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German Pages 275 [284] Year 1862
Das
Gefühlsleben. Dargestellt
aus praktischen Gesichtspunkten, nebst
einer kritischen Einleitung von
Dr. Joseph W. Nahlowsky Österr. orüentl. Uoirersitäts-Professor.
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Leipzig Louis Pernitzsch. 1862.
Das
Gefühlsleben. Dargestellt
aus praktischen Gesichtspunkten, nebst
einer kritischen Einleitung
von
Dr. Joseph W. Nahlowsky öslerr. ordentl. Universitiits-Professor.
Leipzig Louis
P ern i tz seil. 1862.
V o r w o r t . Wenn sich vorliegendes Werk die Aufgabe gestellt hat, in die stille, gehcimnissvollc Welt der Gefühle näher einzuführen : hat es damit nicht die Mission des Rufenden in der Wüste übernommen? Keine Zeit war vielleicht weniger angethan zur ruhigen Einkehr in's Innere, als eben die gegenwärtige. Wol pulsirt in ihr ein regeres Leben; aber kein solches, das den Blick nach I n n e n lenkt, sondern ihn vielmehr nach A u s s e n zieht. — Schienenwege und Wasserstrassen breiten vor dem bezauberten Auge die Schätze aller Zonen aus; das Gerassel der Maschinen; der Lärm des Marktes; die Parteikämpfe auf der Tribüne und in den Zeitblättern, sie rauschen ununterbrochen an unser Ohr, und der „Geist" der jetzt „am sausenden Webstuhle der Zeit" sitzt, ist der Spekulation im wissenschaftlichen Sinne keineswegs günstig. — Wie soll auch das gegenwärtige Geschlecht, unter vielen Zerstreuungen, anlockenden Genüssen und bei dein immer lauteren Toben socialer Stürme, Zeit und Ruhe finden, zur Sammlung und Einkehr?! Aber gerade eine solche Zeit b e d a r f ihrer auch am meisten, und wol manches tiefere Gemüth hat sich nie mehr nach ihr gesehnt, als eben jetzt; — es wird uns gerne folgen in die stille Siedelei, um zu vergessen, was es drückt und verstimmt, wie auch wir auf diesem neutralen Boden Vergessenheit und damit Ruhe und Erhebung über das, was das äussere Leben Unerquickliches gebracht, gesucht und gefunden haben. Dies war eines der Motive gerade die Lehre vom G e f ü h l — dieser innersten Heimat der Seele -— zu behandeln; ein weiteres, dass bisher, nur wenige Ausnahmen abgerechnet, eben das Gefühl das Stiefkind der Psychologen war, dem sie nur so nebenher ihre Pflege angedeihen Hessen. Und doch
IV
gehören eben die Gefühle zu den interessantesten der psychischen Erscheinungen. Einerseits wurzelnd in den Boden der Sinnlichkeit, ragen sie anderseits in die Aetherregion des Geisteslebens hinein, gewissermaassen dessen bunte Flora bildend. — An dieser heimlichen Stätte ist der ganzen Menschheit Lust und Leid gebettet; hier ruhen auch die frischen, immer keimenden Triebe, denen reichliches Streben entspriesst. — Ein tieferer Einblick in ihr Wesen und ihre mannichfachen Verschlingungen ist zumal dem Pädagogen, dem Künstler, dem Volksredner unentbehrlich. Deshalb hat es der Verfasser versucht, diese Partie monographisch durchzubilden und in dieselbe volle F a s s l i c h k e i t , a p p r o x i m a t i v e V o l l s t ä n d i g k e i t und ein streng s y s t e m a t i s c h e s G e f ü g e zu bringen; dabei immer die Beziehung dieser besonderen Zustände zum Ganzen des Seelenlebens möglichst im Auge behaltend. O c W a s seinen S t a n d p u n k t betrifft; so ist es der realistische H e r b a r t ' s ; — denn derselbe theilt hierin vollkommen Prof. S c h i l l i n g s in dem Vorworte seines verdienstvollen Lehrbuchs der Psychologie (Leipzig 1851) ausgesprochene Ueberzeugung: „ H e r b a r t ' s psychologische Forschungen sind so tief und gediegen und zeigen sich in ihren Anwendungen so fruchtbar, dass unser Zeitalter an ihnen einen k o s t b a r e n , in derThat aber e r s t n o c h z u h e b e n d e n S c h a t z besitzt." Ja wol ist dieser reiche Schatz erst noch t h e i l w e i s e zu heben, noch mancher Seitenstollen zu befahren und in Folge möglichst detaillirter Bearbeitung der einzelnen Forschungsgebiete noch manches Resultat zu erzielen. Deshalb ist es sehr erfreulich, dass die Schule fortwährend neue Kräfte gewinnt und auch bereits an der gediegenen Zeitschrift für exacte Philosophie von A l l i h n und Z i l l er ihr eigenes Organ besitzt. Zunächst aber handelt es sich auch darum, das Vermächtniss jenes seltenen Geistes einem grösseren Kreise zugänglich und nutzbar zu machen. Das hat nun der Verfasser, vor der Hand, mit der Gefühls-
V
Lehre versucht und deshalb sein Buch so eingerichtet, dass sich dasselbe, bei freier und maassvoller Benutzung, eben so gut öffentlichen Universitäts-Vorträgen zu Grunde legen, wie von dem gebildeten Laien als psychologisches Lesebuch benutzen, j a selbst von dem Lehrer der Propädeutik den reiferen Schülern der obersten Klasse in die Hand geben lässt, behufs der Belebung und Befruchtung der in den Lehrvorträgen dargebotenen Skizze. — Dem S c h u l z w e c k e sollte möglichst strenge Begriffsbestimmung und eine durchgreifende systematische Gliederung dienen; das Interesse des L a i e n dagegen durch vielfach eingestreute Bemerkungen aus dem praktischen L e b e n , durch nähere Analyse und Verdeutlichung aller einzelnen Gemüthszustände an klassischen Exempeln, so wie endlich durch eine freiere und belebtere Darstellung gefesselt werden. Als Auskunftsmittel, diese beiden Zwecke zu vereinigen, wurde darum die M e t h o d e befolgt, dass das kritische Material zur Grenzregulirung der beiden Gebiete „Empfindung und Gefühl" in die Einleitung zusammengefasst; die eigentliche Gefühlslehre aber so eingerichtet wurde, dass der Paragraph durchweg die theoretische Erörterung enthält, während die Anmerkungen den abstrakten Begriff an praktischen Beispielen zu veranschaulichen suchen. Zu letzterem Behufe empfehlen sich besonders die dramatischen Gestalten des grössten praktischen Psychologen aller Zeiten, — Shakespeare's, den schon A. W . v. Schlegel den „Herzenskündiger" nannte. Gelegentlich wurde auch auf Sophokles, Homer und Goethe, die sich ebenfalls durch tiefe Seelenkenntniss auszeichnen, hingewiesen. Poetische Gebilde, von solcher plastischen Ausführung, spiegeln, wie sie selber dem Leben abgelauscht sind, das Leben auch rein und wahr wieder. Sie können demnach, unserer Ueberzeugung gemäss, dem P s y c h o l o g e n a n n ä h e r u n g s w e i s e ähnliche Dienste leisten, wie dem P h y s i o l o g e n die anatomischen Präparate.
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Der erste (umfassendere) Versuch, der hier angestellt wurde, ist übrigens — wie der Verfasser sehr wohl fühlt — noch einer beträchtlichen Vervollkommnung bedürftig. Doch selbst in dieser Gestalt wird er manchem Leser (namentlich dem Kunstjünger, dem diese Sphäre des Seelenlebens am nächsten liegt) vielleicht nicht unwillkommen sein und auch dem jüngeren Lehrer mitunter manchen Wink bieten, klassische Philologie, Geschichte und neuere Literatur mit der philosophischen Propädeutik in engere Verbindung zu bringen. Gelten vorstehende Bemerkungen mehr der Methode und F o r m ; so mag betreffs der S a c h e selbst hier noch erwähnt werden, dass der Leser in voi'liegendem Buche, nebst der sorgfältigen Benutzung der vorzüglichen Arbeiten von D r o b i s c h , W a i t z , L o t z e , D o m r i c h U.A.; — auch s e l b s t ä n d i g e U n t e r s u c h u n g e n nicht vermissen wird, wie z. B. in der Partie von den sinnlichen Gefühlen, den Koefficienten des ästhetischen Totalgefühls, den religiösen Gefühlen, der Liebe, der Stimmung und an vielen anderen Orten. Selbst wo diese Schrift (wie dies besonders bei der Behandlung der formellen und der intellektuellen Gefühle geschah) sich der überaus dankenswerthen Vorarbeit des Hrn. Prof. Th. W a i t z e n g e r anschloss, mag ihre Eigenart noch immer kenntlich sein. Und so dürfte denn, der Fachmann wie der Laie, jeder in seiner Weise, darin Brauchbares finden; nur wolle der Erstere einzelne, in dem mit berücksichtigten Bedürfnisse des Laien sich motivirende Längen, hier und da weiter ausholende Anknüpfungen und Rekapitulationen, so wie manchen luxurirenden Ausdruck entschuldigen; der Letztere sich auch eine und die andere trockene Deduktion nicht verdriessen lassen; — Beide aber mehr die I n t e n t i o n , als das wirklich Erreichte, wohlwollend würdigen. T i e n o w i t z in Böhmen, im Spätherbst 1861.
Der Verfasser.
I n h a l t . Seite
Einleitung
1—38
Erstes Buch. Das Gefühlsleben im Allgemeinen. §. 1. §. 2. §.3. §. 4. §. 5. §. 6.
§. 7.
Die drei Haiiptformen des psychischen Lebens (das Vorstellen, Gefühl, Streben) Wesen und Ursprung des Gefühls, im Allgemeinen . . Eintheilung der Gefühle Das Gefühl in seinen Grundformen, als Lust und Unlust; . Freude und Leid, im weiteren Siune des Worts Die sogenannten gemischten Gefühle . . . . Die Gemüthszustände, als wesentlich mitbedingt durch die ursprüngliche Einrichtung und die Metamorphosen des Leibes Die Beziehungen des Gefühls zu den übrigen Seelenthätigkeiten . . . . . . . . .
