinz, JuS 1990, S. 617; Hoffmann-Riem, Gemeinschaftspolitik zwischen Marktfreiheit und Umweltschutz, S. 20. 412 Zum Begriff im deutschen Verfassungsrecht s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 317 ff. 413 Dafür spricht auch der Wortlaut des Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV, der den Gemeinschaftsorganen keinen absoluten Handlungsauftrag gibt, sondern eine relative Formulierung gebraucht ("zielt darauf ab").

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Das Ergebnis der vorausgegangenen Betrachtung war, daß die EG-Biotechnologiepolitik keinem der verfolgten Ziele von vornherein Vorrang einräumt. Die Gewichtung erfolgt je nach Zielrichtung der einzelnen Maßnahme. Richtigerweise dominierte bislang beim EG-Gentechnikrecht die umweltschutzbetonte Prävention. Mit der Feststellung, daß die Gemeinschaft nicht zwingend auf ein absolutes, höchstes Schutzniveau verpflichtet ist, läßt sich der weitere Schluß ziehen, daß mit abnehmendem Umweltrisiko andere Belange in der Politik stärker berücksichtigt werden müssen. Dasselbe gilt andererseits ggfs. aber auch für neu auftretende Bedrohungen und unüberschaubare Risikopotentiale. Daß die einmal eingeschlagene Politik nicht auf ihren Kurs fixiert sein darf, läßt sich auch aus Art. 130r Abs. 2 S. 3 EGV ablesen. Dieser bezieht die praktische Umsetzung der Umweltschutzmaßnahmen in seinem Wortlaut mit ein. Hieraus folgt, daß die Gemeinschaft die Intensität ihrer Maßnahmen, was die individuelle Abwägung und materielle Gewichtung anbelangt, ständig überprüfen muß. Die EG hat die primärrechtliche Pflicht, auf technische Entwicklungen entsprechend zu reagieren. Die Gemeinschaft hat nicht nur einen ,,Initialauftrag" zur Setzung neuen Rechts, sondern zugleich auch einen permanenten ,.Überprüfungs- und Bewertungsauftrag" bezüglich des vorhandenen Sekundärrechts. Da die EG-Maßnahmen gleichzeitig Bindungswirkung gegenüber den Mitgliedstaaten entfalten, folgert diese beständige Evaluierungspflicht zudem auch aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

2. Das Verhältnis zur Kompetenz der Mitgliedstaaten Der supranationale Charakter, die Fähigkeit verbindliches Recht gegenüber den Mitgliedstaaten zu setzen, ist ein Wesenselement der Europäischen Gemeinschaft414. Gerade die Ausübung dieser Kompetenz erzeugt indes in Mitgliedstaaten wachsenden Unmut. Insbesondere das Binnenmarktprogramm mit seiner dynamischen Kompetenzausübung sowie die vielfach weitgehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs415 zeigten Wirkungen416. Ne414 Zur legitimierenden Funktion des Rechts s. von Simson, .,Das Recht" in den Europäischen Gemeinschaften, FS von der Groeben, S. 391 ff.; Pemice, NVwZ 1990, S. 202. S. dazu auch die Rechtsprechung des EuGH (z.B. Rs. 6/64 [Costa/E.N.E.L], Slg. 1964, S. 1251 [1269]). 41 s Vgl. die Rechtsprechung zu Sperrwirkung und Anwendungsvorrang von EGRecht gegenüber inhaltlich abweichendem mitgliedstaatliehen Recht (u.a. EuGH, Rs. 106/77 [Staatliche Finanzverwaltung I Simmenthal S.p.A.], Slg. 1978, S. 629, 644). 416 Kritisiert wurde insbesondere das Grundkonzept der Kompetenzzuordnung auf Gemeinschaftsebene, die sich nicht an einem feststehenden Zuständigkeitskatalog orientiere, sondern ziel- und aufgabenorientiert Kompetenzen begründe (Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 99 m.w.N.).

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ben einer allgemeinen ,,Europamüdigkeit" verdichtete sich der funktionale Integrationsprozeß ("Europa der Notwendigkeiten") Ende der 80er I Anfang der 90er Jahre darum immer mehr auch zu einer Debatte um Geltungsgrund und praktischer Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips im EG-Bereich417 • Gegenstand ist hier weniger die föderale Einwirkung der Gemeinschaftsebene auf die Binnenstruktur der Mitgliedstaaten durch Kompetenzzuweisung418, sondern die Verschränkung von gleichrangiger mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Rechtsebene. Die Rede ist von den konkurrierenden Gemeinschaftskompetenzen419, die auf originäre mitgliedstaatliche Kompetenzen treffen420 und gegenüber jenen eine Sperrwirkung, i.S. des Vorrangs supranationalen gegenüber nationalen Rechts entfalten421 • 417 Im Vertrag von Maastricht wird dem Subsidiaritätsprinzip dementsprechend eine zentrale Bedeutung beigemessen (vgl. Piplwm, EuZW 1992, S. 700). Zu den Wurzeln des Prinzips sowie seinen Deutungen und verfassungsmäßigen Ausprägungen /sensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 35 ff.; s.a. Herzog, in: EvStL, Art. "Subsidiarität", Sp. 3565; sowie Häberle, AöR 119 (1994), S. 169 ff. 418 Aus deutscher Sicht waren es die Bundesländer, die - angetreten unter dem Banner "Europa der Regionen" - hofften, mit dem Subsidiaritätsprinzip der durch den Integrationsprozeß beschleunigten Tendenz zur Stärkung der zentralen Exekutivgewalt entgegenwirken und ihre zunehmend bedrohte Eigenstaatlichkeil sichern zu können (vgl. Blanke [ZG 1991, S. 138/139 m.w.N. in Fn. 30/31] zu ähnlichen unitarisierenden Entwicklungen in den USA und der Schweiz sowie zur Debatte in anderen Mitgliedstaaten s. die Nachw. bei Blanke, ebd., S. 134, und Constantinesco, EuZW 1991, s. 562). 419 Nach Schröer (Die Kompetenzverteilung, S. 25 ff. [27 f.]) definiert sich der gemeinschaftsrechtliche Kompetenzbegriff "als die den Gemeinschaftsorganen eingeräumte und zugeteilte Befugnis zur Setzung materiellen Rechts" (im Rahmen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung). Die Ebene des Vollzugs supranationalen Rechts klammert er, mit dem Hinweis auf die nationalen Zuständigkeiten, aus dem Kompetenzbegriff aus. Dieser Definition ist zuzustimmen. Gegen sie sprechen auch nicht die zunehmenden Verwaltungs- und Kontrollzuständigkeiten der Gemeinschaft im Bereich des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht (zu denken ist hier etwa an die Tendenz, Entscheidungen zur gemeinschaftsweiten Produktzulassung auf die Ebene der Gemeinschaft zu verlagern [vgl. nur die Einbindung der Kommission als eigenständiges Exekutivorgan in das gemeinschaftliche Produktzulassungsverfahren nach der Freisetzungsrichtlinie (Art. 13 Abs. 3; 21 Abs. 2, 3, 4, 5 Freisetzungsrichtlinie) sowie die Befugnisse der EG-Arzneimittelagentur (s. dazu Reich, EG-Verbraucherrecht, S. 335)]; die genannten Bereiche betreffen den Aspekt der Produktsicherheit). Aus diesen Beispielen darf aber nicht der Schluß gezogen werden, den Kompetenzbegriff in seinem Grundsatz auf verwaltungsmäßige Exekutivbefugnisse auszudehnen. Die Beispiele leiten sich vielmehr aus der an sich schon bestehenden Befugnis der Gemeinschaft zur Setzung gemeinschaftlichen Sekundärrechts ab, sind Ausfluß dieser Kompetenz. 420 Mit der Bezeichnung ,,konkurrierende Kompetenzen" sind die Bereiche gemeint, in denen sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten zur Rechtsetzung befugt sind (vgl. Schwarze, NJW 1979, S. 458 ff. [459]). Mit Art. 3b Abs. 2 EGV

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

Ein Politikbereich in dem sich dieses Problem konkretisiert, ist der Umweltschutz. Die Art. 130r- t EWGV fixieren hier eine parallele, konkurrierende Kompetenz422 . Das Verhältnis der gemeinschaftlichen zur mitgliedstaatliehen Zuständigkeit wird durch die Subsidiaritätsklausel des Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV formuliert, ohne daß diese Norm, im Gegensatz zu Art. 130s EWGV, einen konstitutiv-kompetenziellen Bedeutungsgehalt hätte. Sie weist Aufgaben im Rahmen der schon bestehenden, konkurrierenden Kompetenz zu423 . Es handelt sich nicht um eine formelle Ausprägung dieses Prinzips unter streng föderalistischen Gesichtspunkten424 ; betroffen ist vielmehr die Ebene der materiellen Bewältigungskompetenz, d.h. eine an Effektivitätsgesichtspunkten orientierte Verteilung der Aufgabenwahrnehmung, nicht der -zuständigkeit425.

("Bereiche, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen") bekennt sich die Gemeinschaft nunmehr explizit zur Existenz konkurrierender Kompetenzen. 421 Strittig ist, wie sich dieser Vorrang im Konfliktfall auswirkt, ob daraus ein Anwendungsvorrang (so z.B. Zuleeg, NVwZ 1987, S. 281) oder gar ein Geltungsvorrang abzuleiten ist, letzteres mit der Folge, daß widersprechendes nationales Recht nichtig wäre (so der EuGH, in: Rs. 106/77 [Staatliche Finanzverwaltung/ Simmenthal S.p.A.], Slg. 1978, S. 629, 644). Zu den Konsequenzen der EuGH-Rechtsprechung, insbesondere was den Eingriff in die staatliche Souveränität anbelangt s. Pemice, NVwZ 1990, S. 202; insgesamt Becker, Der Gestaltungsspielraum der EG-Mitgliedstaaten, S. 35 ff.; Pechstein, Die Mitgliedstaaten der EG, S. 23 ff. und Schröer, Die Kompetenzverteilung, S. 196 ff. (mit umfangr. Lit.-Nachw.). Der Vorrang wurde vom BVerfG als mit dem Grundgesetz vereinbar und damit verfassungsmäßig erklärt (BVerfGE 73, 339 ff. [374 ff.] - "Solange II"; 75, 223 ff. [244]), wobei sich dieses des Begriffs "Anwendungsvorrang" bedient. Vgl. jetzt auch BVerfG, Urt. vom 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 429 ff. (Maastricht).- Das strukturell ähnlich gelagerte Problem (Anwendungs- oder Geltungsvorrang) tritt im Bund-Länder-Verhältnis auf (dazu März, Bundesrecht bricht Landesrecht; Graf Vitzthum, VVDStRL 46 [1988], S. 28 ff.). 422 Vgl. dazu schon das Erste Umweltschutz-Aktionsprogramm d. EG (ABI. 1973, Nr. C 11217). Aus der Literatur s. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 28 (m.w.N.); Zuleeg, NVwZ 1987, S. 283. 423 In der Literatur wird dagegen teilweise vertreten, es handele sich um eine Kompetenzzuweisungsnorm (vgl. Grabitz/Zacker, NVwZ 1989, S. 299; Lietzmann, EEA und Umweltschutz, S. 173; Oppermann, Europarecht, Rn. 2018; Pieper, in: Bleckmann, Rn. 1929 ff.) 424 Vgl. dazu Graf Vitzthum, AöR 115 (1990), S. 281 ff. 425 Zu dem in dieser Frage überaus breiten Meinungsspektrum, das sich vom "formellen Subsidiaritätsprinzip" über (materielle) Kooperations- und Erforderlichkeitsgesichtspunkte und dem Prinzip der geeigneten Aktionsebene in der Auslegung bis zu einer vorrangigen Kompetenz der Gemeinschaft erstreckt, vgl. die detaillierten Überblicke bei: Schröer, Die Kompetenzverteilung, S. 71 ff.; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 27 ff.; ders., AöR 118 (1993), S. 421 ff.; Grabitz/Nettesheim, in: Grabitz, Art. 130r Rn. 79 ff.

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Mit Fortschreibung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 3b Abs. 2 EGV verfolgt die Gemeinschaft diese Linie weiter426 • Das Subsidiaritätsprinzip stellt auch hier keinen Kompetenzzuordnungsmechanismus dar - die Entscheidung hat auf materiellen Effektivitätserwägungen zu beruhen427 • Im Hinblick auf die fortdauernde Subsidiaritätsdebatte428, mit dem Grundtenor der Eindämmung gemeinschaftlicher Kompetenzwahrnehmung, versuchte die EG zwischenzeitlich dem Prinzip weitere Struktur zu verleihen. Inwieweit dies mit ihrem vom Europäischen Rat in Edinburgh am 12. Dezember 1992 vorgestellten Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gelingen wird, bleibt abzuwarten429• Ungeachtet der durch diese Leitlinien erreichten Präzisierungen bleiben aber Zweifel, ob sich hierdurch das Postulat ,,Einheit in Vielfalt" verwirklichen lassen wird. Die Interpretation als dynamisches Prinzip430 oder seine sicherlich nur beschränkt erreichbare Justitiabilität431 426 Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV wird im Zuge der Einfügung der allgemeinen Subsidiaritätsklausel des Art. 3b Abs. 2 EGV, da überflüssig, gestrichen. Das Subsidiaritätsprinzip wird im Maastrichter Unionsvertrag zum Grundprinzip der Europäischen Union erklärt. Gleichzeitig ist es, nach Auffassung des Europäischen Rates, neben Art. 3b Abs. 2 EGV noch in verschiedenen spezifischen Bestimmungen des Vertrags einbezogen (vgl. Art. 118a, 126, 128, 129, 129a, 129b, 130, 130g EGV) sowie in Art. 2 des Abkommens über die Sozialpolitik (vgl. das Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3b EGV durch den Rat innerhalb der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates zum Edinburgh-Gipfel II./ 12.12.1992, BR-Drs. 182/93, S. 11 ff. [Teil A Anlage 1]). 427 Art. 3b EGV stellt in der Gegenüberstellung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Abs. I) und des Subsidiaritätsprinzips (Abs. 2) klar, daß das Subsidiaritätsprinzip feststehende Kompetenzzuweisungen voraussetzt und nur deren Ausübung durch die Gemeinschaftsorgane begrenzt (so auch das BVerfG in seinem Urteil vom 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 445 f.- Maastricht). Zur Auslegung von Art. 3b EGV Kahl, AöR 118 (1993), S. 414 ff.; Sclunidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 720 ff; Sclunidhuber, DVBI. 1993, S. 417 ff.; Scherer, DVBI. 1993, S. 282 ff.; Pipkom, EuZW 1992, S. 697 ff., sowie Möschel, NJW 1993, S. 3025 ff. 428 Vgl. nur die Debatte nach dem negativen Maastricht-Referendum in Dänemark. 429 Vgl. dazu die Schlußfolgerungen des Europäischen Rates in Edinburgh vom ll./12.12.1992, BR-Drs. 182/93 vom 17.3.1993. 430 Vgl. das Gesamtkonzept des Europäischen Rates von Edinburgh (s.o.), BR-Drs. 182/93, S. 15 (2. Sp.str.). In diesem (materiellen) Verständnis sieht Langer (ZG 1993, S. 198) die Gefahr einer Verkehrung des Subsidiaritätsprinzips in sein Gegenteil - mit dem Ergebnis weiterer Zentralisierung. Er verweist dazu argumentativ auf die von ihm als teleokrafische Denkweise bezeichnete Finalität in der Gemeinschaftsentwicklung, der sämtliches Gemeinschaftsdenken und -handlungen (beispielhaft verkörpert im effet utile Grundsatz) unterworfen seien. 431 Man denke nur an die Parallelproblematik des Art. 72 Abs. 2 GG im deutschen Verfassungsrecht (vgl. dazu Langer, ZG 1993, S. 197 m.w.N.). Zur Justitiabilität des Art. 3b EGV Pipkom, EuZW 1993, S. 700; Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 724 f.; skeptisch Weber, JZ 1993, S. 328 (m.w.N.).

