Das deutschsprachige Bildgedicht: Kunstwissen und imaginäre Museen (1870–1968) 9783110699975, 9783110700732, 9783110700817, 2020946378

The work traces the forms, transformations, and functions of German-language poems and art in the tension between art th

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Teil I: Einleitung
1 Konkurrenzen und Allianzen: Text-Bild- Beziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht
2 Historische Theorie des Bildgedichts und Forschungsstand
3 (Kunst-)Wissen, Bildwahrnehmung und Intermedialität
4 Vorgehensweise und Quellenauswahl
Teil II: Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung im späten 19. Jahrhundert
1 Geschmacksideale und imaginäre Museen. Ein Querschnitt
2 „Allerdeutschester Künstler der Vergangenheit“. Dürerkult, Nationalismus und Regionalismus zwischen Kulturnation und Machtstaat: Hermann Lingg, Martin Greif und Heinrich Vierordt
3 „Allerdeutschester Künstler der Gegenwart“: Theodor Fontane, Adolph von Menzel und die preußische Geschichte
4 Neue Zeit und alte Götter. Antike Skulpturen in Gedichten des späten 19. Jahrhunderts: Martin Greif, Heinrich Vierordt, Emanuel Geibel, Gottfried Keller, Paul Heyse, Adolf Pichler, Hermann Lingg und Conrad Ferdinand Meyer
5 Heroenkult und künstlerische Selbstvergewisserung. Michelangelo, Raffael und die italienische Renaissance im Gedicht: Julius Hübner und Conrad Ferdinand Meyer
Teil III: Vom Künstlerheros zum Einzelkunstwerk. Individualisierung des Kunstgeschmacks und ästhetische Standortbestimmung um 1900
1 Kontinuität und Wandel: Literarischer Böcklin-Kult um 1900 und der ‚Fall Böcklin‘
2 Vom Kunstwerk zur Dichtkunst. Poetische Standortbestimmungen zwischen Ästhetizismus und Expressionismus (1895–1913)
Teil IV: Pluralisierung der Kunstbetrachtung zwischen Nationalismus und Distanz: Kunst für das Volk, religiöse Emphase, Parodie und Kritik (1914–1945)
1 Propaganda, Trost und Warnung: Kriegsdeutung, Kriegsbewältigung, ideologische Aufrüstung und Sinnstiftung durch die Kunst (1914–1945)
2 Religiöse Besinnung, kontemplativer Rückzug und politische Bilanz nach den Kriegen: Lyrische Deutung von christlicher Malerei (1918–1945)
3 Parodie, Sachlichkeit und Künstler-Kritik: Bildgedichte zur Zeit der Weimarer Republik (Robert Walser, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht)
4 Die Rückkehr der Heroen und künstlerischer Führer-Dienst? Michelangelo und Rembrandt im Dienste der Ideologie (Josef Weinheber, Hans Friedrich Blunck, Agnes Miegel)
Teil V: Das geteilte Bewusstsein: Geistige Neuorientierung, humanistisches Erbe und politische Aktualisierung. Bildgedichte nach 1945 in Ost und West
1 Alte Künstler, neue Republiken und vergessene Avantgarde: Tendenzen in Gedichten zu Künstlern und Kunstwerken nach 1945
2 (Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski)
3 Antifaschismus, Neubeginn und Gesellschaftskritik in der DDR
Teil VI: Ausblick
Intermediale Allianzen nach 1968
Literaturverzeichnis
Bildquellennachweis
Personenregister
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Das deutschsprachige Bildgedicht: Kunstwissen und imaginäre Museen (1870–1968)
 9783110699975, 9783110700732, 9783110700817, 2020946378

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Bernhard Walcher Das deutschsprachige Bildgedicht

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 160

Bernhard Walcher

Das deutschsprachige Bildgedicht

Kunstwissen und imaginäre Museen (1870–1968)

ISBN 978-3-11-069997-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070073-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070081-7 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2020946378 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde 2018 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen. Allen voran gilt mein großer Dank Barbara Beßlich, die meine interdisziplinäre Arbeit in allen Phasen gefördert, unterstützt und betreut hat. Für viele Anregungen und Gespräche möchte ich mich bei Wilhelm Kühlmann bedanken. Die kritischen und konstruktiven Hinweise der Gutachter Dirk Werle und Michael Thimann waren mir nicht zuletzt auch für die Drucklegung eine große Hilfe. In den zurückliegenden Jahren bin ich mit vielen Kolleginnen, Kollegen und Freunden über das Thema dieser Arbeit ins Gespräch gekommen. Für Diskussionen und Ratschläge, praktisch-technische Hilfestellungen und Unterstützung danke ich Sylvia Brockstieger, Jost Eickmeyer, Franziska Feger, Simon Hager, Tillmann Heise, Philipp Redl, Christian Schneider und Björn Spiekermann. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des De Gruyter-Verlages gilt mein Dank für die hervorragende Zusammenarbeit. Heidelberg im Herbst 2020

https://doi.org/10.1515/9783110700732-202

Bernhard Walcher

Inhalt Teil I: Einleitung  1

Konkurrenzen und Allianzen: Text-Bild-Beziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht | 3

2

Historische Theorie des Bildgedichts und Forschungsstand | 11

3

(Kunst-)Wissen, Bildwahrnehmung und Intermedialität | 22

4

Vorgehensweise und Quellenauswahl | 37

Teil II: Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung im späten 19. Jahrhundert  1

Geschmacksideale und imaginäre Museen. Ein Querschnitt | 47

2

„Allerdeutschester Künstler der Vergangenheit“. Dürerkult, Nationalismus und Regionalismus zwischen Kulturnation und Machtstaat: Hermann Lingg, Martin Greif und Heinrich Vierordt | 62

3

„Allerdeutschester Künstler der Gegenwart“: Theodor Fontane, Adolph von Menzel und die preußische Geschichte | 94

4

Neue Zeit und alte Götter. Antike Skulpturen in Gedichten des späten 19. Jahrhunderts: Martin Greif, Heinrich Vierordt, Emanuel Geibel, Gottfried Keller, Paul Heyse, Adolf Pichler, Hermann Lingg und Conrad Ferdinand Meyer | 117

5

Heroenkult und künstlerische Selbstvergewisserung. Michelangelo, Raffael und die italienische Renaissance im Gedicht: Julius Hübner und Conrad Ferdinand Meyer | 174

VIII | Inhalt

Teil III: Vom Künstlerheros zum Einzelkunstwerk. Individualisierung des Kunstgeschmacks und ästhetische Standortbestimmung um 1900  1 1.1

1.2

1.3

2 2.1

2.2 2.3

2.4

Kontinuität und Wandel: Literarischer Böcklin-Kult um 1900 und der ‚Fall Böcklin‘ | 209 Künstlerisch-kunstgeschichtlicher Freundschaftskult, ästhetische Selbstvergewisserung und kulturkritische Gallionsfigur: Widmungsgedichte auf Böcklin von Heyse, Schack, Keller, Hille, Ostini, Henckell und George | 220 Vitalistisch-naturalistischer Lebenskult, symbolistische Todesapologie und christliche Jenseitshoffnung: Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod und Die Toteninsel (Henckell, Wolfskehl, Koch und Bulcke) | 263 Mythologe der Wirklichkeit und „Realist des Innenlebens“ (Bierbaum): Böcklins Landschaftsdarstellungen und Meeresszenen (Henckell, Hille, Koch, Bierbaum und Liliencron) | 279 Vom Kunstwerk zur Dichtkunst. Poetische Standortbestimmungen zwischen Ästhetizismus und Expressionismus (1895–1913) | 298 Ästhetizistische Weltverrätselung, dekadente Farbenphantasien und künstlerische Selbstbestimmung: Emil Jakob Schindler, Edvard Munch, Diego Velázquez, Fra Angelico und Rembrandt in Gedichten der Jahrhundertwende (Felix Dörmann, Max Dauthendey, Stefan George und Rainer Maria Rilke) | 298 Alte Götter und neue Dichtung: Rainer Maria Rilkes Gedichte auf antike Skulpturen | 326 Zeitdiagnose und Zukunftsutopie: Richard Dehmel und die Bildende Kunst (Heine-Denkmal, Ferdinand Hodler, Max Klinger) | 336 Farbe für die Dichtung, Mittelalter und Mythos für die Gegenwart im Expressionismus (Alfred Lichtenstein, Theodor Däubler, Kasimir Edschmid, Georg Heym, Ernst Stadler, Georg Trakl, Gottfried Benn) | 356

Inhalt | IX

Teil IV: Pluralisierung der Kunstbetrachtung zwischen Nationalismus und Distanz: Kunst für das Volk, religiöse Emphase, Parodie und Kritik (1914–1945)  1

1.1

1.2

2

2.1

2.2

Propaganda, Trost und Warnung: Kriegsdeutung, Kriegsbewältigung, ideologische Aufrüstung und Sinnstiftung durch die Kunst (1914–1945) | 395 Denkmäler, deutsches Mittelalter und paradiesische Schönheit im Ersten Weltkrieg (Eberhard König, Walter Flex, Augustin Wibbelt, Heinrich Vierordt, Ernst Bertram) | 407 Ideologische Indienstnahme, Führervision und Warnbild: Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel in der Deutung der Dichter (Rudolf Herzog, Paul Steinmüller, Alexander von Bernus, Heinrich Anacker, Paula von Preradović) | 436 Religiöse Besinnung, kontemplativer Rückzug und politische Bilanz nach den Kriegen: Lyrische Deutung von christlicher Malerei (1918–1945) | 463 Romantische Tradition, defizitäre Gegenwart und heilgeschichtliche Zukunfts-Verklärung: Rudolf Alexander Schröders Sonette an die Sixtinische Madonna (1909/1927) | 466 Grünewald und kein Ende. Zwischen religiöser Sinnstiftung und humanistischem Erbe (Konrad Weiß, Ernst Bertram, Paul Alverdes, Josef Winckler, Johannes R. Becher, Albrecht Haushofer) | 488

3

Parodie, Sachlichkeit und Künstler-Kritik: Bildgedichte zur Zeit der Weimarer Republik (Robert Walser, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht) | 538

4

Die Rückkehr der Heroen und künstlerischer Führer-Dienst? Michelangelo und Rembrandt im Dienste der Ideologie (Josef Weinheber, Hans Friedrich Blunck, Agnes Miegel) | 588

X | Inhalt

Teil V: Das geteilte Bewusstsein: Geistige Neuorientierung, humanistisches Erbe und politische Aktualisierung. Bildgedichte nach 1945 in Ost und West  1

Alte Künstler, neue Republiken und vergessene Avantgarde: Tendenzen in Gedichten zu Künstlern und Kunstwerken nach 1945 | 621

2

(Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski) | 645

3 3.1

Antifaschismus, Neubeginn und Gesellschaftskritik in der DDR | 665 Die Widerwärtigkeiten des Krieges und der Unterdrückung: Francisco de Goya in der DDR zwischen Kontinuität und Aufbruch (Erich Arendt und Günter Kunert) | 665 Jenseits der Bildbetrachtung? Sühnefigur, gefallener Heros und Freiheitskämpfer: Ikarus-Gedichte und die Bruegel-Rezeption in der DDR (Erich Arendt, Stephan Hermlin, Günter Kunert, Wolf Biermann) | 687

3.2

Teil VI: Ausblick   Intermediale Allianzen nach 1968 | 705 Literaturverzeichnis | 713 Bildquellennachweis | 773 Personenregister | 781

| Teil I:

Einleitung

1 Konkurrenzen und Allianzen: Text-BildBeziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht In seinem wohl berühmtesten Gemälde, das den bezeichnenden Titel La trahison des images (Der Verrat der Bilder) trägt, thematisiert der belgische Surrealist René Magritte die Mediendifferenz und Unvereinbarkeit von Wort und Bild (Abb. 1). Das heute im Los Angeles County Museum of Art ausgestellte Werk ist paradoxerweise selbst zur ‚Ikone‘ sowohl eines als problematisch gedeuteten Wort-BildVerhältnisses als auch fruchtbarer und produktiver Wechselwirkungen beider Künste im 20. Jahrhundert avanciert. Indem Magritte unter die malerische Darstellung einer Pfeife die Worte „Ceci n’est pas une pipe“ („Das ist keine Pfeife“) setzt, wird gleichermaßen die Frage nach der Abbildhaftigkeit von Kunst und die semiotisch-sprachliche Problematik von Bezeichnetem und Bezeichnendem aufgeworfen: Die Darstellung der Pfeife im Medium der Bildenden Kunst ist nicht die Pfeife selbst, was allerdings die Malerei nicht thematisieren kann, sondern nur im anderen Medium der Sprache zum Ausdruck gebracht werden kann.1

Abb. 1: René Magritte, La trahison des images (1929)

Obwohl das Gemälde eigentlich die unüberbrückbaren Differenzen beider künstlerischer Ausdrucksformen von Wort und Bild herausstellt, wird gleichzeitig anschaulich, dass sie aufeinander angewiesen sind oder zumindest grenzüberschreitende Allianzen eingehen können. Die gerade im Kontext von Magrittes

|| 1 Vgl. Corina Caduff u.a.: Intermedialität. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/2 (2006), S. 211–237, hier S. 221. Zur Zitierweise: In den Fußnoten werden bibliographische Angaben bei der Erstnennung vollständig wiedergegeben. Von da an wird mit Nachname, Kurztitel und Jahreszahl zitiert, z.B. „Caduff: Intermedialität, 2006“. Mit jedem Großkapitel (I–VI) beginnt die Fußnotenzählung wieder bei eins und damit auch das Prinzip der vollständigen bibliographischen Angabe bei der Erstnennung. https://doi.org/10.1515/9783110700732-001

4 | I Einleitung

bildkünstlerischem Surrealismus spielerisch wirkende Verwirrungsstrategie seiner Text-Bild-Kombination sollte daher nicht über die Ernsthaftigkeit und Signifikanz der malerischen Behandlung dieses Themas für das frühe 20. Jahrhundert hinwegtäuschen. Magrittes Gemälde bringt ins Bild, was spätestens seit Lessing epochenübergreifend als ästhetische, mediale „kulturelle Leitdifferenz“2 bezeichnet werden kann und bildkünstlerische wie literarische Diskurse gleichermaßen prägt. Je nach Standpunkt wurde und wird dieser medialen Differenz apologetisch im Sinne einer – mit Oskar Walzel gesprochen – „wechselseitigen Erhellung der Künste“3 begegnet oder aber als Ausgangspunkt für strikte Forderungen nach einer klaren Grenzziehung zwischen den beiden Künsten instrumentalisiert.4 Stichwortgeber für die letztere Position ist der in seinen Dramen sich kaum um tradierte Gattungsnormen oder regelpoetische Grenzziehungen scherende Gotthold Ephraim Lessing mit seiner auch heute noch populären ästhetischen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), in der er eine rigorose Trennung und Grenzziehung zwischen Literatur und Bildender Kunst fordert. Wenngleich Lessings Schrift, wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat, ein hybrides Textgebilde darstellt, in dem altertumskundliche Aspekte und Fragen nach Kunst-, Schönheits- und Empfindungsidealen eine ebenso bedeutende Rolle spielen wie allgemeine ästhetische Theoriebildung im aufklärerischen Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Rationalismus, ist es doch sein Trennungsverdikt der Künste, das seit dem Erscheinen der Schrift bis heute ihre Rezeption maßgeblich bestimmt.5 Lessings berühmte Unterscheidung zwischen

|| 2 Gabriele Rippl: Text-Bild-Beziehungen zwischen Semiotik und Medientheorie. Ein Verortungsvorschlag. In: Ikono-Philo-Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Hg. von Renate Brosch. Berlin 2004 (Potsdamer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Bd. 2), S. 43–60, hier S. 47. 3 Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917. 4 Zum Überblick sei zunächst verwiesen auf die ältere Studie von Hans-Christoph Buch: Ut pictura poesis. Die Beschreibungskunst und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972 (Literatur als Kunst). 5 Zahlreiche Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen auf Lessings Erfolgsschrift bietet der Band von Jörg Robert und Friedrich Vollhardt (Hg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings ‚Laokoon‘ zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin 2013 (Frühe Neuzeit, Bd. 181); ausführlich die Zusammenfassung auch bei Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2016, S. 232–261; aus der Perspektive der weiter unten noch näher zu beleuchtende Intermedialitätsforschung betont auch Hans Holländer die problematische Rolle der Laookon-Rezeption, vgl. Hans Holländer: Literatur, Malerei und Graphik.

1 Text-Bildbeziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht | 5

der Malerei und Dichtung als Raum- und Zeitkunst dient nicht nur der medienästhetischen Differenzierung verbunden mit einer Forderung nach strikter Trennung der beiden Kunstbereiche, sondern richtet sich auch gegen das klassizistische – wenngleich in der Rezeption eigentlich missverstandene – Horazische utpictora-poesis-Prinzip und birgt implizit eine hierarchische Erhöhung der Literatur gegenüber der Bildenden Kunst.6 Sowohl von der programmatischen Abgrenzung der beiden Künste als auch der Hierarchiefrage distanzieren sich nahezu alle ästhetischen Schriften nach Lessing deutlich. Mehr noch: Schon in der Frühromantik wie etwa in Wackenroders Phantasien über Kunst für Freunde der Kunst (1799) und dann im Zuge der „visuellen Revolution“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert nehmen Malerei und (später) Fotografie die Funktion kultureller „Leitmedien“ ein.7 Bildende Kunst wird zum paradigmatischen Wahrnehmungsmedium der Wirklichkeit nobilitiert

|| Wechselwirkungen, Funktionen, Konkurrenzen. In: Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Hg. von Peter V. Zima. Darmstadt 1995, S. 129–170; schon der Titel eines älteren Sammelbandes zum Thema hebt die Bedeutung von Lessings Schrift für die Diskussion über das Verhältnis von Wort und Bild hervor, vgl. Thomas Koebner (Hg.): Laokoon und kein Ende: Der Wettstreit der Künste. München 1989 (Literatur und andere Künste, Bd. 3). 6 Verwiesen sei auf zwei prägnante Stellen bei Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hier Bd. 5/2: Werke 1766–1799. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 57), S. 11–137, hier S. 113 bzw. 116: „Ist dem aber so, und kann ein Gedicht sehr ergiebig für den Maler, hinwiederum ein anderes sehr malerisch, und dennoch nicht ergiebig für den Maler sein: so ist es auch um den Einfall des Grafen Caylus getan, welcher die Brauchbarkeit für den Maler zum Probiersteine der Dichter hat machen, und ihre Rangordnung nach der Anzahl der Gemälde, die sie dem Artisten darbieten, bestimmen wollen. […] Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen. Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile auf einander folgen, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“ 7 Renate Brosch: Die ‚gute‘ Ekphrasis: Grenzgänge der Repräsentation. In: Ikono/Philo/Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Hg. von Renate Brosch. Berlin 2004 (Potsdamer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Bd. 2), S. 61–78, hier S. 68.

6 | I Einleitung

und Bildlichkeit gerade für die Strömungen der frühen literarischen Moderne vor und um 1900 ein herausragendes Charakteristikum.8 Oskar Walzels berühmte, von ihrem Titel her redensartlich gewordene Abhandlung Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe von 1917 kann dabei als späte Replik auf Lessings Trennungsverdikt gelesen werden und bildet gewissermaßen einen vorläufigen Endpunkt dieser Diskussion um Fragen der Wort-Bild-Beziehungen bzw. einen Gegenpol zu Lessings Laokoon-Schrift im frühen 20. Jahrhundert. Auch in der weiteren Perspektive des sogenannten pictorial turn (oder auch visual bzw. iconic turn), der seit den 1990er Jahren in den Bild-, Literatur- und Kulturwissenschaften proklamiert wurde und zu beobachten ist, bleiben harsche Abgrenzungsversuche zwischen beiden Kunstformen die Ausnahme, vielmehr stehen – trotz der paradigmatisch anmutenden ‚Wende-Rhetorik‘ – Synthese-Bemühungen im Mittelpunkt.9 Was Oskar Walzel mit seiner Studie anregt, ist aber mehr als nur eine Gegenposition zu Lessing. Diesem ging es ja primär um das Verhältnis von Poesie und Malerei und eine distinkte mediale Unterscheidung der beiden Kunstformen. Deren prinzipielle Verwandtschaft steht bei Walzel außer Frage. Seine Studie ist vor allem eine Reaktion auf die zwei Jahre zuvor erschienenen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe (1915) des Münchner Ordinarius für Kunstgeschichte Heinrich Wölfflin.10 150 Jahre nach Lessings Streitschrift geht es dem Literaturwissenschaftler Walzel also nicht mehr nur um das fruchtbare und produktive Miteinander von Literatur und Kunst auf erster Ebene, sondern (bereits) um mögliche „Wechselwirkungen“ und Synergieeffekte – gewissermaßen auf zweiter Ebene – zwischen Kunst- und Literaturwissenschaft. Seine Studie ist der Versuch, das von Heinrich Wölfflin vor allem für die Beschreibung der Kunst(-entwicklung) des 16.

|| 8 Vgl. Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 180), S. 160–163. 9 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Neben dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm für die deutschsprachige Forschung ist der amerikanische Kunstwissenschaftler William John Thomas Mitchell einer der führenden Vertreter des iconic/visual turn, der allerdings schon in seinen frühen Studien nicht an Abgrenzungen, sondern an Synthesen und Fragen der begrifflichen und inhaltlichen Verwandtschaft von ‚Bildlichkeit‘ in Kunst und Literatur interessiert ist, vgl. W.J.T. Mitchell: Was ist ein Bild? In: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main 1990 (Poetik, Bd. 3; edition suhrkamp, NF 475), S. 17–68, hier bes. S. 30ff.; ähnlich betont auch Sabine Schneider, dass „die ikonische Wende in der Moderne“ nicht „eine Verdrängung der Literatur durch die Bilder, sondern ein Katalysator für mediale und semiotische Reflexivität in der modernen Literatur“ gewesen sei, vgl. Schneider: Verheißung der Bilder, 2006, S. 2. 10 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München 1915 (Quellen zur Geschichte der Kunstgeschichte).

1 Text-Bildbeziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht | 7

und 17. Jahrhunderts entwickelte Begriffsinstrumentarium auf die Literaturgeschichte zu übertragen.11 Trotz des je nach Epoche unterschiedlich bewerteten Verhältnisses von Malerei und Dichtung kann zunächst festgehalten werden, dass sich das Verhältnis von Kunst und Literatur gerade nach Lessings Streitschrift kontinuierlich bis ins 20. und 21. Jahrhundert hinein durch ein reges Beziehungsgeflecht aus (gegenseitiger) Indienstnahme, Auseinandersetzung und Bezugnahme in unterschiedlichen literarischen Gattungen und wissenschaftlichen Disziplinen auszeichnet. Gedichte auf Kunstwerke, die deutend, beschreibend, kritisierend, erklärend, kontextualisierend oder bestimmte ästhetische Parameter nachahmend ein Gemälde, eine Skulptur, ein Denkmal oder ein druckgrafisches Werk literarisieren, vollziehen nach Lessings Verdikt jene von ihm in Frage gestellte mediale Grenzüberschreitung, ohne dass sie dabei zwangsläufig immer Dimensionen der Medienkonkurrenz oder Mediendifferenzen reflektieren. Die Popularität von Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie mag bisweilen zu der Annahme verleiten, das schon seit der Antike lebendige und fruchtbare Mit- und Nebeneinander von Kunst und Literatur habe durch und nach Lessings Streitschrift an Intensität eingebüßt oder Schaden genommen. Das Gegenteil ist aber der Fall und trifft nicht nur auf den Bereich der Lyrik zu. Allerdings ist gerade die Zahl von Gedichten, die sich mit Kunstwerken oder Künstlern auseinandersetzen, seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich, am Ende des 19. Jahrhunderts und während des gesamten 20. Jahrhunderts geradezu explosionsartig gestiegen. Die Bibliographien von Gisbert Kranz dürfen auch heute noch als Standardwerke gelten und bieten vor allem was die quantitative Aufschlüsselung von Bildgedichten nach Jahrhunderten und Nationalliteraturen anbelangt immer noch eine zuverlässige Grundlage. So umfasst etwa die von Kranz in den 1980er Jahren publizierte Bibliographie mit rund 40 000 Gedichten auch außereuropäischer Literaturen die zehnfache Textmenge gegenüber seiner 1973 publizierten Studie zum europäischen Bildgedicht. Ohne die einzelnen Anteile der Nationalliteraturen zu berücksichtigen ergibt sich für den gewählten Zeitraum der vorliegenden Studie ein signifikantes Bild: Verzeichnet Kranz für das 19. Jahrhundert noch insgesamt

|| 11 Vgl. Rainer Rosenberg: „Wechselseitige Erhellung der Künste“. Zu Oskar Walzels stiltypologischen Ansatz der Literaturwissenschaft. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt am Main 1986 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 633), S. 269–280, hier S. 273.

8 | I Einleitung

577 Bildgedichte, so steigt deren Zahl für das 20. Jahrhundert um das Fünffache auf 2827 Gedichte.12 Mit einigem Recht könnte man behaupten, dass die von Lessing formulierte und geforderte Trennung der Künste – was den Textbestand von nach Lessing publizierten Werken betrifft, in dem sich die fruchtbare Verbindung von Kunst und Literatur manifestiert – im Verlauf der Literaturgeschichte geradezu sensationell folgenlos geblieben ist. Für die Zeit ab der Reichsgründung 1871, die den Anfangspunkt der vorliegenden Studie bildet, ist eine im Vergleich zu den Jahrzehnten davor rapide anwachsende Zahl von Gedichten auf Kunstwerke und Künstler zu verzeichnen, weshalb es sich anbietet, eine Untersuchung dieser poetischen Subgattung schon allein aufgrund der Quellenlage mit den Jahren um 1870 anzusetzen. Daneben begründet sich die Entscheidung, diese Studie mit dem späten 19. Jahrhundert beginnen zu lassen, auch in der fachgeschichtlichen Situation der Kunstgeschichte als eigenständiger akademischer Disziplin, deren Formierungsphase als Universitätsfach in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu situieren ist.13 Für die frühen Vertreter des Faches und ihre Schriften ist eine Mischung aus historischer (Kunst-)Betrachtung und Kunstkritik typisch, nicht selten liegen deren Wurzeln auch noch im praktischen akademischen Kunstunterricht. Nicht zufällig waren die ersten beiden Ordinarien für die zumindest nominell so bezeichnete Kunstgeschichte mit Männern aus der Praxis besetzt. In Göttingen wurde bereits 1813 der „Universitäts-Zeichenlehrer“ Johann Dominicus Fiorillo (1748– 1821) Ordinarius für Kunstgeschichte, wobei es sich weniger um eine durch wissenschaftliche Qualifikation begründete Berufung als vielmehr um eine Ehrung handelte. Für die Gründungsgeschichte der Kunstgeschichte nimmt Bonn eine herausragende Stellung ein, da hier mit Eduard d’Alton (1772–1849) 1826 ein Künstler ohne Habilitation zunächst zum außerordentlichen Professor und dann als Ordinarius für Kunstgeschichte berufen worden war. Im modernen Sinne waren diese Professuren also nicht als Lehrstühle für ein eigenständiges Fach Kunstgeschichte zu verstehen, weshalb auch von der Forschung gemeinhin der 1852 nach Bonn berufene Anton Springer mit seinen Abgrenzungsversuchen zur Ästhetik und anderen Disziplinen hin als erster ‚echter‘ akademischer Vertreter

|| 12 Gisbert Kranz: Das Bildgedicht in Europa. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Paderborn 1973; die Zahlen bei Gisbert Kranz: Das Bildgedicht. Theorie – Lexikon – Bibliographie. 3 Bde., hier Bd. 1: Theorie – Lexikon. Köln 1981, S. 11ff. 13 Zum Überblick grundlegend Wolfgang Beyrodt: Kunstgeschichte als Universitätsfach. In: Kunst und Kunsttheorie 1400–1900. Hg. von Peter Ganz u.a. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 48), S. 313–333, hier bes. S. 314–318.

1 Text-Bildbeziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht | 9

des Faches gilt.14 Aufgrund der wissensgeschichtlichen Ausrichtung dieser Studie (s. Einleitung, Kapitel 3) werden gerade diese Wechselwirkungen von kunsthistorischer Wissenschaft und deren Wissenschaftsgeschichte in den Mittelpunkt gerückt. Die Einrichtung einer akademischen Kunstwissenschaft hatte gewissermaßen als Nebenschauplatz auch der Institutionalisierung von Kunstbetrachtung und Beschäftigung mit Kunst Vorschub geleistet, die sich in der Gründung von Verbänden, Kunst- und Museumsvereinen bemerkbar machte, sowie eine rapide ansteigende Zahl von (neu gegründeten) kunstkritischen und kunsthistorischen Zeitschriften zur Folge hatte. Diese Zeitschriften ‚eroberten‘ den literarischen Markt und entfalteten eine enorme Breitenwirkung in der Popularisierung von Künstlern, Kunstwerken und Kunstwissen, was auch für die steigende Produktion von Bildgedichten und insgesamt für die Vertiefung bildkünstlerisch-literarische Beziehungen relevant ist.15 Gleichzeitig avanciert Lessings Laokoon-Schrift im späten 19. Jahrhundert mit über fünfzig Einzelausgaben seit der Jahrhundertmitte, von denen die Hälfte Schulausgaben gewesen sind, zum „ästhetischen Hausbuch des Bildungsbürgertums“.16 Aufgrund dieses Befundes sollte Lessings Schrift und die unmittelbar darauf reagierenden Texte als Grundlage für die Darstellung der im späten 19. und

|| 14 Vgl. Beyrodt: Kunstgeschichte als Universitätsfach, 1991, S. 313–333; hervorragend auch und sehr anschaulich mit zahlreichen Quellenauszügen (Carl Schnaase, Franz Kugler, Johann Dominicus Fiorillo u.a.) Wolfgang Beyrodt: Kunstwissenschaft. Entwicklungslinien der Kunstgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert bis zum Kunstwissenschaftlichen Kongreß von 1873. In: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts ins Deutschland. Texte und Dokumente. 2 Bde., hier Bd. 1: Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft. Hg. von Werner Busch und Wolfgang Beyrodt. Stuttgart 1982 (Reclams Universalbibliothek, Nr. 7888 [5]), S. 278–364; zu den Publikationen von Rumohr, Waagen und Schnaase und deren Stellenwert in der Etablierung einer akademischen Kunstgeschichte vgl. Gabriele Bickendorf: Die Anfänge der historisch-kritischen Kunstgeschichtsschreibung. In: Kunst und Kunsttheorie 1400–1900. Hg. von Peter Ganz, Martin Gosebruch, Nikolaus Meier und Martin Warnke. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 48), S. 359–374. 15 Vgl. exemplarisch Rüdiger vom Bruch: Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreich. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 313–347; Manuela Vergoosen: Museumsvereine im 19. Jahrhundert. Ein typologischer Vergleich charakteristischer Beispiele. Neuried 2004 (Deutsche Universitätseditionen, Bd. 23). 16 Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 103), S. 339. Mit Karl Goedeke zählt Willems allein über 50 Einzelausgaben von Lessings Schrift nach 1850, in die noch nicht die bei Göschen und Reclam aufgelegten populären Ausgaben eingerechnet sind.

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frühen 20. Jahrhundert wieder aufkommenden Frage nach dem Verhältnis von Wort und Bild im Blick behalten, wer untersuchen will, in welcher Weise die mit Lessing verbundenen Diskussionen und Diskurse des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und modifiziert werden. Die aufgezeigte Konstellation macht aber auch deutlich, dass theoretische Überlegungen und ästhetische Positionen innerhalb des Wort-Bild-Diskurses bis ins 21. Jahrhundert hinein nur bedingt als Gradmesser für die tatsächliche Literaturproduktion gelten können, die oftmals gerade den Forderungen in programmatischen Texten entgegenläuft.

2 Historische Theorie des Bildgedichts und Forschungsstand Die für die historische Theorie des Bildgedichtes maßgeblichen Texte, Karl Philipp Moritz’ Abhandlung Die Signatur des Schönen, inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können (1788) und August Wilhelm Schlegels fingiertes Gespräch Die Gemälde (1798), können als Paragone innerhalb der literarischen Gattungen verstanden werden und unterstreichen damit auch in Abgrenzung von Lessings Trennungsverdikt umso mehr die Verbindung von Bildender Kunst und Literatur. Moritz’ Ablehnung der Prosabeschreibung von Kunstwerken richtet sich namentlich gegen die Skulpturenbeschreibungen Johann Joachim Winckelmanns. Das Wesentliche, das eigentlich Künstlerische einer Skulptur oder eines Gemäldes könne, so Moritz, nur durch eine poetische Beschreibung, also durch ein Gedicht erfasst werden.17 Bis hin zu den (kunst-)theoretischen und ästhetischen Überlegungen zum Grenzbereich von Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts von Theodor A. Meyer (Stilgesetz der Poesie, 1901), Oskar Walzel (Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Grundbegriffe, 1917) und Heinrich Maria Lützeler (Formen der Kunsterkenntnis, 1924; Die außerwissenschaftliche Kunsterfahrung, 1962) bleiben diese Fragen virulent. Wenngleich in den theoretischen Schriften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein Konkurrenzverhältnis zwischen Bildgedicht und Prosabeschreibung beschworen wird, besteht die für den weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts entscheidende Opposition im Hinblick auf Darstellung und Deutung von Kunstwerken vor allem zwischen Bildgedichten und literarischen Prosabeschreibungen als „nichtwissenschaftlichen Kunsterfahrungen“18 auf der einen und wissenschaftlichen Abhandlungen auf der anderen Seite. Mit der von den Vertretern der sogenannten Berliner Schule – Carl Friedrich von Rumohr, Gustav Friedrich Waagen, Karl Schnaase und Franz Kugler – vorangetriebenen historisch-kritischen und als „Universalgeschichte“ verstandenen Kunstgeschichtsschreibung ist nicht nur der Beginn der Kunstgeschichte als akademischem Universitätsfach verbunden. Gustav Friedrich Waagens Studie Die

|| 17 Vgl. Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen. Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden können. In: Ders.: Werke. Hg. von Horst Günther. Bd. 2: Schriften zur Kunst und Mythologie. Frankfurt am Main 1981, S. 579–588, bes. S. 585. 18 Uwe Heckmann: Vom Bildgedicht zur Novelle. Die Sammlung Boisserée und ihre literarische Rezeption. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1998. S. 68–110, hier S. 73. https://doi.org/10.1515/9783110700732-002

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Brüder van Eyck (1822) und Carl Friedrich Rumohrs Italienische Forschungen (1827–39) markieren auch einen Wendepunkt in der bis dahin literarisch oder poetisch dominierten Rezeption von Gemälden.19 Bildgedichte und literarische Kunstbeschreibungen reagieren fortan auf die Ergebnisse der kunstgeschichtlichen Forschungen zu Künstlern und Kunstwerken. Dies trifft bisweilen – aber nicht in selbem Maße – auch auf Gedichte zu (antiken) Kunstwerken des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu wie etwa bei Johann Gottfried Herder, Ignaz Heinrich von Wessenberg, Theodor Körner oder Friedrich de la Motte Fouqué.20 Gleichwohl kann für die Entwicklung des Bildgedichts in inhaltlicher und formaler Hinsicht die (früh-)romantische Kunstphilosophie um 1800 als wesentlicher Impulsgeber ausgemacht werden. Die frühromantische Konzentration auf religiöse Historienmalerei von Raffael bis Guido Reni, der Entwurf einer Kunstreligion und religiöser Kunst, einer christlich dominierten Kunstphilosophie sowie die Verklärung von (italienischen) RenaissanceMalern wie Raffael zum Inbegriff einer höchsten (christlichen) Kunst wie sie von Wilhelm Heinrich Wackenroder (und Ludwig Tieck) in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) oder bei August Wilhelm Schlegel in seinem Kunstgespräch Die Gemälde (1798) und seinen Gemäldesonetten (1798ff.) zu finden sind, wird inhaltlich für das Traditionsverhalten von Dichtern des späten 19. Jahrhunderts ebenso virulent wie für Autoren und deren Gedichte aus den 1920er Jahren oder aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.21 || 19 Hierzu grundlegend: Gabriele Bickendorf: Die ‚Berliner Schule‘. In: Klassiker der Kunstgeschichte. 2 Bde., hier Bd. 1: Von Winckelmann bis Warburg. Hg. von Ulrich Pfisterer. München 2007, S. 46–62; Beyrodt: Kunstgeschichte als Universitätsfach, 1991, hier bes. S. 314–316; im selben Band: Gabriele Bickendorf: Die Anfänge der historisch-kritischen Kunstgeschichtsschreibung In: s.o., S. 359–374; auch Beyrodt: Kunstwissenschaft. Entwicklungslinien der Kunstgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, 1982, S. 278–364. 20 Vgl. exemplarisch Bernhard Walcher: Ästhetik und Germanentum. Der sterbende Gallier als moralisches Vorbild und nationaler Held in Bildgedichten von Friedrich de la Motte Fouqué, Conrad Ferdinand Meyer und Ignaz Heinrich von Wessenberg. In: Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Wolf Gerhard Schmidt. Berlin, München, Boston 2015 (spectrum Literaturwissenschaft; Komparatistische Studien, Bd. 48). S. 97–121. 21 Vgl. Kranz: Das Bildgedicht in Europa, 1973, S. 55ff.; knapp geht auch schon Hellmut Rosenfeld darauf ein, vgl. Hellmut Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung. Leipzig 1935 (Palaestra, 199), hier S. 135ff. auf die frühromantische Dichtung ein; zur frühromantischen Kunstphilosophie vgl. besonders Rita Köhler: Poetischer Text und Kunstbegriff bei Wilhelm Heinrich Wackenroder. Eine Untersuchung zu den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ und den „Phantasien über Kunst“. Frankfurt am Main, Bern u.a. 1990; Martin Bollacher: Die heilige Kunst: Wackenroders „Herzensergießungen eines

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Schon Karl Pestalozzi hat 1995 in seiner Studie darauf hingewiesen, dass August Wilhelm Schlegels Kunstgespräch Die Gemälde bei weitem nicht so große Berühmtheit erlangt habe wie das Gespräch über die Poesie (1800) seines Bruders Friedrich, obgleich die drei Gesprächspartner Louise, Waller und Reinhold in ihren Überlegungen zu Kunstkritik, Kunstbetrachtung und die Frage nach der ‚Übersetzbarkeit‘ von Bildender Kunst in Sprache – Anlass ist ein Museumsbesuch in Dresden – zentrale ästhetische und kunstphilosophische Ansichten der Frühromantik entwerfen.22 Neben der seit Karl Philipp Moritz und Lessing schwelenden Problematik der Überführbarkeit von Kunsterlebnis in Sprache geht es in Schlegels Gespräch vor allem um die Vorführung einer „nachempfindenden Kunstbetrachtung“ und um eine „emphatische Kunstaneignung“.23 Dieser herausgestellte Subjektivismus scheint mir ein wesentliches Element der frühromantischen Kunstrezeption und -betrachtung zu sein, das in verschiedenen Varianten in Bildgedichten immer wieder zur Geltung kommt und gewissermaßen auch ein wesentliches Merkmal einer Vorgeschichte der Bildgedichte des hier behandelten Zeitraums markiert. So wie schon die Gemäldesonette August Wilhelm Schlegels – von denen sich ohnehin nur drei auf nachweisbare Vorlagen beziehen (Cleopatra von Guido Reni, Leda von Michel Angelo, Io von Correggio)24 – programmatisch Traditionsbezüge zur Sonettdichtung herstellen, gleichzeitig aber auch neue inhaltliche Akzente mit der ins Sonett verlegten Kunstbetrachtung setzen, erscheint die Affinität des Bildgedichts mit der Sonettform über alle || kunstliebenden Klosterbruders“. In: Was aber bleibet, stiften die Dichter? Zur Dichter-Theologie der Goethe-Zeit. Hg. von Gerhard vom Hofe. München 1986, S. 105–120; ferner auch Winfried Eckel: Bildersturm und Bilderflut in der Literatur der Romantik. In: Bildersturm und Bilderflut um 1800. Hg. von Helmut J. Schneider. Bielefeld 2011, S. 211–228. 22 Pestalozzi, Karl: Das Bildgedicht. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995 (Bild und Text), S. 568–591, hier S. 572f. Pestalozzi bezeichnet Schlegels Gemälde-Text als „eigentliche Gründungsschrift“ des Bildgedichts (ebd.). 23 Claudia Becker: Bilder einer Ausstellung. Literarische Bildkunstkritik in A.W. Schlegel Gemälde-Gespräch. In: Das Wagnis der Moderne. Festschrift für Marianne Kesting. Hg. von Paul Gerhard Klussmann, Willy Richard Berger und Burkhard Dohm. Frankfurt am Main u.a. 1993, S. 143–155, Zitate S. 146 und 147; vgl. auch Reinhard Wegner: Der geteilte Blick. Empirisches und imaginäres Sehen bei Caspar David Friedrich und August Wilhelm Schlegel. In: Kunst – die andere Natur. Hg. von Reinhard Wegner. Göttingen 2004 (Ästhetik um 1800, Bd. 1), S. 13–33. 24 Vgl. August Wilhelm Schlegel: Sämtliche Werke. Bd. I: Poetische Werke. Erster Teil. Hg. von Eduard Böcking. Hildesheim, New York 1971 [Fotomechanischer Nachdruck der Ag. 1846], S. 301–379 [Sonette], hier S. 328–330; teilweise sind die Sonette auch abgedruckt im GemäldeGespräch: August Wilhelm Schlegel: Die Gemälde. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. IX: Vermischte und kritische Schriften. Dritter Band. Hg. von Eduard Böcking. Hildesheim, New York 1971 [Fotomechanischer Nachdruck der Ag. 1846], S. 3–101.

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Epochengrenzen hinweg als Referenz an die gerade bei Schlegel vorgeformte Typik aus (formaler) Traditionsverbundenheit und (inhaltlicher) Innovation, was sich besonders bei den Sonettzyklen von Konrad Weiß und Rudolf Alexander Schröder mit ihrer Ausrichtung auf christlich-religiöse Kunst-Kontemplation nachweisen lässt.25 Eine zusammenhängende, im Schwerpunkt auf Bildgedichte ausgerichtete literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Darstellung der von Walzel schlagwortartig gefassten „wechselseitigen Erhellung der Künste“ von der Reichsgründung bis in die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg fehlt bislang ebenso wie eine vertiefende (kunsthistorische) Untersuchung des Fortlebens der Interferenzen zwischen Ästhetik, Kunstphilosophie und Kunstgeschichte nach der Wiener Moderne und dem Expressionismus, sieht man von dem 2011 erschienenen zweibändigen Handbuch der Kunstzitate ab, das zumindest ein zuverlässiges Kompendium und Repertorium der wichtigsten Texte, Autoren und Künstler bietet. Dort wird allerdings nur zusammenfassend und überblickshaft das Verhältnis von Literatur und Bildender Kunst für die Zeit des Spätrealismus bis zur Gegenwart erörtert. Das Handbuch erfasst auch nicht nur lyrische Kunstrezeption, sondern alle Gattungsbereiche der Literatur.26 Für die Epochen und literarischen Strömungen seit 1870, die den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie bilden, liegen allerdings Forschungsansätze vor, an die angeknüpft werden kann. Sie problematisieren in unterschiedlicher Perspektivierung kunstgeschichtliche Entwicklungen, bildkünstlerische Phänomene und daraus resultierende ästhetische Positionierungen und weltanschauliche Standpunkte von Kunstwissenschaftlern, Dichtern, Philosophen und Künstlern.27 Eine solche weit gefasst Analyse-Perspektive ist auch

|| 25 Zur inhaltlichen und formalen Tradition des Sonetts vgl. allgemein Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, bes. S. 3 und 11f.; speziell zu Schlegel Jörg-Ulrich Fechner: August Wilhelm Schlegels Gemäldesonette. In: Sonett-Künste: Mediale Transformation einer klassischen Gattung. Hg. von Erika Greber und Evi Zemanek. Dozwil 2012, S. 183–208, bes. S. 188ff.; neuerdings auch Gertrud Maria Rösch: „Sonetten-Überschwemmungen“. August Wilhelm Schlegels poetologische Erneuerung des Sonetts. In: SonettGemeinschaften. Die soziale Referentialität des Sonetts. Hg. von Mario Gotterbarm, Stefan Knödler und Dietmar Till. Paderborn 2019, S. 145–157. 26 Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde. Berlin, Boston 2011. 27 Hier seien nur die grundlegenden, von ihren Ansätzen her ausbaufähigen Sammelbände und Studien genannt: Ekkehard Mai, Stephan Waetzold, Gerd Wolandt (Hg.): Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3); Stephan Nachtsheim: Kunstphilosophie und

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erkenntnisleitend für die hier behandelten Texte. Gerade für die literarische Rezeption von Kunstwerken und Künstlern um die Jahrhundertwende spielen Fragen nach den ideologischen und ästhetischen Interessenlagen der Rezipienten von Bildender Kunst eine zentrale Rolle. Was für bestimmte Vertreter der Kunstgeschichte um 1900 konstatiert werden kann, gilt mithin auch für die Autoren von Bildgedichten, die „Gründe für ästhetisches Wohlgefallen oder Mißfallen nicht [mehr] primär in formalen Eigenschaften oder dem geistigen Wesensgehalt eines Kunstwerks, sondern in der Beziehung zwischen betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt“ suchen.28 Neuere Einzelstudien zu Wechselwirkungen zwischen Kunst und Literatur sind oftmals im Zuge des sogenannten iconic turn und einer medientheoretisch ausgerichteten Literaturwissenschaft seit den 1990er Jahren zu verzeichnen.29 In der Folge sind vor allem einige vertiefende und umfangreichere Studien zu „erzählten Bildern“ in Prosawerken vom 18. Jahrhundert bis zur Wiener Moderne entstanden, die hauptsächlich die „erzähltheoretische Dimension des Phänomens ‚ein Bild wird erzählt’ und seine poetologische Bedeutung“ aufzeigen30 oder sich bei der Analyse ihrer Textcorpora methodisch (auch) an Intertextualitäts- und Intermedialitätstheorien anlehnen.31 Neben der bei Heide Eilert und Ursula Renner behandelten Zeit um 1900 sind Einzelstudien besonders auch zum

|| empirische Kunstforschung 1870–1920. Berlin 1984 (Kunst und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 7); Magdalena Bushart: ‚Form‘ und ‚Gestalt‘. Zur Psychologisierung der Kunstgeschichte um 1900. In: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Hg. von Otto Gerhard Oexle. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte, Bd. 228), S. 147–179; in demselben Sammelband: Johann Heinssen: Die frühe Krise des Historismus 1870–1900. Das Beispiel der Kunsttheorie. In: s.o., S.117– 145; in weiterer Perspektive (Antike bis zur Postmoderne): Christian G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene. Göttingen, Toronto, Zürich 1987. 28 Bushart: Psychologisierung der Kunstgeschichte um 1900, 2007, S. 149. 29 Exemplarisch hier Heinrich F. Plett: Bildwechsel. Impressionistische Intermedialität am Fin de Siècle. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Hg. von Jörg Helbig. Berlin 1998. S. 219–229; zur neueren Bildtheorie vgl. den Sammelband (mit einem Beitrag auch von William J. T. Mitchell, S. 17–68): Volker Bohn (Hg.): Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt a.M. 1996 (edition suhrkamp, NF, 475); grundlegend auch zum Überblick Ulrich Weisstein: Literatur und Bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1992. 30 Bernard Dieterle: Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg 1988 (Artefakt: Schriften zur Soziosemiotik und Komparatistik, Bd. 3), S. 11. 31 Vgl. Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991; Ursula Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannthals Texten. Freiburg im Breisgau 2000 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 55).

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Text-Bild-Verhältnis in der Romantik und im Realismus erschienen – allerdings auch hier mit Blick fast ausschließlich auf die Prosa.32 Auch die im Jahr 2017 unter dem Schwerpunkt Alte Meister – Malerei in Literatur in der Zeitschrift für Germanistik publizierten acht Beiträge kommen weitgehend ohne die Betrachtung und Interpretation von Bildgedichten aus.33 Auffällig ist, dass fast alle der genannten Beiträge – und hier auch jene, die sich nicht dezidiert nur der Prosa widmen – keine Kapitel zu Bildgedichten aufweisen oder nur am Rande auf solche eingehen. Die wichtigsten Vorarbeiten zum Thema stammen nach wie vor von Gisbert Kranz. Seine ältere Studie von 1973 zum Bildgedicht im europäischen Horizont stützt sich auf ein Textcorpus von insgesamt 4280 Bildgedichten, von denen 1282 aus dem 20. Jahrhundert stammen.34 Die aus den 1980er Jahren stammende dreibändige Darstellung verzeichnet schon 40 000 Gedichte von 4585 Autoren, von denen 1151 deutschsprachig sind. Da in der vorliegenden Arbeit freilich nicht alle Bildgedichte vorgestellt und behandelt werden können und um dieses ungeheure Material zu ordnen, bieten die Bände neben einer knappen Typologie der Bildgedichte eine nach Gemälden und Künstlern organisierten Bibliographie sowie ein nach Autoren sortiertes

|| 32 Exemplarisch der Sammelband von Gerhard Neumann, Günter Oesterle (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik. Würzburg 1999 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. VI); Helmut Pfotenhauer: Bild und Schrift. Zur Funktion von Medienwechseln in der realistischen Literatur: Stifter, Keller. In: Ders.: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000, S. 159–185; Claudia Öhlschläger: Die Macht der Bilder. Zur Poetologie des Imaginären in Joseph von Eichendorffs Die Zauberei im Herbste. In: Bild und Schrift in der Romantik. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Oesterle. Würzburg 1999 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. VI), S. 279–300; Walter Hinderer: Erzählte Bilder und eingebildete Texte. Anmerkungen zu Tiecks Novelle Die Gemälde (1821). In: Bild und Schrift in der Romantik. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Oesterle. Würzburg 1999 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. VI), S. 217–234; Melanie Klier: Kunstsehen – Literarische Konstruktion und Reflexion von Gemälden in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüdern mit Blick auf die Prosa Georg Heyms. Frankfurt am Main [u.a.] 2002 (Münchner Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 35). 33 Vgl. Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 27 (2017), im Einzelnen: Werner Busch: Klingemanns „Nachtwachen von Bonaventura“. Zum Ende des Jüngsten Gerichts in seiner religiösen Bestimmung, S. 454–474; Monika Schmitz-Emans: Falsche Alte Meister in Jean Pauls „Komet“, S. 475–490; Alexander Košenina: Gefährliche Bilder? Wie Kunstbetrachtung literarische Figuren ver-rückt (Goethe, Kleist, Th. Mann, Heym, Schnitzler, S. 491–509; Constanze Baum: Begierde und Brechung. Tizian und die Literatur der Jahrhundertwende, S. 510–527; Mathias Mayer: Die Rezeption des Isenheimer Altars zwischen Ethik und Ästhetik. Grünewald-Spuren in der Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 528–541; Hans-Ulrich Treichel: „Kein Goya! Kein Greco!“ Thomas Bernhard „Alte Meister“, S. 542–556; Charlotte Kurbjuhn: Hans Baldung Grien mit Tonspur: Thomas Klings „animierter farbholzschnitt von 1510“, S. 557–578. 34 Kranz: Das Bildgedicht in Europa, 1973, S. 16.

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Lexikon.35 Für eine erste Auswahl der Gedichte für die vorliegende Untersuchung ist die Bibliographie von Kranz neben dem Handbuch der Kunstzitate maßgeblich gewesen. Ergänzend konnten die ebenfalls von Gisbert Kranz unter bestimmten Themen zusammengestellten Bildgedichtsammlungen, die jeweils zusammen mit bedichteten Kunstwerken publiziert wurden und auch internationale Texte berücksichtigen, konsultiert werden.36 Grundlage für das dreibändige Lexikon von Kranz ist – wenn auch leicht modifiziert – die schon aus der früheren Untersuchung bekannte Systematisierung der Gedichte nach dem „Merkmal der Verfahrensweise“.37 Diese unterscheidet Kranz in vier Sektionen: Typen, Leistung, Anlässe und Rezeption. Drei „Typen“ von Bildgedichten klassifiziert er nach „der Absicht des Bildgedicht-Autors, nach der Struktur der Texte und nach dem Realitätsbezug“. 38 Die neun Kategorien zur Beschreibung von Bilgedichten-Typen nach Absicht sollten allerdings nicht als Begriffe mit alleinigem Geltungsanspruch missverstanden werden, Überschneidungen sind – so auch in der Praxis der Gedicht-Charakterisierung – eigentlich die Regel. Kranz unterscheidet zwischen deskriptiv, panegyrisch, pejorativ, didaktisch-moralisch, politisch, sozialkritisch, delektierend und amourös.39 Bei der Struktur unterscheidet Kranz beim Einzelgedicht die Begriffe allokutiv, also den Betrachter anredend, monologisch und dialogisch bezogen auf Figuren des Kunstwerks, die mit sich selbst oder miteinander reden. Die Kategorie des apostrophierenden Bildgedichts beschreibt das Ansprache-Verhältnis zwischen dem empirischen Autor bzw. der Sprechinstanz und einem Betrachter, wohingegen das epische Bildgedicht als eine erzählende Form gefasst wird, von der das genetische Bildgedicht, das die Entstehungsgeschichte eines Kunstwerks einfängt, eine Unterart darstellt. Als Gegenpol zum epischen, erzählenden Bildgedicht ist das Hauptmerkmal des meditativen Bildgedichts die sinnende Kunstbetrachtung. Als letzte Kategorie der strukturellen Typen-Einteilung nennt Kranz das zyklische Bildgedicht, das sich nicht selten auf Vorlagen beziehe, die selbst schon zyklisch (gemalte Jahreszeiten-Zyklen etc.) angelegt sind.40 Zusätzlich fasst Kranz die Bildgedichte nach „Leistungen“ zusammen, die sich immer auf

|| 35 Kranz: Das Bildgedicht, 1981–1987. 36 Gisbert Kranz (Hg.): Deutsche Bildwerke im deutschen Gedicht. München 1975; Gisbert Kranz (Hg.): Gedichte auf Bilder. Anthologie und Galerie. München 1975; Gisbert Kranz (Hg.): Bildmeditation der Dichter. Verse auf christliche Kunst. Hamburg 1976. 37 Kranz: Das Bildgedicht in Europa, 1973, S. 67; für eine graphische, zusammenfassende Übersicht hierzu S. 77. 38 Kranz: Das Bildgedicht, 1981 (Bd. 1), S. 13. 39 Ebd., S. 173–234. 40 Ebd., S. 235–327.

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der Verhältnis von Kunstwerk/Künstler und sprachlicher Realisation beziehen: Transposition, Suppletion, Assoziation, Interpretation, Provokation, Spiel, Kokretisation.41 Ein Gedicht kann also etwa mit der Absicht geschrieben sein, einen Künstler oder ein Kunstwerk zu rühmen, strukturell durch einen apostrophierenden Gestus gekennzeichnet sein und mit Blick auf den Realitätsbezug zum Beispiel kumulativ sein, wenn es nicht nur ein Kunstwerk, sondern mehrere eines Künstlers thematisiert. Die Anlässe dagegen stellen für Kranz die soziologisch-historische Dimension von Bildgedichten dar. Es kann nach Anlässen gefragt werden, die sich auf den Bildinhalt, die Situation des Dichters beim Schreiben des Gedichts oder die Lebens- und Kunstwelt des bedichteten Künstlers beziehen. Die von Kranz definierten Leistungen der Nachahmung von strukturellen oder stilistischen Charakteristika im Kunstwerk (Transposition), die sprachliche Erweiterung von künstlerischen Gegenständen oder Einbeziehung von äußeren Umständen etwa eines Denkmals oder einer Statue (Suppletion) erscheinen nach Kranz auch jeweils in Kombination mit eher auf die Wirkung von Kunstwerken bezogenen Leistungen des Bildgedichts, die Kranz als Assoziation, spielerischen Umgang mit inhaltlichen, formalen oder wissensgeschichtlichen Aspekten (Konkretisation) bezeichnet. Was Kranz neben der unschätzbaren Zusammenstellung von Bildgedichten aus zwei Jahrtausenden bietet, ist eine systematische Erschließung des Materials in Längsschnitten, die aber „keine historische, sondern systematische Funktion“ haben.42 Eine Geschichte des Bildgedichtes auch im Sinne einer kulturgeschichtlich ausgerichteten literarhistorischen Studie wollte und konnte Kranz nicht schreiben. Allerdings hat Kranz an ausgewählten Kunstwerken – Nike von Samothrake, Venus von Milo, Laokoon, Apollon vom Belvedere, Leonardos Mona Lisa, Raffaels Sixtinische Madonna, Michelangelos Erschaffung des Adam, Moses und Die Nacht, Dürers Melancolia, Bruegels Landschaft mit Sturz des Ikarus, Watteaus Einschiffung zur Liebesinsel und van Goghs Kornfeld mit Raben – beispielhaft demonstriert, welchen Ansätzen eine solche Literaturgeschichte des Bildgedichtes nachgehen könnte.43 Zwar ist der Blick auf die Kunstwerke aus der || 41 Ebd., S. 27–171. 42 Kranz: Das Bildgedicht, 1981 (Bd. 1), S. 14. 43 Gisbert Kranz: Meisterwerke in Bildgedichten. Rezeption von Kunst in der Poesie. Frankfurt am Main, Bern, New York 1986 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XVIII: Vergleichende Literaturwissenschaften, Bd. 43); die Beiträge sind zum größten Teil bereits vor der Zusammenführung in diesem Band separat als Aufsätze in unterschiedlichen Zeitschriften abgedruckt worden, für die Sammlung teils aber (vor allem was die Beispiele anbelangt) erheblich erweitert worden, vgl. Gisbert Kranz: Bruegels „Icarus“ gedeutet von Dichtern. In: Literatur in

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Perspektive europäischer Bildgedichte durchaus interessant. Durch die schiere Zahl der Texte – bei der Mona Lisa sind es über hundert Gedichte – ist aber auch eine vertiefende kulturgeschichtliche und literarhistorische Analyse der deutschsprachigen Texte kaum möglich gewesen, was cum grano salis auch auf die anderen behandelten Kunstwerke zutrifft. Das gilt noch mehr, da Kranz nicht selten in der losen Aneinanderreihung von Bildgedichten mit Hinweisen auf markante Unterschiede oder Gemeinsamkeiten auskommt, ohne auf weltanschauliche Prämissen im epochalen literatur- und kunsthistorischen Kontext genauer einzugehen. Nur wenige Beiträge haben in der Folgezeit das von Kranz formulierte Forschungsdesiderat aufgegriffen. Die meisten beschränken sich auf einige prominente Gedichte etwa von Conrad Ferdinand Meyer oder Rainer Maria Rilke und deren engere kulturelle und kunstgeschichtliche Kontexte.44 Eine Ausnahme zu diesem Befund bilden die auch für einige in der vorliegenden Untersuchung behandelten Gedichte anregenden Einzelstudien und monographischen Arbeiten von Achim Aurnhammer,45 Reinhold Grimm,46 Karl Pestalozzi,47 Annette

|| Wissenschaft und Unterricht 14 (1981), S. 91–102; Gisbert Kranz: Leonardos Mona Lisa in der Lyrik. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 16 (1981), S. 131–150; Gisbert Kranz: Watteaus „Einschiffung zur Liebesinsel“ im Spiegel der Lyrik. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 33 (1983), S. 229–243. 44 Rilkes Bildgedichte werden häufig behandelt, aber nur selten in einen größeren Zusammenhang gestellt, vgl. Georg Braungart: Rainer Maria Rilkes Archaïscher Torso und das Ende ästhetischer Beliebigkeit. In: Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm. Hg. von Dieter Heimböckel und Uwe Werlein. Würzburg 2005, S. 229–236. 45 Achim Aurnhammer: Salvator Rosa als Idol des ästhetischen Historismus. Rosa-Hommagen von Fürst Pückler-Muskau, C.F. Meyer und J.V. Scheffel. In: Salvator Rosa in Deutschland. Studien zu seiner Rezeption in Kunst, Literatur und Musik. Hg. von Achim Aurnhammer, Günter Schnitzler und Mario Zanucchi. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2008 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 160), S. 335–349. 46 Reinhold Grimm: Urbild des immerwährenden Schlachttages. Zu Holger Teschkes Brueghelschem Bildgedicht. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 7: Gegenwart II. Hg. von Walter Hinck. Stuttgart 1997 (Reclams Universalbibliothek, 9632), S. 310–319. 47 Pestalozzi, Karl: Das Bildgedicht. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995 (Bild und Text), S. 568–591.

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Pieczonka,48 Peter Sprengel,49 Thorsten Valk50 und Christiane Wirtz.51 Obwohl diese Untersuchungen ganz unterschiedliche Epochen, Dichter und Künstler behandeln, bieten sie grundsätzliche Orientierungspunkte für die vorliegende Untersuchung, insofern sie nach epochenspezifischen intermedialen Verfahrensweisen und Schwerpunkten im Kontext von Wahrnehmungspsychologie, Kulturanthropologie und Sprachtheorie fragen und präzise kulturhistorische, kunstgeschichtliche und literarästhetische Kontexte und Zusammenhänge für ihre Deutungsansätze rekonstruieren. Im Mittelpunkt stehen dabei grundlegende und systematisierende Analysekategorien, die sich ganz offensichtlich auch an den von Gisbert Kranz vorgeschlagenen Begriffen orientieren. Die Studien problematisieren einerseits formalästhetische Strukturen der Gedichte, die nicht selten auch den „intermedialen Transkriptionsvorgang“ vergegenwärtigen.52 Sie thematisieren andererseits auch wirkungsästhetische Aspekte der Literarisierung von Kunstwerken, bei denen vor allem das zeitliche Verhältnis von Kunstbetrachter und Kunstwerk, Fragen der Aktualisierung oder Enthistorisierung von Kunst und ihren jeweils dargestellten Sujets sowie die Möglichkeit einer ästhetischen Standortbestimmung durch die Literarisierung von Kunstwerken im Mittelpunkt stehen.53 Dagegen bieten die Überlegungen von Nicola Ettlin zur Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts keine || 48 Annette Pieczonka: Sprachkunst und Bildende Kunst. Studien zum deutschen Bildsonett nach 1945. Köln, Wien 1988 (Kölner Germanistische Studien, Bd. 25). 49 Peter Sprengel: Ritter, Tod und Teufel. Zur Karriere von Dürers Kupferstich in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm. Hg. von Dieter Heimböckel und Uwe Werlein. Würzburg 2005, S. 189–210. 50 Thorsten Valk: Der Bildbetrachter als nachschaffender Künstler. Intermediale Rezeptionsstrategien in ‚Friedrichs Totenlandschaft‘ von Theodor Körner. In: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 2008, S. 207–229; Thorsten Valk: Lyrische Ekphrasis. Intermediale Referenzen in Bildgedichten von Paul Celan und Gottfried Benn. In: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Hg. von Wolf Gerhard Schmidt und Thorsten Valk. Berlin, New York 2009 (spectrum Literaturwissenschaft / Komparatistische Studien, Bd. 19), S. 295–313. 51 Vgl. Christiane Wirtz: Christoph August Tiedges Bildgedicht Der Krieger in einer Landschaft Salvator Rosas zu Rom. In: Salvator Rosa in Deutschland. Studien zu seiner Rezeption in Kunst, Literatur und Musik. Hg. von Achim Aurnhammer, Günter Schnitzler und Mario Zanucchi. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2008 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 160), S. 279– 289. 52 Valk: Der Bildbetrachter als nachschaffender Künstler, 2008, S. 295; vgl. auch Valk: Lyrische Ekphrasis, 2009. 53 Vgl. Wirtz: Tiedges Bildgedicht Der Krieger, 2008; Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005; Aurnhammer: Salvator Rosa als Idol des ästhetischen Historismus, 2008; Grimm: Urbild des immerwährenden Schlachttages, 1997.

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neuen Erkenntnisse oder Anknüpfungspunkte für die vorliegende Studie, das die Analyse der ausgewählten Bildgedichte ohne eine literar- und kunsthistorische Kontextualisierung auskommt.54

|| 54 Vgl. Nicola Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2010 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 714); die Überlegungen zu den Gedichten in der Arbeit von Ettlin bemühen sich vor allem um die Herstellung des Zusammenhangs mit der im Titel vorgestellten Fragestellung. Ihr literaturgeschichtliches Epochenwissen stammt auch größtenteils aus der Metzlerschen Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und anderen Überblicksdarstellungen. Vgl. auch meine Rezension dazu: Bernhard Walcher: Nicola Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2010. In: Germanistik 52 (2011), S. 254.

3 (Kunst-)Wissen, Bildwahrnehmung und Intermedialität Mit der Reichsgründung als zeitlichem Anfangspunkt dieser Untersuchung ist nicht nur eine politische und soziale Zäsur verbunden. Der von 1870 an entfaltete Staats- und Denkmalskult bedient sich in besonderem Maße der Kunst und Literatur zur Profilierung politischer Werte. Nicht selten erscheinen beide Künste – im Sinne eines Gesamtkunstwerkes – im Rahmen von Feiern, Denkmalserrichtungen oder Museumseinweihungen. Die Dominanz von Gedichten auf einzelne Künstler wie Albrecht Dürer, Adolph von Menzel, Michelangelo, Raffael oder Rembrandt ist ein herausragendes Charakteristikum des Bildgedichts im späten 19. Jahrhundert und lässt sich als tradierte Sonderform des Bildgedichts auch in späteren Epochen immer wieder nachweisen. Dieser für das II. Kapitel wichtige Quellen-Befund wirft die Frage nach den hier verwendeten Gattungsbezeichnungen für Gedichte auf, die sich mit Kunstwerken oder Künstlern auseinandersetzen: Ist es sinnvoll bei einem Gedicht auf Albrecht Dürer, Michelangelo oder Rembrandt, in dem einzelne Werke nur summarisch angedeutet werden, oder auf eine antike Marmorskulptur noch von einem ‚Bildgedicht‘ zu sprechen? Oder sollten hierfür neue Begriffe eingeführt werden? Die Beantwortung dieser Frage und der Umgang mit der Problematik werden in der vorliegenden Arbeit pragmatisch angegangen: Der von Hellmut Rosenfeld und Gisbert Kranz eingeführte und etablierte Begriff des ‚Bildgedichts‘ wird in gleicher Weise für alle in Kranz’ maßgeblicher Bibliographie zusammengestellten Gedichte – ganz gleich, ob sie sich mit Skulpturen, Plastiken oder ‚nur‘ dem Künstler befassen – verwendet55 Die auf Wilhelm Waetzold zurückgehende, ältere Bezeichnung „Gemäldegedicht“ konnte sich nicht durchsetzen, weil damit der Rezeptionsrahmen solcher Gedichte von vornherein zu sehr auf den Bereich der Malerei verengt worden war.56 Der noch in der zweiten Auflage des alten Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte von 1958 verzeichnete Artikel „Gemäldegedicht“ von Gustav Bebermeyer wurde in die Neubearbeitung des Reallexikons zur deutschen Literaturwissenschaft von Klaus Weimar (1997) nicht übernommen.57 Es soll und kann also im || 55 Vgl. Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht, 1935; Kranz: Das Bildgedicht, 1981–1987. 56 Wilhelm Waetzoldt: Malerromane und Gemäldegedichte. In: Westermanns Monatshefte 58 (1914), S. 735–747. 57 Vgl. Gustav Bebermeyer: Gemäldegedicht. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Al. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog [u.a.] hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Erster Band: A–K. Berlin 1958, S. 552–556. https://doi.org/10.1515/9783110700732-003

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Folgenden nicht darum gehen, neue Begriffe zu installieren, die zwangsläufig in Konkurrenz zu dem von Rosenfeld und Kranz eingeführten und in der Forschung etablierten Begriff treten würden. ‚Bildgedicht‘ bleibt auch in der vorliegenden Untersuchung der Oberbegriff für die behandelten Texte, da er zum einen konkret das künstlerische ‚Bild‘ (Gemälde, Statue, Druckgrafik etc.), zum anderen aber auch das ‚Künstlerbild‘ oder ‚Kunstbild‘ bezeichnen kann. Wenn bisweilen differenzierend von ‚Malergedichten‘ oder ‚Skulpturengedichten‘ gesprochen wird, so geschieht das in der präzisierenden Absicht, der Faktur der Gedichte gerecht zu werden.58 In den seltensten Fällen werden Bildgedichte zusammen mit Abbildungen präsentiert, so dass Berührungspunkte mit älteren Gattungstraditionen wie der Emblematik oder dem Flugblatt nicht gesucht werden.59 Dagegen kann für den gesamten Untersuchungszeitraum konstatiert werden, dass die meisten Gedichte kunsthistorisches, ästhetisches oder archäologisches zeitgenössisches und tradiertes Wissen literarisieren und in ihre Auseinandersetzungen mit der Bildenden Kunst einfließen lassen. Ganz unterschiedliche Textsorten wie Traktate, Künstlerbiographien, Kunstkritiken, Werkmonographien oder Ausstellungskataloge finden bei den Dichtern und Dichterinnen Beachtung, die der Einfachheit halber im Folgenden unter dem seit Julius von Schlosser gebräuchlichen Begriff der „Kunstliteratur“ zusammenfassend bezeichnet werden.60 Als Bildgedichte werden in dieser Arbeit lyrische Texte verstanden, die nachweislich auf ein existierendes Kunstwerk oder einen historischen Künstler Bezug nehmen. Texte auf fiktive Kunstwerke werden deshalb nicht berücksichtigt, weil die „Erfindung von Kunstwerken mit den Mitteln der Literatur etwas anderes ist, als die Beschreibung und Deutung von existierenden Bildern“ und zumal der intermediale Blick vom Text auf das Kunstwerk und umgekehrt ausbleiben muss.61

|| 58 In Einzeluntersuchungen zu Autoren und Künstlern wird bisweilen der Versuch unternommen, neue Begriffe – meist aus den Quellen heraus – ins Spiel zu bringen. So verwendet auch Rose Ausländer den Begriff des ‚Malergedichts‘ für ihre versifizierten Künstlerbetrachtungen. Insgesamt aber wird in der Forschung Kranz’ Begrifflichkeit gebraucht. Vgl. Harald Vogel: „Durch Bilder gehn“ – Rose Ausländers Malergedichte. Ein Werkstattbericht. In: Rose Ausländer – de la Bucovine à l’après-Shoah. Hg. von Claire de Oliveira. Paris 2003, S. 247–264. 59 Die genannten prominenten Sonderformen von Text-Bild-Beziehungen sind so konzipiert, dass Bild und Text unmittelbar miteinander präsentiert werden und sich entweder gegenseitig ergänzen, kommentieren oder erklären. Das ist beim Bildgedicht nicht der Fall. 60 Vgl. Julius von Schlosser: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte. Wien 1924. 61 Holländer: Literatur, Malerei und Graphik, 1995, S. 143.