41—44 45—49 49 — 53 54—58 58—61
61—68 68—81
Zweites Buch. Das Gefühlsleben im Besonderen, d. h. in seinen Einzelerscheinungen.
Erster Abschnitt. A. Die formellen Gefühle. a) D i e a l l g e m e i n e n , m e h r e l e m e n t a r e n F o r m a l g e f ü l i l e . §. 8.
Das Gefühl der Beklemmung und Erleichterung; der Anstrengung und Leichtigkeit ; — des Suchens und Findens ; — des Gelingens und Misslingens ; — der Harmonie und des Kontraste; der Kraft und der Schwäche
85—95
VIII
b) D i e s p e c i e l l e n , m e h r k o m p l i c i r t e n F o r m a l g e f ü h l e . Seile
§. 9. §.10. §.11. §. 12. §.13.
Die Die Die Die Die
Erwartung Hoffnung — Besorgniss— Ueberraschung Gemüthslage des Zweifelnden . . Langeweile Unterhaltung (Erholung) . . .
Zweiter
.
. . . .
95—102 102—109 109—116 117—122 122—129
Abschnitt.
B. Die q u a l i t a t i v e n , d. h. an einen bestimmten Vorstellungsinhalt gebundenen Gefühle. a) D i e n i e d e r e n o d e r s i n n l i c h e n G e f ü h l e . §. 14. §. 15.
§. 16. §.17. §. 18. §.19. §.20. §.21.
Vorbemerkungen 130 — 135 Subjektive Wirkung der einzelnen Farben und Töne und deren Erklärung 135—156 b) D i e h ö h e r e n o d e r i d e e l l e n G e f ü h l e . Die intellektuellen Gefühle (das Wahrheits- und Wahrscheinlichkeitsgefühl Die ästhetischen Gefühle (Vorerörterungen) . . Das ästhetische Elementar - und Gruppen-Gefühl. — Die einzelnen Elemente und Momente des Schönen . Das ästhetische Totalgefühl und seine Koefficienten . Die moralischen Gefühle Die religiösen Gefühle . ., . . . .
157 — 162 162—172 172—188 189—197 197—207 207—213
A n h a n g . Vorbemerkung
.
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.
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214—215
Erste Abtheilung. Gemüthszustände, die mit dem Streben (Verlangen und Verabscheuen) innigst zusammenhängen. §. 22. §. 23.
a) Das Mitgefühl b) Die Liebe .
. .
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. .
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. .
215—222 223—233
Zweite Abtheilung. Gemüthszustände, die wesentlich auf o r g a n i s c h e r Grundlage beruhen. §. 24. a) Die Gemüthsstimmung . . . . . 234—244 §. 25. b) Die Gemüthserscliütterung, oder der Affekt . 244—267
Einleitung. Zur Grenzregulirung der beiden Gebiete:
Empfindung und Gefühl,
I. Das „ G e f ü h l s l e b e n " , welch' ein Zauber webt über dem W o r t e , das die ganze Seligkeit, aber auch alle Pein unseres Erdendaseins in sich fasst!
E s ist eine eigene, geheimniss-
volle Welt und der Eingang zu ihr ist, wie der zum Hades der Alten, dunkel. In der That giebt es kaum ein Gebiet psychischer E r scheinungen, welche der Untersuchung grössere Schwierigkeiten entgegenstellen,
als eben die Region
der Gefühle.
Durchlaufen wir die Psychologien älterer und neuester Zeit, nirgends herrscht so viel Abweichung, j a sogar Widerstreit der Ansichten und Erklärungen, wie hier; und vergleichen wir weiter in den einzelnen Werken diesen Abschnitt, seinem innern Gehalte nach, mit den übrigen, so werden wir häufig eben den Theil, welcher vom Gefühlsleben handelt, für die Achillesfei'se dieses und jenes Autors erklären müssen. Worin anders hätte das seinen Grund, als in den Schwierigkeiten der Sache ? Diese Schwierigkeiten sind aber nicht allein die in der Eigenheit der zu behandelnden
innere,
Phänomene,
sondern eben so sehr ä u s s e r e , die in der S p r a c h e liegen, welche theils bei aller Fülle und Ausbildung, 1*
doch nicht
4 durchweg die feinsten individuellen Nuancen dieser so proteusartigen Seelengebilde scharf genug hervorzuheben vermag, theils, was noch weit schlimmer ist, an einer f a l s c h e n T e r m i n o l o g i e krankt, die bald für sehr Verschiedenartiges dasselbe Wort gebraucht, bald sogar den rechten Namen des einen Zustandes auf einen anderen, ihm entgegengesetzten, überträgt. Mit den i n n e r e n Schwierigkeiten muss man aber ringen ; die ä u s s e r e n ,
sofern es thunlich, entschieden be-
seitigen. 1) Was die ersteren (die inneren) betrifft, ist nicht zu verkennen, dass man es hier mit Zuständen zu thun hat, deren Ursprung aus der Tiefe des „Unbewussten" herauf, gar häufig dunkel; deren Kulmination (mithin eben die interessanteste Phase) kurz; deren allmäliges, träumerisches Abklingen mitunter unmerklich ist. Kann man überhaupt die ausserordentliche Beweglichkeit und Wandelbarkeit der Seelenzustände mit der enormen Verschiebbarkeit der bunten Kaleidoskop-Figuren vergleichen: so gilt dies ganz besonders von den Gebilden der Gefühlswelt. Die leiseste Berührung in den äusseren Beziehungen der Seele, überraschende Wahrnehmungen,
nur obenhin anstreifende
Reproduktionen, leise, flüchtige Willensimpulse: — und die ganze innere Konstellation ist eine andere geworden. In scharfen, gelungenen Umrissen hat diese meteorischen Eigenheiten der Gefühle Dr. Theodor Waitz (in seinem Lehrbuche der Psychologie auf S. 278) folgendermaassen charakterisirt: „Nichts im Innern des Menschen ist einem schnelleren und auffallenderen Wechsel unterworfen, als seine Gemüthszustände.
Ungestört sich selbst überlassen, erheben sich die
Gefühle oft von einem unmerklichen Anstosse aus zu einer Macht, die den ganzen inneren Menschen mit fortreisst. Diese Erhebung geht bald plötzlich, bald langsam, aber dann um so sicherer zunehmend von Statten.
A u f der höchsten Höhe
angelangt, halten sie sich nicht lange. Dem stürmischen Aufbrausen des Gefühls folgt nicht selten eben so rasche Beruhigung und Zerstreuung, der allmäligen Erhebung eine lange und intensive Spannung des Gemüths, die nur allmälig wieder nachlässt, oft aber bis zur völligen Abstumpfung fortgeht." — Neben dieser meteorischen Flüchtigkeit und Wandelbarkeit, bietet der genauen Analyse nicht minder die K o m p l i c i r t h e i t dieser Zustände, so wie auch das i n d i v i d u e l l e G e p r ä g e , das sie an sich tragen, namhafte Schwierigkeiten. Sie kompliciren sich mit dunklen Gemeinempfindungen, mit unwillkürlichen, dem Individuum nicht selber klar bewussten, Associationen, mit den Gebilden der Phantasie, Neigungen, Wünschen, Trieben und in höherer Region mit den, in der eigentümlichen Welt- und Lebensansicht des Menschen wuiv zelnden, Gesinnungen.
Darum bildet das Gefühlsleben des
Einzelnen so recht eigentlich s e i n e ganz besondere, individuell gestaltete I n n e n w e l t .
—- Seine Begriffe, wie seine
Pläne und Entschlüsse theilt der Mensch, so grosse Verschiedenheiten auch bezüglich der Klarheit und Schärfe der ersteren, bezüglich der Reinheit und Festigkeit der letzteren, obwalten mögen, doch in weit grösserem Maasse mit Anderen, als seine Gefühle.
Sie sind g e s a m m t e n S e e l e n k r ä f t e Sinn, Erinnerung, Phantasie, Verstand, Vernunft, unter Umständen auch den Willen, in h a r m o n i s c h e T h ä t i g k e i t versetzt. — Nicht jedes Schöne ragt freilich an .jenen Gipfelpunkt hinan; aber es werden sich doch wenigstens einige der genannten Potenzen an ihm erkennen lassen.
In den grossen Meisterwerken der
Poesie, als der klarsten Kunst, werden sie sich so ziemlich alle beisammen finden. Wenn aber hier so viele Bächlein zu dem breiten Strome der B e g e i s t e r u n g zusammenfliessen, welche in uns grosse 13*
196 Kunstwerke zu wecken pflegen; — so ist eben hieraus die enorme W i r k u n g des S c h ö n e n auf d i e
Gesinnung
und G e s i t t u n g d e r M e n s c h h e i t — (man denke nur an den enormen Einfluss, den Homer auf die gesammte griechische Kultur übte) — leicht erklärlich.