8 Schenek

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versprechen, trotz aller Verbindlichkeit des Prinzips für die Gemeinschaftsorgane, weniger juristisches "Containment" als einen politischen Verhandlungs- und Instrumental-Charakter im Rahmen des praktischen Rechtsetzungsprozesses. Auch das EG-Gentechnikrecht wurde zwischenzeitlich von der Subsidiaritätsdebatte erfaßt. Am 5. April 1993 leitete Bayern dem Bundesrat einen Entschließungsantrag zur Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips zu. Dieser Antrag enthält eine Liste geplanter und schon erlassener EG-Rechtsakte, die nach Auffassung Bayerns gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen432 • Mit aufgeführt werden u.a. der (erste) Kommissionsvorschlag zur "Novel Food"Verordnung433 sowie die Freisetzungsrichtlinie434 . In beiden Fällen wird der Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip begründet mit einer nicht erforderlichen Regulierungsweite und -dichte435 , d.h. eher mit Argumenten zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Dem steht die Auffassung der Gemeinschaft gegenüber, die bis heute von einer gemeinschaftlichen Regulierungskompetenz für das (gesamte) Gentechnikrecht ausgeht. Das Fünfte UmweltschutzAktionsprogramm enthält eine Auflistung der Zuständigkeitsbereiche aus Sicht der Gemeinschaft436 . Ebenso wie dem Entwurf für das Vierte FuT-Rahmenprogramm liegen auch diesem die Subsidiaritäts-Vorgaben des Unionsvertrags und die Ergebnisse der Edinburgher Gipfelkonferenz konzeptionell bereits zugrunde. Postuliert wird das neue Konzept der geteilten (Regelungs-) Verantwortung437 , welches sich an Effizienzgesichtpunkten orientiert - d.h. eine Orientierung an dynamischer Kompetenzzuweisung. Die Beantwortung der Subsidiaritätsfrage für das EG-Gentechnikrecht orientiert sich hinsichtlich der schon erlassenen Rechtsvorschriften an Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV. Art. 3b Abs. 2 EGV ist als Maßstab den geplanten Rechtsakten zugrundezulegen, die nach dem lokrafttreten des Unionsvertrags am 1. November 1993 seitens der Gemeinschaft konzipiert und erlassen werden.

BR-Drs. 259/93; s. dazu Goppel, EuZW 1993, S. 367 ff. S. dazu außerdem die Äußerung des Vertreters der bayrischen Staatsregierung im Bundesrat Wilhelm (BR-Plenarprotokoll zur 647. Sitzung d. Bundesrates am 16.10.1992, S. 541 D). 434 BR-Drs. 259 I 93, S. 4, 29. 432 433

43 s Beide Vorschläge sind in dem am 7.5.1993 ergangenen Bundesrats-Beschluß nicht mehr enthalten (vgl. BR-Drs. 182/93 [Beschluß]). 436 ABI. 1993, Nr. C 138/60 (63). 437 Zum Fünften Umweltschutz-Aktionsprogramm Wägenbaur, EuZW 1993, s. 241 ff.

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Art. 3b Abs. 2 EGV ist, nach dem Wortlaut der Bestimmung, nur auf Kompetenzen anzuwenden, die nicht "ausschließliche" sind. Das Tatbestandsmerkmal der "ausschließlichen Kompetenzen" wird in der Bearbeitung selten für problematisch erachtet. Gleichwohl dürfte es in Zukunft zu den schwierigsten Fragen des Art. 3b Abs. 2 EGV gehören438 • Nach gefestigter Auffassung zählen zu den ausschließlichen Kompetenzen der Gemeinschaft die Handelspolitik, die Fischerei- und die Agrarpolitik439 • In der Literatur wird teilweise auch die für unser Thema einschlägige Auffassung vertreten, daß es sich bei der Kompetenz zur Herstellung des Binnenmarktes i.S.v. Art. lOOa EWGV I EGV ebenfalls um eine ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeit handle440• Folgte man dieser Auffassung, hätte dies die weitreichende Konsequenz, daß ein Großteil gemeinschaftlicher Rechtsetzung (so auch die geplante ,,Novel Food"-Verordnung) formal betrachtet aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips ausgenommen wäre441 • Eine solch streng-formale Ansicht ist allerdings abzulehnen. Art. lOOa EWGV I EGV ist zwar als generelle Angleichungsnorm zu erachten442 , doch läßt sich aus dieser Charakteristik selbst noch kein zwingender Rückschluß auf eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft ableiten. Die Anwendung des Art. lOOa EWGV erfordert denn auch immer einen an den Kriterien des Art. 8a EWGV bzw. Art. 7a EGV orientierten Abwägungsprozeß. Gerade diese unbedingte Sachbezogenheit der Angleichungsmaßnahmen, d.h. ihre materielle Unselbständigkeit, vermittelt Gesamtlegitimation für die Rechtsetzungsmaßnahme. Diese resultiert nicht aus der Angleichung als rechtsformalem Prozeß, sondern aus seinen individuellen Bezügen zu der zu regelnden Materie, mitsamt dem angestrebten Ziel. Zum anderen ist festzuKahl, AöR 118 (1993), S. 434 (Fn. 104); ebenso Rupp, ZRP 1993, S. 212. Vgl. etwa Renzsch, ZParl 1993, S. 109 f. Nach EG-Kommission umfaßt der Begriff "ausschließliche Kompetenz" zwei kumulativ zu verstehende Elemente: Zum einen die alleinige aus dem EG-Vertrag entspringende Verpflichtung der Gemeinschaft, in einem Bereich tätig zu werden; zum anderen das Abschneiden des Rechts der Mitgliedstaaten, einseitig tätig zu werden (EG-Komm., Mitteilung zur Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips vom 27.10.1992, zit. n. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 101 f.). 440 Micklitz/Reich, EuZW 1992, S. 594; Pemice, Umweltschutz und Energiepolitik, s. 113. 441 Unabhängig von der Lösung dieser Streitfrage unterliegt die EG-Gesetzgebung gleichwohl den Grenzen des Verhältnismäßigkeilsprinzips (gern. Art. 3b Abs. 3 EGV). Dessen Anwendbarkeit ist nicht durch die Frage nach ausschließlichen oder konkurrierenden Zuständigkeiten determiniert. Es handelt sich hier um ein "Subsidiaritätsprinzip i.w.S.", welches u.a. im Hinblick auf Art. F Abs. I Unionsvertrag die Regelungsintensität von Maßnahmen der Gemeinschaft begrenzen soll (BVerfG, Urt. vom 12.10.1993, EuGRZ 1993, S. 446- Maastricht). 442 Langeheine, in: Grabitz, Art. 100 Rn. 2. 438 439

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stellen, daß die Bestimmung in ihrem zielbestimmten Transfer auf die einzelnen Sachgebiete nicht zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Kompetenzen differenziert. Eine solche Differenzierung wäre auch nicht möglich, da aus den geschilderten Umständen die Kompetenzqualität - konkurrierend oder ausschließlich - fremdbestimmt ist, und damit entsprechend der zugrundeliegenden Materie wechselt443 • Diese eher systematischen Überlegungen ergänzen Argumente, die die Frage nach Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips im EG-Recht stellen. Gemäß Art. B des Unionsvertrags "werden die Ziele nach Maßgabe dieses Vertrages . . . unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Art. 3b des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bestimmt ist, verwirklicht". Nachdem derselbe Art. B Unionsvertrag gerade in Spiegelstrich 1 den Binnenmarkt als Ziel der Gemeinschaft heraushebt, liegt es nahe, von der Geltung des Subsidiaritätsprinzips auch in diesem Bereich auszugehen. Besonders die Präambel zum Unionsvertrag hebt die enge Verknüpfung, zwischen dem Subsidiaritätsprinzip und der damit erhofften größeren Bürgernähe der Unionsentscheidungen hervor. Mit anderen Worten: Das Subsidiaritätsprinzip vermittelt dem Handeln der Gemeinschaft erhöhte demokratische Legitimation. Eine ähnliche Begründung verhalf dem Europäischen Gerichtshof in seinem Titandioxid-Urteil vom 11. Juni 1991 444 zur Lösung der Kornpelenzabgrenzung der Vorschriften des Art. 100a und Art. 130s EWGV. Hier war es die erhöhte demokratische Legitimation des in der Binnenmarktvorschrift verankerten Kooperationsverfahrens445, das ausschlaggebend war für die weitgehende Verlagerung der Umweltkompetenzen auf die Binnenmarktvorschrift. Würde man nun die Binnenmarktharmonisierung den ausschließlichen Kompetenzen zuordnen, hätte dies für die Gemeinschaft das Problem des wechselseitigen Ausschlusses beider Aussagen zur Folge - ein Widerspruch zur Intention des Maastrichter Unionsvertrags, nach dem die Europäische Integration auf eine "neue Stufe" gehoben werden sol1446 •

Ebenso wohl auch Lecheler, a.a.O., S. 101 f. Rs. C-300/89 (Kommission vs. Rat -Titandioxid-Richtlinie), Slg. 1991, S. 12867 ff. 445 Gemäß Art. 189b EWGV erlangt das Europäische Parlament (EP) bei diesem Rechtsetzungsverfahren erhöhte Mitspracherechte. Der Maastrichter Vertrag ändert an der Grundkonstellation nichts. Zwar sieht er nun auch für Art. 130s EGV das Mehrheitsprinzip vor, d.h. also erhöhte demokratische Legitimation (gern. Art. 189c EGV), doch erhält das EP aufgrund des neueingeführten Mitentscheidungsverfahrens (Art. 189b EGV) in Art. IOOa EGV größerer Mitwirkungsmöglichkeiten, so daß die Relationen unverändert bleiben. 446 So die Präambel zum Vertrag über die Europäische Union. 443

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Sinn und Zweck des Subsidiaritätsprinzips ist es, die zukünftige Ausweitung des gemeinschaftlichen ,,Besitzstandes" zu Lasten der Mitgliedstaaten447 restriktiven Reglementierungen zu unterwerfen - Lenkung und Begrenzung gemeinschaftlicher Integrationsdynamik448 . Bei diesem Verständnis ist es schlüssig, daß ausschließliche Gemeinschaftskompetenzen als vorhandene, statische .,Besitzstände" von der Subsidiaritätskontrolle ausgeklammert bleiben. Darauf verzichteten die Mitgliedstaaten in ihrer Zustimmung zu den Römischen Verträgen insoweit, als nur noch Verhältnismäßigkeitsgesichtpunkte die Maßnahmen der Gemeinschaft kontrollieren. Insbesondere die Binnenmarktkompetenz ist, von ihrer Aufgabe bedingt, dynamisch und zukunftsorientiert ausgelegt. Es wäre demnach sinnwidrig, gerade diese Kompetenz, als Motiv der gemeinschaftlichen Integrationsdynamik, aus dem Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips auszugrenzen. Trotz der vergleichbaren materiellen Charakteristik beider Vertragsbestimmungen449 ergeben sich in der Handhabung Unterschiede im Detail. Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV beschränkt sich auf eine positive Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche (..[Ziele der gemeinschaftlichen Umweltpolitik] .. . [müssen] besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der Mitgliedstaaten" [sog. ,,Europäischer Mehrwert"]). Nach Art. 3b Abs. 2 EGV ist die Abgrenzung innerhalb einer Doppelprüfung kumulativ durchzuführen, sowohl positiv (vgl. Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV) als auch negativ, ... .. und die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen (können) auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden". Als weiteres, unverzichtbares Prüfkriterium ist die transnationale Komponente der fraglichen Maßnahme zu untersuchen. Die Gründe der Gemeinschaft, die für die Ausbildung eines Gentechnikrechtsrahmens ausschlaggebend waren, wurden schon an anderer Stelle erörtert. Insgesamt handelt es sich um transnationale Argumente, die seitens der EG angeführt werden. Konkret wird auf ein grenzüberschreitendes Gefährdungspotential gentechnischer Anwendungen abgestellt, mit der Notwendigkeit, ein ausreichend hohes Sicherheitsniveau für die Umwelt und zum Schutz der Gesundheit der Verbraucher450 durch die Gemeinschaft zu gewährStichwort: Zentralisierung mit Anwendungs- und Geltungsvorrang (s.o.). So ist auch nicht zu erwarten, daß die Gemeinschaft früher beanspruchte Kompetenzen aufgrund des neuformulierten Subsidiaritätsprinzips künftig in Frage stellen wird. Der erreichte .,acquis communautaire" soll nicht angetastet werden (dies kommt in Art. B [5. Sp.str.] Unionsvertrag klar zum Ausdruck; s. dazu auch das Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips des Europäischen Rates, BRDrs. 182/93, S. 15, sowie Schmidhuber/Hitzler, NVwZ 1992, S. 723). 449 Auch das Gesamtkonzept des Europäischen Rates zieht Parallelen zwischen beiden Bestimmungen (vgl. BR-Drs. 182/93, S. 13 [Nr. 2 ii)]). 450 So auch die Begründung der Kommission zum ersten Entwurf für die .,Novel 447 448

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Erster Teil: EG-Biotechnologiepolitik

leisten. Als weiteres Argument finden sich Beeinträchtigungen der industriellen Entwicklung der Biotechnologie in der Gemeinschaft, Beeinträchtigungen, die durch Marktzerstückelungen in Form nationaler Schutzvorschriften drohen. Der Gemeinschaftsmehrwert wird somit aus ökologischen wie aus ökonomischen Gesichtspunkten begründet. Die Kapazität der Mitgliedstaaten spielt in der Begründung bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Im Hinblick auf Art. 130r Abs. 4 S. 1 EWGV sind dies tragfähige Argumente. Das Fehlen nationaler Vorschriften kommt als weiteres Argument bei der ,,Novel Food"-Verordnung hinzu451 ; den Mitgliedstaaten wird hier auch inzident die Befähigung zur Sicherung eines notwendigen Schutzrahmens abgesprochen. Grenzen der Gemeinschaftskompetenz könnten auch aus der hohen Regelungsintensität von System- und Freisetzungsrichtlinie erwachsen. Aufgrund des betroffenen "wie" der jeweiligen Gemeinschaftsmaßnahme steht hier nicht die Subsidiarität sondern die inhaltliche Verhältnismäßigkeit in Frage. Angesichts der Komplexität beider Richtlinien ist an einen Verstoß gegen letzteren Grundsatz zu denken452 • Die EG-rechtlichen Vorgaben entfalten ein dichtes regulatorisches Netzwerk. Es umfaßt sämtliche Aspekte gentechnischer Arbeiten im Labor und des geplanten Freisetzens von gentechnisch veränderten Organismen zu Forschungs- und gewerblichen Zwecken. Hinzu kommen weiterführende Regelungsbefugnisse in den Richtlinien selbst, auf deren Grundlage zwischenzeitlich Entscheidungen der Kommission und des Rats ergangen sind, die ebenfalls gegenüber den Mitgliedstaaten bindende Wirkung entfalten453 • Dem Betrachter bietet sich ein diffuses Bild. Einerseits, wie gezeigt, außerordentlich regelungsintensiv überlassen die Richtlinien andererseits den Mitgliedstaaten weitreichende Freiheiten bei ihrer Umsetzung. So stellt z.B. die Systemrichtlinie in Art. 13 die Beteiligung der Öffentlichkeit im Verfahren in das politische Ermessen der Mitgliedstaaten. Ungleichgewichtigkeiten sind dadurch programmiert, das Durchschlagen positiver oder negativer Akzeptanz der Öffentlichkeit gegenüber der Gentechnik auf die Ausgestaltung der Verwaltungsverfahren ist gewiß - und das Ziel "Rechtsharmonisierung" in Frage gestellt. Die besondere Bedeutung des politischen Food"-Verordnung (KOM[92) 295 :::Abi. 1992, Nr. C 190/4); vgl. dazu auch die informatorische Aufzeichnung der EG-Kommission, P-40 vom 8.7.1992. 451 S. vorstehende Fn. 452 Bei einem informatorischen Gespräch des Verf. mit einem für die Biotechnologie zuständigen Vertreter der EG-Kommission (GD XII [Forschung und technologische Entwicklung]) äußerte dieser selbst die persönliche Auffassung, daß beide Richtlinien gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen könnten. 453 Vgl. Entscheidung der EG-Kommission vom 29.7.1991 hinsichtlich Leitlinien zur Einstufung gern. Art. 4 der Richtlinie 90/219/EWG (Systemrichtlinie) (91 /448/ EWG), ABI. 1991, Nr. L 239/23; Entscheidung des Rates vom 4.11.1991 (91/596/ EWG), betr. die Anmeldungszusammenfassung gern. Art. 9 der Freisetzungsrichtlinie, ABI. 1991, Nr. L 322/1.