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Bildgedichte entstehen aus unterschiedlichen Kontexten heraus. Zudem sind verschiedene rezeptions- und produktionsästhetisch relevante Voraussetzungen für ihre Entstehung von Bedeutung: Die Dichter können mit dem Künstler wie im Falle von Arnold Böcklin und Adolf Friedrich von Schack oder Max Klinger und Richard Dehmel bekannt oder befreundet sein, sie kennen das Kunstwerk aus eigener Anschauung oder (nur) aus Reproduktionen, sie demonstrieren mit ihrer Literarisierung von Kunst ihre Bildung und ihr Wissen oder stilisieren die Kunstbetrachtung zum lebensverändernden Erlebnis. Auch ursprüngliche, historische Funktionszusammenhänge von Kunstwerken – wie etwa christliche Andachts- und Frömmigkeitskontexte – werden, wie bei Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß, in Bildgedichten reflektiert. Insofern sind für das Verständnis der Bildgedichte und ihre Künstlerkonzeption und Kunstwerkerezeption die Erschließung und Berücksichtigung historischer Wissenskonstellationen und -kontexte ebenso wichtig wie intermediale Fragestellungen. Schon längst nicht mehr werden in den Kulturwissenschaften Literatur – aufgrund ihrer fiktionalen Anlage und den daher rührenden Organisationsmöglichkeiten von Wissen – und Wissen als Gegendiskurse begriffen oder gegeneinander ausgespielt.62 Vielmehr bilden Fragen nach Synergieeffekten und Wechselwirkungen beider Systeme und ihrer Diskurse die erkenntnisleitende methodische Grundlage einer wissensgeschichtlich ausgerichteten Literaturwissenschaft.63 Mit einem allgemeinen und etwas älteren Begriff gesprochen ist für || 62 Diese Position wird, soweit ich sehe, auch in neueren Studien weitgehend geteilt. Vgl. die immer noch grundlegende Studie Roland Borgards und Harald Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer für eine entgrenzte Philologie. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Hg. von Walter Erhart. Stuttgart, Weimar 2004, S. 210–222. Borgards und Neumeyer wenden sich damit auch gegen die Einwände von Tilmann Köppe, der (personales) Wissen gebunden an einen Wahrheitsanspruch gebunden sieht und insofern insgesamt die fiktionale Literatur als Wissensspender problematisiert. Auf seine Thesen wird weiter unten noch eingegangen. Borgards und Neumeyer stellen vor allem gegen diese Position einen Literaturbegriff, für den Wahrheit nur im Sinne einer konstruierten Wahrheit eine Rolle spielt, vgl. etwa S. 211f.: „Denn die Literatur eröffnet nicht einfach den Raum freier Fiktion; vielmehr setzt sich ein positives Wissen, das mit historisch und kulturell bestimmbaren Wahrheitsordnungen korreliert. Deshalb sind die Inhalte nicht bloße Anlässe für ein selbstreflexives literarisches Spiel, sondern als Teil kultureller Wissensbestände konstitutiv für die Texte. Und gerade darin, dass die Literatur sowohl in Produktion als auch Reproduktion von Wissensfiguren sich an eine kulturelle Wissensordnung anschließt, ist sie eine referentielle Disziplin.“ 63 Vgl. auch die sich speziell auf das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft konzentrierenden Studien von Michael Titzmann und Jürgen Link, in denen auch die Verbindung der Forschungsansätze (Literatur und Wissen, Diskurstheorie, Interdiskurstheorie) deutlich wird: Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in der Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen

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die untersuchten Bildgedichte der Kontext als „Menge der für die Erklärung eines Textes relevanten Bezüge“64 von Bedeutung, im Sinne einer wissensgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft ist präziser zu fragen, „was für Wissensbestände sind in ein literarisches Werk eingegangen“ und „was für Wissensbestände sind zur Lektüre des Werks erforderlich“.65 Untersuchungen zum Verhältnis von Literatur, Wissen, und Wissenschaft, in denen meist gleichzeitig – spätestens seit Tilmann Köppes Beitrag von 200766 – auch die Bedeutung von Fiktionalität und Wahrheit für die Frage nach dem Wissen in und von Literatur problematisiert wird, füllen seit Joseph Vogls Studien zu einer Poetologie des Wissens, in denen ältere methodische Ausrichtungen der Kulturwissenschaften wie die Diskurstheorie und New Historicism aufgegangen sind, mittlerweile ganze Regalreihen.67 Dass eine wissensgeschichtlich

|| 1991, S. 395–438; Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61; Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt am Main 1988, S. 284– 307. 64 Lutz Danneberg: Kontext. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. II. Hg. von Harald Fricke u.a. Berlin, New York 2000, S. 333–337, hier S. 333. 65 Fotis Jannidis: Zuerst Collegium Logicum. Zu Tilmann Köppes Beitrag „Vom Wissen in Literatur“. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 18 (2008), S. 373–377, hier S. 376. 66 Vgl. Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 17 (2007), S. 398–410. 67 Vgl. Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 7–16; Ders.: Für eine Poetologie des Wissens. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag. Hg. von Karl Richter, Michael Titzmann und Jörg Schönert. Stuttgart 1997, S. 102–127; einen zuverlässigen Forschungsbericht unter Berücksichtigen der – etwa später von Gideon Stiening nicht unwidersprochenen – Vorgeschichte einer wissensgeschichtlichen Literaturwissenschaft und deren Vordenker Charles Percey Snow, Jacques Derrida, Michel Foucault, Ludwik Fleck und Gaston Bachelard liefert Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28,1 (2003), S. 181–231, zur Vorgeschichte bes. S. 187– 205; ferner auch Borgards/Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens, 2004, S. 213ff.; kritisch vor allem zu den immer wieder genannten Namen als ‚Ahnenreihe‘ dieses Forschungsansatzes äußert sich Gideon Stiening. Er moniert auch an den Beiträgen von Joseph Vogl, dass dieser „Wissen“ mit „Information“ (S. 241) verwechsle. Stiening unterstellt Vogl zudem, dass dieser den auf dem „linguistic turn basiernde[n] und so erkenntnistheoretisch legitimierte[n] diskursive[n] Universalismus Foucaults“ zu einer „nominalistischen Metaphysik der Geschichte erweitert“ habe und zwar „ohne die begründungstheoretische Problematik des rein subjektiven Status rationaler oder historischer Allgemeinheiten zu reflektieren“. „Die

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orientierte Literaturwissenschaft nicht mehr nur ein Randphänomen der Kulturwissenschaften ist, belegen einerseits die seit den 1990er Jahren in großer Zahl erschienenen Studien, die Joseph Vogls Überlegungen weiterdenken, modifizieren oder sich davon abgrenzen, andererseits markiert auch das 2013 erschienene „interdisziplinäre Handbuch“ Literatur und Wissen,68 dass der wissensgeschichtliche Zugriff auf Texte mittlerweile zu einem allgemein anerkannten Forschungsansatz avanciert ist. Erstaunlicherweise fehlt im Handbuch Literatur und Wissen ein Kapitel zur „Wissensdisziplin“ Bildende Kunst. Diese Lücke kann die vorliegende Studie zwar nicht gänzlich schließen, die Relevanz des Zusammenhangs von Wissen, Literatur und Bildender Kunst aber zumindest für den Bereich der Bildgedichte verdeutlichen und anhand der ausgewählten Texte darstellen. Bildgedichte rezipieren und konstituieren Wissen über Kunstwerke und Künstlerbiographien. Der Dichter ist also in seinen Bildgedichten auch als „Wissensgeber“69 zu erfassen, der Ausstellungsskandale wie etwa bei Edvard Munch, Ausgrabungsergebnisse in Olympia im späten 19. Jahrhundert, Betrachter-Irritationen wie im Falle von Gabriel von Max oder wie im Falle von Dürer oder Grünewald im frühen 20. Jahrhundert ideologisch-weltanschaulich unterlegt und literarisiert. Für die behandelten Texte ist insofern sowohl die Frage nach dem Wissen in den Texten als auch die Rekonstruktion nach den (kunst-)wissenschaftlichen Zusammenhängen relevant, wobei es nicht nur um den Nachweis ganz konkreter Einflüsse gehen kann, sondern vielmehr um „rekonstruierbare Analogien“.70 Die mit Blick auf verschiedene Wissenskonstellationen, Disziplinen und literarhistorischen Kontexte „integrative“ Leistung von Bildgedichten lässt sich an Beispielen aus allen in dieser Arbeit behandelten Epochen demonstrieren: So ist etwa Hermann Linggs große Dürer-Dichtung von 1870 nur im Gesamtzusammenhang der zeitgleichen Dürer-Feiern und der Dürer-Verehrung im

|| rationalitätskritische Emphase einer historischen Epistemologie“ gründe bei Vogl „selbst in unbegründeter Metaphysik“, vgl. Gideon Stiening: Am „Ungrund“ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man ‚Poetologien des Wissens‘? In: KulturPoetik 7 (2007), S. 234–248, Zitat S. 239. Einig ist Stiening allerdings mit der auch von anderen vertretenen Kritik an Tilmann Köppes Wahrheitsbegriff im Zusammenhang mit Wissen. „Radikale Historizität“ (S. 237), so Stiening, bedeute in diesem Kontext „völlige Indifferenz gegenüber der Wahrheit“. 68 Vgl. Roland Borgards u.a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar 2013. 69 Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase: Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Fragen und zwölf Thesen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011 (linguae&litterae, 4), S. 29–76, hier S. 35. 70 Borgards/Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens, 2004, S. 221.

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neu gegründeten Deutschen Reich zu deuten und in Fontanes Groß-Gedicht zu Adolph von Menzel fließen historiographische Bilder von Friedrich II. und kunstwissenschaftliches Wissen über die Menzelsche Maltechnik und seine gemalten Geschichtskonzeptionen mit ein. Dass ein verengter, mit der Koppelung an einen Wahrheitsanspruch konzipierter (personaler) Wissens-Begriff, wie er in der älteren Forschung vertreten wurde,71 wenig hilfreich ist, betonten nicht nur die meisten Entgegnungen auf die Kritik Köppes an einer wissensgeschichtlichen Literaturwissenschaft.72 Für den Bereich der Bildgedichte lassen sich geradezu exemplarisch die Schwachstellen einer solchen Wissens-Konzeption demonstrieren. So spielen für die lyrische Bearbeitung von Michelangelo und seiner Werke über die Epochen hinweg sowohl kunsthistorisches Wissen als auch die darin mit einem ‚Wahrheitsanspruch‘ vertretenen ideologisch-weltanschaulichen Deutungen eine Rolle, wenn man etwa an die Publikationen von Herman Grimm, Anton Springer, Wilhelm Lübke oder Henry Thode und deren Bedeutung für Michelangelo-Gedichte denkt, die apologetisch oder kritisch hinterfragt von den Dichtern aufgegriffen werden. Noch deutlicher wird das Nebeneinander – nicht ein zwangsläufig untrennbar aneinander gekoppeltes Verhältnis – von Wissen und Wahrheits(-anspruch) am Beispiel der Grünewald-Rezeption im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der erst im 19. Jahrhundert durch stil- und quellenkritische Forschungen entdeckte Grünewald und die darauf folgenden Zuschreibungen von bis dahin namenlosen Künstlern oder künstlerischen Notnamen zugeordneten Werken wie dem Isenheimer Altar wird für die Lyrik überhaupt erst durch die kunstwissenschaftliche Forschung greifbar. Gleichwohl ist die ideologische Ausrichtung und lyrische Deutung von Grünewald-Werken in Bildgedichten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig verschieden. Im zeitgenössischen Horizont der Autoren nationalistisch-völkischer oder linksliberaler Gedichte zu Dürer oder Grünewald wie Ernst Bertram, Heinrich Anacker und Paul Steinmüller oder Paula von Preradović , Paul Alverdes und Johannes R. Becher ist das über Dürer und Grünewald literarisierte Wissen über die Künstler nicht nur in einer objektivierbaren

|| 71 Vgl. Köppe: Vom Wissen in Literatur, 2007. 72 Die Kritik richtet sich vor allem gegen Köppes Konzept des personalen Wissens und dessen Wahrheitsanspruch. Vgl. Borgards/Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens, 2004; Jannidis: Zuerst Collegium Logicum, 2008; ferner auch noch die direkte Antwort auf Köppe von Roland Borgards: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 17 (2007), S. 425–428; moderat formuliert auch bei Thomas Klinkert: Literatur und Wissen. Überlegungen zur theoretischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011 (linguae&litterae, 4), S. 116–139.

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wissensgeschichtlichen Perspektive rekonstruierbar – insofern Grünewald- und Dürer-Wissen dem kulturellen Wissen einer bestimmten Zeit entspricht –, sondern auch in ideologischer Hinsicht als Wissen fassbar, das dezidiert mit einem „Wahrheitsanspruch“ vorgetragen wird.73 Gerade die vielen Bildgedichten eigene „Performativitätsfiktion“74 – einen Ausstellungsbesuch, die Konfrontation mit einem Kunstwerk im privaten Raum, die erinnernder Auseinandersetzung mit Hilfe von Reproduktionen oder die gelehrte Beschäftigung auf der Grundlage von literarisierten wissenschaftlichen Erkenntnissen – erlaubt es, die von Köppe für die fiktionale Literatur problematisierte Einheit von Wissen in (fiktionaler) Literatur und Wahrheitsanspruch gerade als genuines Moment solcher Sprechsituationen herauszustellen, mit Hilfe derer (vermeintlich) objektive Wissensbestände mit (subjektiven) Wahrheitsansprüchen gekoppelt werden können. Zahlreiche Bildgedichte vor allem auf lange schon tote Künstler wie Michelangelo, Dürer, Raffael oder Rembrandt unterstreichen aufgrund ihrer „genuin ästhetischen Eigenschaften“ und „ihren fiktionalen Gestaltungsspielräumen“75 die Sinnfälligkeit von Untersuchungen zum Verhältnis von Wissen und Literatur gerade bei fiktionalen Texten, da hier die Möglichkeit besteht, „die

|| 73 Vgl. die etwas einseitige Position von Köppe: Vom Wissen in Literatur, 2007, S. 400ff.; zum Begriff des ‚Kulturellen Wissens‘ nach Michael Titzmann vgl. auch Neumann/Nünning: Kulturelles Wissen und Intertextualität, 2006, bes. S. 17f.; zusammenfassend auch Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011 (linguae&litterae, 4), S. 77–115, hier bes. S. 80– 96. 74 Ralph Müller: Gibt es spezifisch lyrische Äußerungsstrukturen? Anmerkungen zum Verhältnis von Redekriterium und Lyrikbegriff in der jüngeren Lyrikologie. In: Grundfragen der Lyrikologie 1. Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? Hg. von Claudia Hillebrand, Sonja Klimek, Ralph Müller und Rüdiger Zymner. Berlin, Boston 2019, S. 87–101, hier S. 92; mit den Begriffen „Lyrisches Ich“, „Sprecher“ und „Sprechinstanz“ wird in dieser Arbeit pragmatisch umgegangen. Wo sich Überlegungen der neueren Lyrikologie als erkenntnisfördernd erweisen, wird auf die Begriffsvorschläge und Überlegungen zur „Referenzialisierbarkeit“ des Verhältnisses von Sprecher und Gesprochenem zurückgegriffen. Vgl. hierzu auch den zusammenfassenden Beitrag von Fabian Lampart: Plädoyer für die Skalierung. Vorüberlegungen und Fallbeispiele zum Problem autorfiktionaler Lyrik. In: Grundfragen der Lyrikologie 1. Lyrisches Ich, Textsubjekt, Sprecher? Hg. von Claudia Hillebrand, Sonja Klimek, Ralph Müller und Rüdiger Zymner. Berlin, Boston 2019, S. 105–123; ferner auch Jan Borkowski, Simone Winko: Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen Ersetzungsvorschlägen. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius. Berlin 2011 (Trends in medieval philology, 16), S. 43–77. 75 Neumann/Nünning: Kulturelles Wissen und Intertextualität, 2006, S. 8.

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gesamte Diskursvielfalt einer oder mehrerer Epochen anklingen zu lassen“.76 Michelangelo-, Dürer-, Raffael- oder Rembrandt-Gedichte nehmen selbst auch immer wieder Bezug auf Wissensbestände, die in früheren Rezeptionszeugnissen verarbeitet worden waren und machen damit die „soziohistorische Konstruktivität des Wissens“77 deutlich, bei der ein verengter Wahrheitsbegriff keine Relevanz besitzt. Ein weiter gefasster Wissensbegriff, wie ihn Tilmann Köppe mit kritischem Blick für seine früheren Überlegungen 2011 formuliert hat, ist für die vorliegende Untersuchung deshalb vorteilhaft, weil auch berücksichtigt werden muss, dass die Kunstwerke selbst schon als ‚Wissensvermittler‘ fungieren. Auch in der kunsthistorischen Forschung hat sich ein Schwerpunkt herausgebildet, der nach gemalten, gemeißelten oder architektonisch vermittelten Wissensdiskursen fragt, was letztlich eine Wiederbelebung von Erwin Panofskys Ikonologie darstellt.78 Kunstwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsergebnissee sollen daher für die Interpretation der Bildgedichte zusammengeführt werden. Bildgedichte werden in der vorliegenden Arbeit mit Blick auf die in ihrer jeweils vermittelnden, popularisierenden, problematisierenden, antizipierenden und partizipierenden Funktion für kunsthistorisches und ästhetisches aber auch politisches, weltanschauliches und religiöses Wissen und Wissenschaftsgeschichte untersucht.79 Daneben trifft auf Bildgedichte als Texte in Versen auch in besonderem Maße zu, was Joseph Vogl als eine der Voraussetzungen für eine ‚Poetologie des Wissens‘ festgestellt hat. Dass es nämlich neben dem Gesagten, also dem Inhaltlichen einer spezifischen Wissenskonstellation, vor allem um das „Sagen“ gehe und insofern jede „Wissensform einen eigenen performativen Charakter, eigene Formen der Darstellung und der Inszenierung“ entwickle.80 In diesem Sinne lässt

|| 76 Ebd., S. 17. 77 Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, 2003, S. 205. 78 Vgl. exemplarisch: Martin Kemp: Wissen in Bildern. Intuitionen in Kunst und Wissenschaft. In: Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. 2. Al. Köln 2004, S. 382–406; Anne-Kathrin Reulecke: Täuschend, ähnlich. Fälschungen und Plagiat als Figuren des Wissens in Künsten und Wissenschaften. Eine philologisch-kulturwissenschaftliche Studie. Paderborn 2016 (Trajekte), bes. S. 15–34. 79 Vgl. hierzu den Fragekatalog von Tilmann Köppe aus seiner vier Jahre nach dem ersten kritischen Beitrag publizierten Studie: Tilmann Köppe: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York 2011 (linguae&litterae, 4), S. 1–28, bes. S. 6–9. 80 Vogl: Für eine Poetologie des Wissens, 2012, S. 121.

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sich die im gesamten behandelten Zeitraum relativ konstante Affinität des Bildgedichts mit der Gattung des Sonetts schlüssiger als ein bewusstes Traditionsverhalten – vor allem auch in den großen Sonettzyklen nach 1945 – deuten, das dezidiert den Anschluss an eine dem Bildgedicht spätestens mit August Wilhelm Schlegels Gemäldesonetten inhärente (Aussage-)Form und Sprechhaltung der Kontemplation sucht. Eine germanistische Studie zum Bildgedicht ist notwendigerweise auch eine Arbeit über Kunstrezeption, Künstlerhagiograhpie und Mediengeschichte, für die wiederum wahrnehmungsgeschichtliche und bildtheoretische Entwicklungen eine Rolle spielen und berücksichtigt werden müssen. Gerade der ‚Bildbegriff‘ spielt sowohl in kunst- als auch literaturwissenschaftlicher Perspektive in den letzten Jahren eine zentrale Rolle. Der Begriff umfasst sowohl konkrete, materielle ‚Bilder‘ im Sinne von Gemälden und Skulpturen, wird aber auch – gerade von den Quellen her – als Bezeichnung für abstrakte, innere Vorstellungen, Vorgänge oder Bewusstseinshaltungen greifbar, die natürlich von realen bildkünstlerischen Werken ihren Ausgangspunkt nehmen können. Die schon von Sabine Schneider konstatierte Omnipräsenz des ‚Bildes‘ als „Reflexionsinstanz medialer Überlegungen“ gerade für die Zeit um 1900, macht sich auch bei zahlreichen der hier behandelten Bildgedichte bemerkbar.81 Die von Schneider angestellten Überlegungen zu intermedialen Phänomenen der Jahrhundertwende im Spannungsfeld von Bild- und Medienwissenschaft, Ästhetik und (Kunst-)Philosophie sollen auch für die Analyse und Interpretation der Bildgedichte fruchtbar gemacht werden.82 Die systematisierenden und theoretischen Ansätze zu einem weiter gefassten ‚Bildbegriff‘, mit dem vor allem das Konkurrenz-Verhältnis von Literatur- und Kunstwissenschaft zu relativieren versucht worden ist, sollen in

|| 81 Schneider: Verheißung der Bilder, 2006, S. 27. 82 Von kunsthistorischer Seite wird das Thema noch einmal mit ganz anderen Schwerpunkten diskutiert, was sicherlich auch an der für die Geschichte der bildkünstlerischen Praxis – zumindest über einige Jahrhunderte hinweg – wichtigen (theologischen) Frage nach einem Bilderverbot ergibt. Die Problematik hat gewissermaßen säkularisiert vor allem in die Kunsttheorie der Frühen Neuzeit als Frage nach Abbildlichkeit bzw. Porträtähnlichkeit – also in der Frage nach dem ‚Wesen der Kunst‘ – Eingang gefunden. Instruktiv ist der ganze Band, in dem u.a. Reinhard Brandt der ‚Bildfrage‘ nachgeht: Reinhard Brandt: Bilderfahrungen – Von der Wahrnehmung zum Bild. In: Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. 2. Al. Köln 2004, S. 44–54; eine erfrischende und polemisierende, gleichwohl gelehrte kritische Position gegenüber dem sogenannten iconic turn nimmt der Altmeister der Kunstgeschichte, Willibald Sauerländer ein: Iconic Turn? Eine Bitte um Ikonoklasmus. In: Iconic turn. Die neue Macht der Bilder. Hg. von Christa Maar und Hubert Burda. 2. Al. Köln 2004, S. 407–426.

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der vorliegenden Arbeit punktuell aufgegriffen werden, wenn im konkreten Einzelfall das Bildgedicht auch Medienreflexion betreibt.83 Wahrnehmungs- und Kunstgeschichte sind, wie Jonathan Crary anmerkte, nicht zwangsläufig dasselbe, was in den Bildgedichten auch bisweilen thematisiert wird:84 Kunstgeschichtliches oder archäologisches Wissen über neu aufgefundene Gemälde alter Maler wie Bruegel oder besuchte Ausstellungen können der Anlass zum Verfassen eines Bildgedichts sein und sind insofern auch ‚lyrische Kunstgeschichte‘. Die Wahrnehmung eines Künstlers oder Kunstwerkes ist indessen nicht unbedingt an kunstgeschichtliche Forschungsergebnisse, noch an das tatsächliche Betrachten des Dichters gebunden. Vielmehr wird im Folgenden ‚Wahrnehmung‘ nicht nur im engeren Sinne und Kontext einer Geschichte der Anschauung und Anschaulichkeit verstanden. Ein Dichter muss ein Kunstwerk nicht gesehen haben, um sich literarisch mit ihm auseinanderzusetzen.85 Die Wahrnehmung eines Künstlers oder Kunstwerkes ist eine nicht nur visuell, sondern auch literarisch, also durch Sprache vermittelte. Bildgedichte sind Texte, die vergangene (literarische) Deutungsgeschichte in ihre Kunstbetrachtung integrieren und gleichzeitig konstituieren. Sie sind aber auch, insofern der Dichter ganz konkret als sehender und „lesende[r] Betrachter“ zu fassen ist,86 an eine Wahrnehmung des Kunstwerks im Atelier, einer Ausstellung, im Museum, auf der Kunstreise oder als Fotografie, Abguss und Reproduktion im privaten

|| 83 Vgl. den instruktiven Beitrag von Monika Schmitz-Emans: Die Intertextualität der Bilder als Gegenstand der Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft: intermedial - interdisziplinär. Hg. von Herbert Foltinek und Christoph Leitgeb. Wien 2002, S. 192–230; die Studie strukturiert nicht nur vorbildlich intermediale Fragestellungen als Aufgabengebiet der Literaturwissenschaft, sondern bringt auch Ordnung in die unüberschaubare Zahl von Intermedialitäts-Studien. Schmitz-Emans bringt ihr Verständnis des Verhältnisses von Literatur und Kunst auf die einfache wie schlüssige Formel „Wer Texte liest, liest Bilder mit“ und umgekehrt“ (S. 196); ein weiteres hervorragendes Beispiel für das Verhältnis von (bild-)theoretischen Überlegungen und literaturwissenschaftlicher Praxis ist die Arbeit von Sabine Schneider: Verheißung der Bilder, 2006. 84 Vgl. hierzu Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Anne Vonderstein. Dresden 1996, S. 16; Mitchell: Was ist ein Bild, 1990, S. 54ff. 85 Natürlich werden in den Einzelanalysen heuristische Vorüberlegungen, dass Literatur anschauliche Rede sei oder historische Rückblicke auf die Bewertung von der ‚Lesbarkeit‘ der Kunst herangezogen. Dies soll aber pragmatisch geschehen und nicht eine neue Theoriebildung darstellen, vgl. Willems: Anschaulichkeit, 1989, bes. S. 13–16; Stefan Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter. München 1998, S. 20ff. 86 Penzel: Mit den Augen des Textes, 2006, S. 81.

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Bereich der Dichterstube gebunden, was im Einzelfall rekonstruiert und für die Interpretation fruchtbar gemacht wird. Das Schreiben eines Gedichts über ein berühmtes oder unbekanntes Kunstwerk, über einen verehrten, vergessenen oder unbeachteten Künstler geht nicht auf den individuellen Impuls müßiger Dichtermomente zurück und stellt auch nicht die subjektive Selbstaussprache des Autors mit seiner eigenen Kunsterfahrung dar. Bildgedichte setzen die Kenntnis eines Werkes oder Künstlers voraus und stellen sich entweder in die Tradition schon bestehender Wahrnehmungsund Deutungsmuster oder unterlaufen diese, indem sie neue oder andere Perspektiven der Kunstbetrachtung, Künstlerbewertung und Funktionalisierung der bedichteten Gegenstände insinuieren. Um visuelle Eindrücke zu beschreiben, könnte man annehmen, muss der Dichter ein Kunstwerk gesehen haben, um dann wiederzugeben, was und wie er etwas gesehen hat. Das Beispiel des wohl berühmtesten Gemäldes der Welt, die Mona Lisa, macht allerdings deutlich, dass dies nicht immer der Fall ist und Prozesse der Kunst- und Künstlerrezeption nicht in ein eindimensionales Ableitungsverhältnis von gesehenem Kunstwerk und poetischer Literarisierung zu bringen sind. Für die Mona Lisa und ihre unzähligen Literarisierungen ist gerade symptomatisch, dass man sie nicht im Original gesehen haben muss, um über sie schreiben zu können, was im Falle von Leonardos Kultbild schon auf die erste überhaupt überlieferte Beschreibung bei Giorgio Vasari im 16. Jahrhundert zutrifft, der das Porträt nur vom Hörensagen kannte und für seine Charakterisierung und Beurteilung seine Vorstellungskraft bemühte.87 Vor allem musste die Mona Lisa wie kaum ein anderes Kunstwerk als Projektionsfläche unterschiedlicher Vorstellungen herhalten. Solche Projektionsflächen für ideologische, politische, ästhetische oder gesellschaftskritische Positionen bieten nahezu alle Künstler und Kunstwerke, die in der vorliegenden Studie analysiert werden. In den Bildgedichten spiegeln sich nicht nur Rezeptions- und Wahrnehmungsprozesse von Künstlern und Kunstwerken wider. Sie werden von den Dichtern auch genutzt, um kulturelle (nationale) Selbstwahrnehmung einerseits und individuelle ästhetische Positionen andererseits in der Kunstbetrachtung zum Ausdruck zu bringen und zu reflektieren.

|| 87 Vgl. Frank Zöllner: Leonardo da Vinci Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte. Frankfurt am Main 1994 (Fischer Kunststück, 11344), S. 15; Detlef Zinke: Vom Weiterleben der Gioconda. Zur Geschichte der Bildrezeption bis 1800. In: Mona Lisa im 20. Jahrhundert. Wilhelm Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg 24.9.–3.12.1978. Hg. von Julian Heynen. Duisburg 1978, S. 23–39.

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Es scheint kein Zufall zu sein, dass ein großer Teil der behandelten Dichter entweder wie Paul Alverdes, Ernst Bertram, Eberhard König, Konrad Weiß, Rudolf Alexander Schröder oder Johannes Bobrowski Kunstgeschichte studiert haben, in regem Austausch mit Bildenden Künstlern standen wie Hermann Lingg, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Richard Dehmel und Stephan Hermlin oder aber selbst als Bildende Künstler tätig waren wie Julius Hübner, Joachim Ringelnatz und Günter Kunert. Die Dichter von Bildgedichten stehen oft genug auch schon von ihrer Biographie her zwischen den Disziplinen und Kunstformen.88 Von der Stellung des Bildgedichts im Grenzgebiet von Literatur- und Kunstgeschichte und vom künstlerischen Profil seiner Dichter her profitiert die vorliegende Arbeit von den unzähligen Ansätzen der literatur- und kunstwissenschaftlichen Intermedialitätsforschung, die maßgeblich ihre Impulse von den Kunsthistorikern Gottfried Boehm im deutschsprachigen Raum und William John Thomas Mitchell für den amerikanisch-angelsächsischen Bereich erhalten hat.89 Ganz gleichgültig unter welchen historischen, ästhetischen, biographischen und ideologischen Voraussetzung Bildgedichte entstanden sind oder welche Position sie im Kontext einer mit dem bedichteten Kunstwerk oder Künstler verbundenen Deutungstradition einnehmen, es handelt sich beim Bildgedicht immer um die Übernahme eines Kunstwerkes in ein anderes kulturelles Zeichensystem und damit um eine Form der Intermedialität, für die Kategorien wie Bilderfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung sowie die Frage nach der Funktionalisierung des Kunstwerkes und Darstellungsproblemen im neuen Zeichensystem – wenngleich epochal durch sozial- und kulturgeschichtliche Faktoren unterschiedlich geprägt – epochenübergreifend entscheidende Bedeutung besitzen.90 Für die vorliegende

|| 88 Eine Zusammenstellung über künstlerische Doppelbegabungen bieten zwei schöne, mit Abbildungen versehene Bände, in denen auch die in dieser Arbeit in Frage kommenden Autoren/Künstler aufgenommen sind: Herbert Günther: Künstlerische Doppelbegabungen. Erweiterte Neufassung mit 156 meist erstveröffentlichten Abbildungen nach Werken deutschsprachiger Künstler vom 16. bis 20. Jahrhundert. München 1960; Kurt Böttcher und Johannes Mittenzwei: Dichter als Maler. Stuttgart [u.a.] 1980. 89 Der Begriff des iconic turns (visual turn, pictoral turn) wurde in Anlehnung an den von Gustav Bergmann und Richard Rorty in den 1960er Jahren ausgerufenen linguistic turn konzipiert. Vgl. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hg. von Gottfried Boehm. München 1994, S. 11–38; W.J.T. Mitchell: Was ist ein Bild?, 1990, S. 17–68; von iconic turns wird mittlerweile auch schon gesprochen, was die Theorielast des Forschungsgebietes pointiert zusammenfasst, vgl. Jasmin Mersmann: Iconic Turns. Die Wende zum Bild in Bildern von Wenden. In: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 2 (2006), S. 19–35. 90 Angelehnt ist dieser Intermedialitätsbegriff an Werner Wolf und Jürgen Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen

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Studie sollen bestehende Konzepte der Intermedialität herangezogen und benutzt werden, gleichwohl ist eine Vertiefung dieser Theorien aber nicht das Ziel. Die Texte und ihre Kontexte stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen und nicht Analyse- und Interpretationsergebnisse, die von intermedialen Theorieansätzen beglaubigt werden sollen. Dafür ist das Forschungsfeld auch – abgesehen von Einzelstudien zu konkreten Texten oder Kunstwerken – zu heterogen. Zusammenfassende Lehrbücher,91 (wieder-)entdeckte literarhistorische oder für unterschiedliche literarische Strömungen relevante kunsthistorische Epochen fruchtbarer Text-Bild-Beziehungen,92 allgemeine, epochenübergreifend meist von der Epochenschwelle um 1800 bis zur Gegenwart reichende, bisweilen etwas mutwillig zusammengestellte Fallbeispiele ganz verschiedener Rezeptionsprozesse93 bis hin zu programmatischen Neuorientierungen, die die Perspektive

|| Geschichte. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Hg. von Jörg Helbig. Berlin 1998, S. 31–40, hier S. 31: „Ein mediales Produkt wird dann intermedial, wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.“; Werner Wolf: Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär. Hg. von Herbert Foltinek und Christoph Leitgeb. Wien 2002, S. 163–192; einen ersten Überblick zu der an Überblicksversuchen reichen Intermedialitätsforschung bietet Wolfgang Bock: Intermedialitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hg. von Jost Schneider. Berlin, New York 2009 (De Gruyter Lexikon), S. 255–268. 91 Jörg Robert: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014 (Einführungen Germanistik). 92 Jörg Robert (Hg.): Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Formen, Funktionen, Konzepte. Berlin 2017 (Frühe Neuzeit, Bd. 209); Axel Fliethmann: Texte über Bilder. Zur Gegenwart der Renaissance. Freiburg i.Br., Berlin, Wien 2014 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 201). 93 Verwiesen sei hier nur auf die einschlägigen Publikationen der letzten 30 Jahre, von denen auch Beiträge oder Überlegungen für die einzelnen Kapitel der vorliegenden Arbeit herangezogen werden konnten: Stefan Kepler-Tasaki und Wolf Gerhard Schmidt (Hg.): Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848. Berlin, München, Boston 2015 (Spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 48); Konstanze Fliedl, Bernhard Oberreither und Katharina Serles (Hg.): Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern. Berlin 2013 (Philologische Studien und Quellen, Heft 242); Uta Degner, Norbert Christian Wolf (Hg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld 2010; Wolf Gerhard Schmidt: In „allen Künsten“ wird „das Bestreben sichtbar“, „die Grenzen zu überschreiten“. Intermedialität als Basisphänomen der deutschsprachigen Literatur zwischen 1815 und 1848. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35,2 (2010), S. 195–243; Wolf Gerhard Schmidt und Thorsten Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin, New York 2009 (spectrum Literaturwissenschaft / Komparatistische Studien, Bd. 19); Monika Schmitz-Emans: Literaturwissenschaft und Intermedialität. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2004/2005, S. 103–115; Konstanze Fliedl, unter der Mitarbeit

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einer ‚ikonischen Wende‘ von der Forschung seit den 1990er Jahren lieber von den Quellen und kulturgeschichtlichen Entwicklungen der ersten 30 Jahre des 20. Jahrhunderts als ‚wahren‘ iconic turn verstanden wissen wollen,94 füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. In den letzten Jahren lässt sich immerhin eine kritische Selbstreflexion zum sogenannten iconic turn in den Studien zur Intermedialität beobachten, in denen zunehmend auch von einer „Unschärfe“95 und „Inflation“96 des Begriffs und Phänomens, von einem „Modewort“97 der Forschung und natürlich davon gesprochen wird, dass wir es längst nicht mehr mit einem ‚Grenzgebiet‘, sondern mit einem „Zentrum“98 kulturwissenschaftlicher Forschung zu tun haben, die sich gerade aufgrund der auch in der Gegenwartsliteratur aufgegriffenen ‚digitalen Revolution‘ freilich auch (immer) neue Forschungsgegenstände erschließt.99 Für die vorliegende Untersuchung sind jene Konzeptionalisierungen von Intermedialität hilfreich, die Abstand nehmen von einer reinen „Phänomenbeschreibung und -klassifikation“100 und stattdessen nach funktionsgeschichtlichen und funktionstheoretischen Aspekten gegenseitiger Bezugnahme von unterschiedlichen künstlerischen Medien fragen. Der von den Texten angestrebte Dialog mit Kunstwerken oder Künstlern ist nicht etwa nur künstlerisches Spiel. Bei nahezu allen hier behandelten Bildgedichten lasen sich ästhetische, politisch-ideologische und gesellschaftskritische Funktionalisierungen beobachten und rekonstruieren. Für die Systematisierung der einzelnen kunst- und literaturgeschichtlichen Diskursfelder und Rezeptionsphänomene || von Irene Fußl (Hg.): Kunst im Text. Frankfurt am Main, Basel 2005; Christoph Eykman: Über Bilder schreiben. Zum Umgang der Schriftsteller mit Werken der bildenden Kunst. Heidelberg 2003; Anne-Kathrin Reulecke: Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München 2000; Volker Mergenthaler: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002; Ulla Fix und Hans Wellmann (Hg.): Bild im Text – Text im Bild. Heidelberg 2000 (Sprache – Literatur und Geschichte. Studien zur Linguistik/Germanistik, Bd. 20); Klaus Dirscherl (Hg.): Bild und Text im Dialog. Passau 1993; Lea Ritter-Santini (Hg.): Mit den Augen geschrieben. Von gedichteten und erzählten Bildern. München, Wien 1991 (Dichtung und Sprache, Bd. 10); Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin 1998. 94 Dominik Schnezer: Der Iconic Turn im massenmedialen Ensemble nach 1900. In: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 2 (2006), S. 50–63. 95 Schmitz-Emans: Die Intertextualität der Bilder, 2002, S. 195. 96 Schmidt: Intermedialität als Basisphänomen, 2010, S. 201. 97 Caduff u.a.: Intermedialität, 2006, S. 211. 98 Schmitz-Emans: Literaturwissenschaft und Intermedialität, 2004/2005, S. 109. 99 Vgl. Caduff u.a.: Intermedialität, 2006, S. 223–228. 100 Uta Degner, Norbert Christian Wolf: Intermedialität und mediale Differenz. Einleitung. In: Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Hg. von Uta Degner und Norbert Christian Wolf. Bielefeld 2010, S. 7–18, hier S. 7f.

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wurde auch auf das von Wolf Gerhard Schmidt vorgeschlagene Konzept einer „Epochenintermedialität“ zurückgegriffen.101 Zwar bezieht Schmidt seine Überlegungen zur Intermedialität als „kulturpoetischem Basisphänomen“ auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch scheinen mir seine Vorschläge, intermediale Konstellationen zu bestimmten (Krisen-)Zeiten in ihrer „Bedeutungsvielfalt, Wirkungsweise und sozialen Relevanz“ zu erfassen, auch erkenntnisfördernd für die Zeit nach 1870 und besonders für die Jahrhundertwende zu sein.102

|| 101 Schmidt: In „allen Künsten“ wird „das Bestreben sichtbar“, „die Grenzen zu überschreiten“, 2010, S. 4 102 Ebd.; da es Schmidt nicht nur um die Wechselwirkungen von Literatur und Bildender Kunst geht, sondern insgesamt um das Zusammenspiel und die gegenseitige Bezugnahme ganz unterschiedlicher Medien, schlägt er vor, auch nach Formen der „Medienintegration“, „Medienkombination“, „Medienadaption“ und „Medienperformanz“ zu fragen (S. 4f.); erweitert hat Schmidt seine theoretischen Überlegungen zur Intermedialität noch einmal in einem späteren Aufsatz, Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk – Literarische Intermedialität 1815–1848: Eine methodisch-historische Einführung. In: Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848. Hg. von Stefan Kepler-Tasaki und Wolf Gerhard Schmidt. Berlin, München, Boston 2015 (spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 48), S. 1–51.

4 Vorgehensweise und Quellenauswahl Die vorliegende Studie zeichnet Ausformungen, Wandlungen und Funktionszusammenhänge von deutschsprachigen Gedichten auf Kunstwerke und Künstler im wissensgeschichtlichen Spannungsfeld von Kunsttheorie, Kunstliteratur und Kunstgeschichte von 1870 bis 1968 mit Ausblicken bis in die 1970er Jahre nach. Als literarische Zeugnisse von Kunst- und Künstlerbetrachtung sind sie einerseits von ihrer Stellung im literarhistorischen Kontext und synchron von ihrer Position im literarischen Feld her zu interpretieren, andererseits müssen sie auch als Teil eines weiter zu fassenden und im Einzelfall zu rekonstruierenden Kanonisierungs- bzw. Abgrenzungsprozesses von Künstlern und Kunstwerken gesehen werden, den sie gleichermaßen aufgreifen und konfigurieren. Die Gattung des Bildgedichts ist freilich nur ein Teilbereich eines vielgestaltigen und umfangreichen Bestandes von Texten, in deren Mittelpunkt – oft genug auch nur beiläufig am Rande – die Auseinandersetzung mit und Literarisierung von Erzeugnissen der Bildenden Kunst steht. Andere Textsorten wie Künstlererzählungen und -dramen, kunstwissenschaftliche Epochen- und Überblicksdarstellungen, (biographische) Einzeldarstellungen zu Künstlern und Kunstwerken sowie Kunstkritiken von Fachwissenschaftlern und Laien – zu denen auch die Autoren von Bildgedichten zu zählen sind, die ja oft genug neben ihren Gedichten noch mit anderen Publikationen zu ähnlichen Themen in Erscheinung getreten sind –, wurden für Analyse und Interpretation der Bildgedichte berücksichtigt. Grundlage für das Textcorpus ist die immer noch maßgebliche Bibliographie von Gisbert Kranz, die sowohl Gedichte zu bestimmten Kunstwerken und Künstlern als auch die einzelnen Gedichte der insgesamt mehr als 1000 deutschsprachigen Autoren (aus sechs Jahrhunderten) verzeichnet. Zwei wichtige Befunde bei der Durchsicht der Gedichte haben maßgeblich zur Konzeption der Arbeit und auch der einzelnen Kapitel beigetragen. Erstens: Für den hier behandelten Zeitraum von 1870 bis 1968 weisen die Quellen einen relativ stabilen Kanon bedichteter Kunstwerke und Künstler auf, an dessen Spitze Dürer, Michelangelo, Raffael und Rembrandt – und nach 1900 vor allem auch van Gogh – stehen. Diese sich bei Sichtung des Materials abzeichnenden Schwerpunkte in der Künstler-Rezeption verweisen auf ein gesteigertes Interesse an den genannten Künstlern zu unterschiedlichen Zeiten. Maßgeblich für die Entscheidung, solche Gedichte nicht in einem Kapitel etwa zu „Michelangelo“ zusammenzufassen, sondern grundsätzlich chronologisch vorzugehen, ist der Befund, dass jeweils epochenspezifische Geschmacksurteile, ideologischweltanschauliche und kunstgeschichtliche Rahmenbedingungen geltend gemacht werden konnten, die zur Popularität bestimmter Künstler und Kunstwerke https://doi.org/10.1515/9783110700732-004

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zu unterschiedlichen Zeiten geführt haben. Gleichwohl geht es auch darum, diskursive Affinitäten innerhalb der Rezeptionsprozesse von einzelnen Künstlern und Kunstwerken, die zu einer bestimmten Zeit oder innerhalb einer bestimmten Dichtergruppierung Beachtung fanden, über die Epochengrenzen hinweg herauszustellen. Die so gewählte Anordnung der Gedichte trägt auch der grundsätzlich wissensgeschichtlich ausgerichteten Anlage der Arbeit Rechnung, insofern die Gedichte von ihrer inhaltlichen oder formalen Ausrichtung einen kunst- und literarhistorisch, sozial- und wahrnehmungsgeschichtlich oder kunsthistorisch bestimmbaren und problematisierbaren Ort im Spannungsfeld von Kunsttheorie, Kunstliteratur und Kunstgeschichte haben müssen. Zweitens: Bildgedichte reagieren zwar auf kunsthistorische und kunstkritische Diskurse und Diskussionen der eigenen Gegenwart. Gerade im Falle der literarischen Strömungen um 1900, die sich als ästhetische Avantgarde verstehen, ist aber vom Quellenbefund her charakteristisch, dass die Bildgedichte aus diesen Jahren größtenteils gerade nicht – oder nicht in überwiegender Zahl – die zeitgenössische bildkünstlerische Avantgarde begleiten. Anders gesagt: Literarhistorisch zur Avantgarde zählende Bildgedichte wählen nur in Ausnahmefällen – zu denen teilweise Böcklin oder expressionistische Gedichte zu van Gogh zu rechnen sind – Künstler oder Kunstwerke der eigenen Gegenwart als Dichtungsgegenstände, sondern suchen viel öfter den Anschluss an Traditionen, die nicht zuletzt auch ein breites Spektrum intertextueller und intermedialer Bezugsmöglichkeiten bieten. Trotz der Wahl eines traditionsreichen Kunstwerkes, das bedichtet wird, kann die vom Dichter gewählte formalästhetische Umsetzung dennoch auch dem eigenen avantgardistischen Selbstverständnis verpflichtet sein. Die Dominanz einer künstlerischen Richtung – wie beispielsweise jene des Impressionismus am Ende des 19. Jahrhunderts – bedeutet nicht zwangsläufig eine Flut von Bildgedichten auf Kunstwerke dieser Richtung. Das ist gerade – zumindest für den deutschsprachigen Bereich – nicht der Fall, obwohl sich gleichzeitig die Kunstkritik und Kunstliteratur, wie das berühmte Beispiel von Julius MeierGraefe zeigt, impressionistischen Künstlern und Kunstwerken um 1900 in verstärktem Maße widmet. Bei der Zusammenstellung der Gedichte zu einzelnen Gruppen, die literarhistorische oder kunsthistorische Konstellationen berücksichtigen, bot sich für die einzelnen Unterkapitel der Hauptabschnitte aufgrund der Quellenlage im einen Fall die Organisation des Materials nach Querschnitten, im anderen Fall nach epochenübergreifenden Längsschnitten an. Oftmals wurden für diese Quer- und Längsschnitte, die die jeweils epochenspezifischen Rezeptionskontexte berücksichtigen und widerspiegeln, Dichtungen von Autoren aus der (heute) ‚zweiten‘ und ‚dritten‘ Reihe herangezogen, da

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diese Dichter seismographisch die Tendenzen der eigenen Gegenwart erfasst haben und sich daher als besonders repräsentativ für ein bestimmtes lyrisches Rezeptionsverhalten von Kunst und Künstlern erweisen. Mithin sind die Gedichte etwa von Heinrich Vierordt oder Otto Julius Bierbaum in auflagenstarken Publikationsorganen oder in breit rezipierten Gedicht- und Werkausgaben erschienen, so dass unter rezeptionstheoretischen Gesichtspunkten angenommen werden kann, dass diese Texte einerseits einen weiten Rezipientenkreis fanden, andererseits auch breit rezipiertes (Kunst-)Wissen oder Geschmacksvorstellungen literarisierten. In den chronologisch aufgebauten Kapiteln II bis VI dieser Arbeit lassen sich Schwerpunkte im Umgang der Dichter mit den bedichteten Künstlern und Kunstwerken benennen, die gleichwohl nur Haupttendenzen markieren und im Folgenden knapp konturiert werden: Im späten 19. Jahrhunderts dominiert die Künstler- und Kunstwerkverehrung das Bildgedicht. Autoren wie Martin Greif, Hermann Lingg, Adolf Pichler, Henrich Vierordt oder auch Conrad Ferdinand Meyer schreiben tradierte Epitheta eines Künstlers und seiner Werke in ihren Bildgedichten fort. Nur in Ausnahmefällen wie bei Theodor Fontane und seiner lyrischen Rezeption Adolph von Menzels oder Gottfried Kellers Antiken-Schelte mischen sich dazu auch kritisch-satirische Töne, die jenen Künstlerkult des späten 19. Jahrhunderts hinterfragen. Die meisten Autoren jedoch funktionalisieren und instrumentalisieren ihre literarische Kunstrezeption zur (nationalen) Beförderung einer auch politisch und staatlich befürworteten kulturellen Profilierung der eigenen Gegenwart. Entweder wird das Kunstwerk oder der Künstler national, staats- und gesellschaftsfördernd interpretiert – wie etwa bei Dürer, Michelangelo und den Kunstwerken aus der griechischen Antike – oder dieser Befund ist schon von vornherein im literarisierten Kunstwerk bzw. Künstler so angelegt wie etwa bei Adolph von Menzel (Kapitel II). Wenngleich Tendenzen zur Apotheose des Künstlers zum Genie und Heroen bei den Dichtern der Avantgarde-Strömungen um 1900 vor allem in den Dichtungen über und zu dem Schweizer Maler Arnold Böcklin noch virulent bleiben, so verschiebt sich der bis dahin dominierende kumulative lyrische Blick auf den Künstler und sein Werk deutlich in Richtung einer Auseinandersetzung mit einzelnen Kunstwerken, hinter denen nur noch bruchstückhaft der Maler oder Bildhauer erkennbar gemacht und thematisiert wird. Autoren wie Karl Henckell, Otto Julius Bierbaum, Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Richard Dehmel nutzen die lyrische Kunstbetrachtung auch zur Reflexion der eigenen ästhetischen Positionen (Kapitel III).

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Eine Renaissance der nationalistischen Indienstnahme von Kunstwerken, die über Bildgedichte befördert wird, lässt sich im 20. Jahrhundert einmal vor und während des Ersten Weltkriegs und dann wieder in der Zeit der Nazi-Diktatur beobachten. Nationalistisch und völkisch eingestellte Autoren wie Rudolf Herzog, Walter Flex, Ernst Bertram und Heinrich Vierordt bedichten (deutsche) Denkmäler und antike Kunstwerke als Höhepunkte künstlerischen Schaffens. Sie konstruieren Zusammenhänge mit ganz verschiedenen geschichtlichen Epochen der deutschen Geschichte, aus denen sich nach ihrem Dafürhalten die eigene nationale Geschichte auch als Geschichte kultureller Überlegenheit manifestiert und anschaulich wird. Die genannten Dichter literarisieren auch Künstler der Frühen Neuzeit, die entweder wie Dürer ohnehin schon im 19. Jahrhundert zum Inbegriff des deutschen Künstlers stilisiert oder wie Michelangelo und Rembrandt kurzerhand eingedeutscht wurden.103 Die Besinnung von Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß nach dem Ersten Weltkrieg auf den religiösen und heilsgeschichtlichen Wert von christlicher Malerei eines Raffael und Matthias Grünewald ist nicht nur als Kompensation eines als Zivilisationsbruch gewerteten Krieges, sondern auch als Möglichkeit der geistigen Neuorientierung in den 1920er Jahren zu werten. Weder in die Kontinuität nationalistischer noch in die Tradition des Bildgedichts als Erneuerungsmöglichkeit von christlicher Dichtung lassen sich Autoren wie Robert Walser, Bertolt Brecht, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky einordnen. Ihre parodistischen Bildgedichte markieren vielmehr einen Bruch mit überkommenen Künstlerbildern und Deutungsmustern, wie sie seit 1870 zu beobachten sind (Kapitel IV). Die in Kapitel V behandelten Autoren, Bildgedichte, Künstler und Kunstwerke stehen nicht unter dem Zeichen einer ‚Stunde Null‘, die es in der Literatur und im Besonderen auch im Bildgedicht ebenso wenig gegeben hat wie in den gesellschaftlichen Verhältnissen und Strukturen der späteren Bundesrepublik und auch Österreichs. Die Bildgedichte in der Bundesrepublik und in Österreich zeichnet nach 1945 ein Anspruch der moralisch-geistigen Erziehung durch Kunst aus, was teilweise an denselben Künstlern und Kunstwerken wie Rembrandt oder Bruegel exerziert wird wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nur eben unter anderen (ideologischen) Vorzeichen. Anders vielleicht als zu erwarten wäre, bleibt in den ersten Nachkriegs- und in den Fünfzigerjahren die Beschäftigung mit der unter den Nazis verfemten bildkünstlerischen Avantgarde oder gar mit der zeitgenössischen Malerei im Bildgedicht eine Randerscheinung und gewinnt vermehrt erst mit den 1960er Jahren an Profil. Was schon für die in den

|| 103 Vgl. zur ‚Eindeutschung‘ Michelangelos von kunsthistorischer aber auch von publizistischer Seite Joseph Imorde: Michelangelo Deutsch! Berlin 2009.

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ersten drei Kapiteln behandelten Texte festgestellt wurde, gilt in gleicher Weise für das als Ausblick konzipierte VI. Kapitel: Autoren schreiben ihre Bildgedichte nur ausgesprochen selten auf Werke von Künstlern, die ihre Zeitgenossen waren, sondern bedienen sich vielmehr und viel häufiger kanonisierter Werke und Künstler der Vergangenheit. Der Museumsbesuch, der Gang ins Atelier oder die künstlerische Wallfahrt an einen mit dem Künstler im Zusammenhang stehenden Ort, der noch für die in Kapitel II behandelten Werke und Autoren zumindest in Einzelfällen relevant gewesen ist, verliert an Bedeutung. Das VI. Kapitel ist aus zwei Gründen als Ausblick angelegt: Einerseits lassen sich in der Fortführung oder dem Bruch mit literarischen Traditionslinien und künstlerischen Deutungsmustern nach 1945 noch einmal zusammenfassend die bis dahin erörterten Wechselwirkungen von Literatur und Bildender Kunst am Beispiel des Bildgedichts beschreiben und zusammenfassen. Andererseits besitzt die in den ersten drei Kapiteln an exemplarischen Gedichten und Rezeptionsphänomenen demonstrierte Wechselwirkung von akademischer Kunstwissenschaft und Kunstliteratur auf der einen und der Bildgedichtproduktion auf der anderen Seite nach 1945 nicht mehr den Stellenwert, wie das noch vor dem Zweiten Weltkrieg der Fall gewesen ist. Das trifft sowohl auf Österreich und die Bundesrepublik als auch auf die DDR zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg (Hans Joachim Haecker, Hans Riehl, Rudolf Gahlbeck, Rudolf Otto Wiemer, Rudolf Felmayer), vermehrt dann noch in den 1960er und 1970er Jahren erscheinen zahlreiche BildgedichtGedichtzyklen (Beat Brechbühl, Monika Meyer-Holzapfel), die ihre Texte in Sammlungen als ‚Bildgedichte‘ publizieren. Die Gattung Bildgedicht ist sich gewissermaßen ‚selbst bewusst‘ geworden, was auch mit der ersten einschlägigen Studie zu diesem Thema von Hellmut Rosenfeld aus dem Jahre 1935 zusammenhängen dürfte.104 Daher scheint es sinnvoll diese Untersuchung mit dem Jahr 1968 – wenngleich das letzte in Kapitel V behandelte Gedicht von Wolf Biermann aus dem Jahr 1976 stammt – enden zu lassen. Seit den 1970er Jahren erscheinen noch in größerer Anzahl als (schon) nach dem Zweiten Weltkrieg Sammlungen von Gedichten, die sich dezidiert als Bildgedichte verstanden wissen wollen. Sie propagieren mitunter ganz eigenwillige programmatische Verhältnisse zur Bildenden Kunst (Beat Brechbühl, Bruno Stephan Scherer, Margot Scharpenberg) oder wenden sich als Zusammenstellungen von – teilweise aus Wettbewerben hervorgegangenen – Bildgedichten verschiedener Autoren Gegenwartskünstlern und deren Werken zu. Bezeichnenderweise geht eine der maßgeblichen Publikationen, der 100. Jahrgang der Horen auf eine Idee von Gisbert Kranz zurück, der zu dem Band auch programmatische Vorüberlegungen formuliert und eine || 104 Vgl. Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht, 1935.

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Einordnung dieser Bildgedichte vorgenommen hat.105 Eine ausgeprägte implizite und explizite Medienreflexion gerade durch die Verbindung von Text und Abbildung bzw. Fotografie stellt eine weitere Tendenz in den Text-Bild-Beziehungen seit den 1970er Jahren dar (Jürgen Becker, Rolf Dieter Brinkmann), die für die in dieser Arbeit behandelten Texte und künstlerischen Diskurse nur eine untergeordnete Rolle spielten. Mit den Texten von W.G. Sebald (Nach der Natur. Ein Elementargedicht, 1988; Austerlitz, 2001) und seinen Medienreflexionen sind dann seit den 1980er Jahren Schwerpunkte in der Text-Bild-Beziehung benannt, die unter gänzlich anderen Vorzeichen Text-Bildbeziehungen konzipieren.106

Wichtiger als die Frage, in welcher Weise der Dichter das bedichtete Kunstwerk – durch Literatur, Reproduktionen, eigene Anschauung vermittelt – zur Kenntnis genommen hat, ist für die vorliegende Studie die grundsätzliche Überlegung, dass mit Ausnahme der über alle Epochen hinweg kontinuierlich beachteten großen Künstler der Vergangenheit wie Michelangelo, Raffael, und Dürer andere Künstler, deren Leben und Wirken in den Untersuchungszeitraum fallen, wie Vincent van Gogh, Arnold Böcklin, Max Klinger, Ferdinand Hodler, Edvard Munch oder Emil Jakob Schindler erstmalig mit ihren Werken wahrgenommen werden müssen. Eine Geschichte des Bildgedichts von 1870 bis 1968 muss daher auch den Blick auf die technischen und institutionellen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Kunstrezeption insgesamt richten. Ohne Museen, Kunsthändler und Mäzene, aber noch weniger ohne die schon genannte Kunstliteratur und die Vermittlungspublizistik lassen sich viele Text-Bild-Allianzen nicht hinreichend interpretieren, da wir es zumeist bei den Bildgedicht-Autoren auch mit „lesende[n] Bildbetrachter[n]“ zu tun haben.107

|| 105 Vgl. Gisbert Kranz: Zeitgenössische Autoren zu Kunstwerken der Gegenwart. In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Grafik und Kritik 100, 4 (1975), S. 5–11; die Gedichte (jeweils mit Abbildungen) sind abgedruckt S. 12–65 unter anderem von Sigfrid Gauch (zu Clas D.S. Steinmann), Reinhard Henning (zu RO Willaschek), Margot Scharpenberg (zu HAP Grieshaber), Wolfgang Rischer (zu Christoph Meckel), August Kirchfeld (zu Christian Rohlfs); der bekannteste Wettbewerb für Bildgedichte ist ebenfalls dokumentiert in: Hugo Ernst Käufer (Hg.): Das betroffene Metall. Plastiken von Karlheinz Urban. Krefeld 1975. 106 Vgl. Anne Fuchs: W.G. Sebald’s painters. The function of fine art in his prose works. In: The modern language review 101 (2006), S. 167–183; Natalie Binczek: Ein Wurzelwerk der Zeit. Photographische Medienreflexion der Literatur in W.G. Sebalds „Austerlitz“. In: Durchquerungen. Für Ralf Schnell zum 65. Geburtstag. Hg. von Iris Hermann. Heidelberg 2008, S. 13–30. 107 Joachim Penzel: Mit den Augen des Textes. Zur Entstehung der Vermittlungspublizistik in Gemäldegalerien und Kunstmuseen des 19. Jahrhunderts. In: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 2 (2006), S. 80–93, hier S. 81; ferner auch Thomas W. Gaethgens: Die großen

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Die Dichter der Bildgedichte sind natürlich auch Betrachter der Kunstwerke oder (historischer) Künstlerbilder. Im lyrischen Umgang mit den bildkünstlerischen Vorlagen für ihre Gedichte sind sie unterschiedlich genau, oft genug aber auch gar nicht daran interessiert, sich als ausgewiesene Kenner oder genaue Beschreibungskünstler zu präsentieren. Über die Epochengrenzen hinweg haben die hier behandelten Gedichte daher nur in seltenen Fällen Berührungspunkte mit der antiken Ekphrasis.108 Das Bildgedicht leistet in seinem deutenden, kritisierenden, funktionalisierenden und kontextualisierenden Verhältnis zu seiner bildkünstlerischen Vorlage etwas anderes als reine Beschreibung, nämlich politisch-ideologische Kunst- und Kulturkritik, ästhetische Standortbestimmung, kunstphilosophische Reflexion oder religiöse Erbauung und sozialkritische Gesellschaftsanalyse. Gleichwohl scheint der Anstieg der Bildgedichtproduktion seit dem 19. Jahrhundert etwas mit geänderten Sehweisen bzw. einem dort anzusetzenden ‚subjektiven Sehen‘ auch von Kunstwerken zu tun zu haben, was in den nationalistischen oder völkischen Instrumentalisierungen und Funktionalisierungen etwa von Dürer und seinen Werken auch wieder insofern unterlaufen wird, als ja gerade der subjektive Blick des einzelnen zugunsten einer gemeinschaftsstiftenden Deutung des Malers zurückgenommen wird.109 Das Verhältnis von Bildgedicht, bedichtetem Künstler oder bildkünstlerische Vorlage bleibt ein ambivalentes zwischen Affirmation und (autopoetischer) produktiver Kritik. Im Prozess von Rezeptions- und Popularisierungsprozessen von Künstlern und

|| Anreger und Vermittler. Ihr prägender Einfluß auf Kunstsinn, Kunstkritik und Kunstförderung. In: Mäzenatentum in Berlin. Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen. Hg. von Günter und Waldtraut Braun. Berlin, New York 1993, S. 99–126. 108 Wichtige Studien zum Thema bietet der immer noch maßgebliche Band von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995 (Bild und Text); repräsentativ für die Behandlung der Ekphrasis aus kunsthistorischer Sicht mit einer zeitlich breit angelegten kategorialen Unterscheidung verschiedener Bildbeschreibungsmodi: Raphael Rosenberg: Von der Ekphrasis zur wissenschaftlichen Bildbeschreibung. Vasari, Agucchi, Félibien, Burckhardt. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 58 (1995), S. 297–318; Renate Brosch: Die ‚gute‘ Ekphrasis: Grenzgänge der Repräsentation. In: Ikono/Philo/Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Hg. von Renate Brosch. Berlin 2004 (Potsdamer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Bd. 2), S. 61–78; vgl. auch Raphael Rosenberg: Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist. Zur Geschichte eines mißbrauchten Begriffs. In: Bildrhetorik. Hg. von Joachim Knape. Baden-Baden 2007 (Saecvla spiritalia, 46), S. 271–282. 109 Vgl. grundlegend Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, 1996, S. 18–22; Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho. Frankfurt am Main 2002; auf die Frage geänderter Sehgewohnheiten um 1900 geht auch Schneider: Verheißung der Bilder, 2006, S. 39f. ein.

44 | I Einleitung

Kunstwerken sind Bildgedichte sowohl Indikatoren als auch Faktoren der Phänomene von literarischer Kunst- und Wissenschaftsrezeption, Kanonisierungsprozessen, Betrachter- und Betrachtungsperspektiven, an denen sie Anteil haben.

| Teil II:

Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung im späten 19. Jahrhundert

1 Geschmacksideale und imaginäre Museen. Ein Querschnitt Gedichte auf Werke der Bildenden Kunst oder auf Künstler gehören zu einer häufig genutzten poetischen Subgattung innerhalb der literarisch-sozialen Kommunikation im 19. Jahrhundert. Besonders seit der Reichsgründung stehen solche Texte meist unter nationalen Vorzeichen, verweisen als Zusammenstellung mehrerer Gedichte auf Kunsterfahrungen im Rahmen etwa einer Italienreise und greifen aktuelle kunsttheoretische, kunstpolitische oder auch archäologische Befunde und Diskussionen auf. Solche Gedichte sind in einem größeren kunsthistorischen Zusammenhang und kunsthistorischer Rezeptionsprozesse zu situieren und funktionalisieren und instrumentalisieren als literarische Kunstrezeption einen bereits verstorbenen, seltener einen zeitgenössischen Künstler und seine Werke zur Beförderung einer auch politisch und staatlich befürworteten kulturellen Profilierung der eigenen Gegenwart. Die wichtigsten Autoren solcher Gedichte, mit deren Texten gleichsam repräsentative und symptomatische Dichtungen zu Künstlern und deren Werken im späten 19. Jahrhundert vorliegen, sind folgende: Oscar Blumenthal, Gustav Eberlein, Louis Engelbrecht, Theodor Fontane, Emanuel Geibel, Martin Greif, Julius Grosse, Paul Heyse, Julius Hübner, Gottfried Keller, Hermann Lingg, Conrad Ferdinand Meyer, Adolf Pichler, Karl Stauffer-Bern, Friedrich Graf von Schack, Emil von Schönaich-Carolath, Heinrich Seidel, Heinrich Vierordt und Ernst von Wildenbruch. Distribution und Rezeption der Werke jener Autoren sowie ihre Position auf dem literarischen Markt lassen auch für jene staatstragenden literarischen Textzeugnisse von Kunstbetrachtung und -interpretation historisch betrachtet den Schluss zu, dass die Poesie „die eigentlich idealbildende Kulturmacht überhaupt sei“,1 was Heinrich Hart in seinen berühmten Kritischen Waffengängen in kritischer Abrechnung mit eben jenen Repräsentanten des wilhelminischen Literaturbetriebs – die Schweizer Autoren hier nicht ausgenommen – feststellte und damit gleichsam die Forderung nach Veränderungen und Verbesserungen für eine neu aufstrebende Generation von Literaten verband. Der Rezeptionsseite jener unter solchen Voraussetzungen produzierten staatsfördernden Gedichte etwa von Martin Greif, Julius Hübner, Hermann Lingg oder Heinrich Vierordt kommt dabei besondere Bedeutung zu. Um die intendierte

|| 1 Hier zit. nach Udo Köster: Ideale Geschichtsdeutung und literarische Opposition um 1890. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17, 1 (1992), S. 43–65, hier S. 46. https://doi.org/10.1515/9783110700732-005

48 | II Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung

(kultur-)patriotische Wirkung erzielen zu können, müssen die bedichteten Werke und Künstler zumindest zeitweise zum Allgemeingut wilhelminisch-bürgerlicher Geschmackskultur gehört haben. Mehr noch: Solche Gedichte verweisen als kulturgeschichtliche Rezeptionszeugnisse auf eine intersubjektive ‚Übereinkunft‘, dass am Beispiel dieses Kunstwerks oder jenes Künstlers offenbar ein ideal- oder auch geschmacksbildender Normativitätsanspruch formuliert werden kann.2 Die in der populären Kunstpublizistik eines Carl Neumann, Karl Woermann, Konrad Wilhelm von Lange oder Max Osborn bis hin zu Henry Thode noch nach der Jahrhundertwende geforderte deutsche Kunst wird begleitet von einer nationalen Funktionalisierung auch der Literatur.3 In Gedichten auf Künstler und Werke der Bildenden Kunst finden sich beide Forderungen zu einer Synthese vereinigt: Entweder wird das Kunstwerk oder der Künstler national, staats- und gesellschaftsfördernd interpretiert – wie etwa bei Dürer, Michelangelo und den Kunstwerken aus der griechischen Antike – oder dieser Befund ist schon von vornherein im literarisierten Kunstwerk bzw. Künstler so angelegt wie etwa bei Adolph von Menzel. Wenngleich fast alle in diesem II. Kapitel behandelten Gedichte von ihren Gegenständen und Themen her im Rahmen der gründerzeitlichen und wilhelminischen Geschmackskultur zu situieren und daher als Texte zur Beförderung des wilhelminischen Staatskultes – wenn auch bisweilen nur mittelbar – anzusprechen sind, so formulieren nicht wenige dieser Gedichte gleichzeitig auch eine dezidierte Kritik an eben jener bürgerlichen Geschmackskultur.

|| 2 Vgl. hierzu Rüdiger vom Bruch: Gesellschaftliche Funktionen und politische Rollen des Bildungsbürgertums im Wilhelminischen Reich. Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formationen. Hg. von Jürgen Kocka. Stuttgart 1989 (Industrielle Welt, Bd. 48), S. 146–179; ferner: Michael Naumann: Bildung und Gehorsam. Zur ästhetischen Ideologie des Bildungsbürgertums. In: Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Hg. von Klaus Vondung. Göttingen 1976 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1420), S. 34–52; für einen breiten Überblick auch der Band von Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 75), bes. S. 19–24; ebenfalls in weiterer zeitlicher Perspektive Dieter Hein: Kunst, Museen und Bürgertum. Ein Beziehungsgeflecht im Umbruch 1870–1930. In: Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hg. von Werner Plumpe. Mainz 2009, S. 153–164. 3 Vgl. Robert W. Rogers: Nationalismus in der deutschen Kunst. Die Forderung nach einer deutsch-nationalen Kunst im Wilhelminischen Deutschland – Eine Analyse anhand der Kunstzeitschrift „Die Kunst für Alle“ unter der Herausgabe Friedrich Prechts 1885–1903. Freiburg im Breisgau 1998.

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In den großen kunsthistorischen Überblicks- und Einzeldarstellungen des späten 19. Jahrhunderts von Adolf Rosenberg oder Richard Muther finden in dieser Hinsicht Künstler der Vergangenheit wie Albrecht Dürer, die Frühen Niederländer oder aber auch die großen italienischen Heroen wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci stärkere Beachtung als die zeitgenössischen Maler des 19. Jahrhunderts, wenngleich deren Bedeutung und Stellung ebenso gewürdigt wird. Überblickt man die prägenden Kunst- und Kulturzeitschriften, wird deutlich, dass spätestens mit den 1890er Jahren eine erhebliche Aufwertung zeitgenössischer Künstler wie Max Klinger, Gabriel von Max, Hans Thoma oder Fritz von Uhde in ihrer nationalen Bedeutung zu beobachten ist, wofür der 1893 in der Freien Bühne erschienene Beitrag Unsere Nationalgalerie und nationale Kunst des Kunsthistorikers und seit 1894 Herausgebers der Neuen Deutschen Rundschau, Oscar Bie, symptomatisch ist.4 Im Gegensatz zu den längst etablierten Künstlern wie Wilhelm Camphausen, Franz von Defregger, Wilhelm von Kaulbach oder Carl Theodor von Piloty sind die bei Bie gelobten Maler alle um die Jahrhundertmitte geboren und mussten sich ihre Position auf dem Kunstmarkt und in der öffentlichen Wahrnehmung erst erarbeiten.5 Auch die Rezeption dieser Künstler in Bildgedichten fällt mit wenigen Ausnahmen erst in die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und verbindet sich dann seit der Jahrhundertwende auch vor allem mit anderen Autoren wie Stefan George, Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke, deren Texte gleichsam die Neuartigkeit dieser Kunst thematisieren. Das wohl bereits in den späten 1870er oder frühen 1880er Jahren entstandene Gedicht des heute vergessenen, 1841 im damals niederschlesischen Glogau geborenen Theobald Nöthig auf eine berühmte Christusdarstellung Gabriel von Max’ aus dem Jahre 1874 ist vor diesem Hintergrund in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Nöthig, gut bekannt und in regem Austausch mit Detlev von Liliencron,6 ist der sogenannten Breslauer Dichterschule zuzuordnen, die sich als Verein im Mai 1861 aus dem zuvor bestehenden Schlesischen Dichterkränzchen gründete. Seit 1875 publizierte der Verein die Zeitschrift Monats-Bericht, die als Monatsblätter weitergeführt wurde. Unter der Redaktion des Handwerkers und Lyrikers Paul

|| 4 Vgl. Oscar Bie: Unsere Nationalgalerie und nationale Kunst. In: Freie Bühne 4, 2 (1893), S. 1349–1354. 5 Vgl. zu diesem Komplex Rüdiger vom Bruch: Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreich. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 313–347, hier S. 334–337. 6 Vgl. Jean Royer (Hg.): Detlev von Liliencron und Theobald Nöthig. Briefwechsel 1884–1909. 2 Bde. 1986.

50 | II Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung

Barsch erlebte die zunächst nur regional wirksame und beachtete Zeitschrift in den späten 1880er und 1890er Jahren eine Öffnung zur Moderne hin. Für junge aufstrebende Autoren – die später zu Vertretern der Moderne um 1900 wurden – wie Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Karl Henckell, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig war die Zeitschrift ein wichtiges Publikationsorgan ihrer frühen Texte.7 Theobald Nöthigs Gedicht Vor dem Christuskopf (Gemalt von Gabriel Max) bedient sich der anspruchsvollen, an Dante orientierten Terzinenstrophe, die nicht erst mit der Jahrhundertwende und Hofmannsthal zu einer ausgesprochen beliebten Form gehörte.8 Das lyrische Ich berichtet von einer einsamen Betrachtung des Maxschen Christuskopfes, die sich am Ende zu einem religiösen Erlebnis wandelt (Abb. 2): Ich war allein im Saal – von außen her Drang nur gedämpft zum Ohr des Marktes Toben, als wenn von fern man brausen hört das Meer.

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Den Sessel nah zum Bilde hingeschoben, das hell sich hob von dunkler Draperie, hielt ich mein Auge fromm zu ihm erhoben. Die bleiche Lippe schien, als hätte sie Sich erst von jenem Schmerzensruf geschlossen: „Eli, Eli lama asabthani?“

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Das Auge hatte Tränen noch vergossen, bevor sein Lid sich schloß, umflort von Nacht, auf dorngkrönte Stirn war Blut geflossen. Den Heiland sah ich, der mit letzter Macht, indes sein Haupt schon sinkt verscheidend nieder, den Todesseufzer haucht: Es ist vollbracht!