Durch diese weit
und tiefgreifende Wirkung stellen sich grosse Dichter an die Seite der grossen Gesetzgeber und Religionsstifter. Anmerkung. Nunmehr können wir das ästhetische Totalgefiihl oder das eigentliche Schönheitsgefühl näher definiren, indem wir es bezeichnen als jenes t i e f r e i c h e n d e , i n t e n s i v e und n a c h h a l t i g e W o h l b e h a g e n , w e l c h e s in u n s d i e s i n n i g e A u f f a s s u n g e i n e s O b j e k t s h e r v o r r u f t , an dem in s i n n l i c h - v o l l e n d e t e r Form sich eine h ö h e r e , ü b e r s i n n l i c h e I d e e (oder w e n i g s t e n s ein b e d e u t s a m e r Gedanke) kundgiebt. Demnach sind zum Entstehen des Schönheitsgefühls folgende Bedingungen erforderlich. I. .Von S e i t e des a u f f a s s e n d e n S u b j e k t s Sinn und Empfänglichkeit für eben die besondere Art des Schönen, ein geübtes Auge, ein gebildetes Gehör, lebhafte Phantasie, ein gewisser Reichthum von Gedanken, die dem was von Aussen geboten wird, dasselbe aufnehmend entgegenkommen und endlich eine gewisse Vertrautheit mit höheren Interessen. Alles das ist in unserer Definition unter dem Ausdrucke „ s i n n i g e E r f a s s u n g " inbegriffen. — Wer ein ungeübtes Auge, ein ungebildetes Gehör, eine lahme Phantasie hat, wer gedankenarm ist und keine höheren Interessen kennt; für den ist das Schöne so gut als gar nicht vorhanden. Es handelt sich da immer, was man z u r A u f f a s s u n g eines Kunstwerkes vom Eigenen mit herzubringt. Darnach richtet sich, ob die Auffassung eine t i e f e oder o b e r f ä c h l i c h e , s i c h e r e oder unsicher umliert a p p e n d e sein wird; wie r e i n mandieForm erfasst, wie l e i c h t man die Idee erräth. Sehr wahr bemerkt Herbart (Encyklopädie §. 70): „In jedes Kunstwerk ohne Ausnahme muss unendlich viel
197 hineingedacht werden; seine Wirkung kommt beim Beschauer weit mehr von Innen heraus, als von Aussen hinein." — Wo also aus Eigenem nichts herzngebracht wird, da wird auch im Werke nichts, oder wenig gefunden. II. Von S e i t e d e s a u f g e f a s s t e n O b j e k t s dagegen wird vorausgesetzt, erstens f o r m e l l e V o l l e n d u n g , und zweitens i d e e l l e r G e h a l t . — Formfehler machen das Werk s t ü m p e r h a f t ; Mangel an ideellem Gehalt s e e l e n l o s . Wo vollends die Form mangelhaft, die Gesinnung des Autors niedrig und gemein ist; wo uns anstatt der Verklärung einer höheren Idee, deren Zerrbild entgegentritt und in solcher Weise unsere höchsten Interessen statt gehoben zu werden, verletzt werden; — d a ist vollendete H ä s s l i c h k e i t vorhanden und wir wenden uns von einem derartigen Werke mit Abscheu hinweg.
§. 20. Die moralischen Gefühle. I. Diese hängen mit den ästhetischen innig zusammen; denn das S i t t l i c h e ist, wie schon die sinnigen Griechen einsahen (namentlich aber Piaton) — nur eine nähere Begrenzung des Schönen; es ist das S c h ö n e ,
das am W o l l e n
des
Menschen, an seiner Gesinnungs- und Handlungsweise haftet. Bei verwandten Begriffen ist es immer wichtig, Bich des Gemeinsamen und Unterscheidenden genau bewusst zu werden; so auch hier. Das G e m e i n s a m e beider besteht darin, dass 1) sowol das Schöne als das Sittliche u n b e d i n g t , um seiner selbst willen, g e f ä l l t ; während deren Gegentheile (das Hässliche und Unsittliche) unbedingt missfallen. 2) Beide
beruhen auf V e r h ä l t n i s s e n
gleichartiger
Glieder; nur handelt es sich dort um a u s s e r l i c h fixirbare
198 Verhältnisse, um Verhältnisse zwischen Sichtbarem und Hörbarem ; hier um i n n e re, zwischen Willensakten. 3) Beide fuhren auf I d e a l e ; Trelde stellen sich dar als Etwas, was da sein soll. Das Schöne und Sittliche soll erzeugt, das Hässliche und Unsittliche fern gehalten werden. Deshalb gehen von der Kunstlehre wie von der Sittenlehre Imperative, p r a k t i s c h e W e i s u n g e n , aus. Trotz dieser engen Beziehung giebt es aber auch wesentliche U n t e r s c h e i d u n g s m o m e n t e zwischen ihnen, die wol zu beachten sind. Sie blühen in Folgendem: Die S c h ö n h e i t hat vorherrschend äussere Dinge und unpersönliches Geschehen zum Gegenstande; die S i t t l i c h k e i t dagegen hat zu ihrer nothwendigen und wesentlichen Voraussetzung die P e r s ö n l i c h k e i t . Schön können Dinge, sittlich können nur Personen sein. 2) Das s c h ö n e W e r k , das Produkt künstlerischer Thätigkeit, lässt sich a b g e s o n d e r t von der Person seines Erzeugers betrachten. Es steht f ü r s i c h s e l b s t da und giebt höchstens mittelbar Zeugniss vom inneren Werthe dessen, der es geschaffen. — Anders das S i t t l i c h e , das gestattet diese Abstraktion nicht. Es ist m i t d e r P e r s o n so v e r w e b t und v e r w a c h s e n , das sich s e i n Werth a u f die P e r s o n , an der es sich findet, überträgt. Es entscheidet d i r e k t über den Werth der Person selber. 3) Die I m p e r a t i v e , die von dem ästhetischen G e s c h m a c k ausgehen, sind h y p o t h e t i s c h e r , dagegen die von der sittlichen Instanz, dem G e w i s s e n , ausgehen, sind k a t e g o r i s c h e r Natur. D o r t (in der A esthetik) heisst es: W e n n du ein Gebäude auffuhren willst, berücksichtige das rechte Verhältniss von Lasten und Trägern, beachte die Sym-
199 metrie in der Anordnung der Massen u. s. w.; oder, w e n n du ein Tonwerk komponiren willst, vermeide falsche Quinten, oder, bediene dich der Quintenfortschreitungen nur als eines Durchgangsmoments; — w e n n du ein Gedicht verfassen willst, beachte wol die Quantität der Sylben u. s. w. — H i e r dagegen (auf dem Territorium der Ethik) gilt kein „Wenn" und kern „ A b e r " ; da heisst es s c h l e c h t h i n und u n w i d e r r u f l i c h : du sollst nicht ungerecht, nicht unbillig, nicht egoistisch, nicht feige, nicht ein Sklave deiner Lüste sein. — Von den Forderungen der Ethik kann sich Niemand, so hoch er auch stehe, dispensiren; es liegt in ihnen eine i n n e r l i c h zwingende Macht.
Die sittliche Beurtheilung nämlich
trifft Jeden mit der Macht des Verhängnisses, und wo sie einen, seinen Prototypen widerstreitenden, schlechten Willen findet, da schweigt sie so lange nicht, bis die betreffende Person die Qualen des inneren Dualismus (die Spaltung in ein besseres und schlechteres Selbst) zur Umkehr und Accomodation an das Urbild bestimmen*). — Also so lange man Mensch bleibt, d. h. wollendes Wesen, unterliegt man der moralischen
Kritik; — der ä s t h e t i s c h e n
aber nur
dann, wenn man mit irgend einem Kunstgebilde sich hinauswagt in die Oeffentlichkeit und so sich ihr selber aussetzt. Die Imperative der E t h i k lauten k a t e g o r i s c h , weil jeder Mensch als solcher den Beruf hat, sich zur Sittlichkeit zu erheben; jene der A e s t h e t i k aber haben eine blos h y *) Das A p o d i k t i s c h e und U n a b w e i s l i c h e des sittlichen Urtheils kann nicht prägnanter ausgedrückt werden, als in folgenden Worten Shakespeare's (Othello V. Akt, 1. Sc..): „ein bös' Gewissen spricht — Und wären alle Sprachen ausgestorben."
200 p o t h e t i s c h e Form, weil nur der sich zur Kunstschöpfung entschliessen soll, der hierzu die volle Mission, — Anlage und Fachbildung hat.
Hat er aber einmal den Künstlerberuf ge-
wählt; dann fordert es von ihm sein K ü n s t l e r g e w i s s e n seinen Idealen treu zu bleiben, als wären sie ewige Gebote. II.
Nun fragt es sich weiter um den U r s p r u n g
sittlichen Gefühls.
des
Der Entwicklungsgang desselben
ist beiläufig folgender: 1) Vor Allem muss sich im Menschen, angeregt durch Erziehung, Religionsunterricht, Umgang, Lektüre, Reflexion über eigene und fremde Handlungen und Schicksale, eine gewisse W e l t -
und L e b e n s a n s i c h t
ausgebildet haben.
Man muss sich wenigstens einigermaassen darüber klar geworden sein, was als der Z w e c k
und die A u f g a b e
des
menschlichen Lebens zu betrachten sei. Man muss sich weiter, wenigstens in allgemeinen Umrissen I d e a l b i l d e r entworfen haben, wie das Wollen in der öder jener Lebenslage beschaffen sein soll. 2) Aus diesen bei fortscheitender Kultur sich immer mehr abklärenden und vervollständigenden Idealbildern muss sich weiter ein A l l g e m e i n - W i l l e hervorbilden, d. h. der allgemeine V o r s a t z , dem, was man als gut, recht, mustergültig anerkannt hat, fortan sein einzelnes Wollen in jeglicher Lebenslage anzupassen. 3) Ist aber einmal die innere Bildung bis dahin gediehen, dass man sich zu derartigen sittlichen N o r m e n erhoben hat, und zugleich zu dem E n t s c h l ü s s e , ihnen gemäss zu handeln ; — dann braucht nur entweder der i n n e r e S i n n (die Apperception psychischer Vorgänge) uns das Bild eines e i g e n e n , oder der ä u s s e r e S i n n uns das Bild eines f r e m d e n
201 E i n z e l w i l l e n s vorzuführen; — und es wird sich unaufhaltsam und unwillkürlich ein s i t t l i c h e s G e f ü h l regen. 4) Es erfolgt nämliöh jetzt ein Zusammenstoss zweier Vorstellüngsmassen der appercipirenden, i n welcher der A11 g e m e i n - W i l l e seinen Sitz hat, und der zu appercipirenden, aus welcher jener E i n z e 1 w i 11 e entsprang. 5) Ist nun der E i n z e l - (oder Sonder-) W i l l e so beschaffen, dass er mit dem, aus den Idealbildern entsprungenen A l l g e m e i n w i l l e n harmonirt; so unterstützen und kräftigen sich diese beiden Vorstellüngsmassen, indem sie mit einander verschmelzen, und es macht sich in eben dem Momente ihrer Vereinigung, eine F ö r d e r u r i g p s y c h i s c h e r bensthätigkeit,
Le-
— mithin ein W o h l g e f ü h l geltend.
