Das Erbe des 19. Jahrhunderts: Referate vom Deutschen Evangelischen Theologentag 7.–11. Juni 1960 in Berlin [Reprint 2019 ed.] 9783110831245, 9783110052015


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ZUM GELEIT
INHALTSVERZEICHNIS
SYSTEMATISCH BEDEUTSAME MOTIVE AUS DER THEOLOGIE DES 19. JAHRHUNDERTS
DOGMA UND DOGMENGESCHICHTE IN DER THEOLOGIE DES 19. JAHRHUNDERTS
DAS ERBE DES 19. JAHRHUNDERTS FÜR DIE NEUTESTAMENTLICHE WISSENSCHAFT VON HEUTE
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Das Erbe des 19. Jahrhunderts: Referate vom Deutschen Evangelischen Theologentag 7.–11. Juni 1960 in Berlin [Reprint 2019 ed.]
 9783110831245, 9783110052015

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DAS E R B E D E S 19. J A H R H U N D E R T S

DAS ERBE DES 19. J A H R H U N D E R T S

REFERATE VOM DEUTSCHEN EVANGELISCHEN THEOLOGENTAG 7.—11. JUNI 1960 IN RERLIN

HERAUSGEGEBEN VON

WILHELM SCHNEEMELCHER

VERLAG ALFRED

TÖPELMANN 1960

• BERLIN

W30

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem W e g e (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. (c> 1960 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 30 Printed in Germany - Archiv-Nr. 67/60 Satz u n d Drude: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin

ZUM GELEIT Der 5. Deutsche Evangelische Theologentag nach dem Kriege, der vom 7. bis zum 11. Juni 1960 in Berlin-Spandau stattfand, vereinigte über 170 theologische Lehrer der deutschen Evangelisch-Theologischen Fakultäten und der kirchlichen Hochschulen, sowie Gäste aus dem deutschsprachigen Ausland. Wie beim vorigen Mal, 1958, so hatte der Vorbereitungsausschuß auch für dieses Treffen ein Gesamtthema für die Hauptreferate gewählt: „Das Erbe des 19. Jahrhunderts". Es sollte versucht werden, die Auseinandersetzung mit der Theologie des vorigen Jahrhunderts, die uns ja heute in ganz besonderem Maße bewegt, voranzutreiben und an einzelnen Punkten aufzuzeigen, worin nun der theologische Ertrag und das verpflichtende Erbe dieses Jahrhunderts besteht. Es war dabei von vornherein klar, daß es nicht möglich sein würde, dieses Thema in drei Vorträgen erschöpfend zu behandeln. Wohl aber sollte und konnte unter jeweils spezieller Fragestellung die Problematik klar herausgestellt werden. Die lebhafte Aussprache nach den Referaten zeigte, daß die Vorträge tatsächlich an wesentliche und uns heute noch aufgetragene Probleme herangeführt haben: Ohne eine eindringliche Besinnung auf das Erbe der großen Theologen des 19. Jahrhunderts ist unsere Arbeit nur schwer möglich. Wir hielten es daher für angebracht, daß die Hauptvorträge wieder in einer besonderen Publikation der Öffentlichkeit vorgelegt würden. Über die Sektionsvorträge, die zum Teil sich auch mit Fragen des 19. Jahrhunderts befaßten, wird in der Theologischen Literaturzeitung ausführlich berichtet werden. Allen, die zu dem Gelingen des Theologentages beigetragen haben, sei herzlich gedankt. Insbesondere die Herren Kollegen des Vorbereitungsausschusses, unter ihnen vor allem Walter Elliger-Berlin, haben die Last der Arbeit mitgetragen. Dankbar sei der Helfer im Tagungsbüro gedacht, Dr. K. Schäferdiek, Dr. A. Raddatz, cand. theol. S. Helmer und vor allem cand. theol. A. Elliger, die auch diesmal wieder unermüdlich um den reibungslosen äußeren Verlauf bemüht waren. Bei der Drucklegung, die der Verlag A. Töpelmann wieder übernommen hat, wurde

mir von cand. theol. Christoph Bizer geholfen. Besonderer Dank aber gebührt den Herren Referenten, die uns deutlich gemacht haben, daß das Erbe der Vergangenheit, speziell des 19. Jahrhunderts, u n s e r Erbe ist und daß es immer wieder neu erfaßt und verarbeitet werden muß, wenn wir den uns aufgetragenen Dienst besser verstehen und besser bewältigen wollen. Wilhelm Schneemelcher Präsident des Deutschen Evangelischen Theologentages

INHALTSVERZEICHNIS Rudolf Hermann: Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts Karl-Gerhard

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Steck:

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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Werner Georg Kümmel: Das Erbe des 19. Jahrhunderts für die neutestamentlidie Wissenschaft von heute

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RUDOLF HERMANN

SYSTEMATISCH BEDEUTSAME MOTIVE AUS DER THEOLOGIE DES 19. JAHRHUNDERTS Der Titel dieses Vortrags klingt vielleicht etwas unbestimmt, sagt aber an, wovon die Rede sein soll, nämlich von einer bescheidenen Auswahl theologischer Themen. Mehr kann ich hier nicht bieten, und vieles bleibt schon aus Zeitmangel fort. Ein ganzes Jahrhundert Theologiegeschichte läßt sich in Kürze m. E. nicht behandeln, es wäre denn, man wollte sich mit einer subjektiv gehaltenen Skizze zufrieden geben. Für am wenigsten lohnend würde ich eine rein abwertende Zeichnung halten. Zumal dann, wenn wir selber aus dem Jahrhundert stammen, es also Eltemstelle oder ein noch jugendliches Großelterntum an uns vertritt, dürfte eher die Aufmerksamkeit auf ein Erbe am Platze sein, als ein richtendes Urteil über eine Zeit, die wir nicht mehr mitgestaltet, die aber uns mit heraufgeführt hat. Es gibt gewiß mancherlei Versuche, die Theologie des 19. Jahrhunderts einheitlich zu charakterisieren oder gar zu bewerten. Wer einen Versuch in solcher Richtung von diesem Vortrag erwartet, wird enttäuscht sein. Ich vermag z. B. nicht mit T R O E L T S C H 1 oder H I R S C H 2 die These zu vertreten, das 19. Jahrhundert sei sozusagen die legitime Deszendenz jener Wende des Denkens, die sich im 17./18. Jahrhundert zur Aufklärung zugespitzt habe. Denn der Biblizismus sowohl wie die neulutherische Theologie und mancherlei anderes passen doch kaum in das Bild. Die vielen, in dieses Jahrhundert fallenden Auflagen von B E N G E L S Gnomon (deutsch seit 1853) und seiner apokalyptischen Schriften, Männer wie B E C K , K A H L E R und C R E M E R , sowie die mecklenburgischen, Erlanger, Leipziger und baltischen Lutheraner lassen sich von daher nicht in ihrem eigentlichen Wesen begreifen, ebensowenig der wenigstens in Deutschland gegen Ende des Jahrhunderts langsam ein1 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 1908. Werke II, S. 193 ff. 2 Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bände 1949—1954.

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Hermann

setzende Einfluß Kierkegaards. Trotzdem bringt jene Sicht von der Aufklärung her natürlich wahre Züge heraus, nicht zuletzt den der Ernstnahme des Problems: Religion und Sittlichkeit. Gewiß kann man auch, nicht ohne Erfolg, die Theologie unseres Zeitraums mit W. ELERT3, im Sinne des sich herausarbeitenden Selbständigkeitsbewußtseins des christlichen Glaubens, unter den Gesichtspunkt der wechselnden Tendenzen von „Diastase" des Christentums gegenüber dem bloßen Weltbewußtsein und von „Synthese" mit ihm (letzteres bis hin zum sogenannten Kulturprotestantismus) darstellen. — Immerhin liegt in dieser Fragestellung als solcher mehr die Ausrichtung auf ein: wie müßten wir sein?, als auf das: was ist wahr? — Ohne Zweifel ist ferner unter dem Zeichen der nunmehr im gesamten Deutschland, allerdings sehr unterschiedlich, durchgeführten Trennung der 400jährigen, nicht etwa bloß ungesegnet gebliebenen, Verbindung von Kirche und Staat auch manches Schlaglicht auf die Theologie unseres Zeitraumes zu werfen möglich. — Ich erinnere an Disziplinarfälle wie den von DE W E T T E ( 1 8 1 9 ) in Berlin oder den von M I C H A E L B A U M G A R T E N 4 ( 1 8 5 8 ) in Rostock, sei es wegen politischer Entgleisung, sei es auf Grund bitterer Stellungnahme gegen das Staatskirchentum; weiter an ideelle Tendenzen auf Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, etwa bei S C H L E I E R M A C H E R 5 — in der Agendefrage mit tapferem Verhalten verbunden — und — auf Aufgehen der Kirche im Staat, diesen verstanden als werdende Gestalt höchster Vollkommenheit, zu der sich alle sittlichen Gemeinschaften erheben sollen (Rothe); weiter an das Problem der U n i o n und ihres Ineinander von politischer Initiative, historischen Gegebenheiten (u. a. des seit 2 Jahrhunderten reformierten Königshauses), von echter Frömmigkeit und dogmatischer Verständigungs- oder gar Consensusdialektik. Aus der Fülle der Namen sei hier nur an C. I. N I T Z S C H und J U L . M Ü L L E R ( 1 8 5 4 ) erinnert, aber auch an S C H L E I E R M A C H E R S Glaubenslehre, als an die bekanntlich erste faktische Unionsdogmatik. Weiter mag H E N G S T E N B E R G 6 sowie der Einfluß erwähnt sein, den er mit seiner Evangelischen Kirchenzeitung — auch durch Männer wie 3

Der Kampf um das Christentum. 1921.

Vgl. u. a. F . UHLHORN, Geschichte der deutsch-lutherischen Kirche. II. 1911. S. 229 f. 5 Vgl. etwa: Sämtl. Werke 1. Abt. Zur Theologie Bd. XIII. Prakt. Theol. 4

S. 6 6 8 . 6

Vgl. (mit vielen Belegen): JOHANNES BACHMANN, E . W . Hengstenberg 2 Bd.

1 8 7 7 . 1 8 8 0 . B d . 3 v o n R . SCHMALENBACH 1 8 9 2 .

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 3 L. VON G E R L A C H und B A R O N VON K O T T W I T Z — in Sachen kircllcnpolitisch durchsetzter theologischer Gedankenbildung ausübte. Vor allem sei der geistvolle Jurist Fr. Jul. S T A H L mit seiner auf den Theismus gegründeten „Philosophie des Rechtes" (1829, 1847 2 ) und seiner Parole vom „christlichen" Staat nicht vergessen. Das Problem Staat und Kirche hat in der Tat, zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zumindest als Ferment in der evangelischen Kirchen- und Theologiegeschichte sozusagen geschwelt. Auch BISMARCK, nicht nur der politische Liberalismus, war ja im Grunde Gegner des landesherrlichen Kirchenregiments und der Union, BISMARCK freilich aus kirchenfreundlichen Gründen 7 . Aber man muß auch vermerken, daß ein Theologe wie H E I N R I C H T H I E R S C H zum Irvingianismus überging und einen strengen, hierarchienahen staatsabgewandten Kirchenbegriff vertrat, und daß selbst ein I . A. D O R N E R von einem durch die Reformation und das evangelische Christentum heraufgeführten „jetzigen Weltalter" der „Krisis" sprach („Mündigwerden der Individuen im Guten wie im Bösen"), in der die Volks- und Nationalkirchen, soviel an Segen, auch an tü)r) aiamog sie in sich schließen möchten, vielleicht zu ihrem Ende kommen würden (so 1852). Allerdings hielt D O R N E R (1855) im Blick auf T H I E R S C H , bei dem er einen enthusiastisch magischen Kirchen- und Ämterbegriff tadelte, an der ethischen Gestaltwerdung des Glaubens auch in der Volkskirche fest 3 . Man könnte also, zumal aus der Lage in der Gegenwart betrachtet, auch von hier aus in die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts hineinsteigen, und das womöglich mit der Anregung des Juristen E R I K W O L F (in R. G. G. 3 III, Sp. 1078) verbinden, das Verhältnis von jus divinum und jus humanuni in dieser Zeit zu verfolgen und zu klären, hoffentlich nicht zu sehr in malam partem des 19. Jahrhunderts und von Männern wie W . K A H L und G. H O L S T E I N ! — Aber unter solchen aus dem Rückblick gewonnenen Gesichtspunkten darf ja wiederum nicht das eigene Ringen der mancherlei bedeutenden theologischen Systeme und Richtungen mit der tatsächlich zeitüberlegenen dogmatischen Substanz selber in den Hintergrund treten. Und sowohl das starke Interesse an der Kantischen Erkenntnistheorie und Ethik bis in die zwanziger Jahre Vgl. Walter REICHLE, Zwischen Staat und Kirche. 1938. S. 240. Vgl. seinen Briefwechsel (2 Bde. 1888) mit dem Dänen MARTENSEN — eine durch gut 4 Jahrzehnte gehende interessante Quelle für die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Bd. I S. 217—222. S. 241. 7

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des 20. Jahrhunderts hinein wie das schon vorher einsetzende auffallende Interesse an Phänomenologie und Ontologie, das, zumindest zeitlich, mit einem breiteren Rückstrom zum Mittelalter zusammenfällt, — dieses ganze Eingehen also auf nicht bloß theologische Fragen — deutet m. E. darauf hin, daß gegen jede etwa zur Isolierung des Christentums neigende Tendenz seines Selbständigkeitsbewußtseins immer wieder Kräfte regsam werden würden. K A R L B A R T H S Gerechtigkeitswillen, den er sogleich im Eingang seiner „Protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert" (1947) angesichts dieses Zeitraumes äußert, sei dankbar anerkannt, zumal da Barth sich ausdrücklich gegen dessen Verzeichnung erklärt, wie sie sich in Verkennung seiner Meinung und Absicht mit auf ihn berufe. — M. K Ä H L E R S Geschichte der Theologie des 19. Jahrhunderts, ein vielgerühmtes Kolleg, das er noch in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts gelesen hat und das demnächst erscheinen soll, darf man wohl mit viel Vorfreude erwarten. Mit S C H L E I E R M A C H E R kommt man erst recht in ein paar Worten nicht zu Ende. Er ist und bleibt der theologische Klassiker des 19. Jahrhunderts. Aber wer wird ihm in allem folgen?! — Ich weiß keinen bedeutenderen R e l i g i o n s b e g r i f f als den des „Bewußtseins schlechthinniger Abhängigkeit". — „Religionsbegriff", das will sagen: e i n d e u t i g e B e s t i m m u n g der N o t w e n d i g k e i t von G l a u b e und B e z o g e n h e i t auf G o t t für die E r f a h r u n g der Wirklichkeit. Aber angesichts seiner D o g m a t i k , der freilich das Merkmal des „Ex ungue leonem" fast durchweg eignet, hat man doch einige Mühe, aus dem großen Erbe die richtige Wahl zu treffen. Man lernt und bewundert auf Schritt und Tritt, schließt sich aber nicht alsbald an. Gleich ein Hauptgedanke wie der, daß Christi Erlösertum darin besteht, uns in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins aufzunehmen, behält etwas nicht nur im Ausdruck Befremdliches. Er dürfte eine Art heiligungspsychologischer Modifizierung der Erlösungswahrheit — die zuerst doch Befreiung ist! — in sich schließen. Der Gedanke wird m. E. dadurch noch erschwert, daß die Einwirkung Christi auf den Einzelnen nur durch den „Gemeingeist der Kirche", nicht unmittelbar erfolgen soll. — Auf der anderen Seite hat S C H L E I E R M A C H E R über diesen „Gemeingeist", der ein Geist von oben, nicht aus der Menschenmitte sein soll, sehr eindrucksvoll gesprochen, und seine Lehre von der K i r c h e ist, wenn auch

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts

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gewiß nicht unproblematisch, bedeutend genug9. Läßt S C H L E I E R M A C H E R die Kirche doch e n t s t e h e n eben durch diesen Geist Jesu Christi (und verbindet das mit der Lehre von der E r w ä h l u n g ) — läßt sie b e s t e h e n (Lehre von Wort, Sakrament und Amt der Schlüssel) nicht ohne Spannung mit der Welt, — und v o l l e n d e t w e r d e n unter Aufhebung jenes Gegensatzes (Lehre von den letzten Dingen). Aber lassen wir jetzt die dogmatischen Inhalte. S C H L E I E R M A C H E R selber wollte sie zwar höher gestellt wissen als seine „ethischen", „religionsphilosophischen" und „apologetischen" Prolegomena, die nur der „Ortsbestimmung" für jene dienen sollten, und er hat bekanntlich geschwankt10, ob er nicht gar in seiner Dogmatik selbst (zweiter Gestalt), deren 2. Teil, kurz gesagt, seine Heils- und Kirchenlehre, ihrem 1. Teil, kurz gesagt, seiner Schöpfungslehre, von Gott und Welt handelnd, voranstellen solle. Tatsächlich hat aber seine Einleitung in die Glaubenslehre, haben seine religionsphilosophischen und seine grundsätzlichen Gedanken mindestens so stark wie die spezifisch dogmatischen gewirkt; und eben diesen grundsätzlichen Gedanken, und zwar über das Verhältnis von R e l i g i o n u n d P h i l o s o p h i e , sei noch ein Abschnitt gewidmet, nicht zuletzt um der Dogmatik des Meisters willen. Zu diesem Behufe erinnern wir an sein Bild von der „galvanischen", oder auch Volta'schen Säule. Er verwendet es in seinem Brief an den Philosophen F R . H. J A C O B I im März 1 8 1 8 1 1 , also ein Jahr vor dessen Tod, um Verstand und Gefühl in ihrer Unterschiedenheit von — und Bezogenheit auf-einander zu veranschaulichen, und damit eben auch Philosophie und Religion, Wissen und Glauben. Wie Kupfer und Zink in einem Element oder in einer Batterie getrennt und sie selber bleiben, so auch Philosophie und Religion, Kopf und Herz, Verstand und Gefühl. Aber der durch den Draht gehende Strom, der sie verbindet, ist dem „Leben des Geistes" zu vergleichen, in dem auch der Verstand um das Eigensein des Gefühls weiß und der Verstand ebenso dem Gefühl eine 9 Gute Kennzeichnung bei O. KIRN (R. E. 3 17. S. 607 f.). Vgl. auch R. HERMANN, Die Bedeutung der Kirche bei Schleiermacher = Greifswalder Universitätsreden Nr. 39, 1934. 1 0 Vgl. Zweites Sendsdireiben an Lücke. Sämtl. Werke 1. Abt. Zur Theologie. Bd. 2 S. 605 ff. 11

Vgl. DILTHEY-JONAS, Aus Sdileiermachers Leben. In Briefen. Bd. II.

S. 3 4 9 ff. O h n e A u s l a s s u n g e n i n RICH. ZOEPPITZ, „AUS F . H . J a c o b i s N a c h l a ß " .

2 Bde. 1 8 6 9 . Bd. 2. S. 1 3 8 ff.

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gegebene Wirklichkeit ist. Man soll also nicht mit J A C O B I meinen und darüber klagen, daß man „ein Heide mit dem Verstände, mit dem ganzen Gemüte (aber) ein Christ" sei, sondern soll sich mit dem Verstände als Philosophen, mit dem Gefühl aber als Frommen, und zwar als Christen verstehen, — offenbar anstatt den Verstand verchristlichen zu wollen. Pole gehören gewiß zusammen, bleiben aber „voneinander abgekehrt". Der Verstand hat i n n e r h a l b der Natur seine Funktion und soll sich nicht deshalb als Heiden ausgeben, weil er ganz mit Recht nicht über die Natur hinaus will. Aber freilich, für den Glauben hat „die Natur ein Ende", will wohl sagen: ist sie nicht alles. Widersprechen braudien also und dürfen sich die beiden nicht. Das ist für SCHLEIERMACHER ein Gebot — und wie ich glaube mit Recht. Allerdings sucht er diesem Gebot dann etwas anders als K A N T gerecht zu werden. K A N T arbeitete mit dem Hinweis auf das „Ding an sich" und — m. E. erkenntnistheoretisch schärfer — mit dem transzendental-kritischen Aufweis der Selbstbegrenzung des Verstandes auf die „Erfahrung". SCHLEIERMACHER will sich, sagt er, „von einem anderen nachweisen lassen, wo die Natur ein Ende hat". Er stößt in seinem „christlichen Gefühl" auf einen „göttlichen Geist", führt also hier bereits, wenn der Ausdrude sich da auch nicht findet, den Begriff der O f f e n b a rung ein, und will es sich nun auch nicht nehmen lassen, jenen göttlichen Geist, „in den tiefsten Tiefen der Natur der Seele aufzusuchen", d. h. doch wohl: ihn als mit deren Wurzel verbunden auch metapsychologisch herzuleiten, und zwar als etwas anderes denn „meine Vernunft". Ebenso wird er sich in seinem „christlichen Gefühl... eines Gottessohnes bewußt", der von dem „Besten", was wir haben, und nicht bloß graduell, „unterschieden ist"; und er will auch dessen „Erzeugung ... in den tiefsten Tiefen der Natur aufsuchen", d. h. wohl wiederum: ihn als vom Ursprung her der Menschheit mitgegeben zu verstehen suchen. Man mag gewiß Bedenken haben, weil SCHLEIERMACHER hier, wie später in bekannten Paragraphen der Glaubenslehre, gleichsam in einem Atem von Offenbarungsdingen spricht und nach Naturzusammenhängen fragen will. Aber auch wenn wir andere Wege suchen, so darf es nicht unter der Kampfparole gehen, SCHLEIERMACHER denke naturhaft. Von der Wirklichkeit, deren er im Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit innewird, weiß er Natur wie Geist umgriffen. Was er unter dem Suchen in den Tiefen, wie er sagt, von Natur und Seele versteht, meint er im Unterschiede zur Spekulation als Theologie, also als Suchen nach dem Ausdrude, der dem hohen Erlebnisinhalt entsprechen könnte. Dieses

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 7 Suchen nach dem das Verstehen verbürgenden Ausdrude gehört ihm mit dem zusammen, was er als „Reflexion" und Deutung der christlichen Erfahrung versteht, also eben mit der theologischen Funktion, besonders mit der Dogmatik. Seines christlichen Glaubens, und zwar als Christusglauben, ist nach ihm der Christ auch ohne Theologie gewiß. Aber wenn diese Gewißheit, wie es doch auch geschehen muß, als „reflektierende", Zusammenhänge herstellende, Rede zur Aussprache kommt, und zwar hinein in die Fülle von Bewußtsein, Erfahrung und Leben, worüber wir Austausch pflegen, so haben wir es wieder mit der Theologie zu tun. Auf diesem Wege liegt ja auch der Gottesgedanke der frommen Gewißheit, der dem, gerade nicht kausal gemeinten, Sinn von „Woher" entspricht, wie es das Erlebnis der schlechthinnigen Abhängigkeit deutend mit sich führt. Dagegen gehört der „Begriff eines höchsten Wesens" der Philosophie und Spekulation an. Sie kann ihn aber eben nicht in „realem" d. h. wohl symbolfreiem Sinne, aufstellen. Doch bedeutet die letztere Feststellung nicht l e d i g l i c h Abwehr gegen die Spekulation. Denn unserem „endlichen Dasein" entspricht nach Schleiermacher ein Oscillieren zwischen Gefühl und Verstand, also zwischen erlebnismäßigem Erfassen (sowie Ausdeuten der Wirklichkeit) und theoretischem Erkennen, bzw. Bestimmen desselben, oder auch zwischen dem G l a u b e n s d e n k e n (bilden wir diesen Ausdruck einmal ruhig für Theologie im Schleiermacherschen Sinne) und dem p h i l o s o p h i s c h e n D e n k e n . Solche Oscillation bedeutet gerade nicht ein Verwischen der Unterschiede. Und doch behält bei S C H L E I E R M A C H E R auch die Philosophie, wie mir scheint, eine Art religiöser Verheißung. Denn „alle eigentliche Philosophie" besteht, wie er sagt, „nur in der Einsicht, daß die(se) unaussprechliche Wahrheit des höchsten Wesens allem unserem Denken und Empfinden zugrunde liegt". Unserem Empfinden und Denken! Also unserem gesamten Bewußtsein im Erleben und Denken. Das erscheint mir doch als ein bedeutsamer Gedanke der E r h e b u n g , deren wir uns für unser Dasein nicht zu schämen haben. Mag er auch, wie S C H L E I E R M A C H E R will, platonischer Dialektik entsprechen, so kann er schlichter auch wohl durch das Katechismuswort ausgedrückt werden: „ . . . der mir Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält...". Um aber wieder in die religionsphilosophische, oder sagen wir: apologetische, Sprache einzugehen, so scheint mir der S c H L E i E R M A C H E R s c h e Satz zugleich den wichtigen Gedanken zu enthalten, daß die Philosophie, und mit ihr das wissenschaftliche Erkennen selber, nicht sowohl Urzeugung als vielmehr Dasein und Wirklich-

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keit in der Zeit ist, so daß ihnen also Geschöpflichkeit und nicht Schöpfertum eignet. Und dazu möchte ich mich auch bekennen. Wir kommen, ohne die Linien jetzt auszuziehen, von SCHLEIERMACHER auf STRAUSS. Was uns an STRAUSS (1808—1874) immer wieder anzieht, ist einmal s e i n h o h e s g e i s t i g e s F o r m a t , d a s n i c h t z u l e t z t i n s e i n e r P o l e m i k h e r v o r t r i t t , etwa gegen SCHLEIERMACHER, dessen große Bedeutung er zugleich dankbar anerkennt, — gegen SCHENKEL, den er als den Typus der „Halben" unerbittlich in den Lichtkegel seines Scheinwerfers zieht12, — gegen HENGSTENBERG, in dem er zwar einen Typus der „Ganzen" respektiert, aber solcher der „rückschreitenden Theologie" (a. a. O. 119), der um Konstruktionen von kühner Unmöglichkeit nie verlegen, das, „was denGründen an Gewicht fehlt, durch die Wucht (ersetzt), womit (er) sie in die Waagschale wirft (ebd.). Sodann kann man auch bei STRAUSS, wenngleich er das „Allzuscharf macht schartig" nicht immer vermieden hat, den h o h e n s i t t l i c h e n E r n s t n i c h t v e r k e n n e n . Gerade für den Kampf „in religiösen Dingen" (ebd., 39) fordert er ihn. M u ß es einmal nach ihm den Kampf geben, durch den die Geister „aus den Ketten des Wahns" zu befreien sind, so nur, indem sie zugleich „durch innere, dem erkannten Wesen des Menschen entnommene Gesetze" g e b u n d e n werden. „An diesem heiligsten Menschheitswerke kann in hervorragender Stellung (das sagt er gegen SCHENKEL) keiner gedeihlich mitarbeiten, der nicht reine oder gereinigte Hände, ein ganzes und ungeteiltes Herz und truglose Lippen dazu mitbringt" (ebd.). Inhaltlich dürfte an STRAUSS'S Polemik, die sich vielfach mit der von messen kann, besonders hervorzuheben sein, daß sie von dem Gedanken wie besessen ist, J e s u s d ü r f e l e d i g l i c h a l s M e n s c h und unter dem Gesichtspunkt seiner — dann gewiß sehr hohen — Bedeutung für den Menschentumsgedanken betrachtet und gewürdigt werden. Es ist klar, daß er sich dadurch mit der FEUERBACHschen These, die Theologie sei Anthropologie (nach FEUERBACH gar noch „psychische Pathologie"), berühren mußte. So gilt ihm SCHLEIERMACHERS Theologie als der letzte große Versuch, der aber gescheitert sei, die Einzigkeit Christi auch vor moderner Geistigkeit zu vertreten. Denn letztere gesteht STRAUSS SCHLEIERMACHER durchaus zu. Nur sei sein Christus nicht wirkLESSING

12 Die Halben und die Ganzen. Eine Streitschrift gegen die HH. DD. Schenkel und Hengstenberg. 1865.

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 9 lieh mehr ein Mensch13. Und das muß ja auch, obwohl man es an dem christologisciien Vortrag S C H L E I E R M A C H E R S schwerlich ablesen kann, ein Stück Wahrheit enthalten, wenn auch nicht in dem m. E. legitimen Sinne des Glaubens an die Gottheit Christi. Aber man darf eben nicht den U r b i l d g e d a n k e n zur Basis der Christologie machen. Die Idee ungehemmt vollkommenen, unsündlich gottbewußten Menschentums kann in der Tat nicht in nur e i n e m Individuum ihre Vollverwirklichung finden, sondern höchstens etwa in der G o E T H E s c h e n Weise ihren Ausdruck gewinnen: „Teilnehmend führen gute Geister, gelinde leitend höchste Meister zu dem, der alles schafft und schuf." Gewiß ist S C H L E I E R M A C H E R S a u s g e s p r o c h e n e B e m ü h u n g um die These von der Einzigkeit Christi selber ein theologisches Faktum. Ich muß mir versagen, jetzt näher darauf einzugehen. Er meint, so kann man vielleicht sagen, Christi Erscheinung und Wirken als ein Ursprüngliches, und — man denke an sein stetes „Fortwirken" — als Gottes Durchsetzung des Zieles seiner Schöpfung, neu gleichsam alle Morgen. Aber mag das gelten, so kommt doch aus einer, wie es ja auch heißt, „unserer Natur als Gattung einwohnenden EntwicMungskraft" (Gl. L. 2 § 13,1) kein nur Einer und Einziger. — Meinen wir aber diesen, so dürfen wir nicht von dem Gedanken der menschlichen Natur und der Idee ihrer Vollendung ausgehen, und so die Theologie doch immer wieder in Anthropologie, Christologie und Ekklesiologie aufgehen lassen. Man muß eben die Einzigkeit Jesu Christi, daß er Gottes Bild in singularem Sinne ist, nicht auf dem Felde heiligen Menschentums suchen, in dessen qualitativer Steigerung etwa, sondern auf dem eigentlichen Felde des Einmaligen, nämlich dem des geschichtlichen Geschehens. Man muß ihn als Gottes eigenes Eintreten in die Zeit verstehen, so schwierig es sein mag, sich dieser Wahrheit in philosophischen Grenzbegriffen zu nähern. Dann ist er die erfüllte Zeit, an der wir Grund und Sinn der zeitlichen Einmaligkeit erst voll erfassen. Und wir können unsere Aufmerksamkeit weiter auf die heilsgeschichtliche Linie in der Theologie unseres Zeitraumes richten, aus der wir später besonders C. I. N I T Z S C H und den Erlanger H A R L E S S herausgreifen werden. Wir lenken aber noch einmal zurück und sehen also u n t e r V o r a u s s e t z u n g des a n t h r o p o l o g i s c h menschheitsidee l l e n A n s a t z e s , dem S T R A U S S ja selber huldigte, keinen durch13 Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermadierschen Lebens Jesu. 1865 S. VII.

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schlagenden Einwand gegen dessen vielzitierte These, daß die Idee es nicht liebt, ihre Fülle in ein Individuum auszuschütten. Im Gegenteil, die Unterscheidung in der Christologie zwischen „ P e r s o n u n d P r i n z i p" anstelle der von „Person und Werk" bestätigt die These. Unter dieser Parole stellen sich bei aller Verschiedenheit ihrer Bedeutung wie ihrer mancherlei Arbeitsfrüchte für das gesamttheologische Feld, ein ALEXANDER SCHWEIZER, zuerst auch ein R. A. LIPSIUS, ein BIEDERMANN, ein SCHENKEL und andere ein. — Ob man nun mit SCHWEIZER (gegen STRAUSS) Christus als „Zentralpersönlichkeit"14 bezeichnet, ob man mit BIEDERMANN15 (nicht ohne Zusammenhang mit seinem Verständnis der Religion als der sittlichen Erhebung des endlichen zum absoluten Geiste) das in Jesus sich uns erschließende „Realprinzip des Christentums" in der Gotteskindschaft findet, mit SCHENKEL und seiner Begründung der Religion auf das Gewissen sich bestrebt, den Glauben auf die P e r s o n J e s u C h r i s t i zu konzentrieren16 (erst recht ist das bekanntlich beim späteren LIPSIUS der Fall), so ist doch der Gedanke der Menschheit und ihrer Vollendung im Reiche Gottes — ein v o n a u ß e n a n d a s n e u testamentliche Bild Christi angelegter Maßstab. Denn die angenommene Realisierung eines Ideals in dieser Person ist und bleibt etwas anderes als die vom N. T. nicht bloß bildhaft gemeinte Sendung Gottes von oben. Dazu trägt der christologisch gemeinte Gedanke erstmaliger „voller persönlicher Verwirklichung" von Idee, „Geist" oder „Wesen" des Menschen, mit den Wirkungen solcher geschichtlichen Verwirklichung ins Unendliche (SCHENKEL), mehr den Charakter — formal wenigstens — d e r K l a s s i z i t ä t a l s d e r I n k a r n a t i o n , will sagen mehr den einer „Stemstunde der Menschheit" als der Antreffbarkeit und Sprechbarkeit Gottes selber in der Einmaligkeit eines geschichtlichen Menschenlebens. Eine Wendung zum geschichtlichen, heilsgeschichtlichen Gehalt der Bibel haben wir bei R. ROTHE und zwar in seiner Lehre von der bibli1 4 Der christliche Glaube nach protestantischen Grundsätzen. 2 Bde. 1863 bis 1872 1877 2 (Bd. 2 S. 14). F ü r „Person und Prinzip" vgl Bd. 2 S. 111—114. Zum Verlauf der Diskussion vgl. R. A. LIPSIUS, Lehrbuch der evangelischprotestantischen Dogmatik 3 1893. S. 500 ff. Vgl. H. STEPHAN, Geschichte der evangelischen Theologie. 1938. S. 237. 15

Christliche Dogmatik 1869 (Letzte Aufl. 1884/85). Bd. I §§ 158 ff. S. 332 ff.