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Schmerzlich bewegt erhob ich mich, und wieder Warf ich den Blick von ferne auf das Bild, und siehe, offen standen nun die Lider.

|| 7 Maßgeblich sind die Studien von Ernst Josef Krzywon: Vom „Dichterkränzchen“ zur literarischen Gesellschaft „Der Osten“. Zur Geschichte der Breslauer Dichterschule. In: Vita pro litteris. Festschrift für Anna Stroka. Hg. von Eugeniusz Tomiczek, Irena Światłowska, Mark Zybura. Warschau, Breslau 1993, S. 55–78. 8 Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchgesehene Aufl. Basel, Tübingen 1993 (UTB für Wissenschaft, 1732), S. 64–69.

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Ein Blick traf mich, der unbeschreiblich mild, ein Lächeln sah ich um die Lippen schweben, das jede Trübsal, jede Träne stillt. Mir war, als wollten sie den Trost mir geben: Ich bin die Liebe, hab erlöst auch dich! Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; Niemand gelangt zum Vater, denn durch mich!9

Abb. 2: Gabriel von Max: Christuskopf auf dem Schweißtuch der Veronika (1874)

Auffällig ist die Dominanz der zum Ausdruck gebrachten Empfindungen bei der Gemäldebetrachtung, die auf der syntaktisch-rhetorischen Ebene durch den Gebrauch von Adverbialsätzen und der romantisierenden Formel „als ob“ eingeleitet (V. 7–8) bzw. zusammengefasst werden (V. 22–23). Nöthig literarisiert damit die unmittelbare, zeitgenössische Rezeption des Werkes. Bei seiner Ausstellung in München löste das auf Frontalsicht angelegte Gemälde mit einem eindringlich, durch die struppigen Haare und tiefen Augenschatten beinahe schon dämonisch blickenden Christus beim Publikum heftige emotionale Reaktionen aus und trat danach in zahlreichen weiteren Ausstellungen durch ganz Europa einen regelrechten Erfolgszug an.10 Die mit der sechsten Strophe erneute Hinwendung des || 9 Hier zitiert nach der Sammlung: Moderne deutsche Lyrik. Mit einer literargeschichtlichen Einleitung und biographischen Notizen herausgegeben von Hans Benzmann. Zweite, gänzlich veränderte Auflage. Leipzig 1907, S. 428–429, zur Textüberlieferung auch die Anmerkung S. 622. 10 Vgl. Karin Althaus: Märtyrerinnen. In: Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist. Anläßlich der Ausstellung vom 23. Oktober 2010 bis 30. Januar 2011, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau. Hg. von Karin Althaus. München 2010, S. 76–84, hier S. 83; zum Überblick auch die Einführung im selben hervorragenden Katalog, Karin Althaus: Das Phänomen Gabriel von Max. Zur Einführung, wie Karin Althaus (s.o.), S. 12–17; Das Gemälde von Gabriel von Max

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Betrachters zum Gemälde zeichnet sich durch die räumliche Distanzierung aus, die aber offenbar zu einer anderen Wahrnehmung des zuvor Beschriebenen und einer Intensivierung der Bildwirkung führt. Das lyrische Ich erkennt nun die wieder geöffneten Augen Christi (V. 16–21) und spielt damit auf eine von den zeitgenössischen Betrachtern und Kunstkritikern häufig beschriebenen Eindruck an, dass Max’ Gemälde von seiner Anlage und Malweise her bewusst mit einer Verwischung des Zustandes zwischen Leben und Tod spiele, was im übrigen auch auf viele andere seiner Gemälde aus der Zeit bis 1890 zutrifft. Dass Max mit seinen Sujets von Märtyrerinnen und schwangeren Nonnen thematisch immer wieder auf Gegenstände zurückgreift, die Schwellensituationen und Grenzerfahrungen veranschaulichen und damit „symbolistische oder gar surrealistische Bildmethoden“11 schon vorweggenommen hat, wurde sowohl von vielen Zeitgenossen als auch in der späteren Rezeption vernachlässigt. Aus einer großen Prager Künstlerfamilie stammend, Piloty-Schüler und erfolgreicher „Sensationsmaler“12 in München wurde er lange Zeit in die Reihe der sogenannten konservativen, etablierten deutschen Maler(fürsten) gestellt, die in Opposition zu den avantgardistischen französischen Impressionisten gesehen wurden.13 Gleichwohl aber, das hat die neuere kunsthistorischer Forschung herausgearbeitet, speist sich diese historische Zuordnung eben vor allem aus dem in den 1890er Jahren und weit darüber hinaus heftig ausgetragenen Debatte um ‚moderne‘ Kunst in Deutschland und Frankreich. || wird aus der Bewertungsperspektive Fontanes auch behandelt bei Burkhard Bittrich: Theodor Fontane und die bildende Kunst der Kaiserzeit. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 171–179. 11 Grundlegend zur Neubewertung und historischen Einordnung: Harald Siebenmorgen: Gabriel von Max und die Moderne. In: Festschrift für Johannes Langner zum 65. Geburtstag am 1. Februar 1997. Hg. von Klaus Gereon Beuckers und Annemarie Jaeggi. Münster 1997 (Karlsruher Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 1), S. 215–240, bes. S. 219f.; Siebenmorgen eröffnet seinen Beitrag mit einem signifikanten Vorwurf, der noch 1911 dem damaligen Direktor der Mannheimer Kunsthalle, Ernst Wichert, aufgrund seiner Ankäufe moderner französischer Kunst gemacht wurde, er sollte doch statt Cézanne lieber deutsche Maler wie Defregger, Max und Kaulbach kaufen. 12 Althaus: Das Phänomen Gabriel von Max, 2010, S. 14; Althaus zitiert den Begriff nach Adolf Rosenberg, der von Max neben Böcklin und Makart zu den bedeutendsten Künstlern seiner Zeit rechnete und mit dem Begriff freilich nicht nur den Erfolg meinte, sondern auch im Sinne von „Empfindungen“; zur Ausbildung und Stellung vgl. auch: Birgit Joos: Ein Künstlerleben zwischen Popularität und Rückzug. In: Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist. Anläßlich der Ausstellung vom 23. Oktober 2010 bis 30. Januar 2011, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau. Hg. von Karin Althaus. München 2010, S. 48–55. 13 Vgl. Siebenmorgen: Gabriel von Max und die Moderne, 1997, S. 215.

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Im Falle seines von Nöthig literarisierten Christuskopfes hat von Max selbst zur Diskussion um das Gemälde, die der Dichter in seinen Terzinen aufgreift, beigetragen. Er verbreitete die Anekdote, dass er in Anwesenheit seiner Freunde Arnold Böcklin, Franz von Lenbach, Hans Makart und von Seitz auf einer Kegelbahn auf die Schiefertafel einen Christus mit „Doppelblick“ gezeichnet habe mit der Wette, dieses auch im Gemälde auszuführen.14 Diese weit verbreitete Anekdote greift Theobald Nöthig in seinem Gedicht wieder auf, inszeniert sie aber als Ergebnis intensiver, religiös motivierter Anschauung und unterschlägt dabei freilich die schon zeitgenössisch problematisierte Frage nach der Ernsthaftigkeit des religiösen Gehalts. Die in den Kunstkritiken leitenden Fragestellungen treten im Gedicht zugunsten einer auf die Wirkung des Gemäldes abzielenden Dramaturgie des Gemäldes als „Seelenmalerei“15 in den Hintergrund. Nöthigs Gedicht zeigt daher exemplarisch die Inszenierung eines Ichs, das ebenso wie die zeitgenössischen Kunstkritiker und Betrachter in den Werken Gabriel von Max’ seine Geschmackserwartungen und -wünsche befriedigt findet und ihnen Ausdruck verleiht. Texte wie die von Theobald Nöthig rezipieren aktuelle Maler und Gemälde und übertragen den Kunstgeschmack eines bestimmten Publikums ins Literarische. Die Frage also danach, warum ein Künstler oder ein Werk in einem Gedicht thematisiert wird, lässt sich mit Blick auf den kunst-, rezeptions- und geschmacksgeschichtlichen Kontext des Gedichtes beantworten. Da etwa ein Maler wie Arnold Böcklin sowohl von der älteren Generation eines Adolf Graf von Schack und Hermann Lingg als auch den Naturalisten Peter Hiller und Karl Henckell sowie Dichtern der Jahrhundertwende Beachtung fand, ist es geboten, nicht nur nach dem ‚Warum‘ zu fragen, sondern vor allem auch nach dem ‚Wie‘. Viele bei Gisbert Kranz aufgeführte Bildgedichte des späten 19. Jahrhunderts zu Albrecht Dürer, Michelangelo, Raffael, Arnold Böcklin und anderen Künstlern sind Texte, die mit dem Blick auf das Große und Ganze einen heroischen Künstler- und Personenkult betreiben, bei dem die Werkbetrachtung nur einen kleinen

|| 14 Die Anekdote ist dokumentiert bei Althaus: Märtyrerinnen, 2010, S. 83; Fontanes Urteil über von Max’ Gemälde fällt kritisch aus, er bezeichnet das Ganze als Effektmalerei, dazu Bittrich: Theodor Fontane und die Bildende Kunst, 1987, S. 175. 15 Susanne Weber bringt in ihrem Beitrag von Max’ Malerei mit den Jahrhundertwende-Begriffen Hysterie, Sentimentalität und Nervosität in Verbindung, vgl. Susanne Weber: „Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten“. Zu Seelenmalerei und Nervenreiz in der Kunstkritik. In: Gabriel von Max. Malerstar, Darwinist, Spiritist. Anläßlich der Ausstellung vom 23. Oktober 2010 bis 30. Januar 2011, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau. Hg. von Karin Althaus. München 2010, S. 140–141, hier S. 141.

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Teil darstellt.16 Die Widmungs- und Künstlergedichte des späten 19. Jahrhunderts verarbeiten und spiegeln eine Auffassung vom genialen Künstler wider, der instrumentalisiert werden soll für die Entwicklung eines nationalen Gemeinschaftsgefühls. Anders gesagt: Die doch erheblich verzögerte Rezeption von um die Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Künstlern im Bildgedicht hat auch etwas mit dem bei ihnen noch fehlenden Nobilitierungsvermögen zu tun, das freilich ein Dürer, Menzel oder die griechischen Künstler der Antike schon durch ihre lange Rezeptionsgeschichte mitbringen. Solcher Art rückwärtsgewandter Kunstnationalismus fassen noch die 1895 publizierten Gedichte Martin Greifs auf Leo von Klenze und die von Ludwig I. seit 1842 initiierte deutsche Ruhmeshalle Walhalla bei Regensburg zusammen.17

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Auf Walhallas Stiegen Saß ich einsam da, Alle Fluren schwiegen Fern und nah’. Nur die Amseln sangen Drüben noch im Wald, Abendglocken klangen Und verstummten bald. Rosenrot umflossen Fern der alte Dom, Und der Mond ergossen Auf dem Strom. Leuchtende Gestalten Zieh’n zum Tempel hin, Hohe Kränze halten Die Viktorien drin.

|| 16 Zum Genie-, Personen- und Staatskult seit der Gründerzeit immer noch grundlegend als Überblick: Richard Hamann und Jost Hermand: Gründerzeit. München 1971 (Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 1), bes. S. 120–160. 17 Die Rückbesinnung auf das Projekt Ludwigs I. von Bayern kann durchaus vor dem Horizont kaiserlicher Repräsentationskultur im späten 19. Jahrhundert gedeutet werden, dazu pointiert Udo Köster: Ideale Geschichtsdeutung und Mentalität der Gebildeten im Kaiserreich. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zur Literatur im Umbruch. Hg. von Robert Leroy und Eckart Pastor. Bern u.a. 1991, S. 95–126, hier S. 108: „Die repräsentative Kultur der Zeit dichtete, malte und baute an großen historischen Kulissen, Bildern aus der deutschen Vergangenheit, die der Gegenwart ihre geistige Legitimation geben sollten.“

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Die Viktorien bieten Hohe Kränze dar, Stille herrscht und Frieden Wunderbar. Aber nah’ und ferne Lebenshauch und Drang Keimen gold’ner Sterne – Sonnenuntergang! Blauer Wellen Blinken, Grüner Donaustrand! Duft’ge Schleier sinken Auf das Land. Helden! Sänger! Meister! Wär’s nicht einz’ges Glück, Führten sel’ge Geister Euch zu uns zurück? In die weh’nden Lüfte, In den ros’gen Strahl, In die Bergesklüfte, In das Thal! Atmen, wandeln, weben Könnt ihr droben nicht, Alles ist das Leben, Alles ist das Licht.18

Individuell auf einen Künstlerheros ausgerichtet ist dagegen Adolf von Schacks insgesamt sechs Strophen umfassendes Gedicht über den spanischen Altmeister Zurbaran (1883) der als Alter Deus inszeniert wird und überzeitliche, ja der irdischen Zeit gebietende Kunstwerke schafft: Der Meister legt den Pinsel aus der Hand; Noch ist sein liebstes Bild nicht ganz vollendet, Die Auferstehung, der er unverwandt Seit Jahren seine ganze Kraft gespendet. Da sinkt er todesmatt zurück und spricht: „O Herr, du rufst; nicht beb’ ich vor dem Grabe; Doch willst du gnädig sein, so nimm mich nicht Hinweg, bis ich dies Bild vollendet habe!“ […] So steigt er aus dem Grabe Nacht für Nacht,

|| 18 Martin Greif: Gesammelte Werke. Erster Band: Gedichte. Sechste, reich vermehrte Auflage. Leipzig 1895, S. 297f.

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Das Werk, an dem sein Leben hing, zu malen; Und als er nun den letzten Zug vollbracht, Da leuchtet glorreich in die Frühlings Strahlen Das Bild ihn an, er sieht im Morgenroth Den Gottessohn sich aus der Gruft erheben Und spricht verklärt: „Nun sei willkommen, Tod! Nun kann ich frei zu andern Räumen schweben!“19

Letztlich sind auch Louis Engelbrechts 1901 publizierte Gedichte Das letzte Aufgebot und Heimkehr der Sieger (Zu Defregger’schen Bildern)20 zu gleichnamigen, 1874 bzw. 1876 entstandenen und unter anderem in Berlin ausgestellten Gemälden von Franz von Defregger späte Reprisen nationalistischer Dichtung, die inspiriert ist von einer Malerei, die in Abwandlung aber auch Anlehnung an die Schlachtenmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vaterländischer Deutung den Tiroler Freiheitskampf vom Beginn des Jahrhunderts darstellt (Abb. 3).21

Abb. 3: Franz von Defregger: Das letzte Aufgebot (1874)

|| 19 Adolf Friedrich Graf von Schack: Gesammelte Werke. In sechs Bänden. Hier: Erster Band: Nächte des Orients oder die Weltalter. Gedichte. Stuttgart 1883, S. 368–369. 20 Louis Engelbrecht: Gedichte. Braunschweig 1901, S. 264–267. 21 Zur Tradition und kunsthistorischen Einordnung der Defreggerschen Gemälde vgl. Günther Dankl: Von der „totalen Idee vom Ganzen des Tiroler Krieges“ zum historischen Genre. Der Tiroler Freiheitskampf bei Joseph Anton Koch und Franz von Defregger. In: Heldenromantik. Tiroler Geschichtsbilder im 19. Jahrhundert von Koch bis Defregger. Tiroler Landeskundliches Museum im Zeughaus Kaiser Maximilians I., Innsbruck, 23. April bis 7. Juli 1996, Südtiroler Landesmuseum Schloss Tirol, Dorf Tirol, 26. Juli bis 20. Oktober 1996. Hg. von Gert Ammann. Innsbruck 1996, S. 35–40.

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Freilich wirft die Frage, warum kein einziges Bildgedicht zu von Wilhelm II. selbst hoch geschätzten und geförderten Malern wie Hermann Prell oder Max Koner nachzuweisen ist, noch einmal ein anderes Licht auf diese Thematik. Die recht späte, zahlenmäßig mit Bildgedichten zu bereits verstorbenen Künstlern nicht vergleichbare Rezeption zeitgenössischer Maler und ihrer Werke im Gedicht legt die Vermutung nahe, dass bei aller Sicherheit in der ideologischen Ausrichtung eine tendenzielle gründer- und kaiserzeitliche Unsicherheit in Geschmacksurteilen vor allem bei zeitgenössischen Werken zu einer Bevorzugung längst kanonischer Werke und Künstler geführt haben mag.22 Für das Gedicht und die Wirkabsicht war es nobilitierender, einen Michelangelo, Dürer oder antike Kunstwerke zu bedichten. Mit dem Aufkommen der bildkünstlerischen Sezessionen in den 1890er Jahren sowie den nicht zuletzt damit verbundenen kunstpolitischen Auseinandersetzungen vor allem in Berlin und München scheint sich auch im Bildgedicht zumindest in der Tendenz ein bis dahin zu beobachtender allgemeiner Kunstgeschmack aufzulösen.23 Das heißt freilich nicht, dass es nach der Etablierung der von der offiziellen akademischen und politisch geförderten Kunst sich distanzierenden Sezessionsgruppen keine Gedichte mehr auf Dürer, antike Kunstwerke, auf Moritz von Schwind, Hans Makart oder Hans Thoma gegeben hat. Der Adressat für solche Texte ist danach aber nicht mehr in erster Linie ein bildungsbürgerliches Publikum, sondern oftmals die eigene, im bedichteten Kunstwerk zum Ausdruck gebrachte und reflektierte Ästhetik und Kunstauffassung.24 Ein Künstler, dessen dichterische Rezeption diese beiden Tendenzen wie kaum ein anderes Beispiel veranschaulicht, ist Arnold Böcklin, der sowohl von der älteren Generation eines Friedrich Graf von Schack als auch neu aufstrebender Naturalisten wie Peter Hille und Karl Henckell aber eben auch von Stefan George, Karl Wolfskehl oder Hugo von Hofmannsthal literarisiert wird. Der ‚Fall Böcklin‘ und die ganz unterschiedliche Rezeption des Künstlers und Wertung seines Werkes zeigen, dass „Gesinnung und Überzeugung kein Argument für eine nationale Kunst sein

|| 22 Vgl. hierzu auch Kurt Düwell: Geistesleben und Kulturpolitik des Deutschen Kaiserreichs. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 15–30, hier S. 22–26. 23 Grundlegend und übersichtlich zur kunstgeschichtlichen Seite des Themas: Wilhelm Schlink: „Kunst ist dazu da, um geselligen Kreisen das gähnende Ungeheuer, die Zeit, zu töten…“. Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Hg. von M. Rainer Lepsius. Stuttgart 1992 (Industrielle Welt, Bd. 47), S. 65–81. 24 Vgl. Düwell: Geistesleben und Kulturpolitik, 1983, S. 26f.

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können, für die man in der zeitgenössischen Publizistik nicht nur lebhaft eintrat, sondern die man auch überall festzustellen glaubte“. 25 Da es sich bei jedem Bildgedicht um eine Interpretation des Kunstwerkes oder des Künstlers handelt, muss daher auch immer die spezifische, mediale Differenz zwischen Kunstwerk/Künstler und Gedicht berücksichtigt werden. Zurecht hat daher Wolfgang von Löhneysen in seiner Studie zum Kunstgeschmack der Kaiserzeit darauf hingewiesen, dass man bei vielen Kunstwerken rein von der Anschauung her „Gesinnung und Überzeugung“ nicht sehen und das „nationale Element“ keine Kunst bewirke, sondern nur „ein Argument der Interpretation sein“ könne.26 Die epochal betrachtet zum Gesamtkunstwerk tendierende national ausgerichtete Allianz von Bildender Kunst und Literatur in der Gründer- und Kaiserzeit fand gleichwohl in vielfältigen Projekten die unterschiedlichsten Realisierungen. Künstlersoziologisch betrachtet spiegelt sich dieses enge Zusammenwirken schon in der Autorinszenierung etwa von Paul Heyse oder Adolf Graf von Schack wider, deren Empfangszimmer in ihren Münchner Häusern mit Originalen von Franz von Lenbach, Arnold Böcklin und Ferdinand Keller ausgestattet waren. Neben den wirkungsmächtigen und auflagenstarken Zeitschriften wie Die Grenzboten, Deutsche Rundschau, Dioskuren oder Neue Deutsche Rundschau ist es im späten 19. Jahrhundert vor allem die seit 1885 von dem Münchner ‚Kunstpapst‘ herausgegebene Zeitschrift Die Kunst für alle, die mit vielen Heften zu Künstlerjubiläen von Menzel, Feuerbach, Lenbach oder Böcklin den intermedialen Schulterschluss zwischen Bildender Kunst und Literatur in der Kaiserzeit veranschaulicht.27

|| 25 Wolfgang Freiherr von Löhneysen: Kunst und Kunstgeschmack von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. In: Das Wilhelminische Zeitalter. Hg. von Hans Joachim Schoeps. Stuttgart 1967 (Zeitgeist im Wandel, 1), S. 87–120, hier S. 113; im weiteren Kontext seit der gescheiterten Revolution bis zur Reichsgründung bietet der Ausstellungsband von Ulrike Laufer einen breiten Einblick gründerzeitlicher Lebenswelten: Ulrike Laufer (Hg.): Gründerzeit 1848–1871. Industrie & Lebensträume zwischen Vormärz und Kaiserreich. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin. Dresden 2008, bes. S. 304–315; zum politisch-ideologischen Hintergrund des Nationalismus im späten 19. Jahrhundert vgl. Peter Walkenhorst: Nation, Volk, Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen 2007 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 176), bes. S. 38–79. 26 Ebd. 27 Vgl. hierzu Schlink: Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit, 1992, S. 66–80; Rogers: Nationalismus in der deutschen Kunst, 1998, S. 30–35; Michael Bringmann: Die Kunstkritik als Faktor der Ideen- und Geistesgeschichte. Ein Beitrag zum Thema „Kunst und Öffentlichkeit“ im 19. Jahrhundert. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 253–278, hier S. 253–256.

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Der in München Paul Heyse und Emanuel Geibel nahestehende Maler und Dichter Julius Grosse ‚illustrierte‘ mit Gedichten mehr als ein Dutzend Federzeichnungen des sonst nur im Großformat malenden Staatskünstlers Wilhelm von Kaulbach. Initiator dieses wohl für die Gründerzeit berühmtesten Projekts, Bildende Kunst und Literatur zusammenführen, war der Stuttgarter Verleger Friedrich Bruckmann: Das Kaulbach-Album (1862)28 präsentiert scheinbar leicht dahingeworfene Zeichnungen zu Tierfabeln und grotesken Märchen, die Grosse mit teilweise mehrere Seiten umfassenden Gedichten kommentiert. Aus intermedialitätsgeschichtlicher Perspektive ist dieses Album insofern für das Verständnis des gründerzeitlichen Kunstgeschmacks und das Selbstverständnis des Dichters Grosse interessant, als Grosse eine „geradezu erschreckende Willkür in der Umdeutung der bildlichen Inhalte und eine ausschweifende Phantasie [zeigt], die mit den drapierten Modellen der bildlichen Vorlagen nicht zusammen passen“.29 Dass Julius Grosse Bruckmanns Projekt dennoch unterstützte und vor allem seine Dichtungen als im Ergebnis von den Vorlagen unabhängige Kunstwerke betrachtete, wertet Hellmut Rosenfeld im Horizont einer epochalen Veränderung des Verhältnisses von Bild und Wort im späten 19. Jahrhundert: In dieser Äußerung [Grosses] zeigt sich so recht das Persönlichkeitsbewußtsein der Gründerzeit. Die Romantiker hatten sich dienend dem Bildwerk untergeordnet und es zu dolmetschen und ins Sprachliche zu übersetzen gesucht, auch das Biedermeier hatte die epigraphische Haltung im allgemeinen gewahrt, jetzt aber versuchte Grosse, das klare epigraphische Verhältnis, in dem er zu den Gemälden laut seines Auftrages stand, zu vertuschen. […]Die selbstherrliche Lebens- und Schaulust der Gründerzeit, die sich in gewisser Weise auch in diesen inferioren Modellbildern, die Grosse vorlagen, zeigte, fand ihren offensichtlichsten und gültigsten Niederschlag in den historischen Pracht- und Triumphzügen, wie sie Piloty, Makart und Defregger malten.30

Spätestens mit Ludwig Justi, der 1909 Direktor der Berliner Nationalgalerie wurde, lässt sich auch in institutioneller Hinsicht ein Wandel jenes von zahlreichen Bildgedichten der Gründer- und Kaiserzeit immer wieder aufgenommenen und literarisierten Konzepts einer sich der nationalistischen Funktionalisierung zugeordneten Bildenden Kunst feststellen. Nicht nur findet die strikte, vom

|| 28 Julius Grosse: Kaulbach-Album. Thierfabeln, Geschichten und Märchen in Bild. Nach Originalen Federzeichnungen von Wilhelm von Kaulbach. In Holz geschnitten von J.G. Flegel. Stuttgart 1862. 29 Hellmut Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung. Leipzig 1935 (Palaestra, 199), S. 182. 30 Ebd., S. 182f.

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Kaiser vehement verfochtene Ablehnung moderner, auch ausländischer Kunstrichtungen Beachtung in Form von Ankäufen und Ausstellungen, die der kaisertreue Anton von Werner als Direktor der Berliner Akademie und des Berliner Kunstvereins in den 1880er und 1890er Jahren noch zu verhindern gewusst hatte, sondern es ändert sich schon mit dem Untertitel der Nationalgalerie als Haus der „vaterländischen Kunst“ – nicht mehr nur der „vaterländischen Geschichte“ – grundlegend das Konzept und Kunstverständnis einer der wichtigsten Museen im Reich.31 Von der Jahrhundertwende her betrachtet ist im Hinblick auf die Auflockerung gängiger Muster des Zusammenwirkens von Bildender Kunst, (staatlichen) Kunstinstitutionen und Literatur Oscar Blumenthals 1890 publizierte EpigrammSammlung Vor Gemälden besonders aufschlussreich, da die dort behandelten Werke eine Kunstausstellung präsentieren, die es so nie gegeben hat, die aber das Spektrum möglicher Gedicht-Gegenstände noch einmal rekapituliert. Die Sammlung des heute wohl nur noch als Autor des Lustspiels Im Weißen Rößl (1898) bekannten Blumenthals steht sowohl gattungsgeschichtlich für das Bildgedicht als auch kulturgeschichtlich an einem Schnittpunkt: Sie verdeutlicht die überkommene Praxis des dichterischen Umgangs mit Kunstwerken und Künstlern, insofern sie selbst eine solche Sammlung nachahmt und damit die grundsätzliche Verfügbarkeit und Präsenz von Werken der Bildenden Kunst in der Kaiserzeit verdeutlicht, dem Wert einer rein nationalistisch geleiteten Kunstbetrachtung aber eine Absage erteilt. Andererseits wird implizit auch die Entkontextualisierung von Kunstwerken in gesteigerter Form thematisiert, denn für die in der Sammlung literarisierten Kunstwerke gibt es nicht einmal ein Museum, das ja als Institution für Kunstvermarktung und Kunstbetrachtung im 19. Jahrhundert ohnehin nur entkontextualisierte Kunst zeigt. In epigrammatischer Zuspitzung formuliert der fiktionale Ausstellungsbesucher dieser fingierten Gemäldeausstellung knappe und pointierte Betrachtungen zu Malern der neuen Generation wie Hans Makart („Karl V. in Anwerpen“),32 Franz Skarbina (Skarbina’s Leichenkeller)33 oder Gabriel von Max „Die Kindermörderin“:

|| 31 Die Auf- und Ausstellungskonzepte, die vorgenommenen Änderungen im Bereich der Historienmalerei und Inszenierung jüngerer Künstler ist hierbei besonders von Bedeutung, vgl. Jörn Grabowski: Leitbilder einer Nation. Zur Präsentation von Historien- und Schlachtengemälden in der Nationalgalerie. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 91–100, zu Justi bes. S. 96–98. 32 Oscar Blumenthal: Gesammelte Epigramme. Berlin 1890, S. 78. 33 Ebd., S. 80.

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Daß du, der Kunst- und Farbenreiche Ein Beispiel gibst dem Stümperpack!... Dicht neben deiner Kinderleiche Liegt der ermordete Geschmack.34

Explizit stehen solchen, die Qualität des künstlerischen Konzepts und der Ausführung lobenden Zeilen vor allem jene zwei Epigramme gegenüber, die mit Reinhold Begas (Portrait Gneist’s von R. Begas)35 und Anton von Werner (A. von Werner’s Proklamations-Bild, Abb. 4) gerade zwei Künstler herausgreifen, die nun in besonderem Maße für die staatlich gelenkte und geförderte Kunstproduktion der Kaiserzeit stehen, deren künstlerische Gültigkeit und deren ästhetischer Wert für die Gegenwart verleugnet wird: Daß stets die Form den Stoff vernichte, War Göthe’s tiefe Künstler-Norm: Doch diesen Stoff der Reichsgeschichte Vernichtete – die Uniform.36

Gedichte auf Kunstwerke oder Bildende Künstler formulieren in der Gründer- und Kaiserzeit damit sowohl eine Apologie staatsfördernder und staatstragender Ideologie, zeigen aber auch vor allem gegen Ende des Jahrhunderts Zweifel an einer staatlich verordneten Kunstdoktrin und öffnen sich im Zuge und parallel zu den bildkünstlerischen Sezessionen Werken der neueren Malerei.

Abb. 4: Anton von Werner: Die Proklamation des deutschen Kaiserreichs, 18. Januar 1871 (1885)

|| 34 Ebd., S. 79. 35 Ebd., S. 83. 36 Ebd., S. 82.

2 „Allerdeutschester Künstler der Vergangenheit“. Dürerkult, Nationalismus und Regionalismus zwischen Kulturnation und Machtstaat: Hermann Lingg, Martin Greif und Heinrich Vierordt Die Reichsgründung von 1871 ist von vielen ehemals radikal-demokratisch gesinnten politischen Dichtern der Vormärzzeit wie Ferdinand Freiligrath, Gottfried Kinkel oder Ferdinand Kürnberger als späte Erfüllung der in den 1840er Jahren und den Revolutionen von 1848/49 formulierten Forderungen nach nationaler Einheit gewertet und daher begrüßt worden.37 Die in den 1860er Jahren im Vorfeld der nationalen Einigung unter Vorherrschaft Preußens und im Zusammenhang des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 entstandene deutschsprachige Lyrik, die zur Siegesverherrlichung rasch Eingang in etliche und umfangreiche Gedicht-Anthologien gefunden hat, ist daher zurecht aus der größeren Perspektive und in der Kontinuität patriotischer Dichtung seit den Napoleonischen Befreiungskriegen betrachtet worden.38 Obwohl die Lyrik-Produktion in den verschiedenen Epochen patriotischer Dichtung im 19. Jahrhundert von ganz unterschiedlichen politisch-sozialen und auch territorialen Voraussetzungen und Bedingungen geprägt ist, sind nationale Emphase, ein ausgeprägtes kulturelles und historisches Bewusstsein sowie der Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Nationen über die Grenzen

|| 37 Gerade die Werk-Biographien der genannten Autoren sind interessant für diesen Zusammenhang, da sie in der Revolutionszeit mit besonders radikalen Positionen aufgetreten sind, vgl. mit zahlreichen Quellenzitaten Wolfgang Kilmbacher: Ferdinand Kürnberger und Adolph Fischhof: Zwei ehemalige „Märzkämpfer“ in deutschnationaler Euphorie. Literarisch-politische Reaktionen auf Krieg und Reichsgründung 1870/71. In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Mit einer Auswahlbibliographie. Hg. von Klaus Amann und Karl Wagner. Wien, Köln, Weimar 1996 (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 36), S. 369–396; Bernhard Walcher: Vormärz im Rheinland. Nation und Geschichte in Gottfried Kinkels literarischem Werk. Berlin, New York 2010 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 138), bes. S. 82–85. 38 Vgl. den Überblick von Jürgen Fohrmann: Lyrik. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. Hg. von Edward McInnes und Gerhard Plumpe. München, Wien 1996 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), S. 394–461, bes. S. 396–402. https://doi.org/10.1515/9783110700732-006

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einzelner literarhistorischer Strömungen hinweg durchaus vergleichbare Grundzüge solcher Texte. Auch die institutionelle oder anlassbezogene Einbindung von Lyrik in Vereinen, bei Festanlässen oder im Rahmen der Feier von Dichter- und Künstlerjubiläen stellt ein für die rezeptionsästhetische und mediengeschichtliche Analyse dieser Lyrik wichtiges Kontinuum dar.39 So zeugt etwa der refrainartig wiederholte Titel von Ferdinand Freiligraths berühmten Gedicht Hurra Germania von 1870 vom martialischen Gestus, mit dem der Sieg über den Erzfeind Frankreich lyrisch gefeiert wurde und verweist damit nicht nur auf einen konkreten Anlass, sondern ist auch zur mentalitätsgeschichtlichen Inkunabel für die gesamte Gründerzeit – und teilweise darüber hinaus – geworden.40 Neben den Achtundvierzigern sind es aber vor allem Autoren wie Emanuel Geibel, Paul Heyse, Hermann Lingg oder Adolf Graf von Schack, deren Werke das Bild von der nationalistischen und staatsverherrlichenden Lyrik der Gründerzeit prägen, wenngleich diese – zur selben Generation wie Ferdinand Freiligrath, Georg Herwegh und Gottfried Kinkel gehörend – vor 1848 nicht als politische Dichter in Erscheinung getreten sind. In Gedichten dieser Autoren kommt zu den schon genannten Charakteristika häufig noch das Bekenntnis zum neu gegründeten Nationalstaat Bismarckscher Prägung dazu, was in der älteren patriotischen und politischen Lyrik freilich nur als zu verwirklichende Utopie literarisiert werden konnte. Die ältere Forschung leitete von jenen Merkmalen und der vielfach postulierten Symbiose von Staat und Kultur bisweilen verächtlich gemeinte

|| 39 Grundlegend und zusammenfassend für die Bedeutung von Lyrik in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten des 19. Jahrhunderts der Aufsatz von Gerhard Lauer: Lyrik im Verein. Zur Mediengeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts als Massenkunst. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer, Claudia Stockinger. Bern [u.a.] 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N.F., Bd. 11), S. 183–203. 40 Die Epochenprädikation für die Jahre von 1870–1890 ist nicht unumstritten. Im Folgenden wird aber der Begriff „Gründerzeit“ im Sinne einer literarhistorischen Einheit benutzt, da er sich für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse und die in diesem Kapitel beschriebenen literarhistorischen Entwicklungen und Phänomene am besten eignet. Gleichwohl handelt es sich, wie Günther Mahal bemerkte, um die Übertragung einer „nationalökonomische[n] Phasenbezeichnung auf die Literatur“ (S. 8). Vgl. zum Epochenbegriff und zur Periodisierungsdiskussion Günther Mahal: Einführung. In: Lyrik der Gründerzeit. Ausgewählt, eingeleitet und hg. von Günther Mahal. Tübingen 1973 (Deutsche Texte, 26), S. 1–36, bes. S. 2; ferner immer noch erhellend Jost Hermand: Zur Literatur der Gründerzeit. In: Ders.: Von Mainz nach Weimar (1793–1919). Studien zur deutschen Literatur. Stuttgart 1969, S. 211–249; in größerer Perspektive bis zum Ersten Weltkrieg und mit guten Beobachtungen auch der Beitrag des damals noch nicht als ehemaliger SS-Offizier entlarvten Hans Schwerte: Deutsche Literatur im Wilhelminischen Zeitalter. In: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 254–270.

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Epitheta wie geschmacklose und überladene Prunk- und Protzkultur, Kitsch und Epigonalität ab. Dass mit solchen Zuschreibungen und Verunglimpfungen nur „aufdringliche Vordergrundphänomene“ der „hybride[n] Selbstfeier einer siegreichen Nation“ benannt sind, hat schon Günther Mahal 1973 in der Einleitung zu seiner Auswahlsammlung von Lyrik der Gründerzeit kritisiert und gefordert, diese Gedichte im Hinblick auf ihre zeitgenössischen, kulturgeschichtlichen funktionalen, produktions- und rezeptionsästhetischen Bedingungen zu behandeln.41 Als repräsentatives Beispiel für den programmatischen literarästhetischen Anspruch, die ideologische Ausrichtung, Funktionsbestimmung und das Wirkungsspektrum von Lyrik in der Gründerzeit kann hier das von dem Münchner Kunstsammler, Mäzen und Mitglied des Münchner Dichterkreises Adolf Graf von Schack zum Jahreswechsel 1871 verfasste Gedicht Zum neuen Jahr. 1871 gelten.42 In Herrlichkeit, wie sie die Welt nicht sah Seit grauer Zeit des Altertumes, Mein deutsches Vaterland, stehst du nun da Auf Sonnenhöhen deines Ruhmes. 5

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Verderben schleudert auf den Feind und Tod Das Falten deiner mächt’gen Stirne, Und doch spielt milder Glanz um sie, wie Rot Des Morgens um der Alpen Firne. Wohl! Um die Schläfe, die der Siegesaar Umkreist mit den gewalt’gen Schwingen, Magst an des Friedens duftendem Altar Du dir der Kränze reichsten schlingen! Ihr, die als schönster Schatz der Menschheit gilt Und sie der Geisterwelt verkettet, Der heil’gen Kunst in Klang und Wort und Bild Sei Hütrin, die sie schützt und rettet! Schritt nicht die Dichtung durch den Schatten schon, Den deine Urwaldeichen warfen, Und rauschten ihre Wipfel nicht beim Ton, Dem ehernen, der Bardenharfen?

|| 41 Vgl. Mahal, Einführung 1973, S. 4–6, Zitat S. 1; hier auch zusammenfassend die ältere Forschung. 42 Als maßgeblicher Fördere und Sammler Arnold Böcklins wird Schack auch noch in einem späteren Kapitel behandelt.

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Gedenk, wie dich von früher, nie versiegt, Der Melodien Strom durchflutet, Auf dem Beethoven sich, der Schwan, gewiegt, In dem sich Mozarts Herz verblutet! 25

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Strahlt nicht als heller Morgenstern der Kunst, Der andern lichter Reigenführer, Zu uns aus finstrer Zeiten Nebeldunst Herüber der erhabne Dürer? Und länger könnte dich, die das besitzt, Bethören noch der Tand der Seine? Vom eitlen Bildwerk, das der Franke schnitzt, Auflesen möchtest du die Späne? Nein! Aufwärts schau, zu jener Riesenwelt, Die sich, ein Werk der Feen und Gnomen, Nur durch ein ew’ges Wunder aufrecht hält, Zu Kölns und Straßburgs hohen Domen! So wie hochauf ihr Wald von Pfeilern steigt Und mit den Aesten, Ranken, Reben Zur mächt’gen Säulenlaube sich verzweigt, Soll deine Kunst gen Himmel streben. Ein hoher Tempel sollst du selber sein, Und, wenn ringsum der Schönheit Blüten Im Sturm des Herbstes sinken, noch allein Des Geistes Heiligtümer hüten.

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Und flieht an andre Küsten einst der Tag, Der wechselnde, der Weltgeschichte: Vergoldend lang auf deinen Zinnen mag Er ruhen noch mit letztem Lichte! So spielt um die Ruinen Griechenlands Noch heut ein Abendrot, als küßte Der untergeh’nden Sonne Scheideglanz Des Mäoniden Marmorbüste.43

|| 43 Das Gedicht wurde in die Sammlung Lotosblätter aufgenommen, hier nach der Ausgabe: Adolf Friedrich von Schack: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hier Bd. 4: Lotosblätter – Die Plejaden – Weihgesänge. Stuttgart 1883, S. 171–173.

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Gegenstand und Adressat des Gedichtes ist das deutsche Vaterland (V. 3), personifiziert durch die immer wieder direkt angesprochene Germania. Aggressive, kämpferische Kriegs- und Siegesrhetorik scheinen hier, anders als in Freiligraths sich ebenfalls der weiblichen personificatio Deutschlands bedienenden Gedichts Hurra Germania, zurückgenommen und zunächst auf die ersten beiden Strophen beschränkt, die wie die übrigen elf aus kreuzgereimten, jambischen Fünf- und Vierhebern im Wechsel mit männlich-weiblich alternierenden Versausgängen bestehen. Gleichwohl wird auch hier schon dem zur Feier des „deutschen Vaterlandes“ (V. 3) gewählten, positiv konnotierten Vokabular (V. 1: „Herrlichkeit“; V. 4: „Ruhm“; V. 7: „Glanz“) das „Verderben“ (V. 5) der Feinde gegenübergestellt, womit gleich zu Beginn des Gedichtes die Siegesfeier auch als Kriegserinnerung und damit als Erinnerung an die Niederlage der Franzosen gedeutet wird. Die folgenden Strophen präsentieren eine Friedensvision, als deren Kernbestand die Allianz von Kunst und dem jungen Nationalstaat verbunden mit der an Germania gerichteten Forderung nach Schutz von Musik, Literatur und Bildender Kunst (V. 15–16) erscheint. Begründet wird der Anspruch historisch, indem die Bedeutung der Künste für den Fortgang der Kulturgeschichte aufgezeigt und aus ihr gleichzeitig deren Legitimation und Existenzberechtigung im Staat abgeleitet werden (Strophe 5– 7). Noch im unmittelbaren Umfeld des deutsch-französischen Krieges thematisiert und problematisiert das Gedicht das Verhältnis zwischen dem Staat und den Künsten, so dass mitnichten von einer bedingungslosen nationalen Feier in Gedichtform gesprochen werden kann. Auffällig ist zudem, dass Schack die Vokabeln Volk, Nation oder Staat bewusst vermeidet und mit der personifizierten Germania nicht nur an die ältere patriotische Dichtung anknüpft, sondern damit auch die in den Formulierungen der Reichsverfassung von 1871 erkennbare Nationalstaats-Problematik, bedingt durch die kleindeutsche Lösung reflektiert. Im dritten Vers wird zwar vom „deutschen Vaterland“ gesprochen, doch war der Begriff auch 1871 semantisch alles andere als eindeutig.44 Diese politisch-verfassungsgeschichtliche Problematik wird nicht ausgeblendet, der Ausweg aus diesem Dilemma aber in der Nationalbewusstsein schaffenden Kraft der Künste gesehen.

|| 44 Vgl. den Artikel von Reinhart Koselleck, Karl Ferdinand Werner, Bernd Schönemann: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 141–431, zur Problematik der Begriffe „Deutschland“ und „ganz Deutschland“ in der Reichsverfassung und zur Unterscheidung von „vorstaatlichem“ NationBegriff und „politischem“ Volks-Begriff bes. S. 396–376.

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So wird in den Strophen vier und elf eindringlich an die angesprochene Germania appelliert, die Pflege der Künste auch als staatspolitische Aufgabe zu begreifen. Auf eine institutionelle Ebene überführt werden solche Ansätze später im Offenen Brief an den Fürsten Bismarck (1882) der Brüder Heinrich und Julius Hart mit ihrer konkreten Forderung nach einem „Reichsamt für Literatur, Theater, Wissenschaft und Künste“,45 was allerdings auch schon der einflussreiche Theaterkritiker und -theoretiker der Gründerzeit Georg Köberle in verschiedenen Schriften in ähnlicher Weise vor allem für den Bereich der Bühne vorschlug.46 Deutlich wird an Schacks Gedicht aber auch die Sakralisierung und Funktionalisierung aller drei Künste zur Feier, Unterstützung und Durchsetzung nationaler Interessen bzw. zur Etablierung einer nationalen Identität, wie dies unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg die Berliner Siegesfeier vom 16. Juni 1871 realisierte, die von den Zeitgenossen als Kunstereignis wahrgenommen wurde. Besonderen Anteil an der Gesamtwirkung der Feier hatten freilich die Bildenden Künste, neben den Triumphbögen und Ehrensäulen bekannter Bildhauer im besonderen auch die auf der als Siegesstraße genutzten Allee „Unter den Linden“ installierten Monumentalgemälde von Anton von Werner, Johannes Schaller und anderen Künstlern.47 Ähnlich wie bei der Lyrik der Gründerzeit kann auch von einer ausgeprägten Nationalisierung der Bildenden Künste nach der Reichsgründung gesprochen werden, die sich neben den Gemälden und Bildhauerwerken auch publizistisch in der (nationalen) Neuausrichtung oder Gründung von Kunstzeitschriften wie Friedrich Pechts Die Kunst für Alle (1885) festmachten lässt.48 Auch in nicht ausschließlich künstlerischen Themen gewidmeten,

|| 45 Heinrich Hart, Julius Hart: Kritische Waffengänge. Zweites Heft. Leipzig 1882, S. 7. 46 Ausführlich hierzu Bernhard Walcher: Reform und Modernisierung. Die Schaubühne als Spiegel und Vorbild der Zeit. Georg Köberles (1819–1898) theaterkritische Schriften und das Theater der Gründerzeit. In: Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Ralf Bogner u.a. Berlin, New York 2011, S. 401–411. 47 Zur Siegesfeier mit Angabe von zahlreichen zeitgenössischen Beschreibungen Birgit Kulhoff: Bürgerliche Selbstbehauptung im Spiegel der Kunst. Untersuchungen zur Kulturpublizistik der Rundschauzeitschriften im Kaiserreich (1871–1914). Bochum 1990 (Bochumer Historische Studien, Neuere Geschichte, Nr. 9), hier S. 22–33. 48 Zum Überblick Kulhoff, Bürgerliche Selbstbehauptung, 1990; exemplarisch zur Ausrichtung der Zeitschrift von Pecht vgl. die allerdings mit zahlreichen Fehlern behaftete und nur digital vorliegende, im Kern aber materialreiche Arbeit von Robert W. Rogers: Nationalismus in der deutschen Kunst. Die Forderung nach einer deutsch-nationalen Kunst im Wilhelminischen Deutschland – Eine Analyse anhand der Kunstzeitschrift Die Kunst für Alle unter der Herausgabe Friedrich Pechts 1885–1903. Diss. (masch.) Freiburg im Breisgau 1998; ferner auch Ekkehard Mai: Nationale Kunst – Historienmalerei vor und nach 1870. Von der Romantik der Geschichte

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allgemeinen (Rundschau-)Zeitschriften des späten 19. Jahrhunderts wie Die Grenzboten, Deutsche Rundschau und Neue Deutsche Rundschau wurde, wie Rüdiger vom Bruch nachgewiesen hat, in Artikeln und Artikelserien namhafter Kunsthistoriker und Kunstkritiker wie Julius Meier-Graefe, Wilhelm Hausenstein, Benedikt Momme Nissen, Max Osborn oder Adolf Rosenberg die Bedeutung und Funktion der Bildenden Kunst für die Nation und das deutsche Volk hervorgehoben.49 Institutionsgeschichtlich knüpft die gründerzeitliche Fest- und Denkmalkultur unter Einbeziehung und Instrumentalisierung der Künste an die teils schon vor der Reichsgründung ins Leben gerufenen Museen, Museumsvereine, Kunst- und Dichtergesellschaften an, die als Veranstalter von Dichterfeiern und Künstlerjubiläen zur Ausprägung eines bürgerlichen, national ausgerichteten Kunstverständnisses beigetragen haben.50

|| zur geschichtlichen Wirklichkeit. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 19–32. 49 Vgl. die grundlegende Studie von Rüdiger vom Bruch: Kunst- und Kulturkritik in führenden bildungsbürgerlichen Zeitschriften des Kaiserreichs. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 313–347; mit Blick auf Zeitschriften wie Die Kunsthalle, Kunst und Künstler, Monatshefte für Kunstwissenschaft, Deutsche Kunst und Dekoration und Der Kunstwart hat Kurt Düwell auch auf die abseits der ‚offiziellen Kunst‘ geführten ästhetischen Diskussionen der Gründerzeit hingewiesen, vgl. Kurt Düwell: Geistesleben und Kulturpolitik des Deutschen Kaiserreichs. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 15–30. 50 Vgl. Manuela Vergoossen: Museumsvereine im 19. Jahrhundert. Ein typologischer Vergleich charakteristischer Beispiele. Neuried 2004 (Deutsche Universitätseditionen, Bd. 23), sehr hilfreich hier die chronologische Synopse im Anhang S. 77–129; zum Museum als (nationaler) Bildungsanstalt Walter Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800–1914. Darmstadt 1994; grundlegend nach wie vor zur nationalen Ausrichtung von Dichterfeiern am Beispiel von Schiller (1859) und Freiligrath (1867) die Arbeit von Rainer Noltenius: Dichterfeiern in Deutschland. Rezeptionsgeschichte als Sozialgeschichte am Beispiel der Schiller- und Freiligrath-Feiern. München 1984; das dialektische Verhältnis von gründerzeitlichen ‚offiziellen‘ Gemälden als staatlich in Auftrag gegebene „normgebende Muster“ (S. 543) einerseits und den Kunstvereinen als Institutionen „bürgerlicher Kunstvermittlung“ (ebd.) andererseits haben am Beispiel u.a. der „Deutschen allgemeinen und historischen Kunstausstellung“ von 1858 Karl-Siegbert Rehberg und Manuela Vergoossen untersucht: Nobilitierende Repräsentation und institutionelle Gleichheit. Historienbilder in Kunstvereinen des 19. Jahrhunderts als ‚Symbolisierungen’ bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen. In: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 537 hg. von Gert Melville. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 543–558, bes. S. 551–553.

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Schacks Gedicht kann in diesem Kontext als Beitrag zur Etablierung eines nationalen Bewusstseins gelesen werden. Dabei geht es offenbar nicht um historische oder politische Genauigkeit oder historische Richtigkeit, sondern um die lyrische Emphase dessen, was als ‚deutsch‘ empfunden wird. In der sechsten, der Musik gewidmeten Strophe wird ja neben Beethoven bewusst der Österreicher Mozart gestellt. Damit werden die heiklen Diskussionen um die – ohnehin schon entschiedene – politische Frage nach einer klein- oder großdeutschen Lösung gewissermaßen überspielt und ein ‚deutscher‘ Kulturkanon präsentiert, der nicht nach territorialen Grenzen oder politischen Zäsuren fragt. Die durch den historischen Blick auf die ‚deutsche‘ Dichtung, Musik und Malerei aufgerufene kulturelle Erinnerung wird als geistige Grundlage für die junge Nation deklariert und bezieht ihre Überzeugungskraft besonders aus der Abgrenzung gegen den französischen Nachbarn. Dem ereignisgeschichtlichen Faktum des militärischen Sieges über Frankreich wird in den Strophen acht und neun die kulturelle Überlegenheit an die Seite gestellt.51 Die künstlerischen Leistungen Frankreichs werden als „Tand“ (V. 30) qualifiziert, die als genuin deutsch interpretierte gotische Architektur der Dome in Köln und Straßburg indessen als Wunderwerke (V. 35) interpretiert. In Opposition zur zeitgenössischen, kunsthistorischen Forschung, die längst Frankreich und die Île-de-France als Geburtsstätte der gotischen Architektur erkannt hatte, wird hier der Anschluss an Goethes Prosa-Hymnus Von deutscher Baukunst (1773) gesucht, in dessen Folge die gotische Architektur als deutsche ‚Erfindung‘ gefeiert wurde.52 Historische und kunsthistorische Fakten werden also zugunsten der nationalen Emphase mit längst überholten Befunden überblendet, deren Gültigkeit aber nicht in Frage gestellt wird und deren Wert für das nationale Bewusstsein sich vor allem aus dem Vergleich mit der anderen Nation bemisst. Das Prinzip des Vergleichs als Wertmaßstab für die Beurteilung der eigenen Gegenwart zeigen auch die letzten beiden Strophen, die als Zukunftsvision eine Spätzeit des zuvor beschriebenen „Vaterlandes“ evozieren. Beachtlich ist, dass

|| 51 Zum Kontext anti-französischer Lyrik und mit Hinweisen auf repräsentative Gedichte vgl. Regina Hartmann: Von ‚Bruderkrieg‘, ‚Erbfeind‘ und der Reichsgründung in der Lyrik der Gartenlaube zwischen 1867 und 1871. In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Mit einer Auswahlbibliographie. Hg. von Klaus Mann und Karl Wagner. Wien, Köln, Weimar 1996 (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 36), S. 93–105. 52 Zur Stellung von Goethes Hymnus auf Erwin von Steinbach und die ‚deutsche‘ Gotik vgl. Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 81), bes. S. 121–159.

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Schack bei aller Überhöhung deutscher Geschichte und Kunst den Zustand des neu gegründeten Reiches als Kulturnation durchaus kritisch einschätzt. Zumindest räumt das lyrische Ich in den letzten beiden Strophen dieser Kulturnation nicht selbstverständlich eine ewige Dauer ein und bringt damit auch ein modernes historisches Denken zum Ausdruck, in dessen Überzeugung das Transitorische geschichtlicher Zustände und der Wandel der „Weltgeschichte“ (V. 46) die Grundlagen bilden. Dennoch dient auch diese Spätzeit-Phantasie der Nobilitierung deutscher Kunst und Kultur und erhebt diese auch über die politische Nation, worin sich die generelle, für die Frühzeit des jungen Kaiserreichs konstitutive Allianz von Politik und Kultur aber auch deren grundsätzliche Konkurrenz festmachen lassen.53 Denn im Vergleich des in ferne Zukunft verlegten Vaterlandes mit dem antiken Griechenland (V. 49), aus dessen Ruinen sich selbst die Größe jener Kulturnation noch ablesen lasse, sind es ausschließlich die in den Ruinen pars pro toto zusammengefassten kulturellen Leistungen, die der Nachwelt als sichtbares Zeichen einstiger Überlegenheit bleiben.

Die aufgezeigten Tendenzen der Nationalisierung von Literatur und Bildenden Künsten einerseits und deren Funktionalisierung zur Herausbildung und Festigung eines nationalen Bewusstseins andererseits, die wechselseitige Inanspruchnahme von Staat und Kunst sowie das Zusammenwirken der verschiedenen Kunstdisziplinen in der Gründer- und Kaiserzeit lassen sich exemplarisch an einem Gedicht von Hermann Lingg konkretisieren. Den öffentlichen Distributions- und Rezeptionsrahmen für das als Fest-Prolog zur Albrecht-Dürer-Feier titulierte Gedicht von 1871, das nach Kranz’ Kategorien als kumulatives, sich auf mehrere Werke bzw. auf das Gesamtwerk eines Künstlers beziehendes Bildgedicht,54 aber mehr noch als Malergedicht anzusprechen ist, bildet die vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ausgerichtete Feier zum 400. Geburtstag Albrecht Dürers, die am 21. Mai 1871 um 11 Uhr mit einem Vortrag des damaligen Direktors August Ottmar Ritter von Essenwein begann.55 Für die Frage

|| 53 Vgl. hierzu Udo Köster: Ideale Geschichtsdeutung und Mentalität der Gebildeten im Kaiserreich. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zur Literatur im Umbruch. Hg. von Robert Leroy und Eckart Pastor. Bern [u.a.] 1991, S. 95–126, bes. S. 95–104. 54 Kranz: Das Bildgedicht in Europa, 1973, S. 76f. 55 Zur Feier wurde eine Beschreibung des Ablaufes sowie eine knappe Erläuterung des Ausstellungskonzeptes publiziert, auf die Lingg in seinem Fest-Prolog bisweilen Bezug nimmt, vgl. die zur Feier des 400jährigen Geburtstages Albrecht Dürer’s im germanischen Museum veranstaltete Ausstellung. Nürnberg 1871, künftig als „Festbeschreibung, 1871“ abgekürzt; zum schon

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nach dem Umgang mit Werken der Bildenden Kunst im Medium der Lyrik bildet das Gedicht ebenso signifikante Anhaltspunkte wie für die Bedeutung von Kunstwerken im „Lebenshaushalt der Gründerzeit“ (Wilhelm Schlink).56

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Im Donner eines Niagarafalles Ertönt der Menschenruf wie Geisterlaut, Und in ereignißreicher Zeit ist Alles Bedeutungsvoll – da – gleichsam eingebaut – Wird jeder Tag als Denkstein angeschaut, Als Träger ihres mächt’gen Widerhalles, Und wenn die Heldengräber offen liegen, Dröhnt auch der Vorzeit Ernst, und jedesmal Sind ihr die großen Schatten auch entstiegen, Um deren Stirne glänzt der Götterstrahl. So wollen wir es nicht für Zufall halten, Für nur willkomm’ne Festgelegenheit, Daß von den altehrwürdigen Gestalten Der nunmehr auferstand’nen Kaiserzeit Als Erster Albrecht Dürer uns begegnet, In dieser Feier uns entgegentritt, Der von der deutschen Muse reich gesegnet, Als Erster neue Bahnen auch beschritt, Ja, daß es Dürer ist, der Mann gerade, Und seinen Werken zeigt, der rauh’ste Pfade Durchmaß, den Größten nahe und gleich. So zart und kräftig, innig mild im Herben, Im strengen Ernst so voller Freudigkeit, So sehn wir ihn im Sinnen und Erwerben, Im Schaffen und im Leben wie im Sterben, Ein reines Urbild deutscher Tüchtigkeit.

|| 1852 von Hans Freiherr von und zu Aufseß gegründete Germanische Nationalmuseum vgl. Hochreiter: Vom Musentempel zum Lernort, 1994, S. 64–66. 56 Gerade Bildgedichte der Gründerzeit sind von der älteren Forschung meist auf der Grundlage von Geschmacksfragen behandelt worden. Hellmut Rosenfeld gibt aber wenigstens einen Überblick zum Bestand von Bildgedichten in der Gründerzeit und weist auf wichtige Zusammenhänge hin. Seine Schlussfolgerungen, die auf eine sehr eindimensionale Beurteilung dieser Texte auf das „Marsch- und Trommelgepränge der Gründerzeit“ (S. 183f.) beschränken, sind freilich aus heutiger Sicht zu relativieren, vgl. Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht, 1935, S. 170– 202; die neuere Studie von Nicola Ettlin trägt zum Verständnis von Bildgedichten, zum Verhältnis von Literatur und Kunst in der Gründerzeit wenig bei, hier das Kapitel bei Nicola Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2010 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Arbeiten, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 714), bes. S. 216–240.

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Ein Dürer! Wer hat das nicht schon vernommen, Und wer mit Andacht nicht? Bewund’rung hält Und Ehrfurcht, frommer Schauer uns beklommen, Ein Zug, der selbst das starrste Herz befällt; Denn welche Wahrheit lebt in jedem Bilde, Der schlichten Einfalt lichtumgrenzte Welt! Ist’s nicht, als blickt’ ein güt’ger Sonnenschein In alles Menschenleid mit Engelsmilde, Versöhnend durch die Erdennacht herein? Geheiligt beinah weht es aus dem Saale, Der einen Dürer birgt, und ein Gemach, Das auch nur ein Bild von ihm hat, – im Strahle Des Morgenlichtes, wenn da nach und nach Der Vorhang vom Gemälde wird gezogen, Dann hebt ein Ach des Staunens jede Brust Und manchem Antlitz, selbst von Gram gebogen, Entringt sich eine Thräne herber Lust. Wer kennt nicht jene mächtigen Gestalten, Die vier Apostel, die in jedem Zug Die Würde tragen siegender Gewalten, Der Demuth Kraft, die Kreuz und Himmel trug! Das sind sie, ja, die eifrigen Verkünder Und Zeugen von der Welterlösung Wort, Die felsenstark-todtmuthigen Begründer Des Gottesreichs auf Erden! Seht, und dort Den Heiligen im Stillen seiner Zelle, So weltvergessen und vertieft allein In göttliche Geheimnisse – die Schwelle Der Ewigkeit sein ganz, sein einzig Sein! Wer hat der Schmerzen Schmerz nicht mitempfunden Im Mitgang auf dem Weg der Passion, Aufblickend zu dem Haupt voll Blut und Wunden, Zum dorngekrönten Gottessohn! – Fühlt und versenkt die Seele ganz nach innen, Zur Tiefe des Gemüthes in dem Mann, Der solch ergreifend Hohes auszusinnen Und zu verbildlichen vermocht, und dann In sein Jahrhundert blicket hin! – Mit Zinnen Und Warten liegt sie da in stolzem Bann Die alte Stadt, mit Giebeln, Erkerthürmen Und trauten Stuben: vor dem Thore mag Der Krieg im Reich um hohe Burgen stürmen, Am Fürstenhof glänzt Prunk und Friede, Hier waltet Ordnung, Emsigkeit und Friede, Da löthet feines Gold geübte Hand,

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Und Helm und Harnisch schafft die Waffenschmiede, Da schreibt der Kaufherr in entferntes Land, Das ihm die Waaren sendet, Saumross’ tragen Den Ballen schon hinauf, den Eishöhn nah: Die aber mitgehn, wissen viel zu sagen Vom Maler Dürer, denn sie bringen ja Ein Bild aus Welschland, das er dort gemalt. Er selbst indeß, der Meister sinnt zu Haus‘ Vor seiner Staffelei, und blickt hinaus Im Abendlicht, das auf die Dächer strahlt: Italiens denkt er und so mancher Nacht, Mit Freunden dort beim hellen Becherklange Im Kreise schöner Frauen zugebracht In Festlichkeit und fröhlichem Gesange; Voll Sehnsucht denkt er’s – denn oft allzukarg Und schwer umdüstert war sein äuß’res Leben: Gar oft vor ihm in Nebelwolken barg Die Sonne sich, es war ihm nicht gegeben, Den ganzen Reichthum seines Genius auch In frei’ster Fülle siegreich auszubreiten, Wie jene Glücklichen, die in dem Hauch Des Südens ihrer heitern Kunst sich weih’ten. Allein auch so durchbrach die harten Schranken Die Stärke seiner Willenskraft, und schlang Phantastisch und voll Anmut bunte Ranken Um Lied, Gebet und um den Heldensang. Welch edle Lebensfülle, Majestät Und Größe bietet sein Triumphzug dar! Vom stolzen Rosse bis zum Erzgeräth’ Der Wagen und der Waffen! Und die Schaar Von Fürsten, Rittern, Bannerträgern, Chören – Das wogt heran, man glaubt den Widerhall Vom Siegsschritt jener Kriegsmacht noch zu hören, Und „Heil dem Kaiser!“ tönt’s mit Donnerschall. Erneuern wir den Gruß! Aus alten Tagen Des Reiches, wie von Geistermund getragen; Und wie ein Klang von erz’nem Lorbeerblatt Winkt’s mahnend uns hervor. Welch‘ andre Stadt War’s mehr werth, daß sie diesen Gruß erneu’re, Als Dürers Vaterstadt, vor allem reich An Männern, deren Vorbild uns befeu’re Wie sie zu sein und ihrem Streben gleich! Erneuern wir den Gruß mit Herz und Hand, Und in den neuen Siegsruf stimmet ein:

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Heil sei dem Frieden und der Kunst Gedeihn, Und Heil dem ein’gen deutschen Vaterland!57

Der in dem oben zitierten Gedicht von Adolf Graf von Schack als „lichter Reigenführer“58 für die Bildende Kunst in Anspruch genommene Albrecht Dürer wird in Linggs Gedicht zum nationalen Heros erhoben, dessen Leben und Werk das ‚deutsche Wesen‘ (V. 20) verkörpere. Unterschiedliche Rezeptionsstränge Dürers seit dem späten 18. Jahrhundert als pictor doctus, romantisch-christlich inspirierter frommer Seelenmaler und als patriotische Identifikationsfigur schon bei den Feiern zum 300. Todestag 1828 in Nürnberg und Berlin greift Lingg auf und bezieht sie auf die Reichsgründung.59 Das Gedicht ist nicht strophisch gegliedert, sondern besteht aus acht unterschiedlich langen Versgruppen (10 – 17 – 17 – 16 – 19 – 15 – 12 – 12). Eine übergeordnete metrische Struktur bilden allerdings die regelmäßigen und durchgehenden jambischen Fünfheber jeder Versgruppe, die zum größten Teil Kreuzreime aufweisen. Der konkrete Anlass des Fest-Gedichtes wird in der Überschrift und der zweiten Versgruppe (V. 11–27) zwar thematisiert, gleichzeitig aber auch relativiert, indem die ja nur als Zufall zu betrachtende Koinzidenz von Reichsgründung und dem 400. Geburtstag von Albrecht Dürer als schicksalshafte und sinnfällige historische Konstellation gedeutet wird (V. 11–16). Das in der ersten Versgruppe entworfene Konzept der eigenen Gegenwart, deren Tage als „Denksteine“ (V. 5) bezeichnet werden, lässt sich freilich als ein historistisches Programm verstehen, das den Wert der Vergangenheit auf den ersten Blick höher veranschlagt (V. 8: „Vorzeit Ernst“) als die nur als „ereignisreich“ (V. 3) empfundene Gegenwart. || 57 Hier der Abdruck nach der Ausgabe Hermann Lingg: Schlußsteine. Neue Gedichte. Berlin 1878, S. 206–209. 58 Schack, Gesammelte Werke (Bd. 4), 1888, S. 172. 59 In der Doppelperspektive Dürer-Raffael-Verehrung in Deutschland untersucht das Thema aus kunsthistorischer Sicht Michael Thimann: Raffael und Dürer. Ursprung, Wachstum und Verschwinden einer Idee in der deutschen Romantik. In: Sterbliche Götter. Raffael und Dürer in der Kunst der deutschen Romantik. Hg. von Michael Thimann und Christine Hübner. Petersberg 2015, S. 8–41, zu den Dürer-Feiern seit 1817 in Rom und Nürnberg bes. S. 24–27. Speziell zur Dürer-Rezeption in der Literatur vgl. den Band mit Quellen-Ausschnitten und Kommentaren von Reinhard Heinritz (Hg.): Dürer und die Literatur. Bilder – Texte – Kommentare. Bamberg 2001 (Fußnoten zur Literatur, H. 49), zum späten 18. Jahrhundert bis zum Realismus, S. 44–112; Jörg Petzel: Ritter und Bürger oder einige Gedanken zur Dürer-Rezeption von Fouqué und E.T.A. Hoffmann. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 9 (2001), S. 81–90; hervorragend in Auswahl und Kommentar auch der Band von Heinz Lüdeke, Susanne Heiland (Hg.): Dürer und die Nachwelt. Urkunden, Briefe, Dichtungen und wissenschaftliche Betrachtungen aus vier Jahrhunderten. Berlin 1955 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie der Künste), hier bes. auch die Quellen zur Feier von 1828, S. 185–213, Kommentar S. 382–396.