Dieses ist das Wohlgeftihl d e s s i t t l i c h e n B e i f a l l s , der sittlichen Billigung. Stellt sich dagegen ein W i d e r s t r e i t
des
Sonder-
w i l l e n s , dem Allgemeinwillen gegenüber, heraus; so ist die nothwendige Folge dieses inneren Konfliktes, dass nun eine H e m m u n g die beiden Vorstellungsmassen (wenn gleich in verschiedenem Maasse) trifft, und sich mithin eine H e r a b s t i m m u n g der psychischen L e b e n s t h ä t i g k e i t ; — ein Wehegefühl geltend macht. — Das ist das Wehe- oder Schmerzgefühl des s i t t l i c h e n T a d e l s , der a b s o l u t e n M i s s b i l l i g u n g u n d V e r u r t h e i l ü n g (gleichviel, ob seiner Selbst, oder eines Andern). Das wären denn die beiden Grandformen des sittlichen Gefühls, welches selbstverständlich noch weit ergreifender ist als das ästhetische. Die Gründe sind leicht einzusehen. Während bei jenem die Grundlagen des Ich, der Persönlichkeit, des Charakters blos m i t t e l b a r berührt werden, trifft sie das
202
sitttliche Gefühl u n m i t t e l b a r . E s erhebt entweder d a s I c h , enthüllt seinen Vollwerth, oder erniedrigt es und zeigt es in seiner Nichtswürdigkeit. E s r ü h r t und bewegt mithin d a s S e e l e n l e b e n in s e i n e m i n n e r s t e n Q e n t r u m ; — im Ichbewusstsein. Die sittliche S e l b s t b i l l i g u n g ist die Hauptquelle innerer S e l i g k e i t , die sittliche S e l b s t v e r u r t h e i l u n g jene der U n s e l i g k e i t ; erstere der Segen der guten, letztere der unausbleibliche Fluch der bösen That, ja schon des blossen Vorsatzes dazu. Die Selbstbilligung giebt Ruhe wie ein Friedensschluss; Selbstverurtheilung ist ein Cartel, das auf weitere innere Kämpfe hinweist. Ob die Missbilligung in S c h a m oder R e u e übergeht, in beiden liegt ein D u a l i s m u s , eine Scheidung zwischen edlerem und schlechterem Selbst, eine i n n e r e A n k l a g e , ein W u n s c h , dass man sich doch a n d e r s als so gefunden hätte! — Die erstere bahnt meist der anderen den Weg; ist wol bisweilen innerlich, vorherrschend aber von Aussen veranlasst; bald eine Folge des Ertapptwerdens über sittlicher Unlauterkeit, bald aus dem Bewusstsein eines konventionellen Verstosses, j a selbst der Inkonsequenz im Denken und Handeln entspringend. — Die R e u e ist dagegen innerlicher, tiefer einschneidend und nachhaltiger. S c h a f f t die Schaam vorzüglich der Hinblick auf Andere, der V e r k e h r , — so gebiert die Reue vorzüglich die E i n k e h r in sich selbst. Erstere hat mehr Pathologisches an sich, letztere mehr Freiheit. Deshalb sind denn auch bei der ersteren die organischen Reilexe augenfälliger als bei der letzteren. — In ersterer liegt nur die Mahnung, dass „Etwas faul" sei im eigenen Innern; in der letzteren, wenn sie ernst und tief genug ist, ist die
203 m o r a l i s c h e P e r i p e t i e , die Umkehr zum Besseren begründet. III. So mächtig und einfiussreich aber auch das sittliche Gefühl ist, so haftet ihm doch, wie überhaupt jedem Gefühl, eine gewisse Unklarheit an und man kann sich demnach seiner Führung nicht mit voller Beruhigung überlassen, — sondern muss vielmehr zum k l a r e n , s i t t l i c h e n TJrtheildurchzudringen suchen, indem man allemal, wenn man innerlich auf eine B i l l i g u n g oder M i s s b i l l i g u n g stosst, die S u b s t r a t e derselben, d. h. die gebilligten oder missbilligten W i l l e n s " V e r h ä l t n i s s e genau zu fixiren sucht; — bei jedem einzelnen Verhältnisse sich die Glieder desselben, ihre Beziehung zu einander, so wie endlich auch den specifisch eigenthümlichen Beifall (beziehungsweise das eigenthümliche Missfallen) vollkommen klar macht; — und sodann jedes einzelne Grundverhältniss auf seinen Musterbegriff, d. h. auf die entsprechende p r a k t i s c h e I d e e zurückführt, hiermit die unumstosslichen Normen alles Wollens und Handelns gewinnend. Es ist zwar hier nicht der Ort, diese Musterbilder näher zu entwickeln und zu begründen, das ist die Aufgabe der praktischen Philosophie; — aber wenigstens im Allgemeinen und in populärer Fassung müssen sie angedeutet werden, weil sie die k o n s t i t u t i v e n M o m e n t e bilden, welche das W o l l e n zu einem s i t t l i c h e n gestalten. Hierbei muss vor Allem in's Auge gefasst werden, däss alle Sittlichkeit in der H i n g a b e an ein H ö h e r e s , in der Anerkennung einer übergeordneten Autorität, liegt. Des Kindes höchste sittliche Instanz ist das Gebot seiner Eltern; der reife, entwickelte Mensch beugt sich vor der Autorität derVer-
204 nunft und fügt sich (anfänglich m i t , später o h n e Widerstreben) ihrer Diktatur.
Bisweilen rückt er die sittliche In-
stanz noch höher hinauf und sieht in den Forderungen des Gewissens das Walten einer Allvernunft, welche sich durch die innere Stimme vernehmlich mache und der man darum gehorchen müsse.
Deshalb ist die erste der sittlichen Ideen
die der i n n e r e n F r e i h e i t .
Sie ist so zu sagen die Seele
der Sittlichkeit; die änderen bezeichnen besondere Formen ihrer Verkörperung.
I n n e r l i c h f r e i ist der Mensch, wenn
er, trotz äusseren und inneren Versuchungen zum Bösen, dem treu bleibt, was er als das Gute und Rechte erkannt; wenn er in jeglicher Lebenslage weder auf Genuas noch Vortheil, sondern lediglich darauf achtet, was von ihm das Gewissen (oder die praktische Einsicht) verlangt und dieser Forderung, koste es was immer für Opfer, u n b e d i n g t g e h o r c h t . — Hieraufkommt die I d e e d e r V o l l k o m m e n h e i t (gestützt auf ein rein quantitatives Verhältniss, nämlich das Grösser- und beziehungsweise Kleinersein eines Willens gegenüber einem zweiten) an die Reihe.
Diese dringt auf ein starkes, vielseiti-
ges und nach einer herrschenden Hauptrichtung konvergirendes Wollen. — Die dritte ist die I d e e d e s W o h l w o l l e n s . Sie ist die Charis des sittlichen Lebens und könnte auch Idee der Humanität oder der reinen Nächstenliebe heissen.
Sie
zeigt sich da verwirklicht, wo Jemand ohne alle egoistische Nebenrücksicht, j a sogar mit Aufopferung seliner selbst, sich dem Wohle seines Nebenmenschen widmet, Unheil von ihm abzuwehren, und was fiir ihn erspriesslich dünkt, ihm zuzuwenden sucht. — Die vierte ist die I d e e d e s R e c h t s , die den drohenden Streit fern gehalten, den bereits ausgebrochenen aber baldmöglichst geschlichtet wissen will und deshalb
205 auf Feststellung und Heilighaltung der natürlichen sowol als der konventionellen Schranken der äusseren Thätigkeit der Menschen in ihrem Wechselverkehre dringt.
Die fünfte end-
lich ist die I d e e d e r B i l l i g k e i t (oder Vergeltung), welche einen angemessenen Rückgang von Wohl auf den Wohl-, von Wehe auf den Wehe-Thäter, d. h. Belohnung des Verdienstes, Bestrafung der Schuld verlangt. Diese fünf praktischen Ideen erschöpfen das gesammte Gebiet sittlicher Normen der Art, dass jede s p e c i e l l e F o r d e r u n g (jede aus besonderen Verhältnissen hervorgegangene P f l i c h t ) a u f s i e z u r ü c k z u b e z i e h e n und aus ihnen zu moti viren
ist.
Sie und nur sie allein sind die Strebe-
pfeiler des gesammten sittlichen Lebens des Einzelnen wie der Gesellschaft. Die innere Freiheit giebt dem Streben des Menschen Einheit und Selbständigkeit; d?e Vollkommenheit Kraft, Fülle, Abrundung.
Das Wohlwollen fuhrt zur eigenen Glückselig-
keit durch Begründung der Glückseligkeit Anderer.
Das
Recht erzeugt das Gefühl äusserer Sicherheit, das da beruht auf der gegenseitigen Abgrenzung der Thätigkeitssphären, vermöge welcher Jeder weiss, was ihm von Andern zu fordern erlaubt; was dagegen ihm selber zuzumuthen jenen verwehrt ist.
Die Billigkeit endlich dient dem strengen Recht zum
Korrektiv, sie mildert und ebnet alle schroffen Konsequenzen rechtlicher Institutionen, gleicht wo möglich alle Differenzen in den gegenseitigen Forderungen und Leistungen aus und sucht so das ä u s s e r e Gleichgewicht unter den Individuen herzustellen, wie ihr Gegenpol, die innere Freiheit, das i n n e r e Gleichgewicht unter den einzelnen Entschliessungen herstellt.