DANIEL SCHENKEL, Die Grundlehren des Christentums aus dem Bewußtsein des Glaubens 1877. S. 368 f. 16

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 11 sehen Offenbarung als Manifestation und als Inspiration. Die Unterscheidung der Ausdrücke ist so gemeint, daß sich in der heiligen Geschichte Gott selber, seine Erlösung und sein Heil, manifestiert, während bei „Inspiration" an die Erleuchtung während dieser Geschichte und über sie gedacht ist, an Bezeugung und Deutung also. Die Erleuchtung ist deshalb notwendig, weil das menschliche Bewußtsein und sein Urteilen durch die Sünde getrübt ist. In der mehr individuellen Form des visionären Sehertums und in der mehr universalen gedanklichen Macht des Prophetentums unter Gottes Geisteswehen wird das Auge dafür geöffnet, wie Gott durch das vielfach wunderhafte Geschehen sein wahres Bild durchsetzt17. — Dabei bleibt aber die Erleuchtung, bzw. Inspiration, der zeitlichen Stufe angemessen, auf der sie erfolgt und ihr Wort zu sagen hat, während die Manifestation gleichsam zukunftsträchtig auch das in sich schließt, was später daraus erfolgt (a. a. O. S. 94/95). Die Geschichte selber, im Sinne der Geschehnisse, wäre also größer, sozusagen der Wirklichkeit stärker eingemeißelt, als ihre Deutungen, auch als ihre unmittelbaren Deutungen selbst in der Bibel 18 — das scheint mir ein wichtiger und fruchtbarer Gedanke zu sein. Und müßte es wirklich einen Schaden bedeuten, wenn mit dadurch einer e i n s e i t i g e n Throninhaberschaft des „Wortes", des „Kerygmas", des „Zeugnisses" in der Theologie entgegengetreten wird?! 19 Eine gewisse Ubermacht wiederum der Inspiration über die Manifestation dürfte unter diesem Aspekt bei F. CHR. BAUR vorliegen. Wir übertragen dabei — vielleicht etwas kühn — die RoTHEsche Problematik der gegenseitigen Beziehung von Manifestation und Inspiration auf Baur's kirchen- und dogmengeschichtliche Forschung, ja bereits auf die neutestamentliche Wissenschaft und auf das Verständnis der Person Jesu selber. Hier treten über der Deutung durch die Idee der Einheit von Gott und Mensch als des Prinzips des Christentums die tatsächlichen Geschehnisse in eine Art von Helldunkel, bzw. werden zu Schattenbildern. So jedenfalls, wenigstens dem Sinne nach, argumentierte KARL 17

Vgl. R . ROTHE, Zur Dogmatik, S. 8 4 — 9 0 , Hrsg. von VON HANFFSTENGEL

1898 (1. Aufl. 1862).

18 Die Gestalt, in der Gottes „übernatürliche" Offenbarung „Natur" wird, heißt bei ROTHE eben „Geschichte". 19 Zu Bedenken gegen eine Uberbetonung „kerygmatischer Theologie" vgl. audi P. TILLICH, Systematische Theologie Bd. I 1956. S. 11 ff., P. ALTHAUS, Das sog. Kerygma und der historische Jesus. 1958, ERIK SCHMIDT, R. Bultmanns Programm der Entmythologisierung (Z. syst. Theol. XXIII. 1954. S. 194 ff.) u. a.



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Hermann

(1855) gegen die Tübinger Schule20. Und trotz des bekannten Glanzes der BAURschen Darstellung sieht H A S E dessen Hauptwerke doch auf S T R A U S S hinauslaufen. Auch nach B A U R nämlich sei „Christus als Gott-Mensch nur das einzelne Faktum, in welchem die Kirche (nb. sie als Ideenträgerin) vorläufig die allgemeine Wahrheit anschaute, daß der wahre Gott-Mensch... nur die Menschheit sei, eine Gott-Menschheit; und dieser Identität sich bewußt zu werden (sei bei B A U R ) die wahre Versöhnung" (ebd.). — So würde Christus also „nur der Übergangspunkt zu dieser Allgemeinheit" sein; so folgert wenigstens VON H A S E und läßt zugleich eine Art religionsgeschichtlicher Fragestellung sich anmelden. Es müßten dann nämlich auch die „antiken Menschen an diesem christlichen Charakter vollen Anteil haben", und die Mythen von sterbenden Göttern oder gottähnlichen Menschen nicht minder (Osiris, Adonis, Herakles, ebd.). — Wir müssen wohl in der Tat zugestehen: der Offenbarungsgedanke (dazu noch der Versöhnungsbegriff) unter ontologisch-metaphysische Ideenführung gestellt, wird nicht allein im christlichen Bereich verbleiben können. Wir haben seitdem aber wohl gelernt, die Wahrheit, zu der der Glaube sich bekennt, von der Religionsgestalt von der er lebt, und von deren Vollkommenheit oder Unvollkommenheit unterschieden zu halten. Zu B A U R S bekanntem Geschichtsbegriff nur noch eine kurze Besinnung. Er will das Ganze der Kirchengeschichte daraufhin ansehen, „wie sein Inhalt die Bewegung der in ihm sich verwirklichenden Idee" sei und wie „in dieser Idee das Wesen des denkenden Geistes überhaupt zu seiner konkreten Erscheinung" komme21. Ob das eine „bloße philosophische Schulmeinung", was B A U R ausdrücklich zurückweist, heißen kann, oder nicht — jedenfalls weiß man nicht, wo man nun das wahre Geschehen suchen soll, ob in solcher verborgenen Geistesdialektik oder in der Konkretion erzähl- bzw. berichtbaren Lebens und Sich-Ereignens. Da aber bei Baur Offenbarung, Versöhnung und alle zentralen Glaubenswahrheiten in dieser Geistesdialektik, wenn ich recht sehe, ihre Stelle erhalten, so kann uns auch das Streitgespräch H A S E - B A U R den Gefahrenpunkt bestätigen helfen, der in dem Verhältnis der Begriffe von Offenbarung und Verborgenheit liegt. Gewiß wird alle Offenbarung Geheimnisse und Verborgenes stehen lassen. Aber wenn das Eigentliche VON H A S E

2 0 KARL HASE, Die Tübinger Schule (Sendschreiben an Baur). Leipzig 1855. S. 96 f. 21 Vgl. F . CHR. BAUR, An Herrn Dr. Karl Hase. Beantwortung des Sendschreibens Die Tübinger Schule. Tübingen 1856. S. 93.

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der Offenbarung nicht in ihrem Handeln und ihrem Wort, also im Aufnehmbaren und Vernehmbaren liegen soll, sondern im Verborgenen, so bringt man sich in eine immerhin beachtliche Nähe jenes Kraftfeldes, in dem die Selbstbewegung der Idee ihre Anziehungskraft und ihren Herrschaftsanspruch geltend macht. Das Moment der Verborgenheit kann gewiß auch ein sehr anderes Aussehen haben. KIERKEGAARD, der Gegner aller HEGELschen Art zu denken, dessen eigentlicher Einfluß aber, wenigstens in Deutschland, erst ins 20. Jahrhundert fällt, betont bekanntlich stark das Paradoxon und gar das „Ärgernis", auf das der Mensch, anstatt Gott zu begreifen, stoße, wie Abraham auf dem Weg nach Morija. Erst recht muß im Hinblick auf die Niedrigkeit Christi von Verborgenheit gesprochen werden. Nur darf Verborgenheit nicht zum eigentlichen Kennzeichen von „Offenbarung" oder zu einer Art von Alternativwort zu ihr erklärt werden. Das Wort „Ärgernis" erscheint mir in der Bibel als viel stärker abgewehrt denn bejaht. Und ist es wirklich unberechtigt zu fragen, ob bei einer Dialektik der Paradoxie die Gefahr beschworen ist, daß die, sei es auch als heilige Pflicht empfundene, N e g a t i o n z u m M o t o r des Heils erhoben wird? Aber noch einmal kurz zurück zu ROTHE und zu seiner Terminologie vcn der gleichsam führenden Manifestation und der nicht völlig gleichen Schritt haltenden Inspiration. Sein christologischer Ansatz erscheint mir als bedeutsam und fruchtbar, nämlich daß der „Sohn Gottes" die „vollendete Manifestation" und die (nunmehr) „entschränkte Inspiration" sei. Ich zitiere seinen Satz: „Er allein ist der schlechthin authentische Ausleger seiner selbst oder der göttlichen Manifestation in ihm" (Zur Dogmatik 95), — und das darf als ein beachtlicher Fingerzeig zur Würdigung der Gottheit Christi angesehen werden. Seine Hoheitsaussagen, das später so genannte „Selbstbewußtsein Jesu", knüpfen sich inhaltlich an das, was Gott geschichtlich in ihm, durch seine eigene Präsenz in ihm, heraufgeführt hat. ROTHE ist, trotz seiner ontologisch-metaphysischen und geschichtsteleologischen Spekulationsfreudigkeit, der Geschichte, von der die Bibel Kunde gibt, offenbar näher geblieben als BAUR, für den schon die allgemeine Geschichte gleichsam ein Denken im höheren Chor ist — die Reformation z. B. 22 als die aus der Verklammerung in „ihre sinnliche und 2 2 Vgl. BAUR, Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart. Tübingen 1859. S. 10.

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materielle Erscheinung" sidi „wieder losreißen(de) und die entgegengesetzte Richtung" einschlagende „Idee" — und für den das N. T. mehr, unter verschieden gerichteten „Tendenzen" Gestalt gewinnende, Literatur als unsere Benachrichtigung über das ist, was zu unserem Heil in erwählter Zeit geschah. Verlassen wir jetzt diesen Gedankenkreis, so nehmen wir auch für das weiter zu Sagende das Vorrecht bloßer Auswahl in Anspruch. Zuerst ein Blick auf A . RITSCHL, um nachher mit den theologischen Bemühungen zu schließen, die das Problem „Offenbarung und Geschichte" m. E. mit am meisten gefördert haben. Vermittlungstheologie (NITZSCH) — Erlanger Theologie (HARLESS, VON HOFFMANN) — Biblizismus (KAHLER) haben sich darin die Hand gereicht. RITSCHL hat zwar bekanntlich auf dem Gebiet der historischen Methode und der Kirchengeschichte mit Erfolg gegen die Tübinger Schule, der er zuerst nahestand, gekämpft. Bekannt ist ebenfalls die stetige dogmengeschichtliche Diskussion in seiner Systematik. Aber deren Hauptthemen kreisen weniger um den Begriff der geschichtlichen Offenbarung (ohne ihn zu überspringen, s. u.), als um die Lehre vom Werturteil und um den Kampf gegen die Idee des Absoluten im Gottesbegriff, um die Christologie, den Reichs-Gottes-Gedanken und die Bedeutung des Gemeindebegriffs für das theologische Denken überhaupt. Herausgehoben sei für jetzt vor allem das letztere Motiv23. Es hängt mit der Christologie zusammen, besser gesagt mit dem von SCHLEIERMACHER überkommenen christozentrischen Prinzip der dogmatischen Gedankenbildung. Und wie bei SCHLEIERMACHER führt die These, daß von einem u n m i t t e l b a r e n V e r h ä l t n i s des Christen zu Christus nicht zu reden ist — bei ROTHE war das anders — zu einer starken Betonung der Kirche im dogmatischen System. Nur daß bei Ritschl in ausgeprägter Weise die Kirche, oder wie er meist sagt, die Gemeinde, sozusagen das dogmatische Haus und seine Gemächer erst aufschließt. Daß nach RITSCHL die Theologie vom Standpunkt der christlichen Gemeinde aus zu entwerfen ist, wird manchem vielleicht gar als selbstverständlich klingen. Aber wenn an ihr auch Anordnung und Reihenfolge der Lehrkapitel sich orientieren soll, so wird klar, wie tief das Prinzip greift. So soll man, nach ihm, nicht bei einem Stande paradiesischer 2 3 Vgl. für das Folgende die entsprechenden Abschnitte aus: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, III 3 1895.

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 15 natürlicher Gotteserkenntnis und natürlicher Vollkommenheit anheben. Iustitia originalis und status integritatis sind für Ritsehl vielmehr das vorausdatierte christliche Lebensideal — ein Gedanke von m. E. nur gemischtem Wahrheitsgehalt; denn Ideale und Ansprüche auf Geltung setzen sich zwar gern zugleich an den Anfang aller Dinge — wovon auch in die Ausbildung dieser Väterlehre etwas hineingekommen sein mag — aber was heißt schon Ideal und Vorausdatierung, wenn von dem die Rede ist und doch auch sein m u ß , was ursprünglich aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen ist?! R I T S C H L tadelt es weiter, daß die übliche Dogmatik aus jener Urstandslehre dann den Maßstab für die Ableitung der Sünde gewinne, darauf aus der Sünde des ersten Menschen nach AUGUSTINS Muster die Erbsünde, und nach den — wie R I T S C H L meint — rational juristischen Kategorien ANSELMS die Notwendigkeit der Erlösung und ihren Vollzug. Folge sodann die Lehre von Person und Werk Christi, und schließlich die applicatio salutis an den Einzelnen (nb. auf dem Wege über die Gemeinde), so sei man nun erst da angelangt, von wo man hätte ausgehen sollen, nämlich beim Standpunkt der christlichen Gemeinde. Das ist also eine entschlossene Kritik an der überlieferten Einteilung der Lehre24. Aber mag man immerhin anders einteilen als die Orthodoxie, etwa unter einem übergreifenden Grundgedanken (wie SCHLEIERMACHER das inaugurierte), so dürften gegen die Gemeinde, jetzt verstanden gleichsam als K r i s t a l l g i t t e r für die dogmatische Brechimg des Offenbarungslichtstrahls, Bedenken am Platze sein! Gewiß hat es die Dogmatik mit dem Glaubensinhalt zu tun, zu dem die christliche Gemeinde sich bekennt. Aber eben damit glaubt sie doch über sich hinaus und geht auch hinter ihr eigenes Bestehen zurück! Sogleich mit Person und Werk Christi setzt weder die Bibel noch das Bekenntnis noch der Katechismus (wenigstens nicht der LuTHERsche) ein, und selbst das N. T. stellt vor die in der Apostelgeschichte und in den Briefen auftretende G e m e i n d e den geschichtlichen Christus, will sagen: den e r i n n e r t e n (nicht bloß den gepredigten), — mag immerhin: wer da erinnert und sich erinnert, die Gemeinde sein, besser vielleicht doch noch die „ursprünglichen Augenzeugen und Diener des Wortes" mit der von ihnen weitergegebenen Paradosis (Luc. 1, 2). — Gegenüber R I T S C H L ' S , auch heute wohl noch lebendigem, methodischem Gemeindeprinzip muß man m. E. die heilsame Furcht behalten, daß der 24

Vgl. OTTO

RITSCHL,

Albrecht Ritsdils Leben. Bd. I .

1892, S. 385.

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Glaubensinhalt nicht zur Selbstdarstellung der Kirche werden darf. Sein Christozentrismus kann leicht zum Ekldesiozentrismus werden. Es ist eben nicht auf Gottes Beziehung zur Menschheit von Urbeginn an zu verzichten, und nicht auf die Wahrheit, daß die ganze Weltzeit in seinen Händen steht. So erforderlich es nun auch wäre noch weiter über Ritsehl zu sprechen, etwa über seine Gegnerschaft gegen die Metaphysik in der Theologie, über seine Christologie im Sinne des ethischen Urbildes, über Christi Gottheit im Sinne seiner sittlichen Hoheit, über die Erhöhung, als dauernde Fortwirkung von Christi geschichtlicher Wirklichkeit verstanden, über R I T S C H L S Erläuterimg der Rechtfertigung vom synthetischen Urteil aus u. a. m.; so soll zum Abschluß dieses Vortrages noch vom Thema der G e s c h i c h t l i c h e n O f f e n b a r u n g die Rede sein. In dem durch große, eben nicht nur naturwissenschaftliche, sondern auch h i s t o r i s c h e L e i s t u n g e n ausgezeichneten 19. Jahrhundert finden sich Theologen, die darin ein Hauptproblem sehen und es behandeln, in erheblicher Zahl. R I T S C H L gehört freilich nur in bedingter Weise hierher. Zwar erklärt er als die eigentlich einzige Offenbarung für den christlichen Glauben den g e s c h i c h t l i c h e n Christus. Aber da keine Offenbarung Gottes vollständig gedacht sei, in die nicht die G e m e i n d e aufgenommen ist25, so ist Christus, da erst durch ihn die Gemeinde möglich wird, „Empfänger der Offenbarung" als ihr „vorausgehender Repräsentant" und Vertreter (a. a. O.). Aber, so fragen wir, kommt auf die Gemeinde nicht das G l a u b e n , und die Offenbarung nur auf Gott, bzw. auf Christus und den heiligen Geist? Gewiß, die Tatsache, daß Gemeinde e n t s t e h t , schließt die Offenbarungsgeschichte ab. Aber die Gemeinde selbst eröffnet doch die K i r c h e n g e s c h i c h t e ! — Die O f f e n b a r u n g s g e s c h i c h t e kann dann nur die in der Bibel berichtete und auch gedeutete Geschichte beider Testamente sein.

Nun bringt allerdings G Ö S T A H O E K 2 6 , der wohl seit O T T O R I T S C H L am verdienstvollsten auch den Nachlaß R I T S C H L S in eine Gesamtdarstellung der Theologie des Meisters eingearbeitet hat, mancherlei Material auf 23 „Keine Offenbarung Gottes ist vollständig außer in der der gläubigen Gemeinde" (R. u. V. III . S. 520 f)

Anerkennung

2 6 Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls. Uppsala. Leipzig 1942 (Uppsala Universitets Aisskrift. 1942, 3. S. 11. Anm. 6; S. 293—317).

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 17 den Plan, das R I T S C H L auch als Theologen der biblischen Offenbarungsgeschichte dartut. Aber vorzuwiegen scheint mir doch die ideelle „ r e l i g i ö s e G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g " , von der H O E K spricht, und die, bei der Person Christi ansetzend, um den Aufbau der Gemeinde durch Rechtfertigung und Versöhnung kreist und auf das Gottesreich der Liebe ausgerichtet ist, wobei die Gemeinde in ihrer Existenz und ihrem Wirksamwerden in der Welt auch der Gesamtmenschheit ein Siegel aufprägt (vgl. bei H O E K besonders S. 312). Aber das Thema: Geschichte und Offenbarung, hat seinen eigentlichen Ursprung — darf ich mich einmal LESSiNGscher Ausdrücke in der Umkehrung bedienen? — nicht darin, daß „ewige Vernunftwahrheiten" ihre Aufgabe auch auf dem Felde der „zufälligen Gesdiichtswahrheiten" gehabt haben und haben, sondern darin, daß „zufällige Geschichtswahrheiten" tatsächlich den Grund für „ewige Vernunftwahrheiten" bilden. Von LESSING schreibt sich, meine ich, nicht eigentlich das Problem selber, wohl aber, auch dank seiner Formulierungskunst, unser Sensorium für die Problematik her. Formulierungen, die zu geflügelten Worten werden, haben eben auch ihre Funktion. — Es ist freilich jetzt zu sagen notwendig, daß der Glaube es zwar mit des ewigen Gottes Selbstoffenbarung, aber nicht im Gewände „ewiger Vernunftwahrheiten" zu tun hat, daß er (der Glaube) sich vielmehr durch des ewigen Gottes zeit- und geschichtserwählendes Handeln geboren wissen darf, — dank dem von ihm geheiligten, mit jenem verbundenen, Wort —, daß er (der Glaube) es aber doch wieder von empirischer, und in diesem Sinne „zufälliger", G e s c h i c h t s u r k u n d e zu unterscheiden hat. — Letzteres eine heute noch sehr dringlich vor uns stehende Aufgabe! Nicht wenige im 19. Jahrhundert haben über die obige Thematik nachgedacht und gearbeitet. So wies C. I . NITZSCH ( 1 7 8 7 — 1 8 6 8 ) besonders darauf hin, daß Offenbarung nicht so sehr als religionsphänomenologische Kategorie zu verstehen sei, denn vielmehr als Heilshandeln Gottes, mit seinem erlösenden und erneuernden Wirken eng verbunden. Er offenbart sich, indem er das Heil geschichtlich einmalig heraufführt, vornehmlich in Christus selber, der aber nicht in Isolierung, sondern im Rahmen der „testamentarischen Religion" zu denken ist, und nicht als „Empfänger", sondern als „Mittler" der Offenbarung. — Audi das Heidentum denkt NITZSCH als i d e e l l der Wahrheit nicht fern. Aber es finde keinen Ausgleich zwischen Idee und Geschichte, da es das Böse von der Seite des Ungeistigen und Ungestalteten anthropologisch und spekulativ deutet, und nicht von der verkehrten Willensrichtung her als

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geschichtlichen Tatbestand. Erst im Christentum ist der innere Zusammenhang von Offenbarung und Geschichte verstanden27. Wie sich diese Offenbarung selbst bezeugt? Nicht durch einzelne Wunder und Weissagungen, sondern unter dem Zeichen der „Syllogistik des Herzens" von Joh. 7, 16 (ebd. 81), durch den Zusammenhang der ganzen — sagen wir — Heilsgeschichte, wie er durch Jesus, den Gottes- und Menschensohn, gleidisam hergestellt und geführt wird. Dabei findet das Alte Testament in seiner Blickrichtung auf (86 f.) eine Endgeschichte der Zukunft seine spezifische Würdigung. Auch ADOLF VON HARLESS ( 1 8 0 6 — 7 9 ) , der führende Erlanger T h e o -

loge und Verfasser des grundlegenden Lehrbuches der Erlanger Schule, der „Christlichen E t h i k " nämlich (1842 1 , 1893 9 ) 2 8 , ein in klassischer

Antike und deutscher Literatur reichgebildeter Geist, ist — wie NITZSCH und andere — von der Behandlung des Bösen in der Philosophie unbefriedigt. Er durchdenkt besonders den Begriff des G e w i s s e n s und sieht in ihm nicht sowohl die Quelle für allgemeine Gebote einer natürlichen Moral, als vielmehr vornehmlich (nicht lediglich) das Zeugnis des Widerspruchs gegen Gottes Gemeinschaft mit dem Menschen als faktisch geschichtlichen Tatbestand (75/76). Daher, so meint er (28—32), das „Du sollst", wie es eine gewordene Lage des zeitlichen Menschentums Gott gegenüber illustriert! — Freilich zugleich bekundend, daß Gott den Menschen nicht losläßt (56). Aber nicht nur das Gewissen, sondern die Offenbarung überhaupt hat geschichtlichen Charakter. Damit soll ihre unableitbare Tatsächlichkeit unterstrichen sein im Unterschiede zum Gedanken ihrer etwa vergleichsweise einzigartigen Qualität, oder gar einer Deduktion des Glaubensinhalts aus philosophischen Prinzipien. Mit jener Tatsächlichkeit ist aber natürlich nicht bloß gemeint, daß da in Palästina etwas passiert ist, sondern daß die Faktizität von Gesetz und Evangelium im „Wesenszusammenhang mit der in sich einheitlichen Erziehung des Menschengeschlechts" steht (Chr. Eth. 5 § 13, S. 51). — Damit ist auch der Volksgeschichte Israels eine Aufgabe im Dienste des Göttlichen Universalismus zugeVgl. System der christlichen Lehre. 1829. 1851. Obiges nach der 5. Auflage 1844. S. 58 f. (54); 64; 65 ff.; 80. 28 Seine bedeutende spätere Wirksamkeit als Kirdienführer — vgl. auch THEODOR HECKEL, Adolf von Harless. München. 1933 — in Sachsen und besonders in München zeigt mancherlei Analogien zu innerkirchlichen Fragen und Lagen der Gegenwart. — HARLESS' Ethik wird von mir nach der 5. Aufl. 1853 zitiert. 27

Systematisch bedeutsame Motive aus der Theologie des 19. Jahrhunderts 19 sprechen. Sie allein zeigt uns, worin von jeher Gottes Gemeinschaft mit uns besteht, nämlich darin, daß sie ebensosehr die „eines fordernden als eines gewährenden Gottes" ist. Wie sie „nie und nirgends vom Gesetz weiß außer im Zusammenhang mit Verheißung, ja auf Grund vorausgegangener Segnung und Verheißung", so ist die Geschichte Israels die Verkünderin der Botschaft, daß „dieses Verhältnis Gottes ... zum Menschengeschlecht so alt sei als die Geschichte dieses Geschlechtes" (a. a. O. S. 54/55). Ich meine, daß wir, weil der Gedanke einer Universalgeschichte ja anerkanntermaßen weithin der Bibel verdankt wird, für solche, von geschichtlichem Sinn zeugende Gedanken über Heilsgeschichte und Weltgeschichte um so dankbarer sein können, als das Buch Daniel von uns nicht in dem Sinne sozusagen heilig gehalten werden kann, in welchem es anderthalb Jahrtausend und länger einer der Hauptträger des Einflusses der Bibel auf den Gedanken einer einheitlichen Menschengeschichte gewesen ist. Auf J O H . VON HOFMANN und M. K A H L E R (der aber sowohl lebensmäßig wie durch seine mancherlei Neudrucke bestimmend ins 20. Jahrhundert hineinreicht), die m. E. bedeutendsten Geschichtstheologen in unserem Zeitraum, kann ich in diesem Referat nicht mehr näher eingehen. — Nur einen der bedeutendsten Gedanken VON HOFMANN'S will ich noch anführen. Er findet sich in seinem 1841 (2. Teil 1844) erschienenen Werk „Weissagung und Erfüllung" (S. 24 bzw. 27) und betrifft gerade den Begriff der Weissagung. Nicht ob ein Prophet oder Seher ihr Träger ist, bildet ihr Charakteristikum, sondern daß sie gleichsam ein Ausdruck für Gottes Gegenwart im geschichtlichen Geschehen ist. Denn dann muß dieses ja über sich selbst hinwegweisen und hinwegdrängen. Daher VON HOFMANNS Ausdruck: „Weissagende Geschichte"! Nicht besondere Personen in der Geschichte, die über sie Prophezeiungen aussprechen, sind die Subjekte der Weissagung, sondern die Geschichte selber. Und bei Menschen ergibt sich das Weissagen, wenn sie sich innerlich dem Geiste Gottes öffnen und dann gleichsam naturhaft aussprechen, was in concreto ihr Anliegen ist. „Inspiration ist Geisteswirken auf den Menschen in der Unfreiheit seiner individuellen Natur". — M. E. erfordern solche aller Aufmerksamkeit werten Gedanken nicht die Typologie, die wir bei VON HOFMANN dann angewendet finden. Wir brechen damit ab. Es wäre gewiß auch möglich gewesen, die theologischen Hauptthemen des 19. Jahrhunderts als solche abzuhandeln. Man

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Rudolf Hermann

hätte also etwa kommen können auf: den Systemgedanken im SCHLEIERMACHERschen Sinne sowie auf die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Idealismus, — auf die Bibelfrage in der Auseinandersetzung mit der historischen Kritik, — auf die spekulative (rechts- und linkshegelsche) und die „liberale" Theologie, — auf die Vermittelungstheologie und das Unionsproblem, •— auf die Erörterung der zentralen Heilswahrheiten (Erlösung, Versöhnung, Rechtfertigung usw.) jeweils in der sehr eigenen Fassung, wie sie sie durch HEGEL, durch BAUR, durch MENKEN, VON HOFMANN, RITSCHL u. a. erhalten haben, — weiter auf das Problem der Sünde ( T H O L U C K , JULIUS MÜLLER u. a.) — auf denBiblizismus ( B E C K , CREMER U. a.), — näher sodann, als es geschah, auf die „heilsgeschichtliche" Linie in der Theologie, und im Zusammenhange damit eingehender auf das Problem Offenbarung und Geschichte, •— weiter auf die Mission (das 19. Jahrhundert als eines der bedeutendsten Missionsjahrhunderte, GUSTAV W A R N E C K als der Begründer der wissenschaftlichen Missionskunde), — ferner und nicht zuletzt auf die neulutherische, insbesondere die Erlanger Theologie und die Neudurchdenkung der Christologie, insbesondere im kenotischen Sinne, — auf die RiTSCHLsche Schule, die durch einige Jahrzehnte im Vordergrunde stand, wenngleich weder sie, noch die sogenannte liberale Theologie, das ganze akademische Feld beherrschte, nb. in der Kirche noch weniger. Schließlich wäre die religionsgeschichtliche Schule, zumindest in ihren bedeutenden historischen Anfängen, noch zu nennen. Auch Männer wie DE LAGARDE und M A X M Ü L L E R gehören durchaus in das Bild hinein. Aber selbst mit dem allem wäre noch entfernt keine Vollständigkeit erreicht worden, ganz abgesehen davon, daß wir die exegetischen, historischen und praktischen Fächer kaum gestreift haben. Möge der Vortrag so, wie er ist, an seinem Teil einen Eindruck von der theologischen Unausgeschöpftheit des 19. Jahrhunderts vermittelt haben, sowie davon, daß die Beschäftigung mit ihm sich lohnt.