IV. EG-Biotechnologiekompetenz im EWG-Vertrag

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Umfeldes für die Regelung von Öffentlichkeitsbeteiligung wurde erst jüngst in einer Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) festgestellt454 • Je nach politischer Position erfolgt die Einbindung der Öffentlichkeit in das Verfahren innerhalb der Mitgliedstaaten unterschiedlich, meist pragmatischer als in Deutschland. Gerade angesichts dieser politischen Relevanz der EG-Vorgaben für die Umsetzungspraxis der Mitgliedstaaten ist davon auszugehen, daß sich die Richtlinien im Großen und Ganzen gerade noch innerhalb des politischen Ermessensspielraums der Gemeinschaft bewegen. Eine EG-Maßnahrne, die diesen politischen Unausgewogenheiten per se nicht gewachsen ist, wäre ungeeignet und damit als Maßnahme selbst unverhältnismäßig. Den Gemeinschaftsorganen kommt in diesem Punkt eine Einschätzungsprärogative zu. Festzuhalten ist, daß eine Rahmenrichtlinie, die allein Eckpunkte absteckte, gekoppelt mit unverbindlichen Empfehlungen, angesichts der unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten ohne großen Wert wäre; die Harmonisierungswirkung insgesamt wäre höchstwahrscheinlich nur gering. Zum anderen müßten mit Sicherheit noch weitaus stärkere Binnengefälle innerhalb der Gemeinschaft verzeichnet werden, als dies beispielsweise heute schon im Bereich der Freisetzungen von transgenen Pflanzen der Fall ist455 • Bedenken erheben sich allenfalls gegen die umfangreichen Befugnisse der Kommission innerhalb des Beteiligungsverfahrens zum Inverkehrbringen gemäß der Freisetzungsrichtlinie. Trotz der in verschiedenen Punkten unpräzise formulierten Aufgaben wird sich auch hier ein evidenter Verstoß im Hinblick auf die Schutzintention kaum begründen lassen. Zu bedenken ist ein weiteres: Die hohe Regelungsdichte von EG-Richtlinien wird in der deutschen Kommentierung überwiegend als zulässig erachtet, das EG-rechtliche Instrument "Richtlinie" nicht allein nur auf Grundsätze begrenzbar erachtet und die analoge Anwendung der an sich schon keine allzu hohe Hürde darstellenden Prinzipien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rahmengesetzgebung des Bundes abgelehnt456 • Die genannten Aussagen stammen aus der Zeit vor Einfügung des Art. 3b Abs. 3 EGV. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese sehr weitgehende Meinung auf Dauer behaupten wird. TAB, a.a.O., S. 302. Vgl. TAB, a.a.O., S. 226. Danach entfielen von insgesamt 115 Versuchen im Zeitraum seit 1991 lediglich 4 auf Deutschland, gegenüber 41 in Belgien, 24 in Großbritannien, 20 in Frankreich und 17 in den Niederlanden. Nur in Spanien und Italien wurden (mit nur 2 bzw. I Versuch) noch weniger Freisetzungen durchgeführt als in Deutschland. 456 Bleckmann, in: ders., Europarecht, Rn. 142 ff.; Oldekop, Die Richtlinien der EWG, S. 93; /psen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 459. 454 455

Zweiter Teil

EG-Gentechnikrecht Die sicherheitsrechtliche Regulierung der Gentechnik stellt den wichtigsten Teilbereich der EG-Biotechnologiepolitik dar. Das äußere Profil dieses facettenreichen und querschnitthaften Politikfeldes wird derzeit vor allem durch sie bestimmt. Mehr noch als die einschlägigen Förderprogramme markieren diese normativen Aussagen einen wesentlichen Zwischenpunkt eines langwierigen, gemeinschaftsinternen Diskussionsprozesses 1 über die Regulierung der Gentechnik. Als dessen Substrat formen bislang allein sie die rechtliche Stellung der Gemeinschaft zur Gentechnik. Die wirtschaftsrechtliche Seite des durch die EG-Politik in Aussicht gestellten gemeinschaftlichen Gentechnikregimes, insbesondere die Aspekte des gewerblichen Rechtsschutzes durch Patent- und Sortenschutzrechte für transgene Tiere und Pflanzen, befand sich demgegenüber Anfang 1994 erst in einem (vorgerückten) Entwicklungsstadium2 - dies, obwohl schon das erste gemeinschaftliche Strategiekonzept im Jahr 1983 auf die Unentbehrlichkeit gemeinschaftsrechtlicher Normierung gerade in diesem Bereich hingewiesen hatte. Im Zentrum der nun folgenden Betrachtung des EG-Gentechnikrechtsgefüges steht deshalb die vornehmlich mit der System- und der Freisetzungsrichtlinie formulierte sicherheitsrechtliche Prävention beim Umgang mit der Gentechnik. In diesem Bereich setzen die beiden Richtlinien entscheidende Eckpfeiler für die künftige Gentechnikregulierung in Europa. Mit fortschreitendem Rechtsetzungsprozeß werden diese Richtlinien durch weitere Normen der EG ergänzt werden, die sich mit den bereichsspezifischen Fragen der Sicherheit von Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten, beschäftigen3 • Zur Entwicklung s.o. Erster Teil, 11.1. Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zum Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABI. 1989, Nr. C 10/3, und geänderter Vorschlag KOM(92) 589 endg. (=ABI. 1993, Nr. C 44/36); Vorschlag der Kommission einer Verordnung des Rates zum Sortenschutz transgener Pflanzen, KOM(90) 347 endg., und geänderter Vorschlag KOM(93) 104. - Vgl. hierzu nun die EG-Verordnung Nr. 2100/94 des Rates vom 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABI. 1994, Nr. L 227/1. In dieser Verordnung werden auch neue Züchtungsverfahren biotechnischer Art erfaßt. 3 Viele Vorhaben haben noch nicht das Entwurfsstadium erreicht. Die Verwirklichung der von der Kommission propagierten Maxime "one door-one key" (vgl. EG1

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Zweiter Teil: EG-Gentechnikrecht

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Betroffen sind davon die Sicherheitsstufen der Vormarktkontrolle im Bereich der Zulassung und die Nachmarktkontrolle betreffend die Sicherheit verkehrsfahiger Produkte. Das Rechtsetzungsverfahren haben bislang Richtlinien und Verordnungen aus dem Bereich der Arzneimittelzulassung\ betreffend Zusatzstoffe in der Tierernährung5 , zur Zulassung von Pflanzenschutzmittel6, für den Verkehr mit Saatgue und aus dem Lebensmittelrecht8 erfolgreich durchlaufen oder befinden sich kurz vor der Beschlußfassung in einem weit vorgerückten Rechtsetzungsstadium. Aufgrund ihrer supranationalen Verbindlichkeit sowie ihrer Einbindung in das EWR-Abkommen bilden sie einen Rechtsrahmen, der durch das bisherige Fehlen internationaler Gentechnik-Abkommmen noch weiter an Bedeutung gewinnt9• Die notwendigen SiKomm., BR-Drs. 278/91, S. 10), die den Akzent verstärkt auf die produktspezifische Regulierung setzen soll, steht noch am Anfang (Überblick der derzeit schon abgeschlossenen und der noch laufenden Gesetzgebungsaktivitäten in EU-Komm. 1994 [Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuß: "Biotechnologie und das Weissbuch über Wachstum, Wettbewerbsfahigkeit und Beschäftigung. Vorbereitung der nächsten Phase", KOM [94] 219 endg.). 4 Vgl. die EWG-Verordnung Nr. 2309/93 des Rates vom 22.7.1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Humanund Tierarzneimittel und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABI. 1993, Nr. L 214/1; Richtlinie 93/39/EWG des Rates vom 14.6.1993 zur Änderung der Richtlinien 65/65/EWG, 75/318/EWG und 75/ 319/EWG betreffend Arzneimittel, ABI. 1993, Nr. L 214/22; Richtlinie 93/40/ EWG des Rates vom 14.6.1993 zur Änderung der Richtlinien 81/851/EWG und 81/ 852/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Tierarzneimittel, ABI. 1993, Nr. L 214/31 und Richtlinie 93/41/EWG des Rates vom 14.6.1993 zur Aufhebung der Richtlinie 87/22/EWG zur Angleichung der einzelstaatlichen Maßnahmen betreffend das loverkehrbringen technologisch hochwertiger Arzneimittel, insbesondere aus der Biotechnologie, ABI. 1993, Nr. L 214/40. 5 Vgl. Richtlinie 93/41/ EWG zur Änderung der Richtlinie 70/524/ EWG über Zusatzstoffe in der Tierernährung, ABI. 1993, Nr. L 334/24. 6 Vgl. Richtlinie des Rates vom 15.7.1991 über das loverkehrbringen von Pflanzenschutzmittel (91/414/EWG), ABI. 1991, Nr. L 23011. 7 Vgl. Vorschlag der Kommission für eine Änderung der geltenden Richtlinien für den Verkehr mit Saatgut, insbesondere der Richtlinien 70/457/ EWG und 70/458/ EWG über den Sortenkatalog, KOM(93) 598. 8 S. Vorschläge der Kommission für eine Verordnung des Rates betr. neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzusätze, KOM(92) 295 endg. - SYN 426 (= ABI. 1992, Nr. C 190/4 ("Novel Food") und KOM(93) 631 endg. (= ABI. 1994, Nr. C 16/10). 9 Bislang existieren, wie gesagt, nur nationale Vorschriften zur Regulierung der Gentechnik (Überblick bei Kloepfer, Umweltrecht, § 13 Rn. 188 [Fn. 285]), nicht jedoch internationale, wie dies etwa im Atombereich der Fall ist (s. dazu Pelzer, Novellierung des atomrechtlichen Haftungs- und Deckungsrechts in den 90er Jahren,

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Zweiter Teil: EG-Gentechnikrecht

cherheitsstandards werden darum in Brüssel gesetzt, nicht in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten. Von diesen Vorgaben abzuweichen ist regelmäßig nur durch schutzverstärkende Maßnahmen möglich und auch das nur in eingeschränktem Umfang 10• So ist etwa eine Deregulierung nationaler Bestimmungen entgegen dem EG-Gentechnikrecht nicht möglich. Das Ergebnis ist, daß sich die rechtliche Grundverantwortung für die Gewährleistung ausreichenden Schutzes und Sicherheit, wie im Ersten Teil schon dargestellt, eine ureigene Aufgabe des modernen Staates, angesichts des bindenden Charakters supranationaler Vorschriften, immer mehr auf die Gemeinschaft verlagert. Gerade aus deutscher Sicht wurde diese enge, systembildende Verzahnung der beiden Rechtsordnungen und der darin enthaltene rechtspolitische Sprengstoff deutlich und frühzeitig spürbar11 • So war die Bundesregierung gleichermaßen Adressat von Kritik aus Brüssel als auch ihrerseits Kritikerin der GeS. 457 ff.). - Das auf der UNCED-Konferenz von Rio (3. -14.6.1992) von !55 Staten und der EG unterzeichnete Übereinkommen über die biologische Vielfalt ("Artenschutzkonvention"; abgedruckt in: Johnson, The Earth Summit, S. 81 ff.) entwickelt erste verhaltene Ansätze für eine völkerrechtliche Regelung. Sie dürfte sich vor allem zu einem Instrument zugunsten der Entwicklungsländer entwickeln, da sie Pflichten zur technischen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit enthält (§§ 16 ff.). Allgemein gehaltene Bezüge zur Biotechnologie bietet zudem die gleichfalls in Rio verabschiedete Absichtserklärung "Agenda 21 " ("Environmentally sound management of biotechnology"). 10 Gemäß den primärrechtlichen Maßstäben der Art. lOOa Abs. 4, 130t EWGV. 11 Das EG-Gentechnikrecht stellt nur den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung dar, in der das Gemeinschaftsrecht in Teilbereichen das Umwelt- und das Technikrecht bzw. den Gesundheitsschutz gegenüber dem deutschen Recht systembildend bestimmt. Zu nennen sind das Chemikalienrecht, in dem die Richtlinie des Rates vom 18.9.1979 (7918311EWG) zur sechsten Änderung der Richtlinie 6715481EWG (ABI. 1979, Nr. L 259 I 10) die Grundlage für das ein Jahr später erlassene deutsche Chemikaliengesetz bildete, das erstmals gesundheitsschädliche Umweltchemikalien der Anmeldung unterwirft (vgl. Gesetz zum Schutz vor gefahrliehen Stoffen [Chemikaliengesetz - ChemG] i.d.F. d. Bek. vom 14.3.1990, BGBI. I S. 521), das Lebensmittelrecht (s. dazu Streinz, WiVerw. 1993, S. 3 ff.) sowie das Gewässerschutzrecht (Form und Inhalt der Umsetzungsmaßnahmen). Diese sektoralen Ausformungen werden zunehmend durch allgemeine Bestimmungen zum Umweltschutz ergänzt. An prominenter Stelle zu nennen sind hier die Richtlinie des Rates vom 27.6.1985 (851337 I EWG) über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABI. 1985, Nr. L 175 I 40) sowie die Richtlinie des Rates vom 7.6.1990 (9013131EWG) über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABI. 1990, Nr. L 158156 (s. dazu Erichsen, Zur Umsetzung der Umweltinformationsrichtlinie, S. 1 ff.). Wie die Umsetzung der UVP-Richtlinie in Deutschland zeigt, reichen die Veränderungen mittlerweile über die einzelnen Sektoren hinaus und beginnen, i.S. des dem gemeinschaftlichen Integrationskonzept zugrundeliegenden "spill over-Gedankens" zentrale Bereiche des mitgliedstaatliehen Verwaltungsrechts zu erfassen (zu diesem Prozeß s. Klein, Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts, s. 117 ff.).

Zweiter Teil: EG-Gentechnikrecht

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meinschaftsvorgaben. Mit Schreiben vom 6. August 1992 12 rügte die EGKommission die aus ihrer Sicht im Gentechnikgesetz gegenüber den EG-Vorgaben bestehenden Umsetzungsdefizite 13• Diese Kritik wurde von der Bundesregierung mit Schreiben vom 7. Oktober 199214 als nahezu vollständig unbegründet zurückgewiesen 15• Parallel dazu sah sich die Bundesregierung im Laufe der Debatte um die Erste Novelle des Gentechnikgesetzes im Jahr 1993 16 im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zudem veranlaßt, auf den nach ihrer Auffassung bestehenden Änderungsbedarf17 an den EG-Gentechnik-Richtlinien hinzuweisen 18 • Abdruck bei Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 169 ff. Das Schreiben listet 14 Rügepunkte auf. Die EG-Kommission führt dabei einen schematischen Abgleich der EG-rechtlichen Normen mit dem deutschen Gentechnikrecht durch. Gerügt werden z.B. die unzureichende Regelung des Transports von Mikroorganismen, die angeblich im deutschen Gentechnikrecht fehlende Möglichkeit der befristeten Zulassung von Versuchen, eine unzureichende Unterrichtung der Öffentlichkeit und die gegenüber dem EG-Recht abweichende Definition der volumenabhängigen privilegierten gentechnischen Arbeiten (vgl. dazu Graf Vitzthum, ZG 1993, s. 238 ff.). 14 Stellungnahme der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zum Schreiben der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 6.8.1992, Nr. SG(92) D I 10908, abgedruckt u.a. in: Die Pharmazeutische Industrie (Pharm.lnd.) 1993, S. 3 ff. 15 Unabhängig von den spezifischen Sachfragen sind der Bundesregierung Fehler im Formalen vorzuwerfen. Diese hatte der nach Art. 155 EWGV für die Kontrolle der Umsetzung des EG-Gentechnikrechts zuständigen EG-Kommission ursprünglich lediglich die deutschen Rechtsetzungsmaßnahmen notifiziert, ohne dabei das EG-Recht dem deutschen Recht (einschl. den Rechtsinstituten des deutschen Allgemeinen Verwaltungsrechts) entsprechend inhaltlich zuzuordnen. Nach der Rechtsprechung des EuGH genügt eine solch schlichte Mitteilung nicht. Für den Nachweis zureichender Umsetzung ist die Kommission in die Lage zu versetzen, ohne erhebliche Probleme die inhaltliche Übereinstimmung zu kontrollieren (vgl. EuGH, Rs. C-237 /90 [Kommission vs. Bundesrepublik Deutschland - Trinkwasserrichtlinie], NVwZ 1993, S. 257 f. [Tz. 28]). 16 Erstes Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes vom 16.12.1993; s. dazu den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerung der Bundesregierung hierzu, BT-Drs. 12/5614 vom 3.9.1993; zur Novelle s. Graf Vitzthum, ZG 1993, S. 236 ff. ; Simon/Weyer, NJW 1994, S. 759 ff.; Wahl/ Melchinger, JZ 1994, S. 973 ff. Die Novelle ist nach Durchlaufen des Vermittlungsverfahrens am 22.12.1993 in Kraft gesetzt worden (BGBI. I S. 2059 sowie Bek. d. Neufassung des Gentechnikgesetzes vom 16.12.1993, BGBI. I S. 2066). 17 I.S. einer Deregulierung. 18 Gefordert wurden u.a. der Verzicht auf das Volumenkriterium (,,kleiner Maßstab") zur Abgrenzung der Bereiche Forschung und Produktion (Arbeitsgänge Typ A u. B gern. der Systemrichtlinie), der teilweise Verzicht auf die präventive Kontrolle in den niedrigsten Sicherheitsstufen, die Vereinfachung von Verwaltungsverfahren vor Freisetzungen und dem loverkehrbringen von Produkten, Maßnahmen zur einheitlichen Umsetzung der EG-Richtlinien und zur Vereinheitlichung des Vollzugs in allen 12 13

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Zweiter Teil: EG-Gentechnikrecht

Angesichts der hohen Bedeutung der gemeinschaftlichen Vorgaben muß der Betrachter hinsichtlich des jeweiligen Einzelproblems immer auch die übergreifende Frage vor Augen haben, inwieweit das EG-Recht die qualitativen Herausforderungen, mit denen es konfrontiert ist, zu erfüllen in der Lage ist oder, pointierter gefaßt: Entspricht das europäische Gentechnikrecht dem "state of the art"? Da gerade die Gentechnik ein besonders dynamisches Sachgebiet in Forschung und Anwendung ist, reicht es nicht, wenn allein der Regelungsstand des Jahres 1990 betrachtet wird. Wichtig ist vornehmlich auch die Zukunftsoffenheit und Anpassungsfahigkeit des Rechts, also die Frage, inwieweit eine Regelung mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt umgehen und diesen, durch Verschärfung oder Lockerung, verarbeiten kann.