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Von einer „Flucht in die Geschichte“, wie Renate Werner einige Gedichte von Hermann Lingg charakterisiert hat, kann im Falle des Fest-Prologes und mit Blick auf die mit der Nürnberg-Episode als rückwärtsgewandter Utopie der fünften Versgruppe zwar auch gesprochen werden.60 Linggs Fest-Prolog zur Dürer-Feier hat ja eine historische Künstlerpersönlichkeit und die mit ihr verbundene spätmittelalterliche Kaiserzeit zum Gegenstand. Doch wird die Vergangenheit schon in der ersten Versgruppe und besonders in der Proklamation „der nunmehr auferstand’nen Kaiserzeit“ (V. 14) als Kontinuum betrachtet, das für die Gegenwart unmittelbare Relevanz besitzt. Insofern ist Linggs Gedicht sowohl der historischen als auch der politischen Dichtung zuzurechnen. Die im Zusammenhang mit Lingg und anderen Dichtern immer wieder benutzte Formel des Historismus als übergreifende ‚Denkform‘ des 19. Jahrhunderts ist sicherlich zutreffend, sollte aber hier im Sinne Jürgen Osterhammels differenziert werden, der – im Bezug auf das gesamte 19. Jahrhundert – von einer Epoche „organisierter Erinnerung und zugleich gesteigerter Selbstbeobachtung“ spricht,61 was exemplarisch in Linggs Dürer-Gedicht zu beobachten ist.62 Insofern gehört der Text auch zu dem großen

|| 60 Vgl. Renate Werner: Flucht in die Geschichte. Ästhetischer Historismus in Gedichten von Hermann Lingg, Heinrich Leuthold und Conrad Ferdinand Meyer. In: Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuität? Vorträge des Symposions des Forum Vormärz-Forschung e.V. vom 19.– 21. November 1998 an der Universität Paderborn. Unter Mitarbeit von Tanja Coppola hg. von Norbert Otto Eke und Renate Werner. Bielefeld 2000 (Forum Vormärz-Forschung. Vormärz-Studien, V), S. 299–330; grundsätzlich sind die Befunde und Beobachtungen von Renate Werner zutreffend. Doch scheint mir der von ihr postulierte „Paradigmenwechsel“ von politischer zu historischer Lyrik in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gerade das politische Potential historischer Stoffe und Gegenstände zu sehr zu relativieren; zu Hermann Lingg ferner, aber mit dem Schwerpunkt auf gesellschaftliche Stellung und sein Selbstverständnis als Dichter der Beitrag von Rüdiger Görner: „Wer nicht leidet oder litt, verdient keine Liebe“. Über den Dichter Hermann von Lingg (1820–1905). In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 11–26. 61 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 5., durchgesehene Auflage. München 2010, S. 26. 62 Zur Genese und Bedeutung des Historismus-Begriff als Arbeitsbegriff auch für die Literaturwissenschaft vgl. zusammenfassend Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthard Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996, S. 36; ferner Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt am Main 1983 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 401), bes. Kap. 2.1 (Historismus), S. 51–53; Linggs Umgang mit der Antike im Rahmen seiner historischen Lyrik mit Blick auf Einzeltexte aber auch die Anlage von Linggs Gedichtbänden insgesamt hat Thorsten Fitzon untersucht und festgehalten, dass Linggs historische Gedichte „jeweils ein Wandlungskontinuum [beschreiben], das seinen Anfang in der Antike nimmt und bis in die Gegenwart reicht“, vgl. Thorsten Fitzon: Vom schönen Anfang der Geschichte. Antike-Imaginationen in der historischen Lyrik Hermann Linggs. In: Imagination

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Bestand von Dichtung zur Reichsgründung, mit dem Unterschied freilich, dass die nationale Einheit hier nicht im Rückgriff auf genuin politische Themen und Formeln literarisiert wird, sondern durch die Beschwörung einer deutschen Kulturnation und ihrer Repräsentanten verfestigt werden soll.63 Gleichwohl wird schon mit dem ersten Vers, der auf Max Schneckenburgers 1840 im Kontext der Rheinkrise verfasstes Gedicht Die Wacht am Rhein anspielt („Es braust ein Ruf wie Donnerhall“)64 anspielt, auch politische, deutsch-französische Geschichte thematisiert, die hier freilich, 1871, aus der Perspektive von Siegern betrachtet wird. Was im Folgenden vorgetragen wird, darf durch den intertextuellen Bezug zu Schneckenburger auch als ein für die gesamte Nation gültiges kulturelles Gedächtnis und gleichsam gemeinschaftsstiftendes Programm gelesen werden, wie auch Schneckenburgers Wacht am Rhein gerade um 1870 vielfach als Ersatz für eine Nationalhymne verstanden und gesungen wurde.65 Obgleich das Gedicht die künstlerische Qualität von Dürers Werken und auch bürgerliche Kunstbetrachtung behandelt, ist diese lyrische Auseinandersetzung mit dem deutschen Renaissance-Maler keine detaillierte, aus der Anschauung der ja im Rahmen der Feier in den Sälen des Museums ausgestellten Werke Dürers gewonnene kunsthistorische oder gar kunstkritische Betrachtung, sondern vielmehr die Synthese verschiedener Epitheta und kanonisierter Werke, auf deren nationalen Vorbildcharakter und Funktion sich ein bürgerliches Publikum verständigt hat und gleichzeitig mit dem Fest-Prolog eingeschworen werden soll.66 || und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Hg. von Ernst Osterkamp und Thorsten Valk. Berlin, Boston 2011 (Klassik & Moderne, Bd. 3), S. 237–257, hier S. 243. 63 Vgl. zur literarischen Auseinandersetzung mit der Reichsgründung Michael Derndarsky: Perspektiven der Reichsgründung. Die deutsche Frage und ihre Lösung durch Bismarck. In: Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Mit einer Auswahlbibliographie. Hg. von Klaus Mann und Karl Wagner. Wien, Köln, Weimar 1996 (Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 36), S. 13–29; in demselben Sammelband auch der Beitrag von Hartmann: Von ‚Bruderkrieg‘, Erbfeind‘ und der Reichsgründung in der Lyrik der Gartenlaube zwischen 1867 und 1871, 1996, S. 93–105. 64 Das Gedicht liegt in zahlreichen Varianten vor und wurde vor allem als Lied gesungen und rezipiert. Eine zeitgenössische Publikation von 1871 bietet einen Einblick in die Distributionsund Rezeptionsgeschichte, vgl. Georg Scherer (Hg.): Die Wacht am Rhein. Das deutsche Volksund Soldatenlied des Jahres 1870. Mit Portraits, Facsimiles, Musikbeilagen, Übersetzungen. Berlin 1871. 65 Vgl. hierzu knapp Hermann Kurzke: Hymnen und Lieder der Deutschen. Mainz 1990 (excerpta classica, Bd. 5), S. 74–76. 66 Das hier als Rezipient der Ausstellung und des Prologs von Lingg angenommene Bürgertum birgt als allgemeiner Begriff vor allem in der Kombination „bürgerliche Kultur“ teils kontroverse Diskussionen. Im Zusammenhang gerade mit ‚bürgerlichen‘ Institutionen wie dem Museum, dem Theater oder der Oper des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zu den Pendants solcher

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So wird in der zweiten Versgruppe ein Wir-Kollektiv konstituiert (V. 11), das die folgenden Werk-Epitheta als allgemein gültige und intersubjektiv nachvollziehbare Bewertungen von Dürers Kunst erscheinen lassen (V. 21–24), ohne zunächst ein konkretes Gemälde oder eine Druckarbeit zu nennen. Auch das in Vers 25 verwendete „So sehn wir ihn“ ist ohne konkreten Bezug etwa zu den im Rahmen der Festveranstaltung nebenan ausgestellten Werke Dürers zu verstehen, sondern als imaginäres, ‚inneres‘ Sehen, das dann aber in den folgenden Versgruppen konkrete Werkbezüge erhält.67 Innerhalb dieses Wir-Kollektivs integriert sich das lyrische Ich nicht einfach als einer unter vielen, sondern übernimmt die hervorgehobene Funktion eines Kunstführers, dessen suggestive Formulierungen die Richtigkeit der ja letztlich von ihm ausgewählten und dem Rezipienten vor das innere Auge gerufenen Dürer-Werke gleichzeitig garantieren sollen. Interessant im Hinblick auf die Signifikanz von Linggs Fest-Prolog für Bildund Malergedichte der Gründerzeit ist die Vorrangstellung der Biographie bzw. der Künstlerpersönlichkeit vor dem Werk. Die Inszenierung Dürers als Abbild des ‚deutschen Wesens‘ und „reines Urbild deutscher Tüchtigkeit“ (V. 27) reflektiert ein Dürer-Bild, das sich in der Zeit um die Reichsgründung weniger aus den von ihm geschaffenen Werken speiste als aus der Persönlichkeit des Künstlers, der in der Folge zum (deutschen) Künstler-Heros überhöht wurde, was Herman Grimm 1866 in seinem Dürer-Buch zusammenfasste:68 || Einrichtungen im Kontext des Hofes ist der letztlich soziologisch im Sinne von Klasse, Stand oder auch Schicht konnotierte Begriff für unseren Zusammenhang brauchbar. Zur Problematik und Forschungsdiskussion vgl. die Beiträge von Friedrich H. Tenbruck: Bürgerliche Kultur. In: Ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne. 2. Al. Opladen 1990, S. 251– 271; Tenbruck macht für die ‚Entstehung‘ der bürgerlichen Kultur vor allem die Genese eines allgemeinen Publikums geltend (S. 254–257); Hans-Ulrich Wehler: Wie „bürgerlich“ war das Deutsche Kaiserreich? In: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Hg. von Jürgen Kocka. Göttingen 1987 (Sammlung Vandenhoeck), S. 243–280; die (Forschungs-)Problematik fasst Wehler zusammen, indem er konstatiert, dass die bürgerliche Gesellschaft ein „sozialhistorisches Phänomen“ und „sozialtheoretisches Postulat“ sei (S. 258). 67 Vgl. die Festbeschreibung, 1871. Die katalogartige Abhandlung in der Nürnberger Festpublikation verzeichnet ausführlich und detailliert nur die Goldschmiedearbeiten aus dem Umfeld und der Zeit Dürers (S. 18–27) sowie Exponate aus dem Bereich Kunsthandwerk in der Rubrik „Sonstiges“ (S. 27–28). Von den großen Tafelbildern Dürers wird lediglich gesagt, dass zusammengetragen wurde, „was von Malereien sich noch in Nürnberg erhalten hat“ (S. 3) – die vier Apostel etwa aus der Münchner Alten Pinakothek waren nicht in der Ausstellung zu sehen. Hingegen waren offenbar alle im Gedicht genannten druckgraphischen Werke in Nürnberg ausgestellt (S. 7–9). 68 Zur Bedeutung Herman Grimms für die (Gattungs-)Geschichte des Essays und zum Konzept des ‚großen Mannes und Geistes‘, der – „über alle Missgunst erhaben“ (S. 349) – politisch-gesellschaftlich identitätsstiftend bezeichnenderweise aus dem kulturellen Sektor rekrutiert

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Durch Goethes Anteil kam Dürer nach langen Jahren dann in vollerer Größe zu allgemeiner Kenntnis. Goethe zuerst sah ab von den Werken des Künstlers und wies auch auf das Verehrungswürdige im Menschen hin. […] Dürer ist berühmt, ohne dem Volke im großen fast bekannt zu sein. Nur wenige besitzen einen Überblick seiner Tätigkeit. Die Photographie hat es möglich gemacht, den größten Teil seiner Arbeiten verhältnismäßig billig erwerben zu können. Die photolithographischen Nachbildungen der Passion und des Lebens der Maria zumal sind zu kaufen und dringen jetzt eigentlich erst ein, um zum zweitenmal ein Gefühl zu verbreiten dessen, was aus Dürers Arbeiten an Wahrheit und Innigkeit zu schöpfen ist. Soviel aber hat noch niemand für ihn getan: an irgendeiner Stelle die erreichbaren Nachbildungen seiner Werke zusammengestellt dem öffentlichen Gebrauch zu übergeben. Erst wenn das geschehen sein wird, wird man imstande sein, in wirklich fruchtbringender Weise von ihm zu reden. Denn die Werke müssen gesehen werden können, wenn ein Künstler begriffen werden soll. Und so liegt bei all unserer Verehrung für den Mann die volle Kenntnis seiner Größe noch in der Zukunft. Festhalten aber werden die immer müssen, die ihn lieben, daß sein höchster Wert in seiner Persönlichkeit liegt. Das Unscheinbare seiner Werke ist ein Teil ihrer Vortrefflichkeit, das fast Ereignislose seines äußeren Lebensganges eine der Bedingungen seiner Entwicklung gewesen. Die ihn nicht kennen, denen fehlt ein Teil Kenntnis unserer Geschichte; die ihn kennen aber, für die muß, wo Dürer genannt wird, sein Name einen Klang haben, als wenn gesagt wird: Deutschland, Vaterland.69

Diese Verbindung und Hierarchie von Künstlerpersönlichkeit und Werk schlägt sich auch in der für die Gründerzeit maßgeblichen Dürer-Biographie von Moritz Thausing sowie in zahlreichen Einzelstudien in der für kunstgeschichtliche Fragen und Themen einschlägigen Zeitschrift für Bildende Kunst nieder.70 Bis in die 1930er Jahre – hier mit völkischen und rassischen Konnotationen – umschreibt und markiert die Formel „Mensch und Künstler“ einen ausgesprochen

|| wurde vgl. Dirk Werle: Schleiermacher und die Anfänge der Theorie vom großen Mann. In: Größe. Zur Medien- und Konzeptschichte personaler Macht im langen 19. Jahrhundert. Hg. von Michael Gamper und Ingrid Kleeberg. Zürich 2015 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 34), S. 91–109, bes. S. 98ff.; ferner Michael Gamper: Ausstrahlung und Einbildung. Der ‚große Mann‘ im 19. Jahrhundert. In: Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Hg. von Jesko Reiling und Carsten Rohde. Bielefeld 2011, S. 173–199, hier bes. S. 179ff.; Ders.: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas. Göttingen 2016, hier S. 281–284 69 Herman Grimm: Albrecht Dürer. Berlin 1866 (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, Heft 16), S. 45f. 70 Vgl. Moritz Thausing: Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst. Leipzig 1876; die Dürer-Beiträge in der Zeitschrift für Bildende Kunst vermitteln einen Eindruck, wie rege das Interesse an Dürers Kunst, Lebensumständen und Epoche im Umfeld der Reichsgründung und der gesamten Gründerzeit gewesen ist, exemplarisch sei verwiesen auf den Beitrag von Moritz Thausing: Dürer’s Hausfrau. Ein kritischer Beitrag zur Biographie des Künstlers. In: Zeitschrift für Bildende Kunst 4 (1869), S. 77–86; Gustav Friedrich Waagen: Albrecht Dürer in Venedig. In Zeitschrift für Bildende Kunst 1 (1866), S. 112–116.

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konstanten Zugang zu Dürer und wird auch zum 400. Todestag 1928 in der Festrede des damaligen außerordentlichen Professors für Kunstgeschichte in Erlangen, Friedrich Haack, verwendet.71 Tatsächlich finden sich auch nach der Gründerzeit zahlreiche Gedichte etwa von Detlev von Liliencron oder Peter Hille zu Arnold Böcklin, die sich kumulativ auf mehrere Werke beziehen oder sich mit einem Künstlergeburtstag oder Jahrestag als anlassbezogene Gedichte präsentieren. Doch tritt gerade in den literarischen Strömungen der Moderne(n) um 1900 die Auseinandersetzung zahlreicher Dichter mit Einzelwerken verschiedener Künstler deutlich stärker in den Vordergrund. Umgekehrt finden sich durchaus auch Gründerzeitautoren, die sich mit ihren Gedichten auf Einzelwerke beziehen, wie noch im Kapitel zu den antiken Plastiken (II., 4.) und zu Michelangelo (II., 5.) zu zeigen sein wird. Für das Verständnis der gründerzeitlichen Auseinandersetzung mit Werken der Bildenden Kunst im Medium der Lyrik kommt dennoch kumulativen bzw. an den Maler und sein Werk als Ganzes gerichteten Gedichten wie dem von Lingg eine herausragende Bedeutung zu. In ihnen kommt sowohl ein ‚Heroenkult‘, wie er von Herman Grimm mit seinen Monographien bedeutender Persönlichkeiten nicht nur aus dem Bereich der Bildenden Kunst betrieben wurde, als auch das „Verehrungsbedürfnis“ der Gründerzeit zum Ausdruck, das sich gleichzeitig auch als Selbstvergewisserung der bürgerlichen gebildeten Klasse auffassen lässt und in der Konzentration auf Männer aus dem kulturellen Bereich auch die Anschlussfähigkeit an Konzepte des ‚großen Mannes‘ oder ‚großen Geistes‘ im 19. Jahrhundert markiert.72

|| 71 Vgl. Friedrich Haack: Albrecht Dürer der Mensch und der Künstler. In: Albrecht Dürer der Mensch und der Künstler von Universitätsprofessor Dr. Friedrich Haack / Dürers Christusidee von Universitätsprofessor Dr. Hans Preuß. Reden gehalten bei der Dürerfeier der Universität am 24. Juni 1928. Erlangen 1928, S. 3–24, hier S. 12: „Der Ruhm, der Dürer also schon zu Lebzeiten so reichlich zuteil wurde, und der nicht nur seiner Kunst, sondern auch seiner ganzen Persönlichkeit galt, blieb ihm über den Tod hinaus getreu.“ 72 Zu diesem Komplex vgl. immer noch Richard Hamann und Jost Hermand: Gründerzeit. München 1971 (Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 1), Zitat S. 43, bes. auch das Kapitel „Die großen Einzelnen und der neue Staat“, ab S. 156; zu Herman Grimm und der Bedeutung seiner Monographien u.a. zu Dürer, Raffael, Michelangelo, Goethe und anderen Biographen vgl. Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, Kapitel 3 (Macht und Geist. Die politische Biographik im Dienste Preussens), bes. auch S. 92–94; zur begrifflichen und konzeptionellen Unterscheidung der Begriffe ‚großer Mann‘, ‚großer Geist‘, ‚Held‘ und ‚Heros‘ und ihrer Implikationen vgl. auch Dirk Werle: Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750– 1930). Frankfurt am Main 2014 (Das Abendland, NF 38), bes. S. 414–422; ferner auch Werle: Schleiermacher und die Anfänge der Theorie vom ‚großen Mann‘, 2015, S. 98f.

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In Linggs Gedicht wird die sakrale Aura von Dürers Werken in der dritten Versgruppe durch die gehäufte Verwendung von Begriffen aus dem semantischen Feld des Religiösen noch gesteigert: „Andacht“ (V. 29), „frommer Schauer“ (V. 30), „Geheiligt“ (V. 37). Nicht nur die die Versgruppe eröffnende rhetorische Frage (V. 28–29) kehrt in der vierten Versgruppe wieder. Strukturell bilden die beiden Abschnitte auch insofern eine Einheit, als hier die Werke Dürers im Mittelpunkt stehen. Gerade diese beiden Versgruppen machen deutlich, welche Anliegen Bild- und Malergedichte in der Gründerzeit mit welchen Textstrategien verfolgen. Eine Verweistechnik, die mit dem Nennen von formelhaften Phrasen, die wie ein Code zwischen Redner und Publikum funktionieren, auskommt („Ein Dürer“, V. 28), rechnet offenbar nicht mit einem Publikum, das, obgleich mitten in einer Dürer-Ausstellung, eine Literarisierung oder gar Beschreibung der ausgestellten Gemälde und Druckgraphiken wünscht. Linggs Bild- bzw. Malergedicht ist nicht für „Augenmenschen“ gedacht, sondern ruft ein durch die Literatur, Kunstzeitschriften und populäre Darstellungen der Kunstgeschichte tradiertes allgemeines Wissen ab, das keinen direkten Bezug zu einem Einzelwerk braucht, sich in der Formel „Ein Dürer“ (V. 28) verdichtet und damit auf das Bildungsbürgertum als angesprochenes Publikum verweist.73 Betrachtet man die Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst in der noch jungen Kunstgeschichte als Universitätsdisziplin, so erscheint Linggs Umgang mit Dürers Werken bewusst unakademisch.74 In der Mischung von präsentiertem, durchaus nachprüfbarem Faktenwissen, Handlungsanweisungen an die Rezipienten und persönlichen Überzeugungen des Autors, die im ausgewählten, dem lyrischen Ich in den Mund gelegten Werkkanon Dürers zum Ausdruck kommen, rückt Linggs Festprolog zumindest strukturell in die Nähe der von Horst Thomé für den Prosa-Bereich des späten 19. Jahrhunderts beschriebenen || 73 Vgl. die hervorragende Studie von Wilhelm Schlink, die dieser selbst nur als Vorüberlegungen charakterisiert: Schlink: Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit, 1992, S. 65–81; prägnant zur Frage der Kunstbetrachtung S. 67f.: „Das Bildungsbürgertum des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts ist kein Augenpublikum, sondern ein literarisch verbildetes, das seine Unfähigkeit zur Beurteilung sinnlicher Phänomene verbirgt, indem es den vorformulierten Inhalt der Kunstzeitschriften der Ausstellungsrezensionen und der kunstgeschichtlichen Handbücher sich zu eigen macht.“ 74 Vgl. Schlink: Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit, 1992, S. 68–70; spätere, einflussreiche Beispiele für Kunstgeschichtsdarstellungen, die zwar aus dem akademischen Bereich hervorgegangen sind, aber gerade jene bei Lingg aufgegriffenen Bewertungsmuster weiterschreiben sind die ausgesprochen populären und erfolgreichen Schriften von Wilhelm Lübke: Geschichte der Deutschen Kunst von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart. Stuttgart 1890, zu Dürer S. 602–635; H.[ermann] Knackfuß: Deutsche Kunstgeschichte. Bd. 1. Bielefeld, Leipzig 1888, zu Dürer S. 513–561.

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Weltanschauungsliteratur.75 Besonders das in seiner Funktion für das angesprochene Wir-Kollektiv hervorgehobene lyrische Ich als „priveligierter Beobachter“ und dessen Stellung zum vorgetragenen Gegenstand und zu den Rezipienten unterstreichen diesen Befund. Rhetorisch zielen die Anspielungen auf die bekanntesten und am meisten rezipierten Werke Dürers der vierten Versgruppe auf die affektive Beteiligung der Zuhörer bzw. Leser, indem in der fünften Versgruppe in imperativischer Form zur inneren Anschauung aufgerufen wird, die wiederum die Künstlerpersönlichkeit und die Lebensumstände in Erinnerung ruft.76 Im Verweis auf die letzten beiden Ölbilder Dürers Die vier Apostel von 1526 (V. 45–52), auf den Kupferstich Hieronymus im Gehäuse von 1514 aus der Reihe der sogenannten Meisterstiche (V. 52–56) sowie auf die Holzschnittfolge der Großen Passion von 1497/9877 (V. 57–60) wird einerseits eine imaginäre Ausstellung zu der den konkreten Anlass des Gedichtes bildenden Jubiläumsausstellung konstruiert – die Tafeln mit den vier Aposteln befanden sich ja in der Münchner Alten Pinakothek (Abb. 5).

Abb. 5: Albrecht Dürer: Die vier Apostel (1526)

|| 75 Vgl. Horst Thomé: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, Zitat S. 353, zu den aufgestellten Merkmalen dieses Typus’ bes. auch S. 338 u. 359. 76 Zum Überblick der am meisten rezipierten Werke vgl. Heinritz, Dürer und die Literatur, 2001. 77 Grundlegend zu den Druckwerken die Artikel Nr. 70 bzw. 161. In: Rainer Schoch, Matthias Mende, Anna Scherbaum (Hg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Hier Bd. 1: Kupferstiche, Eisenradierungen und Kaltnadelblätter. München 2001, S. 174–178 (Hieronymus) bzw. Dies. (Hg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Hier Bd. 2: Holzschnitte. München 2001, S. 200–202 (Passion).

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Andererseits aber stellt das deiktische „Seht“ (V. 52) auch den Zusammenhang zur Nürnberger Ausstellung her, der sich überdies auch noch in der Auswahl der hier thematisierten Werke widerspiegelt. Nicht zufällig werden gerade Beispiele für unterschiedliche künstlerische Techniken – Ölmalerei, Kupferstich, Holzschnitt – gewählt, in denen sich, wie auch in der Publikation zur Jubiläumsfeier vielfach konstatiert, Dürers Meisterschaft und Universalität noch einmal und nachdrücklicher manifestiert.78 Der von Lingg hier aufgegriffene und in nationaler Emphase überhöhte Katalog von Meisterwerken ist für das Fortleben der nationalistisch-völkischen Dürer-Rezeption von besonderem Interesse, weil gerade die von Lingg genannten Werke über ein halbes Jahrhundert später bei der schon angesprochenen Feier zum 400. Todestag 1928 besonders hervorgehoben werden. So wie in der Rede des Erlanger Kunsthistorikers Friedrich Haack: Aber weit, weit darüber hinaus steht zu hoffen und zu erwarten, daß ein belebender Strom echten und besten deutschen Geistes unser in letzter Zeit auf allen Gebieten und nicht zuletzt auf dem des Geistes überfremdetes und schmählich entdeutschtes Vaterland neu befruchten möge. Dürers deutsche Größe hat sich vielleicht nie bedeutsamer geäußert als in den drei sogenannten Meisterstichen, die er auf der Höhe seines Lebens mit 42, 43 Jahren schuf, und in seinem letzten großen Werke, den Vier Aposteln. Rein bildkünstlerisch genommen, hervorragende Meisterwerke, zugleich aber auch von tiefstem geistigem und sittlichem Gehalt. Der heilige Hieronymus, eine unübertreffliche Verherrlichung deutscher Stubenheimlichkeit und deutscher Arbeitsglückseligkeit. […] Die Vier Apostel aber, nicht nur Dürers Schwanengesang, sondern geistig und künstlerisch geradezu das Gesamtergebnis seines Lebens und Strebens, reich an Schönheit der Farbe, voll von Gedanken, gipfeln in der unerhört gewaltigen Erscheinung des Apostel Paulus mit dem bloßen Schwerte, dem Sinnbild des deutschen Mannes, der nicht nur geistesgewaltig, sondern auch für seine Überzeugung jederzeit zu kämpfen und zu sterben bereit ist.79

Die in der Nürnberger Festpublikation als Ziel der Ausstellung angestrebte Verbindung von „Genuß und Unterricht“80 wird auch von Lingg in der fünften Versgruppe umgesetzt. Neben der mit Dürers Werken verbundenen sinnlichen Wirkung (V. 61–64) bilden die in der vorangegangenen Versgruppe evozierten Meisterwerke Dürers den Ausgangspunkt und Anlass für eine lehrhafte kulturgeschichtliche Betrachtung und Kontextualisierung, die in der lyrischen Vergegenwärtigung des alten Nürnberg gipfelt (V. 65–79). Die laus urbis auf die DürerStadt dient dabei nicht nur der Historisierung Dürers und seines städtischen Lebensumfeldes, sondern stellt auch eine Aktualisierung bürgerlicher Werte wie

|| 78 Vgl. Festbeschreibung, 1871. 79 Friedrich Haack, Albrecht Dürer, 1928, S. 13f. 80 Festbeschreibung, 1871, S. 3.

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„Ordnung, Emsigkeit und Friede“ (V. 70) und einer idealtypischen Gesellschaftsordnung aus Adel, Kaufleuten und Handwerkern (V. 72–76) dar, die auf Dürers Jahrhundert übertragen gleichwohl auch Geltung für den Wertehorizont der Gründerzeit beanspruchen darf und als rückwärtsgewandte Utopie angesprochen werden kann. Für die Funktionalisierung der Dürer-Feier zur nationalen Identitätsstiftung im neu gegründeten Reich leistet das Gedicht von Lingg gerade mit der Literarisierung Nürnbergs einen entscheidenden Beitrag. Wie Wolfgang Hardtwig herausstellt, sind die „Wechselbeziehungen zwischen lokaler, regionaler und nationaler Identität für die Geschichte des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert“81 von zentraler Bedeutung. Wenn nun in Linggs Fest-Prolog nicht nur Dürer als nationaler Heros und Vorbildfigur gefeiert, sondern auch seine Heimatstadt Nürnberg gewürdigt und gleichzeitig der Zusammenhang mit dem neu gegründeten Reich hergestellt wird (V. 110–118), manifestiert sich darin die Verschmelzung von „Nationalität und Stadtbürgerlichkeit“, indem „auf dem Wege über die Erinnerungen der Beitrag zu nationaler Geschichte und Kultur in die Stadt hereingeholt oder – umgekehrt formuliert – indem die lokale Geschichte national interpretiert wurde“.82 Mit den Feiern und Denkmälern für Albrecht Dürer und Hans Sachs kann Nürnberg als charakteristisches Beispiel im 19. Jahrhundert und besonders für die Zeit um die Reichsgründung gelten, in dem sich städtisch-lokale bzw. territoriale Identität und nationale Zugehörigkeit und Emphase verbinden.83 Nur drei Jahre vor der Reichsgründung kam im Juni 1868 im Münchner Nationaltheater Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg zur Uraufführung, die den in der Romantik begründeten Nürnberg-Mythos wiederbelebte und bediente.84 Wie schon bei der Bewertung der gotischen Dome von

|| 81 Wolfgang Hardtwig: Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters [1997]. Göttingen 2005 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 169), S. 240–268, Zitat S. 266. 82 Ebd., S. 264f. 83 Zu Nürnberg vgl. Hardtwig, Nation – Region – Stadt, 2005, S. 261–265; ein Dürer-Denkmal wurde bereits 1828 ins Leben gerufen, 1840 dann feierlich eingeweiht. Das Denkmal für Hans Sachs wurde erst nach der Reichsgründung, 1874 fertiggestellt; zu Hans Sachs vgl. auch Alexander Schmidt: „Wo Hans Sachs gesungen hat“. Zum Hans-Sachs-Gendenken in Nürnberg im 19. und 20. Jahrhundert. In: Hans Sachs im Schnittpunkt von Antike und Neuzeit. Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. September 1994 in Nürnberg. Hg. von Stephan Füssel. Nürnberg 1995 (Pirckheimer-Jahrbuch, 10), S. 157–187. 84 Zur langen Entstehungsgeschichte, Konzeption und Wirkung von Wagners Oper vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee – Dichtung – Wirkung. Stuttgart 1982, bes. S. 206–230; ferner auch Horst Brunner: Spießbürgerschaft und produktiver Volksgeist. Gervinus

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Köln und Straßburg als genuin deutsche Baukunst sucht Lingg auch mit Nürnberg den Anschluss an das frühe 19. Jahrhundert und dessen romantischen Nürnberg-Kult, der über Wagner vermittelt bis in die Gründerzeit die fränkische Stadt als Idealbild und Projektionsfläche eines deutschen Bewusstseins tradierte.

Abb. 6: Albrecht Dürer: Der große Triumphwagen, Holzschnit (1520/1522)

Dürers als Federzeichnung und Monumentalholzschnitt vorliegender Grosse Triumphwagen von 1518 bzw. 1520/1522 (Abb. 6 und 7) ist Gegenstand der letzten beiden Versgruppen 7 und 8.85 Es handelt sich um das einzige Werk Dürers, auf das im Gedicht ausführlicher im Sinne einer literarischen Beschreibung des Dargestellten eingegangen wird, wobei diese mit der stichtwortartigen Nennung nur der augenfälligsten Teilnehmer (V. 103: „Fürsten, Rittern, Bannerträgern, Chören“) und Gegenstände (V. 101–102: „Erzgeräth‘ / Der Wagen und der Waffen“) des Holzschnittes auskommt. Ergänzt werden diese deskriptiven Verse um die Erzählung dessen, was nicht zu sehen ist, sondern zu hören sein soll, so dass von einer multimedialen Inszenierung gesprochen werden kann, indem das literarisierte Kunstwerk noch um die akustische Dimension zumindest imaginär ergänzt wird:86 „Das wogt heran, man glaubt den Widerhall / Vom Siegesschritt jener

|| und die Entstehung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. In: Germanistik in Ireland 3 (2008), S. 59–70. 85 Vgl. zur Entstehung und Ikonographie des Holzschnittes grundlegend Katalognummer 257 in: Rainer Schoch, Matthias Mende, Anna Scherbaum (Hg.): Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Hier Bd. 2: Holzschnitte. München 2001, S. 470–483. 86 Hier nach Jürgen E. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Hg. von Jörg Helbig. Berlin 1998, S. 31–40, hier S. 31: „Ein mediales Produkt wird dann inter-medial, wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.“

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Kriegsmacht noch zu hören, / Und ‚Heil dem Kaiser!‘ tönt’s mit Donnerhall“ (V. 104–106). Der „neue Siegsruf“ (V. 116–118), in den einzustimmen der Sprecher das Publikum auffordert, ist mit seinen drei apostrophierten Benefizienten (Friede, Kunst, deutsches Vaterland) eine quantitative und auch qualitative Steigerung des auf den Holzschnitt bezogenen Huldigungsrufes „Heil dem Kaiser“ (V. 107) und stellt eine Übernahme der unterstellten Bildhandlung in den realen gründerzeitlichen Raum- und Zeitkontext des Fest-Prologes dar. Das literarisierte Kunstwerk gewinnt dabei neben seinem historischen und ästhetischen Wert eine ganz konkrete gesellschaftliche Funktion für die Gegenwart.

Abb. 7: Albrecht Dürer: Der große Triumphwagen, Federzeichnung (1518)

Völlig ohne den Bezug zu Einzelwerken kommt ein weiteres Dedikationsgedicht zu Dürers 400. Geburtstag des 1839 in Speyer geborenen, unter dem Pseudonym Martin Greif schreibenden Friedrich Hermann Frey aus. Noch unter seinem bürgerlichen Namen erschien 1868 ein Gedichtband bei Cotta in Stuttgart, der in weiteren Auflagen nach der Reichsgründung kontinuierlich um patriotische Lyrik vermehrt wurde, der sich Greif neben seiner Dramenproduktion zunehmend widmete.87 Das aus vier Strophen bestehende Gedicht Zur Geburtsfeier Albrecht Dürers (1871) zeichnet sich in erster Linie durch seinen apostrophierenden Gestus aus. Pronomina, die die direkte Anrede Dürers markieren, kommen in jeder Strophe zwischen drei und fünf Mal vor:

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Deutscher Kunst erhab’ner Meister, Dein Vermächtnis wird nicht alt. Noch bewegst Du alle Geister Wie mit Jugend-Allgewalt. Deines Volkes Wunderleben

|| 87 Zu Leben und Werk des seinerzeit erfolgreichen, heute aber kaum mehr bekannten Martin Greif vgl. den Beitrag von Wolfgang Johannes Bekh: Ich steh im Schatten meiner Zeit. Martin Greif (1839–1911). In: Ders.: Dichter der Heimat. Zehn Porträts aus Bayern und Österreich. Regensburg 1984, S. 31–48.

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Quoll aus deiner Hand hervor, Durch ein grenzenloses Streben Stieg es höher noch hervor.

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Ohne Schmuck und fremde Zierde Giebst du ganz das Eigne nur Und mit fröhlicher Begierde Endlich selber die Natur. Wie sie sich dir offenbaren, Stellst Du alle Dinge dar: Engel- oder Teufelscharen, Alle malst Du treu und wahr. Aber all dein sich’res Können Hat dir nie die Glut geraubt, Denn der Deutsche will bekennen, Was er fühlt und was er glaubt. Mit dem Pinsel, mit der Feder Gleich vertraut und gleich geschickt, Hat doch deiner Tage jeder Dich urmächtig neu erblickt. Deiner Arbeit war kein Ende, Wie du dir das Ziel gestellt, Und die Werke deiner Hände Sind bestaunt in aller Welt. Schon das hohe Künstlerzeichen Weckt uns Stolz und Rührung auf: Keiner wagt dich zu erreichen Jemals in der Zeiten Lauf.88

Wie bei Lingg werden auch hier Leben und Werk Dürers in Zusammenhang mit der Entwicklung der deutschen Kulturgeschichte gedeutet, an deren positiv interpretiertem Verlauf dem Künstler selbst ein großer Anteil zugesprochen wird (V. 7–8). Dürer wird hier nicht in erster Linie zum Volkskünstler gemacht, sondern, umgekehrt, das deutsche Volk zum Volk Dürers (V. 5). Seinen nationalen Impetus gewinnt das Gedicht neben der Überhöhung Dürers zum deutschesten Künstler auch durch seinen intertextuellen Bezug zur national-patriotischen Dichtung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die von Greif gewählte Form mit je acht Versen pro Strophe, die trochäische Vierheber, doppelten Kreuzreim und abwechselnd weibliche und männliche Kadenzen aufweisen und an die || 88 Hier das Gedicht nach der Ausgabe: Martin Greif: Gesammelte Werke. Erster Band: Gedichte. Sechste, reich vermehrte Auflage. Leipzig 1895, S. 313–314.

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spanische Romanzenstrophe gemahnen, ist identisch mit dem Lied der Deutschen (1841) von Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Inhalt und Form bilden ebenso eine Einheit und suggerieren durch die strukturelle Intertextualität eine historische Kontinuität nationaler Dichtung seit dem Vormärz.89 Das Gedicht, in dem, anders als bei Hermann Lingg, explizit die Symbiose vom vorbildhaften deutschen Maler Dürer und dem deutschen Volk thematisiert wird, kann gleichzeitig durch seine Form auch als Nationalhymne gesungen werden. Neben der Instrumentalisierung Dürers zur nationalen Identifikationsfigur kommt in der zweiten Strophe noch die aus der Werkcharakterisierung ableitbare ästhetische Vorbildfunktion hinzu. Dürers Kunst wird als deutsche OriginalKunst charakterisiert (V. 9), was freilich auch als Seitenhieb auf die seit dem Tode Friedrich Overbecks 1869 an Dominanz verlierende Nazarener-Schule zu lesen ist, die von einer vor allem mit Adolph von Menzel verbundenen realistischen Malerei abgelöst wurde.90 Die Beschreibung von Dürers Kunst, die sich die Natur bzw. Realität zum Vorbild und Ausgangspunkt nehme, enthält im Kern mit der Umschreibung „treu und wahr“ (V. 16) auch den Bestand älterer und zeitgenössischer literarästhetischer Programmschriften des Realismus etwa von Julian Schmidt, Theodor Fontane und Karl Hillebrand, in denen zugleich die Orientierung an der Natur und die Versöhnung der Realität mit einer künstlerischen Idealisierung gefordert wurde.91 Dieselbe Thematik der Versöhnung von Realismus und Idealismus, der Bedeutung von Künstler-Subjekt und Kunstwerk, wie es sich bei Greif findet, lässt sich repräsentativ und programmatisch auch im zweiten Brief von Karl Hillebrands Zwölf Briefen eines ästhetischen Ketzers (1874) zeigen, in denen Hillebrand auch immer wieder Ausblicke auf Bildende Künstler und den Zustand der gegenwärtigen Kunst öffnet: Eine Kunst, die nicht realistisch wäre, d.h. nicht von der Wirklichkeit ausginge, oder gar mit der Wirklichkeit im Streite läge, ist geradezu undenkbar. Selbst Frau [sic!] Angelico, der Spiritualist, ist ein ächter Realist, wenn er die naivsten Attituden aus dem Leben greift und wenn er gegen die Wirklichkeit sündigte, indem er seinen Engelsköpfen Ohren malte, mit denen sie, zum Leben erweckt, nicht hören, Augen, mit denen sie nicht sehen könnten, so

|| 89 Vgl. Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Manfred Pfister, Ulrich Broich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, 35), S. 31–47. 90 Vgl. Schlink: Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit, 1992, S. 66f. 91 Repräsentativ die in Gerhard Plumpes Sammlung zusammengestellten Auszüge aus zentralen Schriften, Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Bibliographisch ergänzte Aufl. Stuttgart 2001 (RUB, 8277), hier bes. Julian Schmidt: Die Reaktion in der deutschen Poesie [1851], S. 91–99; Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 [1853], S. 140–148.

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hälfe ihm kein noch so idealer Ausdruck, seine Engelsköpfe wären nicht künstlerisch, wie die Meisten seiner Heiligengestalten, die weder zu gehen noch zu sitzen vermöchten, wenn sie ins Dasein gerufen würden, nicht künstlerisch sind. Wiederum, eine Kunst, die nicht idealistisch wäre, würde aufhören, eine Kunst zu sein, denn das Ideal ist ja der Kunstbegriff selber. Wenn ein Kunstwerk nicht zugleich die volle Individualität des Gegenstandes und die platonisch Idee desselben, vor allem, wenn es nicht zugleich die Individualität des Künstlers und die Idee des Künstlers selber vor Augen des Beschauenden heraufzaubert, so ist’s kein wahres Kunstwerk. […] Ueberhaupt kann eben nur von einem Mehr oder Minder des Idealismus und Realismus die Rede sein, nicht von einer Trennung der beiden, wie denn auch das vollendetste Kunstwerk immer das sein wird, wo beide sich ganz entsprechen […]. In jedem wahren Kunstwerke ist der Künstlerganz, subjectiv und objectiv, reell und ideell zugleich […].92

Die überzeitliche Geltung von Dürers Kunst und seines Lebens im Sinne einer nationalen Orientierungspersönlichkeit findet sich als grundlegende Aussage sowohl bei Hermann Lingg als auch bei Martin Greif (V. 1–2: „Deutscher Kunst erhab’ner Meister, / Dein Vermächtnis wird nicht alt“). Dahinter verbirgt sich auch ein Konzept der (nationalen) Erziehung durch Kunst, als deren Instrument unter anderem solche anlassbezogenen Malergedichte wie jene von Lingg und Greif fungieren können. Sie stehen im Dienste einer Kunst- und Ideologievermittlung und lassen sich nur vor dem Hintergrund verstehen, dass auch die Kunst als Lehrmeisterin verstanden wird, dass auch herausragende Künstlerpersönlichkeiten von nationalem politischem Interesse sein können. Populäre kunsthistorische bzw. kunstreflexive Publikationen wie die allein 1894 in drei Auflagen erschienene Schrift Was uns die Kunstgeschichte lehrt des in Heidelberg habilitierten, damaligen Direktors der Sächsischen Gemäldegalerie in Dresden, Karl Woermann, kann hierfür als eingängiges Beispiel gelten.93 Beachtlich ist die ungebrochene Kontinuität von Dürers Popularität bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dürers Stellung und Bedeutung im Kontext der Volksbildung und Volkskunstbewegung, im Rahmen von Ferdinand Avenarius’ Zeitschrift Der Kunstwart (1887) und dem 1902 gegründeten, rasch über 300 000 Mitglieder zählenden Dürer-Bundes94 sowie völkischen Vereinnahmungen bei Julius Langbehn und Benedikt

|| 92 [Karl Hillebrand]: Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers. Berlin 1874, S. 9–24, hier S. 14f. 93 Vgl. Karl Woermann: Was uns die Kunstgeschichte lehrt. Einige Bemerkungen über alte, neue und neueste Malerei. Dritte, verbesserte Auflage. Dresden 1894, hier bes. die Kapitel 8–10 (S. 69–96: Das Volkstum in der älteren deutschen Kunst – Milderungen des Nationalitätsprinzips – Die zeitliche Bedingtheit der Kunst). 94 Grundlegend zu Avenarius, seiner Zeitschrift und dem Dürer-Bund immer noch Gerhard Kratzsch: Kunstwart und Dürerbund. Ein Beitrag zur Geschichte der Gebildeten im Zeitalter des Imperialismus. Göttingen 1969, ausführliche Zahlen, Fakten und Mitglieder zum Dürer-Bund S. 336–363; in der Ausgabe 12,6 von 1898 wird Dürer als der „allerdeutscheste Künstler“ gefeiert;

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Momme Nissen mit ihrem Bestseller Dürer als Führer (1904/1928)95 bilden die historische Fluchtperspektive der bei Lingg und Greif national-patriotisch interpretierten Dürer-Gestalt. Das von Lingg und Greif in ihren Dürer-Gedichten für eine rückwärtsgewandte, gleichsam auf die Gegenwart bezogene Utopie funktionalisierte Nürnberg nutzt der vor allem für seine späteren völkischen, kriegsverherrlichenden und auch Hitler feiernden Dichtungen bekannte Karlsruher Lyriker Heinrich Vierordt (1888–1945) als Ausgangsort für eine Zukunftsvision.96 In seinem Gedicht Am Tugendbrunnen (1889) auf den noch heute in situ befindlichen, 1589 von Benedikt Wurzelbauer vollendeten Tugendbrunnen in Nürnberg verbindet Vierordt eine aus der präzisen Anschauung des Bronzewerks gewonnene Beschreibung mit der ideologischen Funktionalisierung der am Brunnen dargestellten Frauenfiguren. Das Gedicht besteht aus vier unterschiedlich langen, reimlosen Versgruppen, von denen die ersten beiden eine – allerdings nicht ins Detail gehende – Beschreibung des Brunnens liefern (V. 1–14), von der aus sich die Beobachtung des lyrischen Ichs in der dritten, mit 14 Versen längsten Gruppe auf die den Brunnen umspielenden Mädchen verlagert (V. 15–28). Abgeschlossen wird das Gedicht mit einer Reflexion des lyrischen Ichs, die einerseits den Zusammenhang zwischen dem betrachtetem Kunstwerk und der geschilderten Nürnberger Alltagswirklichkeit herstellt und andererseits die ideologische Stoßrichtung des Gedichts und den weltanschaulichen, biologistischen Standpunkt des Sprechers erkennbar macht:

|| aus der Grundlage der Monographie dann der kürzere Beitrag von Gerhard Kratzsch: „Der Kunstwart“ und die bürgerlich-soziale Bewegung. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 371–396. 95 Das Gemeinschaftswerk erschien 1928 noch einmal zum 400. Todestag, wurde aber bereits 1904 eben in Avenarius’ Kunstwart zum ersten Mal gedruckt, vgl. hier die Buchausgabe: Julius Langbehn, Benedikt Momme Nissen: Dürer als Führer. Vom Rembrandtdeutschen und seinem Gehilfen. Mit einem Brief von Hans Thoma und achtzig Bildern in Kupfertiefdruck nach Dürer. München 1928. 96 Vgl. für eine knappe Einordnung von Vierordts Leben und Werk den Artikel von Walter Pape: Heinrich Vierordt. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 11. Berlin, Boston 2011, S. 766–767; keineswegs apologetisch, sondern Vierordts Position im Literaturbetrieb der Gründerzeit herausarbeitend und mit Blick auch auf seine spätere Begeisterung für den Nationalsozialismus Reiner Haehling von Lanzenauer. In: Die Ortenau 74 (1994), S. 507–514; ferner auch Ludwig Vögely: Heinrich Hansjakob und Heinrich Vierordt. Streiflichter auf eine Dichterfreundschaft. Badische Heimat 67 (1987), S. 21–32.

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An dem erzgegoss’nen Tugendbrunnen Vor Sankt Lorenz in dem alten Nürnberg Stand ich heut an hellem Vormittag. Lang betrachtungsfreudig hing mein Auge An den altertümlichen Figuren, An den schlanken braunen Frau’ngestalten, Die in dünnen, zarten Silberstrahlen Wasser sprü’hn aus erzgetrieb’nen Brüsten Gletschergrün und milchschaumweiß vermengten Sich die Wellen, glänzend in dem Becken, Hinter mächtigem Gekrems von Eisen; Kühlung hauchend in den Staub der Straße, Wallt’s in duft’gen Regenbogenschleiern Manchmal übern Rand der Bronnenschale. – Neckisch spielend, auf dem Gang zur Schule, Sprangen kleine Mädchen um den Brunnen, Ließen in die herzigen Gesichter Sich vom Morgenwind den Sprühstaub blasen, Schauten auch empor dann zu den Weibern, Deren eins die Brust zur Stillung darreicht Ihrem Kinde, das nach dem Busen dürstet. Schnell, wie schnelle senkten sich die Blicke In Verschämtheit, mädchenhaft und reizend, Und das gold’ge taubenetzte Antlitz Bald nach mir, bald nach dem Erzbild wendend – Doch geschah nur halb verborgen dieses – Kichernd, lächelnd heimlich miteinander, Liefen sie, geschwinden Schritts, von dannen. Leis sie segnend dacht’ ich künft’ger Tage: Sei euch selbst solch Mutterglück beschieden! Mög’ euch einst aus fruchtbar schwell’ndem Busen Milch des Lebens vollgesättigt strömen, Groß damit zu säugen kräft’ge Männer, Ein gewaltiges Geschlecht der Zukunft.97

In den ersten beiden Versgruppen präsentiert sich das lyrische Ich als „betrachtungsfreudiger“ (V. 4) Kunstliebhaber und Laie, der eine scheinbar zufällige und alltägliche Szene wiedergibt. Er vermeidet ikonographische Fachbegriffe, folgt bei der Beschreibung aber der Blickrichtung von oben nach unten, die der || 97 Hier nach der Ausgabe Heinrich Vierordt: Meilensteine. Dichtungen aus dem Leben. Heidelberg 1904, S. 86–87.

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visuellen Dominanz der pyramidial in drei horizontale Zonen angeordneten und aus einem achteckigen steinernen Bassin herausragenden Bronzefiguren (V. 9– 14) Rechnung trägt. Gleichzeitig verrät diese Vorgehensweise der systematischen, dem Aufbau des Kunstwerks folgenden Beschreibung einen durchaus geschulten Kennerblick (V. 1–8) und stellt damit auch die für die Aufstellungszeit und Brunnen dieser Art neuartige Bedeutung der vollplastischen Bronzefiguren heraus.98 Gleichwohl findet hier keine Kunstbelehrung, keine Wiedergabe des komplexen ikonographischen Programms oder der kunsthistorischen Bedeutung des Bronzewerks für die sogenannten süddeutschen „Monumentalbrunnen“ statt.99 Die durch Frauenfiguren dargestellten personificationes der Tugenden Fides, Caritas, Spes, Fortitudo, Temperantia und Patientia werden nicht im einzelnen genannt, sondern nur in ihrem künstlerischen Erscheinungsbild kumulativ als „braune“, also bronzefarbene „Frau’ngestalten“ (V. 6) und in ihrer Funktion als Wasserspeiher innerhalb der Brunnenanlage beschrieben (V. 7–8). Unklar bleibt zunächst auch, ob sich die Altertümlichkeit (V. 5) der Figuren auf deren Aussehen und künstlerische Gestaltung oder auf die Tugenden, die sie verkörpern, bezieht. Unterstellt man aber, dass sich hinter dem scheinbar laienhaften Blick des lyrischen Ichs ein kunsthistorisch geschulter Kenner verbirgt, so ist die „Altertümlichkeit“ wohl hier nicht als ästhetische Kategorie zu verstehen, da sich die Bronzefiguren ja gerade durch ihre rinascimentale Lebensnähe und ‚Modernität‘ auszeichnen. Vielmehr wird damit eine moralische Zeit- und Kulturdiagnose formuliert: Die von den Bronzefiguren verkörperten Tugenden wirken in der vom lyrischen Ich als defizitär, zumindest aber ethisch-moralisch erneuerungsbedürftigen Gegenwart „altertümlich“. Dem zum Anschauungsobjekt erhobenen starren, „erzgegoss’nen“ (V. 1) Brunnen, dessen Dynamik (V. 7–8) und optische Reize (V. 9) sich nur durch die Bewegung und das Spiel des Wassers ergeben, werden die spielenden und umherspringenden Mädchen in der dritten Versgruppe kontrastierend gegenübergestellt. Vierordt verlebendigt also nicht – wie in zahlreichen anderen Gedichten auf Skulpturen und Plastiken zu beobachten – die Figuren selbst, sondern stellt ihnen lebendige, vor allem aber jüngere, zeitgenössische Pendants gegenüber. || 98 Zur historischen Situation im Nürnberg des späten 16. Jahrhunderts und kunsthistorischen Bedeutung des Brunnens vgl. Sven Hauschke: Der Nürnberger Tugendbrunnen von Benedikt Wurzelbauer – Ein reichsstädtisches Monument. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 81 (1994), S. 31–72. 99 Für Nürnberg führt Hauschke den Apollobrunnen von Peter Flötner als Beginn der „Monumental- bzw. Monumentbrunnen“ an und sieht den Tugendbrunnen in dieser Traditionslinie, vgl. Hauschke, Der Nürnberger Tugendbrunnen, 1994, S. 48f.

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Entsprechend der dreigliedrigen Komposition des Tugendbrunnens wird auch im Gedicht durch die thematische Dreiteilung der Versgruppen (1–14; 15–29; 30–35) schon formal diese Struktur wiederholt. Kennzeichnend für die Gesamtanlage des Gedichts und die Kommunikationssituation von lyrischem Ich, den betrachteten Bronzefiguren und den spielenden Mädchen ist die Bedeutung und zentrale Funktion des Blickes und der Anschauung: Die Verbindung und Verständigung des lyrischen Ichs mit den in seiner Zukunftsvision der vierten Versgruppe im Mittelpunkt stehenden Mädchen wird nur über das bedichtete Kunstwerk hergestellt. Die Rolle des lyrischen Ichs als Kunstlaie erweitert Vierordt, indem der Kunstbetrachter in der dritten Versgruppe die Perspektive der Mädchen einnimmt und die stillende Frauenfigur im Zusammenhang des ikonographischen Programms nicht als eindeutig identifizierbare Caritas anspricht (V. 20–21), sondern diese auf ihre partielle Nacktheit und deren Wirkung auf die verschämten Mädchen reduziert. Es geht Vierordt nicht um die historische Dimension des Kunstwerkes oder die Rekapitulation einer korrekten Ikonographie. Vielmehr sind Aneignung und Umdeutung kulturgeschichtlicher Traditionen für das Gedicht charakteristisch. Was in den ersten Versen als eine Reprise des christlichen Tugendkatalogs ausgehend vom Nürnberger Tugendbrunnen erscheint, wird durch die Deutung der Caritas als stillende Mutter in eine andere Richtung gelenkt, die vor allem im Hinblick auf Vierordts Werkbiographie von Interesse ist. Auch wenn hier (noch) nicht von Volk oder gar Blut die Rede ist, so eröffnet die letzte Versgruppe mit ihrer Zukunftsvision doch einen ideologischen Deutungsraum, in dem sich Vierordts spätere völkische Dichtungen zumindest andeuten. Literarhistorisch zeigt Vierordts Bildgedicht die Zusammenhänge von (kultur-)nationalistischen, machtpolitischen und völkischen Tendenzen, wie sie von der Forschung für die letzten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts betont werden.100 Nicht die Sakralisierung des Kunstwerkes oder die nationalistische Vereinnahmung und Überhöhung Nürnbergs stehen im Zentrum des Gedichts, sondern die Segnung der jungen Mädchen in der Zukunftsvision der letzten Versgruppe,

|| 100 Zur Begriffs- und Bedeutungsgeschichte sowie den schon 1875 von Hermann von Pfister formulierten Vorschlag, völkisch als Synonym für national zu verwenden vgl. Günter Hartung: Völkische Ideologie. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1817–1918. Hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München [u.a.] 1996, S. 21–41, bes. S. 23–28; zur Vorgeschichte auch Rüdiger vom Bruch: Wilhelminismus – Zum Wandel von Milieu und politischer Kultur. In: Ebd. S. 3–21; die Diskussion zum Umgang mit dem Begriff „völkisch“ vor allem in der Perspektive auf den Nationalsozialismus dokumentiert kritisch Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. 2., unveränd. Auflage. Darmstadt 2010, systematisch zu den Tendenzen Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus bes. S. 7–27.

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in der diese als künftige Müttergeneration imaginiert werden. Auf der lexikalischen Ebene verbinden sich dabei Wendungen und Begriffe aus dem semantischen Bereich der Biologie (V. 31f.: „Mög’ euch einst aus fruchtbar schwell’ndem Busen / Milch des Lebens vollgesättigt strömen“) mit dem martialischen Wunsch nach einem neuen, „gewaltige[n] Geschlecht der Zukunft“ (V. 35). Deutlich wird hier die noch bei Lingg oder Greif zu beobachtende Funktionalisierung Nürnbergs als Identifikationsort der „Kulturnation“ zurückgenommen und die Perspektive auf ein neues „Geschlecht der Zukunft“ (V. 35) verlagert, hinter dem sich nichts anderes als der Wunsch nach einem neuen, dem „Machtstaatsdenken“ um 1890 entsprechenden Volk verbirgt.101

|| 101 Vgl. zu den verwendeten Begriffen Kulturnation und Machtstaat im Kontext von Nationalismus und Internationalismus kurz vor der Jahrhundertwende vom Bruch, Wilhelminismus, 1996, S. 5f.

3 „Allerdeutschester Künstler der Gegenwart“: Theodor Fontane, Adolph von Menzel und die preußische Geschichte Fontanes Beschäftigung mit der Bildenden Kunst der Vergangenheit vor allem aber seiner Gegenwart ist ausgesprochen vielfältig und umfangreich.102 Sein literarisches und essayistisches Schaffen begleiteten seit den Londoner Jahren nach der Revolution von 1848/49 kontinuierlich Ausstellungskritiken, Denkmalbetrachtungen und Rezensionen zu Neuerscheinungen aus dem Bereich der Kunstliteratur und Kunstgeschichte, die in der Sternzeitung, der Kreuzzeitung, der Vossischen Zeitung und anderen namhaften Blättern und Zeitschriften gedruckt wurden.103 Auch die Gattung der (populären) Künstlerbiographie beherrschte Fontane und lieferte rund 30 Kurzbiographien zu englischen und deutschen Malern wie Thomas Webster, Sir Edwin Landseer, Theodor Hildebrandt, Wilhelm Camphausen und Adolph von Menzel für das bei Carl B. Lorck in Leipzig 1862 erschienene Biographische Lexikon der Gegenwart.104 Diese Publikationen sind in Studien von Carmen Aus der Au, Sonja Wüsten, Burkhard Bittrich, Werner Schwan und im Hinblick auf wahrnehmungsgeschichtliche Fragestellungen auch im Zusammenhang mit Fontanes Romanen von Nora Hoffmann untersucht

|| 102 Zum ersten Überblick empfiehlt sich der Artikel zu Fontane von Juliane Vogel und AnnaMaria Post: Theodor Fontane. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 193–197; ferner auch und mit anschaulichem Material und Abbildungen der Katalog: Fontane und die bildende Kunst. Hg. von Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster und Moritz Wullen. Berlin 1998, auf einzelne Beiträge des Bandes wird im Folgenden noch verwiesen. 103 Die Ausstellungsberichte und Künstlerbiographien sind zusammengestellt in zwei Bänden der Nymphenburger Fontane-Ausgabe, vgl. Theodor Fontane: Aufsätze zur Bildenden Kunst. 2 Bde., hier Bd. 1. Hg. von Rainer Bachmann und Edgar Gross. München 1970 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bde. XXIII/1+2). 104 Der vollständige Titel lautet: Männer der Zeit. Biographisches Lexikon der Gegenwart. Mit Supplement: Frauen der Zeit, vgl. hierzu Werner Schwan: Die Zwiesprache mit Bildern und Denkmalen bei Theodor Fontane. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch NF 26 (1985), S. 151–183, hier S. 153; Hubertus Fischer: „Männer der Zeit“. Fontanes biographische Artikel für Carl. B. Lorck. In: Fontane als Biograph. Hg. von Roland Berbig. Berlin, New York 2010 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 7), S. 187–202; abgedruckt sind die Kurzbiographien in Theordor Fontane: Aufsätze zur Bildenden Kunst. 2 Bde., hier Bd. 1. Hg. von Rainer Bachmann und Edgar Gross. München 1970 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bde. XXIII/1+2), S. 429–491. https://doi.org/10.1515/9783110700732-007

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worden.105 Neben ihrem dokumentarischen Charakter für die Ausstellungspraxis und die öffentliche Präsenz bestimmter Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die enge Verbindung zu den dichterischen Werken betont und den Texten vielfach auch der Stellenwert als „Vorstudien der eigenen erzählerischen Praxis“106 zugestanden. Einen Schwerpunkt der Forschung zu Fontane als dichtenden Kunstrezipienten lag und liegt auf der Frage nach der Funktionalisierung und Kontextualisierung von Werken der Bildenden Kunst und von Denkmälern im Handlungsgefüge seiner Romane, mit Hilfe derer Fontane den Texten eine spezifische Symbolstruktur unterlege, wie dies besonders in Effi Briest (1894/95), L’Adultera (1882), Mathilde Möhring (1891/96), Cécile (1884/86 )oder Graf Petöfy (1883) zu beobachten ist.107 Die Kunstwerke und Denkmäler werden nicht einfach im Sinne einer realistischen ‚Weltabschilderung‘ in die Texte integriert, sondern bestimmten Figuren als handlungsleitende moralische oder politische Positionen zugeordnet. Mit ihnen reflektieren die Texte auch den Stellen- und Funktionswert von Kunstwerken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie bürgerliches und staatliches Kunstverständnis der geradezu bild- und denkmalsüchtigen Gründerzeit und des Wilhelminismus.108 Es fehlen hingegen exemplarische Studien und Einzeluntersuchungen zu Fontanes Gedichten auf Kunstwerke und Künstler. Zu nennen sind hier Der alte Fritz. Zur Enthüllungsfeier des Friedrich-Denkmals im August 1851 (1852), Bianca (1854), Der mitleidige Krieger (1855), Reise in der Wüste (1855), Vor Zichys

|| 105 Vgl. Carmen Aus der Au: Theodor Fontane als Kunstkritiker. Berlin, Boston 2017 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 11); Sonja Wüsten: Zu kunstkritischen Schriften Theodor Fontanes. In: Fontane-Blätter 4 (1977), S. 174–200; Burkhard Bittrich: Theodor Fontane und die bildende Kunst der Kaiserzeit. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 171–179; Nora Hoffmann: Photographie, Malerei und visuelle Wahrnehmung bei Theodor Fontane. Berlin, Boston 2011 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 8). 106 Werner Schwan: Die Zwiesprache mit Bildern und Denkmalen bei Theodor Fontane. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch NF 26 (1985), S. 151–183, hier S. 157. 107 Grundlegend immer noch die Studie von Peter-Klaus Schuster: Theodor Fontane: Effi Briest. Ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 55); Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern, 1985; Bittrich, Theodor Fontane und die bildende Kunst, 1983. 108 Zum Bestand und zur Bedeutung von Denkmälern im Kaiserreich vgl. Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529–585; verschiedene Funktionalisierungen von Denkmalen in Romanen von Fontane untersucht auch Schwan, Die Zwiesprache mit Bildern, 1985, bes. S. 163–175.

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Geisterstunde (1881) und Auf der Treppe von Sanssouci (1885). Helmuth Nürnberger liefert in seinem Beitrag einen Querschnitt zu Fontanes Bild- und Künstlergedichten, ohne einzelne Gedichte genauer zu analysieren und zu interpretieren.109 In der Dissertation von Nicola Ettlin finden Fontanes Gedichte auf Gemälde von Horace Vernet (Der mitleidige Krieger, Reise in der Wüste 1855) Erwähnung, zu denen aber nur knapp der den Werken zugrunde liegende historische Kontext der Kolonialisierung Algeriens durch die Franzosen skizziert, jedoch weder eine kunst- und literarhistorische Verortung noch eine Interpretation der Gedichte vorgenommen wird.110

Abb. 8: Christian Daniel Rauch: Reiterstandbild Friedrichs des Großen (1851)

Auffällig an Fontanes Gedichten um die Jahrhundertmitte ist die Apotheose des alten, friderizianischen Preußens und der Person Friedrichs II. selbst, zu der bei den frühen Gedichten auf Kunstwerke noch die starke politische Indienstnahme der bedichteten Werke hinzukommt.111 Eine Gegenüberstellung von Fontanes Gelegenheitsgedicht Der alte Fritz zur Einweihung von Christian Daniel Rauchs

|| 109 Vgl. Helmuth Nürnberger: „Sie kennen ja unsren berühmten Sänger“. Künstler und ihre Welt als Thema Fontanescher Gedichte. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hg. von Robert Leroy und Eckart Pastor. Bern [u.a.] 1991, S. 174–201. 110 Vgl. Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts, 2010, S. 219–223; zu der insgesamt das Thema Kunstwerke und Gedichte im 19. Jahrhundert nur unzureichend behandelnden Arbeit vgl. auch meine Rezension in: Germanistik 52 (2011), S. 254. 111 Zu Fontanes politischen Gedichten vgl. Jens Erik Classen: „Altpreussischer Durchschnitt“? Die Lyrik Theodor Fontanes. Frankfurt am Main 2000 (Historisch-kritische Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 29), bes. S. 17–103.

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monumentalem Reiterdenkmal für Friedrich II. im Mai 1851 (Abb. 8), das im Deutschen Musen-Almanach für das Jahr 1852 gedruckt wurde, und seinen Versen Auf der Treppe von Sanssouci zu Adolph von Menzels 70. Geburtstag von 1885 illustriert einerseits, wie Fontane die Beweglichkeit der Gattung Bild- und Künstlergedicht nutzt und zeigt andererseits das breite Spektrum von Fontanes Literarisierungen der preußischen Geschichte und ihre Bewertung für die Gegenwart. In den fünf kreuzgereimten Strophen mit je acht Versen zur Einweihung des Friedrich-Denkmals spricht das lyrische Ich den im Denkmal dargestellten Friedrich II. direkt an. Das Bronzewerk selbst und der Künstler Christian Daniel Rauch, die bildnerische und stilistische Ausführung werden hingegen nicht thematisiert:

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Bist endlich da! Gott sei’s geklagt, Hast lange warten lassen; Nun lehr uns wieder, unverzagt Den Feind beim Schopfe fassen, Den Feind in Ost, den Feind in West, Die Feinde drauß und drinnen, Zerreiß die Netze dicht und fest, Womit sie uns umspinnen. Blitz nur herab von deiner Wacht, Solch Wächter mag uns taugen: Wir brauchen wieder, Tag und Nacht, Die Alten-Fritzen-Augen; Blitz nur herab! und wenn im Nu Die Schleicher du erraten, Dann heb den Stock und droh: „Du, du!“ Wie weiland den Kroaten. Blitz nur herab von deiner Wacht! Und wenn uns Feinde spotten, Pandurentum und Slawenmacht Sich rings zusammenrotten, Dann, dir zu Füßen, weck und wink Dem alten Leibhusaren Und sprich: „He, Zieten, sattl’ Er flink, Wir woll’n mal drunterfahren.“ Vor allem aber blitz ins Herz Den Lenkern und den Leitern, Sei du das Vorgebirg von Erz, Dran ihre Ängste scheitern; Ruf ihnen zu: „Mein war der Mut, Die Preußen aufzurichten,

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Es tut nicht gut, es tut nicht gut Solch Zagen und Verzichten.

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Wohl, angesichts von meinem Schloß, Mag ich hier droben wohnen, Doch gilt’s mein Volk – mit Mann und Roß Einschmelzt mich zu Kanonen; Wohl thron’ ich hier auf sichrem Sitz, Mein Schimmel selbst ward erzen, Doch sichrer thront der alte Fritz 40 In alten Preußenherzen.“112

Die völlige Ausblendung der ästhetischen Aspekte und des künstlerischen Gehalts des bereits 1841 begonnenen Denkmals zugunsten der Konzentration auf die politische Botschaft ist insofern beachtlich, als die zeitgenössische, schon vom späten 18. Jahrhundert und Johann Gottfried Schadow, dem Lehrer Christian Daniel Rauchs, ihren Ausgang nehmende kunsttheoretische Diskussion um die Frage des Verhältnisses von realitätsnahem ‚Naturalismus‘ und idealisierendem ‚Klassizismus‘ vor allem in der Skulptur und Plastik in ähnlicher Weise auch in Fontanes zeitgleichen literarästhetischen Schriften zu finden ist.113 Anders als später in seinem Text zu Menzels Geburtstag nutzt Fontane das Gedicht also nicht als Medium der Selbstvergewisserung und zur Präsentation seines realistischen, gleichwohl durch sein ‚Verklärungspostulat‘ kruden Naturalismus ausschließenden Schreibkonzepts. Eine Parallelsierung der eigenen ästhetischen Position und Rauchs im Friedrichdenkmal verwirklichten künstlerischen Konzept einer ideellen Überformung der Wirklichkeit verbunden mit einem gemäßigten Realismus,

|| 112 Theodor Fontane: Sämtliche Romane. Erzählungen, Gedichte. Nachgelassenes. Bd. 6. Hg. von Walter Keitel (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I). Darmstadt 1978, S. 563–564, vgl. zur Publikationsgeschichte auch den Kommentar S. 1175. 113 Vgl. Fontanes berühmten Aufsatz, der zuerst erschienen ist in Deutsche Annalen zur Kenntnis der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit von 1853: Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Ders.: Literarische Essays und Studien. Teil 1. München 1963 [Nymphenburger Ausgabe, Bd. 21,1], S. 7–33; die seit Schadow geführte Diskussion um das richtige Maß an Realität in der Skulptur und Plastik fand seinen Niederschlag vor allem im sogenannten Kostümstreit, in dem freilich auch die Frage nach der Vorbildlichkeit und Zeitgemäßheit der antiken Gewandung für zeitgenössische Denkmäler gestellt wurde, vgl. hierzu Wolfgang Schöller: „Veredelt, aber nicht fremd“: Johann Gottfried Schadow und der sogenannte Kostümstreit. In: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 3 (1999), S. 171–187; Jutta von Simson: Wie man die Helden anzog. Ein Beitrag zum Kostümstreit im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 43, 2 (1989), S. 47–63.

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der sich vor allem in den Details etwa der Uniformen zeigt, nimmt Fontane nicht vor.114 Das Gedicht setzt unvermittelt mit einer direkten, eine saloppe Alltagssprache imitierenden Anrede des preußischen Königs (V. 1–2) ein, wobei das entscheidende Personalpronomen „Du“ gerade weggelassen und damit die Intimität und Spontaneität der Kommunikationssituation und die Nahbarkeit des Herrschers betont werden. So wie Rauchs Denkmal auch keinen völlig idealisierten, sondern einen durchaus vom Leben gezeichneten Friedrich II. zu Pferde zeigt, wendet sich das lyrische Ich auch nicht an einen zeit- und weltenrückten König, sondern macht dessen Vorbildlichkeit und Nähe bei aller zeitlichen Distanz deutlich, was sich nicht zuletzt auch im Stil der Anrede bemerkbar macht. Damit wird gleich in der ersten Strophe ein Friedrich-Bild umrissen, dessen Hauptmerkmale Volkstümlichkeit und Volksnähe auf der einen Seite, politische und militärische Weitsicht auf der anderen Seite sind. Die Spannung zwischen auf Verehrung und Verherrlichung ausgerichteter Funktion von Rauchs Reiterstandbild in der Denkmaltopographie Berlins und die einem gemäßigten Realismus verpflichtete, den König gleichsam auch als Mensch darstellende Ausführung des Bronzewerks wiederholt Fontane in seinem Gedicht.115 Der anaphorisch verwendeten, an Friedrich II. gerichteten Aufforderung zu Beginn der Strophen zwei und drei (V. 9 und 17) folgen jeweils panegyrische, im Tonfall sich auch durch eine aggressive, gegen die Feinde im Osten und Westen, im Innern und von außen (V. 5–6) gerichtete Rhetorik auszeichnende Verse (V. 18–20), in denen die militärischen und politischen Leistungen Friedrichs II. verklärt werden. Ihnen folgen jeweils direkte Reden Friedrichs II. (V. 15 und 23–24), die in scharfem, stilistischem Kontrast zum hohen Ton der vorangegangen Verse stehen und das idealtypische Herrscherbild durch ein vor allem in der Geschichte Friedrichs des Großen von Franz Kugler und Adolph von Menzel

|| 114 Vgl. hierzu grundlegend Peter Bloch: Klassizismus im Werk von Schadow und Rauch. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert. Hg. von Herbert Beck, Peter C. Bol, Eva Maele-Gérard (Frankfurter Forschungen zur Architekturgeschichte, Bd. 11), Berlin 1984, S. 87–104; Bernhard Maaz: Christian Daniel Rauch. Die „ideal gesinnte Natur“ und die „Individualität des Menschen“. In: Kolloquium zur Skulptur des Klassizismus (Museum Bad Arolsen). Hg. von Birgit Kümmel und Bernhard Maaz. Bad Arolsen 2004, S. 13–30. 115 Zur Aufstellungsgeschichte des Denkmals – ursprünglich vor dem Berliner Stadtschloss, heute „Unter den Linden“ – vgl. Peter Springer: Christian Daniel Rauch: Denkmal und historische Topographie. In: Kolloquium zur Skulptur des Klassizismus (Museum Bad Arolsen). Hg. von Birgit Kümmel und Bernhard Maaz. Bad Arolsen 2004, S. 59–68.

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überliefertes, anekdotisch geprägtes Charakterbild ergänzen (V. 15–16).116 Der Hinweis auf Friedrichs General Hans Joachim von Zieten (V. 23–24) ist die einzige direkte Bezugnahme auf die Konzeption von Rauchs Denkmal, der Zieten zwei Zonen unter dem thronenden Friedrich II. neben anderen Militärs in das ikonographische Programm aufgenommen hat. Gleichwohl ist die Erinnerung an historische, politisch-militärische Konflikte unter der Regierung Friedrichs II. nicht bloß eine Reminiszenz an die in den unteren beiden Zonen von Rauch in den Nebenfiguren und Ehrentafeln zusammengefassten und angedeuteten kriegerischen Auseinandersetzungen Preußens zur Zeit Friedrichs II. Fontane stellt konkret den Zusammenhang zu aktuellen machtpolitischen Spannungen her, die eine neuerliche Gefährdung Preußens angesichts panslawistischer Bestrebungen (V. 18–19) und einem insgesamt schon vor dem Krimkrieg instabilen europäischen Mächtesystem bedeuten und für deren Bewältigung die Erinnerung an Friedrich II. in Anspruch genommen wird.117 Die Eindringlichkeit der mahnenden imperativischen Eingangsverse der zweiten und dritten Strophe („Blitz nur herab von deiner Wacht“) wird rhetorisch noch verstärkt und untermalt, indem zahlreiche Worte durch Alliterationen mit dem Zentralbegriff „Wacht“ verbunden sind (V. 10: Wächter, V. 11: Wir – wieder, V. 16: Wie weiland, V. 21: weck und wink). Die letzten beiden Strophen sind im Hinblick auf ihre intermediale Struktur die komplexesten des Gedichts: Der im Kunstwerk dargestellte und im Gedicht apostrophierte Friedrich II. spricht selbst über sein eigenes Denkmal und formuliert gleichzeitig ein an seine Nachfolger gerichteten kritischen Appell, der ihm freilich nur vom lyrischen Ich in den Mund gelegt wird (V. 25–32). Berücksichtigt man die Auftragsvergabe und die dynastische Denkmalintention, so erscheinen die letzten beiden Strophen in ihrem politischen Gehalt durchaus brisant.118 Christian Daniel Rauch erhielt den Auftrag noch von Friedrich Wilhelm III., die Fertigstellung und Enthüllung fand dann unter dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. statt. Das Denkmal war zur Verherrlichung des preußischen Königshauses und seines berühmtesten Herrschers geplant worden.119

|| 116 Franz Kuglers historische Darstellung Friedrichs II. mit Menzels Holzschnitten (1840) wird weiter unten noch behandelt. 117 Vgl. zum politischen Hintergrund knapp, mit weiterführender Literatur Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 2010, S. 147–150. 118 Zu unterschiedlichen Denkmaltypen vgl. die Typologie bei Nipperdey, Nationaldenkmal und Nationalidee, 1968, bes. S. 534–542. 119 Zur Ausschreibung und Auftragsvergabe, Ikonographie und politischer Bedeutung vgl. ausführlich Jutta von Simson: Das Berliner Denkmal für Friedrich den Grossen. Die Entwürfe als Spiegelung des preussischen Selbstverständnisses. Frankfurt am Main 1976; zusammenfassend

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Fontane hingegen nutzt die Literarisierung des Denkmals zwar auch zur Wiederholung der im Reiterstandbild zum Ausdruck kommenden Friedrich-Verehrung. Er legt dem Preußen-König aber auch Worte in den Mund, in denen zum einen eine Mahnung zur Besinnung auf die preußische Geschichte und die Verpflichtung auf die Kontinuität dieser Politik anklingen. Zum anderen formuliert Fontane hier auch durch Friedrich II. eine Herrscherkritik, die sich gegen Friedrich Wilhelm IV. richtet, auf dessen Verhalten nach der gescheiterten Revolution und Regierungshandeln mit den Versen „solch Zagen und Verzichten“ (V. 32) angespielt wird.120 Die Bedeutung des Denkmals wird gerade in der letzten Strophe von seiner dynastischen Auftragsintention insofern befreit, indem der Wert des Kunstwerks von Friedrich II. selbst relativiert, ja sogar negiert wird: In der Aufforderung, das Bronzewerk zur Verteidigung gegen Feinde von außen und innen (V. 5–6) zu Kanonen einzuschmelzen – und zwar für das „Volk“ (V. 35) –, wird dem Denkmal ein neuer, ‚bürgerlicher‘ Funktionskontext zugewiesen. Die nicht auf Denkmäler angewiesene ‚wahre‘ Erinnerung und Vergegenwärtigung der Persönlichkeit und Bedeutung Friedrichs II. erscheinen in den letzten beiden Versen (V. 39–40) als ‚mentale‘ Alternative zum Kunstwerk und formulieren damit im Grunde eine Skepsis gegenüber der Denkmalpolitik des preußischen Königshauses. Eine ähnliche Position lässt sich auch zwei Jahrzehnte später noch beobachten. Es ist bemerkenswert, dass Fontane nach 1870 bei aller vaterländischen Euphorie und Apologie des preußischen, später preußisch-wilhelminischen Staates, wie sie vor allem in seinen Preußenliedern, tagespolitischen Publikationen über Jahrzehnte hinweg und auch in seinem Gedicht zur Einweihung von Rauchs Friedrich-Denkmal zum Ausdruck kommen, den Akademiemalern, königlich protegierten Künstlern und Auftragsempfängern staatlicher Großprojekte zur Verherrlichung der preußischen Geschichte und Kultur wie Reinhold Begas, Georg Bleibtreu, Wilhelm Camphausen, Wilhelm von Kaulbach und Anton von

|| jetzt auch: Peter Springer: Christian Daniel Rauch, 2004, S. 59–68; einen weiteren Überblick zur preußischen Denkmalpolitik seit Schadow gibt Gert-Dieter Ulferts: Geschichte in Erz und Stein. Beispiel der Vergegenwärtigung von Historie im Medium der Plastik. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 174–184, zu Rauch S. 178f. 120 Einen Überblick mit der wichtigsten Forschungsdiskussion bietet das Porträt von Winfried Baumgart: Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861). In: Preußische Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II. Hg. von Frank-Lothar Kroll. München 2000, S. 219–241; Frank-Lothar Kroll: Monarchie und Gottesgnadentum in Preußen 1840–1861. In: Der verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit. Hg. von Peter Krüger und Julius H. Schoeps. Potsdam 1997 (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 1), S. 45–70.