KARL-GERHARD

STECK

DOGMA UND DOGMENGESCHICHTE IN DER THEOLOGIE DES 19. JAHRHUNDERTS „Nun aber ist die Aufgabe nicht eine Geschichte der Theologie, sondern des Dogma; und das Richtige wird doch wohl seyn, daß aus dem Wesen und Inhalte des Dogma selbst seine Entwickelungsstadien sich ergeben" ( C H R . F R . K L I N G in ThStKr. 1 8 4 1 , H . 3 S. 8 0 2 ) . Das mir aufgegebene Thema heißt nicht: Dogma und Evangelium1, auch nicht: Kerygma und Dogma2. Vom „Primat der Christologie"3 wird mindestens nicht thematisch die Rede sein können. Rahmen und Grenze des Themas sind also zu respektieren, auch wenn vielleicht mancher heute den anders nuancierten Themen mehr theologisches Interesse entgegenbringen möchte. Unser Thema dagegen wirkt abstrakt. Es läßt die Inhalte der Dogmenbildung draußen, wenn auch die Frage nach dem Ursprung des Dogmas im Evangelium nicht völlig ausgesperrt bleiben kann. Aber gerade darin wird es dem Geist des 19. Jahrhunderts zutiefst gerecht, sofern sich dieser Geist (im theologischen Bereich zumal) mit nichts so intensiv glaubte befassen zu müssen wie mit der Geschichte, während die Rezeption der Dogmeninhalte selbst allenthalben weniger intensiv geschah4. 1

V g l . d i e e b e n e r s c h i e n e n e M o n o g r a p h i e v o n FRIEDR. W I L H . KANTZENBACH,

Evangelium und Dogma, Die Bewältigung des theologischen Problems der Dogmengesdiichte im Protestantismus, Stuttgart 1959, 315 S. 2

Vgl.

den

grundlegenden

Beitrag

von

ERNST

WOLF,

„Kerygma

und

Dogma?", Antwort, K. Barth zum 70. Geburtstag 1956, 780—807 und das Gesamtprogramm der Zeitschrift „Kerygma und Dogma" (seit 1955). 3 Vgl. den so betitelten Beitrag von H. J. IWAND ebenda S. 172—189, aber auch die ältere Monographie von ERNST GÜNTHER, Die Entwicklung der Lehre von der Person Christi im 19. Jahrhundert, 1911, 434 S. 4 Es müßte einmal dargestellt werden, wie im 19. Jahrhundert Repristination und Reduktion unvermeidlich Hand in Hand gehen. E . GÜNTHER bemerkt zu

22

Karl-Gerhard

Steck

Nun ist Dogma niemals nur inhaltliche Aussage, sondern Setzung mit ganz spezifischer Autorität. Auch wo Dogmatik längst zur Glaubenslehre geworden ist, bleibt immer noch der Stachel dieser spezifischen Autorität, den auch die freisinnigsten Theologen des 19. Jahrhunderts gespürt haben und spüren lassen. Dem wirklich umfassend nachzugehen, ist im Rahmen dieses Versuchs unmöglich; es könnte nur in einer Gesamtdarstellung der systematischen Theologie des 19. Jahrhundert unternommen werden5. Wir beschränken uns also bewußt auf die Untersuchung der Frage, wie man damals über die Beziehung zwischen Dogma und Dogmengeschichte gedacht und gelehrt hat. Die Autoren der Dogmengeschichten sind dafür die wichtigsten, wenn auch nicht die einzigen Gewährsleute, ohne daß sie in trockener Vollständigkeit zu Worte kommen sollen. Nur die mir erkennbaren Grundlinien können aufgezeigt werden. Das Feld der Gestalten und Gedanken ist so weit und so dicht bewachsen, daß z. B. auch die gewiß vorhandenen gegenseitigen Beeinflussungen nicht eigens untersucht und beurteilt werden können. Zeitlich reicht das 19. Jahrhundert bis 1914 und kann ohne eine, wenn auch unerlaubt knappe Darlegung seiner das Thema betreffenden Voraussetzungen nicht verstanden und skizziert werden. I Die Frage nach dem Verhältnis von Dogma und Dogmengeschichte (DG) hat im Bereich der reformatorischen Theologie noch kein spezifisches Gewicht. Das Dogma wird dort intensiviert und mobilisiert, ohne daß beide Vorgänge gegeneinander ausgespielt werden dürften6. Das Dogma der wohl imposantesten Lehr-Repristination jenes Jahrhunderts, zu FR. AD. P H I L I P P I , Kirchliche Glaubenslehre (1854 ff.): „Und schließlich ist auch bei Philippi eines modern •—• bescheiden modern möchte ich sagen —: die systematische Anlage an dem Leitfaden der Idee der Wiederherstellung der ursprünglichen Gottesgemeinschaft, wo es sich bei den Alten um articuli, um credenda und agenda gehandelt hatte" (a. a. O. S. 164). — Die Dogmatik, Darstellung der christlichen Glaubenslehre auf reformiert-kirchlidier Grundlage von EDUARD B Ö H L (Amsterdam-Leipzig-Basel 1887) wird freilich von E . GÜNTHER gar nidit erwähnt. 5 Die eindrucksvollste Einleitung dazu immer noch und immer wieder K. B A R T H , Das Wort in der Theologie von Schleiermacher bis Ritsehl (Die Theol. u. d. Kirdie, Ges. Vortr. Bd. 2, 1928 S. 190—211). 8

Vgl. mein ,Undogmatisches Christentum?' (ThExh NF 48) 1955, 23 ff.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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ist für L U T H E R , wie I W A N D mit Recht betont hat, „die Zusammenfassung und Bestätigung der Selbstoffenbarung Gottes in der Schrift ... die öffentliche Kundmachung der Tat und des Willens Gottes an alle Welt... Das Dogma ist gleichsam die Zusammenfassung aller Helligkeit der Schrift in einem Brennpunkt, in der Verkündigung der Menschwerdung, des Opfers und der Auferstehung Christi"1. Indem sich L U T H E R vom letztlich undogmatischen Christentum des E R A S M U S SO leidenschaftlich abgrenzt und absetzt, stiftet er aller reformatorischen Theologie den Dogmatismus ein. Nie ist dogmatische Autorität energischer empfunden und entschlossener gehandhabt worden als im 16. und 17. Jahrhundert, kaum jemals auch mit größerer Strenge die inhaltliche Bestimmtheit von Dogma und Lehre betont worden. Gewiß ist Dogma für L U T H E R auch Funktion und Beziehung, und dies in mehr als einer Hinsicht: zwischen Schrifttext und Verkündigung, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und — Zukunft8, zwischen den biblischen Zeugen in ihrem einzigartigen Vorrang und den Zeugen von heute9. Aber es hieße L U T H E R S Lehrdenken modernisierend verkennen, wollte man das Pochen auf die Lehrformel als Identität der weiterzugebenden Wahrheitsaussage außer Acht lassen oder als bloße rückständige Entgleisung betrachten. Es führt eine gerade Linie von dieser Intensivierung des Dogmas, vom Dogmatismus und Doktrinarismus L U T H E R S zur protestantischen Orthodoxie und ihrer Scholastik. Mit der Intensivierung geht die Mobilisierung Hand in Hand. Sie wird am stärksten wirksam in der Uberordnung der Schrift über die Tradition, in der kritischen Durchmusterung dieser Tradition, die bei L U T H E R zu einer sehr nüchternen Beurteilung der Konziliengeschichte, insbesondere zu einem radikalen Abbau des Mythos vom Konzil überhaupt führt10. Nicht weniger wirkt sich L U T H E R S leidenschaftliche Ablehnung jeder Art von fides implicita aus: der rechte Glaube und die reine Lehre ist in Verantwortung und Erfahrung jedes Einzelnen und der Ge7 Kommentar zu LUTHERS ,De servo arbitrio' in der Mündiener LutherAusgabe, Erg.-Band I, 1954 3 S. 271 f. Es handelt sich dabei um LUTHERS grundlegende Aussagen gegen ERASMUS W A 18, 603 ff. Cl. 3, 98—101. 8 Man erinnere sidi an die vielfachen Mahnreden LUTHERS in den Disputationen, die geradezu Zukunftsprognosen darstellen. 9 Daß LUTHER diesen Vorrang auch relativieren kann, zeigen die bekannten Sätze 50—61 aus den Thesen ,De fide' (Drews S. 10). 1 0 Vor allem in ,Von den Conciliis und Kirchen' 1539, wesentlich im 2. Teil W . A. 50, 547 ff. E. A. 25, 322 ff. — Das Material zur .Auflösung' des Dogmas bei LUTHER am vollständigsten bei H. GRISAR, Luther III, 364—397, 1912.

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meinde gestellt. So führt a u c h eine Linie von LUTHERS Position zum christlichen Individualismus der Neuzeit11. Aber auch damit ist die spezifische Frage nach Dogma und Dogmengeschichte noch lange nicht gegeben. Zunächst sichert die protestantische Orthodoxie die Autorität des Dogmas durch philosophische Systematisierung und läßt sie noch stärker sichern durch politisch-rechtliche Bestimmungen, die bis weit ins 19. Jahrhundert reichen. Sie rationalisiert dabei die dogmatische Tradition in vielfacher Weise, am stärksten durch den Vor- und Unterbau einer theologia naturalis. Die historischen Interessen stehen ganz im Dienst der konfessionellen Polemik und ihres seltsam naiven absolutistischen Wahrheitsanspruchs. Der Dualismus der Geschichtsbetrachtung: göttliche Wahrheit gegenüber dämonisch-diabolischer Eingebung und Verführung, reine, rechte Lehre gegen Häresie, ist im Bewußtsein der maßgebenden Autoren der Orthodoxie noch unerschüttert. Weder kann sich CALIXT noch etwa gar einer der vielen Außenseiter durchsetzen, die sich einen ganz andern Vers auf den Ablauf der Lehrgeschichte machten12. Weder ,das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert'13 noch ,die Krise des europäischen Geistes'14 lassen mehr spüren als „die allerersten Vorzeichen einer kommenden Revolution des Denkens, eben der, die wir darstellen wollen"15. Die Fülle der historischen Gelehrsamkeit ist noch nicht von dem Schwung einer eigenen und eigentlichen Geschichtsphilosophie getragen. Im deutschen Bereich zumal ist der kirchlich-orthodoxe Dogmenbestand und das ihn sichernde System zwar von vielen Seiten her in Frage gestellt, aber in seiner Herrschaft nicht erschüttert, geschweige denn beseitigt. Für den uns beschäftigenden Bereich geschieht das erst in der theologischen Arbeit des 18. Jahrhunderts. Dort wird nun allerdings die dogmengeschichtliche Fragestellung zu einem wichtigen, wenn nicht dem wichtigsten Instrument der kritischen Auflösung der Dogmenautorität. Was sind die wichtigsten Motive dieses Vorgangs, für den SEMLER der wesentliche Gewährsmann ist?18 11 Darüber am eindringlichsten E . HIRSCH, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, Lutherstudien Bd. I 1954.

Es sei nur an J. ACONTIUS, Stratagemata Satanae (ed. W . Köhler 1927) erinnert. 1 3 Vgl. W . DILTHEY, Ges. Sehr. I I , 1957 5 , 90—245. 12

14

Vgl. das gleichnamige Buch von P. HAZARD 1939.

15

FR. MEINECKE, Die Entstehung des Historismus 1936 I S. 13.

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„Ungeachtet die von Gott selbst, theils durch die Natur, theils durch die heilige Schrift geoffenbarten Religionswahrheiten weder eine Veränderung nöthig haben, noch an sich selbst, wenn sie alte Wahrheiten bleiben sollen, einer solchen fähig seyen, so lehre doch die Erfahrung, dass die Erkenntniss dieser Wahrheiten unter den Menschen ebenso, wie andere Arten der menschlichen Wissenschaften, ihre Abänderungen und Schicksale gehabt habe, und daher allerdings eine gegründete Nachricht von den Veränderungen der christlichen Religionslehren gegeben werden könne": so läßt sich noch kurz vor S E M L E R der jüngere W A L C H vernehmen17. Für ihn ist die Unveränderlichkeit der christlichen Wahrheit das eigentlich Selbstverständliche; die dennoch unleugbaren Abänderungen sind das Problem, dem er sich nur mit Unbehagen nähern und doch auch nicht entziehen kann. Für S E M L E R ist eben diese Ansicht unhaltbar. „Sagte man, die Seligkeit der Christen sei von Gott, von Christus, von irgend einem Apostel an eine einzige, lange nachher festgesetzte Summe von Ideen und Urtheilen gebunden worden, und diese einzige Summe hätte eben die katholische Kirche ganz allein in Händen, um mit ihrer Unveränderlichkeit die Seligkeit aller ihrer Mitglieder zu sichern, so ist dieß die allerunwürdigste Behauptung, die je von bösen oder ganz unwissenden Menschen aufgebracht und beibehalten werden kann"1*. Hier wird nicht nur der „freie Geist der Historie" gedämpft, und aus der wirklichen Geschichte der christlichen Wahrheit „eine schon verfertigte Komödie, ein schon völlig entworfenes kirchliches Schauspiel" gemacht19, sondern „es wird die ganze Moralität der neuen geistlichen oder vollkommenen Religion geradehin aufgehoben"20, der ursprüngliche Charakter und Zweck der christlichen Wahrheit und Religion überhaupt verkehrt. Denn „die unendliche Wohltat Christi, das große, blos moralische, nicht physische Verdienst Christi begreift einen unaufhörlichen, 16

V g l . d a z u W . PHILIPP, E K L I I I , S p . 9 3 3 — 3 5 , d e r d i e s t a r k e

Abhängigkeit

SEMLERS von der englischen Entwicklung betont. 17

CHR. WILH. FRZ. WALCH

(1726—1784),

Gedanken

von

der

Geschichte

der Glaubenslehre 1756, 1764 2 , hier zitiert nach F. CHR. BAUR, Lehrb. d. christl. DG 1847 S. 37. — Über WALCH vgl. R E 3 20, 796 mit überaus charakteristischen Zitaten. 1 8 J. S. SEMLER, Neue Versuche, die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären, zit. nach F . CHR. BAUR, Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung 1852, S. 136. 1 9 Ebenda. 20

3

Ebenda.

Schneemeldier, T h e o l o g e n t a g

1960

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unerschöpflichen Schatz von moralischen Begriffen und Urtheilen, welche in dem Glauben der einzelnen Christen nach unzähligen Stufen unendlich fort entwickelt und praktisch angewendet werden"21. Für die hernach eingetretene dogmatische Verfestigung der christlichen Lehre sind nach S E M L E R lediglich politische Gründe anzuführen. „Alle jene Ordnungen und Vorschriften der Bischöfe sind zunächst nur das politische Band der zusammengehörigen Mitglieder einer öffentlichen lokalen Religionsgesellschaft — aber die moralische Religion soll nun erst neben dieser äußerlichen Religionsgesellschaft als eigener, innerlicher Zustand aller einzelnen Christen existiren in viel tausend Stufen"22. Das ist ein Emanzipationsvorgang sondergleichen. S E M L E R S Leidenschaft richtet sich zunächst gegen das Hierarchisch-Politische der herkömmlichen Dogmenverbindlichkeit, ohne daß man ihm einen besonderen antirömischen Affekt zuschreiben müßte. Aber dabei zerbricht natürlich auch die Kontinuität der dogmatischen Überlieferung, die doch ein wesentliches Element ihrer autoritativen Geltung war. S E M L E R lehnt sich dagegen auf sowohl im Namen dessen, was im Evangelium ursprünglich gemeint war und was nur vom Individuum in der unbeschränkten Vielfalt seiner Aneignungsstufen wirklich aufgenommen werden kann, wie im Namen des „freien Geistes der Geschichte", der sich nichts mehr vormachen läßt. Er erkennt und betont angesichts der Dogmenbildung die innerweltlichen, untheologischen Faktoren, und öffnet damit der pragmatischen Dogmengeschichte Tor und Tür, deren Stil sich dann bis tief ins 19. Jahrhundert fortsetzt und weiterwirkt — viel gescholten und verachtet und doch die nicht mehr wegzudenkende Grundlage der DG als positiver Forschung und Wissenschaft. Aber es zeigt sich schon bei Ebenda S. 143. Dort noch weitere in ihrer Leidenschaftlichkeit bezeichnende Zitate. 21

22 Ebenda. E. HIRSCH hat SEMLERS Zielsetzungen m. E. fast zu müde beschrieben, wenn er sie folgendermaßen zusammenfassend charakterisiert: „Das Ziel ist deutlich, durch Aufweis des menschlichen Ursprungs, der geschichtlichzufälligen Bedingtheit und der unübersehbar großen Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit von Dogma und Dogmatik die Erstarrung der systematischen Theologie zu einem von Geschlecht zu Geschlecht weitergegebenen und mit der göttlich geoffenbarten Wahrheit sich gleichsetzenden Gefüge von Begriffen, Lehrsätzen, Schematen und Beweisen behutsam aufzulösen und das theologische Denken zur Selbständigkeit, Beweglichkeit und Weitherzigkeit zu erziehen" (Gesch. d. neuern evang. Theol. IV, 51). Ich verspüre einen viel stärkeren emanzipatorischen Elan.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 27 SEMLER auch das andere: die DG hat ihren eigentlichen und stärksten Antrieb in der antidogmatischen Tendenz. Sie erkennt und beschreibt die geschichtlichen Umstände der Dogmenentstehung und -entwicklung mit dem Ziel, den noch immer spürbaren Druck des Wahrheitsanspruchs der kirchlichen Dogmen zu bekämpfen und zu überwinden. Die wichtigsten Vertreter dieser emanzipatorisch-polemischen DG sind in unserm Zeitraum D. F R . STRAUSS und später A D O L F VON H A R N A C K ; jener bezieht dabei die neutestamentliche Voraussetzung und Grundlage des Dogmas vollständig ein, dieser klammert das ,einfache Evangelium Jesu' aus und würdigt die Leistung der Reformation in Auswahl, behält aber dem dogmenlosen Neuprotestantismus die Unmittelbarkeit zum Neuen Testament vor23. Unter den weniger bedeutenden Geistern wäre etwa A. DORNER, der Sohn des großen Schwaben, zu nennen, der programmatisch zur endgültigen Liquidation aufruft24. E R N S T T R O E L T S C H zieht nur die Bilanz25. Alle dogmengeschichtliche Forschung hat sich mit dieser antidogmatischen Tendenz auseinanderzusetzen, und es ist eine

23 Vgl. HARNACK, Dogmengeschichte (Grundriß), 7 . photomech. gedr. Aufl. o. J. S. 38: „Den sog. orthodoxen Protestantismus aber darf man überhaupt nicht über den Katholizismus hinweg mit dem Urchristentum konfrontieren, da er als kirchliche Erscheinung sich nicht von der Folie des Katholizismus loslösen läßt. Wohl aber läßt der freie Protestantismus eine Vergleichung mit dem Kern der Verkündigung Jesu und mit dem Paulinismus als religiöser Ethik zu."

Vgl. AUGUST DORNER, Heilsglaube und Dogma — in dem schon durch seinen Titel für unser Thema wichtigen und für die Lage vor 1914 sehr bezeichnenden Sammelband: Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion, hg. v. A . DEISSMANN U. a., München, J . F . Lehmanns Verlag 1 9 0 5 , 1 3 9 — 1 8 2 . Dort heißt es S. 1 8 1 : „Die Dogmen sind nicht mehr nötig in dem Sinne, daß die kirchlichen Gemeinschaften bestimmte Lehren auktoritativ fixieren. Die Freiheit eines Christenmenschen soll sich auch in der Freiheit des erkennenden Bewußtseins bewähren, und die innere Notwendigkeit der Sache und der Sinn für das Notwendige, Allgemeingültige, der allem Willkürlichen entgegentritt und in der höchsten religiösen Vernünftigkeit sein Gesetz findet, tritt an die Stelle der Auktorität. Denn das Christentum ist seinem Prinzip nach die rationale, der Idee der Religion entsprechende Religion, und wenn es auch als universale Religion imstande sein muß, das Allgemeingültige in individuellen Erscheinungsformen darzustellen, so bleibt darum doch die Allgemeingültigkeit des Prinzips bestehen." 25 Vgl. außer den merkwürdig leblosen Darlegungen TROELTSCHS zum Stich24



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offene Frage, ob jene Tendenz nicht doch die Oberhand behalten hat. Erst nach dem großen Umschwung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wird sich dann eine DG positiver Zielsetzung herausbilden. Sie arbeitet mit philosophischen Mitteln und verschafft so der DG Glanz und Überzeugungskraft wie nie zuvor, oder sie verknüpft wenigstens die philosophischen Kategorien mit neuen ekklesiologischen Gesichtspunkten und versucht so die polemisch-emanzipatorische Forschungsrichtung zu überwinden. Es ist aber zu beachten, daß es nirgends zu einer wirklichen Wiederherstellung der früheren Dogmengeltung kommt. Es bleibt bei einer letztlich nur dogmengeschichtlichen Würdigung des alten Erbes in vielen verschiedenen Ausprägungen und Spielarten. Die reichhaltige theoretische und praktische Debatte über die Lehrgeltung und -Verpflichtung26 bleibt ohne wirkliches Ergebnis. Umgekehrt hat die Theologie des 20. Jahrhunderts zwar die Kategorie des Dogmatischen wieder in Kurs gebracht, und sogar in der Philosophie gewinnt sie Beachtung27. Aber eine von dort aus bestimmte neue DG haben wir bis heute nicht; mindestens ist sie über Ansätze nicht hinausgelangt28. Eben darin besteht auch das eigentümlich Aktuelle unseres Themas. wort ,Dogma' in der 1. Auflage der RGG (Bd. II Sp. 105 f.) den sehr charakteristischen und gedankenreichen Vortrag „Über die Möglichkeit eines freien Christentums" vor dem 5. Weltkongreß für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt in Berlin 1910, hrsg. v. M. FISCHER U. FR. M. SCHIELE, S. 333—349. 2 6 Einige Literaturangaben dazu in R E 3 19, 196, 53 ff.; außerdem u.a. CHR. E. LUTHARDT, Die Synoden und die Kirchenlehre, Leipzig 1871, 56 S.; E. CHR. ACHELIS, Zur Symbolfrage, 2 Abhandl. Berlin 1892, 52 S.; SCHREMPF, Zur Pfarrersfrage, Stuttgart 1893, 52 S.; aus der gleichen Zeit die „Hefte zur

Christlichen W e l t " m i t B e i t r ä g e n v o n M. RADE, KATTENBUSCH, A. HARNACK, W . HERRMANN, H . H . W E N D T , J U L . KAFTAN U. a . , 1 8 9 2 ff.; e i n e z u s a m m e n f a s s e n d e ,

wenn audi einseitig urteilende Darstellung bietet H. HERMELINK, Das Christentum in der Menschheitsgeschichte Bd. III, 1955, 551—575; etwas einseitig in umgekehrter Richtung in seiner Schilderung der bayer. Lage vor 1914 MANFR. SEITZ, Hermann Bezzel, 1960, 43 ff. 2 7 Vgl. E. ROTHACKER, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, Abhandl. d. geistes- u. sozialwissenschaftl. Klasse der Akad. d. Wissensch, und d. Lit. in Mainz Jahrg. 1954 Nr. 6, 60 S. 28

V g l . K . ALAND S. v . D o g m e n g e s c h i c h t e R G G 3 I I , 2 3 0 — 2 3 4 ; f e r n e r F .

KANTZENBACH a . a . O

S . 2 0 6 ff.

W.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts

29

II Zunächst herrscht in unserem Zeitraum die pragmatische Methode der DG. „Da die Anfänge der Dogmengeschichte als einer selbständigen theologischen Disciplin in eine Zeit der wachsten Reflexion oder Selbstbesinnung -fallen, so ist es natürlich, daß auch von Anfang an über ihre Form und Methode reflectiert wird", bemerkt ein Berichterstatter im Rückblick von 184129. So wird denn auch dem bekannten ,Handbuch der christlichen Dogmengeschichte' von WILHELM MÜNSCHER 3 0 eine ausführliche und höchst instruktive Einleitung vorausgeschickt, an Hand deren ich hier die Grundzüge der pragmatischen Methode aufzeigen will. „Die Dogmengeschichte zeichnet also den Gang, den der theoretische Theil der christlichen Religionslehre von ihrem Anfang an unter dem Menschengeschlechte genommen hat, wenn sie bald von den Menschen entstellt und verdorben, bald wieder von unächten Zusätzen gereinigt wurde. Sie beantwortet die Frage: Wie und wodurch ist die christliche Lehre nach und nach in die Gestalt gekommen, in der wir jetzt sie haben? Durch welche Veränderungen ist sie hindurch gegangen, seitdem sie zuerst gegründet wurde, und welche Ursachen haben sowohl auf ihren Inhalt als auf die Form ihres Vortrags gewirkt?"31. Der Begriff der DG wird also in denkbar unbeschränkter Weite genommen; erst allmählich setzt sich die Reflexion auf den Unterschied zwischen Dogmenund Theologiegeschichte durch. Das Hauptinteresse richtet sich auf die Veränderlichkeit und tatsächliche Veränderung der christlichen Lehre. Wesentlich ist dabei die Erkenntnis der nichttheologischen Faktoren für die Dogmenentwicklung. Nicht nur die politisch-sozialen oder auch die philosophisch-weltanschaulichen Faktoren werden erkannt, sondern man fragt auch nach der Rolle, die die Sprache, das Klima und die geographischen Bedingungen dabei spielen32. Die Ursachen der Veränderungen werden folgendermaßen bezeichnet und klassifiziert: „1) Die Natur des menschlichen Geistes überhaupt. 2) Die besondern äußern Umstände, unter welchen die Christen leben. 3) Die veränderten Redürfnisse der Zeit. 4) Die Veränderung der Hülfsmittel, welche die Christen zur Er2 9 CHR. FR. KUNG in seinen ausgezeichneten Forschungsberichten über ,dogmenhistorische Literatur', Theol. Stud. u. Krit. 13, 1840, 1051—1152; 14,

1 8 4 1 , 7 4 9 — 8 5 2 . D a s Z i t a t i m 2. B e r i c h t S. 7 4 9 . — Ü b e r KLING vgl. R E 3 s. v. 30

Ich zitiere nach Band I der 2. Aufl. Marburg 1802.

31

A. a. O. S. 6.

32

A. a. O. S. 19 ff.

30

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läuterung und Verteidigung ihrer Religion anwendeten"33. Die gesamte Tradition einschließlich des biblisdien Ursprungs wird dem Zugriff der pragmatischen Forschung ausgeliefert 34 . Die Norm des positiv zu Beurteilenden ist der Zustand der Freiheit. „Der wichtigste Umstand aber, wovon der Fortschritt oder Rückschritt der Dogmatik abhängt, ist der Zustand der Freyheit, zu untersuchen und seine Gedanken mitzutheilen"35. Dabei ist man ganz ungebrochen der Zuversicht: „Durch freye Untersuchung, wenn sie mit Unparteilichkeit und Bescheidenheit angestellt wird, muß die Wahrheit unfehlbar am Ende gewinnen"36. Beachtlich erscheint mir die Skepsis, mit der M Ü N S C H E R über die Verbindung der Theologie mit der Philosophie urteilt, zunächst im Blick auf den damaligen Umgang der Theologen mit der Philosophie K A N T S , dann aber A. a. O. S. 14 ff. Das Auftreten Jesu wird an den Anfang der ,Allgemeinen Geschichte der Dogmatik' gestellt (S. 109 ff.). Vgl. auch den von KLING a. a. O . S. 781 mitgeteilten Aussagezusammenhang von SCHNITZER in seiner Rezension der DG von J. G. V. ENGELHARDT (2 Bde Neustadt a. d. Aisch 1839) in der Hall. Allg.Lit. Ztg 1840 Sept. Nro. 153 ff.: „Da die Voraussetzung, daß der Inhalt des neuen Testaments im Gegensatze zu den christlichen Lehrmeinungen das Unveränderliche sey und gleichsam das Fundament der DG bilde, auf der durch die historische Kritik zerstörten Annahme beruhe, daß das neue Testament eine besondere Art von Schriften sey, die Ein Ganzes, und deren Erklärung von andern Grundsätzen ausgehen müsse, als die der kirchlichen Litteratur; da die historische Kritik gezeigt habe, daß schon im neuen Testamente bedeutende Veränderungen im Lehrvortrage vorkommen, so falle auch sein Inhalt in die DG und müsse in seinen Hauptsätzen nach ihrer Methode behandelt werden, wodurch jedoch die biblische Theologie nicht absorbirt werde, da diese vom Principe der Offenbarung ausgehe und die Einheit im Ganzen suche, während die DG, welche auch auf den Lehrvortrag und die Beweisart sich nicht näher einlasse, nur die Unterschiede zeige. Die ausschließende Grenze der DG sey die Thatsache der Stiftung des Christenthums; denn mit Thatsachen habe sie es nicht zu thun, außer sofeme diese in bestimmte Lehrsätze aufgenommen und zu Glaubens-Wahrheiten erklärt worden seyen. Ihr Anfang sey also der erste Lehrsatz, worin jene Thatsache ausgesprochen sey: Jesus ist der Christ.' Diesen habe sie mit seinen Consequenzen und in seiner vielfachen Auffassung schon durch die neutestamentliche Litteratur zu verfolgen." — Man sieht, was G. KRÜGER noch und wieder am Ende des Jahrhunderts bekämpft, ,Das Dogma vom Neuen Testament' (1896, 40 S.) war schon in jenem Ursprungsstadium der DG abgetan. 33

34

35

MÜNSCHER, a . a . O . S. 2 4 .

36

Ebenda S. 25.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 31 ganz allgemein37. Ist auch der ganze Umgang mit der DG für den pragmatischen Forscher von eigentümlicher Skepsis bestimmt, so sieht er sich doch nicht völlig steuerlos gegenüber ihrem Auf und Ab. „Durch die Dogmengeschichte wird nämlich die Scheidung des ächten Christenthums von unächten Zusätzen ungemein erleichtert"3*, aber M Ü N S C H E R fügt alsbald hinzu, daß diese „Scheidung der Lehre Jesu von fremdartigen Zusätzen auf dem historischen Wege zwar vorbereitet, aber nicht vollendet werden kann"39. Weder der Erweis des hohen Alters einer überlieferten Lehre, noch ihr mehr oder weniger spätes Auftauchen entscheidet über die Wahrheit. Der geschichtliche Befund läßt den Forscher und Betrachter in der Schwebe. „Kann man gleich die Dogmengeschichte nicht als den entscheidenden Probirstein, was acht christlich, oder nicht sey, ansehen; so bleibt sie doch immer ein schätzbares Hülfsmittel zu diesem Zweck"i0, „weil sie geschickt ist, den Theologen gerade in die Geistesstimmung zu versetzen, deren er zu der glücklichen Bearbeitung seines Fachs so sehr bedarf"41, nämlich einer bescheidenen Einschätzung seiner selbst und der Vor- und Mitwelt in bezug auf das Finden der Wahrheit42. Uber den letztlich entscheidenden Zusammenhang zwischen Evangelium und Dogmenentwiddung findet M Ü N S C H E R nur den recht änigmatischen Satz: „Alle diese angeführten Ursachen wirkten auf die Bildung der Dogmen bald mehr bald weniger, bald stiller und unmerklicher, bald lauter und offenbarer. Immer lag die Lehre Jesu zum 37 Ebenda S. 47: „Als unbefangener Zuschauer wird er also in dem gegenwärtigen Falle den einzigen Wunsch hegen, daß die Theologen die wichtigen Winke und Aufklärungen, die Kant ihnen gegeben hat, dankbar nützen mögen, aber ohne durch das Ansehn eines großen Mannes ihrem eigenen Nachdenken Fesseln anlegen zu lassen, und in blinde Nachbeterey zu versinken, ohne die Exegese durch philosophische Künsteley zu entstellen, und ohne den populären Religionsunterricht mit unverständlichen Wörtern zu überladen." 38 Ebenda S.42. 39 S. 43. 40 S. 44. 41 S. 45. 42 S. 46: „Wer in ihr (der DG) den Wechsel der Vorstellungen, die oft eben so schnell als die Moden der Frauenzimmer auf einander folgten, beobachtet, wer in ihr gesehen hat, wie einmal das als unumstößliche Wahrheit behauptet wurde, was ein folgendes Zeitalter als Irrthum verwarf, der wird anfangen ein bescheidenes Mistrauen in menschliche Meinungen, und folglich auch in seine eigne zu setzen."

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Grunde, aber die Modificationen, welche sie erhielt, waren unzählig"*3. Wer daher die DG pragmatischer Provenienz vor allem von dieser grundsätzlichen Frage nach der letzten Wahrheitsnorm aus beurteilt, wird sie nicht hoch einschätzen können, und die vielfache und herbe Kritik, die sie inzwischen erfahren hat 44 , nur allzugut verstehen und gerne bejahen. Audi ihre mechanische Unterscheidung von allgemeiner und spezieller DG, die groben Periodisierungen und die Einbeziehung nahezu der ganzen Theologiegeschichte sind mit Recht oft genug getadelt worden. Und doch hat diese vielgescholtene pragmatische DG gerade wegen ihrer Nüchternheit und der Distanz, mit der sie ihr Objekt behandelt, einen eigentümlichen Reiz: es findet sich in den Werken jener Zeit nicht nur manche Erkenntnis, die dann wieder verloren ging und erst sehr viel später oder heute als bedeutende Errungenschaft der Forschung neu auftaucht45, sondern ohne den Verfremdungseffekt der pragmatischen Methode der DG dürfte es überhaupt keine echte Erkenntnis auf jenem ganzen Gebiet geben. Nur so kommt das Innerweltlich-Profane, das Zufällig-Belanglose der Dogmenentwicklung auch zum Vorschein, das man sich nicht verbergen darf, wenn ihre wahre Problematik sich erschließen soll. III Den Pragmatikern selbst ist eine solche Betrachtung freilich nicht zuzuschreiben oder nachzuweisen. M Ü N S C H E R ist die eigentümliche Würde und Größe seines Gegenstands kaum bewußt. Sonst müßte er nicht mit solcher sichtlichen Mühe die Argumente für Nutzen und Wert der DG zusammenstellen. Er mußte ja selbst feststellen, daß sie mit der Ausmittelung der ursprünglichen christlichen Wahrheit, an der auch ihm liegt, nicht direkt zu tun hat. Und das Bild des ständigen Auf und Ab der mehr oder weniger zufälligen Wandlungen bleibt ohne eigentliche 43

Ebenda S. 42.

44

F R . LOOFS i n R E

3

4 , 7 5 5 f . , KANTZENBACH a . a . O . S . 1 0 5 ff.

So finde ich die entscheidende These von W . BAUERS Werk, Rechtgläubigkeit und Ketzerei 1934 bereits in dem knappen § 11 des MüNSCHERsdien Lehrbuchs in dessen letzter, von DANIEL V. COELLN 1832 herausg. Fassung: 45

„Die Ansichten und Überzeugungen der Menschen, welche in der ersten Zeit zu der christlichen Gesellschaft traten, konnten nicht anders als höchst ungleich und mannichfaltig seyn, da sie durch Religion, Erziehung, Gewohnheit und andere Verhältnisse aufs äusserste verschieden gewesen waren, und es Zeit kosten musste, bis der Geist der ganzen Gesellschaft die Eigenheiten der Einzelnen vernichtete oder wenigstens minderte" (S. 14).