I. Systematik des EG-Gentechnikrechts 1. Gentechnikregulierung als Materie des Umwelt- und des Technikrechts Regelungsgegenstand der System- wie der Freisetzungsrichtlinie sind die Veränderung oder der Umgang mit genetisch veränderten (Mikro-)Organismen, d.h. die Verfahren der Gentechnik 19• Regelungsziel ist dabei insbesondere20 der Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor den spezifischen Gefahren und Risiken im Umgang mit dieser neuartigen Technik. Beide Richtlinien konzentrieren sich auf die Regulierung der Technik. Es handelt sich dabei um einen Sicherheitsrahmen für das technische Verfahren (Systemrichtlinie) und für die kontrollierte Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in die Umwelt zu Forschungszwecken und das loverkehrbringen von Produkten, die GVO enthalten oder aus solchen bestehen (Freisetzungsrichtlinie). Systematisch lassen sich die Richtlinien dem Mitgliedstaaten der EG und die Anpassung der Anmelderegelungen der Systemrichtlinie an die Verpflichtungen der internationalen Hinterlegungsstellen nach dem Burlapester Vertrag vom 28.4.1977 (vgl. BT-Drs. 12/5614 vom 3.9.1993, S. 5). 19 Vgl. Art. 2 b lit. i) i.V.m. Anhang I A, Teil 1 der Systemrichtlinie; Art. 2 Nr. 2 i) i.V.m. Anhang I A, Teil 1 der Freisetzungsrichtlinie; aus dem Bereich der sektoralen Regelungen s. beispielhaft dazu auch den Anhang Teil A zur EWG-Verordnung Nr. 2309/93 des Rates vom 22.7.1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimittel und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABI. 1993, Nr. L 214/1 (21). 20 S. daneben das in Art. 1 Abs. I der Freisetzungsrichtlinie zudem ausdrücklich verankerte Binnenmarktziel und das in den Erwägungsgründen zu beiden Richtlinien zum Ausdruck gebrachte Entwicklungspostulat zugunsten des grundsätzlichen Umgangs mit der modernen Biotechnologie.

I. Systematik des EG-Gentechnikrechts

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Umweltschutz zuordnen. Insofern ist genaugenommen von Gentechnik-Umweltrecht die Rede. Durch eine medienübergreifende Konzentration auf die Gentechnik als Gefahrenquelle handelt es sich um kausalen Umweltschutz21 • Er formiert ein neues Gebiet des Gefahrstoffrechts22• Da ein Großteil der Regelungen zumindest indirekt die Sicherheit gentechnischer Anlagen zum Ziel hat, ist das Gentechnik-Umweltrecht gleichzeitig technisches Sicherheitsrecht23. Es verwendet hierzu Instrumente präventiver Kontrolle, die im Gewerberecht ihren Ursprung haben und aus deutscher Sicht schon im BundesImmissionsschutzgesetz Verwendung gefunden haben: das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und die Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt im Rahmen von Genehmigungs- bzw. Anmeldeverfahren24• Die Querschnitthaftigkeit der Materie setzt sich also in der querschnitthaften Charakteristik als Umwelt- und Technikrecht fort2s. Die System- wie die Freisetzungsrichtlinie bilden demnach einen neuen Teilbereich des Umwelt- und des Technikrechts der Gemeinschafe6. Das Umwelt- und das Technikrecht nimmt innerhalb des EG-Umweltrechts einen großen, möglicherweise den größten Raum ein. Die korrespondierende Nähe von Technik und Industrie, die bekanntlich schon im Normalbetrieb auf die Umwelt erheblich einwirken, sowie die am Anfang motivbildenden, sozialregulativen Intentionen der "Wirtschafts"-Gemeinschaft entfalteten eine katalytische Wirkung auf diesen Bereich der EG-Rechtsetzung. Hinzu kommen in den letzten Jahren immer mehr Umweltkatastrophen, die durch industrielle Störfalle verursacht wurden (Seveso, Bhopal, Tschernobyl, Sandoz)27 • 21 Vgl. Breuer, Der Staat 1981, S. 398; Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, § 2 Rn. 55156. Zum kausalen Umweltschutz zählen u.a. das Chemikalien-, Atom-, Lebensmittel-, Futtermittel-, Abfall- und Arzneimittelrecht 22 Kloepfer, Umweltrecht, § 13 Rn. 7, 203; a.A. Wagner, Der technisch-industrielle Umweltnotfall S. 97, der im Gentechnik-Umweltrecht eine neue Rechtskategorie des Umweltrechts sieht. 23 Zum Begriff Kloepfer, Umweltrecht, § 1 Rn. 52; Vieweg, JuS 1993, S. 895 ff. Die Qualifizierung ist unabhängig von der tätigkeits- oder anlagenbezogenen Ausgestaltung der Sicherheitsvorschriften. 24 Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 60 f. 25 Zum inneren Verhältnis von Umwelt- und Technikrecht Schottelius, Umweltschutz - ein geschlossenes Rechtsgebiet oder ein problembezogenes Querschnittsrecht innerhalb des Rechts der Technik, S. 33 ff. 26 Für das GenTG Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 52, 60 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 13 Rn. 189. 27 Bekanntestes Beispiel ist die "Seveso-Richtlinie", die Richtlinie über die Gefahren schwerer Unfalle bei bestimmten Industrietätigkeiten vom 24.6.1982 (82/501/ EWG), ABI. 1982, Nr. L 230/1, zuletzt geändert im Jahr 1990, ABI. 1990, Nr. L 353/59); zum deutschen Recht s. Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-

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Zweiter Teil: EG-Gentechnikrecht

Dies alles schlägt sich in nationaler und supranationaler Rechtsetzung nieder. Die Brisanz dieses Themas wie sein Aufgreifen durch die Gemeinschaft wird noch dadurch verdeutlicht, daß sich die EG im Rahmen ihres Vierten und des Fünften Umweltschutz-Aktionsprogramms eingehend mit den Risiken industrieller Tätigkeiten befaßte. Zur Zeit umfaßt die gemeinschaftliche Regelungsspannbreite sektorale Rechtsvorschriften zur Handhabung gefahrlieber Stoffe, Zubereitungen und Abfälle28 , insbesondere hinsichtlich verschiedener chemischer Stoffe, Düngemittel, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel, Fluorchlorkohlenwasserstoffe und Halone, aber auch ein gemeinschaftliches Strahlenschutzrecht auf der Grundlage der Art. 30-39 EAGV29 • Dieses Regelwerk wird ergänzt durch umfangreiche Normen des medialen Umweltrechts zum Gewässerschutz, der Luftreinhaltung und des Klimaschutzes. In den letzten Jahren kommen verstärkt Maßnahmen hinzu, die einen integrierten, medien- und sektorübergreifenden Ansatz pflegen30• Allen Bestimmungen ist gemein, daß sie - vergleichbar dem kausalen Gentechnikrecht - Auswirkungen auf die Tätigkeits- und Produktionsvoraussetzungen der Industrie haben. Sie setzen Produktionsstandards31 , Emissionswerte und I oder Qualitätsziele, die von den Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung), i.d.F. d. Bek. vom 20.9.1991 , BGBL I S. 1891/2044; allgemein dazu Breuer, NVwZ 1990, S. 211. 28 Vgl. hierzu und im folgenden die Fundstellennachweise bei Grabitz/ Nettesheim, in: Grabitz, Art. 130s Rn. 183 ff. 29 Dazu die Beiträge von Schröder, Grunwald, Haeusler, Schattke, Müller und Müller-Stein, in: Pelzer, Kernenergierecht zwischen Ausstiegsforderung und europäischem Binnenmarkt, S. 131 ff.; Wagner, Technisch-industrieller Umweltnotfall im EG-Recht, S. 75 ff. 30 Vgl. Richtlinie des Rates über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten vom 27.6.1985 (85/337/EWG), ABI. Nr. L 175/40 (zur problematischen Umsetzung der Richtlinie ins nationale Recht siehe Rehbinder, Implementation of the Directive on Environmental Impact Assessment, S. 9 ff.; Jarass, KritV 1991, S. 7-22), Richtlinie des Rates über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten vom 24.6.1982 ("Seveso-Richtlinie" - 82/501/EWG), ABI. 1982, Nr. L 23011, zuletzt geändert im Jahr 1990, ABI. 1990, Nr. L 353/59. Die Richtlinie beabsichtigt die Verhütung schwerer Unfälle sowie die Begrenzung der Unfallfolgen für Mensch und Umwelt aufgrund spezifischer Industrietätigkeiten, die den Umgang mit bestimmten gefährlichen Stoffen zum Inhalt haben, welche bei Unfällen schwerwiegende Folgen haben können (vgl. Art. 1 Abs. 1 u. 2 a.) der RL).- S.a. die Verordnung (EWG) Nr. 1836/93 des Rates vom 29.6.1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (Umwelt-Audits), ABI. 1993, Nr. L 168/l. Dieser Kreis wird sich voraussichtlich in den nächsten Jahren noch erweitern. 31 Z.B. dynamische Verweisungsnormen auf naturwissenschaftlichen Sachverstand, wie beispielsweise "Stand der Technik", "Stand von Wissenschaft und Technik", etc.

I. Systematik des EG-Gentechnikrechts

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Mitgliedstaaten bei deren Rechtsetzung zu beachten sind32• Zum Teil, wie etwa bei der Umweltverträglichkeitsrichtlinie, der "Seveso-Richtlinie" oder der geplanten EG-Richtlinie "Integrated Pollution Prevention and Control (IPC)"33 , wird die Anlagengestaltung und -zulassung immer mehr durch EGRecht determiniert. Die nonnativen Standards für die Gentechnik führen einen Schritt weiter. Sie betreffen nicht allein industrielle Produktionsprozesse, sondern setzen innerhalb der typischen gentechnischen Anwendungen eine Stufe weiter vorn ein, indem sie systematisch auch Forschungsprozesse präventiver Kontrolle unterwerfen. Ein ähnlich weites Spektrum entfalten weder die Umweltverträglichkeits- noch die "Seveso-Richtlinie". Beide sind vom Ansatz her, wie gesagt, zwar allgemein gehalten, sie sind aufgrund ihres primären Bezugs auf Industrieanlagen im Wirkungskreis allerdings beschränkt und erfassen reine Anlagen zur Forschung kaum oder gar nicht. Im Bereich der Laborarbeiten handelt es sich also nicht nur um technisch-industrielles Recht, sondern auch um forschungsgestaltendes Recht. Dies gilt nicht nur für die System-, sondern auch für die Freisetzungsrichtlinie, die ebenfalls diesen Bereich in ihren Regelungskreis einbeziehe4 •

2. Gentecbnik-, Umwelt- und Technikrecht im EG-Rahmen: Die Wahl der richtigen Rechtsgrundlagen Die primärrechtliche Grundlagen für den Erlaß sekundärrechtlichen Umwelt- und Technikrechts sind in den Art. IOOa, 130r-t EWGV /EGV geregelt. Die Aufsplitterung der Zuständigkeitsvorschriften im EWG-Vertrag birgt ein generelles Problem, das die Gemeinschaftsorgane auch im Bereich des Gentechnikrechts, insbesondere beim Erlaß der Systemrichtlinie beschäftigte: die Wahl der richtigen Rechtsgrundlage für umweltschutzbezogene Rechtsakte. Im Zentrum der Betrachtungen steht hier die Abgrenzung der allgemeinen Umweltkompetenz zur spezifischen, binnenmarktbezogenen Zuständigkeit gern. Art. IOOa EWGV. Daß die Frage nach der richtigen Rechtsgrundlage nicht unbeantwortet bleiben darf, zeigt die in diesem Punkt beständig unmißverständliche Haltung des Europäischen Gerichtshofs: Rechtsakte, die auf die falsche Rechtsgrundlage gestützt wurden, erklärte er für nichtig 35• Rengeling, Umweltvorsorge, S. 20 ff. Diese Richtlinie befindet sich, trotz mehrjähriger Vorarbeiten, noch immer im Stadium der Planung innerhalb der Kommission. Ein offizieller Vorschlag existierte Anfang 1994 noch nicht (dazu: Sellner/Schnutenhaus, NVwZ 1993, S. 828 ff.). 34 Vgl. z.B. Art. 5 Nr. I der Richtlinie. Js Vgl. zuletzt EuGH, Urt. vom 11.6.1991, Rs. C-300/89 (Kommission vs. RatTitandioxid-Richtlinie), Slg. 1991, S. 1-2867 (2901). 32

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Zweiter Teil: EG-Gentechnikrecht

Schwierigkeiten bereitet folgender Umstand: Beide Bereiche, der Umweltschutz wie die Binnenmarkthannonisierung sind, von Ausnahmen im Bereich des Natur- und des nicht technikbezogenen Umweltschutzes abgesehen36, integrale Zielvorgaben. Sie bieten keinen spezifisch materiell-nonnativen Eigengehale7. Sie sind deswegen "fremdbestimmt" und gelangen in ganz unterschiedlichen Gebieten zur Anwendung. Diese sachlich-begriffliche Anwendungsoffenheit führt im Bereich des produkt- und produktionsbezogenen Umwelt- und Technikrechts, mit seiner häufig dichotomen Verschränkung von umwelt- und wirtschaftsbezogenen Zielen, zu Problemen der Zuordnung des individuellen Rechtsaktes zur richtigen Rechtsgrundlage. Trotz dieser partiellen, systemimmanenten Doppeldeutigkeit verzichtet das Primärrecht bis heute auf eine nonnative Konfliktregelung. Dies gilt auch für den EG-Vertrag. Unabhängig von den Konsequenzen dieser Rechtsprechung verleiht die unterschiedliche Einbettung der beiden Vorschriften in das Nonnengefüge des EWG-Vertrags der Wahl der Rechtsgrundlage ihre hohe Bedeutung und Schwierigkeit. Sie wirkt sich auf den Rechtsetzungsprozeß aus und bestimmt den verbleibenden eigenverantwortlichen mitgliedstaatliehen Spielraum zu schutzverstärkenden Maßnahmen. Der erste Aspekt betrifft vor allem die Einbindung des Europäischen Parlaments in den Rechtsetzungsprozeß. Während es im Rahmen des Verfahrens nach Art. 130s EWGV i.V.m. Art. 149 Abs. 1 EWGV lediglich angehört wird, erlangt das Parlament beim Kooperationsverfahren gemäß Art. 149 Abs. 2 EWGV konstruktive Mitspracherechte. Lehnt es den gemeinsamen Standpunkt des Rates ab, kann jener in zweiter Lesung, will er davon abweichen, nur noch einstimmig beschließen38• Unterschiedliche Abstimmungsmodalitäten kommen hinzu. Für das Verfahren nach Art. lOOa EWGV genügen bei der Abstimmung im Rat qualifizierte Mehrheiten, Art. 130s EWGV erfordert dagegen Einstimmigkeit. Das Problem wird im EG-Vertrag nicht entschärft. Die Neuformulierung des Art. 130s EG-Vertrag übernimmt das nunmehr in Art. 189c EG-Vertrag geregelte Verfahren der Zusammenarbeit in das UmweltkapiteL Das Mehrheitsprinzip wird der Regelfall, bei wenigen Ausnahmen. Die Beteiligung des EP verstärkt sich also. Die demokratische Legitimation des Art. 100a EG-Vertrag erhöht sich ebenfalls. Er legt das neu 36 Zur kategorialen Differenzierung von Umweltrechtsakten Pemice, Die Verwaltung 22 (1989), S. 4. 37 Deutlich wird dies daran, daß der Terminus "Binnenmarktpolitik" gern. Art. 8a EWGV schon von vomherein unterschiedliche Sachbereiche erfaßt, d.h. sachlich selbst nicht fixiert ist, und die Umweltpolitik als unselbständiger Teilbereich gern. Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV "Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft ist". 38 Vgl. Art. 149 Abs. 2 c) 2. UA EWGV.