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Werner skeptisch bis ablehnend oder indifferent gegenüberstand.121 Deren monumentalen Schlachten- und Historienbildern attestiert er zwar handwerkliche Qualität, kritisiert aber gleichzeitig „die artifizielle Routine der Serienproduktion“.122

Abb. 9: Adolph von Menzel: Krönung Wilhelms I. in Königsberg (1861/1865)

Was Fontane bei den hochdekorierten Akademiemalern kritisiert, die fehlende Glaubwürdigkeit der Darstellung als zentrale Kategorie auch des von ihm vertretenen Realismus, sieht er im Werk Adolph von Menzels gelungen. In seiner 1863 erschienenen Besprechung von Menzels berühmten, riesigem Krönungsbild für Wilhelm I. (1861/65, Abb. 9 – mit den Maßen 345x445cm), bei dessen Ausarbeitung Fontane Menzel im Garde-du-Corps-Saal des Berliner Schlosses besuchen durfte, formuliert Fontane grundsätzliche ästhetische Positionen, aus denen sich seine Abneigung gegenüber den Staatsmalern wie von Werner und von Kaulbach erklärt und sich gleichzeitig die Bedeutung des Menzelschen Werkes für sein eigenen literarästhetischen Positionen ablesen lässt: Denn verhehlen wir uns nicht: aus solchen feierlichen Staatsaktionen und Zeremonien [gemeint ist die Krönung Wilhelms I. 1861 in Königsberg] – poetisch-großartig wie sie sein mögen – ein Bild zu machen, zählt zu den schwersten künstlerischen Aufgaben, die gestellt werden können. Die Ansprüche, die nach der Seite des Architektonischen und besonders

|| 121 Vgl. hierzu Bittrich: Theodor Fontane und die bildende Kunst, 1983, S. 172–175; mit zahlreichen Briefstellen, die Fontanes kritische Haltung den offiziellen Historienmalern gegenüber belegen auch Wüsten, Zu den kunstkritischen Schriften, 1977, S. 188 und S. 185: „Dem Verzicht auf die Behandlung der nach der offiziellen Geschichtsschreibung bedeutsamsten historischen Stoffe in den „Wanderungen“ entspricht eine auffällige Skepsis gegenüber den großen Historienbildern in Fontanes Ausstellungsrezensionen in den sechziger und siebziger Jahren.“ 122 Schwan: Die Zwiesprache mit Bildern, 1985, S. 154.

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des Porträts hin zu erfüllen sind, bieten Mühen und Klippen aller Art; die Hauptschwierigkeit aber bleibt immer die: etwas ganz bestimmt Gegebenes in realistischer Treue und zugleich in künstlerischer Verklärung darzustellen. Erst wo diese Verschmelzung glückt, das wird aus dem bloßen Tableau ein historisches Bild. Ein solches haben wir hier. […] Das, was die Größe Menzels ausmacht: die Verquickung von Genius und peinlicher Gewissenhaftigkeit, von Angeborenem und Angeeignetem, von Flug des Geistes und Fleiß der Hand – zeigt sich auf diesem Bilde wieder aufs glänzendste. Man kann hier lernen, was Kunst ist, wie man Kunst (auf jedem Gebiete) zu üben hat – Kunst, die nichts Nebensächliches kennt und in Kleinem und Großem nur eines anstrebt – die Vollkommenheit.123

Entscheidend für Fontanes Menzel-Gedicht Auf der Treppe von Sanssouci ist die jahrelange und kontinuierliche Beschäftigung mit dem Künstler und seinem Werk, an dem sich die eigenen poetologischen und ästhetischen Positionen entfalten und messen konnten. Schon ein 1862 in seiner Kurzbiographie über Menzel für das schon erwähnte Lorcksche Biographische Lexikon der Gegenwart (1862) würdigt Fontane Menzels Realismus, fasst aber auch deutlich die nicht unumstrittene Stellung des Künstlers zusammen. In jedem Falle lassen sich nach Fontanes Sicht die künstlerischen und ästhetischen Tendenzen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Menzels Werk diskutieren: Adolf Menzel zählt mit zu den glänzendsten Vertretern des Realismus in der Kunst, wenn er nicht überhaupt, wenigstens in Deutschland, als ihr glänzendster Vertreter anzusehen ist. Die Entschiedenheit, ja man darf sagen Rücksichtslosigkeit, mit der er sein künstlerisches Prinzip vertritt, hat ihm Feinde in Hülle und Fülle geschaffen. Als Mensch hat er keine Gegner; eine edle und liebenswürdige Künstlernatur hat ihm den seltenen Triumph bereitet, daß alle diese Gegnerschaften rein prinzipieller Natur geblieben sind. Der Geschmack des gebildeten Publikums, wenigstens des altpreußischen, steht ihm im allgemeinen zur Seite; man will diesen Realismus, den, wie die ganze Rauchsche Schule innerhalb der Skulptur, so Menzel innerhalb der Malerei vertritt; man will den Realismus als Prinzip, aber man will ihn nicht immer so, wie Menzel für gut befindet ihn zu geben. Daher kommt es, daß seine verschiedenen Bilder so verschieden beurteilt werden. Dieselben Personen, die für das „Diner in Sanssouci“ oder für das „Abendkonzert“ schwärmen, wenden sich mehr oder weniger unbefriedigt ab von der „Begegnung zwischen Friedrich und Kaiser Joseph“.124

Aus Menzels realistischer Kunstauffassung erklärt Fontane auch den kulturgeschichtlichen Wert von dessen Werken, den er in seiner Bedeutung für das

|| 123 Theodor Fontane: Das Krönungsbild von Adolf Menzel. 1863. In: Theodor Fontane: Aufsätze zur Bildenden Kunst. 2 Bde., hier Bd. 1. Hg. von Rainer Bachmann und Edgar Gross. München 1970 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bde. XXIII/1+2), S. 260–262, Zitat S. 260f. 124 Theodor Fontane: Adolf Menzel [1862]. In: Theodor Fontane: Aufsätze zur Bildenden Kunst. 2 Bde., hier Bd. 1. Hg. von Rainer Bachmann und Edgar Gross. München 1970 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bde. XXIII/1+2), S. 429–433, Zitat S. 432f..

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bürgerliche Selbstverständnis nach der Jahrhundertmitte noch höher veranschlagt als die kunsthistorische Stellung Menzels. Die Welt Friedrichs II. kenne der zeitgenössische Bürger vor allem aufgrund von Menzels akribischen Kostümstudien und seinen Darstellungen der friderizianischen Uniformen und Kleidung: Was wir jetzt bereits gewöhnt sind als selbstverständlich hinzunehmen oder als Allgemeingut unserer Kenntnis anzusehen, das ist eine Wissenschaft, eine Anschauungsfülle, die Adolf Menzel zum guten Teil erobert hat. […] Man kannte nach der malerischen Seite hin die Glanzzeit der preußischen Geschichte herzlich schlecht; die bildenden Künste des vorigen Jahrhunderts waren andere Wege gegangen und hatten, mit alleiniger Ausnahme Chodowieckis, sich mehr um den Faltenwurf der Toga als um die Litzen und Schnüre eines Husaren-Dolmans gekümmert. So kam es (was jetzt zwanzig Jahre nach dem Auftreten Menzels fast unglaublich scheint), daß man die Großtaten der Garde du Corps bei Zinzendorf oder den Siegessturm des Dragonerregiments Ansbach und Bayreuth bei Hohenfriedberg sehr wohl kannte, ohne genau zu wissen, wie jene Garde du Corps oder diese Dragoner eigentlich ausgesehen hatten. Das wissen wir jetzt aufs bestimmteste; aber daß wir es wissen, daß die Kostümfrage jener Epoche ein für allemal erledigt ist, daß wir ein malerisches Gesetzbuch haben, das alle Streitfragen in Zukunft schlichten wird, das ist das alleinige Verdienst Adolf Menzels und jener unermüdlichen Studien, deren Resultate er in dem großen Bildwerk „Die Armee Friedrichs des Großen in ihrer Uniformierung“ niedergelegt hat.125

Was Fontane an Menzel schätzt, ist also in erster Linie nicht die aus seinem Werk hervorgehende Verehrung Friedrichs II., sondern seine Bewunderung und Parteinahme für Menzel erklärt sich aus dessen zentraler Bedeutung für die (preußisch-nationale) Wissens- und Bildungsgeschichte. Seine Werke sind nach Fontane nicht als dekoratives Beiwerk einer sich auf ihre Geschichte besinnenden Nation anzusprechen, sondern – im Gegenteil – sie tragen zum historischen Wissensbestand über die Zeit Friedrichs II. bei und korrigieren auch falsche ‚Bilder‘ des Preußenkönigs.126 Trotz der deutlich affirmativen Haltung Fontanes gegenüber Adolph von Menzel ist sein Verhältnis zum „Verherrlicher unserer preußischen Geschichte,

|| 125 Ebd. 126 Zum von Fontane angesprochenen sogenannten Kostümstreit, der sich mit einem schon Ende des 18. Jahrhunderts geplanten Reiterdenkmals für Friedrich II. verbindet und theoretisch vorgeprägt wurde durch den späteren Leiter der Antiken-Galerie in Dresden, Wilhelm Gottlieb Becker vgl. Wolfgang Schöller: „Veredelt, aber nicht fremd“: Johann Gottfried Schadow und der sogenannte Kostümstreit. In: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 3 (1999), S. 171–187; Jutta von Simson: Wie man die Helden anzog, 1989, S. 47– 63.

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der vergangenen wie der gegenwärtigen“,127 wie Fontane Menzel in seinem Kurzporträt 1895 noch einmal nennt, durchaus ambivalent.128 Dies zeigt sich auch in der offenbar kühlen Reaktion Menzels auf Fontanes Gedicht Auf der Treppe von Sanssouci (1885), auf die Fontane in einem Brief an seinen Sohn Friedrich vom 11. Dezember 1885 anspielt.129 Tatsächlich ist das Gedicht auf den ersten Blick ein Huldigungsgedicht, das bei genauerer Analyse und Interpretation allerdings ein gebrochenes Friedrich- und auch Menzel-Bild präsentiert und damit die bei Hermann Linggs Dürer-Prolog zu beobachtende Tradition des auf Apotheose des Gefeierten ausgerichteten Künstlergedichts unterläuft und den Umgang mit nationalen Künstlerpersönlichkeiten ironisiert.

Das Gedicht Auf der Treppe von Sanssouci erschien am 8. Dezember 1885 in der Vossischen Zeitung anlässlich des 70. Geburtstages von Adolph von Menzel.130 In den knapp 100 Versen schildert ein Ich-Erzähler restrospektiv seine nächtliche Ankunft im Park von Sanssouci (V. 1–20), in dem er unverhofft und in einer traumartigen Situation auf Friedrich II. von Preußen trifft. Das Gespräch zwischen den beiden über Adolph von Menzel, dessen künstlerisches Werk und Preußen im Jahre 1885 macht den Rest des Textes (V. 21–98) aus und markiert gleichzeitig die dramatische Tendenz des Gedichts, was durch die Blankverse noch zusätzlich verstärkt wird. In erster Linie ist Auf der Treppe von Sanssouci freilich als Gelegenheits- und Widmungsgedicht sowie als Rollengedicht

|| 127 Theodor Fontane: Adolf Menzel [1895]. In: Theodor Fontane: Aufsätze zur Bildenden Kunst. 2 Bde., hier Bd. 1. Hg. von Rainer Bachmann und Edgar Gross. München 1970 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bde. XXIII/1+2), S. 516–519, Zitat S. 518. 128 Vgl. hierzu auch die Studie von Nürnberger: „Sie kennen ja unsren berühmten Sänger“, 1991, S. 177 mit Briefstellen, in denen Fontane Menzels Malerei als Irrweg, dann auch wieder die Vorbildlichkeit betonen und damit Fontanes schwankende Meinung dokumentieren. 129 Die wichtigste Stelle ist abgedruckt im Kommentar zum Gedicht, vgl. Theodor Fontane: Sämtliche Romane. Erzählungen, Gedichte. Nachgelassenes. Bd. 6. Hg. von Walter Keitel (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I). Darmstadt 1978, S. 1061: „So habe ich jetzt ein langes Gedicht zu Menzels Geburtstag gemacht, der am 8. Dezember gefeiert wurde. Ich erwartete, Menzel würde mir schreiben: ‚Lieber Freund, alles war sehr schön, aber ihre Huldigung war das Schönste.‘ Was ist nun geschehn? Alles hat mir gehuldigt, der Kronprinz, der ganze Menzelsche Freundeskreis, Pietsch, Anton v. Werner usw. und drei, vier Zeitungen (vielleicht noch mehr) haben das Gedicht, trotz seiner Länge, aus der Vossin abgedruckt. Nur von Menzels Seite her habe ich in diesen Tagen noch kein Wort gehört […].“ 130 Zitiert im Folgenden nach der Ausgabe: Theodor Fontane: Sämtliche Romane. Erzählungen, Gedichte. Nachgelassenes. Bd. 6. Hg. von Walter Keitel (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I). Darmstadt 1978, S. 262–264, vgl. zur Publikationsgeschichte auch den Kommentar S. 1061–1063.

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anzusprechen, das sich durch einen balladesken und dramatischen Charakter auszeichnet. Motivgeschichtlich spielt die Figuren-Konstellation mit dem zeitgenössischen Sprecher einerseits und dem verstorbenen Herrscher andererseits auf die im 19. Jahrhundert prominent in Friedrich Rückerts Rotbart-Gedicht und in Heinrich Heines Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) sowie bei zahlreichen anderen Autoren aufgegriffene und literarisierte Barbarossa- bzw. Kyffhäusersage an.131 Ohne dass die Frage nach der historischen Unmöglichkeit einer solchen Begegnung gestellt wird, nutzen die Autoren hier wie da die Möglichkeit zur kritischen Zeitdiagnose, die sich aus der Konfrontation und Unterhaltung mit den verstorbenen und zu historischen Vorbild- und Identifikationsfiguren in ganz unterschiedlichen Kontexten anvancierten Herrschern ergibt. Inhaltlich verarbeitet Fontanes Gedicht Auf der Treppe von Sanssouci kunsthistorische Wissensdiskurse des späten 19. Jahrhunderts, ruft konkrete Bilderinnerungen an Werke Adolph von Menzels auf und thematisiert mit diesem kollektiven Bildgedächtnis auch Zugänge zur preußischen Geschichte und Gegenwart sowie die Bedeutung der Bildenden Kunst für den preußischen Staat. Das Gedicht wurde von der Forschung als „das beste von Fontanes Gelegenheitsgedichten“132 bezeichnet und auch in Studien zum weiteren werkgeschichtlichen Kontext wie Fontanes Preußenliedern oder seinen Bild- und Künstlergedichten behandelt.133 Im Rahmen der zahlreichen Studien und Bände zu Fontane und seinem Verhältnis zur Bildenden Kunst fand Auf der Treppe von Sanssouci immer wieder Erwähnung, ohne dass dabei aber die Faktur des Textes näher betrachtet wurde.134 Sowohl die Rückbindung des Gedichts an Fontanes Ausstellungs- und Kunstkritiken der 1860er und 1870er Jahre vor allem für die Kreuzzeitung und Vossische Zeitung als auch der Zusammenhang mit älteren Bild- und Künstlergedichten und die kunsthistorische Debatte um Adolph von Menzel im späten 19. Jahrhundert liefern Anhaltspunkte für eine Interpretation des Gedichts – bisher fand das aber in der Forschung wenig Berücksichtigung:

|| 131 Umfassend zur Sage und Rezeption jetzt Camilla G. Kaul: Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. 2 Bde. Köln, Weimar, Wien 2007 (Atlas, N.F., Bd. 4,1 u. 2). 132 Peter Paret: Kunst als Geschichte. Kultur und Politik von Menzel bis Fontane. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. München 1990, hier S. 223. 133 Vgl. Markus Fauser: Männer, Helden und Standbilder – Fontanes „Preußenlieder“ und die vaterländisch-historische Lyrik. In: Fontane-Blätter 88 (2009), S. 50–89, bes. S. 67–70; Paret: Kunst als Geschichte, 1990, S. 210–227; ferner Nürnberger: „Sie kennen ja unsren berühmten Sänger“, 1991, hier bes. S. 191–197. 134 Exemplarisch für diesen Befund Schwan: Die Zwiesprache mit Bildern, 1985, S. 157; Bittrich, Fontane und die bildende Kunst, 1983, bes. S. 174.

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Von Marly kommend und der Friedenskirche, Hin am Bassin (es plätscherte kein Springstrahl) Stieg ich treppan; die Sterne blinkten, blitzten, Und auf den Stufen-Aufbau der Terrasse Warf Baum und Strauchwerk seine dünnen Schatten, Durchsichtige, wie Schatten nur von Schatten. Rings tiefe Stille, selbst der Wache Schritt Blieb lautlos auf dem überreiften Boden, Und nur von rechts her, von der Stadt herüber, Erscholl das Glockenspiel. Nun schwieg auch das, Und als mein Auge, das auf kurze Weile Dem Ohr gefolgt war, wieder vorwärts blickte, Trat aus dem Buschwerk, und ich schrak zusammen, Er selbst, im Frackrock, hinter ihm das Windspiel (Biche, wenn nicht alles täuschte), dazu Krückstock Und Hut und Stern. Bei Gott, es war der König. Was tun? Ich dacht’ an Umkehr; doch sein Auge, Das Fritzen-Auge bannte mich zur Stelle; So hielt ich denn und machte Front. „Wie heißt Er?“ Ich stotterte was hin. „Und sein Metier?“ „Schriftsteller, Majestät. Ich mache Verse.“

Der König lächelte: „Nun hör’ Er, Herr, Ich will’s ihm glauben; keiner ist der Tor, Sich dieses Zeichens ohne Not zu rühmen, Dergleichen sagt nur, wer es sagen muß, Der Spott ist sicher, zweifelhaft das andre. 30 Poëte allemand! Ja, ja, Berlin wird Weltstadt. Nun aber sag Er mir, ich les’ da täglich (Verzeih Er, aber Federvieh und Borste Wohnt auf demselben Hof und hält Gemeinschaft), Ich les’ da täglich jetzt in den Gazetten 35Von Menzelfest und siebzigstem Geburtstag, Ausstellung von Tableaux und von Peintüren Und ähnlichem. Ein großer Lärm. Eh bien, Herr, Was soll das? Kennt Er Menzel? Wer ist Menzel?“ 25

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Und dabei flog ein Zug um seinen Mund, Als wiss’ er selber Antwort auf die Frage. „Zu Gnaden, Majestät“, begann ich zögernd, „Die Frag’ ist schwer, das ist ein Doktorthema; Mein Wissen reicht bis Pierer nur und Brockhaus.

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Ja, wer ist Menzel? Menzel ist sehr vieles, Um nicht zu sagen alles; mind’stens ist er Die ganze Arche Noäh, Tier und Menschen: Putthühner, Gänse, Papagei’n und Enten, Schwerin und Seydlitz, Leopold von Dessau, Der alte Zieten, Ammen, Schlosserjungen, 50 Kathol’sche Kirchen, italien’sche Plätze, Schuhschnallen, Bronzen, Walz- und Eisenwerke, Stadträte mit und ohne goldne Kette, Minister, mißgestimmt in Kaschmirhosen, Straußfedern, Hofball, Hummer-Majonnaise, 55 Der Kaiser, Moltke, Gräfin Hacke, Bismarck…“ „Outrier’ Er nicht.“ „Ich spreche nur die Wahrheit. Bescheidne Wahrheit nur. Er durchstudierte Die groß’ und kleine Welt; was kreucht und fleucht, 60 Er gibt es uns im Spiegelbilde wieder. Am liebsten aber (und mir schwoll der Kamm, Ich war im Gang, ‚jetzt oder niemals‘ dacht’ ich), Am liebsten aber gibt die Welt er wieder, Die Fritzen-Welt, auf der wir just hier stehn: 65 Im Rundsaal, vom Plafond her, strahlt der Lustre, Siebartig golden blinkt der Stühle Flechtwerk, Biche (‚komm, mein Bichechen‘) streift Tischtuch-Ecke, Champagner perlt, und auf der Meißner Schale Liegt, schon zerpflückt, die Pontac-Apfelsine…“ 45

„Nun lass’ Er nur. Ich weiß schon.“ Und er lüpfte Den Hut und ging. Doch sieh! nur wenige Schritte So hielt er wieder, wandte sich und winkte Mich an die Seit’ ihm. „Hör Er, Herr; ein Wort noch: 75 Er hat bestanden; so lala. Denn wiss’ Er, Ich kenne Menzel wie mich selbst und wär’ ihm Erkenntlich gern. Emaille-Uhr? Tabatière? Vielleicht ein Solitaire? Was macht ihm Spaß wohl?“ 70

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„Ach, Majestät, was soll ihm Freude machen? Er hat vollauf von Gütern dieser Erde, Hat Ansehn, Ehre, Titel, Ordenskreuze (Pour le mérite, natürlich Friedensklasse), Hat Freunde, Mut und Glück, und was die Hauptsach’: Hat seine Kunst…“ „Und fehlt ihm nichts?“ „Rein gar nichts.“ „Na, das ist brav. Comme philosophe! Das lob’ ich Und will nicht stören. Aber eines sagt ihm:

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Ich lüd’ ihn ein (er mag die Zeit bestimmen, Ein Jahrer zehne will ich gern noch warten), Ich lüd’ ihn ein nach Sanssouci; sie nennen’s Elysium droben, doch es ist dasselbe. Dort findt er alte Freunde: General Stille, Graf Rotenburg, die ganze Tafelrunde, Nur Herr von Voltaire fehlt seit Anno 70; Franzose, rapplig. Dieser Platz ist frei. Den reservier’ ich ihm. Bestell Er’s. Hört Er? Ich bin sein gnäd’ger König. Serviteur!“135

Die in den erzählenden, einleitenden Versen (V. 1–20) bis zur Anrede durch den König (V. 21) entworfene nächtlich-winterliche Szenerie (V. 8: „überreifte[r] Boden“) orientiert sich an der realen Topographie des Parks von Sanssouci, dessen Beschreibung mit der Nennung weniger markanter Namen auskommt (V. 1–4). Sie ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an optischen (V. 3: „die Sterne blinkten, blitzten“; V. 5: „Warf Baum und Strauchwerk dünne Schatten“) und akustischen Sinneseindrücken (V. 7: „Rings tiefe Stille“; V. 10: „Erscholl das Glockenspiel“), die zum Spannungsaufbau und zur atmosphärisch-traumhaften Dichte der beschriebenen Situation beitragen.136 Friedrich II. wird nur als „Er selbst“ (V. 15) und „König“ (V. 17) vorgestellt, ist aber freilich trotz auch ohne Nennung des Namens anhand seiner Attribute (V. 15–17) und mit der Metonymie „FritzenAugen“ (V. 19) leicht identifizierbar. Anders verhält es sich mit dem lyrischen Ich, das die Nennung des Namens auf die Frage des Königs hin dem Leser zumindest verweigert. Lediglich die Berufsbezeichnung „Schriftsteller“, „ich mache Verse“ (V. 24) lassen deutlich autobiographische Bezüge des Rollenichs zum empirischen Autor Fontane erkennen. Der Auftritt Friedrichs II. ist allerdings alles andere als königlich-erhaben und gleicht mehr der Parodie eines königlichen Auftritts, da der Preußenkönig nicht etwa auf der Treppe von Sanssouci flaniert, sondern unvermittelt aus dem „Buschwerk“ (V. 14) tritt. Hier zeigt sich – bei aller Preußen- und Vaterlandsverehrung – Fontanes von der Forschung immer wieder thematisiertes ambivalentes Verhältnis zu Staat, Geschichte und Obrigkeit.137 Von einer uneingeschränkten

|| 135 Theodor Fontane: Sämtliche Romane. Erzählungen, Gedichte. Nachgelassenes. Bd. 6. Hg. von Walter Keitel (Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abteilung I). Darmstadt 1978, S. 262–264. 136 Zur „impressionistischen“ Tendenz schon Nürnberger mit Verweis auf die Studie von HansHeinrich Reuter: Nürnberger, Sie kennen ja unsren berühmten Sänger, 1991, S. 196. 137 An zahlreichen politischen Ereignissen wie der Thronbesteigung Wilhelms II., oder der Entlassung Bismarcks dokumentiert diese abwägend-ambivalente Haltung die Studie von Friedrich

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Verherrlichung sowohl Friedrichs II. als auch Menzels kann nicht die Rede sein. Vielmehr wird der kaiserzeitliche Personenkult hier durchaus ironisch-kritisch hinterfragt. So spielen die Friedrich II. in den Mund gelegten spöttischen Verse zum Metier des lyrischen Ichs (V. 26–29) auf die von Fontane in vielen seiner späten Gedichte wie Aus der Gesellschaft (1889) oder Arm oder reich (1896) immer wieder monierte schlechte gesellschaftliche und ökonomische Stellung von Schriftstellern an.138 In der präteritionalen Wendung Friedrichs II. „Ja, ja Berlin wird Weltstadt“ (V. 30) wird dessen geringschätzige Meinung über die Gegenwart deutlich, die die Lesererwartung an eine ausschließlich positive Friedrich-Figur konterkarieren. Den Kern des Künstler-Gedichts bilden die Ausführungen des lyrischen Ichs auf Friedrichs Frage „Wer ist Menzel?“ (V. 38). Nominalistisch und in Stichworten wird ein ganzer Werkkatalog aufgerufen, der nicht die Titel der einzelnen Gemälde nennt, auf die angespielt wird, sondern diese von ihren Gegenständen und Motiven her synthetisierend erfasst (V. 46–55). Fontane geht es nicht um die Verkürzung oder Reduktion eines künstlerischen Werkes, auch nicht um die Demonstration von Kennerschaft eines Gegenstandbereichs, der, so das lyrische Ich, komplex genug ist für ein „Doktorthema“ (V. 42). Vielmehr verdeutlicht der stichwortartige Werkkatalog, was Fontane bereits 1863 in einer der Ausstellungsbesprechung Menzelscher Werke in der Kunstakademie festgestellt hat: Es genügt, die Namen der Bilder zu nennen; jeder kennt sie, entweder im Original oder Stich, jeder verdankt ihnen Erhebung, Belehrung, Erheiterung und wird sich freuen, alte Eindrücke neu zu beleben oder aber, unter dem Einfluß der Gesamtheit, sie steigern zu können.139

Nach der ersten Unterbrechung durch Friedrich II. (V. 56) widmet sich das lyrische Ich Menzels Darstellungen der friderizianischen Welt und stellt dabei die spezifische Arbeitsweise Menzels (V. 58: „Er durchstudierte“) und die Bedeutung der Werke für die zeitgenössische Kenntnis der Vergangenheit heraus. An der

|| Scherer: Fontane und das Wilhelminische Deutschland. In: Theodor Fontane – Dichter der deutschen Einheit. Hg. von Bernd Heidenreich und Frank-Lothar Kroll. Berlin 2003, S. 79–87, bes. S. 87. 138 Vgl. Karl Richter: Lyrik und geschichtliche Erfahrung in Fontanes späten Gedichten. In: Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung. Hg. von Bettina Plett. Darmstadt 2007 [zuerst 1985], S. 30–45, bes. S. 36f. 139 Theodor Fontane: Die Menzelsche Kunstausstellung in der Kunstakademie [1863]. In: Theodor Fontane: Aufsätze zur Bildenden Kunst. 2 Bde., hier Bd. 1. Hg. von Rainer Bachmann und Edgar Gross. München 1970 (Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bde. XXIII/1+2), S. 251–253, hier S. 252.

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Glaubwürdigkeit von Menzels Historienbildern und deren erzieherischer Funktion wird kein Zweifel gelassen. „Die groß’ und kleine Welt; was kreucht und fleucht, / Er gibt es uns im Spiegelbilde wieder“ (V. 59–60). Damit werden Menzels Historienbilder in die Tradition und den Zusammenhang der Geschichtsmalerei seit dem frühen 19. Jahrhundert gestellt, wenngleich seine spezifisch realistische Auffassung und Wiedergabe von historischen Ereignissen als Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Malern betont werden (V. 58–62).140

Abb. 10: Adolph von Menzel: Die Tafelrunde von Sanssouci (1850)

Exemplarisch beschreibt das lyrische Ich in den folgenden Versen (V. 65–69) Menzels berühmtes Gemälde Die Tafelrunde von Sanssouci (1850, Abb. 10), das heute durch Kriegsverlust nicht mehr erhalten und nur noch in einer Kopie von Joachim Tietze vorhanden ist. Gleichwohl markiert eine Detailbeobachtung wie der vom Betrachter aus vorne links unter der Tischdecke hervorschauende Hund Friedrichs II. (V. 67), dass die ansonsten das Gemälde nur locker zusammenfassende Beschreibung mit einem Leser rechnet, dem das Werk gut bekannt ist. An dieser Stelle vermischen sich Bildraum und Handlungsraum des Gedichts: Der Ort der Betrachtung und Unterredung mit Friedrich II. in Fontanes Gedicht ist gleichzeitig auch der gemalte Ort von Menzels Gemälden, das vom lyrischen Ich

|| 140 Zur Geschichtsmalerei und zum Konzept der „Nationalerziehung“ durch Historienmalerei am Beispiel der Cornelius-Fresken für den Münchner Hofgarten vgl. Frank Büttner: Bildung des Volkes durch Geschichte. Zu den Anfängen öffentlicher Geschichtsmalerei in Deutschland. In: Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie. Hg. von Ekkehard Mai unter Mitarbeit von Anke-Repp-Eckert. Mainz 1990, S. 77–94.

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beschrieben bzw. in Erinnerung gerufen wird. Literarisch wird damit nachvollzogen, was Menzel mit seinen Historienbildern in Form von Gemälden geleistet hat, nämlich die Evokation der ‚Fritzen-Welt‘.141

Abb. 11: Adolph von Menzel: Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci (1852)

Die Tafelrunde in Sanssouci (Abb. 10), das Flötenkonzert (1852, Abb. 11), die Ansprache Friedrichs bei Leuthen (1859/61, Abb. 12) und das auch in Vers 51 genannte Eisenwalzwerk (1872/75, Abb. 13) wurden 1896 /1906 im Zuge der Umbaumaßnahmen der großen Cornelius-Säle in der Berliner Nationalgalerie unter dem zweiten Direktor, Hugo von Tschudi, als „Leitbilder einer Nation“ zu einem eigenen kleinen Menzel-Museum zusammengestellt, was Fontane in Gedichtform hier schon vorwegnimmt.142 Die eigentliche, dem Anlass des Gedichts entsprechende Würdigung Menzels lässt sich weniger in den Passagen des lyrischen Ichs finden, in denen die

|| 141 Vgl. hierzu auch Paret: Kunst als Geschichte, 1990, S. 223; ferner auch Nürnberger: „Sie kennen ja unsren berühmten Sänger“, 1991, S. 197: „Was Auf der Treppe von Sanssouci beschreibt und selbst darstellt, ist die perfekt Verwandlung von Wirklichkeit in Kunst – am Ende des Prozesses steht das ‚Werk‘ als das eigentliche und einzige Ziel. Fontane hat ein Traum-Preußen geschaffen, nicht unvergleichbar dem erträumten Brandenburg in Kleists Prinz Friedrich von Homburg.“ 142 Zur Geschichte der am 21.3.1876 eröffneten Nationalgalerie in Berlin, dem Programm des ersten Direktors Max Jordan, hier „preußische Historienbilder zum Ruhme der Hohenzollern“ auszustellen und den Veränderungen in der Präsentation des Gemäldebestandes durch Hugo von Tschudi, dessen Konzept ein Haus der „vaterländischen Kunst“ gewesen ist vgl. Jörn Grabowski: Leitbilder einer Nation. Zur Präsentation von Historien- und Schlachtengemälden in der Nationalgalerie. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 91–100, zu Menzel bes. S. 96.

3 Fontane, Adolph von Menzel und die preußische Geschichte | 113

offiziellen Ehrungen durch „Titel, Ordenskreuzes / (Pour le mérite, natürlich Friedensklasse)“ in asyndetischer Reihung aufgezählt (V. 79–81), durch die merkwürdige Einklammerung des Ordens „Pour le mérite“ aber auch gleichzeitig in ihrer Bedeutung wieder relativiert werden. Entscheidender sind vielmehr die Friedrich II. in den Mund gelegten Aussagen.

Abb. 12: Adolph von Menzel: Ansprache Friedrichs des Großen bei Leuthen (1858)

Abb. 13: Adolph von Menzel: Eisenwalzwerk (1872/1875)

Das Gedicht und der Verlauf des Dialogs nehmen eine entscheidende Wendung, als in der Entgegnung auf die Beschreibung der Tafelrunde in Sanssouci Friedrich II. zu erkennen gibt, dass das ganze Gespräch offenbar nur als Prüfung des lyrischen Ichs zu verstehen sei (V. 75–78), der König Menzel wie sich selbst kenne (V. 76) und ihn zu beschenken wünsche. Die Anerkennung von Menzels Leistungen in der künstlerischen Darstellung der friderizianischen Epoche wird von keinem geringeren als dem von Menzel Dargestellten selbst formuliert. In der Engführung von Menzels Werk mit dem zeitgenössischen Friedrich-Bild schreibt Fontane eine Verbindung fort, die durch Menzel selbst begonnen wurde. Für die über Jahrzehnte das Bild von Friedrich II. und seiner Zeit prägende, 1840

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erschienene Darstellung der Geschichte Friedrichs des Großen von Franz Kugler lieferte Menzel 376 Holzschnitte, die nicht weniger als Kuglers Text zur Kenntnis und Verehrung Friedrichs II. im 19. Jahrhundert beigetragen haben.143 Fünf Jahre vor Menzels 70. Geburtstag, 1880, erlebte der Band die 11. Auflage und wurde noch anlässlich von Menzels 80. Geburtstag als zeitlos gültige Darstellung und Illustration der friderizianischen Epoche gewürdigt.144 Für Menzel selbst bot die Mitarbeit an Kuglers Geschichte die Möglichkeit, „sein Realismus-Verständnis zu prüfen und zu entwickeln“145 und bildete die Grundlage dafür, dass er ab diesem Zeitpunkt stets mit dem Epitheton nationaler Künstler genannt wurde, dessen Werke ein „spezifisch preußisches Gepräge“146 hätten. Die durchaus kontroversen kunstkritischen und kunsthistorischen Diskussionen um Menzels Werk blendet Fontane in seinem Gedicht aus und überspielt diese mit der affirmativen Haltung Friedrichs II. zu Menzel.147 Gleichwohl ist die durch Friedrich II.

|| 143 Vgl. Franz Kugler: Geschichte Friedrichs des Grossen. Geschrieben von Franz Kugler: Gezeichnet von Adolph Menzel. Leipzig 1840; grundlegend zu Menzels Friedrich-Illustrationen nach wie vor: Françoise Forster-Hahn: Adolph Menzel’s „Daguerreotypical“ Image of Frederick the Great: A Liberal Bourgeois Interpretation of German History. In: The Art Bulletin 59 (1977), S. 242–261; zu Kugler und seiner Beschäftigung mit Friedrich II. sowie zur Rezeption von Kuglers Werk vgl. Wolfgang Hardtwig: Herrscher – Künstler – Kenner. Kugler, Menzel und das Bild Friedrichs des Großen. In: Ders.: Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters [1997]. Göttingen 2005 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 169), S. 303–322; zu den Auflagen und Kuglers Deutung Friedrichs als „praeceptor patriae“ auch Paret: Kunst als Geschichte, 1990, S. 25–62; zusammenfassend jetzt: Hubertus Kohle: Adolph Menzel und Franz Kugler. In: Franz Theodor Kugler: Deutscher Kunsthistoriker und Berliner Dichter. Hg. von Michel Espagne. Berlin 2010, S. 31–43. 144 Exemplarisch bei dem mit zahlreichen populären Künstlerbiographien hervorgetretenen Heinrich Knackfuß: Menzel. Mit 141 Abbildungen von Gemälden, Holzschnitten und Zeichnungen. 2. Al. Bielefeld, Leipzig 1895 (Künstler-Monographien), S. 1: „Wenn ein Künstler noch in voller Schaffenskraft unter uns wirkt, dessen Thätigkeit sich über mehr als zwei Drittteile des Jahrhunderts ausdehnt, dessen Schöpfungen bei mehreren einander folgenden Menschengeschlechtern eine niemals schwankende Bewunderung gefunden haben, so gilt von einer solchen Persönlichkeit der Satz nicht, daß die geschichtliche Bedeutung eines Lebenden nicht mit der dem Geschichtsschreiber gebotenen Ruhe und Unbefangenheit ihrem wirklichen Werte nach beurteilt werden kann.“ 145 Paret: Kunst als Geschichte, 1990, S. 34. 146 Anton Springer: Geschichte der bildenden Kunst im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1858, S. 149. 147 Die zeitgenössischen kritischen und verteidigenden kunsthistorischen Schriften sind umfangreich. Exemplarisch sei verwiesen auf die wichtige Darstellung des Berliner Kunsthistorikers Bruno Meyer, der kritisch auch auf Menzels Gegner eingeht. Gleichwohl ist die Anlage des Textes auf die Glorifizierung und nationale Inanspruchnahme einer Künstlerbiographie ausgerichtet, vgl. Bruno Meyer: Adolph Menzel. Eine Skizze. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 11

3 Fontane, Adolph von Menzel und die preußische Geschichte | 115

ausgesprochene ‚Einladung‘ Menzels nach Sanssouci nicht mehr auf den realen Ort bezogen, sondern auf das „Elysium droben“ (V. 91–92) und mag nicht zuletzt eine Erklärung für Menzels verhaltene Reaktion auf Fontanes Gedicht gewesen sein. Wie schon in der Aufzählung der öffentlichen Auszeichnungen (V. 80–82) markiert auch in diesem Fall die in Klammer gesetzte Formulierung, mit der Friedrich II. Menzel auf Erden noch „Jahrer zehne“ (V. 89–90) gewährt, einen ironischen Bruch mit der panegyrischen Tradition von Gedichten auf Künstler. Aber auch historische Fakten werden in diesem letzten Redeabschnitt Friedrichs II. relativiert. Die im Gedicht mehrfach erwähnte Tafelrunde in Sanssouci als historisches Ereignis, das Menzel im Gemälde festgehalten hat, wird von Friedrich II. aus der Gegenwartsperspektive des Jahres 1885 gewissermaßen ‚übermalt‘, indem er darauf hinweist, dass der dort verewigte Voltaire „seit Anno 70“ (V. 95) fehle und der frei gewordene Platz für Menzel reserviert sei. Wie an keiner anderen Stelle wird hier die von Menzel favorisierte Gattung der Historienmalerei kritisch beleuchtet und implizit die Frage nach der Gültigkeit künstlerischer Darstellungen von Geschichte in ihrem Wert für die Gegenwart problematisiert. Fontanes Menzel-Gedicht erfüllt als Dedikationsgedicht anlässlich des Geburtstages von Menzel dieselbe Funktion wie Hermann Linggs Dürer-Prolog, wenngleich im Falle von Fontane der bedichtete Künstler noch lebte, der Gefeierte bei Hermann Lingg hingegen schon über 300 Jahre tot war. Dieser zeitliche Abstand sichert einer Figur wie Dürer auch die uneingeschränkte literarische Verehrung als ‚Heroe‘ der Vergangenheit. Gedichte auf Künstler im Kaiserreich verarbeiten und spiegeln Auffassungen vom genialen, ‚deutschen‘ Künstler wider, weisen aber im Umgang mit den Bedichteten Unterschiede auf, die sich vor

|| (1876), S. 1–53, S. 2: „Es ist ein wahrhaft tragisches Geschick für die deutsche Kunst, daß durch eine auf leidigen ästhetischen Vorurtheilen beruhende Verblendung ein Menzel verhindert werden konnte, die ihm gebührende Führerrolle zu übernehmen. Ich sage ‚ein‘ Menzel; aber in schnurgerade entgegengesetztem Sinne wie Professor Reber in der letzterschienenen (4.) Lieferung seiner ‚Geschichte der neuern deutschen Kunst‘ (S. 436), der es nach dem Fiasco der von München importirten und – wenigstens was Kaulbach betrifft – im märkischen Sande ganz auf den Sand künstlicher Berechnung statt auf das gute Land künstlerischer Erfindungen gerathenen ‚idealen Kunst sowohl religiöser wie profaner Richtung‘ nicht weiter wunderbar findet, daß ‚ein‘ A. Menzel (wenn’s nur wenigstens wahr geworden wäre!) ‚zum Hauptträger der historischen Malerei in Berlin werden konnte.“ Und S. 41: „Denn das ist nun eben der ästhetische Grundirrthum, der insbesondere Menzel verhindert hat, der deutschen Kunst noch mehr zu werden, als er ihr geworden ist: Menzel ist dem Fanatismus für die Monumentalmalerei zum Opfer gefallen. Der Phantastik Friedrich Wilhelms IV. hätte ein begränzter, übersehbarer Plan nicht genügt, um seine Begeisterung für die Kunst zu dokumentieren.“

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allem im Maße ihrer Verklärung und Überhöhung zeigen, was sich exemplarisch an den beiden Gedichten von Lingg und Fontane nachweisen lässt. Wenn auch in den zitierten zeitgenössischen Kritiken und Porträts zu Menzel an dessen künstlerischer und preußisch-nationaler Bedeutung kein Zweifel gelassen wird, so erscheint er in Fontanes Gedicht doch weniger als entrückter, übermenschlicher Schöpfer von Kunstwerken mit überzeitlicher Geltung wie Dürer, sondern eben auch als Zeitgenosse, dessen Platz in der Kunst- und Kulturgeschichte erst noch gesichert werden muss.

4 Neue Zeit und alte Götter. Antike Skulpturen in Gedichten des späten 19. Jahrhunderts: Martin Greif, Heinrich Vierordt, Emanuel Geibel, Gottfried Keller, Paul Heyse, Adolf Pichler, Hermann Lingg und Conrad Ferdinand Meyer Neben der öffentlichen und literarischen Wahrnehmung und Würdigung zeitgenössischer und längst verstorbener deutscher Künstler ist das allgemeine Interesse an antiker Kunst, speziell auch an römischer und griechischer Skulptur im gesamten 19. Jahrhundert groß. Seit der Jahrhundertmitte finden verstärkt berühmte antike Skulpturen wie die Laokoon-Gruppe, die Venus von Milo, der Apoll vom Belvedere und andere Werke massenhafte Verbreitung in Form von Gipsabgüssen, Porzellanarbeiten und Kleinbronzen der antiken Vorbilder, die auch für ein größeres gebildetes Publikum erschwinglich waren.148 Im Anschluss an die von Johann Joachim Winckelmann in seinen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts publizierten Schriften zum Altertum propagierte Verbindung des Guten und Schönen, seine Vorstellung von der griechischen Antike als Ideal für Humanität, Kunst und Ursprünglichkeit und seinen Beschreibungen und Darstellungen antiker Kunstwerke, die deren ethische und ästhetische Vollkommenheit betonen, wurde von den Vertretern des Neuhumanismus um 1800 die Kenntnis und Auseinandersetzung mit der Antike nicht nur zur „unbestrittene[n] Domäne von Weltaneignung und Persönlichkeitsentfaltung“.149 In der Folge begleitete die Antike-

|| 148 Zum Komplex der Skulptur-Rezeption im 19. Jahrhundert und zur Problematik und Diskussion um Original und Abbild vgl. die Studie von Stefanie Klamm: Vom langen Leben der Bilder. Wahrnehmung der Skulptur und ihrer Reproduktionsverfahren in der klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts. In: Pegasus. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike 9 (2007), S. 209– 228. 149 Carola Groppe: Diskursivierung der Antikerezeption im Bildungssystem des deutschen Kaiserreichs. In: „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Hg. von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof. Frankfurt am Main 2002, S. 21–44, hier S. 21; eine repräsentative Quellenauswahl zur Winckelmann-Rezeption bis Hegel bietet der Band von Ludwig Uhlig (Hg.): Griechenland als Ideal. Winckelmann und seine Rezeption in Deutschland. Tübingen 1988 (Deutsche TextBibliothek, Bd. 4). Zur Bedeutung Winckelmanns für die Antike-Rezeption um 1800 vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Bilder und Gegenbilder goethezeitlicher AntikeRezeption. In: Das antike Denken in der Philosophie Schellings. Hg. von Rainer Adolphi und Jörg Jantzen. Stuttgart-Bad Canstatt 2004 (Schellingiana, Bd. 11), S. 249–276, bes. S. 251f.; ferner auch betonend die von Winckelmann ausgehende Verlagerung von Rom auf Griechenland als https://doi.org/10.1515/9783110700732-008

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Rezeption im gesamten 19. Jahrhundert in sozialgeschichtlicher Hinsicht auch ein „verdeckte[r] Diskurs um Qualifikationen und Sozialstatus“.150 Auf institutioneller Ebene manifestiert sich die identifikatorische Haltung gegenüber vor allem der griechischen Antike durch die humanistische gymnasiale Schulbildung – und deren Koppelung an das Studium seit 1834 –, die erst mit der Öffnung des Schulsystems zu anderen gleichberechtigen Schulen (Oberrealschule, Realgymnasium) am Ende des 19. Jahrhunderts ihre dominierende Position verlor. Gleichwohl war das von den Neuhumanisten und Wilhelm von Humboldt ausgerufene humanistische Bildungsideal während des gesamten 19. Jahrhunderts vielfach auch Angriffen ausgesetzt. Die Zweifel an der Verbindlichkeit der Antike als Leitbild für ein politisches, deutsches Nationalgefühl, für die Gesellschaft, Bildung und Kunstproduktion mehrten sich mit der zunehmenden Bedeutung der Naturwissenschaften und der rasant fortschreitenden Industrialisierung im Deutschen Reich spätestens seit 1890. Für eine funktionierende moderne Gesellschaft wurden nun Forderungen an die Schul- und Bildungspolitik nach einer fortschrittlichen Ausbildung auch in den Naturwissenschaften und modernen Fremdsprachen laut.151 Für die politische Geschichte des 19. Jahrhunderts und den Prozess der Ausbildung eines deutschen Nationalbewusstseins seit den Befreiungskriegen bis hin zur Reichsgründung kann die Rolle und Funktionalisierung der griechischen Antike als „Begründung des deutschen Nationalbewusstseins“ und als „Leitbild der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert“ nicht hoch genug veranschlagt werden.152 Von der Forschung wurde die Präferenz für die griechische Antike als

|| „Wende von einer primär politischen zu einer vorrangig kulturellen Antikerezeption“ (S. 71) Volker Riedel: Vom Muster der Kunst zur Beispielhaftigkeit des Lebens. Differenzierungen des Antikebildes bei Winckelmann und im weimarisch-jenaischen Kulturkreis. In: Weimarer Beiträge 50 (2004), S. 71–91; Volker Riedel: Zur Problematisierung der Antike-Verherrlichung in der deutschen Literatur um 1800. In: Ders.: Literarische Antikerezeption zwischen Kritik und Idealisierung. Aufsätze und Vorträge. Bd. III. Jena 2009 (Jenaer Studien, Bd. 7), S. 134–144. 150 Groppe: Antikerezeption, 2002, S. 21; bei den zitierten Passagen handelt es sich um zwei der vier Leitthesen, die Groppe in ihrem grundlegenden Aufsatz darlegt. 151 Vgl. hierzu Groppe: Antikerezeption, 2002, S. 31–37 und 39. 152 So die Titel von zwei grundlegenden Beiträgen von Walter Rüegg: Die Antike als Begründung des deutschen Nationalbewußtsein. In: Antike in der Moderne. Hg. von Wolfgang Schuller. Konstanz 1985 (Xenia, Heft 15), S. 267–287; Walter Rüegg: Die Antike als Leitbild der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. In: Ders.: Bedrohte Lebensordnung. Studien zur humanistischen Soziologie [Festschrift Walter Rüegg]. Zürich, München 1978, S. 93–105; in seinen Beiträgen geht es Rüegg bei der Betrachtung bildungs- und sozialgeschichtlicher Aspekte im Zusammenhang mit der griechischen Antike immer um eine Gesamtperspektive für das 19. Jahrhundert. Für eine differenziertere Begrifflichkeit auch sind besonders die im Beitrag von

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Leitbild eines genuin deutschen politischen Selbstverständnisses auch als Versuch einer Abgrenzung gegenüber den anderen, lateinisch-römisch geprägten und bereits bestehenden europäischen Nationalstaaten gesehen. Eine Abwendung von diesem Ideal macht Walter Rüegg exemplarisch an der Rede des Berliner Gräzisten Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff – dem Schwiegersohn Theodor Mommsens – vom 13. Januar 1900 fest, der rückblickend von der Orientierung an der (griechischen) Antike als „einem gesellschaftlich und pädagogisch falschen Leitbild“ spricht.153 Anschaulich wurde das, was man – oder besser gesagt: was eine Bildungselite – für griechische Antike hielt oder mit ihr assoziieren wollte in den überkommenen antiken Artefakten, in den Skulpturen und Werken der Kleinkunst, die in großer Zahl erst im 19. Jahrhundert – viele auch erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – gefunden und ausgegraben wurden. Trotz Winckelmann im 18. Jahrhundert und trotz des für die Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert bedeutenden Philhellinismus erlebte die Antike-Rezeption ihre Blütezeit mit der Konjunktur der Altertumswissenschaften und der Archäologie seit der Reichsgründung.154 Die oben aufgezeigte allgemeine Verbindlichkeit der griechischen Antike als politischem und gesellschaftlichem Ideal wurde insbesondere von den Altertumswissenschaften popularisiert. Zumindest kann von einer außerordentlichen Präsenz antiker Kunst in der öffentlichen Wahrnehmung gesprochen werden. Weite Verbreitung fanden Publikationen von Abbildungen antiker Werke oder oft mit Zeichnungen oder Abbildungen versehene Überblicks-Darstellungen wie Wilhelm Lübkes Geschichte der Plastik von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart (1863),155 Johannes Overbecks Geschichte der griechischen Plastik (1857),156 die von Heinrich Brunn begründete, im namhaften Bruckmann-Verlag

|| 1985 formulierten Arbeitshypothesen und Forschungsfragen zur „Rolle des Altertums bei der Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins“ von Interesse, S. 281–283. 153 Rüegg: Die Antike als Leitbild, 1978, S. 93. 154 So vor allem Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom RenaissanceHumanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 2000, bes. S. 109–115; zur Bedeutung Winckelmanns für die Herausbildung und Entwicklung der Archäologie im späten 19. Jahrhundert vgl. Stephanie-Gerrit Bruer: Die Wirkung Winckelmanns in der deutschen Klassischen Archäologie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1994 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Bd. 3), bes. S. 140–189; grundlegend zur populären Stellung der Archäologie Christiane Zintzen: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wien 1998 (Commentarii, Bd. 6). 155 Eine zweite, verbesserte Auflage erschien 1871 unter demselben Titel. 156 Neben der genannten Ausgabe erschienen bis in die 1890er Jahre noch weitere 3 Auflagen, die letzte 1893–1894 in zwei Bänden; ein Jahr vor der Reichsgründung veröffentlichte Johannes

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zunächst 1888–1932 erschienene Reihe Denkmäler der griechischen und römischen Sculptur oder Adolf Furtwängler Meisterwerke der griechischen Plastik (1893), die sich bewusst auch an ein breites gebildetes Publikum richteten und wie im Falle von Lübke und Overbeck nach der Reichsgründung zahlreiche, vermehrte und überarbeitete Neuauflagen erlebten.157 Besonders deutlich wird der Zusammenhang von kaiserlicher Staatsraison, Griechenbild und Archäologie, wenn man die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der ersten Grabungskampagne deutscher Archäologen in Olympia von 1875–1881 betrachtet. Aus den Protokollen des Reichstages geht hervor, dass die Förderung der Altertumsforschung nicht nur von vielen Verantwortungsträgern als dringliche Frage angesehen, sondern gleichzeitig auch als politischer Konkurrenzkampf etwa mit Frankreich und England verstanden wurde. Die aufgrund des Staatsvertrages mit Griechenland in Athen eingerichtete Außenstelle des Kaiserlichen Deutschen Archäologischen Instituts beaufsichtigte auch die Leitung der Ausgrabungen von Olympia, an deren Spitze der Archäologe und Althistoriker Ernst Curtius stand.158 Tatsächlich hatte schon Winckelmann über hundert Jahre

|| Overbeck: Abbildungen aus der Geschichte der griechischen Plastik. Zum Gebrauch bei Vorlesungen zusammengestellt. Leipzig 1870. 157 Einen fundierten Überblick zum Thema bietet Adolf H. Borbein: Kunstgeschichte als ästhetisches Ereignis. Die Kunst der Antike in deutschsprachigen wissenschaftlichen Monographien für ein bürgerliches Publikum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung. Hg. von Ernst Osterkamp. Berlin, New York 2008 (Transformationen der Antike, Bd. 6), S. 267–281, zusammenfassend bes. S. 274: „Hier geht es nicht mehr um gelehrte Kennerschaft oder historische und entwicklungsgeschichtliche Einsicht, sondern um das individuelle Sicheinlassen auf das Kunstwerk im Vertrauen darauf, dass alles weitere daraus folgt. […] Kunstbetrachtung wird zum Kunsterlebnis […].“ 158 Vgl. hierzu grundlegend Rüdiger vom Bruch: Internationale Forschung, Staatsinteresse und Parteipolitik. Die Olympia-Ausgrabung als frühe Phase auswärtiger Kulturpolitik. In: Olympia 1875–2000. 125 Jahre Deutsche Ausgrabungen. Internationales Symposion, Berlin 9.–11. November 2000. Hg. von Helmut Kyrieleis. Mainz 2002, S. 9–17; ferner Bernd Sösemann: Olympia als publizistisches National-Denkmal. Ein Beitrag zur Praxis und Methode der Wissenschaftspopularisierung im Deutschen Kaiserreich. In: Olympia 1875–2000. 125 Jahre Deutsche Ausgrabungen. Internationales Symposion, Berlin 9.–11. November 2000. Hg. von Helmut Kyrieleis. Mainz 2002, S. 49–84; Sösemann bietet auch eine synoptische Darstellung der kontinuierlich publizierten 47 Berichte im Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich-Preußischen Staatsanzeiger, S. 80f.; prägnant zusammengefasst S. 71f:: „Die Ausgrabung galt daher bereits früh als Ausdruck der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der 1871 geeinten Nation. Sie sollte mit der Besinnung auf eine überzeitliche Normativität, die anerkannt große Kultur und Geschichte der Griechen, dazu beitragen, die bürgerlich-liberale Idee der Kulturnation zu stärken. […] Olympia wirkte nicht als Monument in Bronze oder Steine, sondern als permanent publizistisch vorgestellte wissenschaftliche Leistung. Weil sie sachlich glaubwürdig, bildungsgeschichtlich fundiert und

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zuvor Grabungen in Olympia angeregt, die sowohl von Leo von Klenze in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts als auch von Curtius selbst kurz nach der Jahrhundertmitte mit einem genauen Grabungsplan aufgegriffen wurden.159 Erst aber mit der finanziellen Förderung des Projekts durch Reichsmittel und die politische Protektion durch Kaiser und Regierung konnte das Vorhaben umgesetzt werden. Wenn auch der Begriff der „Kulturpolitik“ oder „Wissenschaftspolitik“ erst 1909 bzw. 1929 bei Karl Lamprecht bzw. Karl Griewank nachweisbar ist, werden die deutschen Ausgrabungen in Olympia von der historischen Forschung heute als „Instrument auswärtiger Kulturpolitik“ gedeutet.160 Wer sich im 19. Jahrhundert als Bürger in der Alltagskommunikation oder als Schriftsteller literarisch zur Antike und zu antiker Kunst äußerte, ließ daher nicht nur seinen Bildungshorizont erkennen, sondern positionierte sich damit auch immer im politischen und sozialen Gefüge seiner Zeit. Literarhistorisch manifestiert sich dieser Befund in einer großen Zahl von Gedichten, die affirmativ im Sinne jener ideologisch geprägten Rezeption der griechischen Antike oder auch in kritischer Absicht auf antike Kunstwerke Bezug nehmen. Solche Gedichte sind daher mehr als reine Kunstbetrachtung und lassen sich nur vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Griechenideals verstehen und deuten. Eine nationale Instrumentalisierung und Verherrlichung der griechischen Kunst und Kultur lässt sich in Gedichten von Emmanuel Geibel, Martin Greif, Heinrich Vierordt und Hermann Lingg beobachten, die stets auch korreliert werden mit der Diagnose einer ästhetisch und kulturell als insuffizient empfundenen Gegenwart. Anders dagegen – und vielleicht anders als zu erwarten – weisen die Gedichte auf antike Skulpturen eines Großschriftstellers wie Paul Heyse, des heute unbekannten österreichischen Autors und Naturwissenschaftlers Adolf Pichler oder des Schweizers Gottfried Keller ein kritisches Potential gegenüber dem allgemein als gültig betrachteten Griechenideal auf. Bedichtet werden im späten 19. Jahrhundert vor allem Einzelkunstwerke, wobei die Gedichte selbst wiederum etwa bei Paul Heyse, Adolf Pichler und Heinrich Vierordt in thematisch geordnete Sammlungsund Produktionskontexte – zur Bildenden Kunst oder zum Komplex

|| öffentlich durchgängig präsent war, konnte sie als ‚Quelle nationaler Großthat‘ angesehen werden. Sie bildete einen politischen und gesellschaftlichen Integrationsfaktor ersten Ranges, weil sie neben dem kognitiven auch die emotionalen Dimensionen ansprach und in der Gesellschaft nicht umstritten war. Denkmal und öffentliches Denkmalbewußtsein waren weitgehend deckungsgleich.“ 159 Vgl. Lutz Klinkhammer: Großgrabung und große Politik. Der Olympia-Vertrag als Epochenwende. In: Olympia 1875–2000. 125 Jahre Deutsche Ausgrabungen. Internationales Symposion, Berlin 9.–11. November 2000. Hg. von Helmut Kyrieleis. Mainz 2002, S. 31–47, bes. S. 32–34. 160 Vom Bruch: Olympia, 2002, S. 10–12, Zitat S. 10.

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Italiendichtung – einzuordnen sind, was bei der Analyse und Interpretation der Texte berücksichtigt werden soll. Neben den genannten Autoren ist hier vor allem noch der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer zu nennen, dessen lyrische Auseinandersetzung mit antiker Kunst von der Forschung bereits behandelt wurde.161 Im Folgenden werden Gedichte der genannten Autoren erörtert, die zusammengenommen einen repräsentativen Querschnitt dafür bieten, wie Dichter in Bildgedichten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Antikenerfahrung und Antikenwahrnehmung verarbeiten. Bildgedichte dieser Zeit auf antike Skulpturen reagieren auf zeitgenössische archäologische Forschungen und Entdeckungen und äußern sich damit auch zur Kanonbildung antiker Kunstwerke. Die Autoren finden in den Skulpturen eine materialisierte Vergangenheit und verknüpfen die Kunstwerke in ihren Texten mit Erinnerungen, Verarbeitungen und Neubearbeitungen des Mythos. Eingeschrieben ist den Texten jeweils auch der Diskurs der Antiken- und Griechenrezeption seit Beginn des 19. Jahrhunderts.

Ein wichtiger Vorläufer für affirmative Gedichte auf antike Skulpturen was die Bedeutung des Griechenbildes und Funktionalisierung von Kunstwerk und Künstler anbelangt ist Emanuel Geibel, dessen aus acht Strophen bestehendes, in seiner Sammlung Neue Gedichte 1856 publiziertes Gedicht Der Bildhauer des Hadrian hier zunächst behandelt werden soll. Mit der griechischen Kultur, Kunst und Geschichte war der aus pro-preußischem und konservativem Elternhaus stammende Geibel schon früh vertraut. Mit seinem Freund, Studienkollegen und späteren Leiter der Olympia-Ausgrabungen Ernst Curtius unternahm er 1839 ausgedehnte Wanderungen durch Griechenland und publizierte 1840 seinen ersten Gedichtband. Durch königliche, später auch kaiserliche Protektion und (finanzielle) Förderung, seine Verbindungen zu höchsten Gesellschaftskreisen und seiner dichterischen „Orientierung am Habitus einer Elite“ avancierte Geibel zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller der Gründerzeit und des gesamten 19. Jahrhunderts überhaupt.162 Seine Gedichtsammlung Neue Gedichte (1856) erreichte bereits 1884 die 18. Auflage. Erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ließ Geibels Ruhm nach. Sein Werk wurde von der literaturwissenschaftlichen

|| 161 Grundlegend immer noch Michael von Albrecht: Conrad Ferdinand Meyer und die Antike. In: Antike und Abendland 11 (1962), S. 115–151, unten dann weiterführende Forschung zu diesem Komplex. 162 Zum werkbiographischen Überblick vgl. Renate Werner: Emanuel Geibel. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 4. Berlin, New York 2009, S. 133–135, Zitat S. 133.

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Forschung in der Folge und unter veränderten Geschmacksvorgaben oftmals als Staatsdichtung eines „Dichterfürsten“ abgewertet und mit einem pejorativ gemeinten Epigonalitätsverdikt versehen.163 Die jüngere Forschung zu Geibel betont hingegen die historischen und ästhetischen Rahmenbedingungen seiner Werke und bewertet diese vor dem Hintergrund von Geibels „gezielten individuelle[n] Entscheidungen im spezifischen politisch-kulturellen Kontext“.164 Geibels Der Bildhauer des Hadrian weist sich im Titel als historisches Rollengedicht aus und greift mit seinen aus acht kreuzgereimten jambischen Vierhebern eine populäre, schon in der Romantik volkstümlich gewordene Strophenform auf, deren berühmtestes Beispiel der Prolog im Himmel aus Goethes Faust ist. Geibel selbst hat die Strophenform vielfach verwendet, später auch als Huldigungsstrophe An König Wilhelm (1868).165 Die als eines der sieben Weltwunder geltende Zeus-Statue des Phidias in Olympia wird erst in der sechsten Strophe erwähnt, doch spielt sie für das Verständnis des Gedichts eine zentrale Rolle. Denn an ihm misst sich der Bildhauer Hadrians und muss feststellen, die Größe, Erhabenheit und Würde des Phidias nicht erreichen zu können. Die Reflexion des Bildhauers über den Grund, warum das so ist, bildet den eigentlichen, kulturgeschichtlich und literarhistorisch interessanten Kern des Gedichts. Exemplarisch lässt sich an Geibels Der Bildhauer des Hadrian festmachen, in welchem Maße Griechenkult und Griechenideal im 19. Jahrhundert und in Gedichten auf antike Skulpturen im Speziellen begleitet werden von einem Epigonalitätsbewusstsein, das als komplementäre Seite desselben Phänomens zu deuten ist.166

|| 163 Eine Neubewertung von Geibels Werk findet sich z.B. bei Theodor Verweyen und Gunther Witting: Emanuel Geibel: Dichterfürst und ‚Fürstenknecht‘. In: Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit den Dichtern im 19. Jahrhundert. Beiträge des Symposions „Verehrung und Distanz“ zum 200. Geburtstag von Christian Dietrich Grabbe vom 27. – 30. September 2001 in Detmold und Marienmünster. Hg. von Wolfgang Braungart. Tübingen 2004 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 120), S. 219–242; der Epigonenbegriff wird hier freilich nicht im Sinne der älteren Forschung verstanden, die die Bezeichnung meist pejorativ für eine bestimmte Schriftstellergeneration gebrauchte. Ich stütze mich hier auf die Studien von Walter Hinck: Epigonendichtung und Nationalidee. Zur Lyrik Emanuel Geibels. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 267–284; Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien. München 1999 (Zugl.: Osnabrück, Univ., Habil.-Schrift, 1997); konzise und lehrreich immer noch Manfred Windfuhr: Der Epigone. Begriff, Phänomen und Bewußtsein. In: Archiv für Begriffsgeschichte 5 (1959), S. 182–209. 164 Verweyen/Witting: Emanuel Geibel, 2004, S. 222. 165 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 649–653. 166 Vgl. Rüegg: Die Antike als Leitbild, 1978, S. 101f.; Rüegg: Die Antike als Begründung des deutschen Nationalbewußtseins, 1985, S. 272–274.

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So steht nun schlank emporgehoben Der Tempelhalle Säulenrund; Getäfelt prangt die Kuppel droben, Von buntem Steinwerk glänzt der Grund. Und hoch aus Marmor hebt sich dorten Das Bild des Donnrers, das ich schuf; Du rühmst es, Herr, und deinen Worten Folgt tausendstimm’ger Beifallsruf. Und doch, wie hier vor meinen Blicken Das eigne Werk sich neu enthüllt, Mich selber will es nicht erquicken, Und fast wie Scham ist, was mich füllt. Ob nichts am hohen Gleichmaß fehle, Ob jedem Sinn genug getan: Kein Schauer quillt in meine Seele, Kein Unnennbares rührt mich an. O Fluch, dem diese Zeit verfallen, Daß sie kein großer Puls durchbebt, Kein Sehnen, das geteilt von allen, Im Künstler nach Gestaltung strebt, Das ihm nicht Rast gönnt, bis er’s endlich Bewältigt in den Marmor flößt, Und so in Schönheit allverständlich Das Rätsel seiner Tage löst! Wohl bänd’gen wir den Stein, und küren, Bewußt berechnend, jede Zier, Doch, wie wir glatt den Meißel führen, Nur vom Vergangnen zehren wir. O trostlos kluges Auserlesen, Dabei kein Blitz die Brust durchzückt! Was schön wird, ist schon da gewesen, Und nachgeahmt ist, was uns glückt. Der Kreis der Formen liegt beschlossen, Die einst der Griechen Geist beseelt; Umsonst durchtasten wir verdrossen Ein Leben, dem der Inhalt fehlt. Wo lodert noch ein Opferfunken? Wo blüht ein Fest noch, das nicht hohl? Der Glaub’ ist, ach, dahingesunken, Und toter Schmuck ward sein Symbol. Sieh her, noch braun sind diese Haare, Und nicht das Alter schuf mich blaß:

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Doch gäb’ ich alle meine Jahre Für einen Tag des Phidias; Nicht weil des Volks verstummend Gaffen, Der Welt Bewundrung ihm gelohnt; Nein, weil der Zeus, den er geschaffen, Ihm selbst ein Gott im Sinn gethront. Das war sein Stern, das war sein Segen, Daß ihn mit ungebrochnem Flug Der höchsten Urgestalt entgegen Der Andacht heil’ger Fittich trug. Er durft’ im Reigen der Erkornen Voll glanz noch den Olympos sehn, Indes wir armen Nachgebornen In götterloser Wüste stehn. Da uns der Himmel ward entrissen, Schwand auch des Schaffens himmlisch Glück; Wohl wissen wir’s, doch alles Wissen Bringt das Verlorne nie zurück. Und keine neue Kunst mag werden, Bis über dieser Zeiten Gruft Ein neuer Gott erscheint auf Erden, Und seine Priesterin beruft.167

Vergegenwärtigt wird der Moment der Fertigstellung einer (fiktiven) Zeus-Statue dieses Künstlers für einen Tempel Kaiser Hadrians, dem eine Selbstaussprache des Künstlers mit seinem Werk folgt. Typologisch gesehen ist die Konfrontation von Künstler und Werk eine für das späte 19. aber auch frühe 20. Jahrhundert bedeutende Konstellation, die häufig in Bildgedichten vorkommt, da sich mit ihr Kunstbetrachtung und Künstlerverehrung einerseits und allgemeine (epochale) ästhetische Fragen und Künstlerproblematik andererseits koppeln lassen, was weiter unten vor allem an den Michelangelo-Gedichten Conrad Ferdinand Meyers noch gezeigt wird. Die Beschreibung des eigenen Werkes in der ersten Strophe und die folgenden Äußerungen werden einem historisch dem 2. Jahrhundert n. Chr. angehörenden, wenn auch anonymen Künstler zugeordnet, was nach den Überlegungen von Dirk Niefanger zum historischen Rollengedicht einen Sonderfall darstellt.168

|| 167 Emanuel Geibel: Neue Gedichte. Stuttgart, Augsburg 1856, S. 194–197. 168 Zu Geschichte und Systematik der Gattung vgl. die Studie von Dirk Niefanger: Das historische Rollengedicht. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Hg. von Heinrich Detering und Peer

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Doch verraten weder Sprachstil und Sprechhaltung des Bildhauers etwas von der dem eigenen Kunstwerk gegenüber empfundenen bildhauerischen Unzulänglichkeit des eigenen Könnens.169 Die Beschreibung des Aufstellungskontextes der Zeus-Statue verrät – im Gegenteil – einen offenbar stilsicheren Sprecher. Allerdings wird eben auch nur der räumliche und architektonische Kontext der Skulptur beschrieben und nicht das „Bild des Donnrers“ (V. 6) selbst („Schlank emporgehoben“, V. 1; „prangt die Kuppel droben“, V. 3; und „glänzt der Grund“, V. 4). Eine formale oder stilistische Mimikry, die den Bildhauer auch auf diesen Ebenen als historische Figur erscheinen lassen würde, wird hier nicht betrieben.170 Entscheidend ist zum einen, dass damit die Vorbildhaftigkeit der griechischen Kultur und die Leitgedanken ihrer bildkünstlerischen Ästhetik mit einem Bildhauer aus der Zeit Kaiser Hadrians nicht aus dem Horizont des 19. Jahrhunderts formuliert, sondern historisiert und in die römische Antike verlegt werden. Zum anderen werden die Gültigkeit der vom Künstler angestellten Überlegungen zur Seelenlosigkeit der eigenen Kunst (V. 13–15) und seine kulturkritische Diagnose, einer Zeit des Verfalls anzugehören (V. 17–21), dadurch auch für das 19. Jahrhundert nicht infrage gestellt. Gerade in der Geschichtslyrik des Münchner Dichterkreises etwa auch bei Hermann Lingg lässt sich ein ähnlicher Umgang mit der Antike beobachten, dessen Gedichte mit antiken Sujets durch einen „historistischen Synkretismus gekennzeichnet sind, der Versatzstücke aus Mythologie und Geschichte kombiniert und auf die Gegenwart des 19. Jahrhunderts hin projiziert“.171 Die bildhauerische Arbeit, für die sich der Künstler sogar gelobt sieht (V. 7), erscheint ihm selbst nur noch als Ausübung eines Handwerkes, einer Technik, von dem für ihn kein „Schauer“ (V. 15) mehr ausgeht und kein „Unnennbares“ (V. 16) ihn mehr anrührt. Nach diesem Verständnis birgt die Bildhauerkunst also ein Geheimnis, das gerade in der bloßen Nachahmung eines großen Vorbildes wie Phidias, dessen Unerreichbarkeit und gleichzeitige Vorbildrolle der

|| Trilcke. Bd. 1. Göttingen 2013, S. 215–268, zum Sonderfall des anonymen historischen Rollengedichtes bes. S. 261–263. 169 Bei den Begriffen lehne ich mich an Niefangers systematische Überlegungen an, vgl. Niefanger: Das historische Rollengedicht, 2013, S. 258–261, wichtig S. 259: „Das historische Rollengedicht ‚erzählt‘ also eine Geschichte aus der Geschichte und führt diese anhand eines sich selbst äußernden Protagonisten vor. Dieser erzählt, wohlgemerkt, nicht seine Geschichte; vielmehr ist dieser Teil der erzählten Historie, wenn auch ein gewichtiger.“ 170 Vgl. Niefanger: Das historische Rollengedicht, 2013, S. 257–266. 171 Thorsten Fitzon: Vom schönen Anfang der Geschichte. Antike-Imaginationen in der historischen Lyrik Hermann Linggs. In: Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus. Berlin, Boston 2011, S. 237–257, hier S. 257.