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 33 Tiefe, die Darstellung ohne Telos. Denn das echte Zielbewußtsein der damaligen dogmen- und kirchengeschichtlichen Forschung liegt ja ganz jenseits der Entwicklung, die sie beschreiben. Wenn M Ü N S C H E R in der D G auch den „ K a m p f des Aberglaubens mit der wahren Religion"46 erblickt, so ist er schließlich mit seinem Vorgänger S P I T T L E R gewiß darin einig, daß dieser Kampf erst gewonnen ist, wenn die Christenheit sich vollends vom Erbe der D G befreit hat 47 . Es war weder unberechtigt noch unverständlich, wenn ein neues Geschlecht in einem neuen Stadium der D G auf jenen Pragmatismus sehr kritisch zurück- und herabgeblickt hat. Aber wem kommt das Verdienst zu, dieses neue Stadium der D G heraufgeführt zu haben? Niemand wird die hohen Verdienste H E R D E R S , der Romantik um 1800 und der klassischen Geschichtsschreibung im ganzen ersten Drittel des neuen Jahrhunderts um die D G verkennen. Noch weniger dürfen hier die Namen von S C H L E I E R M A C H E R und A. N E A N D E R übergangen werden 48 . Aber den bedeutendsten Beitrag hat die Handb. I 2 , 1 8 0 2 S . 3 . L. T I M . ( F R H . V.) SPITTLEH endigt seinen ,Grundriß der Geschichte der christl. Kirche' (1784) bekanntlich zunächst mit einer Klage über die Zunahme des Unglaubens, schließt aber dann folgendermaßen: „So traurig die Aussichten sind, welche sich durch diese Betrachtungen eröfnen, so vermindert sich doch ein großer Theil ihrer Furchtbarkeit, wenn man zugleich wahrnimmt, daß sich die Moralität vieler Menschen, in unserem Zeitalter weit weniger als in allen vorhergehenden, einzig auf Christliche Religion gründet, daß die aufgeklärtesten Männer, wenn je etwa ihre Privatmeynung nicht völlig entschieden für Christi. Religion ist, die ganze Größe des Schadens doch kennen, welche jede laute Erklärung einer solchen Privatmeynung anrichtet, daß innerhalb zwanzig bis dreyßig Jahren die ganze theologische Generation, welche sich gegenwärtig durch Spalding's und Herders und Döderleins Schriften bildet, überall in Consistorien sitzen, und durch ihre weise Veranstaltungen endlich auch in allgemeine Ausübung bringen wird, was bisher oft nur noch Wunsch schüchterner Weisen oder fast kühne Unternehmung einzelner entschlossener Aufgeklärten war" (Sämtl. Werke 1827, II, 434). 46

MÜNSCHER,

47

4 8 Für SCHLEIERMACHER wäre zu verweisen auf K. D . 2 § 1 7 7 ff., außerdem auf die dogm. geschichtl. Stücke in Bd. II der Werke zur Theol. und auf die aus dem Nachlaß von BONNEL hg. Kirchengeschichte. Eine spezielle Würdigung Schl.'s als Dogmengeschichtler kenne ich nicht, weise aber auf die neue Monographie K L . M. BECKMANN, Der Begriff der Häresie bei Sehl. 1 9 5 9 , hin. — Über A. NEANDER vgl. KANTZENBACH a. a. O . S. 1 1 2 ff., ferner HARNACK in: Reden u. Aufs. I , 1 9 0 4 , 1 9 3 — 2 1 8 , und schon F. Chr. Baur, Epochen S. 2 0 1 bis 2 3 2 , eine auch für das Verständnis BAURS selbst höchst wichtige Darlegung.

34

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neue DG doch HEGEL selbst und der HEGELschen Philosophie in ihrem doppelten Ausgang zu verdanken. Gerade wenn man von den matten Sätzen der Pragmatiker herkommt, ist man geneigt, bei den Sätzen der HEGELschen Geschichtsphilosophie zunächst einmal aufzuatmen. „Dies ist die Versöhnung mit Gott, der so als die Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur vorgestellt wird. Christus ist erschienen, ein Mensch, der Gott ist, und Gott, der Mensch ist; damit ist der Welt Friede und Versöhnung geworden"19. „Die Erscheinung Gottes, der nur einer ist, muß schlechthin mit dem Prädikat des Einen bezeichnet sein und alle Mehrheit ausschließen"50. Vor alles andere, was die neue DG der HEGELschen Philosophie zu danken hatte, wird eben dies zu stellen sein, daß das zentrale Dogma der Christenheit von Menschwerdung und Versöhnung wieder zu Wort kommt. Gewiß nicht primär unter dem uns geläufigen soteriologischhamartiologischen Gesichtspunkt, sondern unter Betonung der metaphysischen Sachverhalte, an denen auch die alte Kirche ihr besonderes Interesse hatte51. Aber es wäre unbegreiflich und ein sehr bedenkliches Zeichen gewesen, wenn die Theologie jener Jahrzehnte die HEGELsche Philosophie nicht als willkommenes Hilfsmittel empfunden und gebraucht hätte. Nicht anders ist es ja in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gewesen, wo fast jeder der damals Lehrenden und Lernenden seinen Hausphilosophen hatte, ohne dessen Hilfs- und Erkenntnismittel auch der damalige Aufschwung der Theologie — von dem wir heute noch leben! — kaum zu denken wäre. Der sog. Zusammenbruch der HEGELschen Philosophie in ihrem doppelten Ausgang kann jedenfalls gegen ihr Wahrheitsmoment für die Theologie und für die DG im besonderen nicht eingewandt werden, es sei denn, man argumentiere gegen die Reformation genau so, weil auch sie mehr als einen Ausgang genommen hat und schon in der ersten Folgegeneration entscheidend modifiziert wurde. HEGEL hat in seiner Philosophie der Geschichte nicht nur die rationalistische Christologie überwunden52 und die bloß historische Relation zu Christus hinter sich gelassen53. Er hat auch nicht nur eine umfassende 49

Philosophie der Gesdi. (Lasson) III, 735. Vgl. auch HEGEL, Phänomenolo-

gie des Geistes (1807), hg. von J . HOFFMEISTER, 1949 5 , 528 FF. 50 51 52 53

Ebenda S. 736. Vgl. meine Abhandlung in Evang. Theol. 16, 1956, 492 ff. Philos. d. Gesch. a. a. O. S. 737. Ebenda.

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weltgeschichtliche Interpretation des biblischen Satzes von der Erfüllung der Zeit geleistet54, sondern er hat selbst einen realen Beitrag zum Verständnis des Dogmas und der DG geliefert, und zwar in deren Beziehung zur Philosophie, zur Kirche und zum Geist. „Weil aber die Dogmen in die christliche Religion durch die Philosophie hineingekommen sind, darf man nicht behaupten, sie seien dem Christentume fremd und gingen es nichts an. Wo etwas hergekommen ist, das ist vollkommen gleichgültig; die Frage ist nur: ist es wahr an und für sich?55. Damit war der neuen DG der Weg zu einem positiven Verständnis der philosophischen Elemente der Dogmenentwicklung geöffnet. H E G E L selbst möchte ich (mit H . GLOCKNER) SO verstehen, daß er weder in der Weise des Mittelalters die Philosophie zur Dienerin der Theologie machen noch die christlichen Anschauungen philosophisch säkularisieren will56. Er erkennt ihren geschichtlich und sachlich unauflösbaren Zusammenhang und erkennt ihn an. Der ganze Gang der DG im 19. Jahrhundert beweist, daß H E G E L damit mehr zum Verständnis der DG beiträgt als die spätere Abstinenz der positivistischen Theologen. Auch die Erkenntnis von der positiven Bedeutung der Kirche für die Dogmenentwicklung findet sich schon bei H E G E L voll ausgesprochen. „Es ist die Kirche, welche jene Lehren erkannt und festgestellt hat... Im Nizäischen Konzilium wurde endlich ein festes Glaubensbekenntnis, an das wir uns jetzt noch halten, aufgestellt: dieses Bekenntnis hatte zwar keine spekulative Gestalt, aber das tief Spekulative ist aufs innigste verwebt mit der Erscheinung Christi selbst... der tiefste Gedanke ist mit der Gestalt Christi, mit dem Geschichtlichen und Äußerlichen vereinigt, und das ist eben das Große der christlichen Religion, daß sie bei aller dieser Tiefe leicht vom Bewußtsein in äußerlicher Hinsicht aufzufassen ist und zugleich zum tieferen Eindringen auffordert. Sie ist so für jede Stufe der Bildung und befriedigt zugleich die höchsten AnforderungenAuch hier möchte ich (mit GLOCKNER) darauf hinweisen, daß H E G E L das Religiöse nicht privat, sondern als Ausdruck einer GeEbenda S. 735. Ebenda 742. Dort heißt es weiter: „ . . . ist es besonders wichtig zu bemerken, daß das Dogma, das Theoretische schon in der römischen Welt ausgebildet worden ist ... Die Kirchenväter und die Konzilien haben das Dogma festgesetzt, aber zu dieser Aufstellung war ein Hauptmoment die vorhergegangene Ausbildung der Philosophie." 5 6 H. GLOCKNER, Hegel Bd. II, 1940 S. 564. 57 Phil. d. Gesch. a. a. O. S. 743, 54

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meinschaftsempfindung erlebt. Der heilige Geist offenbart sich ihm zunächst und vor allem in der Gemeinde58. Auch dieses Verständnis für die ekklesiologischen Elemente der christlichen Wahrheit bedeutet eine erhebliche Anregung für die darauf aufbauende DG. In den Aussagen über den Geist erst erreicht HEGELS Position ihre eigentliche Höhe, und gerade dort wird ihre theologische Rezeption besonders schwierig. F. CHR. BAUR zitiert mit Beifall den Satz aus HEGELS Philosophie der Geschichte (im Kapitel über die Kreuzzüge): „Es ist am Grabe Christi den Christen dasselbe geantwortet worden, als den Jüngern, welche daselbst den Leib desselben suchten: Was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? er ist nicht hier, er ist auferstanden. Das Princip eurer Religion habt ihr nicht im Sinnlichen, im Grabe bei den Todten zu suchen, sondern im lebendigen Geiste bei euch selbst"59. So wird Pfingsten für HEGELS Christus- und Dogmenverständnis grundlegend. „Die Einheit ist demnach zunächst nur in einem Individuum vorhanden; die Möglichkeit ist da, aber noch nicht die Wirklichkeit für jedes Individuum, zu dieser Einheit zu gelangen. Daher muß sie von der Unmittelbarkeit der Erscheinung an diesem Individuum zur Allgemeinheit des Geistes erhoben werden. Darum ist das sinnliche Dasein, worin der Geist ist, nur ein vorübergehendes Moment. Christus ist gestorben; nur als gestorben ist er aufgehoben gen Himmel und sitzend zur Rechten Gottes, und nur so ist er Geist. Er selbst sagt: Wenn ich nicht mehr bei euch bin, wird euch der Geist in alle Wahrheit leiten. Erst am Pfingstfeste wurden die Apostel des Heiligen Geistes voll. Für die Apostel war Christus als lebend nicht das, was er ihnen später als Geist der Gemeinde war, worin er erst für ihr wahrhaft geistiges Bewußtsein wurde"60. Die Bedenklichkeiten liegen auf der Hand und sind längst mit Ernst und Deutlichkeit ausgesprochen worden, so daß wir nicht in der Versuchung stehen, mit dem Enthusiasmus der damaligen hegelianisierenden Theologen an die Sache heranzugehen61. Und doch wäre 58

GLOCKNER a. a. O. S. 562.

59

BAUR, Epochen S. 259.

60

Phil. d. Gesch. III 736 f.

Vgl. besd. HEINR. BARTH, Die Geistfrage im deutschen Idealismus in: K. BARTH U. HEINR. BARTH, Zur Lehre vom Heiligen Geist, Beih. 1 von Z w i schen den Zeiten* 1930, 1—38. Ferner das HEGEL-Kapitel in K. BARTH, Die protest. Theologie im 19. Jahrh. 1947, 343—378. — Zur HEGEL-Interpretation vgl. auch HANS BARTH, Wahrheit und Ideologie 1949, 94 ff.; Th. W . ADORNO, Erfahrungsgehalte der Hegeischen Philosophie, Arch. f. Philos. 9, 1960, 67—89. 61

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 37 es m. E. nicht geraten, achtlos an diesen Sätzen vorbeizugehen, ihre Bedeutsamkeit nur für die Ära B A U R S anzuerkennen. Denn H E G E L gibt ja u. a. auch den biblischen Tatbestand in seiner Weise wieder, und gerade die kritisch-historische Forschung gab ihm, ohne es zu wissen oder zu wollen, in vielem Recht. Aber auch abgesehen davon: keine Theologie wird auf die Länge die Frage nach dem Medium der Gotteserkenntnis unbeantwortet lassen können. Gewiß, allzunahe rückt H E G E L dem menschlichen Bewußtsein den Geist Gottes, der Zeugnis unserm Geist gibt, daß wir Gottes Kinder sind. Aber mit der bloßen Parole der Diastase ist es auch nicht getan, sofern wir nicht wieder — zum bloßen Pragmatismus der Vorzeit zurückkehren wollen62. H E G E L gibt über das Grundproblem mit aller wünschenswerten Deutlichkeit selbst Auskunft: „Hier genüge es, über den vermeintlichen Gegensatz der Religionsphilosophie und der positiven Religion nur zu bemerken, daß es nicht zweierlei Vernunft und zweierlei Geist geben kann, nicht eine göttliche Vernunft und eine menschliche, nicht einen göttlichen Geist und einen menschlichen, die schlechthin verschieden wären. Die menschliche Vernunft, das Bewußtseyn seines Wesens ist Vernunft überhaupt, das Göttliche im Menschen und der Geist, insofern er Geist Gottes ist, ist nicht ein Geist jenseits der Sterne, jenseits der Welt, sondern Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig und als Geist in allen Geistern. Gott ist ein lebendiger Gott, der wirksam ist und tätig. Religion ist ein Erzeugniß des göttlichen Geistes, nicht Erfindung des Menschen, sondern Werk des göttlichen Wirkens und Hervorbringens in ihm. Der Ausdruck, daß Gott die Welt als Vernunft regirt, wäre vernunftlos, wenn wir nicht annehmen, daß er sich auch auf die Religion beziehe und der göttliche Geist in der Bestimmung und Gestaltung desselben wirke. Zu diesem Geist steht aber die im Denken vollbrachte Ausbildung der Vernunft nicht in Gegensatz und sie kann somit auch nicht von seinem Werk, das er in der Religion hervorgebracht hat,

Noch einmal H E G E L selbst: „Macht exegetisch, kritisch, historisch aus Christus, was ihr wollt, ebenso zeigt, wie ihr wollt, daß die Lehren der Kirche auf den Konzilien durch dieses und jenes Interesse und Leidenschaft der Bischöfe zustande gekommen, oder von da oder dorther flössen, — alle solche Umstände mögen beschaffen sein, wie sie wollen; es fragt sich allein, was die Idee oder die Wahrheit an und für sich ist" (Phil. d. Gesch. III, 737). Will die DG nicht im Material ersticken und sich in der bloß genetischen Fragestellung erschöpfen, so muß sie diese Grunderkenntnis HEGELS beachten. 62

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schlechthin verschieden seyn"63. Interpretieren wir diese Sätze unter genauer Beachtung der Regel von der Unumkehrbarkeit im Verhältnis von Gott und Mensch, göttlichem Geist und menschlichem Geist, dann sind sie durchaus diskutabel, und gerade für eine sinnvolle DG vielleicht sogar unerläßlich. Jedenfalls hat das 19. Jahrhundert nichts Besseres hervorgebracht. Denn wenn Gott die Welt als Vernunft regiert, wie H E G E L (mit der Christenheit vor ihm) sagt, dann braucht auch das Ab und Auf der DG nicht sinn- und planlos vor dem Auge des Betrachters zu stehen. Und die Theologen haben es sich, wie man weiß, nicht zweimal sagen lassen: „Aber es rede und rufe uns hell und laut aus der Geschichte ein hoher und heiliger Geist an, der unabhängig von der Welt und den Begebenheiten an den Zügeln der ewigen Notwendigkeit hinter dem Vorhang der Erscheinungen das Universum lenke, Recht und Gerechtigkeit abwäge und alles zu einem einzigen Ziel hinbewege, wie in einem Spiegel offenbare sich reflektirend in der Geschichte Gottes ewiger Weltplan", so zitiert F. C H R . B A U R den Hegelianer M A R H E I N I K E und so hat er selbst DG begründet, betrachtet und getrieben64. Zunächst freilich kommt D. F R . STRAUSS zum Zuge, und soll daher auch hier seinen angemessenen Platz erhalten. Denn seine „Christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt65 ist nicht so sehr ein Beitrag zur systematischen Theologie wie zur DG. S T R A U S S hat sich über seine Abwendung von dem HEGELschen Versuch klar genug Rechenschaft gegeben. „Zwar gibt sich die Vorstellung, und näher die Geschichte, welche wir auf diesem Wege gewinnen, für eine aus dem Begriffe wiedergeborene aus; allein dieses Vorgeben wird dadurch verdächtig, daß an der Vorstellung und Geschichte sich so gar nichts verändert, daß sie in allen Theilen die Gestalt beibehalten hat, welche sie im alten kirchlichen Systeme hatte. Dieß führt unabweislich auf die Vermuthung, daß sie Vorl. über Philos. der Rel. 1 8 4 0 2 , Jub.-Ausg. 1 5 ( 1 9 5 9 ) S . 5 0 (vgl. 1 . Aufl. f.). Vgl. E . HIRSCH, Die Umformung des christl. Denkens in der Neuzeit 1938 S. 283. 64 Epodien S . 1 9 9 . Über MARHEINEKE vgl. KANTZENBACH a. a. O S . 1 4 1 ff. und die — selten erwähnten, aber für das Bekenntnisdenken damals wichtigen ,Aphorismen zur Erneuerung des kirdil. Lebens im prot. Deutschland', Berlin 1814, 292 S., anonym erschienen. — Femer die Konstruktion der DG in K. ROSENKRANZ, Encyklopädie d. theol. Wissenschaften, 1 8 3 1 , 2 4 6 — 3 2 5 . DG ist dort „die dogmatische Geschichte der Kirche". «5 Bd. I, 1840, 717 S . , Bd. II, 1841, 739 S . 63

1832 I, 24

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in der That unbewegt in ihrer Stelle liegen geblieben, und der angebliche Durchgang durch das Denken n u r e i n B l e n d w e r k g e w e s e n s e i " 6 6 . Er ist von der emanzipatorischen Tendenz ganz und gar besessen, die Dialektik der Aufhebung der religiösen Vorstellungen in den Begriff wird zur puren Auflösung der biblisch-kirchlichen Tradition. „Es sollte, meinten wir, zuerst die biblische Vorstellung dargelegt werden; diese hierauf durch die häretischen Einseitigkeiten hindurch sich zum kirchlichen Dogma fortbestimmen; das Dogma sofort in der Polemik des Deismus und Rationalismus sich auflösen, um, geläutert, durch den Begriff sich wiederherzustellen"6''. Von dieser positiven Läuterung und Wiederherstellung im Begriff ist freilich in der Glaubenslehre nichts zu merken. So kommt es zu dem lapidaren Satz: „Die wahre Kritik des Dogma ist seine Geschichte"6*, und von dem Endergebnis wird nicht viel Positives zu erwarten sein. Denn „der Geist unterscheidet sich von der Realität, die er sich in der kirchlichen Lehre gegeben, das Subject zieht sich aus der Substanz seines bisherigen Glaubens heraus, und negirt diese als seine Wahrheit. Diess wird es aber nur thun, weil ihm, wenn auch zunächst nur an sich und in unentwickelter Form, eine andere Wahrheit aufgegangen ist: und es hängt nun Alles an der Frage, ob diese neue, speculative Wahrheit dieselbe mit der alten kirchlichen sei, oder ihm fremd und entgegengesetzt, oder ob ein Mittleres zwischen beiden stattfinde?"69 Kaum je ist m. W. der Säkularisierungsvorgang so eindrucksvoll und einleuchtend dargestellt worden als in diesem Selbstbekenntnis von S T R A U S S . Für die Umwelt aber hat er damit einige sehr erhebliche Fragen gestellt. Er hat in der damaligen Lage der herkömmlichen Theologie unbarmherzig die Bilanz gezogen. „Es ist nämlich dieser kritische Process nicht erst von dem heutigen Theologen zu veranstalten, sondern er liegt in der ganzen Entwicklungsgeschichte des Christenthums speziell der Dogmengeschichte, bereits vor"''0. Für die DG bedeutet das, daß sie sich nicht auf bloße Erforschung und Darstellung der älteren Entwick6 6 D. FR. STRAUSS, Streitschriften zur Verteidigung meiner Schrift über das Leben Jesu und zur Charakteristik der gegenwärtigen Theologie, Ausg. in 1 Band, Tüb. 1841, 3. Heft S. 58. Der ganze Abschnitt .Allgemeines Verhältniß der Hegeischen Philosophie zur theolog. Kritik' (S. 57—75) ist wichtig. 67 Ebenda S. 59. 6 8 Gl. L. I, S. 71. 6 9 Ebenda S. 71 f. 70 Ebenda.

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lungsstadien zurückziehen kann, wenn sie Gegenwartsbedeutung haben will. Sie muß den gesamten Entwicklungsgang der christlichen Lehre einbeziehen, und den Säkularisierungsvorgang der Moderne sich auch zum Thema machen. Erst T R O E L T S C H hat diese Konsequenz aus der STRAuss'schen Bilanz wirklich gezogen. Und STRAUSS hat den Finger auf den entscheidenden Punkt im Umgang des Menschen mit der christlichen Wahrheit gelegt, wenn er von dem Vorgang der Entfremdung redet: „Solange der Mensch sich selbst entfremdet, oder des Geistes in ihm selber nicht mächtig und inne geworden ist, kann er auch den Springquelle seiner Handlungen und Zustände nicht in sich, sondern eben nur da finden, wohin er seinen Geist verlegt hat, nämlich ausser sich: wie er durch fremde Schuld verdammlich geworden ist, so wird er durch fremdes Verdienst gerecht und selig.. ," 71 . Das göttliche Offenbarungsgeschehen als verbum extemum wäre dem emanzipierten Menschen nur erträglich, wenn er es sich völlig anverwandeln und nichts als sich selbst darin finden könnte. Die Verheißung des göttlichen Geistes sieht vor, daß der Glaubende dem Wort anverwandelt wird, ohne daß das Gegenüber von Wort und Glaube sich auf Erden aufheben ließe. Die Theologie des 19. Jahrhunderts schwankt zwischen der Erkenntnis, daß sie Erbe und Auftrag nicht an den autonomen Menschen der Neuzeit verlieren darf, und dem Bemühen, nun eben doch jene von STRAUSS so schroff herausgestellte Fremdheit der christlichen Wahrheit auf allerlei Weise abzuschwächen. Schließlich hat S T R A U S S schon in der Glaubenslehre den Jenseitsglauben der christlichen Überlieferung mit Leidenschaft bekämpft und abgelehnt. „Das Jenseits ist zwar in allen der Eine, in seiner Gestalt als zukünftiges aber der letzte Feind, welchen die speculative Kritik zu bekämpfen und wo möglich zu überwinden hat"12. Auch damit weist er auf die eigentümliche Lücke bei den maßgebenden Autoren des 19. Jahrhunderts hin. Zwar hat die Apologetik den materialistischen Diesseitigkeitsglauben wacker bekämpft, aber sie hat der Eschatologie nicht den Platz einräumen wollen, den sie nach unserer heutigen Erkenntnis beanspruchen muß73. Gl. L. II S. 75. Gl. L. II, S. 739 — der Schlußsatz des ganzen Unternehmens! 73 Schon hier sei verwiesen auf die lehrreiche Übersicht, die I. A. DORNER in seiner ,Geschichte der protest. Theol.' 1867 von dem Stand der dogmengeschichtlichen Forschung gibt. Dort heißt es: „Aber doch ist das Werk des Christenthums an der Menschheit ein fortschreitendes (im Orig. ge71

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Mit Recht betont E. HIRSCH, daß STRAussens Glaubenslehre eine ganz neue Schau der christlichen D G enthält, welche in ihrer Weise für die historische Theologie ebenso anregend und aufreizend geworden ist wie das ,Leben Jesu' auf dem Gebiet der Evangelienforschung 14 . Die offizielle theologische Arbeit hat sich allerdings nur wenig mit dieser Glaubenslehre beschäftigt' 5 , und die Auswirkungen dürften, wie H I R S C H bemerkt, mehr im Bereich des allgemeinen geistigen Lebens zu suchen sein 76 . Immerhin kam es in der Tat darauf an, „ein wahreres und tieferes Bild von der Dogmen- und Theologiegeschichte zu zeichnen"™ als es von S T R A U S S entworfen worden war. Ohne F . C H R . B A U R in eine allzu große — sei es apologetische, sei es polemische — Nähe zu S T R A U S S zu rücken 78 , wird es doch angebracht sein, ihn auch auf diesem Hintergrund zu sehen. Nicht nur im Ablauf der dogmengeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts — in Anknüpfung zur Pragmatik wie zur Romantik (insbesondere A. N E A N D E R S ) — , sondern ganz allgemein stellt F . C H R . B A U R S Arbeit den eigentlichen Höhepunkt der D G überhaupt dar. Wenn Theologie überhaupt als Geschichtsforschung und -betrachtung der christlichen Uberlieferung inclusive ihres biblischen Urspungs gegenübertreten soll, kann sie sich nicht, wie der Erlanger HOFMANN, in den Sonderbereich sperrt!): daher der Auffassung nicht mehr gehuldigt zu werden pflegt, welche schon im Anfang der Kirche das Höchste erreicht meint, in der Folgezeit nur einen steigenden, etwa durch die Reformation eine Zeit lang aufgehaltenen Verfall erblickt und für die Gegenwart — als wäre nicht die natürliche Sünde und die Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit wie die Kraft des Christenthums dieselbe wie im Anfang — sich nur mit willkürlichen eschatologischen Berechnungen und Hoffnungen zu trösten weiß" (S. 865). 74 E. HIRSCH, Gesch. der neuern evang. Theol. V, 512. 75 Ich kann nur auf K. I. NITZSCH, Eine theologische Beantwortung der philosophischen Dogmatik des Dr. D. Fr. Strauß (ThStKr. 1842, 3, abgedruckt in den Ges. Abhandl. 1870 II, 193—312) hinweisen. 7 6 HIRSCH V , 5 1 6 f.: „ . . . daß er diejenige Betrachtung der christlichen Geistes- und Dogmengeschichte geschaffen hat, welche bis heute von der deutschen Bildung, sofern sie dem Christentum entfremdet ist, als die allein rechtmäßige angesehen wird." 77

HIRSCH a . a . O . S . 5 1 7 .

Vgl. vor allem die Selbstdarstellungen BAURS in K . KLÜPFELS Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, Tüb. 1849 (aus BAURS Feder stammen dort S. 216—247: die Storrsche Schule, und S. 389—426) und in der Kirchengesch, des 19. Jahrh. S. 395 ff. 1862. 78

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der Heilsgeschichte zurückziehen, oder sich, wie A. R I T S C H L , der Idee und dem Geist in der Geschichte versagen, auf wirkliche Erkenntnis also verzichten wollen. B A U R ist nicht angekränkelt vom Überdruß und Unbehagen am Denken, am Geist, an der Idee mit ihrem absoluten Anspruch. Ihm sind „Dogmen... die Lehren oder Lehrsätze, in welchen der absolute Inhalt der christlichen Wahrheit ausgesprochen ist... Die Dogmengeschichte... hat es mit dem so vollständig als möglich explicirten Inhalte der christlichen Lehre zu tun.. ." 79 . Er dringt auf das Fortschreiten der sog. Dogmengeschichte zu einer Geschichte des christlichen Dogmas, wodurch erst die Idee der Einheit sich entwickelt, ohne deren Bewußtsein ihrem Inhalt die wahre wissenschaftliche Form nicht gegeben werden kann. „Die wahre Objektivität der Geschichte werde aber erkannt und aufgefaßt, nur wenn in der geschichtlichen Darstellung das Wesen des Geistes selbst, seine innere Bewegung und Entwicklung, sein von Moment zu Moment fortschreitendes Selbstbewußtseyn sich darstelle. Dieser Gesichtspunkt, von welchem aus es insbesondere die Aufgabe der christlichen Dogmengeschichte sey, das christliche Dogma im Ganzen und Einzelnen so zu behandeln, daß alle zeitlichen Veränderungen als die wesentlichen und nothwendigen Momente erscheinen, durch die sich der Begriff hindurchbewegt, um, von der Negativität jeder zeitlichen Form immer weiter getrieben, Wesentliches und Unwesentliches mit dem immer strengeren Gerichte des reinen Gedankens zu scheiden und durch alle Momente hindurch sich selbst in seinem eigenen innersten Wesen zu erfassen, liege seiner Darstellung zu Grunde, in der festen Überzeugung, daß nur auf diesem Wege die Geschichte für den denkenden Geist das seyn könne, was sie ihrer göttlichen Bestimmung zufolge für ihn seyn solle, die Selbtsverständigung der Gegenwart aus der Vergangenheit"80. So lautete das Programm im Vorwort seiner großen Monographie über ,Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung' (1839)81. Und 7 9 Lehrb. d. diristl. DG. 1847 S. 3; die Modifikationen der späteren Auflagen 1858, 1867 braudien uns hier nicht zu beschäftigen. Ich zitiere nach der 1. Auflage. 8 0 So die zusammenfassende Wiedergabe des Vorworts zur Monographie über die christl. Lehre von der Versöhnung bei KLING, a. a. O. S. 792 f. 8 1 Da ich in diesem Versuch einer Übersicht I. A. DORNER keinen eigenen Abschnitt einräume, sei hier wenigstens daran erinnert, daß er fast gleichzeitig mit BAUR seine Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi' (1839) erscheinen läßt, in der er sich S. 370 ff. schon mit BAURS Mono-

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hat mit einzigartiger Beharrlichkeit dieses Programm — neben seinem Beitrag zur Erforschung des Urchristentums und der frühen Kirche -— auch ausgeführt, zunächst in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte82, dann in den aus dem Nachlaß herausgegebenen Vorlesungen zur DG83. Was ist der eigentliche Antrieb zu dieser gewaltigen Leistung, die B A U R im Lauf der Jahrzehnte in immer stärkeren Widerspruch zur übrigen Entwicklung und seiner näheren und ferneren Umgebung gegenüber in immer tiefere Einsamkeit führte? E. H I R S C H verweist auf B A U R S Lieblingswort Speculation, d. h. auf das „Nachdenken der ewigen Gedanken des ewigen Geistes, des Werk die Geschichte ist", schwächt es aber ab durch die Behauptung, dies Wort habe für ihn nie „einen andern Sinn als Verstehen des geistigen Zusammenhangs in einem durch Forschung ihm bekannt gewordenen Tatsachenkreis gehabt"**. Natürlich kann über das B A U R eigentümliche Verhältnis von kritischer Tatsachenforschung und konstruktiver Geschichtsdeutung immer gestritten werden — seine Gegner und seine ursprünglichen Schüler, A. B I T S C H L voran, hatten an der Tatsachenforschung bekanntlich sehr viel auszusetzen! Es ging B A U R aber um weit mehr als um den geistigen Zusammenhang in einem durch Forschung ihm bekannt gewordenen Tatsachenkreis. B A U R ist nicht DILTHEY 85 . Er will nicht weniger als das Geheimnis der Geschichte, das Geheimnis Gottes selbst erkennen, nicht im Sinn einer vorwärtsgewandten Prophetie, sondern im Sinn der rückwärts gewandten Geschichtsschau. B A U R zitiert mit voller Zustimmung S C H E L L I N G : „Erst dann erhält die Geschichte ihre Vollendung für die Vernunft, wenn die empirischen Ursachen, indem sie den Verstand befriedigen, als Werkzeuge und Mittel der Erscheinung einer höhern Notwendigkeit gebraucht werden. In solcher Darstellung kann die Geschichte die Wirkung des größten und erstaunenswürdigsten Drama nicht verfehlen, das nur in einem unendlichen Geiste gedichtet sein kann." Und fügt alsbald hinzu: „Und BAUR

graphie auseinandersetzt, was sich dann in der späteren Bearbeitung an vielen Stellen (vgl. das Register von Band II, 1856, S. 1295) fortsetzt. — Zur Würdigung DORNERS vgl. den Anm. 3 genannten Beitrag IVANDS, ferner KANTZENBACH a. a. O . S. 1 3 0 ff.