206 Nur wer diese fünf praktischen Ideen genau kennt, vermag sich selbst und Andern gründlich darüber Rechenschaft zu geben, ob und w a r u m ein Wollen, eine Situation, eine Unternehmung, ein Charakter s i t t l i c h ist oder n i c h t .
Im
Hinblick auf dieselben werden wir demnach nur denjenigen als völlig sittlich erklären können, welcher, ein Herr seiner eigenen Entschlüsse, sich nie durch subjektive Regungen (Launen, Lüste, Leidenschaften) bestimmen lässt, sondern lediglich den Forderungen des Gewissens folgt; dessen Wollen durchweg stark, entschieden, reich, planvoll ist; der, von reiner Humanität beseelt, sich lebhaft um das Wohl seines Nächsten interessirt und der sich endlich nie ein Unrecht, nie eine Unbilligkeit erlaubt. — Anmerkung. Mit der klaren Einsicht in die berührten sittlichen Grundverhältnisse gewinnt dann das Sittlichkeitsgeltlhl seine besondere Ausprägung; es äussert sich als Billigkeit»-, Rechts-, sittliches Kraft-Gefühl u. s. w. — Unter diesen ist das Rechtsgefiihl dasjenige, das sich meist am f r ü h e s t e n entwickelt und auch eines der i n t e n s i v s t e n ist, so dass es sich leicht bis zum Affekt steigert. Natürlich, das .Recht verleiht S i c h e r h e i t des Eigenthums und der Person fttr den E i n z e l n e n und begründet nicht minder auch die S t a b i l i t ä t der G e s e l l s c h a f t , indem es den Streit und die Anarchie bannt. Das Missfallen am Streit und der Wunsch, sich nicht blos für den Moment, sondern für die Dauer alle nöthigen Lebensgüter zu sichern, führt daher die Menschen s c h o n in d e r K i n d h e i t s e p o c h e ihres V e r e i n s l e b e n s zur Errichtung rechtlicher Institutionen. (Man denke z. B. an die Rechts-Konvention zwischen Abraham und Lot, Genesis XIII. Cap., — oder an das „ T a b u " in Oceanien). Die B e d r o h u n g des b e s t e h e n d e n R e c h t s aber ist z u g l e i c h B e d r o h u n g a l l e r ä u s s e r e n L e b e n s g ü t e r , und darum ist das Missfallen am Streit und der Rechtsverletzung ein so lebhaftes; darum ist der Eifer der Einzel-
207 nen wie der Völker, wo es gilt, ihr Recht zu wahren, ao gross. — Das R e c h t s g e f ü h l äussert sich vorherrschend als sittliches U n l u s t g e f ü h l und zwar da, wo wohlbegründete Ansprüche nicht berücksichtigt, eingeräumte Befugnisse missbraucht werden, wo Jemand uns widerrechtlich Zwang anthut, unseren guten Namen antastet, sein gegebenes Wort zurückzieht u. dergl. m. In der Form eines s i t t l i c h e n L u s t g e f ü h l s erscheint es dagegen, namentlich wo ein lange unterdrücktes Recht endlich doch zu seinem Siege gelangt, wo ein lange und immer lauter drohender Streit, oder sogar der wirkliche Kampf, zumal jener der Massen, endlich friedlich beglichen wird. Man denke hier z. B. an den beklemmenden Alpdruck, der vor und bei Beginn eines Krieges auf allen Schichten der Gesellschaft lastet und an das Gefühl der Erlösung hiervon beim endlichen Friedensabschlusse, der fortan ruhigen Genuss aller äusseren Lebensgüter garantirt.
§. 2 ! .
Die religiösen Gefühle.
Die religiösen Gefühle schliessen sich den drei letztbesprochenen, höheren Gefühlen unmittelbar an, indem sich an ihnen ein intellektuelles, ästhetisches und ethisches Moment erkennen lässt, welche v e r e i n t den Impuls zur Ausbildung der Gott-Idee geben, daran W a h r h e i t , G ü t e sich harmonisch durchdringen.
Schönheit
und,
In besonders engem
Verbände aber stehen sie mit den sittlichen Gefühlen, so zwar, dass sich die Doppelbehauptung aufstellen lässt, es könne einerseits in einem sittlich verkommenen und verwahrlosten Gemüthe kein rechtes Gottbewusstsein, keine religiöse Erhebung aufkommen; so wie anderseits wieder ein irreligiöser Mensch, nie einen höheren Grad von Sittlichkeit erlangen wird.
Dem Irreligiösen fehlt ja mit der entsprechenden Vor-
208 Stellung von G o t t zugleich die von einer
moralischen
W e l t o r d n u n g und nicht minder die sichere Aussicht auf ein besseres J e n s e i t s , Fragment bleibt.
ohne welche alles Streben reines
Ohne' diese beiden Ideen einer moralischen
Weltordnung und der Seelenunsterblichkeit giebt es aber keinen ausreichenden Impuls'zur Aufopferung für höhere, über dieses Leben hinausragende Zwecke und für ein stetiges, auch in einer ferneren Daseinsform fortzusetzendes Vervollkomm-, nungsstreben.
E s leidet also hierunter sowol die E e i n h e i t
als die K r ä f t i g k e i t des Strebens; zumal dem Menschen mit der fehlenden oder verworrenen Vorstellung von Gott zugleich das h ö c h s t e s i t t l i c h e I d e a l , daran er seinen innern Blick emporrichten könnte, abgeht. Die Grundsätze des Irreligiösen sind deshalb meist nur die des raffinirten Egoismus, Maximen der Klugheit und nichts weiter.
Das zeigen
die Sophisten, französischen Encyklopädisten und unsere modernen Materialisten. — Fragen wir nun nach der Grundquelle des religiösen Gefühls; — so ist's keine andere als das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit,
Abhängigkeit,
Beschränktheit,
welches den Menschen zur Vorstellung eines unbeschränkten, allwaltenden Urwesens hinführt ; — das ihm auf dem Stadium der Barbarei blos als ^ine geheimniss- und verhängnissvoll wirkende M a c h t erscheint, welche er sklavisch furchtet (und deshalb wie der Fetischdiener durch allerlei phantastische Geheimmittel zu gewinnen und zu versöhnen sucht); — das ihm dagegen, sobald er dasselbe durch e t h i s c h e A t t r i b u t e denken gelernt hat, Ehrfurcht, Liebe und Anbetung einflösst. Versuchen wir es nun,'diese G e n e s i s dieses religiösen
209 Gefühls nach seinen wesentlichsten Entwicklungsmomenten näher darzulegen. 1) Nehrtien wir an, der Mensch habe, durch den Weltlauf und eigenen Lebensgang zum N a c h d e n k e n angeregt, es schon mehrfach versucht, sich das Welträthsel, den Ursprung der Sinnendinge und seines eigenen Geschlechts zu lösen; — so verwickelt er sich hiermit in eine u n a b s e h b a r e K e t t e von K a u s a l i t ä t e n .
Jedes Glied in dieser Kette von Ur-
sachen und Wirkungen ist bedingt durch ein früheres, dieses hat wieder seine Bedingungen und so geht es immer weiter zurück.
Das Denken schweift hinaus in's Unendliche, keinen
Halt findend; — ausser in dem Gedanken, diese ganze, unabsehbare Reihe von Bedingungen müsse zuletzt in einem U n b e d i n g t e n begründet sein und von diesem, als dem U r g r ü n d e aller Dinge, müsse für die ganze, eng zusammenhängende Kette von Aktionen, der e r s t e I m p u l s herstammen. —
So treibt also den Menschen sein N a c h d e n k e n
Annahme eines
unbedingten,
allgewaltigen
zur Ur-
w e . s e n s hin. 2) Denselben Weg weist ihm aber auch sein G e f ü h l . —
Hat er nämlich bei fortschreitender Geistesentwicklung
sich weiter dahin erhoben, die W e l t auch von ihrer ä s t h e t i s c h e n Seite zu erfassen; — hat er die in ihr allenthalben waltende Harmonie, Schönheit, Zweckmässigkeit begriffen; ist ihm die Ahnung eines das Weltall durchdringenden und die Erscheinungen wenigstens im Grossen und Ganzen beherrschenden Weltplanes aufgegangen: — so führt ihn diese Vorstellung des Z w e c k s weiter auf die Idee einer z w e c k setzenden Intelligenz.
Das früher noch nicht näher
bestimmte Unbedingte, jene früher mehr f a t a l i s t i s c h geNahlowsky, Gefühlsleben.
14
210 dachte Urmacht, rückt nun höher hinauf und wird näher bestimmt als eine g e i s t i g e P o t e n z ; — als die das All durchdringende, schaffende, regierende W e i s h e i t . 3) Auch manche W i l l e n s - Konflikte führen zu Gott. — Gesetzt, der Mensch, wie früher (auf dem Boden der Erkenntniss) in unlösbare Zweifel und Widersprüche verwickelt, sei auch weiter innerhalb der p r a k t i s c h e n ( W i l l e n s - ) S p h ä r e in manches innere Zerwürfniss hineingerathen; sei in Schuld und Sünde verfallen; habe den Stachel der Reue gefühlt, die schwere Bürde verschuldeter und unverschuldeter Leiden getragen und sich so lebhaft nach einem Retter in seinen Nöthen gesehnt; — endlich sei ihm auch noch in stiller, weihevoller Stunde die ganze Herrlichkeit und M a j e s t ä t d e s S i t t e n g e s e t z e s (das ihm auf früherer, niederer Stufe mehr nur als eine zwingende Macht, j a vielleicht sogar als ein unwillkommener Mahner erschienen war) aufgegangen: — so lernt er dann auch jenes Gesetz, das ihm die eigene Vernunft diktirt, auf das Urwesen, auf die höchste Intelligenz zurückbeziehen. Damit nimmt die Reflexion ihren letzten Anlauf und erhebt sich zur dritten und höchsten Stufe, zur V o r s t e l l u n g e i n e r o b e r s t e n s i t t l i c h e n I n s t a n z als Stifter und-Garanten des Sittengesetzes. — Jenes unbedingte Urwesen, jene zwecksetzende Intelligenz erscheint nun zugleich als der h ö c h s t h e i l i g e W i l l e , als das I d e a l sittlicher Vollendung. Damit erst ist die G o t t i d e e , welche, als die wesentlichen und Grundattribute, Macht, Weisheit, Heiligkeit in sich vereinigt,, abgeschlossen. — 4) Das R e s u 11 a t dieses — und sei es auch nur ahnungsweise — im Innern auftauchenden Gedankens ist ein G e f ü h l eigenthümlicher, u n n e n n b a r e r B e f r i e d i g u n g , welche
211 in dem Bewusstsein liegt, mit jener höchsten Idee, endlich für das gesammte Geistesleben (die Erkenntniss, das Gefühl und das Streben) den letzten, verlässlichen R u h e - und S c h w e r p u n k t gefunden zu haben. Eben dieses Gefühl innerer Beruhigung und Beseligung, die in dem Gedanken an Gott liegt, ist denn auch die reinste Form des religiösen Gefühls, nämlich die F r ö m m i g k e i t . In dieser liegt eben so sehr D e m u t h als E r h e b u n g .