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Bildhauer in der sechsten Strophe entwirft, sich nicht mehr entfalten kann. In Geibels Rollengedicht wird einem anonymen historischen Sprecher also ein „Nachgeborenen-“ (V. 55) und Epigonalitätsbewusstsein in den Mund gelegt, das dem eigenen Kunst- und Zeitverständnis entspricht.172 Die Klage über die Verlusterfahrung, das Bedauern über einen verlorenen ganzheitlichen Kulturzustand wie er für Griechenland unterstellt wird, spricht zwar ein Bildhauer der HadrianZeit aus, doch reicht die Kontinuität dieser Klage bis in die Zeit Geibels und spielt damit auf die Insuffizienz der eigenen Gegenwart des 19. Jahrhunderts an. Indirekt widmet sich Geibels Gedicht ja auch der Zeus-Statue des Phidias, die freilich nur literarisch bei Pausanias und anderen antiken Schriftstellern sowie auf Münzen der eben der hadrianischen Zeit überliefert ist, aber doch zu den berühmtesten Skulpturen der Antike zählt. Die zahlreichen Rekonstruktionsvorschläge und Deutungen seit Winckelmann dürften Geibel bekannt gewesen sein.173 Bei den Ausgrabungen in Olympia in den 1870er Jahren unter Geibels Freund Ernst Curtius wurden allerdings nur noch die Reste des Zeus-Tempels gefunden, das Standbild selbst wurde als Relikt der heidnischen Zeit wohl unter dem christlichen Kaiser Theodosios II. 426 n. Chr. mutwillig zerstört oder aber nach Konstantinopel verbracht.174 Gerade aber die fehlenden kultischen, von einer als Gemeinschaft gedachten Gesellschaft garantierten Rahmenbedingungen für eine große Kunstproduktion werden in der siebten und achten Strophe als Gründe für das eigene Scheitern, für die fehlende Größe der „Nachgeborenen“ (V. 55) geltend gemacht. Geibels Gedicht bespiegelt insgesamt nachmärzliche Kunstproduktion an einem Bildhauerwerk der Antike, das sich für die erörterte Aussageabsicht

|| 172 Vgl. Hinck: Epigonendichtung und Nationalidee, 1966, S. 275: „Wo große Lyrik die Objektivierung des individuellen Erlebnisses oder spontanen Gedankens gelingt, wo dort der künstlerische Vorwurf im sprachlichen Vorgang, im dichterischen Bild aufgeht, schiebt Geibel die eigene Person noch einmal ein […].“; ferner auch zu diesem Aspekt Verweyen/Witting: Emanuel Geibel, 2004. 173 Vgl. Axel Rügler: Die Zeusstatue von Olympia. In: Die Sieben Weltwunder der Antike. Wege der Wiedergewinnung aus sechs Jahrhunderten. Eine Ausstellung des Winckelmann-Museums Stendal 16. August bis 12. Oktober 2003. Hg. von Max Kunze. Mainz 2003, S. 151–172, die Schriftquellen sind abgedruckt in Auszügen S. 151–153, ferner zu den Rekonstruktionen S. 155f. und der Katalog dazu S. 158–172. 174 Zur Geschichte der Statue vgl. Rügler: Die Zeusstatue von Olympia, 2003, S. 154–157; Martin J. Price: Das Standbild des Zeus zu Olympia. In: Die Sieben Weltwunder. Hg. von Peter A. Clayton und Martin J. Price. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser. Leipzig 2000 (Reclam-Bibliothek, Bd. 1701), S. 81–104; zu Phidias und seiner Bedeutung informiert umfassend Rainer Vollkommer: Pheidias. In: Künstlerlexikon der Antike. Bd. 2: L–Z. Hg. von Rainer Vollkommer. Leipzig 2004, S. 210–236, zur Zeus-Statue S. 226–229.

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besonders eignet, als seine tatsächliche Beschaffenheit nicht mehr anschaulich ist, sondern sich lediglich aus der literarischen und numismatischen Überlieferung zusammensetzt. Das Gedicht zeigt aber gleichwohl, dass die Bedichtung einer solchen Skulptur durchaus ‚Bilder‘ davon abrufen kann, deren Gültigkeit intersubjektiv vermittelbar ist.

Im Zusammenhang mit den Ausgrabungen in Olympia sind die Gedichte Nike (1881) von Martin Greif und An die Büste des Hermes (1888) von Heinrich Vierordt von Interesse, die zwei der prominentesten Funde von Olympia in Form von apostrophierenden Gedichten literarisieren. Beide thematisieren einerseits die künstlerischen Eigenheiten der Skulpturen, andererseits werden der thematische Aufstellungskontext der in Olympia gefunden Nike-Statue bei Greif und die Formenproblematik sowie das gründerzeitliche Griechenideal bei Vierordt im Dienste einer ästhetischen und weltanschaulichen Aktualisierung der antiken Skulpturen für die Gegenwart funktionalisiert. Die in elegischen Distichen gehaltene Anrufung der Siegesgöttin Nike von Martin Greif weist sich im Untertitel als aus der Anschauung heraus entstandenes, reflektierendes Gedicht aus und steht in der Ausgabe bei Greif auch unter den Sinngedichten. Greifs Kenntnisse der Bildenden Kunst seiner Zeit und der Vergangenheit waren, das hat schon die Betrachtung seines Dürer-Gedichts gezeigt, aufgrund persönlicher Beziehungen zu Malern wie Wilhelm Leibl und Wilhelm Trübner oder zu Adolf Bayersdorfer, dem Konservator der Alten Pinakothek und Verwalter der Staatlichen Gemäldegalerien in München seit den 1870er Jahren, sehr groß.175 Auch sein Interesse an der griechischen Kunst und Geschichte war zunächst von persönlichen Voraussetzungen geprägt. Sein Vater war bis 1839 als Berater Ottos von Griechenland in Athen und Greif kam nur einen Tag nach der Rückkehr aus Griechenland zur Welt.176 Der vollständige Titel von Greifs Nike-Gedicht lautet: Nike (Bei Betrachtung der in Olympia ausgegrabenen Statue):

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Nike, schwebe herab aus dem glänzenden Haus des Olympos, Lasse das lange Gewand flattern in fließender Luft; Nahe, Botin des Siegs, dem fromm dich erharrenden Helden, Still in der Irdischen Kreis winke den Hohen heran. Reich’ ihm, die ihn belohnt und befeuert, die herrliche Palme

|| 175 Vgl. Bekh: „Ich steh im Schatten meiner Zeit“, 1984, S. 37f. 176 Vgl. ebd., S. 35; lesenswert sind auch Greifs Erinnerungen an seine Jugendjahre, die in der Münchner Allgemeinen Zeitung 1909 zum ersten Mal publiziert wurden, vgl. Martin Greif: Aus meiner Jugendzeit. In: Ders.: Nachgelassene Schriften. Selbsterlebtes. Novellen – Skizzen. Hg. von Wilhelm Kosch. Leipzig 1912, S. 126–158.

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Kränz’ ihm mit freundlicher Hand, kränz’ ihm das würdige Haupt; Tritt zu seinem Gespann und erfasse die ruhenden Zügel. Deutend, daß du ihn auch künftig noch führest zum Sieg: – Wenn die Götter schon selbst des erfrischenden Glückes bedürfen, Glaube, der ringende Mensch rufet noch banger zu dir.177

Bei der Nike handelt es sich um eine recht gut erhaltene Marmor-Skulptur des ionischen Bildhauers Paionis von Mende und ist wohl um 420 V. Chr. entstanden. Gefunden wurde die Statue in der ersten Kampagne der Grabungen im Dezember 1875 (Abb. 14).

Abb. 14: Nike des Paionios (ca. 420v.Chr.)

Die beigegebene und erhaltene Weiheinschrift weist die Nike als Stiftung der mit Athen verbündeten Messenier und Naupaktier aus.178 Sehr genau am Erscheinungsbild der Skulptur orientiert inszeniert das lyrische Ich die schon damals bekannte ursprüngliche Aufstellung der Nike auf einem neun Meter hohen Marmorpfeiler, indem einerseits das Schrittmotiv der Skulptur, andererseits ihre erhöhte Position in den Eingangsversen (V. 1–2) beschrieben werden. Auf die der Skulptur fehlenden, von den Ausgräbern aber bereits rekonstruierten Flügel wird

|| 177 Hier der Abdruck nach der Ausgabe: Martin Greif: Gedichte. Erster Band. Sechste, reich vermehrte Auflage. Leipzig 1895, S. 380; das Gedicht ist auch schon abgedruckt in der bei Cotta erschienenen 2. Auflage, Martin Greif: Gedichte. 2. stark vermehrte Auflage. Stuttgart 1881, S. 349f.; über Greifs Werk und Leben und die umfangreiche Rezeption informiert eindrücklich die Zusammenstellung von Fritz Kastner: Martin Greif. Bibliographie zu seinem Leben und Werk. Speyer 1959 (Pfälzische Arbeiten zum Buch-und Bibliothekswesen und zur Bibliographie, H. 4). 178 Zum Überblick vgl. Berthold Fellmann: Die Geschichte der deutschen Ausgrabung. In: 100 Jahre deutsche Ausgrabung in Olympia. Ausstellung 1.7.–1.10.1972, veranstaltet vom Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade. Red. Berthold Fellmann. München 1972, S. 37– 49, zur Nike S. 37.

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durch den Imperativ „schwebe“ (V. 1) ebenfalls hingewiesen. Die in der zeitgenössischen archäologischen Literatur diskutierte ästhetische Dimension der Nike spielt bei Greif keine Rolle. Kennzeichnend für das Gedicht ist die Aussparung – mit Ausnahme der Überschrift – des Fundortes und der Ausgrabungen selbst. Das Gedicht konzentriert sich nach den ersten beiden Versen ganz auf die Ikonographie und Funktion der Siegesgöttin.179 Auffällig ist dabei, dass zum einen durch die sieben Imperative („schwebe“, V. 1; „lasse flattern“, V. 2; „nahe“, V. 3; „winke“, V. 4; „reich ihm“, V. 5; „kränz’ ihm“, V. 6; „tritt“, V. 7) die apostrophische Kommunikationssituation noch verstärkt wird und damit gleichzeitig die Beziehung von angesprochener Skulptur und lyrischem Ich zu einem Abhängigkeitsverhältnis stilisiert wird. Zum anderen nehmen die beiden Schlussverse als conclusio der Apostrophe eine Sonderstellung ein und scheinen auf den ersten Blick nicht so recht zu den vorangehenden Versen zu passen. Diese nämlich sind geprägt durch die Gegenüberstellung der Nike in ihrer Funktion als „Botin des Sieges“ (V. 3) und dem imaginierten Empfänger des Sieges, der mit mehreren Epitheta umschrieben wird: „fromm dich erharrende[r] Held“ (V. 3), „[der] Hohe“ (V. 4), „das würdige Haupt“ (V. 6). Offenbar geht es hier um die Erinnerung an vergangene Siege, die impliziert sind in Vers acht („auch künftig führest zum Sieg“) und gleichzeitig um die Verpflichtung der angesprochenen Nike zu künftigen Siegen, derer sich das lyrische Ich versichern will. Wer aber ist mit dem Sieger gemeint? Handelt es sich hierbei nur um eine allgemeine, eine antike Skulptur und Szenerie evozierende Dichtung oder lassen sich diese Verse auch als an die Nike gerichtete und nationalistisch grundierte Bitte für künftige deutsche Siege lesen? Die bedichtete Nike aus Olympia ist – auch das war Greif aus den archäologischen Berichten über die Ausgrabungen schon bekannt – als Denkmal eines militärischen Sieges der mit Athen verbündeten Messenier und Naupaktier wohl über die Spartaner errichtet worden, auch wenn die Inschrift den Namen der Feinde ausspart. Doch kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Zeitgenossen die Inschrift auch ohne explizite Nennung der Spartaner verstanden haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit, so vermuteten auch die Archäologen damals, wird hier auf militärische Auseinandersetzungen während des Peleponnesischen Krieges angespielt, die freilich

|| 179 Der Fund wurde freilich in den laufenden Ausgrabungsberichten im Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich-Preußischen Staatsanzeiger gewürdigt. Wie öffentlichkeitswirksam der Fund dann inszeniert wurde, zeigt die lesenswerte und an prominenter Stelle publizierte Darstellung von Johann Friedrich Overbeck: Die olympische Nike des Paeonios von Mende. Nach einem im Leipziger Kunstverein gehaltenen Vortrag. In: Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte 46 (1879), S. 61–72.

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noch vor dem Sieg von Sparta anzusetzen sind. Trotz der späteren endgültigen Niederlage gegen die Spartaner ist die Nike-Skulptur von Olympia offenbar sowohl zeitgenössisch-antik als auch in der Folgezeit als Inbegriff der künstlerischen Darstellung militärischer Siege angesehen worden.180 Ähnlich verfährt auch Greif in seinem Gedicht: Hier werden weder Namen von Siegern noch von Besiegten genannt, in den letzten beiden Versen scheint sogar das heroische Szenario mit Siegesgöttin und Sieger der ersten acht Verse ins Allgemein-Menschliche gewendet zu werden (V. 9–10). Die schon in der antiken künstlerischen Gestaltung der Skulptur mit ihrer Inschrift angelegten ‚Leerstellen‘ und die damit einhergehende potentielle Möglichkeit zur Funktionalisierung der Skulptur auch für andere militärische Siege übernimmt Greif für sein Gedicht. Auch hier braucht es den mit der eigenen Zeit vertrauten Rezipienten, der den Zusammenhang der Siegesgöttin mit nicht lange zurückliegenden historischen Ereignissen herstellen kann.

Abb. 15a: Friedrich Drake: Berliner Siegessäule, Gesamtansicht (1864/1873)

Was im Hinblick auf die Kommunikationssituation von Kunstwerk und Rezipient bereits auf die Nike von Olympia zutrifft, wird im Gedicht wiederholt. Im Horizont der politischen Bedeutung der Olympia-Grabungen liegt es nahe, Greifs Nike-Gedicht auch als literarisches Siegerdenkmal der deutschen militärischen Siege der eigenen, jüngsten Vergangenheit in Analogie zu jenen Siegen der Griechen über die Spartaner zu interpretieren und eben nicht nur als scheinbar gefällige

|| 180 Vgl. Emil Kunze: Zur Geschichte und zu den Denkmälern Olympias. In: 100 Jahre deutsche Ausgrabung in Olympia. Ausstellung 1.7.–1.10.1972, veranstaltet vom Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade. Red. Berthold Fellmann. München 1972, S. 9–21, hier S. 18–20; zur Inschrift auch den Abschnitt im angegebenen Katalog unter der Nr. 75, S. 108; ferner auch Tonio Hölscher: Die Nike der Messenier und Naupaktier in Olympia. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 89 (1974), S. 70–111.

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literarische Rezeption eines archäologischen Fundes. Nicht lange vor dem NikeFund und der Entstehung von Greifs Gedicht machte eine andere, auf einer Trommelsäule ähnlich inszenierte Siegesgöttin Furore. In Berlin wurde 1873 die bereits 1864 begonnene, ursprünglich zum Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg konzipierte Siegessäule mit der Viktoria Friedrich Drakes auf der Spitze eingeweiht (Abb. 15a und 15b). Der zeitgenössische Leser dürfte also nicht nur die in Olympia ausgegrabene Nike bei der Lektüre des Greifschen Gedichts vor Augen gehabt haben, sondern ebenso die Berliner Siegessäule mit ihrer Viktoria.181 Die Nike aus Olympia wird in Greifs Gedicht zum Medium und Ausgangspunkt der Erinnerung, bleibt also materielles Relikt der Antike, gleichzeitig wird aber auch der aktualisierende Bezug durch dieselbe Ikonographie zu einem zeitgenössischen, das Reich verherrlichenden Kunstwerk hergestellt.

Abb. 15b: Friedrich Drake: Berliner Siegessäule, Detail: Viktoria (1864/1873)

Das aus acht Strophen mit je acht kreuzgereimten Versen bestehende Gedicht An die Büste des Hermes von Heinrich Vierordt stammt aus der 1888 publizierten Sammlung Akanthusblätter. Dichtungen aus Italien und Griechenland,182 in der sich neben der Hermes-Dichtung auch noch weitere Gedichte zu griechischen

|| 181 Zur Bedeutung und Konzeption der Siegessäule im damals ja als „Athen an der Spree“ nobilierten Berlin vgl. Reinhard Alings: Die Berliner Siegessäule. Vom Geschichtsbild zum Bild der Geschichte. Berlin 2000; im größeren Kontext auch Reinhard Alings: Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal. Zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Berlin, New York 1996 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 4). 182 Heinrich Vierordt: Akanthusblätter. Dichtungen aus Italien und Griechenland. Heidelberg 1888, S. 1–3.

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Skulpturen wie der Venus von Knidos183, den Karyatiden am Erechtheustempel (Auf der Akropolis)184, An den Todesgenius im Vatikan185 und zum sog. Eros von Centocelle (Der Bildhauer und sein Knabe186) finden, die weiter unten noch behandelt werden. Insgesamt ist die Sammlung ein anschauliches Beispiel dafür, wie in Bildgedichten des späten 19. Jahrhunderts die Orientierung an einem freilich zurechtgelegten Griechenideal mit politisch nationalistischen und ästhetisch antimodernistisch gegen Subjektivismus und Naturalismus gerichteten weltanschaulichen Positionen korreliert werden können, wie im Folgenden An die Büste des Hermes:

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Immer wieder muß ich schauen, In der späten Nacht allein, Nach den hoheitsvollen Brauen Dieses Götterbilds von Stein; Du behütest meine Schwelle, Du beflügelst meinen Traum, Eine überirdische Helle Füllet des Gemaches Raum. Dieser Nacken kraftgedrungen, Dieses Antlitz stolzbewußt, Diese Schultern kühn geschwungen, Diese machtvoll breite Brust: Der Olympier stille Hehre Voll aus diesen Zügen bricht – Selbst Apoll von Belvedere Gleichet dir an Schönheit nicht!

Nein, du bist kein Gott der Diebe, Wie sie einst von dir gesagt, Überschwänglich hohe Liebe 20 Auf der Stirne lächelnd tagt; Bist der holde Götterbote, Der mir die Gesichte bringt, Der sich, gleich dem Morgenrothe, Niederwärts zur Erde schwingt. 25

Ein gestaltungsdürstend Sehnen, Das gen Sonnenaufgang schweift,

|| 183 Ebd., S. 86–88. 184 Ebd., S. 95–96. 185 Ebd., S. 13. 186 Ebd., S. 83–85.

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Nach dem Lande der Hellenen Tief in meiner Seele reift; Neige meinem Flehen kindlich Zur Gewährung, Gott, dein Ohr: Du bist stark, unüberwindlich, Hebe mich zu dir empor! Gib mir deine Wanderschuhe, Gib mit deinen goldnen Stab‘! Und die Trägheit und die Ruhe Schüttl’ ich mächtig von mir ab; Ohne Fessel, ohne Bande, Durch den Äther sonnenklar Schweb’ ich nach dem schönen Lande, Das der Welt die Form gebar. Gruß euch, Meer und schroffe Klippe! Fülle sich auf Fülle häuft! Meiner lechzend heißen Lippe Der Hymettos Honig träuft; Ewigen Frühlings Blüthen sprießen Aus geborstnem Felsenriß, Über des Ilissos Wiesen Schimmert die Akropolis. Ja, schon fühl’ ich Hellas’ Grüßen! In der Tempeltrümmer Pracht Lausch’ ich auf die wundersüßen Hirtenflöten in der Nacht; Gleich dem Schmetterling in Lüften Schlürf’ ich blühenden Genuß, Um die gürtellosen Hüften Spült der Archipelagus. Wintersturm durchheult den Norden Mitternächtig, kalt und rauh – Ach, auf immergrünen Borden Wölbt sich wolkenloses Blau. Hermes, hohe Götterbüste, Mächtig zieht es mich hinauf: Über Hellas’ goldner Küste Steigt die Sonne schon herauf. 187

|| 187 Ebd., S. 1–3.

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Die acht trochäischen Vierheber mit betonten und unbetonten Versausgängen im Wechsel zitieren als Strophenform das Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben.188 Das Gedicht stellt sich schon durch die Wahl der Form in die Tradition nationaler Dichtung, die hier inhaltlich mit dem Ideal des Griechentums als Inbegriff von Formbewusstsein, Klarheit, Harmonie und Einfachheit als Gegenbild zu einem drohenden kulturellen Verfall der eigenen Gegenwart buchstäblich zusammengeführt wird. Stellen die ersten drei Strophen noch die ausgegrabene Skulptur des Hermes und deren Beschreibung in den Mittelpunkt, so besingen die folgenden Strophen vier und fünf Griechenland als Idealwelt mit einer vom Formwillen geprägten Kunst, bevor sich das lyrische Ich in den letzten drei Strophen in einer Art Vision über die Anschauung der Skulptur in die griechische Vergangenheit träumt und damit auch die eigene Gegenwart kritisch abwertet.189

Abb. 16a: Hermes aus Olympia/Hermes des Praxiteles (ca. 340 v.Chr.)

Wie kein anderes Kunstwerk der in Olympia ausgegrabenen Antiken ist der wohl um 340 V. Chr. von Praxiteles gefertigte und am 8. Mai 1877 während der dritten Ausgrabungskampagne gefundene Hermes mit Dionysosknaben – der bereits von Pausanias erwähnt und beschrieben wurde – in Zeichnungen, Gipsabgüssen und Fotografien sehr schnell einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden und stellt auch aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive eine Wegmarke dar, was den archäologischen Umgang mit antiken Skulpturen anbelangt (Abb. 16a und

|| 188 Zur Überlieferung und Bedeutung der Strophenform vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 621–626, bes. S. 624. 189 Vgl. hierzu Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945. Berlin 2004, bes. S. 55–138 („Von der Wissenschaft zur Kunst“).

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16b).190 Vierordt liefert mit seiner Beschreibung des Hermes in Strophe drei gleichsam eine dichterische Interpretation der Hermes-Skulptur. Die körperliche Erscheinung wird mit martialischen Kraftausdrücken wie „kraftgedrungen“ (V. 9), „stolzbewußt“ (V. 10), „kühn geschwungen“ (V. 11) und „machtvoll“ (V. 12) umschrieben und die Art der künstlerischen Umsetzung im Umkehrschluss damit als Inkarnation von Potenz und künstlerischer wie körperlicher Qualität verherrlicht.

Abb. 16b: Hermes aus Olympia/Hermes des Praxiteles (ca. 340 v.Chr.); unrestaurierter Zustand

Bis in die syntaktische und rhetorische Struktur lässt sich gerade an der Beschreibung der Skulptur wiederum die gesuchte Nähe zu Fallerslebens Lied der Deutschen beobachten, was nicht zuletzt durch dieselbe Alliteration vom Klangbild her nahegelegt wird: „Dieser Nacken […]/Dieses Antlitz […]/Diese Schultern

|| 190 Zur Auffindung vgl. Fellmann: Die Geschichte der deutschen Ausgrabung, 1972, S. 40–42; zur Bedeutung der Skulptur für archäologische Verfahren und Techniken der Aufnahme und Dokumentation vgl. Adolf H. Borbein: Olympia als Experimentierfeld archäologischer Methoden. In: Olympia 1875–2000. 125 Jahre Deutsche Ausgrabungen. Internationales Symposion, Berlin 9.–11. November 2000. Hg. von Helmut Kyrieleis. Mainz 2002, S. 163–176, zum Hermes bes. S. 172f.; eindrücklich dokumentiert die zeitgenössische Popularität der nur kurz nach der Auffindung publizierte Band von Georg Treu: Hermes mit dem Dionysosknaben. Ein Originalwerk des Praxiteles gefunden im Heraion zu Olympia. Im Auftrage der Direction für die Ausgrabungen in Olympia hg. von Georg Treu. Berlin 1878; ferner Otto Benndorf: Der Hermes des Praxiteles. In: Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst 13 (1878), S. 778–786 (19. September); interessant wäre in diesem Zusammenhang die Untersuchung eines 1887 erschienenen Dramas zum Hermes aus Olympia des heute völlig vergessenen Gymnasialprofessors und Dramatikers Ernst Hermann (1837–1908), der auch mit anderen vaterländischen Dichtungen in Erscheinung getreten ist. Das Drama zeigt das Aktualisierungspotential der Skulptur, Ernst Hermann: Des [sic] Hermes des Praxiteles. Schauspiel aus der Gegenwart von G.E. Walter [d.i.: Ernst Hermann]. Baden-Baden 1888.

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[…]/Diese machtvoll breite Brust […]“ – „Deutsche Frauen, deutsche Treue/Deutscher Wein und deutscher Sang […]“.191 Gleichzeitig setzt sich die Bewertung der Skulptur auch bewusst von älteren Idealen wie dem Apollo vom Belvedere ab (V. 15–16) ab und erhebt damit den Bildhauer Praxiteles im Gedicht zum Erneuerer der griechischen (und Überwinder der klassischen) Kunst, was der zeitgenössischen Einschätzung entspricht.192 Das Beispiel der Apollo-Bewertung bei Vierordt zeigt, dass bei ähnlicher ästhetischer und ideologischer Haltung von klassizistisch orientierten Autoren des späten 18. und 19. Jahrhunderts nicht von einem grundsätzlich gleichmäßigen bzw. gleichbleibenden Klassizismus seit Winckelmann gesprochen werden kann. Das bei Vierordt formulierte Kunst- und Menschenbild benutzt die neu entdeckte Statue auch, um ein erneuertes Griechenbild und -ideal zu präsentieren, das mit der Betonung von Jugendlichkeit und Körperlichkeit schon eine eklatante Nähe zur späteren lebensreformerischen Griechenlandrezeption in den 1890er Jahren aufweist.193 Als Eröffnungsgedicht der Sammlung Akanthusblätter besitzt das Gedicht zudem programmatischen Charakter, gerade auch dadurch, dass sich hier ein lyrisches Ich bittend an die Skulptur des Hermes wendet. In der Anschauung des antiken Kunstwerkes wird dem Sprecher sein „gestaltungsdürstend Sehnen“ (V. 25) nach dem „Lande der Hellenen“ (V. 27) bewusst. Die Betrachtung ruft also wie im Nike-Gedicht von Martin Greif nicht nur die Erinnerung an die Vergangenheit wach, sondern löst im lyrischen Ich auch einen Drang zum Schaffen aus, so dass sich mit der Betrachtung der antiken Statue auch produktionsästhetische Überlegungen verbinden, die sich freilich auch auf die Dichtkunst übertragen lassen. Die Verbindlichkeit und Überzeitlichkeit des griechischen Kunstideals wird in der antiken Skulptur anschaulich und erfahrbar. Qualitativ werden

|| 191 Vgl. hierzu Kapitel II., 2. dieser Arbeit und die Überlegungen zu Martin Greifs Dürer-Gedicht, das sich ebenfalls dieser Strophenform gewissermaßen als künstlerischer Nationalhymne bedient. 192 Vgl. hierzu zusammenfassend: Wilfred Geominy: Praxiteles. In: Künstlerlexikon der Antike. Bd. 2: L–Z. Hg. von Rainer Vollkommer. München, Leipzig 2004, S. 305–319. 193 Vgl. Sünderhauf: Griechensehnsucht, 2004, S. 139–239 („Von der Kunst zum Leben“); zum Körperkult und seiner Bedeutung für die Kunstauffassung der Lebensreformbewegung knapp mit weiterer Literatur Klaus Wolbert: Das Erscheinen des reformerischen Körpertypus in der Malerei und Bildhauerei um 1900. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. I. Hg. von Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, S. 215–222; ferner Wolfgang Riedel: Homo Natura. Zum Menschenbild der Jahrhundertwende. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Bd. I. Hg. von Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, S. 105–107.

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räumlich der „kalt[e] und rauh[e]“ (V. 58) „Norden“ (V. 57) und zeitlich die eigene Gegenwart des lyrischen Ichs mit „Trägheit und Ruhe“ (V. 35) assoziiert, Griechenland und die griechische Antike hingegen mit Begriffen positiver Semantik als Ort und Zeit der „Fülle“ (V. 42) und des Form-Bewusstseins („Das der Welt die Form gebar“, V. 40) belegt. Die Erfahrung der Gegenwart wird angesichts von nicht genannten ‚modernen‘ literarischen und künstlerischen Strömungen wie Naturalismus und Subjektivismus als im Verfall begriffen gewertet. Das Griechenideal, wie es sich in der Hermes-Skulptur zeigt, wird als qualitativ höher stehendes Gegengewicht verstanden, was sich im Bild der vertikalen Bewegung zeigt (V. 32: „Hebe mich zu dir empor“; V. 61–62: „Hermes, hohe Götterbüste,/Mächtig zieht es mich hinauf“), das freilich auch symbolisch und nicht nur räumlich zu verstehen ist.

Balladesk dagegen aber nicht weniger nationalistisch grundiert nimmt sich Vierordts Gedicht Die Karyatiden am Erechtheustempel. (Auf der Akropolis) aus, das ebenfalls 1888 publiziert wurde. Vier der neun Strophen sind direkte Figurenrede der fünf auf der Akropolis verbliebenen Karyatidenfiguren, die einen Trauergesang (V. 12) anstimmen (Abb. 17). Mit den Figuren verbinden sich hier nicht Fragen über deren ästhetische Beschaffenheit oder äußere Erscheinung, auch nicht ihre architektonische Funktion oder architekturhistorische Bedeutung, sondern ihre jüngste Geschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts wird thematisiert. Aus dem Trümmerfeld verschwiegen Steigt der Marmorsäulen Hain, Ebne, Stadt und Berge liegen Hell und still im Vollmondschein. 5

10

15

Sind es Bienen, leise summend? Harfenklänge, die da wehn, Schwellen erst und dann verstummend In dem Nachtwind untergehn? Nächtlich durch den Tempelfrieden Tönt geheim und lispelnd bang Der Erechtheuskaryatiden Schwesterlicher Trauergesang: „Schauernd müssen wir beklagen Unsrer Schwester Ungemach, Daß sie nicht kann fürder tragen Dieses Götterhauses Dach.

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20

Daß sie nicht mehr festlich schweben Kann als hohe Tempelfrau, Nicht mehr leicht das Haupt erheben Zu des Sternenhimmels Blau. Das Geschick, das sie erlitten, Tief das Herz der Schwestern rührt; Ach, vom räuberischen Britten Ward sie weit hinweggeführt.

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30

35

Nicht mehr dieses Frühlings Leuchten An dem ölfruchtreichen Strand Schaut sie – denn sie weil im feuchten, Finsteren Barbarenland!“ Leis verzitternd in die Lüfte Stirbt’s wie Äolsharfenton; Veilchen athmen, Thymiandüfte Weben um das Parthenon. Des Gebälkes Trägerinnen Schweben ros’gen Angesichts; Über des Hymettos Zinnen Rinnen Ströme goldigen Lichts.194

Abb. 17: Karyatiden am Erechtheion-Tempel, Athen (ca. 420–406 v. Chr.)

Die ersten drei Strophen exponieren eine auf das Visuelle und Akustische konzentrierte geheimnisvolle Atmosphäre, in der fast unwirklich, gleichzeitig idyllenhaft („verschwiegen“, „Hain“) die Akropolis im „Vollmondschein“ (V. 4) emporsteigt. Der Sprecher der Verse und Zeitpunkt des nächtlichen Erlebnisses sind zunächst nicht näher zu identifizieren. Die Motive (Bienen, Harfenklänge, Nachtwind) und das entrückend wirkende Vokabular („leise summend“, „wehn“,

|| 194 Vierordt: Akanthusblätter, 1888, S. 95–96.

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„verstummend“) der rhetorischen Fragen in der zweiten Strophe verstärken noch die Lesererwartung, dass im Folgenden eine Verklärung der Akropolis und ihrer Korenskulpturen zu lesen sein wird. Auch die deutliche Bezugnahme in der dritten Strophe auf Platens berühmte Ballade Das Grab im Busento – vor allem mit dem ungewöhnlichen und unherorischen Verb „lispeln“ (V. 10) und demselben Strophenbeginn („Nächtlich“, V. 9)195 – konturieren die mythische Rahmenatmosphäre der Szenerie, die in der direkten Figurenrede der Koren in den folgenden Strophen allerdings etwas gebrochen erscheint. Zwar bekunden diese ihre Trauer um die verlorene Schwester, indem sie klassische Epitheta eines etablierten Griechenlandbildes aufrufen („Sternenhimmels Blau“, V. 20; „Frühlings Leuchten“, V. 25; „ölfruchtreichen Strand“, V. 26) und diesem das „feuchte, finstere Barbarenland“ (V. 27f.) kontrastiv gegenüberstellen. Was hier den Skulpturen auf der Akropolis selbst in den Mund gelegt wird, ist in der Figurenrede zwar die Klage um die ‚entführte‘ Schwester, gleichzeitig wird aber auch ein Vorwurf gegen den nur als „räuberischen Britten“ (V. 23) bezeichneten Diplomaten Lord Elgin formuliert, der 1811 eine der Erechtheion-Koren gestohlen und nach England verbracht hatte.196 Vierordts Bildgedicht thematisiert damit einen ‚falschen‘ Umgang mit den griechischen Kunstwerken, der sich namentlich mit den Briten verbindet und angesichts der oben aufgezeigten kulturpolitischen Bedeutung der deutschen Archäologie im späten 19. Jahrhundert eine nationalistische, sich gegen andere Kulturnationen profilierende Stoßrichtung besitzt.197 Die Skulpturenbetrachtung in Vierordts Gedicht nimmt das Gesehene und Sichtbare kaum in den Blick. Dagegen werden gewissermaßen ‚innere‘ oder ‚verinnerlichte‘ Bilder

|| 195 August von Platens berühmte und im 19. Jahrhundert ausgesprochen erfolgreiche – vielleicht auch missverstandene – Ballade beginnt mit folgenden Versen: „Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder./Aus den Wassern schallt es Antwort, in den Wirbeln klingt es wider.“ Hier nach der Ausgabe: August Graf von Platen: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Hist.-krit. Ausgabe. Hg. von Max Koch und Ericht Petzet. Leipzig 1910, hier Bd. 2, S. 27–29 (in Langversen), S. 30–31 (in Vierzeilern); Platens Ballade war bis ins späte 19. Jahrhundert allgemeines Bildungsgut und in zahlreichen auflagenstarken Anthologien vertreten und wurde vor allem als germanisch-nationalistische Ballade verstanden. Kritisch hinterfragt diese Rezeption bei Jürgen Link: Das Lispeln des Busento. Zu August von Platens Erfolgsballade Das Grab im Busento. In: Deutsche Balladen. Hg. von Gunter E. Grimm. Stuttgart 1988 (Gedichte und Interpretationen, RUB 8457), S. 164–177. 196 Zur Geschichte der Figuren vgl. William Saint Clair: Lord Elgin and the marbles. The controversial history of the Parthenon sculptures. New edition, thoroughly rev., updated and expanded. New York 1998. 197 Vgl. hierzu Vom Bruch: Internationale Forschung, Staatsinteresse und Parteipolitik, 2002, S. 9–11; Klinkhammer, Großgrabung und große Politik, 2002, S. 32f.

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jener Skulpturen aufgerufen, deren intersubjektiv vermittelbare Bedeutung für den zeitgenössischen Griechenkult aufgrund ihrer Berühmtheit garantiert ist.

1869 erschien der zweite Band von Hermann Linggs Gedichte, der bereits 1874 die dritte Auflage erlebte. Die „Dominanz des Historischen“ zeichnet auch diese Sammlung des Münchner Dichters aus.198 Unter der Rubrik Alterthümer199 finden sich drei Gedichte zu antiken Marmorwerken: Die Büste der Bacchantin,200 Eine Gemme. Hymnus an Diana,201 Antiker Sarkophag. Die Nymphen der Diana.202 Im Unterschied zu den bisher behandelten Gedichten zu antiken Skulpturen geht es hier nicht um spezielle Kunstwerke, um identifizierbare Bildhauerarbeiten, sondern um einen bestimmten Typus von Skulpturen. Mit ihm verbindet sich der Mythos, dessen Nacherzählung – freilich in ausgewählten Aspekten – den Kern der Gedichte bildet. Auch die Herkunft der Marmorwerke aus griechischer oder römischer Zeit spielt keine Rolle. Vielmehr verweisen die Gedichte mit ihren Titeln nur noch auf die ikonographischen Bezeichnungen, die eine Fülle von antiken Bildhauerwerken, wie sie massenhaft in Museen und Ausstellungen zu sehen oder als Gips-Repliken im späten 19. Jahrhundert zu kaufen waren, zusammenfassen. Mit den anonymen Bezeichnungen der bedichteten Kunstwerke wird auf deren Allgegenwart und Verfügbarkeit im „Lebenshaushalt der Gründerzeit“ angespielt.203 Anders als bei Gottfried Keller und seinem Gedicht zur Venus von Milo – wie noch zu zeigen ist – wird diese Omnipräsenz antiker Skulpturen im Alltagsleben bei Lingg allerdings nicht kritisch beleuchtet. Im Vordergrund steht nicht das Kunstwerk – wenn auch gleichwohl intermediale Aspekte zur Sprache kommen –, sondern der Mythos und die Geschichte, was sich an Linggs Die Büste der Bacchantin zeigen lässt: Wein umlaubte mein Gemach Und mein dämmernd Haus Zypressen –

|| 198 Vgl. Renate Werner: „Und was er singt, ist wie die Weltgeschichte“. Über Emanuel Geibel und den Münchner Dichterkreis. In: Dichter und ihre Nation. Hg. von Helmut Scheuer. Frankfurt am Main 1993 (suhrkamp taschenbuch, 2117), S. 273–289; ferner auch Werner: Flucht in die Geschichte, 1998. 199 Hier nach folgender Ausgabe: Hermann Lingg: Gedichte. Zweiter Band. Dritte Auflage Stuttgart 1874, S. 247–280. 200 Ebd., S. 260–261. 201 Ebd., S. 262. 202 Ebd, S. 263. 203 Schlink: Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit, 1992.

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Wer erweckt mich? wer besprach Mein lethäisches Vergessen? 5

10

15

20

Wer ich war, eh’ ich diesem Stein Meine Form verlieh zu leben? Seligkeiten waren mein Und mir ganz rein gegeben. Lieblich war die Nacht und warm, Und wir schwangen uns im Tanze Mit der Winzer frohem Schwarm, Bei des Mondes vollem Glanze. Auf dem Felsen tanzten wir Und am Eingang zu der Grotte, Kränzte windend ihr zur Zier Vor dem weinumlaubten Gotte: Siehe, noch im Marmor lacht Meine Lippe, wenn ich denke, An die wonnevolle Nacht, An die schönen Weihgeschenke. Als der Morgen graute, lag Todt, von meinem Speer durchstoßen, Mein Geliebter, und mein Tag Und mein Herz mit ihm gebrochen.

25

30

35

Du, du riefst mich wieder wach, Hast mir Lebenshauch gegeben, Lieben wirst du mich und ach! Mehr als Alle, die da leben. Sterblicher, ein kühner Tausch! Dich verlangte mich zu küssen; Ewig wirst du nun den Rausch Meiner Seele theilen müssen. Meine schöne Trauer soll Immerfort dein Herz erfüllen Und mit Thränen wonnevoll Noch dein herbstes Loos verhüllen.204

|| 204 Hermann Lingg: Gedichte. 2. Band. 2. Auflage. Stuttgart 1869, S. 260–261.

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Mit der Wahl von Romanzenstrophen bedient sich Lingg einer der beliebtesten und weit verbreiteten Strophenform des 19. Jahrhunderts, die gleichzeitig mit ihrer Herkunft auf der formalen Ebene einen Bezug zur Romania herstellt.205 Wie schon in Geibels Gedicht Der Bildhauer des Hadrian handelt es sich auch hier um ein Rollengedicht. Die Sprecherin ist die aus dem Stein gehauene, anonyme Bacchantin selbst, die sich in den letzten drei Strophen (V. 7–9) an ein „Du“ wendet, das sowohl mit dem Betrachter als auch dem Künstler des Werks identifiziert werden kann.206 Das Verhältnis von Kunstwerk und des ihm eingeschriebenen Mythos’ – also das intermediale Verhältnis auch von geschriebenem, überliefertem Wort und überkommenem Werk der Bildenden Kunst – wird hier explizit thematisiert. Zweimal wird auf das Material der Büste der Bacchantin verwiesen (V. 5: „Stein“ und V. 17: „Marmor“). Das sprechende Subjekt des Rollengedichts ist nicht nur kein historisches, sondern es gibt sich dadurch auch als nur in der Kunst lebendiges Wesen zu erkennen. Der tote Stein als Material und Ausgangspunkt für Kunstproduktion wird hier von seinem Ergebnis her beleuchtet. Er birgt – das suggeriert die Form des Rollengedichts – den Mythos und vergangenes Leben (Strophe 2–4). Das Kunstwerk als solches wird zwar für totes Material erklärt, das aber im Akt der Betrachtung historische Bedeutung erlangt und damit sowohl edukative als auch consolatorische Funktion im Leben des Betrachters übernimmt (Strophe 7–9). Wenn auch, wie eingangs betont, durch die Zusammenfassung vieler möglicher Bildhauerwerke im Titel des Gedichts bewusst auf die Bezugnahme auf eine konkrete Skulptur verzichte und damit die Antike-Erfahrung zunächst entindividualisiert erscheint, so wird dies im Gedicht selbst wiederum teilweise zurückgenommen, indem in den letzten drei Strophen ein intimes Verhältnis von Rezipienten und Skulptur sowie die Anschauung selbst als Erlebnis beschrieben werden.207

|| 205 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 180–187. 206 Systematisch zum anonymen Subjekt im historischen Rollengedicht vgl. Niefanger: Das historischer Rollengedicht, 2013, S. 261f. 207 In seiner 1871 publizierten Ode an die Dioskuren (Rossebändiger, Quirinal) wählt Lingg schon mit der anspruchsvollen sapphischen Odenform eine Strophe, die dem antiken Gegenstand des Gedichts angemessen scheint. Die insgesamt 16 Strophen weisen Ähnlichkeiten mit dem besprochenen Bacchantinnen-Gedicht auf, vor allem im Hinblick auf deren Funktion als materialisierte Träger von Geschichte und Mythos, hier zur besseren Anschaulichkeit die Strophen vier bis sechs, Hermann Lingg: Gedichte. 1. Band. 6., vermehrte Auflage. Stuttgart 1866, S. 205–207: „Tief ins Vorzeitgrau zu den Göttern führt ihr/Meinen Blick zurück zum Heroenalter,/Und zurück zu Helena’s unvergänglich/Lockendem Liebreiz. // Welch ein herrlich Menschengeschlecht umblüht euch!/Jagdenfroh, kühn, wild, in der vollen Schönheit/Erster

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Die Apostrophe wohl des Betrachters in der achten Strophe als „Sterblicher“ (V. 29) besitzt deutlich auch hierarchisierende Funktion und charakterisiert damit generell das Verhältnis von Rezipienten und antiker Skulptur. Daher kann man die von der Bacchantin formulierte Konsequenz aus der Anschauung fast schon als Warnung an den Betrachter lesen: „Ewig wirst du nun den Rausch/Meiner Seele theilen müssen“ (V. 31–32). Doch wird das Potential des im Marmor Dargestellten, wie es sich in den zitierten Versen andeutet, im Gedicht weder thematisiert noch ausgeschöpft. Die in der mythologischen und bildnerischen Überlieferung im Gefolge des Dionysos auftretenden Bacchantinnen (Bakchai) – oder auch Mänaden genannt – werden zwar in den ersten vier Strophen mit ihrer äußeren Erscheinung greifbar, doch spielen die später in der Literatur und Bildenden Kunst der Jahrhundertwende mit ihnen assoziierten Themen wie Rauscherfahrung, Entgrenzung, Entfesselung der Gefühle oder auch geschlechterspezifisch die Zuordnung zum rasenden Weib und zur femme fatale in Linggs Gedicht keine Rolle.208 Das Bildgedicht bleibt im Kern eine in diesem Fall von einer nicht näher bestimmbaren antiken Büste inspirierter Text, dem in erster Linie an einer Überhöhung der antiken Bildhauerei gelegen ist.

Kritisch gegenüber der Distribution, Rezeption und Funktionalisierung antiker Skulpturen in der Gründerzeit positioniert sich Gottfried Kellers bekanntes Gedicht Venus von Milo (1878). Der Schweizer Gottfried Keller – ebenso wie Conrad Ferdinand Meyer – bietet dem Literarhistoriker eine Außenperspektive auf den Antike-Kult des späten 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich. Kellers eigene Versuche als Landschaftsmaler, die Verarbeitung seiner Ambitionen in seinem

|| Jugendkraft, in beständ’gem Kampf mit/Himmel und Erde – // Doch als lang hernach in der Zeiten Umlauf/Hellas’ Volk aufblüht in erhab’ner Freiheit,/Horch, das schallt Siegsruf, am Olymp, am Isthmus/Donnern die Wagen.“ 208 Zum Diskurs von Weiblichkeit und Körperlichkeit in der Bildenden Kunst in der Zeit um 1900 mit Verweis auch auf wichtige popular-ästhetische Quellen vgl. Wolbert: Das Erscheinen des reformerischen Körpertypus, 2001, S. 215f.; zur literarischen Genese dieses Frauenbildes vgl. Carola Hilmes: Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990; zum antiken Dionysos-Kult und zur Rezeption von Bacchus und Bacchantinnen vgl. Renate Schlesier: Dionysos. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 3. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Stuttgart, Weimar 1997, Sp. 651–661; John Scheid: Bacchus. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 2. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Stuttgart, Weimar 1997, Sp. 390f.; ein anschauliches Beispiel, wie sich die antiken Charakteristika der Bacchantin mit dem ‚neuem‘ Frauenbild korrelieren lassen bietet die kurze Erzählung des auch als Bildhauer – unter anderem von Bacchantinnen-Büsten – tätigen Charles Moreau-Vauthier: Die Bacchantin. In: Die Kunst für alle 7, 16 (15.5.1892), S. 253–255.

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Roman Der Grüne Heinrich (1854/55; 1870), seine Kenntnisse auch in der zeitgenössischen Bildenden Kunst und ihre Bedeutung für sein Werk sind von der Forschung hinlänglich untersucht worden.209 Die drei Strophen mit je vier kreuzgereimten jambischen Vierhebern mit alternierend männlichen und weiblichen Versschlüssen rezipieren nicht etwa die populäre Volksliedform dieser Strophe mit wechselnd weiblich und männlichen Kadenzen, sondern suchen mit der weniger häufigen Variante dieser Strophenform auch ein bewusstes Kontrastiv zum populären Inhalt des Gedichts.210 Kellers Venus von Milo ist eigentlich ein Gedicht über zwei antike Venus-Skulpturen: Die im April 1820 auf der Insel Melos gefundene titelgebende, heute im Louvre befindliches Venus von Milo211 und die seit 1688 in den Florentiner Uffizien aufgestellte Venus de’ Medici (Abb. 18 und 19).212

Abb. 18: Venus von Milo (Ende 2. Jhdt. v. Chr.)

|| 209 Gottfried Keller verfasste schon in den 1840er Jahren Sonette auf Werke von Peter von Cornelius, Friedrich Overbeck, Horace Vernet, zum Überblick Dominik Müller: Gottfried Keller. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 412–417; in einem früheren Aufsatz beleuchtet Müller vor allem die Frage nach dem Kunstinteresse Meyers und Kellers und die Rolle ihres Schweizertums, vgl. Dominik Müller: Kunstwelt und Heimat. Die imaginären Museen Conrad Ferdinand Meyers und Gottfried Kellers. In: Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Hg. von Monika Ritzer. Tübingen, Basel 2001, S. 221–235. 210 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 225–227. 211 Zur Geschichte und Überlieferung vgl. den knappen aber informativen Artikel sub verbo in: Francis Haskell and Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500–1900. 3rd. Printing. New Haven, London 1988, S. 328–331. 212 Vgl. ebd, S. 325–328.

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Der Text verdeutlicht noch einmal zwei wesentliche und wichtige Aspekte der literarischen Rezeption antiker Skulpturen: Zum einen die allgegenwärtige Präsenz antiker Kunst im bürgerlichen Alltag und Haushalt, zum anderen die auch bei weiteren Werken – besonders bei Venus-Figuren – zu beobachtende Geschmacksverschiebung: Wie einst die Medizäerin Bist, Ärmste, du jetzt in der Mode. Und stehst in Gips, Porzlan und Zinn Auf Schreibtisch, Ofen und Kommode. 5

10

Die Suppe dampft, Geplauder tönt, Gezänk und schnödes Kindsgeschrei; An das Gerümpel längst gewöhnt Schaust du an allem still vorbei. Wie durch den Glanz des Tempeltors Sieht man dich in die Ferne lauschen, Und in der Muschel deines Ohrs Hörst du azurne Wogen rauschen!213

Abb. 19: Venus Medici (1. Jhdt. v. Chr.)

Der Sprecher des Gedichts wendet sich direkt an die Skulptur. Anders als bei den bisher behandelten Texten wird hier aber nicht eine Betrachter-Situation suggeriert. Die Worte richten sich in einem allgemeinen Gestus an die Venus von Milo nicht als Skulptur, sondern als entmaterialisiertes Kultur- und vor allem

|| 213 Gottfried Keller: Venus von Milo. In: Gottfried Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden, hier Bd. 1: Gedichte. Hg. von Kai Kauffmann. Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 125), S. 617, vgl. zur Entstehung und Überlieferung auch den Kommentar S. 1210–1212.

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Konsumgut in „Gips, Porzlan und Zinn“ (V. 3). Auch fehlt in den ersten beiden Strophen jede Überhöhung der Statue. Im Gegenteil: Mit der Apostrophe „Ärmste“ (V. 2) und der evozierten bürgerlich-alltäglichen Szenerie (V. 4–7) macht das Gedicht die Abwertung des Kunstwerks anschaulich, was auf der lexikalischen Ebene durch den Gebrauch von Wörtern aus dem alltagssprachlichen und trivialen Bereich noch verstärkt wird („Geplauder tönt“, V. 5; „schnödes Kindsgeschrei“, V. 6; „Gerümpel“, V. 7). In seiner knappen Analyse des Gedichts hat Gerhard Sautermeister bereits auf die medienhistorische Bedeutung des Textes aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass Keller Walter Benjamins Überlegungen in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) bereits vorwegnehme: „Indem es beliebig vervielfältigt, allerorten ausgestellt und herumgereicht wird, verliere das Kunstwerk, so Benjamin, seine Aura: seine Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit.“214 Kellers Gedicht ist aber auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen publizistischen und literarischen Rezeption anderer Autoren zu verorten. Zu den zahlreichen Würdigungen und Rekonstruktionsversuchen, wie sie fast zeitgleich von Veit Valentin215 oder Adolf Furtwängler216 unternommen wurden, bildet Kellers Gedicht das literarische Gegenstück und zeigt, in welcher Weise literarische Produktion und wissenschaftliche bzw. populärwissenschaftliche Rezeption konträr verlaufen können.217 Die in der letzten Strophe in personaler Perspektive beschriebene Re-Kontextualisierung der Skulptur, der Wunschtraum der Venus von Milo, in ihrer ursprünglichen räumlichen und kulturellen Umgebung, vor allem aber in ihrer ästhetischen Einzigartigkeit wiederhergestellt zu werden, birgt nicht jene Kritik gegen die französische Altertumspraxis, wie das in Vierordts KaryatidenGedicht und dessen Stoßrichtung gegen Großbritannien nachgewiesen werden

|| 214 Gert Sautermeister: Die Lyrik Gottfried Kellers. Exemplarische Interpretationen. Berlin, New York 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 67=301), zur Venus von Milo S. 230–232, Zitat S. 231. Sautermeister geht dort auch knapp auf Kellers Erzählung Das Sinngedicht ein, in dem die Melische Venus ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. 215 Vgl. Veit Valentin: Die Venus von Milo. In: Kunstchronik. Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe 10 (1875). Beiblatt Nr. 17 (5.2.1875), S. 257–262 und S. 296–301. 216 Adolf Furtwängler: Meisterwerke der griechischen Plastik. Kunstgeschichtliche Untersuchungen. Leipzig 1893, zur Venus von Milo S. 599–601. 217 An anderen Texten von Keller teilt diesen Befund schon Barbara Naumann, die von einer antiklassizistischen Kunstrezeption Kellers spricht, vgl. Barbara Naumann: Die „kolossale Kritzelei“, der „borghesische Fechter“ und andere Versuche. In: Der grüne Heinrich. Gottfried Kellers Lebensbuch – neu gelesen. Hg. von Wolfram Groddeck. Zürich 2009, S. 159–199, hier S. 190f.; zur Rezeption der Skulptur vgl. knapp Joachim Raeder: Der Triumph der Aphrodite. Die „Venus von Milo“ zwischen Kult und archäologischem Experiment. Kiel 2006 (Werkhefte Antike, Bd. 1).

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konnte.218 Wohl aber wird deutlich die Banalisierung und Abwertung eines Kunstwerkes durch eine massive öffentliche und alltägliche Inanspruchnahme kritisiert.219 Die Beliebigkeit, mit der antike Skulpturen in der öffentlichen Wertung kanonisiert oder verworfen werden, wird durch den Hinweis auf die lange Zeit vor der Venus von Milo als Schönheits- und Kunstideal betrachtete Venus de’ Medici belegt (V. 1). Ein Betrachter kommt in dem Gedicht nicht vor, die Skulptur ist zum Artikel geworden, der übersehen wird und nur noch vorhanden ist. Das Sehen, Betrachten und Beobachten werden in Kellers Gedicht allein der Venus zugeschrieben (V. 8 und V. 10). Das scheint mir bei allen anderen Unterschieden, die zurecht von Sautermeister schon benannt wurden,220 ein ganz wesentliches Differenzkriterium zu den bisher behandelten Gedichten zu sein, bei denen der Zusammenhang von Sehen bzw. Anschauung und betrachtetem bzw. und bedichtetem Gegenstand ein maßgebliches Gestaltungsmerkmal ist.221 Auch von deutscher Seite wird der rasche, argumentativ nicht nachvollziehbare Geschmackswandel beklagt und zwar von Paul Heyse. In äußerster gedanklicher Verknappung lassen sich seine elegischen Distichen Nr. XIII Venus aus den Gärten Mäcens aus der 1877/78 entstandenen Sammlung Kunst und Künstler 222 den Versen Gottfried Kellers an die Seite stellen: Venus nannten sie dich. Nun schelten sie, daß du zur Göttin Doch nicht göttlich genug, irdisch vielmehr und gemein. Schöne Natur, wie reich im Unvollkommenen beglückst du! Leer ausgehet nur der, der das Vollkommene sucht.223

Mit den Epitheta „irdisch vielmehr und gemein“ (V. 2) sind die zeitgenössischen ästhetischen Kritikpunkte an der Venus de’ Medici zusammengefasst.224 Der || 218 Vgl. Haskell und Penny: The taste and the Antique, 1988, S. 325–331. 219 Vgl. Sautermeister: Die Lyrik Gottfried Kellers, 2010, S. 231. 220 Vgl. Sautermeister: Die Lyrik Gottfried Kellers, 2010, S. 231. 221 Am 28. April 1926 erschien in der Vossischen Zeitung ein kleines Prosastück von Kurt Tucholsky mit dem Titel Hinter der Venus von Milo, das mir eine späte Fortschreibung von Kellers Kritik am Kunstgeschmack seiner Zeitgenossen zu sein scheint. Zumindest hinterfragt auch Tucholsky, ob die Besucher des Louvre tatsächlich die Skulptur noch anschauen würden, vgl. hierzu die Studie von Ulrich Stadler: Bild und Text und Bild im Text. Photographien bei Tucholsky und Heartfield und die Prosaskizze ‚Hinter der Venus von Milo‘. In: Kunst im Text. Hg. von Konstanze Fliedl unter Mitarbeit von Irene Fußl. Frankfurt am Main, Basel 2005, S. 69–87. 222 Paul Heyse: Kunst und Künstler (Winter 1877/78). In: Paul Heyse: Gesammelte Werke. Dritte Reihe, Bd. V: Hadrian/Alkibiades. Gedichte und Übersetzungen. Lebensbild von E. Petzet. Stuttgart, Berlin-Grunewald 1924, S. 369–377. 223 Ebd., S. 373. 224 Vgl. Haskell und Penny: The taste and the Antique, 1988, S. 325–328.

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Überhöhung der einst favorisierten Skulptur zur Göttin und ihre Funktionalisierung zum Schönheitsideal wird in der Lesart des Gedichts grundsätzlich eine Absage erteilt. Nicht die Beschaffenheit der Statue selbst könne dafür verantwortlich gemacht werden, sondern die falschen Erwartungen des Publikums und derjenigen, die an der Kanonisierung oder Verurteilung solcher Kunstwerke Anteil hätten. Dezidiert wird hier ein Gegengeschmack zum Ideal der Venus von Milo konzipiert, dessen ästhetische Beurteilungsgrundlage „Natur“ und „Unvollkommenheit“ (V. 3) bilden. Einige Jahre später führt der österreichische Dichter und Geologe Adolf Pichler (1819–1900) in den zwei kurzen Gedichten Die melische Venus und Die mediceische Venus (1897/99) diese Kritik fort. Die lyrische Auseinandersetzung mit den antiken Skulpturen im Sinne der so lange Jahrhunderte mit ihnen verbundenen Funktionen als ästhetische Ideale und Vorbilder für Kunst- und Körperverständnis ist hier vollends an einen Wendepunkt gekommen: Die melische Venus Daß du ein herrliches Weib, vergißt der Bewund’rer, du siehst nicht, Ob er dich sah, und bleibst Göttin dem staunenden Blick.225 Die mediceische Venus Spiegelt im klaren Quell dein Leib, du süßes Hetärchen, Wünsch’ ich herbei die Nacht, möchte dich ziehn an die Brust.226

Pichlers Gedichte benennen zwar im Titel noch den Namen der Skulpturen, doch sie verraten nichts mehr von ihrer mythologischen oder kunst- und kulturhistorischen Bedeutung. Vielmehr verweisen die Betonung von Weiblichkeit, Körperlichkeit, Sinnlichkeit und die sexuell konnotierten Anspielungen, die das Verhältnis von lyrischem Ich und antiker Skulptur hier kennzeichnen, auf den neuen Körper- und Sexualdiskurs der Jahrhundertwende hin, bei dem die Statuen nicht mehr als überzeitliche und körperlose Ideale betrachtet werden, sondern ihr sinnlicher und sexueller Reiz im Vordergrund stehen.227 Dass gleichzeitig auch noch Bildgedichte auf antike Venusskulpturen jene älteren Rezeptionsmuster

|| 225 Adolf Pichler: Bildende Künste (1897–99). In: Ders.: Gesammelte Werke. Vom Verfasser für den Druck vorbereitet. Bd. XVII.: In Lieb’ und Haß. Elegien und Epigramme aus Tirol. Vierte vermehrte Auflage. München, Leipzig 1909, S. 185–201, hier S. 186. 226 Ebd., S. 187. 227 Eine gute Zusammenfassung dieses Themas bietet das Grundlagenkapitel von Johannes G. Pankaus Habilitationsschrift zum Drama der Jahrhundertwende: Johannes G. Pankau: Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle. Würzburg 2005 (WedekindLektüren, Bd. 4), bes. S. 28–85.

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fortschreiben, verdeutlicht Heinrich Vierordts sechstrophiges Gedicht zur Venus von Knidos (1888), von der hier die ersten beiden Strophen wiedergegeben werden (Abb. 20):

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Auf das Meer, die Heimat, schauend, In den Tempels Säulenwald Steht der flutentstiegenen Göttin Venus liebliche Gestalt; Still und groß im Marmorglanz, Um das Haupt den goldnen Kranz, Züchtig, schamhaft, ohne Hülle, In der Schönheit Götterfülle. Von Praxiteles gebildet In der Werkstatt zu Athen, Auf der weiten Erde nirgends Ist solch Wunder mehr zu sehn. Und sie steigt zu Luft und Scherz Nieder in der Menschen Herz, Daß mit Seligkeit sie kröne Die geliebten Erdensöhne.228

Abb. 20: Venus Colonna, nach der Venus von Knidos (ca. 350/340 v. Chr.)

Die aus der Anschauung der Venusfiguren assoziierten sexuellen und sinnlichen Reize, die bei Adolf Pichler in einem frivol geschilderten Verhältnis von Betrachter und Skulptur gipfeln, werden bei Vierordt durch die Überhöhung der Marmorfigur zum Göttlichen (V. 3 und 8) und Wunderbaren (V. 12) sowie der begrifflichen Domestizierung solcher Reize durch Adjektiva wie „lieblich“ (V. 4) und „züchtig, schamhaft“ (V. 7) ins Anmutige und dadurch nicht Anstößige überführt. || 228 Vierordt: Akanthusblätter, 1888, S. 86–88, hier S. 86.

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Die schon im Zusammenhang mit seinem Venus-Gedicht genannte Sammlung Kunst und Künstler (1877/78) von Paul Heyse ist von seiner Entstehung und Konzeption noch in lyrikgeschichtlicher Hinsicht und für die Entwicklung des Bildgedichts interessant. Die 21 Gedichte konstruieren in ihrer Zusammenstellung die literarischen Produkte von Heyses Italienreisen und sind daher dem Komplex der Italiendichtung zuzuordnen, was insgesamt auf zahlreiche Bildgedichte des späten 19. Jahrhunderts zutrifft.229 Bedichtet werden hauptsächlich antike Werk der Bildhauerkunst, von denen allerdings nur Der Farnesische Herkules (Abb. 21),230 Venus aus den Gärten Mäcens (Abb. 19),231 Der sterbende Fechter (Abb. 22),232 Juno Ludovisi (Abb. 23),233 „Die Sterbende Meduse“ in Villa Ludovisi (Abb. 24)234 eindeutig identifizierbar sind, was den schon 1935 von Hellmut Rosenfeld formulierten Befund bestätigt, dass das „Erlebnis der Plastik seit jeher das wesentlichste Italienerlebnis der deutschen Italienfahrer gewesen ist“.235

|| 229 Zu Heyses Italiendichtung vgl. den Aufsatz von Anna Fattori: „Bürger zweier Welten“? Italien in Heyses Lyrik. In: Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien. Hg. von Roland Berbig. Frankfurt am Main 2001, S. 87–100; zur Italienliteratur und deutschen Italiensehnsucht bietet der folgende Band einen allgemeinen Überblick, der von der Pilgerreise bis in die Gegenwart reicht: Gunter Grimm, Ursula Breymayer, Walter Erhart: „Ein Gefühl von freierem Leben“. Deutsche Dichter in Italien. Stuttgart 1990, darin v.a. die Einleitung: Die Italiensehnsucht der Deutschen, S. 1–16; zwar auf die Romdichtung beschränkt aber auch in diesem Zusammenhang erhellend und immer noch unübertroffenes Standardwerk zum Thema: Walther Rehm: Europäische Romdichtung. 2., durchgesehene Auflage. München 1960. 230 Heyse: Kunst und Künstler (1877/78), 1924, S. 370. 231 Ebd., S. 373. 232 Ebd. 233 Ebd. 234 Ebd., S. 373f. 235 Hellmut Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung. Leipzig 1935 (Palaestra, 199), S. 190.

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Abb. 21: Herkules Farnese (1. Jhdt. v. Chr.)

Abb. 22: Der sterbende Gallier/Fechter (3. Jhdt. v. Chr.)

Andere Gedichte markieren ihren Bezug zu einem Kunstwerk nur durch die Angabe der Kunstgattung („Relief“) in Klammern.236 Bemerkenswert sind nun das die Sammlung eröffnende, gleichsam den anderen Texten eine poetologische Richtung vorgebende Eröffnungsgedicht mit seiner horazischen Überschrift Favete linguis und das unter Nummer VII firmierende Gedicht zu Kunst und Publikum. In den elegischen Distichen wird in programmatischer Weise ein Wandel im dichterischen Umgang mit Werken der Bildenden Kunst gefordert:

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Favete linguis Da ich ein junger Gesell, wie schalt mich oft die Geliebte, Wenn ich in Schweigen versank mitten im lachendsten Glück, Um erst ferne von ihr in beflügeltem Wort zu ergießen All der Gefühle Gewalt, die mir die Nahe geweckt. So auch wandelt’ ich stumm vorbei an den holden Gebilden Südlicher Kunst; erst spät kam das Erlebnis zu Wort. Ist doch Denken Erinnern, und Dichten ein inneres Anschaun;

|| 236 So die Gedichte unter den Nummern II: Rat der Götter (Relief), S. 369, III: Perseus und Andromeda (Relief), S. 369f., IV: Apollo unter den Grazien (Relief), S. 370, VII: Silens Nachtbesuch bei den Lebenden (Relief), S. 371, Auf eine griechische Büste des Traumgottes, S. 374f.

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Worte beschwören den Geist, der sich den Sinnen entzog. Nachzuleben entschwundenes Glück vermag die beseelte Rede; lebend’gem Genuß gnügt ein verworrenes Ach.237

Abb. 23: Juno Ludovisi (1. Jhdt. v. Chr.)

Angesichts der ausufernden Produktion von Texten auf Kunstwerke und der öffentlichen und privaten Rezeption von (antiker) Bildender Kunst im späten 19. Jahrhundert stellt Heyse hier schon die Frage nach dem „Erlebnis des Sehens“ und seiner Umsetzung der Literatur jenseits von Bildungshuberei und konventionsgebundenen Mustern als einer verinnerlichten, für das individuelle Leben Bedeutung tragenden Erfahrung – gut drei Jahrzehnte später formuliert Hofmannsthal in sprachskeptischer Manier Ähnliches im Zusammenhang seines van GoghErlebnisses in Die Briefe des Zurückgekehrten, die in der Zeitschriften-Fassung für Kunst und Künstler (1908) noch Das Erlebnis des Sehens heißen sollten.238 Die horazische Überschrift von Heyses Gedicht – „Hütet eure Zungen“ – ist gleichzeitig auch als Forderung zu verstehen, die sprachliche Umsetzung von visuellen Eindrücken nicht nach einem lehrbuchartigen Muster zu verfertigen, sondern mit ihr neben der äußeren Erscheinung auch den inneren Kern des Kunstwerks und damit die Anschauung selbst zu erfassen.

|| 237 Heyse: Kunst und Künstler (1877/78), 1924, S. 369. 238 Auf Hofmannsthal wird in Kapitel III dieser Arbeit noch eingegangen; zu den Briefen des Zurückgekehrten grundlegend: Ursula Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im Breisgau 2000 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 55), S. 45f.; Ellen Ritter: Hugo von Hofmannsthal: „Die Briefe des Zurückgekehrten“. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1988, S. 226–252.

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Abb. 24: Medusa Ludovisi (2. Jhdt. n. Chr.)

Heyse und Keller, die seit 1857 in engem und freundschaftlichem Kontakt miteinander standen, positionieren in den hier angeführten Bildgedichten bzw. Gedichten zur Problematik von Bild und Text eine Gegenposition zum bisher gezeigten, allgemeinen Umgang mit antiken Kunstwerken, die sich vor allem in der Abgrenzung zum oberflächlichen und bildungsbeflissenen Verhältnis zu solchen Werken profiliert:239

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Kunst und Publikum Hörst du das freche Geschnatter im Saal der Bronzen? Mir schaudert! Hätten sich Gänse verirrt in den geheiligten Raum? – Nicht doch! Menschenstimmen! Man lacht, man trällert Passagen. Shocking! hör’ ich und Well! – Dear me! – Nun seh’ ich sie auch: Amerikanerinnen, ein halbes Dutzend, die Hütchen Sehr verwegen und schief über den Scheitel gerückt, Dort auf dem Marmorsofa, vertieft in Berichte vom letzten Rout, wo Mißtreß und Miß neue Toiletten gesehn; Und nun folgt Médisance. Es hören die edlen Gebilde Rings im Saale mit großäugigem Staunen den Klatsch. Doch was wollt ihr? Man kauft für das Eintrittsgeld im Theater Wohl die Erlaubnis auch, nur in die Logen zu sehn.240

Kellers Kritik an der Abwertung der Venus von Milo durch ihre massenhafte Verbreitung zielt letztlich auf ein Bildungsbürgertum, das gedankenlos mit den

|| 239 Zur Freundschaft von Keller und Heyse, die vor allem von letzterem gepflegt wurde, vgl. knapp mit Quellenmaterial den Katalog: Sigrid von Moisy (Bearb.): Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek 23. Januar bis 11. April 1981. München 1981 (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellung-Kataloge, 23), S. 147– 154; informativ auch der Band mit einer Auswahl von Briefen zwischen Heyse und Keller aus den Jahren 1859 bis 1889, Fridolin Stähli (Hg.): „Du hast alles, was mir fehlt…“. Gottfried Keller im Briefwechsel mit Paul Heyse. Hg. und erläutert von F.S. Zürich 1990, hier besonders interessant die Briefe seit Dezember 1876 bis November 1879, S. 75–114. 240 Ebd., S. 371f.

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Leistungen vergangener Jahrhunderte umgeht und diese dadurch entwertet. Heyses Kritik in seinem Gedicht Kunst und Publikum verortet dagegen dasselbe Phänomen der Geistlosigkeit im Bereich der Museumskultur. Die Bedeutung des Museums im 19. Jahrhundert als Ort der kulturellen Erinnerung und individuellen Besinnung, als Ausdruck bürgerlichen Selbstverständnisses und „geheilgte[r] Raum“ (V.2) wird nicht hinterfragt.241 Beklagt wird vielmehr die Entwertung der Museumskultur zum Museumsbetrieb für ein Publikum, das den Anblick der Kunstwerke nur noch kommentieren, aber nicht mehr erleben möchte. Das freilich satirisch überzeichnete Beispiel einer amerikanischen Reisegruppe mit ihren in englischer Sprache wiedergegebenen Ausrufen als Ergebnis ihrer Kunstanschauung lässt das räsonierende lyrische Ich zur Einsicht kommen, dass Museumsbesuch und Kunstbetrachtung zum reinen gesellschaftlichen Ereignis verkommen sind, dessen soziologische und ökonomische Dimension allerdings in den letzten beiden Versen durchaus wahrgenommen wird.