Vgl. Anm. 79. In drei Bänden, Leipzig 1865—67. 8 4 A. a. O. V, 520. 8 5 Vgl. aber den schönen und begeisterten Aufsatz DILTHEYS über BAUR aus dem Jahr 1865, jetzt Ges. Sehr. IV, S. 403 ff. 82

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wo sollte sie diese Wirkung weniger verfehlen als auf dem Gebiet der Kirchengeschichte"86. Und er dringt in der Auseinandersetzung mit der NEANDERschen Geschichtsschreibung darauf, „daß man, so lange man nicht hinter dieses Geheimniß gekommen ist, gar nicht wissen kann, wie es mit dem Christenthum und der Menschheit in der Welt geht"81. „Ist es das Wesen des Geistes selbst, das in der Geschichte des Dogma's sich aufschliesst und darlegt, so kann auch das Interesse an ihr nur darin bestehen, dass man in ihr den Wegen nachgeht, welche der Geist selbst, in seiner Entwickelung im Grossen, in den verschiedenen Richtungen seiner stets fortschreitenden Bewegung gegangen ist, um zum Bewusstseyn über sich selbst und über die höchsten Interessen, die sein geistiges Leben bedingen, zu kommen"88. Denn „was die Geschichte überhaupt ist, als der ewig klare Spiegel, in welchem der Geist sich selbst anschaut, sein eigenes Bild betrachtet, um was er an sich ist, auch für sich, für sein eigenes Bewusstseyn zu seyn, und sich als die bewegende Macht des geschichtlich Gewordenen zu wissen, das concentrirt sich in dem engern Gebiete der Dogmengeschichte zu einer um so intensivem Bedeutung, indem es sich unmittelbar um das handelt, was die höchsten Beziehungen, in welchen er zu sich selbst steht, Religion und Christenthum, für seine denkende Betrachtung sind"89. In der späteren Literatur über B A U R werden diese und ähnliche Sätze meist mit der Gebärde eines etwas ungläubigen Erstaunens wiedergegeben und begleitet, etwa als wollte man sagen: Höher gehts nimmer. Aber was tut und meint B A U R eigentlich und wirklich? Das apologetische Grundanliegen, zu dem er sich mit dem ScHELLiNGzitat bekennt, teilt er mit seinem ganzen Jahrhundert. Mit dem gleichen Jahrhundert sieht er sich vor und in die Geschichte gestellt, speziell vor und in die Geschichte der christlichen Wahrheit. Die Erkenntnismittel dazu stammen letztlich alle aus dem christlichen Erbe, wie wir gerade heute — auch mit apologetischem Eifer! — festzustellen lieben. Zu diesem Erbe gehört auch ,der Geist', trinitarisch, anthropologisch, theoretisch. B A U R tut nichts anderes, als daß er den ,Geist' den Herrn und das Subjekt der christlichen Lehrgeschichte sein läßt, und daß er auf sein Arbeitsgebiet das Wort des PAULUS anwendet: Der Geist gibt Zeugnis unserm 83 87 88 89

Epochen S. 249. Ebenda S. 212. Lehrb. d. DG., S. 55 und passim. Ebenda S. 55 f.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 45 Geist; daß er die geschichtliche Entwicklung nicht immanent verstehen will, sondern als Wirkungsfeld, als das Zusichselbstkommen des Geistes. Man kann ihm entgegenhalten, daß er die Klarheit des Spiegels überschätzt, seine Trübungen bagatellisiert hat; immerhin haben wir ihn von dem ,immer strengeren Gericht des reinen Gedankens' etwas sagen hören. Man müßte B A U R denn so verstehen, daß er den göttlichen Geist nennt und den Geist der Zeit meint. Man kann nicht völlig in Abrede stellen, daß sich z. B. der berühmte Schlußsatz seiner Einleitung des Lehrbuchs der D G fast so anhört 90 ; aber auch hier verbietet uns der Gesamthabitus B A U R S m. E. doch eine so flache und letztlich nichtswürdige Deutung. Nun hat sich der Streit um F. C H R . B A U R nur selten auf diese letzten und höchsten Sätze seiner Geist- und Geschichtslehre bezogen. Denn auch T H O M A S I U S kann sagen: „Wir haben da nichts zu machen, sondern nur anzusehen, wie sich die Bewegung verläuft"91. Der Streit ging vielmehr um das Verhältnis von D G und Evangelienursprung, bzw. um den supranaturalen Charakter des im Evangelium bezeugten Christusgeschehens. Während S T R A U S S im Laufe seiner Entwicklung jeder supranaturalen Deutung des Ursprungsgeschehens widersteht und letztlich deswegen meint, wir könnten keine Christen mehr sein, liegt es bei B A U R anders. Er kann sich zwar über das Unstimmige der supranatura90 „Denn vergeblich ist es, — diese Lehre gibt der Geschichte des Dogmas in einer Zeit, wie die gegenwärtige ist, immer wieder ihr besonderes Zeitinteresse, — was einmal in der innern Werkstätte des denkenden Geistes, in deren Betrachtung das tiefere Studium der DG einführen soll, von dem denkenden Beivusstseyn sich abgelöst hat, durch welche Macht es auch geschehen mag, in Formen festhalten zu wollen, zu welchen der in ihnen sich selbst äusserlich gewordene Geist kein inneres Selbstvertrauen mehr haben kann; vergeblich dem denkenden Geist den Gedanken nehmen zu wollen, der einmal ausgesprochen, zu einer Macht für ihn selbst geworden ist, und durch die Notwendigkeit des Denkens zu einem Princip des Zeitbewusstseyns sich erhebt, in welchem Alles, was in den äusseren Formen des zeitlichen Daseyns Bestand haben soll, seinen letzten Haltpunct haben muss" (S. 56 f.; wörtlich gleich in der 3. Aufl. 1867 S. 59 f.). BAUR steht vor der selben Frage wie STRAUSS, auf den er sich z. B. auch in der Auffassung der eschatologischen Lehrpunkte ausdrücklich beruft (3. Aufl. 1867 S. 396). Aber er hat nie die Konsequenzen daraus gezogen, die STRAUSS gezogen hat, und man darf das doch wohl nicht nur mit seinem, von DILTHEY besonders betonten, Konservatismus erklären wollen. 91 G. THOMASIUS, Die Christi. DG als Entwicklungs-Geschichte des kirchlichen Lehrbegriffs I, 1874 S. 22.

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len Annahmen bei N E A N D E R sehr unwillig äußern92, aber es kommt dann doch zu einem — zunächst fast unbefriedigend wirkenden — Nebeneinander, zu einem erstaunlichen Sowohl-Alsauch. Er spricht von einer „concreten Vermittlung zwischen dem nicht schlechthin übernatürlichen, sondern auch, wieder natürlichen Christenthum"93 und läßt sich an entscheidender Stelle folgendermaßen vernehmen: „Das Christenthum ist auf der einen Seite die grosse geistige Macht, durch welche alles Glauben und Denken der Gegenwart bestimmt wird, das absolute Princip, durch welches das Selbstbewusstsein des Geistes getragen und gehalten wird, das, ohne ein wesentlich christliches zu sein, in sich selbst keinen Halt und Bestand hätte; auf der andern Seite ist, was das Christenthum seinem Wesen nach ist, eine rein historische Frage, deren Lösung nur in der Vergangenheit liegt, in welcher das Christenthum selbst seinen Ursprung genommen hat, eine Frage, die ebendarum auch nur durch die kritische Stellung gelöst werden kann, die sich das Bewusstsein der Gegenwart zu der Vergangenheit gibt"9i. Er weicht auch vor der noch präziser gestellten Frage nach der Überlegenheit des OSenbarungsursprungs nicht aus. Zwar läßt er die DG nicht, wie die meisten späteren Forscher, vor der Tür des Allerheiligsten der neutestamentlichen Theologie stehen, sondern meint1 „Ebensowenig kann sie (die D G ) . . . in der sogenannten biblischen Theologie einen festen Punct erblicken, über welchen sie nicht hinübergreifen dürfte." Aber er weiß auch, daß „ i h r . . . der an die Person Jesu geknüpfte und mit ihr identische substantielle Inhalt des christlichen Bewusstseyns als der unwandelbare Grund aller geschichtlichen Bewegung gelten muss"9S; und das möchte man im Sinne BAURS doch nicht als eine mürrisch gegebene Konzession betrachten, wenn es auch ein wenig so klingt. 92 Epochen S. 210: „Wie kann dasselbe Prinzip zuerst übernatürlich, hierauf aber natürlich wirken, und welche begriffslose Phrase ist es, dabei noch von einem Entwicklungsprozeß zu reden!" — Im Fortgang polemisiert BAUR besonders gegen NEANDERS Verwendung des neutestamentlichen Sauerteiggleichnisses. (S. 211 ff.). 93 Epochen S. 221. Vgl. dazu auch: Das Christentum u. d. christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte 18602, 1. Abschnitt, besd. S. 21 f., auch abgedr. bei HIRSCH, Umformung S . 3 0 3 ff. 9 4 BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi. 1. Aufl. 1 8 4 5 ; hier zitiert nach der 2 . Aufl. ( 1 8 6 6 ) S . 4 . Vgl. E . HIRSCH V, 5 2 6 . 95 Lehrb. d. DG 1847 S. 4. — Zum Problem sei auf den ungemein lehrreichen Artikel von M. KAHLER über ,Biblische Theologie' in RE 3 3, 192 bis 200 (1897) nachdrücklichst hingewiesen.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 47 In all dem ist B A U R nur zu verstehen, wenn man ihm zugesteht, daß Theologie und Philosophie „in einem so wesentlich innern Verhältnisse zu einander stehen, dass beide nur als Momente eines und desselben geistigen Processes begriffen werden können"96. Das ist im Zusammenhang seiner Geist- und Geschichtslehre sehr wohl zu begreifen, wenn es ihm auch den Vorwurf der „pantheistischen Grundanschauung"97 eingetragen hat. Im Grund wird für B A U R das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie überhaupt zum entscheidenden Faktor und Bewegungsgesetz der ganzen DG. „Wie die Geschichte der Philosophie sich zuletzt in die Dogmengeschichte verlor und in ihr unterging, so dass es kein vom Dogma unabhängiges Denken mehr gab, so riss sich das Denken auch wieder vom Dogma los und machte sich selbst zu seinem Anfange, zum deutlichen Beweise, dass seine Dahingebung an den Glauben nur eine periodische Form des Bewusstseyns seyn sollte"m. Im Zusammenhang dieser umfassenden Deutung der philosophisch-theologischen Überlieferung gelingt B A U R schließlich auch die Verknüpfung der altkirchlich-mittelalterlichen und der reformatorisch-neuzeitlichen Entwicklung. Vergleicht man damit die Versuche A D . H A R N A C K S in seinen Darlegungen über den dreifachen Ausgang der DG, so bemerkt man erst die Überlegenheit und Universalität der Baurschen Geschichtsbetrachtung: weil er in seinem Geistbegriff den roten Faden der Gesamtentwicklung hat, weil er Philosophie und Theologie in ihrem geschichtlich und sachlich unauflöslichen Zusammenhang beläßt, verschiebt sich ihm nicht das Gewicht der Forschung und Fragestellung einseitig zugunsten der älteren Epochen der DG, wie das bei H A R N A C K geschieht. Auch als Kirchenhistoriker hat B A U R der Darstellung der neueren Epochen erstaunliche Mühe zugewendet, während H A R N A C K S — durchaus nicht fehlende — Beiträge zur neueren Geschichte mit seiner DG gleichsam Rücken an Rücken stehen, und daher auch nicht ins Bewußtsein der Um- und Nachwelt eingegangen sind". Lehrb. d. DG 1847 S. 14. a. a. O. I S. 7. Kaum mit einem großen Theologen ist die Folgezeit verständnisloser umgegangen als mit BAUR. Ein bezeichnendes Dokument dafür ist J O H . HAUSSLEITERS Artikel in der RE3 2, 467—483, der allerdings in seinem Grundstock auf den Schwaben HERM. SCHMIDT zurückgeht. 98 Lehrb. d. DG 1847 S. 17. 99 Ich denke hier auch an HARNACKS Geschichte der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1900. 96

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Schon 1841 freilich hat C H R . F R . K L I N G seine Bedenken gegen B A U R S Programm angemeldet, und es fehlt nicht an solchen, die die DG auf ganz andere Weise vor, neben und nach F . C H R . B A U R betrachtet und betrieben haben wollten100. IV Bevor wir auf die eigentümlichen Ausprägungen der DG im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eingehen, werfen wir einen Blick auf die Bilanz der dogmengeschichtlichen Arbeit, die I . A. D O R N E R 1 8 6 7 aufgestellt hat. Vieles ist für ihn selbstverständliche Errungenschaft der beiden letzten Generationen: der Pragmatismus ist ebenso überwunden wie die nur spekulative Betrachtung der Lehrgeschichte. Der Entwicklungsgedanke bestimmt die Sicht, aber Entwicklung ist keineswegs identisch mit geradlinigem Fortschritt. Denn „die Geschichte ist das Gebiet der freien Kräfte"101. Verunreinigende Vermischung mit der Welt fordert immer erneute reinigende Konzentration und Wiederaufnahme des intensiven Prozesses. Dennoch ist Fortschritt im Großen und Ganzen das eigentliche Vorzeichen, und es bedarf keiner apokalyptisch-eschatologischen Aspekte. Dem konfessionell befangenen Flügel der Forscher 100 KLING meint abschließend zu BAURS Entwurf von 1 8 3 8 : „Wer gegen eine solche idealistische Betrachtungsweise den Glauben an den absolut-persönlichen Gott, von welchem der Mensch durch die Sünde sich selbst getrennt hat und mit welchem er nur durch den absoluten, die Sünde der Welt tragenden persönlichen Gottmenschen, Jesus Christus, wieder in Gemeinschaft kommen kann, nicht hinzugeben vermag — ein solcher wird auch die ganze kunstvolle Construction, welche hier vorliegt, nicht als die wahre Construction der christlichen DG erkennen" (a. a. O. S. 796). Und etwas später: „Von diesem Standpunkte aus, dem Andacht, Gebet und alles eigentlich Religiöse, aller Verkehr des menschlichen Geistes und Gemüths mit Gott, als dem an und für sich seyenden, persönlichen, in einer untergeordneten, aufzuhebenden Vorstellungsweise beruht, kann freilich der durch und durch religiöse Inhalt des christlichen Glaubens nicht eine solche Bedeutung haben, daß er selbst, wie er sich in seinen Hauptcyklen zu wissenschaftlicher Bestimmtheit allmählich entfaltet, den Eintheilungsgrund für die Perioden der DG abgeben könnte" (S. 798 f.). Als Gegenstück sei die schöne, keineswegs unkritische Darstellung BAURS in Erinnerung gebracht, die wir O T T O P F L E I D E R E R verdanken: Die Entwicklung der protest. Theologie in Deutschland seit Kant 1891, S. 354—368.

101

I. A. DORNER, Gesch. d. prot. Theol. 1867, S. 865.

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und Mitarbeiter steht die Mehrzahl gegenüber, „die... einen freieren Standpunkt und einen volleren Begriff von dem Christenthum und seinen Aufgaben sich bewahrt" hat und die sich „in ihren Urtheilen und in Gliederung des Stoffes von dieser reineren und freieren Idee des Christenthums ... leiten läßt"102. So sind auch die Gegensätze von Orthodoxie und Häresie längst ermäßigt, „indem man nicht mehr die Lehre oder das Glaubensbewußtsein der Kirche sei es der alten oder der reformatorischen Zeit für vollkommen, die Gegner aber nur als muthwillige Feinde der schon in vollkommenem Glänze strahlenden Wahrheit ansieht"103. Die Irrlehrer erscheinen einer solchen Betrachtungsweise „zwar als Elemente, die in ihrer Einseitigkeit zu überwinden sind und überwunden werden, aber zugleich als Hebel und wesentliche Impulse der fortschreitenden Bewegung"10*. Auffällig ist hier wie sonst in der ganzen dogmengeschichtlichen Arbeit des Jahrhunderts, daß der römische Katholizismus nirgends wirklicher Partner ist. Weder die dogmatischen Ereignisse von 1854 (Conceptio immaculata) und von 1870 (Infallibilität des Papstes) noch die innerkatholischen Versuche, das Problem der Dogmenentwicklung zu erfassen und zu klären, vor allem im Werk des Konvertiten J. H. NEWMAN, finden (außerhalb der speziellen Symbolik und Polemik) tieferes Interesse. Auch hier war B A U R derjenige, der (in der Auseinandersetzung mit M Ö H L E R und sonst) den katholischen Gegner noch am ehesten ernst nimmt. Aber der Streit um M Ö H L E R S Symbolik hat, soviel ich sehe, für die Entwicklung unseres Themas ,Dogma und Dogmengeschichte' kaum etwas bedeutet. So bleibt auch das ebenso gründliche wie bedeutende Werk des jungen H E I N R . J U L . H O L T Z M A N N über ,Kanon und Tradition' völlig unbeachtet und wirkungslos, und sein Verfasser wendet sich ganz der neutestamentliclien Arbeit zu105. Daran ändert auch die lutherisch-konfessionelle Arbeit am Problem der DG nichts. Sie hat ihren bekannten, wenn auch kaum viel gelesenen Vorläufer und Anfänger in T H . K L I E F O T H S ,Einleitung in die Dogmen102

Ebenda.

103

Ebenda S. 866.

104

Ebenda.

HEINR. JUL. HOLTZMANN, Kanon und Tradition, ein Beitrag zur neueren Dogmengeschichte und Symbolik, Ludwigsburg 1859, 496 Seiten. — Ich stehe nicht an, diese großartige Monographie als den bedeutendsten Beitrag der protestantischen Theologie zur protestantisch-katholischen Kontroverse im 19. Jahrhundert zu bezeichnen. 105

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geschichte'106, und wird in der Folge vor allem von G. THOMASIUS, in stark ermäßigter, modernisierter Weise von R. SEEBERG vertreten. KLIEFOTHS, v o r a l l e m a n SCHLEIERMACHER, a b e r doch auch a n HEGEL

sich anschließende Philosophie des Dogmas und der Dogmenentwicklung möchte ich (im Anschluß an KLINGS sorgfältige und einleuchtende Darstellung) nach ihren drei wichtigsten Momenten zusammenfassen. Das erste ist das geistige, der objektive und subjektive christliche Geist, die Quelle aller dogmatischen Produktion. Das zweite ist das geschichtliche oder traditionelle, welches das Biblische und das in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung der Lehre gegebene Symbolische umfaßt und teils von Christus zeugend teils bildend auf das Subjekt wirkt; bildend, indem sich dieses zur gesamten christlichen Lehrentwicklung in Beziehung setzt und so sein eigenes dogmatisches Bewußtsein entwickelt, wovon die Folge entweder lebensfrische Darstellung des Symbols oder Richtung auf Weiterbildung desselben ist. Das Ineinanderwirken beider Momente, des Geistes und des Wortes, gibt den Stoff her für die Bildung des Dogma. Damit derselbe die dogmatische Form erreiche, muß noch ein drittes Moment hinzutreten: das wissenschaftliche, welches die begriffliche Bestimmung und die systematische Gestaltung unter sich befaßt und welches um so lebendiger wird, je höher die Ansprüche und Leistungen auf anderen wissenschaftlichen Gebieten sich steigern. Dogma ist somit eigentlich nur, was diese Momente in ihrem naturgemäßen Verhältnis in sich vereinigt; es kann sich wenigstens auf neue Weise nur bilden, wo sie zusammentreffen. Es ist die ihren Inhalt aus Wort und Geist entnehmende wissenschaftliche Darstellung des christlichen Geistes und Lebens, deren Gegenstände das Objekt, das Subjekt und die Ordnung des Heils (Theologie, Anthropologie, Soteriologie)107. Der spezifisch konfessionelle Beitrag zur D G ist also in seinen Grundlagen dem allgemeinen Denken des frühen 19. Jahrhunderts stark ver1 0 6 Parchim u. Ludwigslust 1839, 387 Seiten. — In den für die Theologieund Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts so lehrreichen ,Mitteilungen bekannterer evang. Theologen der Gegenwart über Bücher, die ihnen für Amt und Leben von besonderem Wert gewesen sind', unter dem Titel ,Bücherkleinode evang. Theologen zus.gestellt und herausgeg. von FR. ZIMMER (Gotha 1888), etwa 195 Voten enthaltend, wird die ,Einleitung in die D G ' von KLIEFOTH überhaupt nicht genannt, während seine übrigen Werke durchaus vertreten sind. 107

KLING, a. a. O. S. 831—851, besd. S. 838.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 51 pflichtet. „Das Christenthum ist ihm zunächst Substanz, Leben, Kraft"10*. Der Entwicklungsgedanke wird voll bejaht; der Widerspruch der mancherlei Dogmen- und Bekenntnisbildungen dementsprechend relativiert. Auch der Anspruch der Wissenschaftlichkeit wird anerkannt und eingeordnet. Daß Dogma und Kirche zusammengehören, wird freilich stärker betont als etwa bei Baur. Das Neue und Eigentümliche ist dies, daß der Dogmenentwicklung im 19. Jahrhundert ein eigenes Thema zugeschrieben, eine bis dahin noch ungelöste Aufgabe zugeteilt wird. K L I E F O T H meint feststellen zu können, „daß die Entwickelung der Soteriologie im Protestantismus sich in der Gegenwart vollendet habe, und daß der kirchliche Geist in unserer Zeit einer neuen kirchlichen und dogmatischen Entwickelung zuschreite... Das Subject steht nemlich in seiner Erlösung und Heiligung nicht allein, sondern ist in eine christliche Gemeine aufgenommen, welche es bildet, auf welche es wieder bildend einwirkt, mit welcher es Alles gemeinsam hat, leidet, thut. Der Kreis von Lehren, welcher das Subject in dieser Gemeinsamkeit betrachtet, hat zu seinem Mittelpunkt die Lehre von der Kir che (Sperrung im Orig.). Diese Lehre nun scheint ihre volle dogmatische Entwickelung noch nicht gefunden zu haben... Es wäre nun möglich, daß die Periode dogmatischer Entwickelung, in deren Anfange wir stehen, eben diese Aufgabe hätte, von einer unmittelbaren Entwickelung der Lehre von der Kirche, ihrer Entstehung, Entwickelung und Vollendung aus, jene Gegensätze (die das Lehren und Handeln des früheren Protestantismus spannungsreich bestimmten und die K L I E F O T H S. 89 ff. anschaulich und eindrucksvoll beschreibt!) zu versöhnen"106. Nicht weniger wirksam wurde in der Folgezeit auch K L I E F O T H S Erkenntnis von den großen dogmengeschichtlichen Perioden, die nicht ohne Einfluß der geschichtlichen Zustände und vor allem der Eigenart der Völker sich bilden, unter welchen Ebenda S. 833. a. a. O. S. 87, 91. KLIEFOTH spricht S. 89 f. von einer .Physiologie der Kirche', wie sie dann unter diesem Titel der katholische Laienschriftsteller FRIEDR. PILGRAM 1860 vorgelegt hat. — Im eschatologischen Lehrpunkt geht Kl. damals über Andeutungen nicht hinaus (S. 98). Sie wird einbezogen in die Erwägung, „ . . . daß die Untersuchungen über das "Wesen, die Entstehung, Entwickelung und Vollendung der Kirche einen dominierenden Platz in unserer dogmatischen Thätigkeit schon jetzt einnehmen; und dürfen wohl die Vermutung wagen, daß die mit unserer Zeit aufs Neue beginnende dogmatische Entwicklungsperiode ihre besondere Aufgabe in der Lehre von der Kirche haben werde" (S. 98 f.). 108 109

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das Christentum Wurzel faßt. Hier verknüpft sich der pragmatisch-kulturgeschichtliche Gesichtspunkt auf höchst eigenartige Weise mit dem theologisch-kirchlichen. Bekanntlich ist K L I E F O T H , ohne daß seine Gesamtkonzeption zu erheblicher Auswirkung gekommen wäre, mit diesen Hauptgesichtspunkten keineswegs ohne Nachfolger geblieben110, wenn auch der zusammenfassende Wurf erst sehr viel später gelungen ist. Denn G. T H O M A S I U S hat seine .Christliche Dogmengeschichte als Entwickelungs-Geschichte des kirchlichen Lehrbegriffs' erst zu Ende seines Lebens (1874) veröffentlicht, und der 2. Band ist aus dem Nachlaß erschienen. Aber auch seine ,Darstellung der evang.-luth. Dogmatik vom Mittelpunkt der Christologie aus'111 ist ja ein Beitrag zur DG. Denn „die Erscheinung Jesu Christi in der Welt ist der centrale Mittelpunkt der ganzen Heils- und Weltgeschichte ... der Mittelpunkt der Wege Gottes"112. Was bei B A U R der Geist als dynamisches Prinzip ist, ist für T H O M A S I U S das Organische. „Organisch ist eine Bewegung, wenn das Wesen, die Substanz in successiver Auseinanderlegung und naturgemäßer Aufeinanderfolge ihre im Keim beschlossenen Momente entfaltet"113. Damit meint T H O M A S I U S wohl, die vermeintliche Abstraktion des BAUR'schen Geistbegriffs zu überwinden; es bleibt aber undeutlich, wieweit die Kategorie des Organischen mehr als Metapher sein kann und wieweit sich T H O M A S I U S von einer Art dogmengeschichtlichem Naturalismus freizuhalten vermag. Das tritt freilich nach außen nicht hervor, weil er den kirchlichen Charakter von Dogma und Dogmengeschichte außerordentlich stark betont. „Dogma ist nicht die blos subjective Meinung, die in110 Über VILMAR vgl. KANTZENBACH a. a. O. S. 156 ff. — Außerdem wird man die dogmengeschichtlichen Leistungen von A. W . DIECKHOFF hierher rechnen können, die E. WOLF (RGG 3. Aufl. s. v.) knapp schildert und würdigt, aber auch die ,kirchen- und dogmengeschichtliche Studie' von PAUL WOLFF, Pfarrer zu Friedersdorf bei Seelow: Die Entwickelung der einen christlichen Kirche durch Athanasius, Augustin und Luther, Berlin, Wiegandt & Schotte

1889, 248 S., mit einer breiten und durchaus nicht wertlosen allgemeinen Erörterung über ,das Dogma' (S. 19—56). W o sind die Landpfarrer heute, die eine so gründliche, stoffreiche, quellennahe Studie vorzuweisen haben?! 1 1 1 Christi Person und Werk 1. Aufl. 1852. 1 1 2 Ebenda Bd. I 2 1856 S. 1. Zum Geschichtsdenken des THOMASIUS ist auch heranzuziehen: Das Bekenntnis der evang.-luth. Kirche in der Konsequenz seines Prinzips 1848, 244 S. Schon dort läuft der reformatorische Lehrkreis in die Konkordienformel aus. 1 1 3 DG I S. 12.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 53 dividuelle, etwa theologische Ansicht der einzelnen Kirchenlehrer, sondern die kirchliche Glaubensbestimmung, näher die Form, in der sich der christliche Gemeinglaube nach seinen wesentlichen Momenten einen bestimmten und gemeingiltigen Ausdruck gibt... Dogma in diesem Sinn gibt es also nur in der Kirche"11*. „An ihm hat und in ihm findet die Kirche den adäquaten Ausdruck für ihre Heilserkenntniß. Deshalb wird das Dogma immer auch, früher oder später, zum Symbol. Im Symbol wird es zur publica doctrina. Indem die Kirche darin den Inhalt ihres Glaubens anerkennt, bekennt sie sich auch zu ihm und macht es als Norm für die öffentliche Verkündigung geltend"115. „Die Einsicht in die Richtigkeit solcher symbolischer Bestimmungen kann sich späterhin erweitern, wohl auch hinsichtlich der Form modificiren und rectificiren, der Kern aber bleibt — jedenfalls da, wo die Festsetzung eine That der noch Einen ungespaltenen Kirche war, also eine wesentliche Errungenschaft, und geht dann selbst wieder als fortioirkende Potenz in den geschichtlichen Prozeß ein"116. Die Erkenntnis der Pragmatiker von dem ständigen Wandel und Wechsel der dogmatischen Lehren und Meinungen wird hier überwunden durch die, freilich nicht näher geprüfte oder begründete, These vom bleibenden Kern der Lehrbildung. Diese Lehrbildung ist sowohl von ihrem biblischen Grund wie von den Einflüssen der Philosophie isoliert; die den Geist betreffenden Identitätsformeln H E G E L S und B A U R S werden ausdrücklich verneint. Die Bibel steht für sich. „In sonderlicher Weise vom heiligen Geiste gewirkt, zum Zweck der Kirche alle Zeiten Quelle und Norm der Heilswahrheit zu sein, steht sie (die hl. Schrift) als ein in sich geschlossenes Ganzes oberhalb der geschichtlichen Bewegung"111. „Statt einer rationalistisch auflösenden, geben wir die Kritik, welche das kirchliche Bewußtsein selbst ausgeübt hat"11*. Dieses kirchliche Bewußtsein ist freilich nicht mit dem göttlichen Geist identisch, daher auch nicht vollkommen. Es ist als bestimmende Macht „der Gemeingeist der christlichen Kirche. Wir sagen nicht ohne weiteres der göttliche Geist, sondern der ,aus dem Geiste Gottes geborene Lebensgeist', welcher göttlich gezeugt, menschlicher Art und darum irrthumsfähig ist, aber an dem Geist des Herrn sein Princip hat. Wie ein feiner geistlicher Hauch weht er 114 115 116 117 118

Ebenda S. 7. S. 17. Ebenda. S. 21. S. 22.