Die
erstere wurzelt in dem Bewusstsein der eigenen Abhängigkeit und Schwäche; letztere führt das Denken des Höchsten ipso facto mit sich. — 5 ) D a s sich anfänglich nur als dunkle Unterordnung unter ein Höheres, als Ahnung einer obersten metaphysischen und sittlichen Potenz, äussernde religiöse Gefühl, nimmt bei seiner Fortbildung allmälig die schärfer ausgeprägten Formen des religiösen G l a u b e n s , der religiösen H o f f n u n g und L i e b e an.
J e mehr nämlich der Mensch in der Gottidee
den letzten und verlässlichsten Stützpunkt für seine gesammten theoretischen und praktischen Interessen anerkennt, — desto lebhafter prägt sich in ihm die Ueberzeugung aus, jenes von seiner Vernunft postulirte Wesen sei nicht blos sein eigener G e d a n k e , Realität! -
sondern
dasselbe
habe
nothwendige
es s e i , es m ü s s e sein, wenn sich nichtunsere
ganze Existenz, unser Denken, Fühlen, Streben in unlösbare Widersprüche verwickeln und die Welt nicht alles
inneren
Zusammenhanges entbehren soll. Diese innere Ueberzeugung ist der religiöse G l a u b e . — Zweitens, da der Mensch sich Gott als den Urheber, wie der physischen, so der moralischen Weltordnung, denkt: — so e r w a r t e t er (so gewiss von ihm der Zweck der Welt und mithin auch die menschliche Bestim14*
212 mung herrührt) von ihm zugleich die G e w ä h r u n g
der
M i t t e l , die zur Erreichung seiner Bestimmung führen und eben so auch die sehnlichst gewünschte , seinem sittlichen Streben proportionale G l ü c k s e l i g k e i t ; — und dieses Anticipiren der göttlichen Gnade schafft denn die H o f f n u n g . — Endlich, da in der Gottidee immer entschiedener das Merkmal der P e r s ö n l i c h k e i t und a l l u m f a s s e n d e n
Güte
hervortritt; — entwickelt sich hieraus ganz natürlich das Gefühl der L i e b e und Anhänglichkeit. Anmerkung. Obwol die Stammform des religiösen Gefühls, wie oben (Punkt 4) gezeigt wurde, die der inneren Beseligung und Beruhigung ist; — so kann doch auch unter Umständen dasselbe sich in der F o r m eines i d e e l l e n U n l u s t g e f i i h l s äussern. Das geschieht dann, wenn wir z. B. Etwas gewahr werden, was mit unserer innersten religiösen Ueberzeugung im Widerspruch steht. In diesem Falle kann sich dieses Gefühl in seiner Intensität bis zum A f f e k t e der E n t r ü s t u n g steigern. So war dies bei Moses der Fall, als er mit den Tafeln des Gesetzes vom Berge Sinai herabkommend, erfüllt von der Majestät Gottes, begeistert von seiner eigenen hohen'Mission, sein Volk auf einen höheren sittlich-religiösen Standpunkt zu stellen; — gerade nun es in seinem Rückfalle und seiner Erniedrigung gewahrt , gerade nun sehen muss, wie dasselbe statt Jehova zu dienen, dem von Menschenhand gefertigten Götzenbilde fröhnt. — Denkt man sich in die Seele des grossen Gesetzgebers hinein; so ist es kein Wunder, dass ihn in dem Moment ein heiliger Zorn durchzuckt und er im Angesichte des unwürdigen Volkes die Tafeln der Verheissung zerschmettert. Die E n t r ü s t u n g ist da um so grösser, weil sich in dem besonderen Falle mit dem verletzten religiösen Gefühle noch das verl e t z t e R e c h t s g e f ü h l vereinigt; — denn der Monotheismus erscheint nach mosaisch-theokratischen Begriffen zugleich als ein R e c h t s b u n d , als ein S t ä a t s p a k t , abgeschlossen zwischen Jehova und dem Volke Israel. In des letzterem Rückfalle in den
213 Götzendienst erblickt daher Moses nicht blos eine Versündigung an der monotheistischen Gottidee, nicht blos Vereitelung seines eifrig angestrebten Kulturzweckes, sondern überdies noch einen schmählichen Rechts- und Treubruch, und so ist sein Affekt doppelt und dreifach motivirt. — Nicht immer jedoch nimmt das religiöse Unlustgeftihl die Form einer höheren, sittlich vermittelten Entrüstung an. Wo der Begriff von Gott nicht geläutert ist und sich mit den übrigen theoretischen Ansichten und praktischen Maximen des Menschen nicht in das gehörige Verhältniss gesetzt hat; — da kann das trübe, religiöse Gefühl, durch äussere Einflüsse aufgestachelt, leicht in F a n a t i s m u s ausarten, der im Wahne, damit Gott und der Religion zu dienen, Andersdenkende verfolgt. Das bleibt aber immer eine traurige Verirrung, die um so mehr zu bedauern ist, weil sie eben das Heiligste betrifft.
A n h a n g .
Vorbemerkung. Hierher haben wir einzelne Gemütszustände verwiesen, welche in dem Gliedbau des Ganzen sich nirgends passender einfügen liessen als eben hier.
Das gilt zunächst von den
sympathetischen Gefühlen,
die zwar in die Sphäre
der qualitativen gehören, aber weder den niederen noch den höheren Gefühlen sich entschieden anreihen lassen; — denn sie gehören theils diesen, theils jenen an.
Den n i e d e m ge-
hören sie insofern an, als sie in der Sinnlichkeit wurzeln; den h ö h e r n dagegen, indem dieselben fast unvermerkt in das sittliche Gefühl des Wohlwollens übergehen und dasselbe vorbereiten. — Hierher war auch die L i e b e zu verweisen, die, sofern man sie in ihrer besonderen Form als Geschlechtsliebe erfasst, auf somatischen Grundlagen ruht, im Allgemeinen betrachtet aber sich nicht mehr als ein blosses Gefühl, sondern alsein solches, k o m p l i c i r t m i t einem B e g e h r e n , darstellt. — Hierher gehört auch ganz entschieden der A f f e k t , der zwar vom Gefühle wol zu unterscheiden ist; aber doch aus ihm unter dem Miteinflusse o r g a n i s c h e r Wirkungen zu entspringen pflegt.
Dem Affekte aber, als einer Gemüths-
erschütterung, schicken wir dem natürlichen Gange der Untersuchung gemäss die Betrachtung der bald länger, bald kürzer
215 währenden und über das gesammte Bewusstsein gleichmässig verbreiteten Temperatur und Färbung des Seelenlebens,
—
nämlich die G e m ü t h s s t i m m u n g voraus Demnach gliedert sich uns der noch übrig bleibende Stoff in folgende zwei Abtheilungen: I. Abtheilung:
Gemüthszustände,
die mit dem
S t r e b e n (Verlangen oder Verabscheuen) i n n i g s t z u s a m menhängen.
Dahin gehören:
a) das M i t g e f ü h l und b) die hiermit in enger Beziehung stehende L i e b e , n . Abtheilung:
Zustände,
organischer Grundlage
die
wesentlich
beruhen.
auf
Dahin gehören:
a) die G e m ü t h s s t i m i n u n g , b) die G e m ü t h s e r s c h ü t t e r u n g (oder der Affekt).
Erste Abtheilung. a) Die sympathetischen Gefühle oder das Mitgefühl. §. 22.