Die herausragende Stellung des Schweizers Conrad Ferdinand Meyer für die Literaturgeschichte des Bildgedichts im späten 19. Jahrhunderts belegt die ansehnliche Zahl von Studien und Beiträgen, die sich mit seinem Verhältnis zur Bildenden Kunst auseinandersetzen. Sowohl zu seinen Literarisierungen von Werken der antiken Bildhauerkunst als auch der Renaissance und besonders zu Michelangelo liegen wichtige Forschungsbeiträge vor, die meist einzelne Texte in den Blick nehmen.242 Seit Franz Ferdinand Baumgartens 1917 erschienener Studie wurden viele auch von Meyers Bildgedichten im Werkkontext betrachtet immer wieder als Präfigurationen symbolistischen Dichtens und Meyer selbst als

|| 241 Diese Bedeutung unterstreichen die zahlreichen Gründungen von Museumsvereinen, dazu: Vergoosen: Museumsvereine im 19. Jahrhundert, 2004. 242 Zum Überblick über Meyers Beschäftigung mit der Antike: von Albrecht: Conrad Ferdinand Meyer und die Antike, 1962; Marianne Burkhard: C.F. Meyer und die antike Mythologie. Zürich 1966 (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte), zu den Gedichten mit Antike-Bezug S. 45–142; materialreich mit Hinweis auf viele zeitgenössische Quellen Emil Sulger-Gebing: Conrad Ferdinand Meyers Gedichte aus dem Stoffgebiet der Antike in ihren Beziehungen zu Werken der bildenden Kunst. In: Festschrift für Berthold Litzmann zum 60. Geburtstag. Im Auftrag der literarhistorischen Gesellschaft Bonn hg. von Carl Enders. Bonn 1920, S. 362– 412; mit Schwerpunkt auch auf Meyers Verhältnis zur zeitgenössischen Kunstproduktion (in der Schweiz) Dominik Müller: Kunstwelt und Heimat. Die imaginären Museen Conrad Ferdinand Meyers und Gottfried Kellers. In: Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Hg. von Monika Ritzer. Tübingen, Basel 2001, S. 221–235; Forschung zum Michelangelo-Komplex wird im nächsten Kapitel behandelt.

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Moderner avant la lettre charakterisiert.243 Dagegen und gegen die Fortführung dieser Überlegungen durch Heinrich Henel244 und Emil Staiger245 in den 1950er Jahren wendete sich vor allem Günter Häntzschel, der die Verkürzung der Lyrikgeschichte des 19. Jahrhunderts vom Erlebnisgedicht zum Symbolismus mit Meyer als seinem ersten Vertreter als problematisch betrachtete.246 Gleichzeitig wurde auch von Jost Hermand auf die „deutsch empfindenden Schweizer und Österreicher“247 hingewiesen, zu denen er auch Meyer rechnete und zahlreiche seiner Gedichte und Erzählungen in den kulturellen und politischen Kontext der Gründerzeit und des Kaiserreichs einordnete. Mit seinen Beiträgen zu einigen Novellen Meyers der späten 1880er und frühen 1890er Jahre sowie dem Gedicht Auf Goldgrund (1887) führte Peter Sprengel die divergierenden Forschungspositionen zusammen, indem er nachwies, dass Meyers für Julius Rodenbergs Deutsche Rundschau und andere namhafte Publikationsorgane im Deutschen Reich publizierten Texte zwar „einen bedeutsamen Beitrag zu jener ‚offiziellen‘ literarischen Kultur des Kaiserreichs“ darstellen, sie aber mit „ ‚gründerzeitlich‘ oder ‚wilhelminisch‘ eher verdeckt als hinreichend charakterisiert“ seien und schlug daher vor, bei Meyer von einer „Variante der Modernität zu sprechen“.248 Die von Sprengel in diesem Zusammenhang bei Meyer konstatierte Textstrategie der „Verrätselung und Maskierung“249 scheint mir auch im Hinblick bei Meyers Gedichte Der Marmorknabe (1876/82) und Die || 243 Baumgartens Studie beginnt mit dem berühmten Satz „Meyer ist der Dichter des Renaissancismus“ (S. 3), eine Formulierung, die für die Literatur der Jahrhundertwende, vor allem für die Hofmannsthal-Forschung wichtig wird. Vgl. Franz Ferdinand Baumgarten: Das Werk Conrad Ferdinand Meyers. Renaissance-Empfinden und Stilkunst. München 1917. 244 Vgl. Heinrich Henel: The poetry of Conrad Ferdinand Meyer. Madison 1954. 245Vgl. Emil Staiger: Das Spätboot. Zu Conrad Ferdinand Meyers Lyrik. In: Ders.: Die Kunst der Interpretation. Zürich 1955, S. 239–273. 246 Vgl. Günter Häntzschel: Bemerkungen zum literarhistorischen Ort von Conrad Ferdinand Meyers Lyrik. Meyers Herkunft aus der lyrischen Praxis der Restaurationsepoche und seine individuelle Weiterentwicklung. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. In Verbindung mit Günter Häntzschel und Georg Jäger hg. von Alberto Martino. Tübingen 1977, S. 355–369. 247 Hermand: Zur Literatur der Gründerzeit, 1969, S. 215. 248 Peter Sprengel: Der andere Tizian. Kunst und Wirklichkeit, Lyrik und Novellistik bei C.F. Meyer (Zu Angela Borgia und Die Versuchung des Pescara). In: Colloquia germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 29 (1996), S. 141–155, hier Zitate S. 146; ferner auch wichtig der neuere Beitrag von Peter Sprengel: Zwischen Ästhetizismus und Volkstümlichkeit. Conrad Ferdinand Meyers Gedichte für Rodenbergs ‚Deutsche Rundschau‘. In: Conrad Ferdinand Meyer. Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Hg. von Monika Ritzer. Tübingen, Basel. 2001, S. 191–203. 249 Sprengel: Der andere Tizian, 1996, S. 141.

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Sterbende Meduse (1882), die antike Skulpturen literarisieren, zutreffend zu sein, was in den folgenden Analysen und Interpretationen nachgewiesen werden soll.250 Wie auch immer man die Frage nach Meyers Verortung im Spannungsfeld der verschiedenen literarischen Strömungen im späten 19. Jahrhundert beantwortet, so ist doch festzuhalten, dass gerade in den beiden genannten Gedichten Meyers Umgang mit dem Kunstwerk und der Geschichte, mit dem Mythos und dem Rezipienten als virtuos zu bezeichnen ist und sich die Bezugnahme auf die bedichteten Skulpturen viel komplexer darbietet als bei den bisher in diesem Kapitel behandelten Gedichten.251 Gerade vor diesem Hintergrund lässt sich durch die Betrachtung von Meyers Gedichten insgesamt ein schärferes Profil des Bildgedichts auf antike Skulpturen im späten 19. Jahrhundert konturieren. Der Marmorknabe erschien zum ersten Mal 1876 im fünften Band der Deutschen Dichterhalle.252 Der Jünglingstorso, auf den sich das Gedicht bezieht, wurde 1770 in Rom gefunden und noch von Meyers Zeitgenossen sowohl als Gott der Liebe – daher auch noch der bis heute geläufige Name Eros von Centocelle (Abb. 25) – oder als Todesgenius interpretiert, was ja auch die unterschiedlichen, im Gedicht von Julia und Meister Simon vertretenen Positionen markiert.253 Die

|| 250 Eingehend untersucht haben das Gedicht jüngst Anna Fattori und Christof Laumont, deren Ergebnisse und Überlegungen im Folgenden aufgegriffen werden, vgl. Anna Fattori: Roma – Amor – Mors. Conrad Ferdinand Meyers Kunstgedicht Der Marmorknabe. In: Zwischen Goethe und Gregorovius. Friedrich Rückert und die Romdichtung des 19. Jahrhunderts. Hg. von Ralf Georg Czapla. Würzburg 2009 (Rückert-Studien, Bd. XVIII), S. 309–333; Christof Laumont: Auf Spiegeln und Brechen. Allegorie und Autorreflexion in Conrad Ferdinand Meyers Lyrik. In: Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Hg. von Rosmarie Zeller. Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion, H. 35), S. 157–172. 251 Neben Theodor Fontane und Wilhelm Raabe ist Conrad Ferdinand Meyer in das schon mehrfach zitierte, was Überblick und Forschung- und Quellendarbietung betrifft hervorragende Handbuch der Kunstzitate aufgenommen, obwohl er mehr als eine Generation älter ist als die sonst in dem Handbuch ausdrücklich der „Moderne“ verzeichneten Autoren. Überblickshaft zum Thema Conrad Ferdinand Meyer und die bildende Kunst vgl. Dominik Müller: Conrad Ferdinand Meyer. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 547–554. 252 Vgl. hierzu den Kommentar und Bericht in der Ausgabe: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 2: Gedichte. Bericht des Herausgebers. Apparat zu den Abteilungen I und II. Bern 1964, S. 167–172. 253 So zuletzt und zusammenfassend Fattori: Roma – Amor – Mors, 2009, S. 319; Fattori betont – ganz im Sinne von Sprengels Charakterisierung von Meyer als „Meister der Verrätselung und Maskierung“ –, dass „gerade die Zweideutigkeit der Statue für Meyer anregend gewesen ist“ (S. 319), zur Auffindungsgeschichte und Bewertung der Statue in der zeitgenössischen Kunstgeschichte, mit Hinweisen auf den in diesem Kapitel schon mehrfach erwähnten Adolf

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Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Gedichts ist im Grunde die – freilich unbeabsichtigte – Erfüllung des von Heyse in seinem oben behandelten Gedicht Favete linguis geforderten Umgangs mit Kunstwerken. Tatsächlich hat Meyer die Skulptur zwar in Rom während seiner Italien-Reise 1858 gesehen, aber erst 20 Jahr später nach einer Photographie verfasst, die ihm seine Schwester Betsy aus Rom mitgebracht hatte:254 In der Capuletti Vigna graben Gärtner, finden einen Marmorknaben, Meister Simon holen sie herbei, Der entscheide, welcher Gott es sei. 5

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Wie den Fund man dem Gelehrten zeigte, Der die graue Wimper forschend neigte, Kniet’ ein Kind daneben: Julia, Die den Marmorknaben finden sah. „Welches ist dein süßer Name, Knabe? Steig ans Tageslicht aus deinem Grabe! Eine Fackel trägst du? Bist beschwingt? Amor bist du, der die Herzen zwingt?“ Meister Simon, streng das Bild betrachtend, Eines Kindes Worte nicht beachtend, Spricht: „Er löscht die Fackel. Sie verloht. Dieser schöne Jüngling ist der Tod.“255

Anders als bei den bisher betrachteten Gedichten auf antike Skulpturen geht Meyer viel freier mit dem antiken Kunstwerk um, indem er nicht etwa dessen seit seiner Auffindung umstrittene Bezeichnung und Funktion für eine im balladesken Gedicht verhandelte Diskussion der Befunde nutzt, sondern die Figur des

|| Furtwängler, der seine Positionen mehrfach revidierte S. 315–319; in seinem Studienbuch zur strukturalistischen Analyse von Texten nimmt Michael Titzmann Meyers Gedicht als Beispiel für Kapitel 5 („Demonstration der Methode“). In den Mittelpunkt seiner Überlegungen – auf deren einzelne Aspekte noch zurückzukommen ist – stellt Titzmann die Analyse dieser Unterscheidung von Eros und Thanatos, vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation. München 1977 (UTB, 582), hier S. 404–445; ferner auch aufschlussreich der Kommentar in der Ausgabe Meyer: Sämtliche Werke Bd. 2, 1964, S. 172. 254 Vgl. von Albrecht: Conrad Ferdinand Meyer und die Antike, 1962, S. 141; Fattori: Roma – Amor – Mors, 2009, S. 312–314. 255 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1: Gedichte. Bern 1963, S. 31.

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Marmorknaben zum Ausgangs- und Angelpunkt eines komplexen Textgefüges macht, das sich durch intertextuelle und intermediale Anspielungen auf die Laokoon-Diskussion, Shakespeares Romeo und Julia und den Michelangelo-Komplex auszeichnet. Im Kern bleiben die Bedeutung der Marmorfigur und die historischen Befunde zwar erhalten und für den Leser auch nachvollziehbar.256 Doch verfügt Meyer frei über die Geschichte und verlegt die hier vergegenwärtigte Auffindung des Torsos in die Zeit Michelangelos. In einem Brief an Louise von François vom 4. Mai 1883 bezeichnet er diese Arbeitsweise als „souverän[en], aber nicht ungetreu[en]“ Umgang mit der Geschichte, die Carlo Moos als das „Konstruktivistische von Meyers Geschichtsbehandlung“ bezeichnet hat.257

Abb. 25: Eros von Centocelle (Mitte 4. Jhdt. v. Chr.)

Auffällig ist zunächst, dass Meyer den doch recht bekannten Stoff bzw. Gegenstand seines Gedichts in eine vergleichsweise wenig populäre Strophenform bringt, was bisher von der Forschung nicht hinreichend berücksichtigt wurde.258 Die paargereimten Verse mit weiblichen und männlichen Schlüssen wiederholen eindringlich und regelmäßig trochäische Fünfheber, die lediglich durch ein Enjambement gleich vom ersten zur zweitem Vers aufgelockert werden. Überkommene und bekannte Themen, Inhalte, Kunstwerke und Diskurse werden zu etwas Neuem zusammengestellt, was auf der formalen Ebene durch die Wahl einer

|| 256 Vgl. Fattori: Roma – Amor – Mors, 2009, S. 317–325; Laumont: Auf Spiegeln und Brechen, 2000, S. 157–172. 257 Carlo Moos: „Ich behandle die Geschichte souverän, aber nicht ungetreu“. Vergangenheit als Erinnerung bei C.F. Meyer. In: Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Hg. von Rosmarie Zeller. Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion, H. 35), S. 175– 188, Zitate S. 175 und 187. 258 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 296.

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doch entlegenen Strophenform wiederholt wird.259 Gerhard Kaiser hat bereits auf den Vokalismus der Verse und deren Affinität zum anagrammatisch-vieldeutigen Titel – Amor, Mors, Marmor, Roma – hingewiesen und den programmatischen Charakter des Gedichts im Hinblick auf die Thematisierung unterschiedlicher Kunstzugänge sowie das hier zu beobachtende „Symbolspiel unter der Oberfläche des Berichts von einem archäologischen Fund“ betont.260 Der von der Forschung ebenfalls einhellig und zurecht konstatierte Befund, dass Aufbau und Anlage der Figurenbehandlung und Figurenpräsentation im Gedicht bewusst so gewählt sind, dass für den Leser die Frage nach der Richtigkeit der unterschiedlichen Zuschreibungen letztlich unentscheidbar bleibt und damit sowohl Julia als auch Meister Simon aus ihrer jeweiligen Perspektive recht haben, ist indessen noch ergänzungsbedürftig.261 Die inhaltliche Spannung des Gedichts aufgrund der komplexen intertextuellen Verweisstruktur und des freien Umgangs mit Raum und Zeit wird vor allem auf stilistischer Ebene konterkariert. Der anspruchsvollen inhaltlichen Disposition steht eine überraschend einfache, auf Verknappung zielende rhetorische Struktur gegenüber. Die erste Strophe besteht aus einer Folge parataktischer Verse, die erst im vierten Vers durch einen Relativsatz durchbrochen wird. Dies wiederholt fast spiegelbildlich die dritte Strophe mit der Anordnung von Julias Interrogativsätzen, die auch wiederum erst im letzten Vers der Strophe aufgehoben wird. Das Ergebnis dieser stilistischen Eigenheit ist eine herausgehobene Bedeutung der Verben. Die Tätigkeiten (graben, finden, holen, entscheiden, zeigen, neigen, knien, steigen, tragen, betrachten, beachten), die hier beschrieben werden und in den Vordergrund treten, konstruieren die inhaltliche Ausrichtung des Gedichts. Mit der jungen Julia verbinden sich die Unmittelbarkeit der Betrachtung, junge Unerfahrenheit und unverstellte Reaktion auf den Torso, mit Meister Simon, der seit Kaisers Hinweis auf den historischen Namen Michelangelos – Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni – mit

|| 259 Vgl. hierzu treffend Laumont: Auf Spiegeln und Brechen, 2000, S. 172: „Nicht eine neue Statue wird angekündigt, sondern ein Bildwerk der Alten wird ausgegraben und besprochen, wird also zum Text. Die Vergangenheit wird in der Gegenwart aufbewahrt: Die Sprachbewegung des Gedichts vollzieht das, was auch das Ausgraben einer Statue leistet. Das Gedicht ist eine Allegorie der Allegorese und der Marmorknabe selbst damit eine Allegorie des Der Marmorknabe betitelten Gedichts.“ 260 Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. Erster Teil. Frankfurt am Main 1991 (suhrkamp taschenbuch, 2107), hier Kapitel „Das Gedicht als Gegenwelt“ (S. 94–196), zu Meyers Gedicht S. 111–117, Zitat S. 111. 261 Zum Beispiel bei Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik, 1991, S. 111–116; Fattori: Roma – Amor – Mors, 2009, S. 326f.

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dem Renaissancekünstler identifiziert wird,262 dagegen Lebenserfahrung, Künstlerheros und altersbedingte Weisheit.263 Nach Anna Fattori evoziere Michelangelo „große Kunst und heldische Gestalten, während Julia in der Vorstellung des Lesers für den romantischen Liebestod steht“.264 So wird die Deutung der antiken Skulptur zwei Figuren zugewiesen, die den Torso noch gar nicht gekannt haben können. Meyer geht es also nicht nur um die Bedichtung eines Kunstwerkes, sondern er nutzt die Form des Bildgedichts und die freilich mit dem Torso verbunden Ikonographie, um in einer ahistorischen Darbietung von Gegenstand (Marmorknabe) und Stoff (Romeo und Julia) die Zeitlosigkeit von Eros und Thanatos im Gedicht anschaulich zu machen.265 Bemerkenswert ist die Behandlung der Michelangelo-Figur. In seiner strukturellen Analyse hat Michael Titzmann die wesentlichen Aspekte der Figurenkonstellation und des Verhältnisses der Figuren zum „semiotischen Objekt“ des Marmorknaben schon herausgearbeitet. Danach spricht Julia ungefragt und noch während sie betrachtet, Meister Simon wird dagegen zunächst gerufen und betrachtet erst, bevor er sein Urteil fällt.266 Doch Michelangelo wird nicht wie in populären Publikationen und Bildern – auf die im nächsten Kapitel noch eingegangen wird – zum heroischen Künstler mit übermenschlichen Fähigkeiten stilisiert, sondern als alter Mann (V. 6: „graue Wimper“) und vor allem als Gelehrter (V. 5) präsentiert. Zudem ist sein Urteil ja ohnehin erst möglich, nachdem nicht Archäologen oder hochrangige Personen, sondern eben die auch noch durch das Enjambement in der ersten Strophe formal besonders hervorgehobenen Gärtner (V. 2) den antiken Marmorknaben gefunden haben. Die Rezeption von antiker Kunst wird in Meyers Gedicht vermittelt durch einen Renaissance-Künstler und ein Renaissance-Mädchen und ist nicht mehr als unmittelbarer Eindruck eines lyrischen Ichs oder eines Rollen-Ichs inszeniert wie in den oben behandelten Gedichten. Dasselbe Motiv der lyrischen Vergegenwärtigung einer historischen Auffindungsszenerie verbunden mit Michelangelo als Kunstexperten verwendet auch Martin Greif in seinem insgesamt aus 30 elegischen Distichen bestehenden

|| 262 Noch Titzmann: Strukturale Textanalyse, 1977, S. 415 vermutet hinter dem Meister Simon eine fiktive Figur; Kaiser weist auf den historischen Namen Michelangelos hin, Michelangelo di Lodovico Buonarroti Simoni, vgl. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik, 1991, S. 116. 263 Fattori: Roma – Amor – Mors, 2009, S. 326. 264 Ebd.; zum ursprünglichen Titel des Gedichts Julia Capuletti auch S. 312f. 265 In Bezug auf andere Texte und generell so auch die These von Moos: „Ich behandle Geschichte souverän, aber nicht ungetreu“, 2000, S. 175–180; Moos spricht von der „Austauschbarkeit“ der Fakten und Daten bei Meyer, die generell als Verarbeitung allgemeiner Probleme wie Größe, Frevel, Sterben, Schönheit etc. gesehen werden müssten. 266 Hier immer noch wichtig Titzmann: Strukturale Textanalyse, 1977, S. 412–415.

162 | II Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung

Gedicht Der Torso des Belvedere. Nach einer Sage, von denen hier die erste Hälfte wiedergegeben sei:

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Wieder durcheilte die Straßen von Rom die geflügelte Kunde: „Eben gehoben ans Licht wurde ein herrlicher Schatz, Eines Heroen Gestalt, zwar nur als Torso erhalten, Aber der Nacken bezeugt, daß es ein Herkules war.“ Also durchdringt es die Stadt, und es schart sich die horchende Menge, Alle verlangenden Sinns eilen zur Stätte des Funds. Dort das Gebilde zunächst umwandeln in ernstem Genießen Staunende Jünger der Kunst, stumm in das Wunder vertieft. Schweigen herrschet umher, nur selten beweget die Lippe Einer zur Rede und spricht leis ein empfundenes Wort. Da mit einmal entsteht ein Gemurmel und laute Bewegung, Schnell nach dem Wege der Stadt wendet sich jeglicher Blick. Sieh, auf die Schulter gelehnt des besorgt ihn führenden Jünglings, Naht mit beschleunigtem Schritt ehrfurchtgebietend ein Greis. Wohl ist sein Auge nicht mehr das Nächste zu scheiden imstande, Eifer der Sehnsucht treibt dennoch zu eilen ihn an. Mächtig vom Anblick bewegt, weicht rings die ergriffene Menge – „Buonarotti!“ entrang scheu sich den Lippen der Ruf. Aber die Künstler, mit Stolz den willkommenen Meister umscharend, Bringen mit freudigem Gruß ihre Verehrung ihm dar. Doch er vernimmt sie nur halb und lenkt die noch übrigen Schritte Nach dem bekränzten Gerüst, d’rauf sich der Marmor erhebt. Jetzt zum verwitterten Stein beugt leis er den atmenden Busen, Und er umfaßt die Gestalt gleich einem liebenden Freund. Doch das erregte Gefühl, bald weicht es vollkommener Fassung, Und in besonnener Ruh’ prüft er das mächtige Werk. Langsam gleitet sein Arm den gewaltigen Nacken hinunter, Und er befühlet den Zug jeglichen Muskels genau. Oftmals kehrt er zurück zur eben bewunderten Stelle, Tastet zur Schulter hinauf, gleitet die Hüfte hinab. Also weidet er sich am Einklang der herrlichen Bildung, Statt mit verschleiertem Blick prüft er mit sehender Hand. Wohl auch entdeckt er mit Schmerz des vollendeten Körpers Verstümmlung, Denn nur zu vieles verging, wert, daß es dauerte stets. Gänzlich fehlet das Haupt, und es mangeln die redenden Glieder, Leib und Hüften allein blieben noch übrig vom Bau. Nichts sonst deutet mehr an, wie beschaffen das göttliche Werk war, Das die Tausende einst, die es betrachtet, entzückt. Doch jetzt spielen ihm neu, auf dem Torso die fühlenden Hände, Und aus den Trümmern ergänzt glücklich sein ahnender Geist.

4 Antike Skulpturen im Gedicht | 163

Vor ihm dämmert es auf, er erblicket ihn leibhaft und wirklich, Wie nach der irdischen Müh’ ruht der unsterbliche Held. 267

Ob Greif Meyers Gedicht gekannt hat, kann nicht mehr nachvollzogen werden.268 Bei aller Ähnlichkeit in der Beschreibung der Auffindung und Charakterisierung Michelangelos als „ehrfurchtgebietendem Greis“ (V. 14) stehen bei Greif doch klar die Erzählung und die Bedeutung des Torso-Erlebnisses für Michelangelo im Vordergrund, womit Greif die zeitgenössische Beschäftigung mit der Form des Torso – lange vor Rilkes Torso-Sonetten – als künstlerischem Prinzip aufgreift.269 Gleichwohl belegen die beiden Gedichte von Meyer und Greif, dass es neben dem Michelangelo-Bild des großen Einzelkünstlers und Geistesheroen im Bildgedicht des späten 19. Jahrhunderts offenbar auch noch eine weniger populäre Rezeption des Renaissance-Künstlers gab, die Michelangelo als Kunstkenner und Vermittler antiker Kunst stärker in den Vordergrund rückte und damit einen ‚unbekannteren‘ Michelangelo ins Gedicht bringt.

Auf dieselbe Skulptur verfasste Heinrich Vierordt 1888 ein ebenfalls vierstrophiges Gedicht An den Todesgenius im Vatikan, das allerdings weit weniger komplex als das von Meyer die antike Skulptur inszeniert: Durch die statuengeschmückte Halle Schreit’ ich, wo die alten Götter stehn, Um die heißgeliebten Bilder alle Schauernden Entzückens anzusehn. 5

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Immer zieht’s mich zu dem Jüngling wieder, Zu des Todes marmorner Gestalt, Dessen klare, jugendschöne Glieder Der gelösten Locken Füll’ umwallt. Sanft und göttlich blickend steht der hohe Friedensspender, dessen Lippe schweigt,

|| 267 Hier nach der Ausgabe: Martin Greif: Gesammelte Werke. Erster Band: Gedichte. Sechste, reich vermehrte Auflage. Leipzig 1895, S. 234f. 268 In den maßgeblichen Studien findet sich darüber nichts, vgl. Wilhelm Kosch: Martin Greif in seinen Werken. Dritte ergänzte und verbesserte Auflage. Mit einem Bildnis des Dichters. Würzburg 1941; Bekh: Ich steh im Schatten meiner Zeit, 1984; Kastner: Martin Greif. Bibliographie zu seinem Leben und Werk, 1959. 269 Vgl. etwa das schon 1854 in erster Auflage erschiene Werk von Adolf Stahr: Torso. Kunst, Künstler und Kunstwerke des griechischen und römischen Alterthums. 2., verm. u. verb. Ausgabe letzter Hand. 2 Bde. Braunschweig 1878.

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Langsam senkend einer Fackel Lohe, Selig träumend, leicht das Haupt geneigt.

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Kommst du also lieblich hergegangen, Mich berührend einst mit leisem Kuß, Lass’ ich willig mich von dir umfangen, Schöner, stiller Todesgenius.270

Anna Fattori stellt dieses Gedicht in ihrer Studie nur illustrativ neben den Marmorknaben von Meyer271 und stützt sich in ihren knappen Ausführungen auf die ältere Forschung von Hellmut Rosenfeld und Ludwig Uhlig, der das Gedicht „einer von humanistischer Bildung und akademisch-musealer Kunstpflege genährten Begeisterung für Italien und Griechenland, wie sie um jene Zeit im traditionell gebildeten deutschen Bürgertum verbreitet war“ geprägt sah und damit freilich recht hat.272 Die qualitative Beurteilung darf aber gerade im Kontext der in diesem Kapitel vorgestellten und behandelten Gedichte nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Gedichte wie das von Vierordt ihre Funktion im literarischen Feld behaupteten und ihre Berechtigung auf dem literarischen Markt gerade durch ihre Form und ihren Inhalt besaßen. Genauer als bei Meyer beschreibt das lyrische Ich die äußere Erscheinung des Torsos (V. 9–12) und kommt offenbar aufgrund dieser Anschauung zu der Bezeichnung der Skulptur als Todesgenius (V. 16). Die consolatorische Funktion solcher Dichtung speist sich vor allem aus der Rückbindung der Zuschreibung an Lessings in seinem Laokoon getroffene Unterscheidung von christlicher und antiker Todesdarstellung. Der Genius, der mit einer gesenkten Fackel den Tod symbolisiert und hier betrachtet wird, bedeutet für den Sprecher auch eine persönliche Vergewisserung des ‚schönen Todes‘. Die von Vierordt gewählte Strophenform mit trochäischen Fünfhebern, die im Wechsel kreuzgereimte weibliche und männliche Versschlüsse zeigen ähnelt nur auf den ersten Blick der Form bei Meyer. Vierordts Apostrophe des Todesgenius im Vatikan stellt sich in die Tradition meditativer, von elegischer Stimmung geprägter Dichtungen und sucht damit auch formale Anknüpfungspunkte für die inhaltliche Ausrichtung der Skulpturenbetrachtung, die hier im Zeichen von Todesreflexion und Schönheitskult steht.273

|| 270 Vierordt: Akanthusblätter, 1888, S. 13; unberücksichtigt bleiben muss hier ein weiteres Gedicht Vierordts auf den Eros von Centocelle: Der Bildhauer und sein Knabe, in der Ausgabe S. 83– 85. 271 Vgl. Fattori: Roma – Amor – Mors, 2009, S. 330–333. 272 Ludwig Uhlig: Der Todesgenius in der deutschen Literatur von Winckelmann bis Thomas Mann. Tübingen 1975, S. 98. 273 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 291–294.

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Conrad Ferdinand Meyer konzeptualisiert antike Skulpturen im Gedicht mit intertextuellen und intermedialen Mitteln neu, es handelt sich um Neudichtungen und Umdichtungen. Dies lässt sich auch bei Meyers 1882 in Die Gegenwart gedrucktem, von der Forschung bisher kaum beachtetem Gedicht Die sterbende Meduse (1882) beobachten. Das mangelnde Forschungsinteresse an dem Text verwundert umso mehr, als mit Paul Heyses „Die sterbende Meduse“ in Villa Ludovisi274 aus der bereits behandelten Sammlung Kunst und Künstler (1877/78) und Ferdinand Avenarius’ Medusa Ludovisi (1881/98?) weitere Texte vorliegen, die zusammengenommen Charakteristika erkennen lassen, die von einem gewandelten Zugang und Umgang mit dem berühmten sogenannten Medusenhaupt aus der Villa Ludovisi zeugen.275 Denn alle drei Gedichte stellen nicht mehr das Schreckliche und Furchtbare des Gorgonenhauptes dar, sondern entwerfen im Rückgriff auf ältere Überlieferungsaspekte ein anderes Frauenbild, das durch die Betrachtung der Medusa Ludovisi ganz offensichtlich angeregt wurde (Abb. 24). Der antike Marmorkopf ist ebenso Thema dieser Texte wie bestimmte, kulturell codierte und historisch geprägte Vorstellungen von Weiblichkeit, die in Auseinandersetzung mit der überlieferten, aus dem Mythos sich speisenden Ikonographie besonders in Meyers Gedicht virulent werden. Insofern kann die folgende Interpretation auch durch Überlegungen aus der feministischen Literaturwissenschaft bereichert werden.276 Wie schon beim Marmorknaben geht Meyers Kenntnis der sogenannten Medusa Ludovisi auf seine Romreise 1858 zurück. Für die Literarisierung des Marmorkopfes war Meyer allerdings wieder auf die Photographien seiner Schwester Betsy angewiesen. Der in Rom benutzte Kunstführer Emil Brauns bezeichnete den Kopf noch als Medusenhaupt und klassifizierte deren Sterben als

|| 274 Heyse: Kunst und Künstler (1877/78), 1924, S. 373f. 275 Soweit ich sehe liegt bislang nur ein kurzer Aufsatz zu dem Gedicht vor, vgl. Sigrid Weigel: Die Gewinnung einer „ars poetica“ aus dem Kunsttod des Mythos. Conrad Ferdinand Meyers „Die sterbende Meduse“. In: Schriftgedächtnis – Schriftkulturen. Hg. von Vittoria Borsò. Stuttgart, Weimar 2002, S. 371–379. 276 Hingewiesen sei auf folgende Beiträge, auf die im Folgenden bei der Problematisierung einzelner Begriffe zurückgegriffen wird: Inge Stephan: „Bilder und immer wieder Bilder…“. Überlegungen zur Untersuchung von Frauenbildern in männlicher Literatur. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Hamburg 1988 (Literatur im historischen Prozeß, N.F. 6), S. 15–34; Sigrid Weigel: Die geopferte Heldin und das Opfer als Heldin. Zum Entwurf weiblicher Helden in der Literatur von Männern und Frauen. In: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Hamburg 1988 (Literatur im historischen Prozeß, N.F. 6), S. 138–152.

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künstlerischen Akt, eine Lesart, der Meyer teilweise gefolgt ist.277 Dass Meyer die Skulptur und die mit ihr verbundene Thematik offenbar sehr wichtig gewesen ist, dokumentiert die selbst für Meyer doch komplexe Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Gedichts sowie die aus seinem Besitz stammende 10 Zentimeter messende Marmornachbildung der sogenannten Medusa Rondanini, die durch Goethes Beschreibung in seiner Italienischen Reise noch im 19. Jahrhundert berühmt gewesen ist.278 Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es allerdings Zweifel an der Zuschreibung der Medusa Ludovisi als Gorgonenhaupt, die Adolf Furtwängler in seinem Artikel für Wilhelm Heinrich Roschers Lexikon der griechischen und römischen Mythologie zusammenfasste. Den Mythos um die Tochter von Phorkys und Keto und sterbliche Schwester von Sthenno und Eurayle bezeichnet Furtwängler als problematisch, insofern er in keiner Quelle ganz erzählt werde, sondern die Nachwelt sich aus verschiedenen „Mosaikteilen und aus der bildlichen Darstellung“ sich diesen zusammensetzen müsse.279 Furtwängler ist sicher, dass der berühmte Kopf aus der Villa Ludovisi „nicht für eine sichere Meduse gelten“ kann.280 „Er ist vielmehr“, so schreibt Furtwängler weiter, „der Kopf irgendeiner sterbenden Heldin aus einer tragischen Gruppe der Diadochenzeit“.281 Gerade die für diesen Mythos – wie freilich für viele andere auch – wichtige Verquickung von Textüberlieferung und bildlicher Darstellung für die Genese der mit ihm verbundenen Motivkomplexe und Themen über eine lange Rezeptionszeit macht Meyer in seinem Gedicht fruchtbar. Der im Museo Nazionale Romano in Rom befindliche Marmorkopf wird heute als Schlafende Eumenide bezeichnet.282 Meyers Gedicht weist drei unterschiedlich lange Versgruppen auf, von denen die ersten beiden mit 14 Versen zahlenmäßig identisch sind und die letzte Gruppe mit 22 Versen den umfangreichsten Teil darstellt. Insgesamt besteht das Gedicht

|| 277 Vgl. hierzu den Kommentar und Bericht in der Ausgabe: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 4: Gedichte. Apparat zu den Abteilungen V, VI und VII. Bern 1975, S. 146–148. 278 Vgl. Ebd., S. 147, zur Überlieferung und Textgestalt S. 137–146. 279 Adolf Furtwängler: Gorgones und Gorgo. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 1,2. Leipzig 1890. Sp. 1695–1727, hier Sp. 1695. 280 Ebd., Sp. 1725. 281 Ebd. 282 Vgl. hierzu Wolfgang Helbig: Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom, Bd. 3: Die Staatlichen Sammlungen. Museo Nazionale Romano (Thermenmuseum), Museo Nazionale di Villa Guilia. Bearb. von Bernard Andreae. 4., völlig neu bearb. Auflage. Hg. von Hermine Speier. Tübingen 1969, S. 266–268.

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aus 50 deutschen Endecasillabi, die durch jambische Fünfheber reguliert sind und vorwiegend durch Kreuzreime, seltener durch Paarreime und nur einmal mit einem umarmenden Reim (V. 35–38) zusammengefasst sind:

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Ein kurzes Schwert gezückt in nervger Rechten, Belauert Perseus bang in seinem Schild Der schlummernden Meduse Spiegelbild, Das süße Haupt mit müden Schlangenflechten. Zur Hälfte zeigt der Spiegel längs der Erde Des jungen Wuchses atmende Gebärde – „Raub ich das arge Haupt mit raschem Hiebe, Verderblich der Verderberin genaht? Wenn nur die blonde Wimper schlummern bliebe! Der Blick versteint! Gefährlich ist die Tat. Die Mörderin! Sie schließt vielleicht aus List Die wachen Augen! Sie, die grausam ist! Durch weiße Lider schimmert blaues Licht Und – zischte dort der Kopf der Natter nicht?“

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Medusen träumt, daß einen Kranz sie winde, Der Menschen schöner Liebling, der sie war, Bevor die Stirn der Göttin Angebinde Verschattet ihr mit wirrem Schlangenhaar. Mit den Gespielen glaubt sie noch zu wandern Und spendet ihnen lockenschüttelnd Grüße, In blühndem Reigen regt sie mit den andern Die freudehellen, die beschwingten Füße, Ihr Antlitz hat vergessen, daß es töte, Es glaubt, es glaubt an die barmherzge Lüge Des Traums. Es lauscht dem Hauch der Hirtenflöte, Der weichmelodisch zieht durch seine Züge. Es lächelt still, von schwerem Bann befreit, In unverlorner erster Lieblichkeit. Der Mörder tritt an ihre Seite dicht, Und dunkler träumt Medusens Angesicht. Ihr ist, sie habe Haß empfunden schon, Vor sich geschaudert, dumpf und bang gelitten, Die Menschen habe scheu sie erst geflohn, Dann ihnen nachgestellt mit Meuchlerschritten – Sie sinnt, was Unheilbares sie gequält, Daß sie dem eignen Leben feind geworden Und andres Leben sich ergötzt zu morden – Sie sinnt umsonst. Ihr hält’s der Traum verhehlt. Die grause Larve, die sie lang geschreckt,

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Ist wie mit einem Purpurtuch bedeckt. Das Graun ist aufgelöst in Seligkeit, Begonnen hat der Seele Feierzeit. Der Dämmer herrscht. Das harte Licht verblich. Als eine der Erlösten fühlt sie sich. Sie fürchtet keines Schreckens Wiederkehr, Sie weiß, die Qualen kommen nimmermehr, Nein, nimmermehr, und nun ist alles gut! Sie liegt, den Hals gebogen, auf dem Rasen, Sie hört die Hirtenflöte wieder blasen Und lauscht. Sie zuckt. Sie windet sich. Sie ruht.283

Es handelt sich bei Die sterbende Meduse um ein erzählendes Gedicht. Die Behandlung des Stoffes, die Beschreibung und Inszenierung des berühmten Marmorkopfes und die Umdeutung bzw. Neubewertung sowohl des Mythos’ als auch der Skulptur ist vor allem durch den Einsatz eines Erzählers gewährleistet. Dabei scheint im ersten Teil zunächst die vom Titel ausgehende Lesererwartung bestätigt zu werden. Die ersten sieben Verse exponieren durch gezielte Verwendung der aus dem Mythos bekannten Attribute und Realien (V. 2: „Schild“, V.: 3: „Spiegelbild“, V. 4: „Schlangenflechten“, V. 5: „Spiegel“) den Moment, bevor Perseus seine Tat begeht und sich die Gefahr, die von der Medusa ausgeht, noch einmal vergegenwärtigt. Dies wird aber nicht vom Erzähler wiedergegeben, sondern in direkter Rede des Perseus präsentiert. Die bei der literarischen Überlieferung und künstlerischen Darstellungstradition – man denke an Benvenuto Cellinis Perseus-Bronze (Abb. 26) – vorherrschende Sympathielenkung, die sich deutlich auf Perseus und seine Tat konzentriert, wird im ersten Teil des Gedichts scheinbar auch aufgerufen und bedient.284

|| 283 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1: Gedichte. Bern 1963, S. 233–234. 284 Zum Mythos und seiner Überlieferung knapp Jan N. Bremmer: Gorgo. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 4. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Stuttgart, Weimar 1998. Sp. 1154–1156; ausführlicher auch zur literarischen und künstlerischen Rezeption: Volker Mergenthaler: Gorgo. In: Der Neue Pauly. Supplemente Band 5: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart 2008, S. 297–302.

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Abb. 26: Benvenuto Cellini: Perseus mit dem Medusenhaupt (1545/1554)

Medusa erscheint in Perseus’ Selbstaussprache als schreckliche Gestalt, die „versteint“ (V. 10) und als „Mörderin“ (V. 11) bezeichnet wird. Perseus’ Beschreibung der Medusa kann sich nur bedingt auf die Medusa Ludovisi beziehen, da bei ihr die ikonographisch wichtigen Schlangenhaare (V. 14) nicht zu sehen sind. Auch zur Bewertung der Figur durch den Erzähler besteht ein frappierender Unterschied. Während Perseus in direkter Rede die herkömmliche Ikonographie des Mythos’ zitiert, nimmt der Erzähler durch seine Beschreibung „Das süße Haupt mit müden Schlangenflechten“ (V. 4) schon eher Bezug zum Kopf der Medusa Ludovisi und konterkariert damit schon die Einschätzung Perseus’, was in den beiden folgenden Versgruppen noch verstärkt wird. In extremem Gegensatz zu der im ersten Teil vergegenwärtigten Situation, stehen nun in der zweiten Versgruppe die Medusa selbst und ihre inneren Gefühle im Mittelpunkt. Was folgt, ist weniger eine Beschreibung der Skulptur, als vielmehr der Rückgriff auf die vor allem bei Ovid überlieferte und tradierte Vorgeschichte der noch schönen Medusa,285 also einem Überlieferungsstrang, der vor allem in der Romantik wiederbelebt wurde.286 Gleichwohl ist diese Innensicht und Neucharakterisierung der Medusa, die in der personificatio „Ihr Antlitz hat vergessen, daß es töte“ (V. 23) gipfelt, von der Anschauung der Marmorskulptur ganz offensichtlich beeinflusst. Narratologisch gesprochen vermischen sich Erzählerrede und Figurenrede, der Erzähler oder das lyrische Ich geben das || 285 Vgl. Die Geschichten um Perseus in Buch vier und fünf in Ovids Metamorphosen, besonders Buch vier, V. 772–802, P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 1997, S. 228–231. 286 Vgl. Jerome J. McGann: The Beauty of the Medusa. A Study in Romantic Literary Iconology. In: Studies in Romanticism 11 (1972), S. 3–25; ferner auch zusammenfassend Mergenthaler: Gorgo, 2008, S. 299–300.

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Innenleben der Gorgo preis (V. 15–29), wobei sich in diesem personalen Erzählen fast unmerklich mythologische Figur (V. 15: „Medusen träumt“) und bedichtete Skulptur (V. 23: „Ihr Antlitz“ als metonymische Anrede des Kopfes) überlagern. Gegenübergestellt werden in Meyers Gedicht also die Überlieferung und Darstellungstradition der Medusa, wie sie von Perseus wiedergegeben werden, mit der aus der Betrachtung der Medusa Ludovisi hervorgegangen Innensicht der Gorgo, die vom lyrischen Ich bzw. Erzähler vorgetragen wird. Eine zentrale Funktion kommt dabei dem Traum- und Schlafmotiv zu, da es gleich vier Mal vorkommt (V. 15, 25, 30, 38) und am deutlichsten den Zusammenhang mit der ja geschlossene Augen aufweisenden Medusa Ludovisi herstellt. Vollends wird dann die Lesererwartung mit dem dritten Teil konterkariert. Nicht mehr die Medusa ist nun die „Mörderin“ (V. 11), sondern Perseus schleicht sich als „Mörder“ (V. 29) betitelt an die schlafende Medusa heran. Die literarische und künstlerische Rezeptionsgeschichte der Medusa als schreckliches und gefährliches Weib wird von Meyer in eine Opfergestalt umgedeutet und gerade in ihrem Nachsinnen über ihre Geschichte und Taten (V. 31–38), das von dem kühnen Neologismus „Und dunkler träumt Medusens Angesicht“ (V. 30) eingeleitet wird, vermenschlicht. Literarhistorisch und kulturgeschichtlich wird eine überkommene – gewissermaßen auch männlich dominierte – Lesart der Medusa als weibliches Ungeheuer und die Tötung durch Perseus historisch gesehen als kriegerische Prüfung287 neu gedeutet und nunmehr die weibliche (Opfer-)Perspektive stärker betont.288 Eine dezidiert genderspezifische und psychoanalytische Deutung des Medusa-Stoffes, wie sie Freud dann 1922 im Sinne einer „Katastrationsangst“ des Mannes vornahm, ist Meyer freilich nicht zu unterstellen. Gleichwohl ist eine geschlechterspezifische Lesart des Mythos’ hier schon angelegt.289 Die Tötungsszene wird in Meyers Gedicht zugunsten einer Entrückung der Medusa ausgespart und ist nur noch in der Erleichterung der Gorgo über ihr Ende greifbar: „Das Graun ist aufgelöst in Seligkeit, / Begonnen hat der Seele Feierzeit“ (V. 41–42). Die parataktische Reihung des letzten Verses (V. 50) nimmt noch einmal den Marmorkopf der Medusa Ludovisi in den Blick, der als Ausgangspunkt von Meyers Mythosumdeutung zu sehen ist. Nicht das klassizistische Kunsterlebnis und die verständige Kunstbetrachtung machen die Anlage und Aussageabsicht des Gedichts aus, sondern seine multimediale, sich aus alludierten Texten

|| 287 Vgl. Bremmer: Gorgo, 1998, Sp. 1155. 288 Theoretisch zu diesem Komplex Weigel: Die geopferte Heldin, 1988, S. 141; Stephan: „Bilder und immer wieder Bilder…“, 1988, S. 21. 289 Zu Freud und anderen knapp Mergenthaler: Gorgo, 2008, S. 300.

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und Kunstwerken zusammensetzende Struktur ist letztlich bestimmend für die hier vorliegende Neucodierung des Mythos.

Anders verfährt Paul Heyse in seinen elegischen Distichen „Die sterbende Meduse“ in Villa Ludovisi bereits 1877/78. Zwar rekapituliert das Gedicht auch die Vorgeschichte der Medusa und wird wie bei Meyer als Beispiel von Würde und Duldertum präsentiert, doch inszeniert Heyse insgesamt die Betrachtung der Figur anders und setzt Akzente bei der Kritik bürgerlichen Kunstverständnisses und Kunstbetrachtung, wie das bereits in den weiter oben vorgestellten Gedichten nachgewiesen wurde:

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Dies jungfräuliche Haupt, in des bitteren Todes Umnachtung Duldend geneigt, die stolz schwellende Braue, der Mund Nie von niedrigen Worten entweiht, von stummer Verachtung Leise gerümpft, nocht jetzt, da er das Leben verhaucht – Wie? Ihr nennt sie Meduse? Des Haarschmucks seidene Fülle Ringelt an Wangen und Hals wirr sich zum Nacken hinab, Wie von Todesschweiße genetzt, vor Schauder erstarrend, Doch in Schlangen verkehrt nimmer sich dieses Gelock. Nie feindselig wird dieses Antlitz blicken, das Leben Rings versteinernd; es sinkt willig hinab in die Nacht. Denn hier oben im Lichte, der Brutstatt niedern Gezüchtes, Wo im üppigen Flor nur das Gemeine gedeiht, Ach, was hielte die Seele zurück, die edelgeboren Ihresgleichen umsonst sucht in dem eklen Gewühl? Fremd durchwallt sie die Pfade des fröhlichen Haufens; sie ist nicht Wie die andern, sie hat nicht sich zu schmiegen gelernt. Hoffart schelten sie ihr den ruhigen Adel und Kaltsinn Ihre Trauer; als Schuld schmähn sie ihr eigenstes Selbst. Nirgends ein ebenbürtiges Glück im Leben, im Tod nur Darf sie sich hoheitsvoll ihrer Bestimmung erfreun. Und die Gedankenlosen, die Lustigen, gehen an der Toten Unversteinert vorbei, höchstens die Achseln gezuckt; „Warum sollte sie besser als andere sein? Nun hat sie’s Schlimmer als andere; ihr ist nach Verdienste geschehn.“ Und ihr nennt sie Meduse? O nennt sie die Muse der Tragik, Und wer seelenverwandt, tröste sich dieses Gesichts!290

Hier wendet sich ein lyrisches Ich einerseits der im Titel angegebenen Skulptur zu (V. 1–4), richtet sich andererseits aber dann in den folgenden Versen – und

|| 290 Heyse: Kunst und Künstler (1877/78), 1924, S. 373f.

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kommt dabei immer wieder auf die Skulptur zu sprechen – einem imaginären Publikum zu, das zwei Mal direkt angesprochen und nicht nur unterschwellig, sondern explizit kritisiert wird (V. 5 und V. 25). Nicola Ettlin sieht die Medusa, wie sie vom lyrischen Ich verstanden wird, mit den Begriffen „Humanität, Moral und Tugend“ verbunden, die in der „Gegenwart nicht mehr zu finden und der modernen Gesellschaft unverständlich geworden“ seien. In ihrer knappen Deutung geht Ettlin sogar soweit und behauptet, dass sich „in der Logik des Gedichtes […] hier eine Schattenseite der Historisierung und Musealisierung von Kunstwerken“ zeige und ein bürgerliches Publikum, dem diese „Werte selbst fremd geworden sind“, diese „auch in der Kunst nicht mehr wiederfinden“ könne.291 Tatsächlich lässt sich die so bei Heyse gedeutete Kritik am bürgerlichen Kunstverständnis nicht von der Hand weisen. Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, wie diese Kritik erzeugt wird. Denn das lyrische Ich weist sich als dezidierter Kunst- und Mythoskenner aus, der die Medusa Ludovisi genau betrachtet und diese nur als Anlass nimmt, gerade den oberflächlichen bürgerlichen Zugang zu Kunstwerken der Antike offenzulegen. Die Entgegnung auf die erste rhetorische Frage „Wie? ihr nennt sie Meduse“ (V. 5) ist nicht nur – wie Ettlin zurecht bemerkt292 – ein impliziter Verweis auf die zu jener Zeit noch nicht geklärte bzw. diskutierte Frage nach der Zuschreibung,293 sondern führt die an der Figur deutlich zu sehenden Details der Medusa Ludovisi vor (V. 5–10), die sich eben nicht mit den unterstellten Merkmalen und Attributen der Medusa als Schreckgestalt aus dem Mythos verbinden lassen. Die Kritik an den „Gedankenlosen“ (V. 21) und „Lustigen“ (V. 20) gewinnt ihre Berechtigung also nur in der Demonstration der genauen Beobachtung und Beschreibung der Medusa Ludovisi durch das lyrische Ich. So fungiert die antike Skulptur sowohl bei Meyer als auch bei Heyse als

|| 291 Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts, 2010, alle Zitate S. 229; wenn vereinzelt Beobachtungen von Ettlin zutreffen, so wirkt die in der Arbeit insgesamt recht oberflächlich und undifferenziert verwendete Kategorie des Bürgertums oft auch sehr angestrengt und seltsam wertend, z.B. S. 230: „Unversteinert gehen sie an der Toten vorbei, nicht ahnend, dass sie im Grunde an der gestorbenen Seele ihrer Klasse vorbeigehen, an der Leiche ihrer eigenen Geschichte.“ Oder S. 231: „Wie die Bürger die Bedeutung der toten Medusa als gestorbene Bürgerseele nicht erkannt haben, bemerken sie nicht, dass sie sich im Grunde selbst ächten. Auch das Bürgertum wollte einmal besser sein als andere, wollte zum Träger einer neuen freiheitlichen und liberalen Zukunft werden, war stolz (!) wie Medusa. Nicht nur ihr ist also nach Verdienste geschehn.“ 292 Ebd., S. 228. 293 Vgl. hierzu im Horizont der zeitgenössischen Diskussion Furtwängler: Gorgones und Gorgo, 1890, Sp. 1725f.

4 Antike Skulpturen im Gedicht | 173

Medium für eine Umschreibung des Mythos und die Kritik an einem fehlgeleiteten Kunstkonsum.

5 Heroenkult und künstlerische Selbstvergewisserung. Michelangelo, Raffael und die italienische Renaissance im Gedicht: Julius Hübner und Conrad Ferdinand Meyer Die Bedeutung der italienischen Renaissancekunst für die deutsche Literatur des späten 19. Jahrhunderts, speziell auch für die des Bildgedichts – mit weiter Ausstrahlung weit ins 20. Jahrhundert hinein – kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Die literarische Auseinandersetzung mit Werken Bildender Künstler der Früh- und Spätrenaissance, vor allem aber der Hochrenaissance stellt überdies ein epochenübergreifendes Phänomen innerhalb der Geschichte des Bildgedichts dar und wird in den folgenden Kapiteln immer wieder behandelt, wobei die Dichtungen zu herausragenden Künstlern wie Raffael und Michelangelo zahlenmäßig – und über den deutschsprachigen Bereich hinaus – den Großteil ausmachen. Die folgenden Überlegungen zu Bild- und Künstlergedichten des späten 19. Jahrhunderts, die sich mit der italienischen Renaissance und deren Vertretern auseinandersetzen, konzentrieren sich daher vor allem auf Texte zu Michelangelo, die durch Seitenblicke auf Raffael und andere Künstler ergänzt werden. Zur Popularität und herausragenden Bedeutung der italienischen Kulturund Kunstgeschichte allgemein und der Renaissance im Speziellen für die Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben vor allem die Schriften Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens (1855) und Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (1860) des Schweizers Jacob Burckhardt beigetragen. Für alle Kunst- und Kulturhistoriker der Folgezeit wie Anton Springer, Herman Grimm, Carl Justi oder auch noch Heinrich Wölfflin ist die Auseinandersetzung mit dem Werk des Schweizers von zentraler Bedeutung und erweist sich auch für die Einordnung und Interpretation zahlreicher Bildgedichte zu Kunstwerken und Künstlern der italienischen Renaissance als maßgeblicher Orientierungspunkt. Burckhardt, der zunächst auf Wunsch seines Vaters Theologie in Basel studierte, wechselte 1839 nach Berlin, um sich dort – unter anderem bei Leopold von Ranke – der Geschichtswissenschaft zu widmen. Sein schon früh entwickeltes und für die späteren Schriften zentrales Konzept einer „kulturhistorischen Geschichtswissenschaft“294 ist von Einflüssen der Ranke-

|| 294 Philipp Müller: Der junge Jakob Burckhardt: Geschichtswissenschaft als Gegenwartskunst. In: Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Muhlack. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 5), S. 113–133; https://doi.org/10.1515/9783110700732-009

5 Heroenkult und künstlerische Selbstvergewisserung | 175

Schule ebenso geprägt wie von den Vertretern der sogenannten Berliner Schule – allen voran Carl Friedrich von Rumohr, Gustav Friedrich Waagen, Karl Schnaase und vor allem Franz Kugler –, die für eine historisch-kritische, als „Universalgeschichte“ verstandene Kunstgeschichtsschreibung stehen.295 Kernbestand solcher frühen ‚kunsthistorischen‘ Schriften im Umfeld der Herausbildung einer universitären, akademischen Kunstgeschichte sind Wertungen und Werturteile zu Künstlern und Kunstwerken, die gleichzeitig einen Beitrag zur Geschmackskultur ihrer Zeit leisten. Burckhardts detailreiches, letztlich aber doch negatives Michelangelo-Bild, das sich gegen die Verherrlichung des Künstlers vor allem durch Vasari richtet, liefert allerdings mit seinen Beobachtungen und Beschreibungen des Titanischen, Ungeheuren, Genialen und Gewaltigen in Michelangelos Persönlichkeit und Werk wichtige Anknüpfungspunkte für spätere Gegner des negativen Michelangelo-Urteils, die sich – wie einige Bildgedichte auch zeigen – ähnlicher Vorstellungen und Begriffe bedienen, diese aber positiv umdeuten. Gleichwohl sieht Burckhardt Michelangelo aber auch nicht wie die ältere Kunstliteratur als „dämonisch-titanischen Sprenger eines klassizistisch-harmonischen Urteilskanons, der die italienische Renaissancekunst in den Manierismus und damit in den Ruin gestürzt hatte“.296 Die öffentliche, populärwissenschaftliche und kunstgeschichtliche Wahrnehmung und Beurteilung der Renaissancekunst im 19. Jahrhundert scheint auf den ersten Blick von der Dichotomie zweier gegensätzlicher Künstler gekennzeichnet zu sein: Raffael und Michelangelo. Tatsächlich kann man noch bis zur Jahrhundertmitte vor allem bei der literarischen Rezeption von RenaissanceKunst eine Präferenz für Raffael erkennen, dessen Werke aufgrund ihrer klassischen Harmonie und Klarheit als Schönheitsformeln und reine Ästhetik verstanden und gefeiert wurden.297 Das änderte sich mit den vor der Reichsgründung und || einen fundierten Überblick zu Leben und Werk bietet auch der Killy-Artikel, Philipp Müller: Jacob Christoph Burckhardt. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 2. Berlin 2008, S. 301–304. 295 Einen sehr guten Überblick bietet Gabriele Bickendorf: Die ‚Berliner Schule‘. In: Klassiker der Kunstgeschichte. 2 Bde., hier Bd. 1: Von Winckelmann bis Warburg. Hg. von Ulrich Pfisterer. München 2007, S. 46–62; zu Burckhardt vgl. in demselben Band (S. 110–123). 296 Christine Tauber: „Mit einem Kranze aus dem Laube unserer Hercynischen Wälder…“ Bildungsbürgerlicher Kunstgenuß in Deutschland und das Michelangelo-Jubiläum 1875. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 30 (2003), S. 269–287, hier S. 273. 297 Vgl. hierzu mit anschaulichen Quellen Joseph Imorde: Michelangelo Deutsch! Berlin 2009, S. 56ff.; einen fundierten Überblick zur literarischen Raffael-Rezeption von Winckelmann über die Schlegel-Brüder, Wackenroder und Goehte bis Heyse bietet Ernst Osterkamp: Der Kulturheiland. Raffael in der deutschen Literatur der Goethezeit. In: Sterbliche Götter. Raffael und Dürer

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in den folgenden Jahrzehnten publizierten kunstwissenschaftlichen Darstellungen und Studien, die Michelangelos Schwere und Ernst, seine Eigenwilligkeit und Ruhelosigkeit, seine Unerbittlichkeit sich selbst und anderen gegenüber nicht nur als Gegensatz zu Raffaels akademischer Malerei inszenierten, sondern diese Eigenschaften auch für eine deutsch-nationale Vereinnahmung und Funktionalisierung Michelangelos benutzten.298 An erster Stelle ist hier freilich Herman Grimms erfolgreiches Buch Das Leben Michelangelos zu nennen, das nach dem ersten Erscheinen 1860 noch zahlreiche Neuauflagen erreichte.299 In der ‚Verdeutschungsgeschichte‘ Michelangelos zeichnet Joseph Imorde in seiner grundlegenden Studie die drei wesentlichen Rezeptionswege des Künstlers als „faustische Natur“, als „Gotiker“ und „Germane“ nach, die sich jeweils mit unterschiedlichen kultur- und geistesgeschichtlichen Strömungen und Entwicklungen verbinden lassen.300 Für die Einordnung und Interpretation von Gedichten zu Michelangelo ist vor allem der Blick auf die mit den Namen Herman Grimm, Albert E. Brinckmann und Henry Thode verbundene Rezeptionslinie von Interesse, die Imorde folgendermaßen skizziert: „Michelangelo die faustische Natur, das Wesen des Künstlers melancholisch, sein Leben ein dauernder Kampf, nie zufrieden, weil immer auf das Höchste ausgerichtet, hart mit sich selbst und auch mit anderen – eben dem Goetheschen Helden vergleichbar und damit der deutschen Seele.“301

|| in der Kunst der deutschen Romantik. Hg. von Michael Thimann und Christine Hübner. Petersberg 2015, S. 42–61. 298 Grundlegend die Studie von Imorde: Michelangelo Deutsch, 2009, der die vereinnahmende deutsche Michelangelo-Rezeption von 1860 bis 1945 behandelt. Imorde weist auch auf die Bedeutung Burckhardts für das deutsche Italienbild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin und auf die durch äußere Umstände – etwa mit der 1882 eröffneten Gotthardbahn – bedingte steigende „Medialisierung“ Italiens, hierzu S. 30–37. 299 Vgl. Herman Grimm: Leben Michelangelos. 2 Bde. Hannover 1860/1863; aus dieser Ausgabe wird im Folgenden auch zitiert. 300 Vgl. Imorde: Michelangelo Deutsch, 2009, S. 9f. 301 Ebd., ausführlich dann Kapitel I: „Deutscher Kulturimperialismus. Der Ausgriff nach Italien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert“, S. 30–59; zum schon im Zusammenhäng mit dem Dürer-Kult des 19. Jahrhunderts beschriebenen Bedeutung Herman Grimms – und seiner Vordenker Ralph Waldo Emerson, Schleiermacher u.a. für die Idee des ‚Allroundgenies‘ vgl. Werle: Ruhm und Moderne, 2014, S. 419ff.; Gamper: Der große Mann, 2016, S. 283ff.; Werle: Schleiermacher und die Anfänge der Theorie vom ‚großen Mann‘, 2015, S. 98ff. Interessanterweise werden Strukturen dieser Konzepte sowohl bei der literarischen Dürer- als auch Michelangelo-Rezeption deutlich, wenngleich es sich gerade nicht um Persönlichkeiten handelt, deren ‚Größe‘ sich aus dem Charakteristikum eins „geschichtsmächtigen, geschichtsbestimmenden Individuums“ (Werle 2015, S. 105) bestimmt.

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Herman Grimms Michelangelo-Biographie mit seiner nationalen Vereinnahmung und kulturpolitisch motivierten Überhöhung eines italienischen Künstlers ist Teil eines umfangreichen biographischen Schrifttums, das seit der Jahrhundertmitte und verstärkt nach der Reichsgründung anhand großer deutscher oder eben ‚eingedeutschter‘ Persönlichkeiten nicht nur einen ungeheuer wirkmächtigen Heroen- und Geniekult und die „Biographie als Entwurf einer höheren Welt“302 etablierte, sondern von der Rezeptionsseite her – betrachtet man die Auflagen und Auflagenzahlen – auch den offensichtlichen Bedarf solcher Literatur verdeutlicht, die im weiteren Sinne eine bestimmte Weltanschauung transportiert.303 Letztlich ist mit Grimms Michelangelo-Bild trotz des Fehlens völkisch-rassischer Töne schon ein Muster vorgegeben für Julius Langbehns in erster Auflage 1890 erschienen Bestseller Rembrandt als Erzieher. Die ideologische Motivation, die rhetorische Anlage und nationalistische Wirkabsicht solcher Texte von Herman Grimm, Albert E. Brinckmann, Carl Justi oder Wilhelm Lübke darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier doch ein intensives Quellenstudium vorausgegangen war. Interessant ist in kunstgeschichtlicher Hinsicht zudem, dass die nationalen Vereinnahmungen nicht-deutscher Künstler im Sinne eines Kulturimperialismus begleitet wurden von Forschungen zur deutschen Renaissance, die von Wilhelm Lübke ‚erfunden‘ und vorangetrieben wurde, aber noch nicht die Verunglimpfung der italienischen Renaissance zugunsten der ‚germanischen‘ Leistungen verfolgte wie bei Paul Friedrich in seinen Aufsätzen zur Deutschen Renaissance von 1911.304

|| 302 Scheuer: Biographie, 1979, S. 92; zur Illustration dieses Phänomens seien hier noch folgende Werke genannt, auf die Scheuer auch eingeht: Rudolf Haym: Wilhelm von Humboldt (1856) – Hegel (1857) – Herder (1880–83); Erich Schmidt: Lessing (1884–92); Carl Justi: Winckelmann (1866–72) – Velazquez (1888) – Michelangelo (1900). 303 Vgl. grundlegend zum Thema immer noch Hamann/Hermand: Gründerzeit, 1971, S. 39–41; gegen Grimms Heroenkult wendet sich in Favorisierung rein empirischer kunstwissenschaftlicher Betrachtungsweise Anton Springer: Raffael und Michelangelo. 2 Bde. Leipzig 1877; systematisch untersucht die Gattung der Künstlerbiographie Karin Hellwig: Von der Vita zur Künstlerbiographie. Berlin 2005, zur hier relevanten Phase 1860–1900 bes. S. 159–179; institutionsgeschichtlich auf Anton Springer geht auch ein Johannes Rößler: Poetik der Kunstgeschichte. Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft. Berlin 2009, zu Springers Raffael-Michelangelo-Buch S. 125–182. Rößer geht auch auf die gegensätzlichen Positionen von Grimm und Springer ein (S. 146–168). 304 Vgl. Wilhelm Lübke: Geschichte der deutschen Renaissance. Stuttgart 1872; vgl. auch Johann Heinssen: Die frühe Krise des Historismus 1870–1900. Das Beispiel der Kunsttheorie. In: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Hg. von Otto Gerhard Oexle. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 228), S. 117–145, hier S. 117–133; zum Ausblick auf die Jahrhundertwende Gerd

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Wenn man vom Michelangelo-Bild des späten 19. Jahrhunderts spricht, sind indessen die Bereiche, auf die es sich bezieht, klar voneinander zu differenzieren. Im einen Fall sind es die schon genannten Schriften und Studien, die Michelangelo als eine ‚deutsche Seele‘ vereinnahmen. Auf der anderen Seite stehen die Kunstakademien, die mit ihrer Orientierung am Spätnazarenismus und der Genremalerei auch nach dem Tod Friedrich Overbecks 1869 eher einem Kunstideal verpflichtet waren, das sich mit Raffael verbindet. Doch zeigt die Kunstproduktion ab den 1870er Jahren und vor allem der Kunstmarkt durchaus auch ein Nebeneinander verschiedener Stilrichtungen, Vorbilder und Künstler, die sich behaupten konnten, so dass schon vor der Auflösung eines vermeintlich relativ gleichförmigen Kunstgeschmacks durch die Sezessionsbewegungen in den 1890er Jahren nicht mehr von einem einheitlichen Kunstverständnis gesprochen werden kann.305 Entscheidend für die Literarisierungen Michelangelos und seiner Werke in Gedichten des späten 19. Jahrhunderts ist der Befund, dass es sich bei den ihm zugeschriebenen Stärken um Projektionen handelt – wie sie etwa bei Herman Grimm und anderen formuliert werden –, „die im Blick des Auslandes als typisch deutsch gelten konnten: den ‚Tiefsinn‘, die ‚starke concentrirte Persönlichkeit‘, die ernste Schwermut, einen dem ‚Transzendentaltalent zugewandten Geist‘, grüblerisch, mit metaphysischen Neigungen“.306 Einmal mehr zeigt sich in dieser Art nationaler, einen Kult um die titanische Person des Künstlers treibender Rezeption von Michelangelo, dass Zuschreibung und postulierte Identifikation für solche Texte wichtiger sind als (historisch) nachvollziehbare Argumentation. Verkürzt gesagt wurde Michelangelo vor allem auch in Abgrenzung zu Raffael „germanische Gehaltskunst“ attestiert, wohingegen der zierliche und jünglinghafte, entrückt wirkende Raffael als Inbegriff „romanischer Formkunst“ verstanden wurde.307 Die von Christine Tauber zurecht gestellte Frage, warum ausgerechnet ein Künstler wie Michelangelo, „der in seiner beunruhigenden Monumentalität und Direktheit, ja Modernität, sich augenscheinlich wenig für

|| Uekermann: Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der Dramatik der Jahrhundertwende. Berlin 1985 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N.F. 84), S. 166–168. 305 Vgl. Tauber: Bildungsbürgerlicher Kunstgenuß, 2003, S. 274; im weiteren Horizont zu den unterschiedlichen Lagern und Strömungen hervorragend Schlink: Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit, 1992, S. 66–68. 306 Tauber: Bildungsbürgerlicher Kunstgenuß, 2003, S. 279; Tauber entnimmt die Zitate aus exemplarischen Quellen um 1875. 307 Imorde: Michelangelo Deutsch, 2009, S. 117; die Formulierung und Denkweise stammen aus dem Avenarius-Umkreis.

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den stillen Kunstgenuß eignete […] zum Helden bildungsbürgerlicher und künstlerischer Begeisterung avanciert[e]“308, beantwortet sich im Grunde von selbst angesichts des beschriebenen Personenkultes in der Kunstliteratur des späten 19. Jahrhunderts: Die Biographie Michelangelos mit ihren Skandalen und Brüchen, seine – auch objektiv betrachtet – Meisterschaft auf allen Gebieten der Bildenden Kunst und auch als Dichter eignete sich als Projektionsfläche für ein heroisches Künstlerleben eindeutig besser als die Vita Raffaels, zumal man nach der vorgenommenen ‚Germanisierung‘ Michelangelos ein zusätzliches Abgrenzungsmerkmal gegenüber der romanischen Kunstwelt nachweisen konnte. Die von Tauber ausgewerteten deutschen Quellen zum Michelangelojahr und den zu seinen Ehren veranstalteten Feiern von 1875 belegen das in eindrücklicher Weise.309 Der 1853 in Potsdam geborene Bismarck-Verehrer und Herausgeber von Klopstocks Werken Richard Hamel fasst Michelangelos Doppelbegabung und auf ihn angewendeten Geniebegriff in seiner Sammlung Auf Maler und Gemälde (1885) exemplarisch zusammen: Michel Angelo Buonarotti Wie in den Flammen Korinths aus vielen Metallen des Erzes Köstliche Mischung entstand, schmolzen in deines Genies Unwiderstehlicher Glut Poesie und bildende Künste, Wurden zu herrlichem Erz, zu Michel Angelo’s Kunst.310

Die Vorstellung vom großen, übermenschlichen Künstler Michelangelo, dessen titanische Schaffenskraft aber auch begleitet wird von tiefer Einsamkeit und Zerrissenheit erweist sich als zentrales und durchgängiges Charakteristikum sowohl von dramatischen Literarisierungen des Künstlers wie in Hebbels berühmtem Stück Michel Angelo (1850) oder Friedrich von Sallets Gedicht Michelangelo (1849) zu dessen Fresken in der Sixtinischen Kapelle.311 Die für die Kunstliteratur aufgezeigte, dort inszenierte Dichotomie der beiden Künstler Raffael und Michelangelo lässt sich in dieser Form bei den für dieses Kapitel herangezogenen Gedichten

|| 308 Tauber: Bildungsbürgerlicher Kunstgenuß, 2003, S. 274. 309 Vgl. Tauber: Bildungsbürgerlicher Kunstgenuß, 2003. 310 Richard Hamel: Aus Nacht und Licht. Gedichte. Görlitz 1885, S. 159. 311 Vgl. grundlegend zum Thema Niklaus Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur. Beitrag zur Geschichte der Künstlerdichtung. Freiburg/Schweiz 1969 (Seges, Bd. 12), hier S. 11 und 50f.; Oberholzers Arbeit konzipiert sein Thema von Winckelmann bis Thomas Mann. Nach wie vor liefert sie wichtige Anhaltspunkte und Quellen-Analysen zum Thema. Bei der Vielzahl von Autoren kann oftmals aber nur ein Überblick zu Tendenzen und Phänomenen geboten werden. Vor allem die Gedichte Conrad Ferdinand Meyers sind in ihrer Komplexität aus diesem Grund nicht vollständig erfasst.

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von Julius Hübner und Conrad Ferdinand Meyer nicht beobachten. Vielmehr zeigt sich in der Gattung des Künstler- und Bildgedichts diese Opposition entschärft. Das Nebeneinander – oftmals auch in derselben Gedichtsammlung – von Raffael- und Michelangelodichtungen bedeutet aber nicht, dass in den Michelangelo-Gedichten nicht doch eine Vereinnahmung oder zumindest literarische Inszenierung im Sinne der oben beschriebenen Tendenzen stattfindet, was im Folgenden gezeigt werden soll. Der 1806 im schlesischen Oels geborene (Rudolf) Julius (Benno) Hübner verstand sich selbst als Malerdichter und Dichtermaler und ist in beiden Disziplinen mit Werken an die Öffentlichkeit getreten. Berühmt geworden im 19. Jahrhundert ist Hübner allerdings als Mitglied der Düsseldorfer Malerschule im Umfeld Friedrich Wilhelm von Schadows und als gefragter Historien- und Porträtmaler. Als Mitglied und Professor der Königlichen Kunstakademie in Dresden (1839–1882) und seit 1871 als Direktor der dortigen königlichen Gemäldegalerie war Hübner institutionell und künstlerisch gut vernetzt und mit den Entwicklungen und Strömungen der Museumskultur, des Kunstmarktes sowie der kunsthistorischen Forschung und des künstlerischen Geschmacks seiner Zeit wohlvertraut.312 Seine überwiegend aus Sonetten bestehende, im Jahr 1871 erschienene Gedichtsammlung Helldunkel313 erschien 1876 in zweiter Auflage und verwendet als Titel einen Begriff aus der Bildenden Kunst, der eine auf Hell-Dunkel-Kontraste wert legende Malweise bezeichnet, die vor allem im Zusammenhang mit der (italienischen) Malerei der Spätrenaissance und des Barock in Fachkreisen als chiaroscuro verwendet wurde. Im Untertitel weist Hübner das Werk durch die Gattungsbezeichnung Aus dem poetischen Tagebuch eines Malers als intime Bekenntnissammlung aus und thematisiert gleichzeitig seine Doppelbegabung als Maler und Dichter. Die über 300 Gedichte sind entsprechend den Jahreszeiten nach Quartalen eingeteilt. Darin finden sich neben ein Dem Andenken Peter’s von Cornelius314 gewidmetem Gedicht, das Hübners ästhetische und künstlerische Nähe zur

|| 312 Zur Biographie vgl. Birgid Monschau-Schmittmann: Julius Hübner (1806–1882). Leben und Werk eines Malers der Spätromantik. Münster 1993 (Bonner Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 7), S. 20–70, zur späten Düsseldorfer und Dresdner Zeit bes. S. 45–70; zu Hübners Doppelbegabung als Maler und Dichter sowie den daraus resultierenden Werken vgl. auch Konrad Renger: „Weil ich ein Maler bin soll ich nicht dichten…“. Zu Julius Hübner als Buchillustrator und Poet. In: De arte et libris. Festschrift Erasmus 1934–1984. Red. Abraham Horodisch. Amsterdam 1984, S. 369– 386. 313 Julius Hübner: Helldunkel. Aus dem poetischen Tagebuch eines Malers. Sonette und Lieder. Braunschweig 1871. 314 Ebd., S. 82.