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in den EG-Vertrag eingeführte Mitentscheidungsverfahren (Art. 189b EGVertrag) zugrunde. In diesem erhält das EP weitergehende GestaltungsmögIichkeiten. Damit bleibt es auch künftig bei der uneinheitlichen Legitimierung und Verfahrensweise. Der zweite Aspekt rückt die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zur Erhöhung des Umweltschutzniveaus ins Blickfeld. Beide Vorschriften setzten legislative Mindestschranken. Nationale Variationen sind nur im Rahmen schutzverstärkender Maßnahmen möglich ("opting up") 39• Allein Art. lOOa Abs. 3 EWGV gibt hier für die Kommission einen erhöhten Qualitätsmaßstab vor40• Innerhalb des allgemeinen Umweltkapitels eröffnet Art. 130t EWGV den Mitgliedstaaten einen weiteren Spielraum. Sie haben lediglich die Grenzen der Art. 30 ff. EWGV zu beachten. Resträume für nationale Abweichungen im Bereich der Binnenmarktharmonisierung eröffnet Art. 1OOa Abs. 4 EWGV. Seine Auslegung zählt, wie erwähnt, zu den schwierigsten Elementen der EEA41 • Je nach dem Ergebnis der Auslegung sind hier den Abweichungsmöglichkeiten, mit Blick auf das Binnenmarktziel, engere Grenzen gesetzt. Im Gegensatz zu Art. 130t EWGV kommt bei Art. 1OOa Abs. 4 EWGV hinzu, daß im Rahmen eines formellen Verfahrens die Notifizierung und Bestätigung der nationalen Schutzverstärkung durch die Kommission notwendig ist42 • Mangels Änderungen bringt der Unionsvertrag auch hier keine Verbesserung. Seit die V mweltschutzvorschriften in den EWG-Vertrag eingefügt wurden, haben die zuständigen EG-Organe Probleme bei der individuellen Zuordnung der jeweiligen Rechtsgrundlage zum geplantem EG-Rechtsakt43 . Sie bedienten 39

Vgl. Langeheine, in: Grabitz, Art. 100a Rn. 69.

Mit Art. 130r Abs. 2 S. 1 EGV ("hohes Schutzniveau") erhält nun auch das allgemeine Umweltkapitel eine ausdrückliche Qualitätsvorgabe. 40

41 Verschiedene Tatbestandsmerkmale bereiten erhebliche Schwierigkeiten. Strittig ist etwa die Auslegung des Begiffs "anwenden". Verschiedentlich wird er mit "beibehalten" gleichgesetzt (weitere Auslegung u.a. Pipkom, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 100a Rn. 110 ff.; Scheuing, Umweltschutz auf der Grundlage der EEA, EuR 1989, S. 170; restriktiv [i.S. v. "beibehalten") s. Grabitz, in: ders. , Art. 130t Rn. 14); Überblick zur Auslegung bei Palme, Nationale Umweltpolitik in der EG. 42 Die Verweigerung der Bestätigung ist rechtstechnisch eine Entscheidung der Kommission, gegen die gern. Art. 173 EWGV geklagt werden kann. Strittig ist, ob der Mitgliedstaat schon vor Erteilung dieser Bestätigung die nationale Vorschrift anwenden darf (vgl. Langeheine, in: Grabitz, Art. IOOa Rn. 80/81). 43 Vgl. die Auflistungen bei Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 298 ff. , und Scheuing, Umweltschutz auf der Grundlage der EEA, EuR 1989, S. 187. Gerichtlich geklärt wurde die Frage Art. lOOa/ Art. 130s EWGV bislang in zwei Fällen: der Richtlinie 89/428/EWG über die Unterbindung der Versehrnutzung durch Abfäl-

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sich dabei zumeist primär subjektiver Kriterien. Während der Rat auf das "Hauptziel der Maßnahme" abstellte, orientierte sich die Kommission eher am "centre de gravite" der fraglichen Maßnahmen44 • Auch bei der Systemrichtlinie war das Rechtsetzungsverfahren gekennzeichnet von einer durchgehenden Unsicherheit über die richtige, anzuwendende Rechtsgrundlage. Schließlich wurde Art. 130s EWGV zugrundegelegt4s. Ursprünglich hatte sich der Kommissionsvorschlag auf Art. lOOa EWGV gestützt46. Im Rahmen des daraufhin gern. Art. 149 Abs. 2 EWGV vom Rat eingeleiteten Kooperationssverfahrens47 wurde zunächst der Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA) gehört48 ; anschließend wurde der Vorschlag an das Parlament weitergeleitet49. Dieses machte umfangreiche Änderungsvorschläge. Während der WSA sich zur Rechtsgrundlagenfrage nicht äußerte, erachtete das Parlament in seiner legislativen Entschließung die von der Kommission gewählte Lösung als angemessen 50• Obwohl der Rat im Ergebnis einzelne Vorschläge des Parlaments bei der Überarbeitung aufgriff

Je der Titandioxidindustrie ("Titandioxid-Richtlinie" - EuGH, Urt. vom 11.6.1991, Rs. C-300189 [Kommission vs. Rat], Slg. 1991, 1-2867), und der Richtlinie 91 I 1561 EWG des Rates zur Änderung der Richtlinie 7514421EWG über Abfälle ("Abfallrahmenrichtlinie"- EuGH, Urt. vom 17.3.1993, Rs. C-155191 [Kommission vs. Rat], DVBI. 1993, S. 777 ff.). 44 Überblick zur Praxis der Gemeinschaftsorgane bei Schröer, Kompetenzverteilung, S. 97 ff. 45 Die Wahl des Art. IOOa EWGV als Rechtsgrundlage für die Freisetzungsrichtlinie erntete heftige Kritik von Seiten Dänemarks, dessen Gentechnikgesetz bis zu diesem Zeitpunkt Freisetzungen grundsätzlich verbot (vgl. Brocks I Pohlmann/ Senft, a.a.O., S. 34; Scientific European von April 1990, S. 27 ["The Special Case of Denmark"]). Dänemark hätte es aufgrund der über Art. 130t EWGV größeren Möglichkeiten zu nationalen Schutzverstärkungsmaßnahmen lieber gesehen, wenn die Richtlinie ebenfalls auf Art. 130s EWGV gestützt worden wäre. Diese politische Opposition ändert allerdings nichts daran, daß die Wahl des Art. IOOa EWGV aus juristischer Sicht die richtige war. 46 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Verwendung von gentechnisch veränderten Mikroorganismen in abgeschlossenen Systemen vom 16.5.1988, KOM (88) 160 endg.- SYN 131 (=ABI. 1988, Nr. C 19819). 47 Zu den verschiedenen Rechtsetzungsverfahren der EG nach EWG- u. EG-Vertrag siehe die graphischen Darstellungen bei Streinz, Europarecht, Rn. 452a- c. 48 Vgl. Stellungnahme des WSA zu den Kommissionsvorschlägen für die Systemund die Freisetzungsrichtlinien, ABI. 1989, Nr. C 23 I 45. 49 Vgl. Stellungnahme des Europäischen Parlaments vom 25.5.1989 sowie die dazu verabschiedete legislative Entschließung des Parlaments (Dok. A2-141 189), ABI. 1989, Nr. C 1581122. 50 Im Hinblick auf die geschilderten verfahrensmäßigen Konsequenzen vermag diese Haltung naturgemäß nicht zu überraschen.

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und den Vorschlag in wesentlichen Punkten änderte51 , verabschiedete er die Systemrichtlinie am 23. April 1990, nachdem er zuvor das Parlament angesichts der geänderten Rechtsgrundlage erneut konsultiert hatte52, dann doch auf der Grundlage des Art. 130s EWGV53 • So wie demnach bereits die EGOrgane uneinig waren, so ist es auch mit der kommentierenden Literatur: Hier finden sich Spekulationen darüber, ob es tatsächlich richtig war, Art. 130s EWGV der Systemrichtlinie als Rechtsgrundlage zugrundezulegen54• Bei der Suche nach einer Lösung werden verschiedene Einzelprobleme angesprochen, die es zu unterscheiden gilt. Zum einen geht es um die Frage nach dem abstrakten primärrechtlichen Gefüge der Kompetenzvorschriften. Entwickelt das Umweltkapitel eine ausschließliche Kompetenz mit der Folge, daß umweltrelevante Maßnahmen nur auf diese Vorschriften gestützt werden können? Oder ist Art. lOOa EWGV umgekehrt Iex specialis gegenüber Art. 130s EWGV? Das Ergebnis, die abstrakte innere Systematik der EG-Umweltkompetenzen, bietet jedoch noch kein Rezept für die Entscheidung der Frage, wie die Zuordnung im Einzelfall durch die zuständige Kommission und den Rat vorzunehmen ist. Folgefrage ist darum, welche Kriterien die Rechtsgrundlagenwahl im konkreten Einzelfall bestimmen. Zum dritten geht es angesichts der im Raum stehenden Systemrichtlinie - darum, das Ergebnis der Analyse auf den Spezialbereich des technischen Sicherheits- und Anlagenrechts zu übertragen. Die Reichweite des Binnenmarktbegriffs steht im Mittelpunkt dieser Erörterung. Werden auch Produktionsstandards erfaßt, d.h. 51 Der bedeutsamste Änderungsvorschlag des Parlaments, der sich schließlich im weiteren Verlauf des Rechtsetzungsprozesses durchsetzte (vgl. dazu den ausdrücklich aufgrund der Stellungnahme des Parlaments geänderten Kommissionsvorschlag KOM [89] 409 endg. - SYN 131, ABI. 1989, Nr. C 246/6), betraf die Forderung, Genehmigungspflichten für bestimmte gentechnische Verfahren einzuführen, statt, wie ursprünglich von der Kommission vorgeschlagen, ausschließlich bloße Anmeldeverfahren ohne Zustimmungserfordernisse vorzuschreiben. 52 Dok. C3-130 /89; vgl. zweite Stellungnahme des Parlaments, ABI. 1990, Nr. C 96/98. 53 ABI. 1990, Nr. L 117 I 1 (der Richtlinientext ist abgedruckt in Anhang [). 54 Für Art. lOOa EWGV: Pemice, Die Verwaltung 22 (1989), S. 19 (Fn. 94); Palme, Nationaler Umweltschutz in der EG, S. 39; Graf Vitzthum!Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 145; Graf Vitzthum/Schenek, Die Europäisierung des Gentechnikrechts, S. 83 ff.; für Art. l30s EWGV: Grabitzl Nettes heim, in: Grabitz, Art. l30s Rn. 48. - Eine vergleichbar intensive Diskussion dürfte bei der künftigen IPCRichtlinie ins Haus stehen. Obwohl die Richtlinie Anfang 1994 noch im Entwurfsstadium war und ein Vorschlag der Kommission noch nicht weitergeleitet wurde, zeigt der Rechtsetzungsprozeß schon jetzt, daß die Organe erneut unsicher sind, welche Rechtsgrundlage einschlägig ist. Das Verfahren bietet das Bild eines mehrfachen Hin und Her zwischen Art. lOOa und 130s EGV (vgl. Sellner!Schnutenhaus, NVwZ 1993, S. 828).

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die produktionsbezogene Chancengleichheit der Unternehmen am Markt? Oder geht es lediglich um die vier in Art. 8a EWGV genannten Grundfreiheiten, vorliegend also einen ungehinderten freien Warenverkehr, gewährleistet durch Produktnormen? Erst auf diesem Hintergrund läßt sich dann eine einigermaßen verläßliche Aussage über die Wahl der Rechtsgrundlage bei der Systemrichtlinie treffen. Die Äußerungen in der Literatur zu diesem Thema waren ebenso zahlreich, wie das Meinungsspektrum heterogen war5• Im Rahmen der abstrakten Abgrenzung wurde einerseits gleichrangiges Nebeneinander der Bestimmungen konstatiert56 oder auf die "Intensität" der Maßnahme abgestellt57 oder es wurde, auf der anderer Seite - mittlerweile wohl überwiegend - der Spezialitätsgrundsatz zugrundegelegt und Art. 1OOa EWGV gegenüber Art. 130s EWGV als Lex specialis bezeichnet58 • Der EuGH arbeitete das Problembündel schrittweise auF9 • Dabei markieren das Grundsatzurteil zur Titandioxid-Richtlinie60 sowie das Urteil zur Abfallrahmenrichtlinie die vorläufigen Endpunkte61 • Frühzeitig vollzog der EuGH die Abgrenzung der Gemeinschaftskompetenz nach außen. In seinem ADBHU-Urteil erklärte er schon im Jahr 1985, Umweltschutz sei zu den wesentlichen Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft zu zählen62 • Im Hinblick auf den internen Kompetenznormenkonflikt suchte der Gerichtshof Distanz zur gängigen Praxis der anderen Gemeinschaftsorgane. In ständiger Rechtsprechung betont er bis heute, daß sich die Wahl der Rechtsgrundlage ausschließlich an objektiven, gerichtlich nachprüfbaren Kriterien zu orientieren habe und nicht zur Disposition der Organe steht63 • Er verfolgt damit einen 55 Überblick bei Schröer, Die Kompetenzverteilung, S. 97 ff.; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 274 ff. 56 Grabitz, in: ders., Art. 130s Rn. 20. 57 Ehlermann, Grenzen der gemeinsamen Agrarpolitik, S. II I. 58 Langeheine, in: Grabitz, Art. IOOa Rn. 94; Piplwrn, in: von der Groeben/Thiesing I Ehlermann, Art. I OOa Rn. 49 I 50. 59 Systematische Darstellungen bei Zuleeg, NJW 1993, S. 31 ff.; Lenz. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, S. 15 ff.; Wehrhahn, Die Rechtsprechung des EuGH zum Umweltschutz, S. 367 ff. 60 EuGH, Urteil vom 11.6.1991 in der Rs. C-300/89 (Kommission vs. Rat- Titandioxid-Richtlinie), Slg. 1991, S. 1-2867 ff. 61 EuGH, Urteil vom 17.3.1993, Rs. C-155/91 (Kommission vs. Rat- Abfallrahmenrichtlinie), DVBI. 1993, S. 777 ff. (m. Anm. Middeke, DVBI. 1993, S. 769 ff.). 62 EuGH, Rs. 240/83 (Procureur de Ia Republique/ ADBHU), Slg. 1985, S. 531 ff. (549). 63 EuGH, Rs. 68/86 (Vereinigtes Königreich vs. Rat - Hormonrichtlinie), Slg. 1988, S. 905 ff.; Rs. 242/87 (Kommission vs. Rat), Slg. 1988, S. 1425 ff.; Rs. C-62/

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auf Rechtssicherheit bedachten Kurs64 • Das Verhältnis zweier gleichermaßen anwendbarer Kompetenzvorschriften entscheidet sich nach Auffassung des Gerichtshofs anband des Spezialitätsgrundsatzes65 • Das Urteil zur Titandioxid-Richtlinie66 bot Gelegenheit, weitere Streitfragen zu klären. Im Mittelpunkt stand hier erstmals die Abgrenzung von Art. 130s zu Art. lOOa EWGV. Grundlage des Urteils war eine Klage der Kommission gegen den Rat67 • Jener hatte die Richtlinie über Titandioxid-Abfälle, anstatt, wie von der Kommission vorgeschlagen, auf Art. 1OOa EWGV, auf Art. 130s EWGV gestützt. Der Inhalt der Richtlinie war allerdings ambivalent. Einerseits sollte eine Verringerung und spätere Unterbindung der Verschmutzung durch Abfälle aus bestehenden Industrieanlagen erreicht werden; auf der anderen Seite sollte die Wettbewerbsbedingungen für die TitandioxidIndustrie verbessert werden, indem durch die Harmonisierung der Rechtsvorschriften eine Gleichbehandlung der Unternehmen in den Mitgliedstaaten gewährleistet werden sollte: d.h. einerseits Umwelt- und andererseits Wettbewerbsvorsorge. Inhaltlich bestand die Richtlinie überwiegend aus Produktions- und Anlagenbestimmungen. Der EuGH sah in der Richtlinie unter dem Gesichtspunkt ihres Ziels und Inhalts68 beide Bereiche, den Umweltschutz 88 (Griechenland vs. Rat), Slg. 1990, S. 1527 ff.; Rs. C-295/90 (Parlament vs. Rat), Slg. 1992, S. 1-4193 ff.; Rs. C-155/91 (Kommission vs. Rat - Abfallrahmenrichtlinie), DVBI. 1993, S. 777 ff. 64 Zuleeg, NJW 1993, S. 32/33. 65 Zum Verhältnis der Art. 43 und 100 EWGV in der Agrarpolitik s. EuGH, Rs. 68/86 (Vereinigtes Königreich vs. Rat), Slg. 1988, S. 855 ff. (896); Rs. 131/86 (Vereinigtes Königreich vs. Rat), Slg. 1988, S. 905 ff. (930). Zur inhaltlichen Deutung des Begriffs Spezialität Larenz, Methodenlehre, S. 267 ff. 66 Richtlinie des Rates 89/428/ EWG vom 21.6.1989 über die Modalitäten zur Vereinheitlichung der Programme zur Verringerung und späteren Unterbindung der Versehrnutzung durch Abfälle der Titandioxid-Industrie, ABI. 1989, Nr. L 201/56. Der EuGH erklärte die Richtlinie wegen der Wahl des Art. 130s EWGV im Ergebnis für nichtig. Das Rechtsvakuum wurde durch Neuverabschiedung der Richtlinie auf der Grundlage des An. 1OOa EWGV geschlossen (ABI. 1992, Nr. L 409/11 ). Zum Urteil s. u.a. die Besprechungen von Everling, EuR 1991, S. 179 ff.; Schröer, EuR 1991 , S. 356 ff.; Epiney, JZ 1992, S. 564 ff. 67 Everling (EuR 1991 , S. 180) weist zutreffend auf den motivbildenden Umstand hin, daß die unterschiedliche Abstimmungsquoren Mehrheit I einstimmige Beschlußfassung für eine Reihe von Klagen der Kommission entscheidend waren, mit dem Ziel, verstärkt Mehrheitsentscheidungen des Rats zu erreichen. 68 Aufgrund des objektiven Ansatzes des Gerichtshofs genügt die verlautbarte Zielrichtung allein nicht. Selbst mit speziellen legislativen Zweckformeln wird die Zweckbestimmung des jeweiligen Gesetzes nicht unbedingt vollständig erfaßt. Notwendig ist, den Gesamtzusammenhang und -inhalt der rechtlichen Regelung in die notwendige Betrachtung miteinzubeziehen.