Hier ist zuvörderst daran zu erinnern, man dürfe sich durch die verwandte Bezeichnung nicht verleiten lassen, die sympathetischen Gefühle (Mitleid, Mitfreude) mit jenen unklaren Gefühlsregungen zu verwechseln, welche im gemeinen Leben unter dem Namen der S y m p a t h i e und A n t i p a t h i e bekannt sind. — Unter der S y m p a t h i e fühl
versteht man ein d u n k l e s
des A n g e m u t h e t s e i n s
genwerdens
zu einer
von
und
Ge-
Hingezo-
fremden
Persönlichkeit,
v e r m ö g e des ersten f l ü c h t i g e n
Totaleindrucks,
216 den deren g e s a m m t e E r s c h e i n u n g auf uns macht. Wir sagen oft gleich bei der ersten Begegnung: „die Person hat Etwas an sich, dass man ihr gut sein mag", ohne Uns hierüber nähere Rechenschaft geben zu können; — natürlich, denn jenes Gefühl ist lediglich von dunklen, halbentwickelten Reproduktionen getragen. Die flüchtige Inklination zu dem anderen Individuum ruht darauf, dass uns dasselbe entweder^ vermöge gewisser ähnlicher Züge der Physiognomie, oder durch den Klang ihrer Stimme, durch Haltung, Manieren und dergl. an a n d e r e u n s w e r t h e P e r s o n e n erinnert, oder dass Etwas in dessen ganzem Wesen liegt, das in uns die dunkle Vermuthung erzeugt, es scheine zwischen uns und ihm eine gewisse W a h l v e r w a n d t s c h a f t in der Denk- und Gefühlsweise zu bestehen. Die A n t i p a t h i e dagegen ist ein d u n k l e s G e f ü h l des A n g e w i d e r t - und A b g e s t o s s e n w e r d e n s von einer fremden Persönlichkeit, schon vermöge i h r e r ä u s s e r e n E r s c h e i n u n g . Diese beruht wieder darauf, dass uns in dem Aeusseren des Andern etwas Analoges mit dritten Personen aufstösst, an die wir, wegen ihres zweideutigen Charakters, oder ihrer gegen uns feindlichen Gesinnung nur mit Widerwillen zurückdenken, welcher Widerwille sich sofort u n b e w u s s t auf die fremde Person ü b e r t r ä g t ; — oder weil wir aus ihrem ganzen Wesen einen gewissen K o n t r a s t ihrer und unserer Denk- und Gefühlsweise herausfühlen. — So werden sich Schwärmer und Freigeist, Geck und Pedant, Idealist und Epikuräer, die anspruchslos züchtige Hausfrau und die routinirte Kokette, der rohe Plebejer und der feine Aristokrat gleich beim ersten Begegnen gegenseitig abstossen. —
217
Solche dunklen Sympathien und Antipathien können oft zutreffend und für unser künftiges Verhalten gegen ein Individuum entscheidend sein. Namentlich die Frauen zeigen oft einen eigenen Takt im Errathen fremder Individualitäten. Man denke z. B. an Gretchens unüberwindliche Antipathie gegen Mephistopheles, die sich höchst charakteristisch in den Worten ausspricht: „Seine Gegenwart schnürt mir das Innere i
zu." — Im Ganzen sind aber beide, Sympathie sowol als Antipathie, höchst unverlässliche Stützen fremder Beurtheilung, und es ist keineswegs räthlich, ihnen blindlings zu folgen. — Nun zu dem Unterscheidenden. Bei der S y m p a t h i e und A n t i p a t h i e handelt es sich fur's Erste n i c h t um einen b e s o n d e r e n G e m ü t h s z u s t a n d des Anderen, sondern es kommt dabei seine ganze Individualität im Bausch und Bogen in Betracht; für's Zweite sind wir da nicht einmal so sehr mit dem fremden Individuum, als vielmehr mit unserem e i g e n e n Mögen oder Nicht-mögen desselben beschäftigt. — Eine andere Bewandtniss dagegen hat es mit den s y m p a t h e t i s c h e n G e f ü h l e n , oder dem K i t g e f ü h l e . Da erfolgt eine A n e i g n u n g des b e s o n d e r e n m o m e n t a n e n G e m ü t h s z u s t a n d e s (ausnahmsweise auch mitunter des Empfindungszustandes); es findet hier eine derartige A b s p i e g e l u n g und N a c h a h m u n g desselben in unserem eigenen Innern statt, dass wir, eine Zeit lang, zwischen uns und dem Anderen gar nicht unterscheidend, das f r e m d e L e i d oder die f r e m d e L u s t völlig als eigene fühlen. — Wie wir also dort unbewusst u n s e r e eigene Denkund Gefühlsweise auf den Anderen als Maassstab übertragen und ihn darnach angenehm oder widrig finden; — so überträgt sich hier der f r e m d e Zustand unwillkürlich und un-
218 merklich auf uns und wir betrachten Glück und Unglück, © ' Lust und Schmerz von s e i n e m Standpunkte aus. Wir können, gemäss dieser Erörterung, die sympathetischen Geiiihle mithin definiren als d i e
unwillkürliche
N a c h b i l d u n g d e r G e m ü t h s z u s t ä n d e A n d e r e r und eine derartige A n e i g n u n g annäherungsweise
d e r s e l b e n , d a s s wir
dieselbe Lust
(Freude)
d a s s e l b e W e h e (Leid) f ü h l e n , d a s s i c h i n
oder jenen
ausspricht. In dem sympathetischen Gefühle machen sich demnach zwei Momente bemerklich: e r s t e n s die lebhafte Vergegenwärtigung dessen, was in der Seele des Anderen vorgeht, und z w e i t e n s das Entstehen eines gleichen oder ähnlichen Zustandes in uns selbst. Seine G r u n d f o r m e n sind die M i t f r e u d e, angeregt durch fremde Freudenäusserung, und das M i t l e i d , angeregt durch den Anblick fremder Leiden oder durch die lebhafte Schilderung derselben von Seite dritter Personen. Zu ihrem. E n t s t e h e n gehört vor Allem N o t i z n a h m e von den fremden Zuständen, so wie die r i c h t i g e D e u t u n g der Zeichen, durch welche sich der fremde Zustand verräth. Hierzu aber ist wieder nöthig, dass in uns die fremde Gefühlsäusserung die R e p r o d u k t i o n
ähnlicher
Zustände
und E r l e b n i s s e Veranlasse, damit wir die Lage des andern Individuums zu verstehen im Stande seien.
Endlich aber
müssen die in uns durch die Wahrnehmung des fremden Zustandes angeregten Vorstellungen unter sich in ein
ähn-
l i c h e s H e m m u n g s - oder F ö r d e r u n g s - V e r h ä l t n i s s , wie in jenem anderen Individuum, gerathen, damit u n s e r und s e i n Gefühl sich dem T o n e n a c h g l e i c h seien. —
219 Sind die Vorstellungen, die wir uns von dem Zustande des Andaren machen, unrichtige, uo dass wir denselben nicht verstehen; oder regen sich in uns der Wahrnehmung völlig entgegengesetzte Reproduktionen: — so entsteht in uns entweder gir k e i n Mitgefühl, oder dessen Gegentheil, der N e i d , als Leid über fremde Freude; die S c h a d e n f r e u d e ,
als
Lust an fremdem Leid. — So können denn nach Maassgabe verschiedenartiger Reproduktionen, welche die Wahrnehmung des fremden Zustandes hervorruft, in verschiedenen Individuen höchst verschiedenartige Gefühle entstehen. Darüber bemerkt Domrich (a. a. O. S. 220) sehr richtig: „Ein und derselbe Anblick lägst den Einen kalt, erregt einem Anderen Grausen, einem Diitten Ekel, einem Vierten Schadenfreude, einem Fünften wahlhaftes Mitgefühl." Das Mitgefühl wird natürlich dann um so i n t e n s i v e r sein,
einmal je
gefühlvoller
überhaupt ein gewisser
Mensch schon von Natur aus ist, und eine je feinere Ausbildung durch Erziehung und Erlebnisse sein Gefühlsleben erlangt hai.
Doch giebt es in letzterer Beziehung auch krank-
hafte Extreme, die weichen „blassen Mondscheinseelen", die mit jeden geknickten Grashalme sympathisiren.
Sodann übt
hierauf «nen entscheidenden Einfluss die V e r w a n d t s c h a f t der beiderseitigen G e d a n k e n k r e i s e
und der
analoge
K u l t u i g r a d dessen, der die Lust und das Leid ursprünglich fühl; und der hieran Theil nehmen soll; — denn dies bedingt ja wesentlich das Verständniss.
Nicht minder wird das
Mitgefüll dadurch gesteigert, je a n a l o g e r e L e i d e n oder F r e u d i n man bereits s e l b s t e r l e b t hat.
Eine Mutter
z. B . , velche früher selber ihr geliebtes, vielleicht einziges Kind ve-lor, wird den Schmerz, den eine Andere in gleicher
220 Situation fühlt, mehr zu würdigen wissen und ein regeres Mitleid fühlen als jeder Dritte. Endlich giebt unter gleichen Umständen die l e b h a f t e r e P h a n t a s i e den Ausschlag; denn mit ihr konstruirt man sich den Zustand, in welchem sich der Andere befindet, leichter nach. Dagegen sind dem Entstehen und der lebhafteren Ausprägung der sympathetischen Gefühle h i n d e r l i c h : einmal der völlige M a n g e l an P h a n t a s i e ; denn Menschen dieser Art versetzen sich nicht leicht in die Lage Anderer, kein Ereigniss wirkt tief auf sie; — ferner eingewurzelter E g o i s m u s , denn der Egoist denkt sich bei den Leiden Anderer: „Gut, dass mich's nicht traf", und bei der Freude Anderer: „Was hab' den i c h davon ?" — Ein weiteres Hinderniss bildet ferner die g r o s s e V e r s c h i e d e n h e i t d e r G e d a n k e n k r e i s e und des K u l t u r g r a d e s
zweier Individuen.
Je
weiter ihre Gedankenkreise auseinander liegen, desto mehr ist ja das Verständniss erschwert. Endlich ist die A n t i p a t h i e oder gar der H a s s , den man gegen ein anderes Individuum hegt, dem Entstehen des sympathetischen Gefühls hinderlich, ja der letztere ruft sogar dessen Gegentheile leicht hervor. Anmerkung 1. Die sympathetischen Gefühle haben für das menschliche Leben eine d o p p e l t e und g r o s s e B e d e u t u n g , denn einmal dienen sie dazu, uns das Leben zu verschönern und sein Herbes zu versüssen, für's zweite aber sind sie deshalb wichtig, weil sie die Grundlage der reinsten und edelsten Willenseigenschaft, nämlich des Wohlwollens, sind. Was den ersten Punkt betrifft, so ist unverkennbar, dass die sympathetischen Gefllhle wesentlich zu unserem Lebensglücke beitragen; denn sie v e r m e h r e n unsere Freuden und s ä n f t i g e n unsere Leiden. Das erstere leisten sie auf doppelte Weise, indem wir durch sie uns die Freuden eines Zweiten aneignen und selbe mit
221 gemessen; sodann aber, wenn wir selber die Glücklichen sind und Ändere sich mit uns freuen, dann bringt der Reflex der eigenen Lust, die sich im Anderen wiederspiegelt, uns das eigene Glück nur noch lebhafter zum Bewusstsein.