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durch die Geschichte hindurch, bald in Gedanke und Wort hell und klar hervorleuchtend und der Wahrheit Zeugniß gebend, bald noch verhüllt in einer ihm selbst unangemessnen Form, bald wie in den Hintergrund zurückgedrängt und nur etwa da spürbar, wo die Seele des Christen im Gebet mit Gott verkehrt. Er ist jene übergreifende, die große Arbeit der Kirche leitende Macht, der Geist der Wahrheit, der ihr nie ganz fehlen kann, weil sie die Verheißung des Herrn (Joh. 16,13) hat"lla. Man sieht, es fehlt die ,Hybris', aber es fehlt auch die Präzision der BAURschen Geschichtsbetrachtung120. R E I N H O L D S E E B E R G ist in unserm Zeitraum der eigentliche Erbe dieser Konzeption. Er hat in seinem Frühwerk über den Kirchenbegriff die sichernde Bedeutung des Kirchengedankens für die ganze Theologie und für die DG unverhohlen ausgesprochen121, dann aber in seinem S. 19 f. Über THOMASIUS vgl. außer KANTZENBACH a. a. O. S. 161 ff. noch H. FAGERBERG, Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theol. des 19. Jahrh. 1952. — Den unter der Reihe der konfessionellen Lutheraner gewöhnlich figurierenden Leipziger KAHNIS darf man als Dogmenhistoriker bezeichnen, aber sein Denken verläuft genau umgekehrt als dasjenige von THOMASIUS. „Vom Unglauben oder doch Zweifel ausgegangen, sind wir Lutheraner erst durch Gottes besondere Barmherzigkeit auf den Heilsboden des Christenthums gepflanzt worden. Wir waren zuerst Christen und wurden erst dann Lutheraner. Diesen Weg aber können und dürfen wir nicht verleugnen. Was uns zuerst feststehen soll und muß, ist daß wir Christen sind." Und etwas später: „Eine Richtung, welche das alleinige Gewicht des Glaubens auf die Schrift wirft, wird nothwendig auf Irrwege kommen, weil sie den Kommentar nicht liest, den der heilige Geist in der Entwickelung von achtzehn Jahrhunderten über die Schrift geschrieben hat" K. F . A. KAHNIS, Die luth. Dogmatik, 2. Bd. Der Kirchenglaube historisch-genetisch dargestellt Lpzg 1864, S. 623 f., 625 f. 119

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121 R. SEEBERG, Der Begriff der christl. Kirche, I Studien zur Geschichte des Begriffs der Kirche 1885 (mehr ist nicht erschienen) S. 1: „Die göttlichen und menschlichen Potenzen, deren begriffliche Erfassung Aufgabe der Dogmatik ist, gelangen im Begriff der Kirche zur Synthese. Denn die Kirche ist das Gemeinwesen des Heils, sie ist die geschichtliche Menschheit Gottes." Und S. V: „In diesem Interesse am Kirchenbegriff aber liegt ... ein bedeutsames Symptom für die Lebendigkeit des religiösen Bewusstseins der evangelischen Christenheit unserer Tage, denn es bewärt sich hieran, dass die dogmatischen Wahrheiten für uns nicht als logische Erkenntnisse in Betracht kommen, sondern dass sie in lebendiger Beziehung zur empirischen Wirklichkeit und zur geschichtlichen Realität der Menschheit Jesu Christi auf Erden gedacht werden.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 55 eigenen Werk die etwas engen Grenzen der Konzeption von T H O M A S I U S doch gesprengt. Seine Dogmengeschichte ist von religions- und geistesgeschichtlidien Aspekten bestimmt, und hat gerade darin ihre Stärke. „Die in der christlichen Ideengeschichte sich, allmählich entwickelnde Erfassung der zentralen Idee der Erlösung im Zusammenhang ihrer Voraussetzungen, Wirkungen und Konsequenzen — das ist schließlich der Inhalt der Dogmengeschichte", so lautet seine Definition122. Daß er trotz alles Modern-Positiven seiner Programmatik zu den konservativen Geistern vor 1914 gehört, beweist seine gerade in ihrem Pathos lehrreiche Stellungnahme zu der damals eifrig verhandelten Frage: Brauchen wir ein neues Dogma? 123 . Andere Vertreter der konservativen Theologie haben an die grundsätzliche Klärung der Frage von Dogma und Dogmengeschichte mehr Mühe gewandt als gerade R. SEEBERG124. Ein Damit aber ist der christlichen Warheit eine Stelle angewiesen, welche, weil in dem, schützenden Zusammenhang der geschichtlichen Tatsache des Christentums belegen, sie der Willkür subjektiver Einzelkritik entnimmt." 1 2 2 Lehrb. d. DG I S. 19 f. Anm. 1 2 3 R . SEEBERG, Braudien wir ein neues Dogma? Vortrag, geh. auf der Leipziger Pastoralkonferenz am 21. Mai 1891, 1892 42 S. Audi abgedruckt in „Neue Kirchliche Zeitschrift" 2. Jhrg. (1891) S. 576 ff. (Das Zitat unten S. 598.) SEEBERG setzt sich vor allem mit JUL. KAFTANS gleichnamiger Schrift auseinander und verbleibt weithin im Pathos der Pietät. An einer Stelle aber überschlägt er sich in der erstaunlichsten Weise selbst, indem er halb ironisch, halb ernsthaft beschreibt, was geschehen müßte, wenn man sich zu einer positiven Beantwortung seiner Themafrage entschließt. „ . . . daß erst dann, wenn aus dem Schoß der Gemeinde unter den Wehen einer neuen Geistesgeburt ein neues Dogma entbunden wird und alsbald die Herrschaft auf seine Schulter nimmt, mit dem Stabe seines Mundes die Völker zu regieren, und wenn dann ein Rausdien durch das Totengebein der Kirche geht, kurz, daß dann, wenn das ,neue Dogma' eine historische Macht geworden sein wird, für uns altmodische Leute die Stunde gekommen sein dürfte, unser altes Dogma zu revidieren" (S. 23). — Auch dort begegnet natürlich die Verknüpfung von Dogma mit Tatbestand des religiösen Lebens und seiner Erfahrung, wie überhaupt die Einordnung von Dogma in Religion. Aber das ist das Kennzeichen aller Theologie des 19. Jahrhunderts, und kann also R. SEEBERG nicht so ausnahmsweise zur Last gelegt werden, wie es W. ANDERSEN in seiner Anzeige des Neudrucks der SEEBERGschen DG getan hat (ThLZ 84, 1959, 801—810). 124 Ich denke hier vor allem an die Arbeiten von LUDW. IHMELS, Die Selbständigkeit der Dogmatik gegenüber der Religionsphilosophie (Festschr. d. Univ. Erlangen zur Feier des 80. Geburtstages s. königl. Höh. d. Prinzregenten Luitpold v. Bayern) 1901, S. 34; Das Verhältnis der Dogmatik zur Schrift-

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Blick auf einige Durchschnittsdokumente jener Zeit zeigt aber, daß man dogmengeschichtliche Arbeit treiben konnte, ohne von allzu viel Problemen bedrängt zu sein125. V Weil alles Bisherige durch den unbestreitbaren und unbestrittenen Glanz der HARNACK'sdien DG überstrahlt und durch ihr künstlerischstilistisches Geschick weit übertroffen ist, war es in relativer Ausführlichkeit zu bedenken und darzustellen. H A R N A C K S DG gegenüber kann ich mich auf knappste Andeutungen beschränken, zumal uns das Gedächtnisjahr 1951 und die Jahre seither mehr als eine gewichtige Würdigung des großen Werkes beschert haben 126 . Was ist eigentlich das Entscheidende seiner Konzeption, wobei wie bei den anderen hier behandelten Autoren das rein gelehrte, forschungsgeschichtliche Detail nicht zur Debatte steht? Entscheidend scheint mir: 1. Die sehr intelligente und wirksame Art, den Begriff Dogma zunächst einzuschränken auf die altkirchliche, christologisch-trinitarische Lehrbildung und eben diese Lehrbildung nach rückwärts und nach vorwärts zu isolieren. Nach rückwärts in der entschlossenen Antithese von Dogma und Evangelium — denn eine Antithese ist es, auch wenn man an der berühmten These von der Hellenisierung des Christentums auf Wissenschaft (Festschrift f. Theod. Zahn) 1908, 26 Seiten; Das Dogma in der Predigt Luthers (Univ.programm) Lpzg. b. Alex. Edelmann 1912, 70 Seiten. 1 2 5 Vgl. die simple Aneinanderreihung der Faktoren zum Begriff Dogma in dem Beitrag von PL. ZELLER, Die christl. DG, Handb. d. theol. Wissensch. hg. v. O. ZÖCKLER II 2 1885, 279—378, und die merkwürdig problemarmen zusammenfassenden Eingangssätze in der sonst so wertvollen Quellensammlung: Prof. Dr. H. SCHMIDS Lehrb. der DG, in 4. Aufl. neubearb. v. ALB. HAUCK, Nördlingen 1887, 414 Seiten. 1 2 6 Ich nenne nur W . SCHNEEMELCHER, Das Problem der DG, ZThK 48, 1951, 6 3 — 8 9 ; DERS., Christentum als Kulturmacht, zum 100. Geburtstag Ad. v. Hamacks, Ev. Theol. 10, 1950/51 S. 527—546; ferner neuerdings KANTZENBACH a. a. O. S. 186 ff. —• Aus früherer Zeit ist hier vor allem zu nennen, weil dabei HARNACK sich selbst in die Entwicklung der D G einordnet bzw. eingeordnet wird: AD. HARNACK, ALBRECHT RITSCHL, Gedenkfeiern der Univ. Bonn für einstige Mitglieder, Ludw. Röhrscheid Verlag Bonn 1922, 16 S., mit einer mit HARNACKScher Meisterschaft gezeichneten Skizze der BAURSchen Forschung (S. 5ff.); anderseits ERNST TROELTSCH, Adolf v. Harnack u. Ferd. Christ. Baur (Festg. für Ad. v. Harnack) 1921 S. 282—291.

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dem Boden des Evangeliums die fünf letzten Worte keineswegs unterschlagen oder ignorieren wird. Isolierung nach vorwärts, weil H A R N A C K die bereits bei A U G U S T I N einsetzende Modifikation und die mit der Reformation beginnende Auflösung des Dogmas zum eigentlichen Gegenstand seiner Darstellung macht. Man ist in der Folge H A R N A C K gerade in dieser Einengung des Begriffs Dogma nicht treu geblieben. Aber es hat m. E. wenig Sinn darüber zu streiten, da man den Begriff Dogma geschichtlich und sachlich in der Tat enger oder weiter fassen kann. Niemand wird H A R N A C K bestreiten wollen und können, daß die von ihm ausschließlich als Dogma betrachtete Größe in der Tat ein Gebilde sui generis ist, und daß alles, was nachher kommt, Dogma nur in einem etwas anderen Sinn heißen kann. Eigenart und Problematik des altkirchlichen Dogmas ist jedenfalls nie so deutlich herausgearbeitet worden wie in dieser Sicht HARNACKS, gerade weil er nicht viel davon wissen wollte: seine Metaphysik, sein primäres Interesse am Menschen als Naturwesen, seine Überlegenheit gegenüber allem bloßen Personalismus, und sein — trotz W. ELERT127 — Desinteressement am historischen Jesus. Sofern die DG nicht nivellieren, sondern profilieren soll, ist HARNACKS Leistung kaum zu überschätzen. 2. Die schon erwähnte These vom Dogma als einer Konzeption des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums ist am allerwenigsten neu. Sie hat eine schon bei M E L A N C H T H O N beginnende Vorgeschichte128. Daß sie dennoch so provozierend wirkte, ist erstaunlich und nur zum Teil mit der damaligen wesentlich apologetischen Grundstimmung des ausgehenden Jahrhunderts zu erklären129. Von der Konzeption des T H O M A S I U S her war freilich H A R N A C K S These untragbar. Aber H A R NACKS These wirkt so provozierend, weil sie gar nicht rein historisch gemeint war. Denn 3. die Grundtendenz seiner DG ist emanzipatorisch, und diese Grundtendenz erweckte den leidenschaftlichen Widerspruch der kirchlich-theo127 YGJ

ELERT, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie 1957, dar-

ü b e r KANTZENBACH a . a. O . S. 2 4 2 ff. 1 2 8 Dazu vgl. vor allem die gründlichen Arbeiten von A. GRILLMEIER, Hellenisierung—Judaisierung des Christentums als Deuteprinzipien der Geschichte des kirchlichen Dogmas, Scholastik 33, 1958, 528—558; Antikes und neuzeitliches Denken in Begegnung mit dem Christentum, ebenda 34, 1959, 370—393. 1 2 9 Man kann daran auch ablesen, wie rasch und gänzlich der Ertrag der BAURschen Forschung und seine ganze Konzeption in Vergessenheit geriet.

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Schneemelcher, Theologentag 1960

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logischen Umwelt. H A R N A C K betont es selbst: „Indem die Dogmengeschichte den Prozess der Entstehung und Entwickelung des Dogmas darlegt, bietet sie das geeignetste Mittel, um die Kirche von dem dogmatischen Christenthum zu befreien und den unaufhaltsamen Prozess der Emanzipation, der mit Augustin begonnen hat, zu beschleunigen". Er ist Historiker genug, um alsbald hinzuzufügen: „Aber sie zeugt auch von der Einheit des christlichen Glaubens im Laufe seiner Geschichte, sofern sie nachweist, daß die centrale Bedeutung der Person Jesu Christi und die Grundgedanken des Evangeliums niemals verloren gegangen sind und allen Anläufen getrotzt haben"130. Unter den Anläufen sind aber im Sinne H A R N A C K S doch wohl die Dogmatisierungen zu verstehen. Im übrigen hat er die ,Tenacität des Dogmas' oft genug betont 131 . 4 . Da H A R N A C K seine Forschung durchaus im Zusammenhang einer kulturellen Programmatik betrieben hat, ist ihm mit der These gewiß nicht Unrecht getan worden, daß seine Kritik am altkirchlichen Dogma u. a. darauf hinausläuft, daß er die Bindung des christlichen Geistes an die Spätantike für verhängnisvoll hielt und sie durch eine intensive Bindung an die Kultur der Moderne ersetzt sehen wollte.

5. Das Verständnis des ,einfachen Evangeliums', des ,Wesens des Christentums' und die modernisierende Interpretation L U T H E R S und der Reformation leisten ihm die besten Hilfsdienste in diesem emanzipatorischen Streben, sich selbst und die Christenheit seiner Zeit vom dogmatischen Christentum zu befreien. An keinem Punkt zeigt sich die Forschungsleistung H A R H A C K S so deutlich von den subjektiv-religiösen Voraussetzungen beeinflußt wie hierbei, wie seine Aversion gegen die Religionsgeschichtliche Schule zeigt132. Auch der Satz vom Evangelium, wie es Jesus verkündet hat, das für die DG stets im Hintergrund bleibe, während diese selbst an die Verkündigung der ersten Generation und an das christlich verstandene Alte Testament anknüpfe 133 , kann im Zusammenhang des HARNACK'sdien Programms nur so verstanden werden. Er begegnet, wie wir sahen, schon bei M Ü N S C H E R , auch bei B A U R , und stellt ein eigentümliches Ineinander verschiedener Motive dar: es steckt noch etwas von der Anerkennung des Wahrheitsursprungs und der Wahrheitsnorm darin. Aber gerade, 130 131 132 133

D G (Grundriß) 3. Aufl. 1898. Vgl. Lehrb. 1. Aufl. 1886 I, 11. Lehrb. I S. 45. DG (Grundriß) S. 14 f.

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indem das Evangelium gegen das spätere Dogma ausgespielt wird, stellt der Satz auch den Freibrief und das Mittel dar, sich den Wahrheitsanspruch des Dogmas vom Halse zu halten. 6. Mit alledem lenkt HARNACKS DG, wie man schon oft bemerkt und wozu er sich selbst offen bekannt hat, entschlossen zur Aufklärung zurück, deren „hellen und strengen Geist" er •— nicht ohne Recht — rühmt134. Vielleicht muß man diesen Befund so verstehen, daß es eine wirkliche ,Überwindung' der DG für die Theologie erst dann geben konnte, wenn sie im Zusammenhang einer wirklichen ,Überwindung' der Aufklärung geschähe. Das 19. Jahrhundert hat gerade auch in der DG auf verschiedenen Wegen die Aufklärung zu überwinden geglaubt. Der Ausgang in der HARNACKschen DG zeigt, daß davon keine Rede sein kann. Freilich muß man, soviel ich zu beurteilen vermag, das Erbe des 19. Jahrhunderts auch in der DG nicht mit HARNACK als Höhepunkt abschließen. Vielmehr möchte ich noch auf den Lösungsversuch eines HARNACK-Zeitgenossen aufmerksam machen, auf den HARNACK gelegentlich, teils positiv, teils abgrenzend, eingeht, der aber sonst im deutschen Bereich nur eine kühle Aufnahme gefunden hat135. A U G U S T S A B A T I E R , der französische Protestant, hat in mehreren, auch ins Deutsche übersetzten Werken, sich aufs intensivste mit dem Problem von Dogma und Dogmengeschichte befaßt, freilich keine ausgeführte DG vorgelegt138. S A B A T I E R hat m. E. einige Dinge deutlicher gesehen und schärfer herausgearbeitet als die deutschen Gelehrten. Er sollte also auf keinen Fall übergangen werden; ja, er verdient es m. E., hier den krönenden Abschluß zu bilden, nicht um B A U R nun doch wieder zu verdrängen, sondern weil seine Einsichten die hohe Position B A U R S ergänzen können. Da sich S A B A T I E R um eine systematische Bewältigung des Dogmenproblems bemüht, gebraucht er den Begriff des Dogmas im weitesten Sinn, also auch für den protestantischen Bereich. „Im Geist des Protestantismus wird man also ein Dogma den allgemein in einer Kirche angenommenen Lehrtypus nennen, wie er öffentlich zugleich in ihrer Liturgie, ihren Katechismen, ihrer amtlichen Lehre und ganz besonders Lehrb. I, IV, aus dem Vorwort von 1885. R E 17, 281. 28 — dort über A. SABATIER S. 275—283. 136 A. SABATIER, Religionsphilosophie auf psychologischer und geschichtlicher Grundlage, autor. dt. Übers, v. A. BAUR, Freiburg, J. C. B. Mohr 1898, 326 S. Das Werk baut sich in drei Teilen auf: Religion (S. 1—106), Christentum (S. 107—203), Dogma (S. 204—324). 134 135



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in ihren Glaubensbekenntnissen seinen Ausdruck gefunden hat"137. Die engen und wesentlichen Beziehungen zwischen Kirche und Dogma in ihrer Wechselwirkung werden erkannt und betont: „Aus dem Dogma entspringt die Auktorität der Kirche, und diese hinwiederum giebt dem Dogma seine Weihe, indem sie es über alle Diskussion erhebt"138. Aber auch das andere gilt, „dass eine Kirche für ihr Dogma nicht mehr Auktorität in Anspruch nehmen kann als für sich selber"139. Insoweit führt S A B A T I E R Dogma ganz auf Kirche zurück, und zwar nicht auf deren politisch-rechtlichen Aspekt, sondern auf den sittlich-religiösen. „Ein Dogma im eigentlichen Sinn des Wortes erscheint erst, wenn die religiöse Gemeinschaft sich von der bürgerlichen unterscheidet und eine sittlichreligiöse Gemeinschaft sich bildet, die sich durch freiwilligen Beitritt ergänzt"140. Aus all dem wird schon deutlich, daß S A B A T I E R eine ursprüngliche positive Beziehung zwischen Dogma und (christlicher) Religion kennt. „Das Dogma hat seine ursprüngliche Wurzel in der Religion"141. Er möchte nachweisen, „daß diese lange Entwicklung ... seit dem ersten Erscheinen des religiösen Gefühls bis zur Proklamation einer feierlich abgeschlossenen und unter der Form eines Dogmas sanktionierten Lehre sich völlig vor der Vernunft als eine ebenso rechtmässige als notwendige Bewegung rechtfertigt"142. Schließlich der Satz, gegen den H A R N A C K SO starken Einspruch erhoben hat: „Das Dogma ist die Sprache, welche der Glaube redet"143. Für S A B A T I E R ist das Dogma eine Lebensfunktion und A. a. O. S. 229. S. 219. — S. 217: „Man sieht, wie das Dogma zuerst die Macht der Kirche begründet und schafft und wie dann später die Kirche das Dogma vollendet und ihre Auktorität darauf gründet." 137

138

139

S. 205.

S. 211. — Im Blick auf einen persönlichen Hinweis von RUD. HERMANN bei der Diskussion in Berlin, Dogma sei eben doch wesentlich als ius zu verstehen, möchte ich hier einfügen, daß diese Frage eigentlich nur polemisch und kontrovers-theologisch in der DG des 19. Jahrhunderts begegnet. Die innerevangelischen Erörterungen über Bekenntnis und Bekenntnisverpflichtung scheinen davon wenig berührt zu sein. Etwas anders liegt es beim Apostolikumstreit, der gewiß eine symptomatische Bedeutung für unser Thema hat, aber in seinen Details hier in der Kürze nicht aufgegriffen werden konnte. Bei diesen .Fällen' sind aber die Details für das Urteil unerläßlich. 140

141

SABATIER a . a . O . S . 2 0 6 .

142

S. 213.

143

S. 235. Vgl. HARNACK, Lehrb. I, 24 f.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 61 Lebensnotwendigkeit der Kirche. „Eine Kirche ohnen Dogmen wäre eine unfruchtbare Pflanze"14*. Es ist „ohne absolut giltig und in sich vollkommen zu sein, schlechterdings für die Ausbreitung und die Erbauung des religiösen Lebens notwendig"145. Und nun entwirft SABATIER, gewiß vom damaligen philosophischen Vitalismus beeinflußt, ein anschauliches Bild vom Leben und Sterben der Dogmen und des Dogmas. „Um fruchtbar zu sein, muss das Dogma sich zersetzen, d. h. es muß unaufhörlich mit der Entwicklung des menschlichen Denkens in Verbindung treten und hier absterben; darin liegt für das Dogma die Bedingung einer stetigen Wiederauferstehung"146. Vom Gleichnis des in die Erde gesenkten Samenkorns (Joh. 12,24) macht er gerne Gebrauch. Das ermöglicht ihm eine schonungslose Beschreibung der Erstarrungsvorgänge, wobei er den römischen Katholizismus vielleicht doch nicht ganz richtig einschätzt. Mit Hilfe sprachphilosophischer Erwägungen und Theorien trägt SABATIER dann eine eindrucksvolle Theorie vom Wandel der Dogmen vor. Denn — das ist die Grundthese — „die Dogmen sind also entwicklungsfähig, so lange sie lebend sind"141, und es sollte der Kirche und den Theologen darauf ankommen, diese Entwicklungsfähigkeit nicht zu leugnen oder zu hemmen, sondern zu erkennen und zu fördern1 „So ist also das Dogma gerettet, aber um welchen Preis? Man vergöttert und versteinert es zugleich. Dadurch, dass man es über alle Diskussion hinaushebt, nimmt man ihm das Leben'149. So kann SABATIER in aller Form ein Entmythologisienmgsprogramm vortragen und die Krisis des Dogmas in der alten katholischen Fassung mit letzter Schärfe analysieren, ohne wie STRAUSS den Kahn der DG auf die Klippen der totalen Profanität auffahren zu lassen. Denn er fragt nicht sofort nach dem Bleibenden der christlichen Wahrheit, sondern er statuiert den Wandel. „Es giebt kein Dogma, und wäre es erst zwei- oder dreihundert Jahre alt, das irgend jemand noch in seiner ursprünglichen Bedeutung gebrauchte. Wir reden immer noch von der Inspiration der Propheten, von der Versöhnung, von der Dreieinigkeit, von der Gottheit Christi, vom Wunder; aber wir verstehen alle diese Ausdrücke mehr oder weniger in einem andern Sinn, als unsere Väter"149. 144 345 146 147 148 149

S. 230. S. 231. S. 231. S. 242. S. 257. S. 243.

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SABATIER hat also besser und deutlicher als — soweit ich zu urteilen vermag — alle vor ihm wahrgenommen, daß es in der Dogmengeschichte nicht nur auf die weiterzugebende (objektive) Tradition ankommt, sondern daß der Vorgang der Rezeption genau so wesentlich ist. Er geht neben der Tradierung der gleichen alten Formeln her, und er bedingt den Wandel selbst dort, wo der Konservatismus und Traditionalismus am größten ist. Vom Ansatz der Dogmengeschichte in der Orthodoxie (beider Konfessionen) ist als erstes Anliegen mitgegeben: die unveränderliche Wahrheit muß erhalten werden (der apologetische Aspekt) oder — die unveränderliche Wahrheit muß aufgelöst werden (der emanzipatorische Aspekt). Der glanzvolle Ingrimm von D. F R . STRAUSS wird abgelöst von einem wirklichen psychologisch-historischen Verständnis der DG. Von den drei eingewurzelten Vorurteilen, gegen die SABATIER ankämpft, müssen mindestens die ersten beiden auch von uns heute als Vorurteile erkannt und aufgegeben werden: „Das erste ist, dass die Dogmen unveränderlich sind; das zweite, dass sie notwendig sterben, sobald die Kritik sie berührt; das dritte, daß sie das Wesen der Religion selber ausmachen, die mit ihnen fällt oder steht"150. Das dritte Vorurteil kann hier nicht erörtert werden, weil SABATIER, wie wir zeigten, an anderer Stelle den Wesenszusammenhang zwischen Dogma und Religion viel enger nimmt, und weil der ihm, wie seinem ganzen Jahrhundert, eigentümliche Religionsbegriff nach unsern heutigen Erkenntnissen den ganzen Problembereich verdunkelt und belastet. Ebenso ist hier nicht der Ort, SABATIERS Symbolismus, mit Hilfe dessen er die bleibende Bedeutung der christlichen Wahrheit zu erfassen sucht, genauer zu erörtern. Angesichts der heutigen Tendenzen, mit den Mitteln eines Symbolismus zu arbeiten, darf aber immerhin auf die beachtlichen Versuche und Leistungen SABATIERS für dieses Gebiet aufmerksam gemacht werden.

Wohl aber soll SABATIER hier noch zu Worte kommen mit der geistvollen und m. E. höchst aktuellen Platzanweisung, die er der DG hinterlassen hat. Audi hier wird man nicht sagen können, daß er das 19. Jahrhundert hinter sich gebracht hätte; haben ja wir heute es auch nicht hinter uns gebracht. Aber er hat das Erbe des 19. Jahrhunderts in bezug auf die DG auf eine pointierte Formel gebracht. SABATIER beschreibt zunächst den Standort der (Dogmatik und) DG zwischen Kirche und Philosophie. „In den Erfahrungen der Kirche findet sie (die Wissenschaft vom Dogma und den Dogmen) den Stoff, den sie zu bearbeiten hat; der 150

S. 232.

Dogma und Dogmengeschichte in der Theologie des 19. Jahrhunderts 63 Philosophie entlehnt sie die Methode, nach der sie den Stoff behandelt, und die Form, in welcher sie denselben gestaltet"151. Dann aber fährt er fort: „Diese Stellung unserer Wissenschaft zwischen Kirche und Thilosophie macht ihre Unabhängigkeit und Originalität aus... Sofern sie den Gegenstand ihrer Untersuchung aus der geschichtlichen Überlieferung nimmt, ist sie von der Philosophie unabhängig... Durch die Thatsache, dass sie von der Philosophie Methode und Verfahren für ihre Untersuchung und Erörterung entlehnt, gewinnt sie ihre Unabhängigkeit gegenüber der Kirche. Ihre Freiheit verdankt sie also dieser doppelten Gebundenheit.. , " 1 5 2 . S A B A T I E R vergleicht in diesem Zusammenhang die DG mit einem kleinen Fürstentum zwischen zwei Großmächten, das sich eben durch seine Zwischenstellung unabhängig erhalten kann. Und er schließt mit dem Satz: „So kommt es, dass unsere Wissenschaft, wenn sie dem Prinzip der christlichen Frömmigkeit gewissenhaft treu bleibt, zwar häufig mit den Kirchenbehörden, aber im Grund niemals mit der Kirche selbst in Konflikt kommen kann"153. Niemand wird das Zeitbedingte dieser pointierten Sätze überhören mögen: in Deutschland der Apostolikumstreit, in Frankreich der viel härtere Kampf zwischen Modernismus und Antimodernismus. Und doch hat SABATIERS Formel etwas sehr Hilfreiches. Sie nennt die Dinge beim Namen, die uns auch heute noch bedrängen: das Verhältnis von kirchlicher und wissenschaftlicher Bindung. STRAUSS hat sie als schlechthin ausschließend empfunden. „Also lasse der Glaubende den Wissenden, wie dieser jenen, ruhig seine Straße ziehen; wir lassen ihnen ihren Glauben, so lassen sie uns unsre Philosophie"15*.Die Theologie des 19. Jahrhunderts, die DG voran, hat sich zu einem solchen Zerschneiden des Tischtuchs nicht entschließen können. Aber ein Unbehagen bleibt, wenn man den gesamten Gang der Dinge übersieht, keineswegs nur im Blick auf etwaige Ubergriffe von Wissenschaftlichkeit und Philosophie, sondern auch im Blick auf erhebliche apologetische Verkürzungen und kirchliche Ängstlichkeiten, die unter den nun einmal bestehenden innerprotestantischen Voraussetzungen den gewünschten Effekt niemals haben konnten. Weil wir heute, zwei Generationen später, in mancher Hinsicht ähnlich dran sind, ist die Ortsbestimmung, die S A B A T I E R mit der DG vornimmt, aktuell und beachtenswert. Freilich sieht sich die DG in dem 151 152 153 154

S. 264. S. 265. S. 271. Gl. L. I, 356.

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Augenblick, wo ihr eine solche Unabhängigkeit zwischen zwei rivalisierenden Mächten zugesprochen wird, vor die Frage gestellt, von welcher Substanz sie in ihrem kleinen Fürstentum zu leben gedenkt und was sie etwa auf ihrem Weg durch die letzten anderthalb Jahrhunderte — wir versetzen uns in das Jahr 1910! — geleistet habe. Auch die DG in ihrer durch die Aufklärung geschaffenen Form hat das Dogma in intensive Bewegung gebracht. Sie hat es der Gegenwart durch die historisch-kritische Analyse nach seiner irdisch-geschichtlichen Entstehung und Entwicklung vor Augen gestellt und sie hat es durch die verschiedenen ,Philosophien' der DG, von denen oben die Rede war, dem jeweiligen Wahrheitsverständnis anzunähern und zugänglich zu machen gewußt. Dabei ist Vielfalt und Wandel der christlichen Lehren stärker sichtbar geworden als Einheit und Kontinuität. Aber eine Kontinuität von Geist und Wort hat sich selbst dem kritischsten Zugriff doch immer wieder gezeigt — selbst bei STRAUSS müßte sich das zeigen lassen, wenn wir das säkularisierte Ergebnis seiner epikritischen Dialektik ernsthaft auf seinen christlichen Wahrheitsgehalt prüfen wollten. Das ist doch nicht nur ein Beweis für die innere Widerständigkeit der dogmatischen Wahrheiten gegenüber dem Zugriff der dogmengeschichtlichen Fragestellung — wäre nur das der Fall, so müßte man das Ergebnis des 19. Jahrhunderts dahin verstehen, daß die DG ihr primäres Ziel, Befreiung vom dogmatischen Christentum eben infolge der Tenacität von Dogma und Kirche (und konservativer Theologie) — leider oder glücklicherweise? — nicht erreicht habe. Vielmehr muß man allen Mitarbeitern am Werk und Weg der DG — wiederum STRAUSS eingeschlossen — zubilligen, daß sie mit ihren historischen und philosophischen Mitteln nach der Einen Wahrheit haben fragen wollen. Wir sind heute mit jenen damals über die Angemessenheit der begrifflichen Mittel keineswegs in jedem Fall einig: das Vokabular bedurfte mancher Revision, in der wir noch mitten drin stehen155. Aber es muß Einigkeit unter uns darüber 1 5 5 Zum Verständnis dieses Vokabulars ist höchst dienlich das anscheinend ziemlich vergessene Buch von RUD. EUCKEN, Die Grundbegriffe der Gegenwart, historisch und kritisch entwickelt, Leipzig 1893 2 317 Seiten. Ich zähle den Inhalt auf: Subjektiv-objektiv; Erfahrung; A priori-a posteriori; Entwickelung; Monismus-Dualismus; mechanisch-organisch; Gesetz; Individualität-Gesellschaft; Sozialismus; Utilitarismus (das Glücksproblem); Idealismus-Realismus-Naturalismus; Freiheit des Willens; Persönlichkeit und Charakter; theoretisch-praktisch; Immanenz-Transcendenz (das religiöse Problem). — Zur Revision u. a. besd. H. J. IWAND, Der Prinzipienstreit in der Theologie (in dem

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bestehen, daß die geschichtliche Fragestellung als solche dem Dogma gegenüber nicht nur eine Konzession von Kirche und Theologie an ein notwendiges Übel ist, sondern daß wir die dogmatische Tradition nur durch das Medium der historisch-kritischen Forschung haben können — „sonst müßtet ihr ja die Welt räumen"! (1. Kor. 5,10). Etwas anders wäre m. E. das Ergebnis zu formulieren, wenn man nun nach der spezifischen Autorität des Dogmatischen in der Theologie des 19. Jahrhunderts fragt. Dieses Problem ist nicht d a s Problem der DG, sofern sich diese mit Entstehung und Entwicklung des Dogmas und der Dogmen (nicht nur im eingeschränkten Sinn H A R N A C K S ) befaßt. Die DG wird sogar diese spezifische Frage weithin ausklammern. Von der Kategorie des Dogmatischen und ihrem spezifischen Anspruch war die Theologie des 19. Jahrhunderts im ganzen noch stärker befremdet als von den Inhalten und von dem Wandel bzw. der Einheit der dogmatischen Tradition selbst. Hier greifen wir in der Gegenwart unmittelbar zurück auf die Erkenntnisse Luthers, von denen ich ausging. Während wir also in bezug auf die unmittelbar vor Augen stehende dogmengeschichtliche Arbeit selbst uns ganz in der Kontinuität der Forschung sehen —- wofür die Neudrucke von H A R N A C K und S E E B E R G ein positives, wenn freilich auch unsern eigenen Mangel andeutendes Zeichen sein mögen —, sehen wir auf die systematischen Versuche des 19. Jahrhunderts, der spezifischen Autorität der christlichen Wahrheit den angemessenen Ausdruck zu geben, sehr viel kritischer zurück. Aber auch heute noch warten wir auf die Theologie des dritten Artikels —• vom Geist Gottes —, in der die christliche Lehrgeschichte als Geschichtsvorgang ihre spezifisch dogmatische Autorität von neuem und erst wirklich gewinnt156. von mir hg. Sammelband Um den rechten Glauben, Theol. Bücherei 9, 1959, S. 2 2 2 — 2 4 6 ) . 156 Manches aus dem erst im Druck angefügten Schlußabschnitt geht auf das mir besonders wertvolle Diskussions-Votum von H. GOLLWITZER zurück. — Erst nach Abschluß dieser Arbeit wird mir zugänglich KARL DUNKMANN, Geschichte des Christentums als Religion der Versöhnung und Erlösung, I, 1 Prolegomena, I, 2 Die Entstehung des Altkatholizismus, Leipzig, Dieteridische Verl.-Budihandlung 1907, 184 und 302 S. AD. HARNACK hat ihn vielleicht doch zu schnöde abgewiesen (Lehrb. I S. 43 Anm. 2). DUNKMANN, der die sehr eigenwillig stilisierte und konstruktive Studie noch im praktischen Amt geschrieben hat, gehört zu den Vertretern einer apologetischen DG, aber er hat die Auseinandersetzung mit der Gesamtentwiddung sehr viel intensiver aufgenommen als etwa THOMASIUS. Die Prolegomena enthalten eine Übersicht

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über die möglichen Religions- und Christentumsbegründungen seit F E U E R BACH, und sind ein sehr selbständiger Beitrag zur Theologie-Geschichte der Jahrhundertwende. Seine Grundthese hat DUNKMANN selbst so formuliert: „An dieser Stelle leuchtet die Alternative ein, von der die nachfolgende Untersuchung getragen ist: nämlich dass entweder nur allein die christliche Religion eine wirkliche Geschichte hat, oder — wenn nicht — dass dann überhaupt nicht von einer Geschichte der Religion geredet werden kann, sondern nur von einem regellosen Zusammenhang mythologischer Vorstellungen. Jedenfalls erhebt die christliche Religion auch allein den Anspruch, eine Geschichte haben zu können, und begründet diesen Anspruch mit ihrem Charakter als Offenbarung des Gottes, der die Geschichte der Völker lenkt (Acta 17, 26). Die Möglichkeit aber einer Geschichte der Religion, nicht blos religiöser Vorstellungen, ist gegeben in der Voraussetzung einer fortwirkenden Gegenwart und Bezeugung des in Christo offenbar gewordenen Gottes: in der Lehre vom heiligen Geist. Der heilige Geist ist der Faktor, der die Geschichte des Christentums als Religion ermöglicht und gestaltet, sofern er einen kontinuierlichen Zusammenhang jenseits der rationalen Vorstellungen in den Willen der Menschen zu Wege bringt, und eine so gebildete ,Gemeinde' in das Völkerleben hineinsetzt mit der Zusage ihrer ewigen Dauer" (I, 1 S. 12 f.). DUNKMANN möchte sich also mit Hilfe einer streng voluntaristischen Konzeption der herkömmlichen philosophischen Schwierigkeiten entschlagen — „Die Natur des Willens ist auch das Wesen des Christentums" (I, 1, 152) —, die so viel und so wenig wert ist wie die andern damaligen Voluntarismen ( R . S E E B E R G , A. SCHLATTER U. a.). Aber er hat nicht nur die essentielle Lücke einer haltbaren Geist- und Geschichtstheologie stärker empfunden als andere, sondern auch das Ausfallen der Eschatologie (S. 117 ff.). Sachlich hat er sich die Aufgabe gestellt, den „Nachweis der Selbständigkeit und Gesetzmässigkeit der christlichen Religion" zu erbringen, und dabei besonders drei Probleme hervorgehoben: „die Selbständigkeit innerhalb der Profangeschichte, die Unterscheidung (des wesentlich Christlichen) von den Häresien und das Gesetz der konfessionellen Spaltung" (I, 1 S. 25). Von da aus geht er dann auch an die Erforschung und Darstellung des Altkatholizismus, der als eine eigentümliche Konfession im Ablauf der Gesamtentwicklung erkannt werden muß und nicht in der polemischen Weise HARNACKS (oder schon A. RITSCHLS) als bloße Entartung aufzufassen ist. Die beiden wesentlichen Kriterien, von denen aus die Geschichte der chrisdichen Lehre beurteilt wird, sind Versöhnung und Erlösung, aus deren jeweiligem Vorwalten oder Zurücktreten sich die Typen der Entwicklung ergeben. Das ganze Unternehmen, von DUNKMANN nicht über AUGUSTIN hinausgeführt, ist dann aber doch dem 19. Jahrhundert zutiefst darin verhaftet, daß nach seiner Meinung „die historische Einzigkeit des Christentums, in Verbindung mit seiner Normativität ... vielmehr seinen Ursprung und Charakter als Offenbarung" bedingt (I, 1 S. 108), womit schließlich doch wieder der Wagen vor das Pferd gespannt wurde.