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wie das Funktionieren des Binnenmarktes, in gleichem Maß und untrennbar betroffen69 • Unter Zugrundelegung seiner objektivierten Auslegung70 ging die erste Kernaussage des Gerichtshofs dahin, daß - womit er seine bisherige Rechtsprechung modifizierte71 - die duale Verwendung beider umweltschutzbezogenen Normen in diesem Fall des gleichrangigen Nebeneinanders nicht möglich ist. Beide Normen sind nach Auffassung des Gerichtshofs nur alternativ anwendbar. Der EuGH stützte sich dabei auf die eingangs skizzierten Verfahrensunterschiede mit der daraus resultierenden Gefahr, das Kooperationsverfahren gern. Art. 149 Abs. 2 EWGV bei gleichzeitiger Verwendung beider Kompetenzvorschriften auszuhöhlen. Durch die verstärkte Einbindung des Parlaments in diesem Verfahren handle es sich beim Verfahren der Zusammenarbeit aber um ein unverzichtbares Element der demokratischen Legitimation in der EG-Rechtsetzung. Die nächste Aussage des Urteils bestand darin: Im beiderseitigen, gleichrangigen Nebeneinander hält der EuGH Art. lOOa EWGV als Iex specialis für vorzugswürdig. In diesem Punkt verweist der EuGH auf die "Querschnittsklausel" des Art. 130r Abs. 2 S. 2 EWGV und das Qualitätsziel des Art. lOOa Abs. 3 EWGV, mit seiner Verpflichtung der Kommission auf ein hohes Schutzniveau. Nach Auffassung des EuGH ist dadurch das Umweltschutzniveau wirksam gewahrt72 • Für die Systemrichtlinie inhaltlich von Belang war eine weitere Aussage, die der EuGH in seiner Titandioxid-Entscheidung traf. Sie betrifft die Auslegung der begrifflichen Weite des Binnenmarktbegriffs i.S.d. Art. 8a EWGV. Nach Auffassung des EuGH erlaßt dieser nicht nur die Marktfreiheitsrechte (Grundfreiheiten), sondern auch die Marktgleichheitsrechte (produktionsbezogene Chancengleichheit der Unternehmen im Wettbewerb). Diese Frage ist heftig umstritten73 • Die EuGH-Definition des Binnenmarktes ent69 EuGH, ebd., Slg. 1991 , S. 1-2899 (Rn. 13). In seinem Schlußantrag bezeichnete GA Tesauro die inhaltliche Ausgestaltung trefflich als " ... einander durchdringen und miteinander verschmelzen ... " (EuGH, ebd., Slg. 1991 , S. 1-2883). 70 EuGH, ebd., Slg. 1991, S. 1-2898 (Rn. 10). 71 In der Rs. 165 I 87 (Kommission I Rat, Slg. 1988, S. 5545 Rn. 11) entschied der EuGH: Für den Fall, daß die Zuständigkeitzweier Kompetenzvorschriften einschlägig ist, ist der Rechtsakt auf der Grundlage von beiden zu erlassen. - Die doppelte Abstützung hat im EG-Umweltrechtsbereich Tradition. Bis zur Verankerung der ausdrücklichen Umweltschutzkompetenz im EWG-Vertrag wurden vergleichbare Akte auf die duale Rechtsgrundlage der Art. 1001235 EWGV gestützt. Beide Vorschriften sehen ein einstimmiges Beschlußverfahren vor, verfahrensbezogene Abgrenzungsschwierigkeiten treten nicht auf. Art. 235 EWGV deckte die Umweltschutzkomponente ab, Art. 100 EWGV kam den marktspezifischen Auswirkungen nach. 72 EuGH, ebd., Slg. 1991, S. 1-2901, Rn. 22, 24. 73 Ebenso Pipkom, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. IOOa Rn. 19;

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faltet demnach Parallelen zum Begriff "Gemeinsamer Markt", wie er vom EuGH einige Jahre zuvor in seinem "Gaston-Schul"-Judikat ausgelegt worden war74. In seinem Urteil zur Abfallrahmenrichtlinie75 setzt der EuGH diese Rechtsprechung differenzierend fort76. Er stellte fest, daß eine bloße - gleichsam reflexartige - Betroffenheit bzgl. der Errichtung und des Funktionierens des Binnenmarktes für die Anwendung des Art. 1OOa EWGV nicht ausreichend ist. Ebensowenig sollen nur beiläufige Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen genügen77 • Im Ergebnis stützte der EuGH darum in diesem Fall die Wahl des Art. 130s EWGV als Rechtsgrundlage. Überträgt man die Aussagen dieser Rechtsprechung auf die Systemrichtlinie, so bietet sich folgendes Bild. Beide, Titandioxid- wie Systemrichtlinie, setzen produktions- und anlagenbezogene Umweltstandards. Sie sind inhaltlich unmittelbar industriebezogen78 • Es zeigen sich also signifikante Gemeinsamkeiten. Im Gegensatz zur Titandioxid-Richtlinie fehlt der Systemrichtlinie jedoch eine ausdrückliche wettbewerbsbezogene ZweckformeL Hieraus allein schon einen mangelnden Wettbewerbsbezug abzuleiten, würde allerdings zu weit führen. Die Richtlinie ist viel mehr in ihrem Gesamterscheinungsbild zu interpretieren. Hier zeigt sich eine untrennbare Ziel- und Inhaltsambivalenz. Langeheine, in: Grabitz, Art. lOOa Rn. 20; Pemice, Die Verwaltung 22 (1989), S. 18 ff. (er zieht u.a. Parallelen zur "Seveso-Richtlinie"); Scheuing, EuR 1989, S. 186; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 282 (m.w.N. in Fn. 68); Middeke, DVBI. 1993, S. 772 (mit Übersicht zum Meinungsspektrum); a.A. Grabitz/Zacker, NVwZ 1989, S. 301; Palme, Nationale Umweltpolitik, S. 34 ff.; Epiney/Furrer, EuR 1992, S. 378 ff. (m.w.N.); Streinz, Europarecht, Rn. 914. 74 EuGH, Rs. 15/81 (Gaston-Schul), Slg. 1982, S. 1409, Rn. 3. 75 EuGH, Rs. C-155/91 , Kommission vs. Rat, DVBI. 1993, S. 777 f. Die Richtlinie ist nach der Auslegung des EuGH darauf gerichtet, die Bewirtschaftung von Industrie- und Haushaltsabfällen im Hinblick auf den erforderlichen . Umweltschutz sicherzustellen. Sie diene darum hauptsächlich Umweltschutzbelangen und wirke sich nur nebenbei auf die Wettbewerbs- und Handelsbedingungen aus. Insbesondere sei es nicht das Ziel der Richtlinie, den freien Verkehr von Abfällen innerhalb der Gemeinschaft zu verwirklichen. 76 Trotz Kritik an der Reichweite seiner "Binnenmarkt" Begriffsauslegung weicht der EuGH in diesem Punkt nicht von seiner Titandioxid-Rechtsprechung ab (Nachw. s.o. Fn. 73). 77 EuGH, ebd., S. 778 (Nr. 18 ff.). 78 Zwar beinhaltet die Systemrichtlinie mit der Forschung und der nicht-industriellen Anwendung einen zweiten, nicht industriebezogenen Aspekt; diese Zweigliedrigkeit ist für die Wahl der Rechtsgrundlage indes dann nicht entscheidend, wenn, wie hier, dieser Teilbereich im Gesamtzusammenhang der Richtlinie nicht überwiegt. Die Wahl der Rechtsgrundlage kann nur einheitlich erfolgen. Insofern überwiegt der industrielle Komplex aufgrund seiner normativen Spezialität.

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Zunächst offenbaren die Erwägungsgründe zur Richtlinie79 , daß auch sie einen ambivalenten Ansatz verfolgt. Zum einen ist die Sicherheit gentechnischer Anwendungen das Regelungsziel; zum anderen geht es aber auch um Sicherheit als notwendige Grundlage zur gemeinschaftsweiten Entwicklung der Gentechnik. Das Umweltschutzziel verbindet somit genuine Sicherheitsmit Harmonisierungsintentionen. Betrachtet man den Gesamtkontext der EG-Biotechnologiepolitik, dann wird zudem deutlich: Die Richtlinie zeichnet hier nur die Politik nach, die davon ausgeht, daß eine global wettbewerbsfahige Entwicklung der Biotechnologie einen gemeinschaftsweiten Regelungsansatz erfordert, der auch die vertrauensbildende Sicherheitsregulierung beinhaltet. Diese ist somit nur ein, allerdings wesentliches Element dieser Strategie. Ein untrennbarer Wettbewerbsbezug ist auch aus der Regelung selbst zu entnehmen. Der Wettbewerbsbezug ergibt sich aus der Gestaltung der Richtlinie. In seiner Titandioxid-Entscheidung hob der EuGH nochmals, bei gleichzeitigem Verweis auf frühere Rechtsprechung 80 hervor81 , daß umweltschutzrechtliche Vorschriften gegenüber den Unternehmen, die durch sie betroffen sind, belastende Wirkungen entfalten können. So ist es auch hier. Industriebezogene Umweltstandards entfalten notwendigerweise eine inhaltliche Ambivalenz, die sich auch auf die Wettbewerbssituation auswirkt. Dagegen spricht auch nicht das Ergebnis, das der EuGH für die Abfallrahmenrichtlinie gefunden hat. Es ist inhaltlich nicht übertragbar auf die Titandioxid-Entscheidung. Jene Richtlinie hatte einen anderen Ausgangspunkt. Sie ist nicht auf sachliche Entwicklung, sondern auf gesetzestechnische Eindämmung und gemeinwohlorientierte Steuerung des Abfallproblems ausgerichtet - enthält also keine industriebezogene Prämisse. Von der Kommission war von vornherein auch nur der Grundsatz der Verwirklichung des freien Verkehrs von Abfällen in der Gemeinschaft als binnenmarktbezogene Momente angeführt worden. Ein weiterer Gedanke kommt hinzu: Sachlich beziehen sich die Systemwie die Freisetzungsrichtlinie auf die industrielle und nichtindustrielle Anwendung der Gentechnik als identischen Regelungsgrund. Unterschiede zei79 Vgl. Erwägungsgrund 6: ".. . um eine sichere Entwicklung der Biotechnologie innerhalb der gesamten Gemeinschaft zu ermöglichen, müssen gemeinsame Maßnahmen zur Bewertung und Verringerung der Risiken, die sich bei allen Arbeitsgängen mit Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen ergeben können, eingeführt und sowie entsprechende Anwendungsbedingungen festgelegt werden". 80 EuGH, Rs. 91179 und 92179 (Kommission vs. Italien), Slg. 1980, S. 1099 (1115 [Rn. 8]). 81

EuGH, ebd., Slg. 1991, S. 2901, Rn. 23.

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gen sich in der Anwendungsstufe mit unterschiedlichen Gefahrenszenarien. Inhaltlich baut die Freisetzungsrichtlinie jedoch auf der Systemrichtlinie auf; die Übergänge lassen sich nicht in allen Punkten scharf trennen82 • Die Aufspaltung der Materie in zwei Richtlinien war darum nicht unvermeidlich83 • Kurz: Es dürfte sich um ein sachliches Miteinander, nicht um ein isoliertes Nebeneinander der Richtlinien handeln. Insofern ist die Aufspaltung der Materie nach der Rechtsgrundlage nicht möglich. Käme man zum entgegengesetzten Ergebnis, so würde dies dazu führen, daß die Organe mit der Aufteilung der Materie unterschiedliche Verfahrensbeteiligungen des Parlaments erreichen könnten. Es war eben dies der Gedanke, der vom EuGH im Titandioxid-Judikat aufgrund der verfahrensmäßig unterschiedlichen demokratischen Legitimation gerade als nicht zulässig erachtet wurde. Angesichts der heterogenen Umsetzungssituation in den Mitgliedstaaten wird zudem deutlich. daß nicht der Umweltschutz, sondern vor allem der Gesichtspunkt des Wettbewerbs für diese Lage verantwortlich ist84• Im Ergebnis ist festzustellen: Die Wahl des Art. 130s EWGV als Rechtsgrundlage der Systemrichtlinie war fehlerhaft. Ein Verfahren vor dem EuGH hätte voraussichtlich die Nichtigkeit der Richtlinie zur Folge. Regelungspolitisch wäre damit allerdings nicht viel erreicht, da - wie im Titandioxid-Fall ein unveränderter Neuerlaß auf veränderter Kompetenzgrundlage die wahrscheinliche Reaktion der Organe der EG wäre.

82 Das "step-by-step-Prinzip" der Freisetzungsrichtlinie erfordert die stufenweise Lockerung der Einschließungsmaßnahmen (vgl. Erwägungsgrund 11 zur Freisetzungsrichtlinie). Fraglich ist darum, wo der Anwendungsbereich der Systemrichtlinie endet und die Zulassung nach der Freisetzungsrichtlinie zu beantragen ist (vgl. Wheale I McNally, Science and Public Policy 1993, S. 265. 83 S. nur das GenTG als Beispiel eines einheitlichen Regelwerkes. Der Gedanke der Einheitlichkeit der Sachmaterie liegt auch der Stellungnahme der DFG vom Oktober 1992 zugrunde, in der jene die einheitliche Verwendung des Art. 100a EWGV befürwortet. 84 Im August 1993 hatten allein Großbritannien, Dänemark und die Bundesrepublik Deutschland die Systemrichtlinie, die bis zum 23.10.1993 umzusetzen war, vollständig ins nationale Recht umgesetzt (vgl. TAB, a.a.O., S. 222). - Mit Blickrichtung auf Art. 1OOa EWGV hob auch das Parlament den in der Sache angelegten Aspekt der Wettbewerbsverzerrungen und Aufsplitterung des Binnenmarktes hervor, als es während des Rechtsetzungsverfahrens zur Systemrichtlinie in seiner zweiten Stellungnahme die diesbezügliche Ergänzung der Erwägungsgründe vorschlug (ABI. 1990, Nr. C 96/99); ebenso Dei Bino, EurUm 3/88, S. 31.