Hat uns dagegen ein Kummer getroffen
und es findet sich ein zweites Wesen, das mit uns flihlt; ist uns so, als hätte es einen Theil der Bürde von uns genommen.
Schon die
blosse Theilnahme (abgesehen von dem tröstlichen Zusprucbe faktischer Hülfe) ist für uns eine Art Erleichterung.
und
Das drückt so
schön Tiedge in seiner Urania aus: „Sei fröhlich oder leide, Das Herz bedarf ein zweites Herz; Getheilte Freude ist doppelt Freude, Getheilter Schmerz nur halber Schmerz." Bemerkenswerth ist übrigens, dass sich im gewöhnlichen Leben das M i t l e i d weit ausgebildeter zeigt als die reine M i t f r e u d e . Natürlich, die M i t f r e u d e fordert ein zarteres, neidfreies Gemüth; das M i t l e i d blos Freisein vom Stumpfsinn.
Das Mitleid ist mehr
pathologischer Art und schon das Nervensystem hat einen wesentlichen Antheil an seinem Entstehen.
Die ganze physische Natur
lehnt sich in 11ns auf, z. B. bei dem Anblicke einer klaffenden Wunde, oder der Zuckungen eines Epileptischen und ruft bei überaus sensiblen Personen sogar ähnliche organische Reflexe hervor, , oder es entstehen krankhafte Zustände in anderen überreizten Organen.
Die
Mit-
f r e u d e dagegen ist g e i s t i g e r und setzt schon eine Art hingebender Gesinnung, einen gewissen Grad von Wohlwollen, oder mindestens ein völlig h a r m l o s e s Gemtith voraus.
Das hat sehr schön und
sinnig J e a n P a u l in seinem Hesperus angedeutet, indem er s a g t : „Zum Mitleiden genügt ein Mefficli; zur Mitfreude gehört ein E n g e l . " Noch wichtiger ist die andere Beziehung der sympathetischen Gefühle, nämlich die zur S i t t l i c h k e i t .
Dieser leisten sie einen
wichtigen Dienst, indem sie die S e l b s t s u c h t
bannen und, durch
gemeinsame Freuden und Leiden, um die Menschen ein gendes Band
schlingen.
vereini-
Sie vorzüglich sind es, auf deren Ver-
anlassung sich im Menschen neben und gegenüber dem isolirenden, trennenden „ I c h " , das vereinigende „ W i r " ausbildet; sie sind es,
222 welche die Entwicklung des Wohlwollens oder der selbstlosen Liebe vorbereiten. — An sich sind sie zwar nichts weiter als G e f ü h l s v e r d o p p e l u n g e n . Was ein Anderer vor uns fühlte, fühlen wir ihm nach; aber so, dass wir anfänglich zwischen ihm und uns gar nicht unterscheiden, sondern sein Znstand unvermerkt zugleich der unsere wird. Bis dahin kann lediglich nur von einer G e m ü t h s s t i m m u n g , aber von keinem G e s i n n u n g s v e r h ä l t n i s s die Rede sein. Zu letzterem gehören ja zwei distinkte Verhältnissglieder. — Diese kommen jedoch sehr bald zum Vorschein. Gewisse, die unwillkürliche Erregung begleitenden Nebenumstände veranlassen nämlich allmälig in uns das Nachdenken Uber deren Ursprung und führen so zu der Entdeckung, dass u n s e r Gefühl, in diesem Falle, eigentlich nur blosser R e f l e x eines f r e m d e n sei; — dass es sich nicht lim unser, sondern um f r e m d e s W o h l oder Wehe handelt. Wenn wir nun so, zwischen e i g e n e m und f r e m d e n Gemüthsund Willenszustande unterscheidend, uns nichtsdestoweniger noch um die fremde Lust und das fremde Leid fortinteressiren, erstere dem Anderen (ohne dabei mitbetheiligt zu sein) zu erhalten, letzteres abzuwenden oder wenigstens nach Thunlichkeit zu mildern suchen: erst dann und nur dann ist das eigentliche Wohl w o l l e n vorhanden; denn es ist jetzt erst ein sich dem Wohl e i n e s Z w e i t e n w i d m e n d e r W i l l e da. — Das Mitgefühl hatte bei jenem ganzen Prozess das wesentliche Verdienst, dem Wohlwollen als Wecker gedient, den fremden Zustand aufgedeckt und so gewissermaassen dem Wohlwollen den Weg seiner Bethätigung gewiesen zu haben. Anmerkung 2, Wie sehr das Mitleid bisweilen selbst rauhe, harte Herzen zu erweichen vermag, hat Shakespeare so eindringlich in seinem König Johann (IV. Akt, l.Sc.) dargethan. Die ganze Scene kann überhaupt als eine Apotheose des Mitgefühls betrachtet werden. Jeines die ganze belebte und leblose Natur umfassende Mitgefühl aber, das sich nur bei besonderer poetischer Stimmung einstellt, ist hinwieder mit eigentümlicher indischer Anmuth und Innigkeit in der lieblichen S a k o n t a l a von Kalidasa verherrlicht, und zwar namentlich in jener Scene, wo diese von dem heiligen Haine ihres Pflegevaters Kanna Abschied nimmt, um sich an Duschmanta's Hof zu begeben.
223 b) Die Liebe. §.
23.
Von der Liebe lässt sich eben so schwer eine Definition geben, wie von der Schönheit, und zwar aus dem doppelten Grunde, einmal, weil es eben so unendlich verschiedene F o r men der Liebe wie der Schönheit giebt, und fur's zweite, weil das Liebesgefühl eben so komplicirt ist wie jenes der Schönheit.
Die Liebe ist nicht blos verschieden, j e nachdem ihr
dieses oder jenes O b j e k t zu Grunde liegt, sondern auch verschieden nach der Individualität, der Richtung und dem Grade der Bildung des von ihr ergriffenen S u b j e k t s . rns,
welcher in seiner P s y c h e
C. G . G a -
diesem Gefühle eine be-
sondere Aufmerksamkeit widmet, sagt diesfalls sehr wahr: „Durch unbewussten Zug und bewusste Erkenntniss kann die Liebe das Geringste und hinwiederum das Höchste umfassen, vom Hangen am Boden und an der Wohnstätte, am Stein und Metall, von der Liebe zu Pflanzen und Thieren wendet sie sich, als zum eigentlichen Mittelpunkte ihrer Existenz zur Liebe zum Menschen, der Liebe zu sich selbst, zu Freunden, Eltern, Geschwistern, Kindern und meist zur Liebe des anderen Geschlechts, und steigert sich endlich zur Liebe zu Gott." — „Nach diesen verschiedenen Gegenständen nimmt sie selbst unendlich verschiedene Niiancen an und breitet einen Reichthum und eine Mannichfaltigkeit von Zuständen aus, welche erschöpfend zu beschreiben und zu erklären gänzlich unmöglich wird." Nicht minder aber als nach ihren O b j e k t e n
ist die
Liebe auch nach den Individualitäten der sich ihr hingebenden S u b j e k t e verschieden. im e n g e r e n
Schon ihre Species, die Liebe
S i n n e (nämlich der eigentliche Zug der G e -
224 schlechter zu einander) zeigt die grössten Varietäten. J e edler sie ist, um so individueller ausgeprägt erscheint sie; denn nicht das Geschlecht als solches, nicht die G a t t u n g , sondern das Individuum, das ergänzende Segment der eigenen Persönlichkeit ist es, was sie sucht und anstrebt. Aber sogar bei demselben Individuum hält sie sich nicht fortdauernd auf gleicher H ö h e ; schwankt vielmehr auf der Stufenleiter ihrer W ü r d e zwischen der obersten und untersten Sprosse, des Göttlichen und Animalischen, auf und a b ; bis sie im r e i n
Mensch-
l i c h e n ihren wahren Schwerpunkt und Halt findet, und sich zum ruhigen, aufopfernden Gefühle unwandelbarer Freundschaft verklärt, die mehr zu geben, als zu empfangen bereit ist. — W a s endlich die K o m p l i c i r t h e i t
dieses Gefühls be-
trifft, so erscheint die Liebe, näher besehen, nicht so sehr als ein vereinzeltes G e f ü h l , sondern vielmehr
gewissermaassen
als ein H e r d v o n G e f ü h l e n .
U m die Vorstellungo des geo liebten Gegenstandes sammeln sich nämlich eine Menge anderer Q o Vorstellungen an und werden dieTräger, bald von s i n n l i c h e n oder s y m p a t h e t i s c h e n , ethischen
bald von ä s t h e t i s c h e n
oder
Gefühlen, an welche sich weiter selbst mancher-
lei Gefühle von rein formeller Art anreihen, und wozu sich endlich noch ein lebhaftes B e g e h r e n des betreffenden O b jekts gesellt, in welches sogar noch bisweilen eine Menge dunkler Empfindungen mit hineinspielen. — U m sich in diesem Irrgarten der mannichfaltigsten Zustände, welche hier in verschiedenfacher Kombination sich zu einem Gesammteffekt verbinden, einigermaassen zu orientiren, muss man vor Allem unterscheiden, zwischen der Liebe im w e i t e r e n und jener im e n g e r e n Sinne des Worts, indem man zuvörderst sich die wesentlichen Merkmale der ersteren verdeutlicht.
225 1.
Die Liebe im w e i t e r e n
Sinne des Worts
ver-
einigt in sich folgende H a u p t m o m e n t e : Erstens, die Vorstell u n gO des geliebten Gegenstandes wirft sich auf zur CentralO o Vorstellung eines grösseren Gedankenkreises; zweitens, dieselbe ist zugleich die T r ä g e r i n eines dem Subjekte nicht immer m o t i v i r b a r e n , und zumeist auch parteiischen W o h l g e f a l l e n s ; drittens endlich verbindet sich mit j e d e r L i e b e ein lebhaftes Begehren nach Besitz und Vereinigung
mit ihrem Gegen-
stande. D e m n a c h definiren wir die L i e b e i m w e i t e r e n