WERNER GEORG

KÜMMEL

DAS E R B E DES 19. JAHRHUNDERTS FÜR D I E N E U T E S T A M E N T L I C H E WISSENSCHAFT VON H E U T E I Der Begriff des 19. Jahrhunderts ist chronologisch schwer zu begrenzen. Mag die Profanhistorie oder selbst die Kirchengeschichte von politischen und sozialen Ereignissen und Entwicklungsstufen aus die Grenzen ziehen, so kann eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung immer nur von der besonderen Entwicklung der einzelnen Disziplin ausgehen. Denn so eng der Zusammenhang gerade der Geistesgeschichte und damit auch der Theologie mit der Kultur ihrer Zeit auch sein mag, die Geschichte der wissenschaftlichen Bemühungen um einen einzelnen Erkenntniskomplex ist doch in einem ungewöhnlichen Maß von einzelnen beherrschenden Persönlichkeiten bestimmt, deren wegweisende Gedanken den Beginn einer neuen Periode bedeuten. Deshalb kann die Bedeutung des 19. Jahrhunderts für die exegetische Arbeit am Neuen Testament und die Erforschung des Urchristentums nur dann recht erkannt werden, wenn man das 19. Jahrhundert auch hier durch die entscheidenden Wendungen des wissenschaftlichen Denkens und die richtunggebenden Persönlichkeiten bestimmt sein läßt. Von diesem Gesichtspunkt aus hat man jedoch die Nachwirkungen der die neutestamentliche Wissenschaft im strengen Sinn begründenden Aufklärungstheologie bis zum Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts anzusetzen und erst etwa mit dem Jahr 1820 die spezifischen Gedanken des 19. Jahrhunderts beginnen zu lassen. In gleicher Weise hat erst die Zeit unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg eine in wesentlichen Punkten neue Phase der Arbeit am Neuen Testament eingeleitet, obwohl gewisse Ansätze der neuen Entwicklung des 20. Jahrhunderts schon um die Jahrhundertwende zu erkennen sind. Man wird daher das 19. Jahrhundert, was seine Bedeutung für die exe-

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getische und historische Arbeit am Neuen Testament betrifft, etwa auf die Zeit von 1820—1920 festlegen dürfen1. II Wenn ich nun die besonderen Leistungen und die bleibenden Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts für die Aufhellung des Neuen Testaments und der urchristlichen Geschichte aufzuzeigen versuche, so müssen wir zunächst fragen, welche Einsichten und Fragestellungen der Forschung zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Zeit des Deismus und der Aufklärung, vor allem aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, überkommen waren, d. h. wir müssen wissen, welche Gedanken und methodischen Forderungen etwa um 1820 bereits anerkannt oder wenigstens als zu lösende Fragen erkannt worden waren. Denn manches, was uns heute selbstverständlich ist oder auch als problematisches Erbe des 19. Jahrhunderts erscheinen mag, ist schon zu dessen Beginn anerkannt oder umstritten gewesen. Man wird zunächst auf d r e i V o r a u s s e t z u n g e n neutestamentlicher Forschung hinweisen müssen, die die Theologie der Aufklärung den Forschern des 19. Jahrhunderts übergeben hat. 1. Grundlage aller Beschäftigung mit dem Neuen Testament ist ein zuverlässiger griechischer Text dieser Schriftensammlung. Nachdem schon zu Ende des 1 7 . Jahrhunderts RICHARD SIMON an zahlreichen Handschriften und Nachrichten der Kirchenväter gezeigt hatte, daß es sehr verschiedenartige Textformen des Neuen Testaments gebe, und J O H N M I L L die Lesarten aller erreichbaren Handschriften gesammelt hatte, wagten es zum erstenmal J O H . A L B R . BENGEL und J O H . J A K . W E T T S T E I N in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, unter dem griechischen textus receptus die Lesarten anzugeben, die sie eindeutig oder zögernd als die richtigeren erklären wollten. Gegen Ende des Jahrhunderts beobachtete dann J O H . J A K . SEMLER den grundsätzlichen Unterschied zwischen der großen Masse der späteren Handschriften und der kleinen Zahl wertvoller älterer Zeugen, und J O H . J A K . GRIESBACH zog aus dieser Erkenntnis sogar die Konsequenz, den überlieferten Text auf Grund dieser kleinen 1 Ähnlich grenzt audi F. SCHNABEL, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert I, 1929, 4 ab: „Das Jahrhundert ... hob an, als der Vorhang über dem prächtigen Schauspiel des napoleonischen Heldenlebens niederfiel, und es ging zu Ende, als über Europa die Fackeln des allgemeinen Krieges und der Weltrevolution zu lodern begannen."

Das Erbe des 19. Jh.s für die neutestamentliche Wissenschaft

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Gruppe besserer Handschriften vorsichtig zu ändern2. Damit war der Grundsatz anerkannt, daß der Text des Neuen Testaments methodisch auf der Grundlage der besseren Handschriften festgelegt werden müsse, doch wagte es vorerst noch niemand, diese Aufgabe der Herstellung eines kritischen Textes als Ganzes in Angriff zu nehmen. 2 . RICHARD SIMON hatte, ausgehend von der Verschiedenheit der Sprachen und der Handschriften, die kritische Untersuchung des Textes des Alten und des Neuen Testaments zum erstenmal je für sich vorgenommen; JOH. DAVID MICHAELIS veröffentlichte von 1 7 5 0 an seine „Einleitung in die göttlichen Schriften des neuen Bundes"; und 1761 ließ JOH. AUG. ERNESTI seine „Institutio interpretis Novi Testamenti" erscheinen und zeigte damit, daß er die sachgemäße Erklärung des Neuen Testaments als eine Aufgabe ansah, die von der Untersuchung des Alten Testaments wesentlich verschieden sei. Damit war erkannt, daß das Alte und das Neue Testament bei einer geschichtlichen Betrachtung getrennt ins Auge gefaßt werden müssen, daß das Neue Testament deshalb ein eigener Gegenstand geschichtlicher Untersuchung sei.

3. Diese Einsicht war aber erst in dem Augenblick möglich, als man es als Aufgabe wissenschaftlicher Untersuchung der Bibel erkannt hatte, das Alte und das Neue Testament als geschichtliche Größen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu erforschen. Diese Erkenntnis ist nur zögernd und schrittweise gewonnen worden. Am Anfang des 18. Jahrhunderts forderte JEAN ALPHONSE TURRETINI, man müsse die heiligen Schriften wie alle anderen Bücher aus ihrer eigenen Zeit heraus erklären3, und bald danach stellte JOH. JAK. W E T T S T E I N den Grundsatz auf, die Bücher des Neuen Testaments seien mit den Augen seiner ersten Leser zu lesen. Von diesem Standpunkt aus ließ dann JOH. AUG. ERNESTI nur die grammatische Erklärung des Schriftwortes als richtig gelten, erklärte allerdings die Anerkennung von Widersprüchen in den heiligen Schriften für unmöglich. JOH. SAL. SEMLER verband die Forderung grammatischer und zeitgeschichtlicher Auslegung, so daß KARL AUG. GOTTL. KEIL ausdrücklich fordern konnte, bei der Erklärung der Bibel von deren göttlichem Charakter abzusehen, und behauptete, daß allein die historische Auslegung die wahre Meinung der biblischen Schriftsteller er2 Nachweise bei W. G. KÜMMEL, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 1958, 41 ff. 50 ff. 79. 88. 3 J. A. TURRETINI, De Sacrae Scripturae interpretandae methodo tractatus bipartitus . .., 1728. Auszugsweise übersetzt a. Anm. 2 a. O., 65 ff.

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kennen lasse. Obwohl die mit dieser methodischen Grundlegung gegebene Problematik sofort diskutiert wurde, ist doch diese Forderung g e s c h i c h t l i c h e r Auslegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Prinzip anerkannt gewesen, und es war nur folgerichtig, daß J O H . P H I L . G A B LER in seiner bekannten Rede über die richtige Unterscheidung zwischen biblischer und dogmatischer Theologie für die neue Disziplin der biblischen Theologie einen streng historischen Charakter postulierte4. Auf dem Boden dieser Voraussetzungen, die sidi in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchzusetzen begannen, hat die Forschung, ebenfalls noch im Rahmen der Aufklärungstheologie, drei verschiedene Einsichten gewonnen, die das 19. Jahrhundert als Aufgaben übernahm und die ihre grundlegende Bedeutung bis heute behalten haben. 1. Schon J O H N L O C K E hatte in seiner Abhandlung über die Vernünftigkeit des Christentums 1695 festgestellt, daß die in den Evangelien und in der Apostelgeschichte enthaltenen notwendigen Lehren des christlichen Glaubens in den neutestamentlichen Briefen mit anderen Wahrheiten vermischt seien, Locke hat also einen sachlichen Unterschied zwischen der P r e d i g t Jesu und der Apostel einerseits und der L e h r e der neutestamentlichen Briefe andererseits bemerkt5. J O H . S A L . S E M L E R kam dann, indem er seine Forderung einer g e s c h i c h t l i c h e n Untersuchung der biblischen Schriften befolgte, zu dem Ergebnis, daß es im Urchristentum eine Partei von Christen gegeben habe, „die zu der Diöces von Palästina gehöret", und eine andere Partei von Christen, „welche zu Pauli Diöces gehören", und daß diese Gruppen eine „Abgeneigtheit" gegeneinander gehabt hätten6. Damit waren sachliche Gegensätze zwischen zwei Richtungen im Urchristentum beobachtet, mit denen die einzelnen Schriften des Neuen Testaments in Zusammenhang gebracht wurden, und es war erkannt, daß das Neue Testament keine Novum Testamentum Graecum . . . opera et studio J. J. WETSTENII II, 1752, 874 ff.; J. A. ERNESTI, Institutio interpretis Novi Testamenti, 1762, 11 ff. 87; J. S. SEMLER, Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik . . . , 1760, 6 ff. 149 ff. 160 f.; K. A. Th. KEIL, Opuscula académica ad Novi Testamenti interpretationem grammatico-historicam . . . pertinentia, 1821, 85 ff. 98 f.; J. PH. 4

GABLERI Opuscula

académica

I I , 1 8 3 1 , 1 8 3 ff.

C. WINCKLER, John Lockes Reasonableness of Christianity (Vernünftigkeit des biblisdien Christentums) 1685; mit einer Einleitung herausgegeben von 5

L . ZSCHARNACK, 1 9 1 4 , 1 3 0 ( S . 2 9 5 d e r O r i g i n a l a u s g a b e v o n

1695).

J. S. SEMLERS Abhandlung von freier Untersuchung des Canon IV, 1775, Vorrede b 8 f. 6

Das Erbe des 19. Jh.s für die neutestamentlidie Wissenschaft

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Einheit darstellt und die Auseinandersetzung zwischen den sich widersprechenden Gruppen die eigentliche geschichtliche Bewegung verursachte. G E O R G L O R E N Z B A U E R hat darum in seiner „Biblischen Theologie des Neuen Testaments" (1800/02) zum erstenmal die Lehrformen der Evangelien und der verschiedenen Briefe getrennt dargestellt. Als das wichtigste Problem ergab sich in diesem Zusammenhang sofort das Verhältnis der Predigt Jesu zu der Predigt der Apostel. Denn nachdem der Deist T H O M A S C H U B B das schlichte Evangelium Jesu den privaten und für uns unverbindlichen Meinungen der Evangelisten und Apostel gegenübergestellt hatte7, forderte H E R M . S A M . R E I M A R U S in den von L E S S I N G herausgegebenen Fragmenten seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes", „dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern"s. Daß er dabei die eschatologische Predigt Jesu der durch Betrug begründeten apostolischen Lehre vom leidenden Erlöser gegenüberstellte, ist bekannt, aber wichtiger war, daß damit die Aufgabe des geschichtlichen Fragens nach der ursprünglichen Verkündigung und Gestalt Jesu als wichtigster Teil der Aufdeckung verschiedener Anschauungen innerhalb des Urchristentums unüberhörbar gestellt war. 2. Während so die bewußt geschichtliche Betrachtung des Neuen Testaments die Differenzen innerhalb der neutestamentlichen Schriften sichtbar werden ließ, führte sie zur gleichen Zeit zu der Frage nach den Entstehungsverhältnissen und der Verfasserschaft der einzelnen Schriften. J O H . D A V . M I C H A E L I S hatte sich dieser Aufgabe seit 1750 gewidmet und war dabei sofort auf die Frage gestoßen, ob einige dieser Bücher mit Recht ihren wahren Verfassern abgesprochen würden. Er hatte schon in der ersten Auflage seiner „Einleitung" behauptet, daß der Nachweis der apostolischen Herkunft aller neutestamentlichen Schriften zugleich auch deren Göttlichkeit erweise. In der 4. Auflage (1788) aber sah er sich gezwungen, für die Evangelien des Markus und Lukas und die Apostelgeschichte, aber auch für den Jakobus- und den Judasbrief (zögernd auch für den Hebräerbrief und die Apokalypse) die apostolische Herkunft zu leugnen, weshalb es ihm fraglich wurde, ob diese nicht7 T H . CHUBB, The True Gospel of Jesus Christ, asserted, 1738, 43 ff. (auszugsweise übersetzt a. Anm. 2 a. O., 60 ff.). 8 G. E. LESSINGS Werke, hrsg. v. J. PETERSEN und W. v. OLSHAUSEN, 22, 1925, 212 (= „Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger" I § 3).

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apostolischen Schriften noch als inspiriert und kanonisch gelten könnten9. Damit war ein Problem gestellt, das dann im 19. Jahrhundert aufgegriffen werden mußte, nämlich die Frage, inwiefern die nun als unausweichliche Aufgabe erkannte geschichtliche Untersuchung der Entstehung der neutestamentlichen Schriften den kanonischen Charakter und damit auch die lehrhafte Autorität der neutestamentlichen Schriften berührt. 3. Die bewußt geschichtliche Betrachtung des Neuen Testaments führte aber auch dazu, daß JOH. GOTTFR. EICHHORN im Neuen Testament wie in den übrigen Schriften des Altertums den Mythos als primitive Ausdrucksform natürlichen Geschehens feststellte; und JOH. PHIL. GABLER leitete daraus die Aufgabe des Exegeten ab, die im Neuen Testament enthaltenen Mythen auf ihren geschichtlichen und sachlichen Gehalt zu prüfen, also angesichts der mythischen Bestandteile „das Geschäft der exegetischen Kritik" zu betreiben, wie er sich ausdrückt10. Aus dieser Feststellung, daß das Neue Testament Vorstellungsformen enthält, die in einem besonderen Sinn zeitgebunden sind, ergab sich die unerläßliche Aufgabe, daß die Forschung diese Berichte und Aussagen nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch auf ihre Herkunft, ihren historischen Grund und ihre inhaltliche Bedeutung zu prüfen habe, daß also sowohl Geschichts- wie auch Sachkritik zur geschichtlichen Fragestellung gegenüber dem Neuen Testament gehören. III. Auf diesen vom 18. Jahrhundert gelegten Grundlagen hat nun die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Neuen Testament im 19. Jahrhundert weiter gebaut. Die drei vom 18. Jahrhundert erarbeiteten V o r a u s s e t z u n g e n neutestamentlicher Wissenschaft wurden im 19. Jahrhundert konsequent weitergeführt. 1. Die Herstellung eines kritisch gesicherten oder wenigstens methodisch begründeten griechischen Textes wurde in dreifacher Hinsicht gefördert. Zunächst veröffentlichte als erster der Philologe KARL L A C H MANN eine Ausgabe des Neuen Testaments (1831; 1842 ff.), die nicht nur eine Verbesserung des überlieferten Textes mit Hilfe älterer Hand9 S. die Quellenangaben in meinem Aufsatz: „Einleitung in das Neue Testament" als theologische Aufgabe, Ev. Theol. 19, 1959, 5 ff. 1 0 Nachweise bei C. HARTLICH und W . SACHS, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft, 1952, 20 ff. 61 ff.

Das Erbe des 19. Jh.s für die neutestamentliche Wissenschaft

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schriften war, sondern sich bemühte, allein aus den ältesten Handschriften den Text des 4. Jahrhunderts herzustellen. Nicht mehr der gedruckte, sondern der älteste in den Handschriften erreichbare Text war damit als das einzige sachgemäße Ziel textkritischer Arbeit erkannt. Damit war aber auch erkannt, wie wichtig die genaue Kenntnis der ältesten Handschriften für die Gewinnung des Urtextes des Neuen Testaments ist. Daher setzte nun die systematische Suche nach Handschriften und die Veröffentlichung ihrer Lesarten ein, wofür in der Mitte des Jahrhunderts C O N S T . v. TISCHENDORF und SAMUEL TREGELLES die wesentlichsten Arbeiten leisteten. Aber weder das grundsätzliche Zurückgehen auf das Zeugnis der ältesten Handschriften noch die erweiterte Kenntnis dieser Handschriften reichten aus, um eine sichere Grundlage für die Gestaltung eines kritischen Textes zu schaffen. Es bedurfte einer zuverlässigen M e t h o d e für die Bewertung der Handschriften und Lesarten. Hier haben die beiden Engländer B R O O K E Foss W E S T C O T T und F E N T O N J O H N ANTHONY H O R T (1882) den entscheidenden Schritt getan, indem sie eine stichhaltige Begründung für die Bevorzugung der älteren Handschriften und ihre Einteilung in Familien fanden und dadurch Entscheidungen über den Vorzug bestimmter Lesarten an solchen Stellen fällen konnten, wo nicht schon aus inneren Gründen die Entscheidung getroffen werden kann 11 . Auf diesen vom 19. Jahrhundert geschaffenen Voraussetzungen hat dann das 20. Jahrhundert weiter gearbeitet, und die Entdeckung neuer Handschriften, vor allem Papyri, und einer neuen Textfamilie, die Diskussion um die Bedeutung alter Ubersetzungen und Väterlesarten für die Aufdeckung des Urtextes, die Frage nach dem Charakter und textkritischen Wert der Textfamilien und nach der Möglichkeit, hinter die Textfamilie zum Archetyp und dadurch näher zum Urtext vorzudringen, alle diese Fragen haben unsere Kenntnisse und Methoden verfeinert, haben aber die methodischen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts nicht in Frage gestellt12. 2. Die methodische Notwendigkeit, die wissenschaftliche Untersuchung des Alten und des Neuen Testaments voneinander zu trennen, hat sich 11

Vgl. dazu C. R. GREGORY, Textkritik des Neuen Testaments II, 1902,

966 ff. 917 ff. 1 2 Zur Geschichte der Textkritik im 20. Jahrhundert vgl. F . G. KENYON, Recent Developments in the Textual Criticism of the Greek Bible, 1933; K. et S. LAKE, D e Westcott et Hort au Père Lagrange et au-delà, Revue Biblique 48, 1939, 497 ff.; J. DUPLACY, OÙ en est la critique textuelle du Nouveau Testament?, 1959. 6

Sdineemelcher, Theologentag 1960

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zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach und nach durchgesetzt und ist seither nicht mehr grundsätzlich umstritten. Dem steht nicht entgegen, daß immer wieder, vor allem auf katholischer Seite, „Einleitungen in die Bibel" erschienen, daß die Probleme der Inspiration, des Verhältnisses von Schrift und Tradition usw. naturgemäß im Hinblick auf beide Testamente erörtert werden13, daß Zeitschriften und Bibliographien teilweise beide Testamente behandeln und daß etwa in Amerika noch immer Lehrstühle für biblische Exegese, biblische Theologie usw. bestehen, wobei darauf hingewiesen werden muß, daß es neben solchen Lehrstühlen und Zeitschriften immer auch die Lehrstühle und Zeitschriften für die einzelnen Disziplinen gibt. Diese Trennung ist nicht nur die Folge der nicht zu leugnenden Spezialisierung, die es unmöglich macht, die Forschungen auf alttestamentlichem u n d auf neutestamentlichem Gebiet zu überschauen, sie ist vielmehr die unwiderrufliche Folge der Einsicht in die g e s c h i c h t l i c h e Aufgabe der Erforschung des Alten und des Neuen Testaments, die gelehrt hat, daß das Neue Testament nicht nur später entstanden ist als die Schriften des Alten Testaments, sondern auch eine religionsgeschichtlich und theologiegeschichtlich andere Größe darstellt, deren Eigenart verfälscht werden würde, wenn das Neue Testament nicht grundsätzlich als geschichtliche Erscheinung sui generis behandelt wird. Aber mit dieser grundsätzlichen und wissenschafts-praktischen Trennung von Altem und Neuem Testament war das Problem der Zusammengehörigkeit beider Testamente von einer neuen Seite her gestellt. Und so hat sich die neutestamentliche Forschung des 19. Jahrhunderts darum bemüht herauszuarbeiten, wo vor allem Jesus und Paulus mit dem Alten Testament in Zusammenhang, wo sie im Gegensatz zu ihm stehen; es wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte immer mehr zum Streitpunkt zwischen kritischen und konservativen Forschern, ob allein das Alte Testament oder auch hellenistische Gedanken die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für die Theologie des Neuen Testaments bilden. In diese zweifellos schiefe Alternative schlug die zu Ende des Jahrhunderts vor allem von A D . HILGENFELD, W I L H . BALDENSPERGER und H E R M . G U N K E L verfochtene Heranziehung der spätjüdischen Quellen palästinischer und hellenistischer Herkunft eine Bresche, indem nachgewiesen wurde, daß das Neue Testament d i r e k t vom Spätjudentum 13 Vgl. z. B. H. HÖPFL, Introductio generalis in S. Scripturam. Tractatus de inspiratione, canone, historia textus, hermeneutica, ed. sexta ... curavit

L. Leloir, 1958.

Das Erbe des 19. Jh.s für die neutestamentliche Wissenschaft

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und nicht vom Alten Testament abhängig sei14. So sehr diese These zuerst auf scharfen Widerstand stieß, so sehr hat sie sich doch durchgesetzt und ist zu einer anerkannten methodischen Voraussetzung der neutestamentlichen Forschung des 20. Jahrhunderts geworden. Natürlich darf damit die Frage nicht ausgeschlossen werden, ob Jesus oder irgendwelche Formen der urchristlichen Verkündigung sich vom spätjüdischen Verständnis des Alten Testaments frei gemacht haben und zu ursprünglicheren alttestamentlichen Gedanken zurückgekehrt sind15, aber ein Ja zu dieser Frage kann immer nur dann überzeugend sein, wenn gezeigt wird, wie sich ein solches Verständnis des Alten Testaments in die keineswegs einheitlichen Formen der spätjüdischen Deutung des Alten Testaments zustimmend oder ablehnend einfügt. 3. Die dritte Voraussetzung neutestamentlicher Forschung, die das 19. Jahrhundert vom 18. Jahrhundert übernahm, war die Forderung, das Neue Testament als geschichtliches Dokument auch grundsätzlich g e s c h i c h t l i c h im Sinne seiner Bedeutung für die ersten Leser auszulegen. So hat denn H E I N R . A U G . W I L H . M E Y E R 1 8 2 9 den ersten Band seines heute noch immer wieder neu aufgelegten „Kritisch-exegetischen Kommentars zum Neuen Testament" ausdrücklich mit der Feststellung herausgehen lassen, daß es Pflicht des Exegeten sei, „den Sinn, wie ihn der Schriftsteller bei seinen Worten gedacht hat, ganz unpartheiisch, historisch-grammatisch zu eruiren"16; und er hat in der zweiten Auflage hinzugefügt: „den Inhalt der Schrift nach kirchlicher Voraussetzung zu ermitteln, ist und bleibt, so viel man auch dagegen excipire und clausulire, eine schon von vorne herein bestochene Procedur, bei welcher man hat, ehe man sucht, und findet, was man h a t"17. Daß 1 4 A. HILGENFELD, Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwickelung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Christenthums . . . , 1857; W . BALDENSPERGEH, Das Selbstbewußtsein Jesu im Licht der messianischen Hoffnungen seiner Zeit, 1888; H. GUNKEL, Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus, 1888. 1 5 Die These, daß Jesus sich über das Spätjudentum hinweg ausschließlich an das Alte Testament angeschlossen habe (J. W . BOTMAN, The Religion of Maturity, 1948), hat sich freilich nicht durchsetzen können. 1 8 H. A. W . MEYER, Das Neue Testament Griechisch nach den besten Hilfsmitteln kritisch revidiert mit einer neuen deutschen Übersetzung und einem kritischen und exegetischen Kommentar, 1. Teil, 1. Abth., 1829, X X X I . 1 7 H. A. W . MEYER, Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 1. Abth., 1. Hälfte, 2 1844, XII f.

7

Schneemeldier, Theologentag

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darin aber eine Schwierigkeit verborgen lag, zeigte die sofort zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Diskussion. Gegen die „fast einmütige Meinung der Ausleger, daß nur der grammatisch-historische Sinn der heiligen Schriften der wahre sei", stellte 1 8 0 7 C A R L F R I E D R . S T Ä U D L I N die These, „dass die geschichtliche Auslegung der Bücher des Neuen Testaments nicht allein wahr ist". Er bestritt keineswegs, daß für die Bücher des Neuen Testaments dieselben Regeln der Auslegung gelten wie für alle anderen Bücher, aber er forderte vom Ausleger dieser Bücher, die „mit innigem, religiösem und moralischem Gefühl geschrieben" sind, eine gleiche Empfindung, wie sie die apostolischen Schriftsteller hatten, verlangte die Anwendung einer moralischen, religiösen, philosophischen Auslegung und begründete diese Forderung ausdrücklich mit der Inspiration des neutestamentlichen Kanons18. Und S C H L E I E R MACHERS Schüler F R I E D R . L Ü C K E wollte die Besonderheit der Auslegung des Neuen Testaments darin sehen, daß es sich um eine h e i l i g e Schrift handele und daß der Ausleger ihr als christlicher T h e o l o g e begegne19. S T Ä U D L I N und L Ü C K E hatten also gesehen, daß das Neue Testament zwar streng geschichtlich ausgelegt werden müsse, aber seinen kirchlich normativen Charakter verliert, wenn der Ausleger von diesem einzigartigen Charakter des Neuen Testaments völlig absieht. Das damit gestellte, aber unzureichend, weil rein subjektiv gelöste Problem brach gegen Ende des 19. Jahrhunderts in radikaler Form wieder auf. F R A N Z O V E R B E C K , der in seiner Basler Antrittsrede von 1 8 7 0 noch die Bibelkritik als Ausfluß eines echten Protestantismus bezeichnet hatte, bestritt in seiner Schrift „Uber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" ( 1 8 7 3 ) jeder anderen Auslegung des Neuen Testaments als der rein historischen ihr Recht und leugnete den christlichen Charakter einer solchen allein zulässigen Auslegung20. Bald danach forderte G U S T A V K R Ü 1 8 C. F . STÄUDLIN, Über die blos historische Auslegung der Bücher des Neuen Testaments, Kritisches Journal der neuesten theologischen Literatur, hrsg. v. F . Ammon und L. Bertholdt II, 1814, 17 ff. 126 ff. Vgl. auch

J . W A C H , D a s V e r s t e h e n I I , 1 9 2 9 , 1 4 0 ff. 1 9 F . LÜCKE, Übersicht der zur Hermeneutik, Grammatik, Lexikographie und Auslegung des Neuen Testaments gehörigen Literatur vom Anfang 1828 bis Mitte 1829, Theol. Stud. u. Krit. 3, 1830, 421. 2 0 F . OVERBECK, Über Entstehung und Recht einer rein kritischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie, Antrittsvorlesung . . . ,

1871;

DERS., Über

1 0 8 f.

125.

die Christlichkeit

unserer heutigen Theologie,

2

1903,

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77

GER, man müsse mit dem „Dogma vom Neuen Testament" völlig brechen und an die Stelle einer „Wissenschaft vom Neuen Testament" eine allgemeine Geschichte des Urchristentums stellen21, und W . W R E D E wollte die „Biblische Theologie des Neuen Testaments" durch eine „urchristliche Religionsgeschichte" ersetzen, die von der Existenz des Kanons absieht und eine rein historische Disziplin ist22. Dieser radikalen Leugnung des theologischen Charakters der neutestamentlichen Wissenschaft stellte A D . S C H L A T T E R im Vorwort seines Buches über den Glauben im Neuen Testament die Behauptimg entgegen, daß „im eigenen Erleben des Glaubens an Jesus die Möglichkeit, der Antrieb und die Ausrüstung zu wahrhaft geschichtstreuem Verständnis des Neuen Testaments" liege23, er erklärte also für eine wirklich g e s c h i c h t l i c h e Erforschung des Neuen Testaments den Glauben des Forschers für unerläßlich. Ganz ähnlich hat M A R T I N K A H L E R für die Bibelforschung „geschichtlich" nur als „Beiwort", nicht als „Hauptwort" gelten lassen wollen, weil „'biblisch' das bestimmende Wort sein" müsse24, d. h. die Anerkennung des neutestamentlichen Kanons ist für K A H L E R die Voraussetzung für eine sachgemäße g e s c h i c h t l i c h e Erforschung des Neuen Testaments. Den damit aufgebrochenen Gegensatz zwischen einer grundsätzlich geschichtlichen und einer grundsätzlich theologischen Betrachtung des Neuen Testaments, die in der Regel der jeweils anderen Seite ein relatives Recht zugestand, hat das 19. Jahrhundert nicht lösen können; er ist nach dem 1. Weltkrieg wieder neu in Erscheinung getreten, besonders eindrücklich in der Auseinandersetzung zwischen K A R L B A R T H und A. v. H A R N A C K , nachdem die 2 . Auflage von K A R L B A R T H S „Römerbrief" erschienen war25. Wenn darum das Problem der Hermeneutik heute wieder lebhaft diskutiert wird26, so hat das 19. Jahrhundert uns 21

G. KRÜGER, Das Dogma vom Neuen Testament, Programm Giessen 1896,

4 ff. 2 2 W . WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, 1897, 34, bes. 79 f. 2 3 A. SCHLATTER, Der Glaube im Neuen Testament, 1885, 9. Vgl. dazu W. TEBBE, Der junge Schlatter, in „Aus Adolf Schlatters Berner Zeit", 1952, 49 ff. (bes. 63 f.). 2 4 M. KAHLER, Art. Biblische Theologie, Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3, 1897, 197 ff. (bes. S. 197. 199). 25

K. BARTH, Theologische Fragen und Antworten, Ges. Vorträge 3, 1957,

7 ff. 2 6 S. die Literatur bei G. EBELING, Art. Hermeneutik, Die Religion in Geschichte und Gegenwart III, 3 1959, 256 ff.