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3. Regelungsansatz und Verhältnis zum restlichen EG-Umweltrecht

Angesichts der unterschiedlichen Gefahrensituationen und ökologischen Probleme unterscheiden gentechnische Regulierungen inhaltlich regelmäßig zwischen zwei Fallgruppen, die international weithin anerkannt sind85, und die nicht zuletzt die evolutive Weiterentwicklung der Gentechnik dokumentieren: die Fallgruppe der gentechnischen Forschung und industriellen Produktion in geschlossenen Systemen und das Szenario des bewußten Ausbringens gentechnisch veränderter Organismen oder von Produkten, die solche enthalten in die Umwelt (Freisetzung und lnverkehrbringen). Diese Differenzierung ermöglicht indes aber noch keine Aussage über eine notwendige rechtstechnische Umsetzung. Im Unterschied zur friedlichen Nutzung der Kernenergie eröffnet die Gentechnik keinen isolierten Sachbereich neu, sondern entwickelt schon vorhandene Sachbereiche qualitativ weiter. In vielen Anwendungsbereichen trifft die moderne Technik darum auf schon existentes Recht. Insofern stellt sich die Frage, ob dieses Recht dem wissenschaftlichtechnischen Fortschritt durch entsprechende Novellierung geöffnet und angepaßt werden soll, oder ob statt dessen eine eigenständige Regelung der Gentechnik angezeigt ist. Im internationalen Vergleich sind bis heute - idealtypisch - zwei Regelungskonzepte auszumachen86: Das erste verfolgt einen anwendungsneutralen, horizontalen Ansatz. So umfassend als möglich macht es das technische Verfahren zum regulativen Bezugs- und Mittelpunkt und entscheidet sich dabei für eine autonome, sektorübergreifende Gentechnikregelung. Regelungscausa ist die Technik als Risiko- oder Gefahrenquelle. Der zweite Ansatz verzichtet auf die Schaffung einer zusammenhängenden Neuregelung. Er integriert die gesetzgebensehen Maßnahmen in das schon vorhandene sektorale, zumeist produktbezogene Recht. Regelungscausa ist hier die Anwendung und die Nutzung der Gentechnik. Dieses sektor- oder auch produktspezifische Konzept wird gemeinhin als vertikaler Ansatz bezeichnet87 • Der vertikale Ansatz 85 Diese Differenzierung gründet in der Natur der Sache. Sie liegt auch den OECDGuidelines von 1986 zugrunde (vgl. Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD), Recombinant DNA Safety Considerations, 1986). 86 Zählt man jene Länder dazu, in denen gentechnische Anwendungen zwar praktiziert werden, gentechnische Regelungen aber nicht existieren, wie etwa in verschiedenen Staaten Asiens (z.B. Taiwan oder Singapur) oder bis vor kurzem auch in einzelnen Mitgliedstaaten der EG (z.B. Italien oder Spanien), dann sind strenggenommen sogar drei Fallgruppen zu unterscheiden (vgl. OTA, a.a.O., S. 188 ff.); zu beiden Ansätzen s.a. Winter, Grundprobleme des Gentechnikrechts, S. 27 ff. 87 Vgl. TAB, a.a.O., S. 296 ff.; Lange, in: Eberbach/Lange, Einl. EG-Freisetzungsrichtlinie, Rn. 54. Beispiele vertikaler Regulierung sind die Gentechnikregelungen in den USA und in Japan. Aus dem Kreis der EG-Mitgliedstaaten ist Großbritannien zu

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eröffnet in seiner sektoralen Differenziertheit verschiedenen Ländern die Möglichkeit, allein untergesetzliche Regelungen zu erlassen88• Beide Regelungsmodelle haben Vor- und Nachteile. Sprechen einheitliche, horizontale Regelungsstrukturen und Kriterien für Berechenbarkeit, geradlinige Genehmigungsverfahren ohne überlappende Zuständigkeiten und damit im Ergebnis für Rechtssicherheit zugunsten der Betroffenen, ist aufgrund der sektoralen Differenziertheit eine pragmatischere, dem jeweiligen Sachbereich vielfach angemessenere Genehmigungspraxis möglich89• Gerade der letzte nennen, das die EG-Gentechnikrichtlinien in das bestehende ausdifferenzierte, nicht immer speziell auf die Gentechnik bezogene Recht einfügte; Frankreich versucht einen ähnlichen Weg mit Hilfe eines Rahmengesetzes zu gehen, auf dessen Grundlage eine Vielzahl von Umsetzungsverordnungen und Ausführungsbestimmungen erlassen werden (vgl. TAB, a.a.O., S. 298; ob dies den Ansprüchen an eine zureichende Umsetzung der Richtlinien genügt, bleibt abzuwarten; angesichts des eher horizontalen Charakters der EG-Gentechnikrichtlinien und der strengen Maßstäbe der EG-Kommission erscheinen Zweifel angebracht). 88 Das amerikanische und japanische Gentechnikrecht besteht z.B. ausschließlich aus untergesetzlichen Regelungen (Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen; vgl. TAB, ebd.); zur Rechtslage in der Schweiz Schmid, FS Koller, S. 515 ff. - In Deutschland war die Frage, ob zur Regelung der Gentechnik ein Parlamentsgesetz verfassungsmäßig geboten ist, Gegenstand des Gentechnik-Beschlusses des VGH Kassel vom 6.11.1989 (abgedruckt u.a. in JZ 1990, S. 91 f. = DVBI. 1990, S. 63 ff.; zu den Kritikpunkten s. Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Der Zweck im Gentechnikrecht; s. zuletzt Kloepfer, FS Lerche, S. 755 ff. [mit umfangr. Nachw.]). Das Gericht entschied sich, gestützt auf die Wesentlichkeitstheorie i.V.m. der staatlichen Schutzpflicht, für ein verfassungsrechtliches Präventivverbot mit parlamentarischem Erlaubnisvorbehalt i.S.e. kategorischen Gesetzesvorbehalts - mit der Konsequenz, daß es die Zulässigkeit gentechnischer Anlagen von einem entsprechenden Genehmigungsgesetz abhängig machte. 89 Das von der EG im Jahr 1991 eingesetzte Biotechnology Coordination Committee (vgl. oben Erster Teil, 11.2) unterwarf 1992 die EG- und US-Regelungen hinsichtlich der Freisetzung transgener Mikroorganismen, transgener Pflanzen und Pestiziden, die solche enthalten, einem Vergleich (vgl. BCC, Interim Report, S. 4 ff.). Es kam zu dem Ergebnis, daß beide Regelwerke ähnliche Bewertungsparameter anwenden und vergleichbare Sicherheitsstandards erzielen. Wenige nicht geregelte Bereiche unterfallen in den USA regelmäßig der freiwilligen Anzeige durch die Anwender. Auch hier zeigten sich die geschilderten Vor- und Nachteile beider Regelungskonzeptionen. Sektorale Flexibilität bei der Verfahrensgestaltung steht sektoralen Überlappungen im Rahmen der Genehmigungszuständigkeiten gegenüber. Ersichtlich wurde zudem, daß das US-Reglement Möglichkeiten zur Beteiligung der Betroffenen enthält. Durch private Anträge kann der Regelungskatalog bei erwiesenem Bedarf erweitert oder verkürzt werden. Das US-Recht erweist sich in dieser Hinsicht als flexibler. - Der Vollständigkeit halber ist hinzuzufügen, daß ausgangs 1993 insbesondere die US Food and Drug Administration (FDA) die Deregulierung des US-amerikanischen Gentechnikrechts im Bereich von Freisetzungen und Produktzulassungen plante, um ein flexibleres Zulassungsverfahren zu erreichen (vgl. EBIS 2 [1992], No. 3, S. 13 ff.).

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Aspekt ist es, der in der Beurteilung zugunsten des vertikalen Konzepts, neben der Rechtssicherheit durch Berechenbarkeil und dem Sicherheitsstandard der Regelungen, häufig den Ausschlag gibt. Er wird auch von der industriellen Anwenderseite vielfach favorisiert. Aufgrund ihrer erheblichen Tragweite wurde die Entscheidung horizontales- vertikales Regelungskonzept in nahezu allen Ländern mit betreffender Gentechnikregulierung kontrovers diskutiert90• Nach der jüngsten TAB-Studie wurden beide Konzepte in keinem Land in Reinkultur verwirklicht; es werden vielmehr in abgestufter Form stets vermittelnde Lösungswege eingeschlagen bzw. angestrebt91 • 90 TAB, a.a.O., S. 299. In den USA gipfelte die Diskussion 1986 in der Verabschiedung des vom Office of Science and Technology Policy (OSTP) ausgearbeiteten sog. "Coordinated Framework for Regulation of Biotechnology" (51 Fed.Reg. 23, 302 [1986]). Die politischen Weichen für die US-amerikanische Gentechnikregulierung wurden noch während der Amtszeit des ehemaligen US-Präsidenten Reagan gestellt. In diese Phase fällt die rechtspolitisch entscheidende Prämisse, daß Biotechnologie durch das existierende Recht sicher geregelt werden kann, und daß deswegen keine eigene Rechtsetzung notwendig ist, um vor den Gefahren der Technik zu schützen (vgl. Shapiro, Ecology Law Quarterly 1990, S. 15 ff.). Im Ergebnis wurde in den USA darum das bereits existente, produktbezogene Recht fortgeschrieben (vgl. zur Gentechnikregulierung in den USA Brocks/Pohlmann/Senft, a.a.O., S. 28 ff.; Shapiro, ebd., S. 13 ff.; TAB, a.a.O., S. 209 ff.; OTA, a.a.O., S. 175 ff.; Winter, Grundprobleme des Gentechnikrechts, S. 27 ff.). 91 TAB, a.a.O., S. 299. Anzumerken bleibt, daß sich der konzeptionelle Unterschied nicht auf die Regelungsebene beschränkt. Abstrakt sind beide Lösungswege möglich, ohne im Sicherheitsniveau von vornherein Abstriche zu machen. Auch unterscheidet sich die rechtliche Ausgangssituation aufgrund des geschilderten Querschnittcharakters der Gentechnik in den verschiedenen Ländern regelmäßig nur marginal. Der Unterschied, der für die Wahl der Konzeption den Ausschlag gibt, ist im Verhältnis der einzelnen Gesellschaften zur Gentechnik zu suchen. Die horizontale Lösung spiegelt eine eher reservierte Ausgangshaltung wider, die sich isoliert um die rechtliche Aufarbeitung der vorhandenen und vermuteten Gefahren- und Risikopotentiale der Gentechnik bemüht. Die Beispiele Deutschland und Dänemark zeigen, daß vergleichsweise rigide gesetzliche Sonderregelungen häufig das Ergebnis einer vorausgegangenen Grundsatzdiskussion darstellen, in der bis zuletzt die Technik grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Beide Länder untersagten beispielsweise größtenteils Freisetzungen gentechnisch veränderter Organismen; die Gentechnik-Enquete-Kommission in Deutschland empfahl noch 1987 ein entsprechendes Moratorium (EnqueteKommission, a.a.O., S. XLVI ff.; zur recht!. Regelung in Dänemark s. Brocks/ Pohlmann/Senft, Das neue Gentechnikgesetz, S. 34 f.; zur Position im gemeinschaftlichen Rechtsetzungsprozeß s. Scientific European von April 1990, S. 27 ["The special case of Denmark"]). Die Grundsatzdiskussion setzte sich nach Erlaß des GenTG beispielsweise in Deutschland auf anderen Ebenen und in anderen Foren fort (vgl. Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 13 ff.), auch im Rahmen der Novellierungsdebatte 1993 (dazu Graf Vitzthum, ZG 1993, S. 236 ff.). Die vertikale Lösung geht die Sicherheitsfrage von der entgegengesetzten Seite, vergleichsweise pragmatischer an. Aus dem Blickwinkel des spezifischen Chancen- und Anwendungsbereichs sucht sie sicherheitsadäquate gesetzliche Lösungswege. Inhaltlich

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Mit der System- und der Freisetzungsrichtlinie als Zentralnormen entwikkelt das EG-Gentechnikn:cht im Kernbereich ein prozeßorientiertes horizontales Regelungskonzept92• Das Spektrum gentechnischer Anwendungen wird durch beide Richtlinien in seiner ganzen Breite vollständig abgedeckt: vom Laborbereich bis hin zur Vermarktung von Produkten. Sämtliche gentechnischen Anwendungen werden der präventiven behördlichen Kontrolle unterworfen. Eine Sonderrolle nimmt die Richtlinie über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit ein93• Sie befaßt sich ausschließlich mit dem Spezialaspekt der Arbeitnehmersicherheit In ihrem Anwendungsbereich tritt sie neben die beiden anderen Richtlinien. Diese stehen aber nicht allein. Schon früher wurden durch die Gemeinschaft sektorale Regelungen erlassen, die inhaltlich Bezüge zur Gentechnik aufwiesen - auch wenn sie nicht ausdrücklich hierauf bezug nahmen94• Zu nennen sind an dieser Stelle sektorale Warenregelungen aus den Bereichen der Pharmazeutika, Veterinärmedizin, chemische Gefahrstoffe, Nahrungsmittelzusätze und Bioproteine für Tiere95 •

verbirgt sich in diesen Konzepten eine unterschiedliche Grundposition und Wertung gegenüber der Gentechnik. Der horizontale Ansatz fixiert eine sicherheitsrechtliche Sonderrolle, der vertikale hingegen eine "normalisierte" Position, die die Sachfragen von vornherein differenziert angeht. Legislative Förderklauseln (vgl. § 1 Nr. 2 GenTG) verändern nicht die grundsätzliche Ausgangsposition, sondern schwächen sie allenfalls ab. 92 Auch hier findet sich also die zweigliedrige Ausrichtung. Die EG-Regelungen orientieren sich in vielen Punkten an den im Jahr 1986 ausgearbeiteten OECD-Guidelinies (vgl. EG-Komm., KOM[86] 573 endg.). Diese konzentrieren sich hauptsächlich auf die wissenschaftlichen Kriterien für einen sicheren Gebrauch gentechnisch veränderter Organismen in der Industrie (großvolumige Fermenteranwendung) und bei der geplanten Freisetzung in die Umwelt. Zur Ausarbeitung der Richtlinien war schon 1983 seitens der OECD eine: ad hoc-Expertengruppe berufen worden, der auch mehrere EG-Vertreter angehörten. 93 Richtlinie des Rates vom 26.11.1990 (Siebte Einzelrichtlinie im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 891391 IEWG) (9016791EWG), ABI. 1990, Nr. L 3741 I i.d.F. der Änderungsrichtlinie 931881EWG des Rates vom 12.10.1993 (ABI. 1993, Nr. L 26811) sowie deren Berichtigung gemäß ABI. 1994, Nr. L 217118. Die Richtlinie ist abgedruckt in Anhang 111. 94 S. hierzu auch Erster Teil, 11.2. 95 Vgl. die Richtlinien 651651EWG, 7513181EWG, 7513191EWG, 781251EWG (Pharmazeutika); Richtlinien 81 1351EWG und 81 18521EWG (Veterinännedizin); Richtlinie 79 I 831 I EWG (Gefährliche chemische Stoffe); Empfehlung 80 I I 089 I EWG (Nahrungsmitte/zusätze); Richtlinie 821471 IEWG (Bioproteine für Tiere); hochwertige Arzneimittel, insbesondere aus der Biotechnologie (87 I 22 I EWG), ABI. 1987, Nr. L 15138.