7"

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als ein zu wahrendes Erbe die Erkenntnis übergeben, daß keine Auslegung des Neuen Testaments ihrem Gegenstand angemessen sein kann, die nicht kompromißlos geschichtlich ist, d. h. die sich festzustellen bemüht, was die Verfasser meinten und die ersten Leser verstehen konnten und mußten, auch wenn solche Auslegung dem Wesen des Neuen Testaments entsprechend sachgemäß nur mit einem t h e o l o g i s c h e n Interesse durchgeführt werden kann. 4. Daß aber mit diesem, durch die dritte Voraussetzung gegebenen Zwiespalt ein immer wieder neu zu lösendes Problem gegeben war, zeigte sich besonders eindrucksvoll bei der Arbeit an der Erforschung des geschichtlichen Charakters der einzelnen neutestamentlichen Schriften, bei der sog. „Einleitung in das Neue Testament"27. Hier hatte, wie wir schon sahen, J O H . D A V . MICHAELIS dem 1 9 . Jahrhundert die problematische Fragestellung übermittelt, ob nicht die Feststellung des nichtapostolischen Charakters einzelner neutestamentlicher Schriften deren Kanonizität erschüttere. J O H . G O T T F R . E I C H H O R N behauptete demgegenüber, daß nicht die Abfassung durch einen Apostel darüber entscheide, ob sich eine neutestamentliche Schrift zur regula jidei eigne, wollte dann aber doch den a p o s t o l i s c h e n Schriften als Glaubensquellen einen höheren Rang zuerkennen als den Schriften der „apostolischen Männer". F E R D . C H R . B A U R aber folgerte in einer Uberschau über die bisherige Diskussion, daß die Einleitungswissenschaft zu prüfen habe, welche Schriften mit Recht zum Kanon gehörten, weil sie wirklich von den apostolischen Verfassern herrühren. Damit war aber der geschichtliche Charakter der Untersuchung, wie die einzelnen neutestamentlichen Schriften entstanden waren, mißverstanden, da eine solche Untersuchung höchstens feststellen kann, ob diese oder jene Schrift nach den von den Theologen der frühen Kirche aufgestellten Kriterien zu Recht oder zu Unrecht in den Kanon aufgenommen worden ist, während der normative Charakter des Kanons als ein Glaubensurteil durch keine geschichtliche Untersuchung geprüft und gesichert werden kann. Das hat F R I E D R . SCHLEIERMACHER richtig gesehen, wenn er ausdrücklich feststellt, daß der kanonische Charakter einer Schrift von dem Nachweis nicht betroffen wird, daß sie nicht von dem Verfasser stammt, dem sie zugeschrieben wurde, doch hat SCHLEIERMACHER dann allerdings an dieser Einsicht nicht konsequent festgehalten. Nur der zu Unrecht vergessene E D U A R D R E U S S 27 Vgl. zum Folgenden meinen Anm. 9 genannten Aufsatz; dort die Quellenangaben.

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hat in diesem Punkt völlig klar gesehen, wenn er in der ersten Auflage seiner „Geschichte der Heiligen Schriften Neuen Testaments" ( 1 8 4 2 ) sagte: „Als Geschichte muss unsre Wissenschaft durchaus unabhängig sein von jedem theologischen Systeme. Der Ursprung und die religiöse Wichtigkeit eines Theiles derjenigen Schriften, mit welchen sie sich beschäftigt, wird ihr Achtung einflössen, ohne sie zu verblenden in Hinsicht der Zweifel, welche gegen gewisse andre bestehn mögen... Der protestantische Theolog übt solche Kritik als ein Recht, in so fern seine Kirche sich die Prüfung ihres Schriftkanons für alle Zeit vorbehalten hat"2*. Hier ist deutlich erkannt, daß die Frage nach der Entstehung der neutestamentlichen Schriften eine rein geschichtliche Frage ist, deren Ergebnisse die Wertung dieser Schriften als kanonische in keiner Weise berührt. Aber das Mißverständnis, das die Einleitungswissenschaft von Anfang an begleitet hat, ist nur sehr langsam und bis heute nicht ganz gewichen, und es ist ohne Zweifel eine zentrale Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft, dieses aus dem 19. Jahrhundert überkommene Mißverständnis endgültig zu überwinden. 5. Die größte Leistung, die die neutestamentliche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts von der Voraussetzung konsequent geschichtlicher Erforschung des Urchristentums aus im Rahmen der Einleitungswissenschaft vollbracht hat, besteht zweifellos darin, daß die Frage nach den Quellen und nach der richtigen zeitlichen Einordnung der neutestamentlichen Schriften in Angriff genommen wurde. Am bekanntesten und für die Geschichte des Urchristentums vielleicht am bedeutsamsten war wohl die methodische Lösung des synoptischen Problems als einer Frage der Literarkritik. Hier waren schon um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die verschiedenen, grundsätzlich möglichen Hypothesen vorgetragen worden29, aber die überzeugende Begründung der Priorität des Markusevangeliums und der Wahrscheinlichkeit einer zweiten Quelle durch CHRISTIAN G O T T L O B W I L K E , CHRISTIAN HERMANN W E I S S E und H E I N R . J U L . HOLTZMANN war erst das Werk der Mitte des 1 9 . Jahrhunderts. Auch wenn die Zweiquellentheorie noch immer umstritten ist und gerade in den letzten Jahrzehnten mancherlei neue Hypothesen vorgetragen wurden30, so hat sich doch die Grundauffassimg, daß der Erzäh28 E. REUSS, Die Geschichte der Heiligen Schriften Neuen Testaments, 1842, 2 (vgl. auch S. 132). S. auch die Zitate aus der 3. Auflage a. Anm. 2 a. O., 192 f. 29 S. H . J. HOLTZMANN, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, 31892, 345 fE. 30 Vgl. L. VAGANAY, Le problème synoptique, 1954, XIII ff. 1 ff.

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lungsstoff im Markusevangelium in der ursprünglichsten Form überliefert sei, weitgehend durchgesetzt, auch innerhalb der an diesem Punkt durch die Tradition behinderten katholischen Forschung. War die Lösung dieser Quellenfrage entscheidend für die Jesusforschung, so war es für die Paulusforschung die Entdeckung des Deuteropaulinismus. Nachdem SCHLEIERMACHER und E I C H H O R N zuerst den unpaulinischen Charakter des 1. Timotheusbriefs bzw. der Pastoralbriefe nachgewiesen hatten, unterbaute F. C H R . B A U R diesen Nachweis, indem er die Pastoralbriefe der frühkatholischen Entwicklung des 2. Jahrhunderts zuordnete; er sah sich dann durch den Zwang seines Entwicklungsschemas gezwungen, sämtliche kleineren Paulusbriefe ebenfalls in diese Spätzeit zu versetzen. H . J . HOLTZMANN und A D . J Ü L I C H E R haben diese Kritik auf ihr rechtes Maß zurückgeführt, und so sind heute neben den Pastoralbriefen nur noch der Epheserbrief und teilweise der Kolosser- und der 2. Thessalonicherbrief umstritten, aber es steht außerhalb jeder vernünftigen Debatte, daß erst nach Ausschaltung der deuteropaulinischen Schriften der g e s c h i c h t l i c h e Paulus erkannt werden kann. Für die Jesusforschung und überhaupt für die Geschichte des urchristlichen Denkens war schließlich noch entscheidend die von DAV. FR. STRAUSS getroffene Feststellung, die dann von F. C . B A U R methodisch gefestigt und von C A R L W E I Z S Ä C K E R endgültig bewiesen wurde, daß das Jesusbild des vierten Evangeliums nur als Werk der zweiten Generation verständlich ist und daß deshalb das Johannesevangelium nur als Quelle für die Geschichte des späten Urchristentums, aber nicht als Quelle für den geschichtlichen Jesus in Frage kommt. Obwohl die Spätdatierung des Johannesevangeliums heute weithin anerkannt ist, ist der geschichtliche Wert der johanneischen Jesusüberlieferung gerade heute wieder stark umstritten, und hier kann m. E. erst die religionsgeschichtliche Fragestellung die endgültige Entscheidung bringen, wovon noch zu reden sein wird. Neben diesen bis heute gültigen Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Einleitungswissenschaft sind hier noch zwei weitere Beobachtungen gemacht worden, deren Bedeutung erst das 20. Jahrhundert voll erkannte. a) Schon H E R D E R hatte gesehen, daß v o r den schriftlichen Evangelien das vollständige Evangelium in d e r P r e d i g t da war; sowohl diese mündliche Überlieferung wie die Evangelienschriften sind nicht Biographie, sondern „historische Beurkundungen des christlichen Glaubens-

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bekenntnisses", d. h. alle Evangelienüberlieferung ist ihrer Intention nach nicht Geschichtsberieht, sondern Verkündigung31. Diese Erkenntnis wurde gegenüber der liberalen Leben-Jesu-Forschung, die diese Einsicht vergessen hatte, von M. K A H L E R erneuert, der in seinem bekannten Vortrag über den „sogenannten historischen Jesus und den geschichtlichen, biblischen Christus" (1892) die These aufstellte, daß der wirkliche Christus nur der gepredigte Christus sei und daß der historische Jesus der modernen Schriftsteller den lebendigen Christus verdecke32. Obwohl K A H L E R zweifellos das theologische Interesse, das in der Frage nach dem geschichtlichen Jesus liegt, verkannt hat, ist sein Hinweis auf den Verkündigungscharakter der Evangelienüberlieferung für die neuere Evangelienforschung grundlegend geworden und wird auch weiterhin bestimmend bleiben. b) Ebenfalls H E R D E R hatte auch schon den mündlichen Charakter der ältesten Jesusüberlieferung erkannt und aus den kerygmatischen Interessen der ältesten Predigt die Folgerung hergeleitet, daß die Uberlieferung der Worte Jesu zuverlässiger sei als diejenige der geschichtlichen Berichte. Diese Gedanken wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in doppelter Weise wieder aufgenommen. C. W E I Z S Ä C K E R wies darauf hin, daß die Tradition der in der Urgemeinde umlaufenden Jesusworte dort der Gestaltung des Gemeindelebens diente und von daher „eine gewisse Regel und feste Formen" annahm, während die Berichte von Jesus für die Mission überliefert wurden und ebenfalls „durch den Zweck und die weitere Mittheilung festere Form." bekamen33. F R A N Z O V E R B E C K machte darauf aufmerksam, daß die „christliche Urliteratur" gerade in ihrer nichtliterarischen Ursprünglichkeit an ihrer Form erkannt werden könne34. Mit alledem waren die entscheidenden methodischen Grundgedanken der formgeschichtlichen Betrachtimg der neutestamentlichen Schriften angeklungen, die dann nach dem ersten Weltkrieg zuerst auf die Evangelien angewendet wurde und deren Bedeutung für das Ver31 J. G. HERDER, Christliche Schriften, 3. Sammlung: Von Gottes Sohn der Welt Heiland, Nach Johannes E v a n g e l i u m . . . , 1797 = Herders Sämtliche Werke, hrsg. v. B. Suphan 19, 1880, 253 ff., bes. 273 Anm. 3 2 M. KAHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, neu hrsg. v. E. Wolf, 1953, 44. 16. 3 3 C. WEIZSÄCKER, Das Apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 1886, 381 ff., bes. 384 f. 3 1 F. OVERBECK, Über die Anfänge der patristischen Literatur, Histor. Ztschr. 48, 1882, 423 ff., bes. S. 443.

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ständnis der einzelnen Texte und die Aufhellung des urchristlichen Lebens heute trotz aller scharfen Kritik im einzelnen fast allgemein anerkannt ist. 6. Auf dem Boden dieser literarischen und chronologischen Bestimmung der Quellen war nun zum ersten Mal eine methodisch begründete Darstellung der Geschichte des Urchristentums möglich. Es ist bekannt, daß hier F. C. B A U R methodisch den entscheidenden Anstoß gegeben hat, indem er einerseits den Gegensatz von Paulinern und Petrinern als das Kennzeidien der apostolischen Zeit herausarbeitete, andererseits die Forderung aufstellte, die einzelnen Schriften in den historischen Ablauf einzuordnen und erst dadurch ihren geschichtlichen Standort zu bestimmen. War damit die auch heute noch unaufgebbare Einsicht gewonnen, daß die kritische Aufgabe an den Schriften des Neuen Testaments nur dann überzeugend gelöst werden kann, wenn nicht nur die Verfasserfrage positiv oder negativ beantwortet ist, sondern gerade auch bei der Ablehnung der traditionellen Verfasserangabe die Schriften als Quellen einer bestimmten Zeit erkannt und benützt werden, so zog B A U R aus dieser Einsicht die ebenfalls bis heute gültige Folgerung, daß neutestamentliche Theologie „streng nach ihrem geschichtlichen Begriff" nur dann behandelt werden kann, wenn „ein Fortschritt der Entwicklung nachgewiesen" wird35. Damit war erkannt, daß das Gedankengut des Neuen Testaments deshalb, weil es sich in zeitlich und personal verschiedenen Quellen findet, in seiner geschichtlichen Wirklichkeit nur dann erfaßt werden kann, wenn es nidit ex hypothesi als Einheit, sondern als Stoff einer Entwicklung oder jedenfalls einer Entfaltung verstanden wird. Während in diesen methodischen Erkenntnissen B A U R S ein Erbe liegt, das in vollem Umfang gültig geblieben ist, ist das von B A U R entworfene Geschichtsbild vor allem von E D . R E U S S und A . R I T S C H L korrigiert worden durch den Nachweis, daß es im palästinischen Urchristentum nicht nur die radikalen Gegner der paulinischen Heidenmission, sondern auch eine vermittelnde Gruppe gegeben hat und daß der frühe Katholizismus 35 F . C. BAUR, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christenthums in der ältesten K i r d i e . . . , Tübinger Ztschr. f. Theol. 4, 1831, 61 ff.; DERS., Die Einleitung in das Neue Testament als theologische Wissenschaft, Theol. Jahrbücher 10, 1851, 294; DERS., Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie, 1864, 38; DERS., Die sogenannten Pastoralbriefe des Apostels Paulus, 1835, V. VII.

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nicht das Ergebnis einer Synthese von Judenchristentum und Heidendiristentum war, sondern „eine Stufe des Heidenchristenthums allein ist"36. C. W E I Z S Ä C K E R hat dieses modifizierte BAURsche Geschichtsbild in eine bleibend gültige Form gebracht und durch die Annahme ergänzt, daß die scharf antipaulinische Haltung eines Teils der Urgemeinde erst die F o l g e der nachgiebigen Haltung der vermittelnden Gruppe in der Urgemeinde gegenüber der Heidenmission gewesen sei37. Dieses Geschichtsbild ist, wenn ich nicht irre, auch heute noch in seinen Grundzügen durch kein besseres ersetzt worden, hat aber eine nicht unwesentliche Komplizierung dadurch erfahren, daß im 20. Jahrhundert die Wirksamkeit gnostisdier Gegner des Paulus in seinen Gemeinden entdeckt und dadurch die Front der paulinischen Polemik verschoben worden ist. Es dürfte die Aufgabe weiterer Erforschung der Geschichte des Urchristentums sein, das Verhältnis der vom Judentum und vom Hellenismus herkommenden Gegner des Paulus zueinander und die Einwirkung ihrer Gedanken auf das paulinische Denken und auf das spätere Urchristentum noch genauer zu bestimmen. 7. Damit ist aber das religionsgeschichtliche Problem der Erforschung des Neuen Testaments berührt, das uns in zwei verschiedenen Grundanschauungen von der Forschung des 19. Jahrhunderts aufgegeben ist. Zu der bereits erwähnten Entdeckung der Bedeutung, die der spätjüdischen Apokalyptik für die Entstehung des Denkens Jesu und des Paulus beizumessen ist — wir verdanken sie vor allem W I L H E L M B A L D E N S P E R G E R , R I C H A R D K A B I S C H und O T T O E V E R L I N G am Ende des 1 9 . Jahrhunderts —, trat G U S T A F D A L M A N S Hinweis auf den Zusammenhang der Predigt Jesu mit dem aus den rabbinischen Quellen erkennbaren palästinischen Spätjudentum38. So fruchtbar diese neu erschlossenen Quellen für das Verständnis besonders des älteren Urchristentums waren, so gefährlich war die Tendenz, die sich zu Beginn unseres Jahrhunderts herausbildete und bis zur Gegenwart anhält, die Ableitung 3 6 E . REUSS, Die Geschichte der Heiligen Schriften Neuen Testaments, s 1860, 124 f. 332 f.; A. RITSCHL, Die Entstehung der Altkatholischen Kirche, 2 1857, 22 f. 37

C . WEIZSÄCKER, a. A n m . 3 3 a. O . ,

38

W . BALDENSPERGER, a . A n m . 1 4 a. O . ; R . KABISCH, D i e E s c h a t o l o g i e d e s

152.

Paulus in ihren Zusammenhängen mit dem Gesamtbegriff des Paulinismus, 1893; O. EVERLING, Die paulinische Angelologie und Dämonologie, 1888; G. DALMAN, Die Worte Jesu. Mit Berücksichtigung des nachkanonischen jüdischen Schrifttums und der aramäischen Sprache I, 1898.

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urchristlicher Gedanken und etwa ganz besonders der gesamten paulinischen Theologie aus palästinisch-jüdischen oder allerhöchstens hellinistisch-jüdischen Zusammenhängen zur allein gültigen Methode zu machen und darin das Zeichen besonderer Bibeltreue zu sehen. Denn zu diesen spätjüdischen Quellen, die zur Illustration urchristlichen Denkens herangezogen wurden, gesellte sich etwa zur gleichen Zeit der Hinweis auf die unleugbaren Zusammenhänge des Paulus, des Johannesevangeliums, der späteren neutestamentlichen Briefe mit dem jüdischen und vor allem auch mit dem heidnischen Hellenismus, wie er besonders von O T T O P F L E I D E R E R , H. G U N K E L und W I L H E L M B O U S S E T betont wurde 39 . Die methodische Trennung beider religionsgeschichtlichen Bereiche und der daraus gefolgerte Gegensatz im religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments ist ein Erbe des 19. Jahrhunderts, das die Arbeit des 20. Jahrhunderts schwer belastet und behindert hat. Wenn in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden ist, daß auch das palästinische, vor allem aber das hellenistische Judentum offen war für den Hellenismus, und die Entdeckung der jüdischen Sektenfrömmigkeit ebenso wie der vorchristlichen Gnosis das religionsgeschichtliche Bild wesentlich bunter gestaltet haben, dürfte die Alternative „jüdisch-heidnisch" endgültig als unhaltbar erwiesen sein. Es ist die Aufgabe der heutigen neutestamentlichen Forschung, hier ohne falsche Alternativen die erkennbaren religionsgeschichtlichen Zusammenhänge zur Aufhellung der neutestamentlichen Texte heranzuziehen. 8. Auf dem Boden dieser Voraussetzungen sind nun besonders zwei Probleme zu nennen, die das 19. Jahrhundert gestellt hatte, deren Lösung uns weiterhin aufgegeben ist und die zum Schluß daher noch kurz erwähnt werden müssen. Am Anfang der geschichtlichen Arbeit des 19. Jahrhunderts steht die Erkenntnis, daß es notwendig ist, die Gestalt und Lehre des geschichtlichen Jesus auf wissenschaftlichem Wege zu erforschen, wenn man das Urchristentum in seiner Entwicklung verstehen will. Nachdem K A R L H A S E anhand der vier Evangelien eine psychologisch-genetische Biographie Jesu geschrieben hatte (1829), stellte D. F. S T R A U S S (1835/36) die entscheidende Frage nach dem Geschichtswert der Evangelien und suchte nicht nur den größten Teil des Evan3 9 O. PFLEIDERER, Das Urchristenthum, seine Schriften und Lehren, in geschichtlichem Zusammenhang beschrieben, 1887; H. GUNKEL, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit, 1895; W . BOUSSET, Der Antichrist in der Überlieferung des Judentums, des Neuen Testaments und der alten K i r c h e . . . , 1895.

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gelienstoffes als historisch sekundäre Mythenbildung zu erweisen, sondern zeigte auch, daß im Johannesevangelium eine fortgeschrittene Form dieser Mythenbildung vorliegt. F. C H R . B A U R sicherte diese Erkenntnis durch den Nachweis (1847), daß das Johannesevangelium später entstanden sei, stellte aber zugleich fest, daß den synoptischen Evangelien ein relativ höherer geschichtlicher Wert zukomme. Diesen Beweisgang führte C . W E I Z S Ä C K E R zu Ende, indem er den johanneischen Christus als „haggadisches Lehrstück" auf Grund des Glaubens an den Logos Gottes erklärte, die synoptische Tradition aber in die bewahrende älteste Gemeinde zurückverfolgte40. Diese methodisch begründete Beschränkung unserer Quellen für den geschichtlichen Jesus auf die in den synoptischen Evangelien verarbeitete Überlieferung hat sich dann in der liberalen Jesusforschung am Ende des 19. Jahrhunderts unter starker Betonung der Markuspriorität durchgesetzt; von dieser Voraussetzung ging die Jesusforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Daß das von diesen Voraussetzungen aus entworfene liberale Jesusbild nicht haltbar war, hat bekanntlich A L B E R T S C H W E I T Z E R gezeigt, aber die methodische Voraussetzung wurde auch im Sinne Schweitzers von diesem Nachweis nicht betroffen. Dieses Erbe des 19. Jahrhunderts ist jedoch gerade heute wieder in Frage gestellt, wenn beispielsweise E T H E L B E R T S T A U F F E R in seiner Darstellung der G e s c h i c h t e Jesu den Ablauf des Johannesevangeliums als gesicherten Rahmen benützt41, oder wenn J O H N A . T. R O B I N S O N im Johannesevangelium eine „inaugurated eschatology" finden will, die derjenigen Jesu selbst entspricht, „a tradition of the teaching of Jesus which had never seriously undergone the tendency towards apocalyptic that toe have seen reason to regard as a potent factor of distortion"42. Hier wird eine gültige Erkenntnis des 19. Jahrhunderts in unzulässiger Weise aufgegeben, obwohl gerade die Johannesforschung des 20. Jahrhunderts durch die Entdeckung der Zusammenhänge zwischen der johanneischen Sprache und der Gnosis uns erst die Mittel an die Hand gegeben hat, die Einordnung der johanneischen Theologie in die Spätzeit des Urchristentums endgültig zu bestimmen. Methodische Jesus4 0 K. HASE, Das Leben Jesu. Ein Lehrbuch, 1829; D. F . STRAUSS, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, I. II, 1835/36; F. C. BAUR, Kritische Untersuchungen über die kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zu einander, ihren Charakter

u n d U r s p r u n g , 1 8 4 7 ; C . WEIZSÄCKER, a. A n m . 3 3 a. O . ,

536.

41

E . STAUFFER, Jesus, Gestalt und Geschichte, 1957.

42

J. A. T. ROBINSON, Jesus and His Coming, 1957, 162 f.

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forschung muß gerade heute in ihrer quellenmäßigen Grundlegung an dieses Erbe des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Nun hat allerdings das 19. Jahrhundert im Zusammenhang der Jesusforschung nicht nur die Quellenfrage wesentlich gefördert, sondern auch eine theologisch bedeutsame Geschichtskonstruktion vertreten, die bis in unsere Tage weiter wirkt. Während REIMARUS gefordert hatte, „dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern"*3, hatte F. C. B A U R als erster die Lehre Jesu als „die Grundlage und Voraussetzung von allem, was in die Entwicklungsgeschichte des christlichen Bewußtseins gehört", als „die Urperiode" der Lehre Paulus vorangestellt, bei dem „der einfädle sittlich religiöse Inhalt der Lehre Jesu zu einem theologisch gestalteten und ausgebildeten Lehrbegriff geworden" ist44. E. REUSS hat dies dahin weitergeführt, daß das Evangelium Jesu keiner Nuance des Judentums homogen war, während für die ersten Jünger das Evangelium die Erfüllung der alten Religion war, die Verkündung Jesu in der ältesten Gemeinde also dem Judentum wieder angeglichen wurde45. P. DE LAGARDE ging in der Feststellung dieser religionsgeschichtlichen Differenzen noch einen Schritt weiter und bezeichnete Paulus als den „Unberufenen", der uns das Alte Testament in die Kirdie gebracht und die Lehre Jesu judaisiert habe46, H . J. HOLTZMANN aber bezeichnete die Lehre der Urgemeinde im Gegensatz zu der Lehre Jesu als „pharisäisch-judenchristlich" und Paulus, den „secundären Religionsstifter", als verantwortlich dafür, daß „sich thatsächlich an die Verkündigung Jesu die christliche Dogmengeschichte anschließt"". Damit wird über den religionsgesciiiciitlichen Gegensatz hinaus ein dogmatischer Graben zwischen Jesus und der Urkirche aufgerissen, und das 20. Jahrhundert sah sich vor die Aufgabe gestellt, den geschichtlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen Jesus und der Urkirche sicherer zu bestimmen. 43

A. Anm. 8 a. O. Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie,

F . C . BAUR, 122. 1 2 4 . 44

45

É . REUSS,

1864,

Histoire de la théologie chrétienne au siècle apostolique

45. I,

1 8 5 2 , 2 7 1 FF. 2 8 7 . 46

P . DE LAGARDE,

Deutsche Schriften, Gesamtausgabe letzter Hand,

51920,

60 fï. 47

H . J . HOLTZMANN,

351; II, 1897, 203. 208.

Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie

I, 1 8 9 7 ,

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Nun hat kürzlich E. S T A U F F E R die „konsequente Diakritik zwischen primärer Jesusüberlieferung und sekundärer Gemeindechristologie" als „das kritische Vermächtnis des 19. Jahrhunderts" bezeichnet und sich dabei gerade auf die eben genannten Forscher berufen. Er sucht nachzuweisen, daß solche Untersuchung „mit wachsender Klarheit den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Jesus von Nazareth und der Kirche seiner Apostel und Evangelisten" erkennen lasse48. Gegen diese Folgerung kann nur Verwahrung eingelegt werden. Denn auch wenn die Frage hier nicht beantwortet werden kann, ob sich die von S T A U F F E R angenommene Rejudaisierung und Qumranisierung der Jesusbotschaft wirklich nachweisen lasse, so ist nicht daran zu zweifeln, daß diese Annahme eines radikalen Unterschieds zwischen Jesus und der judaisierenden oder auch der dogmatisierenden Urgemeinde ein Gedanke des 19. Jahrhunderts ist, der einer d o g m a t i s c h e n Voraussetzung oder einer a priori feststehenden Depravationstheorie und nicht der strengen Beobachtung der Geschichte entsprungen ist, und es sind auch heute dogmatische oder weltanschauliche Motive, die diese These wieder aufkommen lassen49. Das Erbe des 19. Jahrhunderts, das es hier zu wahren gilt, ist die Einsicht, daß die Erkenntnis des geschichtlichen Jesus als sachliche Voraussetzung für das Verständnis des Urchristentums unerläßlich ist, und die neueste Diskussion um das Problem des geschichtlichen Jesus greift ein unverlierbares Vermächtnis des 19. Jahrhunderts wieder auf50. Aber der Charakter dieser Beziehung und die theologische Wertung dieses auf geschichtlichem Wege erkannten Zusammenhangs dürfen nicht von vornherein festgelegt werden. 9. Damit kommen wir zu dem zweiten uns aufgegebenen Problem, bei dem das Erbe des 19. Jahrhunderts in besonders starkem Maße unsere Weiterarbeit fordert. Das Problem des Mythos in der urchristlichen Verkündigung hatte, wie wir sahen, das 19. Jahrhundert vom 18. Jahrhun4 8 E. STAUFFER, Das kritische Vermächtnis des Neunzehnten Jahrhunderts, Theol. Lit. Ztg. 84, 1959, 641 ff., bes. 646 f. 4 9 Vgl. meinen Aufsatz: „Diakritik zwischen Jesus von Nazareth und dem Christusbild der Urkirche" in „Ein Leben für die Kirche. Zum dankbaren Gedächtnis an D. Johannes Bauer", 1960, 54 ff. 5 0 Vgl. zu dieser Diskussion J. M. ROBINSON, Kerygma und historischer Jesus, 1960, und meinen Aufsatz: „Das Problem des geschichtlichen Jesus in der gegenwärtigen Forschungslage" in dem von der Evang. Verlagsanstalt in Berlin vorbereiteten Sammelband „Der historische Jesus und der kerygmatische Christus" und die an beiden Orten genannte Literatur.

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dert übernommen. D. F. S T R A U S S hatte den Begriff des Mythos in den Mittelpunkt seiner Kritik der Evangelienüberlieferung gestellt51, dann aber war dieser Begriff in den Hintergrund getreten, bis am Ende des 19. Jahrhunderts die religionsgeschichtliche Schule die Einwirkung des heidnischen Mythos auf das urchristliche Denken nachwies52. Diese weit in das 20. Jahrhundert hineinreichenden Bemühungen stießen auf den scharfen Widerstand A D . V . H A R N A C K S , der in diesen Forschungen eine „Ueberschätzung der mythologischen und folkloristischen Elemente" feststellte53, ebenso auf den Widerstand P A U L W E R N L E S , der den Umweg über die hellenistischen Mythen und Mysterien zur Erklärung der paulinischen Kreuzestheologie als unnötig bezeichnete54, fanden Kritik bei den konservativen Theologen55, wurden jedoch stark gefördert durch R U D . B U L T M A N N und E R N S T L O H M E Y E R , die auf den Einfluß orientalischer und gnostischer Mythologien bei Paulus, im Johannesevangelium und überhaupt im späteren Urchristentum hinwiesen56. Diese Forschungen wurden zum Gegenstand öffentlicher Diskussion, als R . B U L T M A N N auf dem Hintergrund dieser geschichtlichen Feststellungen die Forderung nach einer Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft erhob57. Die daran sich anknüpfende und bis heute andauernde Diskussion ist bekannt58; die damit gestellte Frage kann hier nicht aufgegriffen wer51

S. C . HARTLICH u n d W .

SACHS, a . ANM. 1 0 a. O . , 1 2 1 ff. u n d G . BACK-

HAUS, Kerygma und Mythos bei D. F. Strauss und R. Bultmann, 1959, 22 ff. 52

S . d i e H i n w e i s e b e i W . G . KÜMMEL, a. A n m . 2 a. O . , 3 1 0 ff.

03

A. v. HARNACK, Lehrbuch der Dogmengesdiichte I, 4 1909, 45.

54

P. WERNLE, Jesus und Paulus, Ztsdir. f. Theol. u. Kirche 25, 1915, 87 f.

Vgl. z. B. P. FEINE, Das Christentum Jesu und das Christentum der Apostel in ihrer Abgrenzung gegen die Religionsgeschichte, Christentum und Zeitgeist 1, 1904, 61 f. 55

5 6 R. BULTMANN, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manidiäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums, Ztschr. f. d. neutest. Wiss. 24, 1925, 100 ff.; E . LOHMEYER, Die Offenbarung des Johannes, 1926, 191 ff. 67 R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, 1941 (abgedruckt in „Kerygma und Mythos", hrsg. v. H. W . BARTSCH, I, 1948, 15 ff.). 58

S. die Literaturangaben in „Kerygma und Mythos", hrsg. v. H. W .

BARTSCH, I I , 1 9 5 2 , 2 0 9 ff.; u n d b e i R . MARLÉ, B u l t m a n n u n d d i e I n t e r p r e t a t i o n

des Neuen Testamentes, 1959, 199 ff. Ferner die Übersicht von G. GLOEGE, Verkündigung und Forschung 1956/57, 1957, 62 ff.

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den. Es gilt nun aber gerade hier, das Erbe des 19. Jahrhundert s a c h g e m ä ß lebendig zu erhalten und an ihm weiterzuarbeiten. Denn die Aufgabe, die uns das 19. Jahrhundert gezeigt hat, kann auch an diesem Punkt nur die sein, das Vorhandensein und den geschichtlichen Sinn des Mythos so unvoreingenommen und sachlich wie möglich zu ermitteln und verständlich zu machen, aber nicht dabei stehen zu bleiben, sondern im Wissen um den für den Glaubenden richtungweisenden Charakter des Neuen Testaments als das Zeugnis der geschichtlichen Offenbarung Gottes nach der sachlichen Berechtigung und der bleibenden Bedeutung dieser mythischen Rede zu fragen 59 . Nicht in der Preisgabe oder Beschränkung geschichtlicher Forschung und nicht in der dogmatischen Bevormundung ihrer Resultate kann das Vermächtnis des 19. Jahrhunderts liegen, das es zu wahren gilt. Nur wenn wir die geschichtliche Fragestellung konsequent und ohne Scheu auf alle Bereiche des Neuen Testaments anwenden, fragen wir s a c h g e m ä ß aus d e m Glauben heraus, daß uns hier allein Gottes geschichtliche Offenbarung begegnen kann und nach seiner Verheißung auch begegnen wird.

6 9 Vgl. meinen Aufsatz: „Mythos im Neuen Testament", Theol. Ztschr. 6, 1950, 321 ff.