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Das Gemeinschaftsrecht enthielt vor dem Erlaß der beiden Richtlinien aber auch verschiedene Regelungen des integrierten Umweltschutzes, die ursprünglich für die Anwendung der Gentechnik relevant waren. Im einzelnen sind hier die UVP-Richtlinie, die "Seveso-Richtlinie" und die Richtlinie über die Überwachung und Kontrolle - in der Gemeinschaft - der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle anzuführen96• Es stellt sich somit das Problem der eher retrospektiven Abgrenzung gegenüber diesen Regelungen. Der Blick richtet sich aber auch nach vorn. Seit Inkrafttreten der horizontalen Gentechnik-Richtlinien kommen, wie erwähnt, beständig sektorale Produktvorschriften hinzu, die ebenfalls explizit gentechnische Anwendungen in ihren Geltungsbereich mit einschließen97 • In ihrem Strategiekonzept setzte sich die Gemeinschaft 1991 zum Ziel, unter der Leitmaxime "one door- one key"98 dem produktspezifischen Bereich stärkere Geltung zu verschaffen. Politisch wurde also eine Neubetonung der vertikalen Gentechnikrechtsetzung postuliert. Mit den bereits erwähnten Vorschriften für die Zulassung und Kontrolle von Human- und Tierarzneimitteln sowie der Pestizid-Richtlinie ist dieses Konzept heute zum Teil schon verwirklicht. Weitere sektorale Regelungen befinden sich in der "pipeline" der gemeinschaftlichen Rechtsetzung. Angesichts dieser Entwicklung ist darum auch innerhalb des Gesamtgefüges des EG-Gentechnikrechts kein reines Konzept verwirklicht. Insbesondere bei der Produktzulassung liegt eine Verschränkung beider Konzeptionen vor. Diese vertikal-horizontale Mehrdimensionalität erfordert die gegenseitige Abgrenzung der Anwendungsbereiche und die Bestimmung des horizontalen Spielraums künftiger Vertikalrechtsetzung. Im einzelnen gilt folgendes. Ausgangspunkt ist die umfassende Regelung der Gentechnik durch die System- und die Freisetzungsrichtlinien. Daraus ist der Grundsatz abzuleiten, daß die allgemeinen Derogationsregeln Iex posterior derogat legi priori und Iex specialis derogat legi generali99 überall dort anzuwenden sind, wo keine 96 Richtlinie 84/631/EWG vom 6.12.1984, ABI. 1984, Nr. L 326/S. 31 ff. (i.V.m. der Richtlinie über giftige und gefährliche Abfalle vom 20.3.1978, [78/319/EWG], [ABI. 1978, Nr. L 84/S. 43 ff. (s. insbes. Punkt 20 im Annex der Richtlinie, der den Anwendungsbereich der Richtlinie auf pharmazeutische Materialien erstreckt), vgl. Mantegazzini, a.a.O., S. 122]). 97 Vgl. Zweiter Teil, vor I. 98 Vgl. EG-Komm., BR-Drs. 278/91, S. 16; Hodgson, Bio/Technology 1991, S. 504; Shackley/Hodgson, Bio/Technology, 1991, S. 1056 ff.; Hodgson , Bio/ Technology 1992, S. 1424. Die sektorale Neubewertung der Regulierungsstrategie wurde in den Kommentierungen überwiegend begrüßt (vgl. dazu Hodgson , Bio/ Technology, 1991 , S. 504). 99 Zu den allgemeinen Kollisionsregeln Böcke/, Instrumente der Einpassung neuen Rechts in die Rechtsordnung, S. 24 ff.

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ausdrücklich gewollten legislativen Überschneidungen "horizontal-vertikal" gegeben sind. Dies ist im Bereich der Anwendungen in geschlossenen Systemen der Fall. Das Inkrafttreten der Systemrichtlinie markiert hier einen deutlichen Schnitt. Die Anwendung allgemeiner oder zeitig früher erlassener Regelungen scheidet aus. Bc~troffen ist davon auch der integrierte Umweltschutz. Die Richtlinie entfaltet für die geschlossene Anwendungen ein holistisches Konzept 100, das auch die notwendigen Belange des integrierten Umweltschutzes in sich aufnimmt (Notfallpläne, Öffentlichkeits- und Umweltinformation, UVP) 101 • Das EG-Gentechnikrecht regelt aber, im Gegensatz zum Gentechnikgesetz102, selbst keine Haftungsfragen. Im deutschen Umwelt- und Technikrecht sind dagegen Haftungsrege:Iungen im allgemeinen häufig integraler Teil des Regelungskonzepts 103 . Sie werden in diesem Kontext als Ausdruck des Verursacher- und Gemeinlastprinzips dem allgemeinen Umweltschutz zugeordnee04. Auf EG-Ebene ist dagegen nur die allgemeine, horizontale Vorschrift der Produkthaftungsrichtlinie105 anwendbar. Obwohl die Gemeinschaft seit mehreren Jahren eine allgemeine Umwelthaftungs-Richtlinie vorbereitet, sind bislang dazu keine näheren Entwürfe veröffentlicht106• Eine weitere Haftungsebene im EG-Recht für Gentechnik-Anwender könnte dagegen zukünftig im Bereich des Abfallrechts li(:gen. Entwürfe über die zivilrechtliche Haftung für die durch Abfälle verursachten Schäden liegen bereits vor107• Diese Vakanz eröffnet den Mitgliedstaaten größere Freiheiten, gegebenenfalls eigene Haftungsregelungen zu treffen. Wettbewerbsverzerrungen im Bin-

100 Zum philosophischen Hintergrund naturbezogenen holistischen Denkens MeyerAbich, Scheidewege 17 (1987/88), S. 81 ff. (m.w.N.). 101 Vgl. z.B. auch die spe:delle Definition des Begriffs "Umweltverträglichkeitsprüfung" in Art. 2 Nr. 8 der Freisetzungsrichtlinie. 102 § 32 GenTG. 103 Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, Standortgefährdung, S. 118 ff.; Brüggemeier, FS Jahr, S. 223 ff. 104 Graf Vitzthum/Geddert-Steinacher, ebd. [S. 119]: "Das umwelt- und technikrechtliche Verursacherprinzip ist damit mehr als eine Gerechtigkeitsregel für den Ausgleich von Schadensfällen. Es steuert auch die Zuordnung von Präventionspflichten: Haftung als Instrument der Prävention, als Instrument präventiver Schadensvorsorge." Zum Verhältnis Haftungsrecht-Risikoregulierung Brüggemeier, FS Jahr, S. 229 ff. 105 ABI. 1985, Nr. L 21 I 25.

Vgl. Brüggemeier, FS Jahr, S. 238 ff. Vgl. den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die zivilrechtliche Haftung für die durch Abfälle verursachten Schäden, ABI. 1989, Nr. C 251/3, geändert 1991, Abi. 1991, Nr. C 192/6. Näher dazu Brüggemeier, ebd., S. 239 (mit umfangr. Nachw. in Fn. 63) sowie Kiethe/Schwab, EuZW 1993, S. 437 ff. 106

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nenwettbewerb der Mitgliedstaaten sind vorprogrammiert108 • Ansonsten gelten die allgemeinen zivil- und strafrechtlichen Haftungsbestimmungen der Mitgliedstaatenul9. Auch der Europarat bemüht sich derzeit um die Schaffung einer Haftungskonvention für Schäden aus Aktivitäten, die risikoreich für die Umwelt sind 110• Gegenstandslos wurde die Gentechnik-Empfehlung aus dem Jahr 1982 111 • Das ist nicht allein nur das Ergebnis des sachlichen Regelungsinhalts, sondern auch das Resultat der unterschiedlichen Rechtsnatur beider Gemeinschaftsakte. Der verbindliche Rechtsakt setzt den unverbindlichen außer Kraft 112• Schwieriger ist die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Freisetzungsrichtlinie. Hier liegt der Schnittpunkt zur bestehenden und künftigen vertikalen Produktregulierung. Zentrale Bestimmung ist Art. I 0 Abs. 2 Freisetzungsrichtlinie113. Die speziellen Zulassungsbestimmungen der Richtlinie in den Art. 11 - 18 gelten danach "nicht für Produkte, die in den Geltungsbereich gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften fallen, die eine entsprechende spezifische Umweltverträglichkeitsprüfung wie diese Richtlinie vorsehen." Eine Ausnahmemöglichkeit besteht also nur für Gemeinschaftsrecht, das ausdrücklich für qualitativ gleichwertig erachtet wird: Art. 10 Abs. 2 Freisetzungsrichtlinie beinhaltet somit ein materielles Verschlechterungsverbot 114• Lange, in: Eberbach/Lange, Ein!. EG-Freisetzungsrichtlinie, Rn. 85. Vgl. z.B. den Hinweis auf die sonstigen allgemeinen Haftungsbestimmungen der Mitgliedstaaten in Art. 14 und 36 der EG-Verordnung Nr. 2309/93 vom 22.7.1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln, ABI. 1993, Nr. L 214/6 u. 12. 11 Council of Europe, Draft Convention on Civil Liability for Darnage Resulting from Activities dangerous to the Environment (Januar 1992), DIR/JUR (92) I. 111 ABI. 1982, Nr. L 213115. Faktisch wird die Empfehlung in die horizontalen Richtlinien aber in der Form integriert, als sich beide jeweils auf die Empfehlung beziehen, um den Begriff "Rekombinationstechniken, bei denen Vektorsysteme eingesetzt werden" zu definieren (vgl. Anhang I A [Teil I, Nr. I] Systemrichtlinie bzw. Anhang I A [Teil I, Nr. I] Freisetzungsrichtlinie). 112 Vgl. Grabitz, in: ders., Art. 189 Rn. 21. 113 S. zudem Art. 5 S. 2 Systemrichtlinie. Diese Bestimmung stellt klar, daß die Systemrichtlinie nicht für den Bereich der Produktbeobachtung und den Umgang mit genetisch veränderten Mikroorganismen (GVMO) gilt, die zuvor rechtswirksam in die Umwelt freigesetzt wurden. 114 Der Begriff "Umweltverträglichkeitsprüfung" bezieht sich nicht allein nur auf die Abschätzung von Risiken und Wechselwirkungen einer GVO-Freisetzung auf den Umwelthaushalt, sondern, aufgrund der Begriffsdefinition in Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie, auch auf das Schutzgut der menschlichen Gesundheit. Insofern ist es berechtigt, die Regelung des Art. 10 Abs. 2 Freisetzungsrichtlinie auf alle Schutzgüter der Richtlinie auszudehnen. Sie besagt damit, daß nicht nur die Auswiikungen auf die Umwelt 108

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Die Richtlinie enthält im Verhältnis zum schon bestehenden Recht für die Frage der anzuwendenden Verfahrensvorschriften keine formelle Übergangsregelung, wie dies z.B. bei § 41 GenTG im deutschen Recht der Fall ist, sondern setzt sowohl einen materiellen Schnitt in die Vergangenheit als auch eine materielle Hürde für die zukünftige Regulierung 115 • Die Anwendbarkeit vertikaler Bestimmungen bestimmt sich nach ihrem Sicherheitsstandard. Bei Gleichwertigkeit ist die Freisetzungsrichtlinie an dieser Stelle gegenüber den sektoralen Vorschriften na.chrangig. Die Auslegung der generalklauselartig formulierten Kollisionsvon;chrift birgt ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit für Anwender und Betroffene. Aus diesem Grund verpflichtet Art. 10 Abs. 3 Freisetzungsrichtlinie (i.V.m. Art. 21 der Richtlinie) die Kommission, spätestens 12 Monate nach lokrafttreten der Richtlinie eine Liste der für Art. 10 Abs. 2 relevanten gemeinschaftlichen Vorschriften bekanntzugeben und diese später kontinuierlich fortzuführen. Mit der Entscheidung vom 21. Mai 1991 ist die Kommission dem nachgekommen 116• Hiernach existierten zu diesem Zeitpunkt keine Vorschriften, die anwendbar gewesen wären. Aufgrund ihres materiellen Gf:halts erfaßt die Entscheidung sowohl das frühere als auch das bis dahin geltende Recht. Sie stellt inzident fest, daß auch die Richtlinie des Rates vom 22. Dezember 1986, betreffend das loverkehrbringen hochwertiger Arzneimittel, insbesondere aus der Biotechnologie (87 I 22 I EWG), als bis dahin prominenteste Vertreterio des sektoralen Rechts 117 , bei überlappendem Anwendungsbereich (vgl. Anhang A) gegenüber der Freisetzungsrichtlinie nicht mehr zur Anwendung gelangen kann.

in einem vergleichbaren Sicherheitskonzept zu beurteilen sind, sondern daß der Sicherheitsstandard auch im Hinblick auf die anderen Schutzgüter vergleichbar sein muß. Dies umfaßt das gesamt1! Risiko- und Sicherheitskonzept 115 Natürlich hinkt (auch) dieser Vergleich ein wenig. Da die Verwaltungszuständigkeit trotz EG-Gentechnikn:gelung fast ausschließlich bei den nationalen Behörden geblieben ist, stellt sich das Problem der Überleitung schon laufender Genehmigungsverfahren auf das neue Recht auf EG-Ebene nicht in dieser Form. Es ist allerdings nicht so, daß das EG-Recht das Problem bestehender Anlagen ignorierte. Es befaßt sich mit dem "Aitanlagen-Problem" an verschiedenen Stellen jedoch unter materiellen Gesichtspunkten, weniger im Hinblick auf die Überleitung der Verfahrensvoraussetzungen (vgl. z.B. die Differenzierung zwischen "Anlagen" und "bestehenden Anlagen" in der Richtlinie des Rates 84/360/EWG vom 28.6.1984 zur Bekämpfung der Luftverunreinigung durch Industrieanlagen [in geänderter Fassung ABI. L 353 I 59]; dazu auch Jarass, Die Anwendung neuen Umweltrechts auf bestehende Anlagen, S. 129 ff.). 116 ABI. 1991, Nr. L 135/56. 117 ABI. 1987, Nr. L 15/38. 10 Schenek

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Der ursprünglich vorgestellte Richtlinienvorschlag vom 16. Mai 1988 118 enthielt in Art. 8 einen bereichsspezifischen Ausnahmekatalog" 9 . Zudem war eine generalklauselartige Auffangvorschrift vorgesehen, die der gültigen Regelung des Art. 10 Abs. 2 ähnelte. Der Vorschlag beinhaltete die Formulierung: ,jedes andere in den Geltungsbereich der gemeinschaftlichen Gesetzgebung fallende Produkt, das eine besondere Risikoabschätzung mit einschließt". Die ursprüngliche Fassung war demnach auch in der Generalklausel weiter gehalten und für die Anwendung von "vertikalem" Recht von vornherein offener. Die gravierende Abänderung der Bestimmung erfolgte erst spät im Rechtsetzungsverfahren durch den Rat der Umweltminister120. Sie macht deutlich, wie umstritten auch in der Gemeinschaft selbst die Regulierung des produktspezifischen Bereichs war. Die Frage horizontal/ vertikal berührt ein kommissions- und ratsinternes Zuständigkeitsproblem von erheblicher politischer Tragweite 121 : die interne Zuständigkeit für die Ausarbeitung, Beschlußfassung, spätere Kontrolle und Anwendung der Vorschriften. Federführend bei der Ausarbeitung der horizontalen Gentechnikrichtlinien war die Generaldirektion XI "Umwelt". Nach der Verabschiedung durch den Umweltministerrat ist sie weiterhin zuständig für die Kontrolle der Umsetzung und der Anwendung beider Richtlinien. Bei vertikaler Produkt-Rechtsetzung verlagern sich die Zuständigkeiten. Es werden die sektoral tätigen Generaldirektorate innerhalb der Kommission und die sektoralen Fachminister im Rat zuständig. Die politische Neuausrichtung i.S.v. "one door-one key" ist darum auch unter diesem Gesichtspunkt von erheblicher Tragweite. Eine erste Verlagerung der Zuständigkeiten beinhaltet schon die Beantwortung der Frage, ob neues produktspezifisches Recht die Kriterien des Art. 10 Abs. 2 Freisetzungsrichtlinie erfüllt. Diese dürfte in Zukunft wohl unter der eher pragmatischeren Sichtweise der sektoralen Fachdirektion beantwortet werden 122• Daß dies möglicherweise zu Spannungen KOM(88) 160 endg.- SYN 131, ABI. 1988, Nr. C 198/19. Im einzelnen waren dies die Bereiche Arzneimittel, Tierarzneimittel, Lebensmittel, Futtermittel und ihre Zusätze, transgene Pflanzen und Tiere oder die in der Landwirtschaft, im Pflanzenanbau, in der Forstwirtschaft, in der Viehzucht oder im Fischereiwesen daraus reproduzierten Stoffe und Produkte, die diese Organismen enthalten (ABI. 1988, Nr. C 198/21). 120 Zur Ausarbeitung der Bestimmung im Rechtsetzungsverfahren und der jeweiligen Rolle der beteiligten Gemeinschaftsorgane s. Hodgson, Bio/Technology 1992, S. 1425 ff.; obwohl parlamentsintern vom berichterstattenden Umweltausschuß (Berichterstatter Schmid) vorgeschlagen, wurde die ursprüngliche Produktausnahmeregelung im Plenum nicht beanstandet. Die Abänderung erfolgte, wie gesagt, erst im Umweltministerrat. 121 Vgl. dazu Hodgson, Bio/Technology 1992, S. 1426. 122 Hodgson, ebd. 118 119

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führen kann, belegt indirekt die zeitliche Nähe der vorgenannten Kommissionsentscheidung (Generaldirektion XI: Umwelt, nukleare Sicherheit und Zivilschutz) zum neuen Strategiekonzept der Kommission, das kurz davor vorgestellt worden war123 • Betreffend der "one door-one key"-Maxime wurde das neue Strategiekonzept gerade aus Sicht der betroffenen industriellen Anwender begrüßt, die gleichzeitig zum Teil aber dne noch weitergehende Verlagerung in Richtung auf die "vertikale" Rechtsetzung forderten 124. Das Strategiepapier erntete von gleicher Seite aber auch Kritik. Kritisiert wurden die vagen Formulierungen der Kommission hinsichtli