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Düsseldorfer Malerschule literarisiert, zwei Sonette zu Michelangelo (Michel Angelo. 1865315; Die Nacht des Michelangelo. 1864316), zu Raffael. 1865317, zu Giorgione (Liebesbrunnen. Zu einer Zeichnung des Giorgione318) sowie Der Alte Perugino an die Florentiner. 1867319. Während seines gut zweijährigen Aufenthaltes in Italien von August 1829 bis Juni 1831 – unter anderem in Rom, Florenz und Venedig – hat Hübner wohl zahlreiche Hauptwerke der italienischen Kunst und der Renaissance selbst gesehen.320 Bezeichnenderweise stehen die beiden Sonette zu Raffael und Michelangelo in der Sammlung direkt hintereinander. Um Hübners zunächst als reine Künstler-Verehrung zu lesendes Sonett auf Raffael besser einordnen und interpretieren zu können, lohnt noch einmal ein Blick auf die bei Herman Grimm formulierte Dichotomie Raffael-Michelangelo, die für die Rezeptionsgeschichte Michelangelos als titanischer, ‚deutscher‘ Künstler und Antipode Raffaels von zentraler Bedeutung ist. Im ersten Band schreibt Grimm: Rafael hatte einen Vorzug, den vielleicht, so lange die Welt steht, kein anderer Künstler in solchem Grade besessen hat: seine Werke entsprechen in solchem Grade dem Durchschnittsmaße des menschlichen Geistes. Sie stehen keine Linie darüber noch darunter. Michelangelo’s Ideale gehören einer höheren stärkeren Generation an, als hätte er Halbgötter im Geiste beherbergt, wie auch Schillers poetische Gestalten in anderer Weise das Maß des Gemeinmenschlichen überschreiten; Rafael aber traf das Richtige, wie Goethe und Shakespeare. Er scheint zu schaffen, wie die Natur schafft. Keine Wolkenpaläste, in denen man sich zu klein dünkt, sondern menschliche Wohnungen errichtet er, durch deren Thüren man eingeht und fühlt, daß man da zu Hause sei. Er ist verständlich in jeder Bewegung, er schmiegt sich dem Schönheitsgefühle der Menschen an mit seinen Linien, als sei es unmöglich, sie anders zu ziehn, und das Behagen, das er so auf die Beschauenden ausgießt, die sich entzückt als seines Gleichen fühlen, giebt den Werken die Allmacht und seiner Person den Schimmer glückseliger Vollkommenheit. Obgleich er unendlich viel gethan hat, möchte man nicht glauben, daß er sich jemals groß angestrengt habe; man würde nicht glauben, daß er je unglücklich gewesen sei, wie man es auch Goethe oder Shakespeare nicht glauben würde. Es klebt ihm gar nichts Absonderliches an, man späht umsonst nach dunkeln Ecken in seiner Seele, in denen die traurigen Gedanken sich festnisten könnten, wie Spinnweben in verlassenen dumpfigen Gemächern. […] Solche Menschen gehen durch’s Leben, wie ein Vogel durch die Luft fliegt. Sie hindert nichts. […] Rafael, Goethe und Shakespeare hatten keine äußeren Schicksale. Sie griffen mit sichtbarer Gewalt nicht

|| 315 Ebd., S. 232. 316 Ebd., S. 280. 317 Ebd., S. 231. 318 Ebd., S. 189. 319 Ebd., S. 233. 320 Monschau-Schmittmann: Julius Hübner, 1993, S. 36–45.

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ein in die Kämpfe ihres Volkes. Sie genossen das Leben, sie arbeiteten, sie gingen ihren Weg und zwangen Niemand, ihnen zu folgen.321

Bei Herman Grimm wird die Abwertung Raffaels nicht durch eine völlige Ablehnung von dessen Werk formuliert, sondern gewissermaßen in Anerkennung seines Schaffens, das für sich betrachtet sogar gewürdigt wird und erst im Vergleich mit Michelangelo bzw. durch die Favorisierung eines nach heroischen Werten ausgerichteten Künstlerideals als durchschnittlich erscheint. Erstaunlich ist freilich, dass Grimm mit Raffael auch zugleich Goethe und Shakespeare als durchschnittliche Menschen und Künstler herabsetzt, auch wenn er Goethe später als „Schöpfer unserer geistigen Cultur“ bezeichnet, der sich aber „nirgends gegen die Ereignisse gestemmt“ habe.322 Um das eigene, noch junge national ausgerichtete Denken intellektuell zu stabilisieren und zu stützen wird ein heroischer Künstlertypus’ wie Michelangelo installiert, mit dem gleichsam auch eine neue, sich von den zuvor als Leitbilder fungierenden Persönlichkeiten absetzende Figur zur Verehrung kreiert wird, die sich vor allem durch seine Abgründigkeit, sein tiefes Leiden gepaart mit einzigartiger – aber eben nicht als ausschließlicher Qualität – künstlerischer Schaffenskraft auszeichnet. Dies garantiert ‚Zugänglichkeit‘ im Hinblick auf eine breite öffentliche Zustimmung. Zwar kann man nicht behaupten, dass Hübner Raffael in seinem Sonett zum Durchschnittskünstler stilisiert, doch ist auffällig, wie stark bei aller Apologie von Raffaels Kunst und Person gerade jene auch bei Grimm formulierten Charakteristika und Epitheta aufgerufen bzw. zitiert werden: Raphael. 1865 O Raphael, von allen Himmelsgaben Die holdeste hast du uns doch gebracht, Der Schönheit Licht, in dunkler Erdennacht, Ein Engel Gottes, unser Herz zu laben. 5

10

Wie einst als Schutzgeist den Tobiasknaben, Führ’st du die Menschheit nun an sanfter Hand Durch Blumenau’n zum sel’gen Heimatland, Und deutest lächelnd aufwärts, mild erhaben. O unaussprechlich himmlisches Entzücken, Wird’ ich dich einst im Engelchor erblicken, An deiner Huld mein zagend Herz erquicken!

|| 321 Grimm: Leben Michelangelos, Bd. 1, 1860, S. 346–347. 322 Ebd., S. 347.

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Dann führe mich, ein Kind, demüthig klein, Durch deiner Schönheit Thor zum Himmel ein, Durch holden Schein zu ewig hohem Sein!323

Die formale Gestaltung des Sonetts folgt mit seinem Reimschema abba/acca/ddd/eee keiner der traditionellen Formen des italienischen, französischen oder englischen Typus’. Die Zweiteilung des Sonetts wird durch die exclamatorischen Apostrophen zu Beginn des ersten Quartetts (V. 1) und des ersten Terzetts (V. 9) betont. Das thematische Zentrum sowohl der Quartette als auch der Terzette bildet die „Schönheit“ (V. 3 und 13), die als wesentliches Merkmal dem apostrophierten Raffael und seiner Kunst zugesprochen wird, wobei die Quartette Raffaels Malerei und deren Bedeutung allgemein, die Terzette in einer Art Jenseitsvision das Verhältnis des lyrischen Ichs zu Raffael charakterisieren. Durchgängig fällt auf der lexikalischen Ebene die Dominanz von Vokabeln auf, die im semantischen Bereich des Erhabenen, Entrückten, auch des Süßlichen und Zierlichen zu verorten sind, mit denen sich ein Raffael-Bild zusammensetzt, das im deutlichen Gegensatz zu dem späteren Michelangelo-Bild steht. Die allgemeine Funktion und Bedeutung von Raffaels Malerei als Inbegriff der Schönheit (V. 3) für die „dunkle Erdennacht“ (V. 3) lässt sich dementsprechend näher bestimmen: Diese Kunst ist dazu da, das „Herz zu laben“ (V. 4) und die Menschheit an „sanfter Hand“ (V. 6) zum „sel’gen Heimatland“ (V. 7) zu führen. Raffael selbst – auch dies entspricht der genannten lexikalischen Struktur – erscheint als „lächelnd“ (V. 8) und „mild erhaben“ (V. 8). Die imaginierte Begegnung des lyrischen Ichs mit Raffael in den Terzetten steigert dieses entrückte Bild des Renaissance-Künstlers noch, indem von „himmlische[m] Entzücken“ (V. 9) und „Herz erquicken“ (V. 11) die Rede ist. Folgt man der Gattungsbezeichnung Aus dem poetischen Tagebuch eines Malers, so haben wir es hier nicht nur mit einer dichterischen Auseinandersetzung mit Raffael zu tun. Der empirische Autor Julius Hübner als vermeintlicher Produzent und Herausgeber dieses Tagebuchs spricht sich hier auch als Maler über die Einflüsse aus, denen er in seinem Schaffen ausgesetzt ist und über die Vorbilder, an denen er sich orientiert. Die Integration solcher Malergedichte in den (fiktiven) Zusammenhang eines Malertagebuchs thematisiert auch das intermediale Zusammenspiel von Bildender Kunst und Literatur, das in der Gegenüberstellung zweier Künstlervorbilder das eigene Schaffen und damit die eigene Künstlerbiographie reflektiert: Auf der einen Seite ist da das liebliche und von klarer, harmonischer, ins Himmlische entrückte und entrückende Werk Raffaels, dem Hübner

|| 323 Hübner: Helldunkel, 1871, S. 231.

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als spätromantischer, stark von den Nazarenern beeinflusste Maler und Zeichner in seinem bildkünstlerischem Wirken gefolgt ist.324 Auf der anderen Seite steht Michelangelo, der vor allem von der Kunstliteratur für einen öffentlichen Heroenkult und damit auch für die literarische Produktion als Künstlertitan gefeiert wird, was Hübner als Dichter in seinen beiden Michelangelo-Sonetten ebenfalls verfolgt, von denen das erste mit Michel Angelo.1865 überschrieben ist: Du Engel Michael mit Flammenschwert Und goldnem Schild, mit der Vergeltung Wage, Zu wägen einst am Ende aller Tage Was ewig, heil, was ewig Qualen werth. 5

10

Wenn die Posaune des Gerichtes hört Der Schläfer Schaar in dunkler Gräber Lage, Gewissen aufwacht, daß es sie verklage, Und Sünder bis zum Himmel sich empört. Den Tag des Zorns, du hast ihn vorgeschaffen, Furchtbar im Bild auf der Capellenwand, Ein „Mene Tekel“ groß in Flammenzügen. Die Hölle glüht, die offnen Gräber klaffen, Du läßt, die Wage fest in sich’rer Hand, Verdammte stürzen, Sel’ge aufwärts fliegen.325

Hübner, der selbst als Übersetzter von Petrarca in Erscheinung getreten ist,326 benutzt hier und im zweiten Michelangelo-Sonett (Die Nacht des Michelangelo. 1864327) die Form des italienischen, prominent bei Petrarca verwendeten Sonetts, das dem Reimschema abba/abba/cde/cde folgt. Diese Form verwendete auch Michelangelo für fast alle seine Sonette, darunter auch jene berühmten an Vittoria Colonna und Tommaso Cavalieri gerichteten Gedichte.328 Ging Hübner in seinem Raffael-Sonett der Bedeutung des Künstlers und seines Werkes für sein eigenes künstlerisches Schaffen als Maler nach, so imitiert er in Michel Angelo.1865 auf

|| 324 Vgl. hierzu mit zahlreichen Abbildungen Renger: Zu Julius Hübner als Buchillustrator und Poet, 1984; Monschau-Schmittmann: Julius Hübner, 1993, bes. S. 71–211. 325 Hübner: Helldunkel, 1871, S. 232. 326 Vgl. Julius Hübner: Hundert ausgewählte Sonette Francesco Petrarka’s. Berlin 1868. 327 Hübner: Helldunkel, 1871, S. 280. 328 Vgl. die berühmten, in ihrer Entstehungsgeschichte nicht immer eindeutig Vittoria Colonna oder Tommaso Cavalieri gewidmeten Sonette, hier nach der Ausgabe: Michelangelo: Gedichte. Italienisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Michael Engelhard. Frankfurt am Main, Leipzig 1999 (insel-taschenbuch 2299), S. 108–114.

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der formalen Ebene zunächst den Sonett-Dichter Michelangelo. Seine Spannung gewinnt das Gedicht durch die rhetorisch fruchtbar gemachte Namensidentität des Renaissancekünstlers mit dem Erzengel Michael des Jüngsten Gerichts. Daraus ergibt sich auch eine Doppeldeutigkeit des vom lyrischen Ich angesprochenen „Du“. Die Quartette lesen sich wie eine Apostrophe des Erzengels in Michelangelos berühmter Gerichtsdarstellung in der Sixtina – worauf aber ohnehin erst mit der Paraphrase „Cappellenwand“ in Vers 11 angespielt wird –, dagegen spricht das lyrische Ich im ersten Terzett (V. 9) den Künstler Michelangelo als Schöpfer seines Jüngsten Gerichts mit „Du“ an. Durch diesen Wechsel des Apostrophierten wird die Zuordnung für den Leser unentscheidbar, wer denn mit dem angesprochenen „Du läßt“ (V. 13) im letzten Terzett gemeint ist. Dadurch gewinnt die Überhöhung des Künstlers ins Titanische eine fast religiöse Dimension, indem Michelangelo als Richter über Gut und Böse mit der biblischen Endzeitfigur des Erzengels Michael überblendet wird. Anders als im Raffael-Sonett überwiegen hier auf der lexikalischen Ebene martialische Kraftausdrücke („vorgeschaffen/Furchtbar im Bild auf der Capellenwand“, V. 9/10), die freilich teils biblischer Herkunft sind (V. 1: „Flammenschwert“; V. 2: „der Vergeltung Wage“; V. 11: „groß in Flammenzügen“; V. 12: „Die Hölle glüht, die offnen Gräber klaffen“), aber durch die doppeldeutige Verwendung der Du-Apostrophen eben auch beiden Figuren zugeordnet werden können. Im Umkehrschluss lassen sich die dem biblischen und gemalten Erzengel attestierten Attribute und Begriffe auch auf Michelangelo und sein Schaffen übertragen. Dabei ist die Wertung von Michelangelos Gerichtsdarstellung in der Sixtinischen Kapelle als „furchtbar“ (V. 10) eine wirkungsästhetische Beschreibung, die auf einen bei Grimm und anderen immer wieder beschworenen Topos anspielt, nach dem die Betrachtung eines solch gewaltigen Werkes wie dem Jüngsten Gericht zum Erlebnis wird und eben nicht – wie bei Raffael – ein stilles und vom Verstand geleitetes Anschauen bedeutet. Gerade die unterschiedliche Wirkung von Kunstwerken der beiden Künstler enthält in nuce deren persönliche Charakterisierung als Gewaltmensch (Michelangelo) und Akademiker (Raffael).329 Aus einer intermedialen Perspektive betrachtet, werden hier auf formaler und inhaltlicher Ebene bewusst die Grenzen zwischen Kunstwerk, Künstler und biblischer Vorlage vermischt. Das Ergebnis ist ein ins Titanische gesteigertes Michelangelo-Bild, das den Künstler als Schöpfer des Jüngsten Gerichts zeigt, der durch die Intensität der Darstellung sogar dem Erzengel Michael und damit dem biblischen Heilsgeschehen zuvorgekommen zu sein scheint.

|| 329 Zu der auf Burckhardt zurückgehenden Bezeichnung „Gewaltmensch“ vgl. Tauber: Bildungsbürgerlicher Kunstgenuß, 2003, S. 280.

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Abb. 27a: Michelangelo Buonarotti: Grabmal Giulianos di Lorenzo de’ Medici (1524/1533)

In dem formal gleich gebauten Sonett Die Nacht des Michelangelo. 1864 von Julius Hübner richtet sich das lyrische Ich direkt an die von Michelangelo seit 1526 geschaffene Skulptur Die Nacht am Grabmal Giuliano di Lorenzo de’ Medicis in der florentinischen Kirche San Lorenzo (Abb. 27a und 27b). Die angesprochene Marmorpersonifikation der Nacht wird entgegen ihrer ursprünglichen Funktion im Rahmen der konzipierten Funeralikonographie zu einer politisch hoch aufgeladenen Symbol- und Identifikationsfigur, die sowohl historisierend als auch aktualisierend gedeutet werden kann: Noch schläfst du, Riesin, prachtvoll hingestreckt Auf des Tyrannen Sarge, Marmornacht! Wie dir bestimmt, versteinert, unerwacht, So lang der Knechtschaft Schmach dein Land befleckt. 5

10

Du hast dich wohl im tiefen Schlaf gereckt, Noch unbewußt gefühlt der Glieder Macht, Gar an den Morgen träumend schon gedacht, Der einst dich doch zu heller Freiheit weckt. Dein Vaterland! wird es sich endlich finden? Der Morgen graut, des Wächters Stimme ruft, Rom und Venedig soll dein Volk befreien! Dann wird der Schlaf von deinen Wimpern schwinden, Dann steigst du, Nacht, aus dunkler Fürstengruft, Der Freiheit Tag dem Volke zu verleihn.330

Mit der schlafenden, möglicherweise aber erwachenden Skulptur der Nacht greift das Sonett motivisch auf einen bereits von Michelangelo selbst und seinem || 330 Hübner: Helldunkel, 1871, S. 280.

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Zeitgenossen, dem Dichter Giovanni Battista Strozzi Il Vecchio, literarisch geführten Dialog über die Marmorskulptur zurück, der sich durch seine Anspielung auf die zeitgenössische politische Situation in Florenz nach der Vertreibung der Medici im Mai 1527 auszeichnet. In der deutschen Übersetzung Michael Engelhardts von Strozzis Sopra la notte del Buonarroto (Auf Michelangelos Statue „Die Nacht“ ) und Rainer Maria Rilkes Übertragung von Michelangelos Entgegnung Risposta del Buonarroto (Entgegnung des Michelangelos) lauten die um 1545 entstandenen epigrammatischen Vierzeiler folgendermaßen: Der Nacht hier, deren holdes Schlafen jeden, Der Augen hat, beglückt, hat Form gegebene In Stein ein Engel – und ihr Schlaf ist Leben; Weck sie, wenn du’s nicht glaubst, und sie wird reden.331 5

Schlaf ist mir lieb, doch über alles preise Ich, Stein zu sein. Währt Schande und Zerstören, nenn ich es Glück, nicht sehen und nicht hören. Drum wage nicht zu wecken. Ach, sprich leise!332

Abb. 27b: Michelangelo Buonarotti: Grabmal Giulianos di Lorenzo de’ Medici (1524/1533); Detail: Die Nacht

Hübner lehnt sich hier nicht mehr nur formal mit der Sonettform an den Dichter Michelangelo an, sondern verwendet in seiner Literarisierung der Grabmalskulptur in Vers vier fast wörtlich eine Wendung aus Michelangelos Risposta, in der es im Original heißt: „mentre che ’l danno e la vergogna dura“.333 Die „vergogna“, also Schmach oder Schande, die die Nacht zum Weiterschlafen nötigt, wird zunächst nicht näher erläutert. Das Oktett liefert eine Beschreibung der Skulptur, || 331 Michelangelo: Gedichte, 1999, S. 292f.; direkt im Anschluss ist auch Michelangelos Antwort in der Übersetzung Engelhardt abgedruckt. 332 Rainer Maria Rilke: Gesammelte Werke, Bd. VI: Übertragungen. Leipzig 1927, S. 214. 333 Michelangelo: Gedichte, 1999, S. 292.

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wie sie als Nacht für den Betrachter konzipiert ist. Die Apostrophe der Nacht ist allerdings mit einer temporalen Bedingung verknüpft (V. 1: „Noch“ – V. 8: „einst“), die gleichzeitig den politischen Anspielungshorizont öffnet. Die fiktive Kommunikation des lyrischen Ichs mit der Skulptur der Nacht ist intertextuell rückgebunden an die Primärtexte von Strozzi und Michelangelo und setzt deren Kenntnis voraus. Das Gedicht scheint also zunächst eine historisierende Skulpturbetrachtung zu sein, die gleichsam in der Anschauung und Anrede intertextuell die Primärtexte verarbeitet und die mit der Skulptur verbundene politische Geschichte von Florenz abruft. Die in Michelangelos Entgegnung auf Strozzi vorgebrachte kritische Beurteilung der eigenen Gegenwart, die Hübner fast wortgleich wiederholt, spielt auf Michelangelos Rolle bei der Verteidigung der Republik gegen die zurückkehrenden Medici im Sommer 1530 an. Im Kampf gegen Papst und Kaiser unterlagen jedoch die Stadtbürger und mussten sich dem nunmehr neu installierten (Groß-)Herzogtum Toskana mit der Hauptstadt Florenz unter den Medici sowie der Abschaffung der Signoria fügen.334 Die in Hübners Sonett vollzogene Skulpturbetrachtung und Deutung derselben ist also in erster Linie eine literarisch vermittelte, wenngleich sie von Michelangelos Dichtung selbst ausgeht. Die Figur der Nacht wird dabei nicht mehr als Allegorie des (Todes)Schlafes im christlichen Sinne verstanden, sondern als Symbol des Schlafes in einem politischen Verständnis von Unfreiheit, Unterdrückung und Fremdherrschaft. Das im Sextett visionär evozierte Erwachen ist demnach auch nicht als Auferstehung – wie im Zusammenhang mit der Grabmalikonographie – zu deuten, sondern als Aufleben eines politischen Freiheitsdranges (V. 12–14). In dieser Deutungsperspektive wird Michelangelo als Schöpfer der Skulptur gleichsam auch als Künstler eines Volkswillens inszeniert, was dem zeitgenössischen Michelangelo-Bild des späten 19. Jahrhunderts entspricht.335 Die verwendeten historischen und politischen Großbegriffe „Freiheit“ (V. 8, 14), „Vaterland“ (V. 9) und „Volk“ (V. 11, 14) sind aber in gleicher Weise für die Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung. Für die politische Zielperspektive, die das Gedicht meines Erachtens auch formuliert, ist entscheidend, dass das Sonett zwar 1871 publiziert, aber bereits – wie der Titel zeigt – 1864, also noch vor der Einigung Italiens zum Nationalstaat entstanden ist. Das im Grunde die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts währende Ringen um die italienische Einheit ging im Wesentlichen von zwei Zentren, Piemont im

|| 334 Vgl. Frank Zöllner, Christoph Thoenes: Michelangelo 1475–1564. Leben und Werk. Köln 2010, S. 212–237. 335 Vgl. Imorde: Michelangelo deutsch, 2009, S. 71–77; Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 1969, S. 52.

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Norden sowie Neapel und Sizilien im Süden aus und fand erst mit den ersten gesamtitalienischen Parlamentswahlen und der Ausrufung Viktor Emanuels II. zum König im Jahre 1861 sein vorläufiges Ende mit dem gemäßigten Liberalen Cavour an der Spitze der Bewegung.336 Allerdings damals noch unter Ausklammerung des päpstlichen Herrschaftsgebietes mit Rom, weshalb die Hauptstadt des „geeinten“ Italien von 1861 auch Turin war. Zur Entstehungszeit von Hübners Sonett, noch vor dem dritten Italienischen Unabhängigkeitskrieg 1866, war die Frage nach der Eingliederung der österreichisch besetzten oberitalienischen Gebiete, allen voran des Veneto, noch nicht geklärt. Wie viele liberale Zeitgenossen scheint mir auch Hübner hier im Medium des historisierenden Bildgedichts eine Kritik an der österreichischen Italienpolitik zu üben.337 Die vom lyrischen Ich als Zukunftsvision angelegten Verse des letzten Terzetts sollten sich erst mit der italienischen Einigung 1870 erfüllen. Durch die vielfache intertextuelle Rückbindung an Michelangelos und Strozzis Verse und der mit ihnen verbundenen historisch-politischen Situation Italien und Florenz’ ist Hübners lyrische Skulpturbetrachtung im Kern ein politisches Gedicht, das sich kritisch gegenüber der österreichischen Politik der 1860er Jahre positioniert.

Conrad Ferdinand Meyers lyrische Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit Michelangelos geht wie seine Gedichte zu antiken Skulpturen auf seine Romreise 1858 zurück. Die Gedichte stammen wie auch alle anderen Texte von Meyer aus jener Zeit zwischen seinen Aufenthalten in einer Nervenheilanstalt, 1852/53 und 1892. Der frühe Tod des Vaters 1840 war zunächst für Meyers Mutter der Beginn einer langen Leidenszeit, da sie mit der Erziehung der Geschwister Conrad und Elisabeth (Betsy) überfordert war und vor allem die Entwicklung des Sohnes mit Sorge betrachtete. Die offensichtlich durch religiöse

|| 336 Zum italienischen Risorgimento bietet Martin Clark einen raschen Einblick, darin auch die wichtigste weiterführende Literatur, vgl. Martin Clark: The Italian Risorgimento. London, New York 1998 (Seminar Studies in History), zu den Geschehnissen von 1861 bes. S. 75–85; ähnlich angelegt, mit im Grunde gleichen Ergebnissen: Derek Beales und Eugenio F. Biagni: The Risorgimento and the Unification of Italy, sec. Ed. London u.a. 2002, hier bes. S. 114–133. In beiden Bänden sind die wesentlichen Dokumente (etwa die programmatischen Schriften von Mazzini, Gioberti oder Auszügen aus der Tagespresse) zum Risorgimento abgedruckt. 337 Die Haltung liberaler deutscher Zeitgenossen hat Ernst Portner untersucht. Quellengrundlage für seine Studie waren vor allem Zeitschriften wie Preußische Jahrbücher, Grenzboten und Wochenschrift des Nationalvereins. Nach Portner sind ab 1859/60 kritische Töne gegenüber Österreichs Italienpolitik zu vernehmen, vgl. Ernst Portner: Die Einigung Italiens im Urteil liberaler deutscher Zeitgenossen. Studie zur inneren Geschichte des kleindeutschen Liberalismus. Bonn 1959 (Bonner Historische Forschungen, Bd. 13).

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Selbstvorwürfe bedingten psychischen Störungen der Mutter führten immer wieder zu Auseinandersetzungen und Konflikten mit dem Sohn, die Meyer mit Selbstzweifeln zurückließen und bei ihm eine zunehmende gesellschaftliche und persönliche Isolation beobachten lassen.338 Ihr Selbstmord in derselben Nervenheilanstalt, in der auch Meyer gewesen war, bedeutete für Meyer eine Zäsur. Die Meyer-Forschung hat bis in die 1980er Jahre hinein viele seiner Erzählungen und Gedichte daher auch oftmals von der Biographie her gelesen und gedeutet.339 So wie das Rom-Erlebnis Meyers 1858 immer wieder als signifikante Wegmarke auf seinem Weg zum Dichter interpretiert wurde, so wurde vielfach postuliert, dass man an den Michelangelo-Gedichten „paradigmatisch die innere Entwicklung Meyers ablesen“ könne und „Meyer seine Gefühlswelt hinter den Figuren“ verberge.340 Tatsächlich beschreibt Meyer in den zwischen 1865 und 1890 entstandenen Gedichten zu Michelangelo den Künstler in Kenntnis der Grimm-Biographie als Künstlergott und reflektiert dabei sein eigenes Künstlerverständnis, wobei er aber viel stärker als Grimm oder Hübner in seinen Sonetten die künstlerische und religiöse Zerrissenheit Michelangelos und seine Sehnsucht nach ästhetischer Vollkommenheit thematisiert. Weber leitet seine Überlegungen mit dem Hinweis auf ein Briefzitat ein, das Meyers Bewunderung für Michelangelo und dessen Bedeutung für sein eigenes Werk herausstellt: „Michelangelo hat mir die stärksten Impulse zum dichterischen Schaffen gegeben: ich lernte durch ihn nach dem Hauptsächlichen zu streben.“341 Weber zitiert die Stelle allerdings nach der 1901 erschienenen Studie von Heinrich Kraeger, der das Zitat leider nicht nachweist. 342 Das ändert freilich nichts am prinzipiellen Aussagewert des Zitats. Das für Meyers Dichtung entscheidende Michelangelo-Bild soll daher aber

|| 338 Vgl. John Osborne, Wolfgang Lukas: Conrad Ferdinand Meyer. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 8. Berlin, New York 2010, S. 200–205; ferner auch die wichtigen Aspekte zusammenfassend Andrea Jäger: Conrad Ferdinand Meyer zur Einführung. Hamburg 1998 (Zur Einführung, 179), hier S. 11-16. 339 Vgl. Rosmarie Zeller: Meyer im Kontext. Blicke auf die Forschung. In: Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Hg. von Rosmarie Zeller. Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion, H. 35), S. 1–26, hier bes. S. 3. 340 Vgl. hierzu Ernst Weber, der sich gegen diese (ausschließliche) Lesart der Gedichte wendet, Ernst Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur – Zu C.F. Meyers Gedichte „Michelangelo und seine Statuen“. In: Das Gedichtete behauptet sein Recht. Festschrift für Walter Gebhard zum 65. Geburtstag. Hg. von Klaus H. Kiefer, Armin Schäfer und Hans-Walter Schmidt-Hanissa. Frankfurt am Main 2001, S. 127–143, hier S. 131. 341 Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 130. 342 Vgl. Heinrich Kraeger: Conrad Ferdinand Meyer. Quellen und Wandlungen seiner Gedichte. Berlin 1901, das Zitat S. XII, zu den Gedichten auf Michelangelo S. 228–231.

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stärker in den folgenden Interpretationen der Michelangelo-Gedichte an den Texten selbst und im Kontext der bereits aufgezeigten Michelangelo-Funktionalisierungen im späten 19. Jahrhundert aufgezeigt und nachgewiesen werden. Die von der Forschung bisweilen vorgenommene Parallelisierung zwischen dem bildkünstlerischen Diskurs in den Gedichten und Meyers eigenem Künstlerverständnis als Dichter ist freilich nicht von der Hand zu weisen und soll auch hier berücksichtigt, gleichwohl aber problematisiert werden. Meyer hat fünf Gedichte auf Michelangelo und einige seiner Werke verfasst, von denen im Folgenden vier, darunter zwei zu Michelangelos Fresken und zwei zu Bildhauerarbeiten, behandelt werden sollen. Mehr als die von Weber angesprochene „innere Entwicklung“343 Meyers zeugen die Gedichte meines Erachtens von einem sich wandelnden MichelangeloBild, das den Künstler in den Gedichten In der Sistina (1865/69; 1882/92) und Die Jungfrau (1879/82) noch auf gleicher Höhe mit Gott inszeniert, dagegen in den Bildhauergedichten eine durchaus nicht mehr nur im Grimmschen Sinne gebrochene, auf die eigene Kunst eifersüchtige Künstlergestalt literarisiert (Michelangelo und seine Statuen, 1880/82) oder die Ansprüche an die eigene Kunst problematisiert wie in Il Pensieroso (1890). Die in allen Gedichten explizit oder implizit aufgeworfene Frage nach künstlerischer Vollkommenheit beschäftigte Meyer nicht nur in den hier genannten sowie zahlreichen anderen Texten, sondern lässt sich auch im Einzelnen an der Werkgenese vor allem seiner insgesamt fünf autorisierten Gedichtbände ablesen. In ihrer endgültigen Fassung der fünften Ausgabe von 1892 hat Meyer die aus ganz unterschiedlichen Phasen und Entwicklungsstufen seines Schaffens stammenden Gedichte zu einer Anordnung gebracht, die über dieses Faktum hinwegtäuschen soll.344 Das trifft auch auf die Michelangelo-Gedichte zu, die bis auf Die Jungfrau alle unter der Rubrik Genie angeordnet wurden, in der die „gewaltige Leistung der Epoche [Renaissance] auf dem Gebiet der Kunst“345 Gegenstand der Dichtungen ist. Das in der Neufassung für die Ausgabe von 1882 auf sechs Strophen gekürzte und auch inhaltlich erheblich veränderte Gedicht In der Sistina benutzt eine einfache vierzeilige Strophenform mit jambischen Fünfhebern, Kreuzreimen und durchweg männlichen Versschlüssen. In ihren knappen Überlegungen zu dem Gedicht identifiziert Marina Rauchenbacher als inhaltlichen Kern „die Zwiespältigkeit gegenüber der Schöpfung, die Thematisierung des Schöpfungswortes und

|| 343 Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 131. 344 Vgl. hierzu Alfred Zäch: Conrad Ferdinand Meyer. Dichtkunst als Befreiung aus Lebenshemmnissen. Stuttgart 1973 (Wirkung und Gestalt, 12), S. 248f. 345 Ebd., S. 248.

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-bildes“.346 Auf die unterschiedlichen Fassungen und Titel des Textes weisen alle bisher erschienenen Beiträge hin, ohne aber die Unterschiede zu interpretieren.347 Unter dem Titel Michel Angiolos Gebet erschienen zusammen mit vier anderen Gedichten zehn Strophen im Morgenblatt für gebildete Leser, in Meyers 1869 publizierten Romanzen und Bildern dann nur noch neun Strophen unter dem Titel Michel Angelo.348 Dabei blieb insgesamt die Struktur des Gedichts mit seiner Mischung aus balladesken, einen Erzähler verwendenden Strophen und solchen, in denen Michelangelo als Rollenich in direkter Rede zu Wort kommt, erhalten. Getilgt wurde indessen schon in der Fassung von 1869 die im Titel vorgegebene Gattungszuweisung „Gebet“, die das Gedicht auch im Bereich der Andachtslyrik verortet und damit die religiöse Dimension von Kunstbetrachtung und Kunstproduktion schon im Titel führt. Auch ist von der Rahmensituation des in der vollendeten Sixtinischen Kapelle sitzenden und sinnenden Michelangelo sowie von den Fresken dort selbst in den Fassungen vor 1882 keine Rede. Dort heißt es in der ersten Strophe lediglich: „Der wundersame Meister, sinnt und wacht/In seiner Marmorbilder blassem Kreis“ (V. 3–4).349 Hingegen bezieht das 1882 publizierte Gedicht mit dem Titel In der Sistina seine Spannung gerade aus der Verbindung von produktionsästhetischen und theologisch-religiösen Aspekten der Michelangelo in den Mund gelegten Überlegungen mit dem Thema der Konkurrenz von Bildhauerei und (Fresko-)Malerei. Bisher wurde übersehen, dass der künstlerisch unsicher und religiös von Schuldgefühlen beherrschte Michelangelo der früheren Fassungen in dieser späteren Fassung ersetzt wurde durch

|| 346 Marina Rauchenbacher: Die Potenz der Schöpfung – Michelangelos Sixtinische Fresken in Conrad Ferdinand Meyers Gedichten Die Jungfrau und In der Sistina. In: Genesis – Poiesis. Der biblische Schöpfungsbericht in Literatur und Kunst. Hg. von Manfred Kern und Ludger Lieb. Heidelberg 2009, S. 115–131, hier S. 129. 347 Vgl. Kraeger: Conrad Ferdinand Meyer, 1901, S. 228f.; Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 1969, S. 110–114; Erwin Kalischer: Conrad Ferdinand Meyer in seinem Verhältnis zur italienischen Renaissance. Berlin 1907 (Palaestra, Bd. 54), S. 141–147; am ausführlichsten, mit einem Paralleldruck der Fassungen noch Emil Sulger-Gebing: Conrad Ferdinand Meyers Michelangelo-Gedichte. In: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Franz Muncker zum 60. Geburtstage. Dargebracht von Mitgliedern der Gesellschaft Münchener Germanisten […]. München 1916, S. 208–235, hier S. 210–226. 348 Vgl. hierzu den Kommentar und Bericht in der Ausgabe: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 5/1: Gedichte. Apparat zu den Abteilungen VII und IX. Bern 1996, S. 138–144. 349 Hier nach der Fassung von 1869, abgedruckt in: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 6: Bilder und Balladen. Zwanzig Balladen. Romanzen und Bilder. Text und Apparat. Bern 1988, S. 311–312.

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einen auf Augenhöhe mit Gott befindlichen Künstler, der stärker an den Grimmschen Künstler-Heros angelehnt ist, wenngleich eine deutsch-nationale Vereinnahmung und Deutung bei Meyer gänzlich fehlt: In der Sistine dämmerhohem Raum, Das Bibelbuch in seiner nervgen Hand, Sitzt Michelangelo in wachem Traum, Umhellt von einer kleinen Ampel Brand. 5

10

15

20

Laut spricht hinein er in die Mitternacht, Als lauscht’ ein Gast ihm gegenüber hier, Bald wie mit einer allgewaltgen Macht, Bald wieder wie mit seinesgleichen schier: „Umfaßt, umgrenzt hab ich dich, ewig Sein, Mit meinen großen Linien fünfmal dort! Ich hüllte dich in lichte Mäntel ein Und gab dir Leib, wie dieses Bibelwort. Mit wehnden Haaren stürmst du feurigwild Von Sonne immer neuen Sonnen zu, Für deinen Menschen bist in meinem Bild Entgegenschwebend und barmherzig du! So schuf ich dich mit meiner nichtgen Kraft: Damit ich nicht der größre Künstler sei, Schaff mich – ich bin ein Knecht der Leidenschaft – Nach deinem Bilde schaff mich rein und frei! Den ersten Menschen formtest du aus Ton, Ich werde schon von härterm Stoffe sein, Da, Meister, brauchst du deinen Hammer schon, Bildhauer Gott, schlag zu! Ich bin der Stein.“350

In den ersten beiden Strophen wird von einem Erzähler die räumliche Rahmensituation in der Sixtinischen Kapelle beschrieben, die sich mit dem „dämmerhohen Raum“ (V. 1) eines kühnen Neologismus bedient. Im Mittelpunkt des Gedichts steht das Verhältnis von Bildender Kunst und Religion, das aber gleichzeitig auch als intermediales Verhältnis im Sinne künstlerischer Disziplinen erfasst wird, da die künstlerische Arbeit Michelangelos hier deutlich ihren Ausgangspunkt vom geschriebenen Wort der Bibel nimmt – was auf die früheren Fassungen nicht

|| 350 Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 1, 1963, S. 350.

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zutrifft, da dort nur beschrieben wird, dass Michelangelo „Gewaltig […] in ein Buch vertieft“ ist.351 Die in den Strophen drei bis sechs vorliegende Kommunikationssituation von Michelangelo als Sprecher und dem angesprochenen, aber nur mit „dich, ewig Sein“ (V. 9) umschriebenen Gott veranschaulicht Michelangelos Unsicherheit hinsichtlich seiner Rolle, die er in der hier doppeldeutig zu verstehenden Schöpfung – das Schöpfungsfresko in der Sixtina und die Weltschöpfung Gottes – einnimmt (V. 7–8).352

Abb. 28: Michelangelo Buonarotti: Die Erschaffung der Gestirne – Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (1508/1512)

Der Paragone mit der Schrift wird gleich zu Beginn von Michelangelos Rede wieder aufgegriffen, indem Michelangelo mit der Anspielung auf Joh. 1,14 („Und das Wort ist Fleisch geworden“) betont, dass seine Gottesdarstellungen in den Fresken der Sixtina den Schöpfer überhaupt erst ins Leben rufen. In der vierten Strophe werden zwei der Gottesdarstellungen aus dem Deckenfresko beschrieben, die Erschaffung der Gestirne (Abb. 28) und die berühmte Erschaffung Adams (Abb. 29).

|| 351 Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 6, 1988, S. 311. 352 Vgl. auch Rauchenbacher: Die Potenz der Schöpfung, 2009, S. 130.

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Abb. 29: Michelangelo Buonarotti: Die Erschaffung Adams – Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle (1508/1512)

Der Schöpfer wird als Deus artifex von unerhörter Kreativität umschrieben, wobei der Dynamik des im Fresko zu sehenden Schöpfungsprozesses durch die beiden Enjambements (V. 14, 16) formal Ausdruck verliehen wird. Bezeichnenderweise spricht der von religiösen Zweifeln geplagte Michelangelo Gott nicht demütig als seinen Schöpfer an, sondern herausfordernd und immer wieder nur als Bild, als Produkt seiner eigenen Schaffenskraft (V. 17). Die über zehn Jahre zuvor erschienene Fassung des Gedichts präsentiert einen viel stärker noch im Sinne des Gebets-Titel nachdenklichen, sehr verhaltenen Michelangelo, der alles andere als überzeugt von der Qualität seiner Schöpfungen ist und seine religiösen Zweifel bitter beklagt: „Die süßen Fabeln haben mir geraubt Die Zeit, die dich zu suchen du verliehn, Unwillig schüttl’ ich das Haupt, Die Schmeichlerinnen wollen nicht entfliehn. 5

10

Statt zu erfassen in dem Wesen dich, Ergriff ich dich, o Gott, an deinem Kleid, Die Macht der Schönheit übermannte mich Und ich entbehre der Gerechtigkeit. In Fehle bin gealtert ich und Schuld, An deinem Himmel hab’ ich keinen Theil Als meiner schnöden Knechtschaft Ungeduld, Mein durstiges Verlangen nach dem Heil. Ich stemme mich, und kann mich nicht befrein, Mein Herz ist hart und trotzig, trüb und wild.

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15

Mein Gott, entreiße du dem todten Stein Mit starker Meisterhand dein Ebenbild.353

Gerade das Konkurrenz-Verhältnis Michelangelos zu dem von ihm ja nur mit Blick auf sein eigenes Fresko apostrophierten Schöpfer-Gott offenbart das von Meyer in der späteren Fassung von 1882 intendierte Michelangelo-Bild, das sich deutlich vom früheren absetzt. Die religiösen Zweifel und die innerliche Zerrissenheit des Künstlers führen nur scheinbar zu einer Unterwerfung unter den Schöpfer-Gott (V. 18–20). In Wirklichkeit wird hier mit Michelangelo ein Künstler gezeigt, der dem bei Grimm und anderen tradierten Künstlergott entspricht.354 Die Imperfektibilität der von Gott geschaffenen Welt wird in Anspielung auf Gen. 2,7 („Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß“) kritisiert und ihr das Dauerhafte der Kunst in Form einer aus dem Stein geschlagenen Figur gegenüberstellt. Der in der letzten Strophe vorgenommene Wechsel der Kunstdisziplinen – Michelangelo spricht dort nun über die Bildhauerei – ist nicht nur im Zusammenhang mit den von der Forschung nachgewiesenen, teils wörtlichen Anspielungen auf Sonette Michelangelos, die sich im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zu Vittoria Colonna auch mit der Bildhauerei als der am höchsten stehenden Kunstdisziplin widmen, von Interesse.355 Vielmehr weist das Motiv des im Stein verewigten Individuums schon auf das zentrale Thema von Meyers späteren Gedichten zu Michelangelos Skulpturen voraus (Michelangelo und seine Statuen; Il Pensieroso). Ebenso wie dort wird auch hier in der letzten Strophe implizit eine Klage über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens geführt, die gleichzeitig als Klage über den Schöpfer-Gott formuliert ist. Dauer und Sinn gewinnt menschliches Sein nur in der künstlerischen Darstellung, womit die ursprüngliche Schöpfung Gotte aus Ton (V. 21) abgewertet und insgesamt die Leistung der Schöpfung in Frage gestellt wird.356 Insofern thematisiert Meyers Michelangelo-Gedicht nicht nur die sicherlich auch auf seine eigene Biographie beziehbare Frage nach dem Selbstverständnis des Künstlers, sondern enthält auch einen religionskritischen Impetus, der im Medium des Bildgedichts verhandelt wird.

|| 353 Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 6, 1988, S. 312. 354 Vgl. Imorde: Michelangelo deutsch, 2009, S. 94–97; Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 1969, S. 50–52. 355 Detailliert zu den Sonetten Michelangelos, auf die Meyer Bezug nimmt und die Rolle Herman Grimms vgl. den Kommentar der Ausgabe, Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 5/1, 1996, S. 146– 152; Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 131f.; Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 1969, S. 110–114. 356 Vgl. auch Rauchenbacher: Die Potenz der Schöpfung, 2009, S. 131.

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Das ebenfalls sechs Strophen umfassende Gedicht Die Jungfrau nimmt auf die Erschaffung Adams des Sixtinischen Deckenfreskos von Michelangelo Bezug. Die Form aus kreuzgereimten, jambischen Vierhebern mit wechselnd weiblichen und männlichen Versschlüssen wird vor allem um die Jahrhundertwende in der Lyrik Stefan Georges und seiner Nachfolger beliebt.357 Vielfach ist schon betont worden, dass sich Meyer mit der hier vorgenommen Deutung einer im Schutze von Gottes Arm zu erkennender Nebenfigur aus der Erschaffungsszene, die 1875 von Jean P. Richter in der renommierten Zeitschrift für Kunstgeschichte als „präexistente Eva“ interpretiert wurde, als offensichtlich aufmerksamer Beobachter auch der zeitgenössischen kunsthistorischen Michelangelo-Forschung profiliert.358 Die Gattung des Bildgedichts öffnet er – wie das schon bei anderen Beispielen gezeigt werden konnte – gleichsam zu einer lyrischen Dokumentation und Diskussion von kunsthistorischen Forschungsergebnissen. Bei der Erstpublikation 1879 in der Deutschen Dichterhalle trug das Gedicht noch den Titel Junge Augen, die folgende Textgestalt und den Titel Die Jungfrau benutzte Meyer wiederum für die Gedichtausgabe von 1882:359 Wo sah ich, Mädchen, deine Züge, Die drohnden Augen lieblich wild, Noch rein von Eitelkeit und Lüge? Auf Buonarottis großem Bild: 5

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Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges Zum Menschen, welcher schlummernd liegt, Im Schoße seines Mantelbuges Ruht himmlisches Gesind geschmiegt: Voran ein Wesen, nicht zu nennen, Von Gottes Mantel keusch umwallt, Des Weibes Züge, zu erkennen In einer schlanken Traumgestalt.

|| 357 Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 237. 358 Zuerst wohl bei Sulger-Gebing: Conrad Ferdinand Meyers Michelangelo-Gedichte, 1916, S. 233; Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 1969, S. 101–104. 359 Zur Überlieferung vgl. den Kommentar zum Gedicht: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 3: Gedichte. Bericht des Herausgebers. Apparat zu den Abteilungen I und II. Bern 1964, S. 183–186.

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Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet, Mit Augen schaut sie, tief erschreckt, Wie Adem Er den Funken spendet Und seine Rechte mahnend reckt. Sie sieht den Schlummrer sich erheben, Der das bewußte Sein empfängt, Auch sie sehnt dunkel sich zu leben, An Gottes Schulter still gedrängt – So harrst du vor des Lebens Schranke, Noch ungefesselt vom Geschick, Ein unentweihter Gottgedanke, Und öffnest staunend deinen Blick.360

Die Beschreibung der Erschaffungsszene in den Strophen zwei und drei sowie die Deutung der Figur in den anschließenden Strophen vier und fünf wird eingerahmt am Beginn und Ende des Gedichts von jeweils einer Strophe, in denen sich das sprechende Ich direkt an die im Fresko zu sehende Mädchenfigur wendet. Entscheidend für die Einordnung des Gedichts im Kontext von Meyers Michelangelo-Dichtungen ist die auto-appellative Kommunikationssituation, die sich ja grundlegend von derjenigen von In der Sistina unterscheidet: „Die Ansprache des Du ist also nur eine vermeintliche, denn das Mädchen kann die Frage des Ich gar nicht beantworten. Der sprachliche evozierte und damit gedachte Blick des Ich in die Augen des Mädchens kehrt sich also zurück, er wird zu einem Blick nach Innen, der das Mädchen ausschließt und es im folgenden Prozess erst entwirft. Die Unmittelbarkeit, die durch die Ansprache evoziert wird, überdeckt den doppelten artifiziellen Entwurf und auch die Tatsache, dass auf das angesprochene Mädchen selbst nie eingegangen wird.“361 In einem zentralen Punkt ist Rauchenbachers Interpretation indessen zu widersprechen. Auf das Mädchen als Figur im Deckenfresko und auch als Folie für die moralische Reflektion über das Menschenbild allgemein wird sehr wohl eingegangen. Zunächst sollte aber die komplexe Struktur des Gedichts erörtert werden. Auffällig ist neben den Rahmenstrophen (1 und 6) und den das Fresko beschreibenden Strophen (2 und 3), dass die Figur des Mädchens in der vierten und fünften Strophe narratologisch gesprochen durch eine interne Fokalisierung präsentiert wird. In den Binnenstrophen

|| 360 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 1, 1963, S. 36. 361 Rauchenbacher: Die Potenz der Schöpfung, 2009, S. 123.

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zwei bis fünf wird das seiner „Bilderinnerung“362 nachgehende lyrische Ich zum Erzähler, der mehr und mehr aus der Perspektive der Figur spricht. Insofern wird sehr wohl und technisch auf vielfältige Weise die Figur des Mädchens in den Blick genommen. Im Gegensatz zu den anderen Michelangelo-Gedichten bleibt das Profil des lyrischen Ichs hier allerdings unklar. Sicher ist, dass es sich wohl nicht um Michelangelo als Betrachter und Sprecher selbst handelt. Es ist aber ebenso wenig auszumachen, welcher Zeit das lyrische Ich angehört, ob es ein Kunstbetrachter aus Meyers Gegenwart ist oder – worauf allerdings nichts hindeutet – ein historischer Betrachter. Dies führt dazu, dass der Leser sowohl den nicht näher bestimmbaren Betrachter und Sprecher als auch den Gegenstand des Gedichts als zeitlos, überzeitlich charakterisiert, womit freilich gleichzeitig eine Wertung des Freskos einhergeht. Angeregt von einem kunsthistorischen Forschungsbefund reflektiert dieses Gedicht dementsprechend in moralischen Kategorien über eine Figur im Fresko Michelangelos, was deutlich in den Eigenschaften („Noch rein von Eitelkeit und Lüge?“, V. 3; „Noch ungefesselt vom Geschick“, V. 22) und Umschreibungen des Mädchens („Ein unentweihter Gottgedanke“, V. 23) zum Ausdruck kommt. Sowohl die im Sistina-Gedicht zu beobachtende Schöpfungskritik als auch die Überhöhung Michelangelos zum Künstlertitanen werden hier indessen nur abgeschwächt formuliert. Am deutlichsten folgt Meyer diesem heroischen Künstlerbild, indem das Gedicht suggeriert, dass Michelangelo in der Erschaffungsszene schon den Sündenfall vorweggenommen und in der ambivalent gezeichneten Figur des Mädchens anschaulich gemacht hat („Die drohnden Augen lieblich wild“, V. 2).363 Die Frage danach, in welchem Verhältnis hier die vom lyrischen Ich betriebene Bildbetrachtung oder auch „Bilderinnerung“ zum Betrachteten selbst steht ist für die Beurteilung des Gedichts zentral: Mehr als in anderen Bild- und Künstlergedichten Meyers ist hier Kunstbetrachtung stärker als eine (auch) literarisch und von der kunsthistorischen Forschung vermittelte anzusprechen, die gleichsam aber als Anschauung inszeniert wird.

Wohl erst um 1881 ist Meyers Gedicht Michelangelo und seine Statuen entstanden, das im Titel bereits das Thema von Künstler und Werk exponiert.364 In ihm zeigt

|| 362 Von einer „Bilderinnerung“, die das lyrische Ich nach seinem Selbstappell suche, spricht Rauchenbacher: Die Potenz der Schöpfung, 2009, S. 123. 363 Vgl. auch Rauchenbacher: Die Potenz der Schöpfung, 2009, S. 124. 364 Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Weber: Bildende Kund und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 132.

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sich meines Erachtens bereits ein Bruch mit der bisher bei Meyer nachgewiesenen Michelangelo-Verehrung, was die Forschung bisher vernachlässigt hat.

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Du öffnest, Sklave, deinen Mund, Doch stöhnst du nicht. Die Lippe schweigt. Nicht drückt, Gedankenvoller, dich Die Bürde der behelmten Stirn. Du packst mit nervger Hand den Bart, Doch springst du, Moses, nicht empor. Maria mit dem toten Sohn, Du weinst, doch rinnt die Träne nicht. Ihr stellt des Leids Gebärde dar, Ihr meine Kinder, ohne Leid! So sieht der freigewordne Geist Des Lebens überwundne Qual. Was martert die lebendge Brust, Beseligt und ergötzt im Stein. Den Augenblick verewigt ihr, Und sterbt ihr, sterbt ihr ohne Tod. Im Schilfe wartet Charon mein, Der pfeifend sich die Zeit vertreibt.365

Abb. 30a: Michelangelo Buonarotti: Der sterbende Sklave (1513/1516)

Rein äußerlich unterscheiden sich die 18 reimlosen, durchweg männlich schließenden jambischen Vierheber durch das Fehlen einer strophischen Einteilung, die das Gedicht optisch blockhaft, ja ‚skulptural‘ erscheinen lassen.366 Dennoch

|| 365 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1: Gedichte. Bern 1963, S. 331. 366 Zur Struktur auch Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 132–136.

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lassen sich aufgrund der Redesituation und des Inhalts verschiedene Abschnitte ausmachen. In den ersten acht Versen richtet sich Michelangelo mit direkter DuAnrede nacheinander an vier von ihm geschaffene Skulpturen, denen jeweils ein Verspaar als syntaktische und inhaltliche Einheit gewidmet ist. Die Werke lassen sich problemlos identifizieren als heute im Louvre befindlicher Sterbender Sklave (V. 1–2), als Il Pensieroso (Abb. 30a und 30b), der Nachdenkliche vom Grabmal Lorenzo di Piero de’ Medicis in der Sakristei San Lorenzos in Florenz (V. 3–4), als Moses vom Medici-Grabmal San Pietro in Vincoli in Rom (V. 5–6, Abb. 31) und als Pietà im Petersdom (Abb. 32).

Abb. 30b: Michelangelo Buonarotti: Il Pensieroso – Grabmal Lorenzo di Piero de’ Medici (1524/1533)

Abb. 31: Michelangelo Buonarotti: Moses – Grabmal Julius’ II. (1513/1515)

In ihrer Gesamtheit als seine „Kinder ohne Leid“ (V. 10) werden die Marmorfiguren in den Versen neun und zehn und später wiederum in den Versen 15 und 16

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angesprochen.367 Dagegen nehmen die Verse 11 bis 14 sowie die letzten beiden Verse (17–18) im Gedicht eine Sonderstellung ein. Schon formal unterscheiden sich die thematisch den konkreten Gegenstand der Skulptur hinter sich lassenden, über die allgemeinen Wirkung und Bedeutung von künstlerischer Darstellung reflektierenden Verse 11 bis 14 durch den Bruch mit der bis dahin durchgehaltenen chiastischen Struktur der vorangegangenen Verse. Die angesprochenen Statuen verbindet ihre Charakterisierung als Verkörperungen von Schmerz, Not, Angst, Nachdenklichkeit und Ratlosigkeit, die demselben semantischen Feld zuzuordnen sind und hier im wörtlichen Sinne versteinert sind. Die Figuren sind gequält von ihren Empfindungen, sie können diesen Gefühlen aber keinen Raum geben bzw. sie nicht ausleben (V. 2, 3, 6, 8). Die genannten Schlüsselverse reflektieren diese Thematik des in Stein verewigten (V. 15), also in eine künstlerische Form gegossenen menschlichen Leids auf einer allgemeinen Ebene. Abseits der konkreten Betrachtung der Einzelfigur, gleichzeitig aber von ihr ausgehend, geht es Michelangelo offenbar nicht um deren „mimetischen Charakter“,368 sondern darum, „dass ihm die Skulpturen zugleich lebendig und erstorben“ vorkommen, sie „scheinen geboren, nicht geschaffen“.369

Abb. 32: Michelangelo Buonarotti: (Römische) Pietà (1498/1500)

Die aus der Kunstbetrachtung gewonnene Einsicht Michelangelos ist indessen nicht nur in kunsttheoretische Hinsicht bedeutsam, sondern wirkt sich auch auf die praktische Lebensführung und -einstellung aus. Der Mensch und Künstler ist sterblich und endlich und kann sich nur durch Kunstschaffen verewigen. Diese Kunst wiederum macht etwas Lebendiges, zumindest etwas, das lebendig scheint

|| 367 Ebd. Weber unterscheidet lediglich die durch Du- und Ihr-Anreden gekennzeichneten Abschnitte, S. 132. 368 Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 133. 369 Ebd., S. 133–134.

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(V. 9–10).370 Freilich hat Ernst Weber recht mit seiner Forderung, diese Verse nicht nur auf ihre Bedeutung für Meyers „Innenleben“ zu lesen und stattdessen vielmehr nach dem literarhistorischen Ort und der poetologischen Bedeutung des Gedichts zu fragen.371 Diese sieht Weber vor dem Hintergrund eines „aus der bildenden Kunst entwickelten Realismusbegriffs“ bei Meyers Thematisierung von Michelangelos Werk durch „ein im kulturhistorischen Zitat verstecktes Bekenntnis zu einer Schreibweise, die Wirklichkeit als Wirklichkeitsdeutung präsentiert im Sinne der Verbindung von Anschauung und Imagination“ gegeben.372 Diese Deutung sollte aber komplettiert werden mit dem Hinweis, dass Meyer hier einen durchaus ambivalent vom Leser deutbaren Künstler präsentiert. Denn im Mittelpunkt des Gedichts steht nicht die Überwindung des Todes durch die Kunst, sondern die Bedrohung des Lebens durch den Tod, worauf die letzten beiden Verse hinweisen, die mit ihrer merkwürdig humoristischen Motivik nicht zum Tonfall der übrigen Verse zu passen scheinen. Michelangelo tritt hier mehr als Betrachter denn als Schöpfer seiner Werke auf, „ohne dass die Differenz zwischen kreativem und rezipierendem Akt theoretisch reflektiert würde“ – was diese Michelangelo-Literarisierung von den vorangegangen unterscheidet.373 Fast schon eifersüchtig spricht Michelangelo über seine Werke (V. 15–16), so dass seine Kunstproduktion nur wie der Sublimierungsakt für allzu menschliche Leiden und Gebrechen erscheint. Das alles hat wenig gemein mit einem titanischen, regellosen und expressiven Michelangelo-Bild. Gewissermaßen lässt sich vor dem Horizont der übersteigerten Michelangelo-Rezeption im späten 19. Jahrhundert sogar von einer Relativierung Michelangelos hier sprechen. Immerhin wird den Statuen ja auch ein „Sterben“ zugestanden, das allerdings ohne „Tod“ stattfindet. Im Kontext der Leben-Tod-Thematik im Spannungsfeld von lebendiger Erscheinung und totem Stein folgt die Aussage Michelangelos freilich einer eigenen Logik. Der Vers „Und sterbt ihr, sterbt ihr ohne Tod“ (V. 16) kann durchaus aber auch auf die hier angedeutete, in der Zukunft nachlassende Rezeption dieser Skulpturen gedeutet werden, womit dann tatsächlich auch eine Art von ‚Tod‘ verbunden wäre.

|| 370 Vgl. Erwin Kallischer: Conrad Ferdinand Meyer in seinem Verhältnis zur italienischen Renaissance. Berlin 1970 (Palaestra, 64), S. 149–151. 371 Zur Kritik Webers an Kallischer und anderen vgl. Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 132. 372 Ebd., S. 139–140; Weber macht seine These an einschlägigen Texten Fontanes über Menzel, Schadow und Rauch fest. 373 Weber: Bildende Kunst und Selbstthematisierung der Literatur, 2001, S. 136.

204 | II Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung

Meyers in 27 Blankversen verfasstes, wohl um 1889 entstandenes und 1891 zum ersten Mal gedruckte Gedicht Il Pensieroso zur Grabmalsskulptur Lorenzo di Piero de’ Medicis in der Sakristei San Lorenzos in Florenz (Abb. 31), den Meyer aber Herman Grimms These folgend kurzerhand zu Giuliano di Lorenzo de’ Medicis macht, wurde bisweilen als Weiterführung der Thematik aus dem Gedicht Michelangelo und seine Statuen bewertet.374 Kennzeichnend für diese Literarisierung Michelangelos und eines seiner Werke ist wiederum Meyers Technik einerseits der intertextuellen Bezugnahme auf Gedichte von Michelangelo und Giuliano di Lorenzo de’ Medicis. Andererseits handelt es sich hierbei auch um eine Poetisierung der bei Grimm gefundenen, von Vasari bis Burckhardt von keinem anderen vertretenen These, dass die behelmte, ihre linke Hand nachsinnend ins Kinn stützende Marmorfigur nicht Lorenzo, sondern Giuliano di Lorenzo de’ Medicis darstellt:

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In einem Winkel seiner Werkstatt las Buonarotti, da es dämmerte; Allmählich vor dem Blicke schwand die Schrift… Da schlich sich Julianus ein, der Träumer, Der einzige der heitern Medici, Der Schwermut kannte. Dieser glaubte sich Allein. Er setzte sich und in der Hand Barg er das Kinn und hielt gesenkt das Haupt. So saß er schweigend bei den Marmorbildern, Die durch das Dunkel leise schimmerten, Und kam mit ihnen murmelnd ins Gespräch, Geheim belauscht von Michelangelo: „Feigheit ist’s nicht und stammt von Feigheit nicht, Wenn einer seinem Erdenlos mißtraut, Sich sehnend nach dem letzten Atemzug, Denn auch ein Glücklicher weiß nicht was kommt, Und völlig unerträglich werden kann – Leidlose Steine, wie beneid ich euch!“ Er ging und aus dem Leben schwand er dann Fast unbemerkt. Nach einem Zeitverlauf Bestellten sie bei Michelangelo Das Grabbild ihm und brachten emsig her, Was noch in Schilderein vorhanden war Von schwachen Spuren seines Angesichts. So waren seine Züge, sagten sie.

|| 374 Vgl. Sulger-Gebing: Conrad Ferdinand Meyers Michelangelo-Gedichte, 1916, S. 214–224; Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 1969, S. 107–110; Kalischer: Conrad Ferdinand Meyer in seinem Verhältnis zur italienischen Renaissance, 1907, S. 147–149.

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Der Meister schob es mit der Hand zurück: „Nehmt weg! Ich sehe, wie er sitzt und sinnt Und kenne seine Seele. Das genügt.“375

Die in den ersten Versen entworfene räumliche Szenerie beschreibt einen Michelangelo, der ganz und gar unheroisch „in einem Winkel seiner Werkstatt“ (V. 1) sitzt. Dieses Bild des passiven, sogar zum geheimen Lauscher (V. 12) herabgewürdigten Künstlers wird erst in den letzten beiden Versen in Michelangelos Entgegnung auf die Erben und Nachfahren des gestorbenen Medici zurückgenommen. Es wäre also verfehlt, an einem Text wie diesem Meyers uneingeschränkte allgemeine Bewunderung Michelangelos auch als literarisch umgesetzt zu bewerten. Das Gegenteil ist der Fall. Anders als im Sistina-Gedicht scheint die titanische Schaffenskraft Michelangelos hier merkwürdig doppeldeutig und gebrochen. Zwar wird die spätere Marmorskulptur des Lorenzo (hier Giuliano) für den Leser zweifelsfrei erfasst (V. 7–8) und auch die Identität von Kunst und Leben werden beschworen, indem der nächtliche Besucher Giuliano mit den „Marmorbildern“ (V. 9–11) spricht, obwohl er ja doch in anachronistischer Verzerrung einer von ihnen ist bzw. wird. Doch wird durch die geheime Beobachtung und vor allem das Hören von Giulianos Rede, die Meyer eng an Grimms Charakterisierung des Medici-Spross’ orientiert,376 Michelangelos vermeintlich titanische, selbstbewusste Haltung in den letzten Versen (V. 25–27) – die ihn wiederum als aus sich selbst schöpfenden und schaffenden Künstler zeigt – entwertet.377 Indem das Gedicht eine Entstehungsgeschichte der Marmorskulptur liefert, in der Michelangelo aber für den Schaffensprozess auf sein Lauschen und geheimes Beobachten angewiesen ist, erscheint er nicht mehr als jener überhöhte, aus sich selbst seine eigene Welt schaffende Künstler wie noch im Sistina-Gedicht. Selbst der Neid auf die Marmorskulpturen, der hier ebenfalls im Gedicht thematisiert wird, geht nicht mehr wie im Statuen-Gedicht von Michelangelo aus, sondern wird von Giuliano in Anspielung auf die schon im Zusammenhang mit Julius Hübners Sonett über die Skulptur der Nacht genannten Verse Michelangelos („e più l’esser di sasso“ – „mehr noch preise/Ich’s Stein zu sein)378 formuliert:

|| 375 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1: Gedichte. Bern 1963, S. 332–333. 376 Ausführlich dokumentiert die Bezüge der Kommentar in der Ausgabe Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 5/1, 1996, S. 24–32. 377 Zu einem ähnlichen Schluss kommt schon Christine Merian-Genast: Die Gestalt des Künstlers im Werk Conrad Ferdinand Meyers. Bern, Frankfurt am Main 1973, S. 60; aufgrund des breit gefassten Themas widmet Merian-Genast dem Gedicht allerdings nur einige Zeilen. 378 Michelangelo: Gedichte, 1999, S. 292f.

206 | II Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung

„Leidlose Steine, wie beneid ich euch!“ (V. 18).379 Bei aller Anlehnung an Einzelheiten aus Herman Grimms Michelangelo-Biographie, vor allem immer wieder der Rückgriff auf Grimm als Quelle für zeitgenössische Dichtungen von und über Michelangelo und seine Werke, sperren sich Meyers spätere Gedichte über Skulpturen des Künstlers doch mit ihrem doppeldeutigen Michelangelo-Bild gegen die vielfach von der Forschung pauschal vorgenommene Identifizierung des Schweizer Dichters mit der Grimmschen Lesart. Für das späte 19. Jahrhundert ist der hinlänglich bekannte ‚Verdeutschungsprozess‘ Michelangelos und seine mediale Omnipräsenz im kulturellen Leben ebenso signifikant wie es nicht zu verkennen ist, dass Meyers Gedichte – zumindest jene zu den Skulpturen Michelangelos – diesen Diskurs zwar fort- und mitschreiben, von den nationalen Implikationen indessen unberührt bleiben und daher für das literarische Michelangelo-Bild gewissermaßen auch ein Korrektiv darstellen.

|| 379 Meyer verweist in der Ausgabe seiner Gedichte mit einem * an dieser Stelle darauf, dass es sich hier um „eigene Worte Julians eine einem von ihm vorhandenen Sonett“ handelt. Allerdings nimmt das im Kommentar der Ausgabe abgedruckte Sonett Giulianos viel stärker das Thema der Feigheit und des Lebensüberdrusses in den Blick, vgl. Meyer: Sämtliche Werke, Bd. 5/1, 1996, S. 30f.

| Teil III:

Vom Künstlerheros zum Einzelkunstwerk. Individualisierung des Kunstgeschmacks und ästhetische Standortbestimmung um 1900

1 Kontinuität und Wandel: Literarischer Böcklin-Kult um 1900 und der ‚Fall Böcklin‘ Die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende bieten im Vergleich zum 19. Jahrhundert einen noch umfangreicheren Bestand an Prosatexten, Dramen und Gedichten, in denen Künstler und Kunstwerke rezipiert und literarisiert werden. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts ist im Bereich der Bildgedichte eine deutliche Hinwendung zur Rezeption von Einzelkunstwerken zu beobachten. Kumulative Gedichte zu Künstlern und deren Werk, die einen Künstler heroisieren oder kunst- und kulturhistorisch profilieren und seit der Reichsgründung mit Ausläufern bis ins frühe 20. Jahrhundert große Verbreitung fanden, machen nach der Jahrhundertwende nicht mehr den Großteil der Texte aus. Zahlreiche Autoren des Naturalismus, der Wiener Moderne, der Neuromantik, des Ästhetizismus, des literarischen Jugendstils oder des Expressionismus’ haben sich in ihren Werken intensiv mit der Bildenden Kunst auseinandergesetzt. Den erzählenden Texten, die Kunstwerke verarbeiten, hat sich die Forschung bereits mit mehreren Überblicks- und Einzelstudien zu Autoren und Epochen gewidmet. In den Beiträgen wird auch immer wieder auf die Wurzeln jener um 1900 in der Literatur ausgeprägten Dominanz der ‚visuellen Künste‘ in der Romantik und im späten 19. Jahrhundert hingewiesen.1 Im Zuge des sogenannten ‚visual‘ oder ‚iconic turn‘ der Literaturwissenschaft in den letzten zwanzig Jahren wurden diese Studien flankiert von theoretischen Überlegungen zu Text-Bild-Beziehungen, in denen die Literatur um 1900 ebenfalls eine prominente Stellung als Referenzepoche einnimmt.2

|| 1 Vgl. Bernard Dieterle: Erzählte Bilder. Zum narrativen Umgang mit Gemälden. Marburg 1988 (Artefakt: Schriften zur Soziosemiotik und Komparatistik, Bd. 3); Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991; nicht nur auf Hofmannsthal geht ein Ursula Renner: Das Erlebnis des Sehens. Zu Hofmannsthals produktiver Rezeption bildender Kunst. In: Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Hg. von Ursula Renner und G. Bärbel Schmid. Würzburg 1991, S. 285– 305; Ursula Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im Breisgau 2000 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 55); aus der Fülle der zum Thema erschienenen Sammelbände sei zunächst verwiesen auf Ulla Fix, Hans Wellmann (Hg.): Bild im Text – Text im Bild. Heidelberg 2000 (Sprache – Literatur und Geschichte. Studien zur Linguistik/Germanistik, Bd. 20). 2 Zur kulturtheoretischen Einordnung des ‚iconic turn‘ vgl. überblickshaft Monika SchmitzEmans: Literaturwissenschaft und Intermedialität. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen https://doi.org/10.1515/9783110700732-010

210 | III Kunstgeschmack und ästhetische Standortbestimmung um 1900

Die Verbindung von Bildender Kunst und Literatur ist für die Moderne geradezu programmatisch und lässt sich unter anderem auch soziologisch durch die vielen Dichter-Künstler-Freundschaften begründen, aus denen häufig eine fruchtbare Zusammenarbeit wie etwa bei Richard Dehmel und Max Klinger, Stefan George und Melchior Lechter, Hugo von Hofmannsthal und Ludwig Hofmann oder den Brüdern Robert und Karl Walser hervorgegangen ist. Ein Beispiel für die Präsenz und Bedeutung der Bildenden Kunst, einzelner Künstler und kunsthistorischer Gattungen und Epochen für die Lebenswirklichkeit der Jahrhundertwende – hier auf die Münchner Moderne zu beziehen – gibt der folgende Ausschnitt aus Thomas Manns fiktionaler, gleichwohl in dieser Hinsicht symptomatischer Erzählung Gladius Dei (1903): Es ist auf neue ergötzlich, vor den Auslagen der Kunstschreinereien und der Basare für moderne Luxusartikel zu verweilen. Wieviel phantasievoller Komfort, wieviel linearer Humor in der Gestalt der Dinge! Überall sind die kleinen Skulptur-, Rahmen- und Antiquitätenhandlungen verstreut, aus deren Schaufenstern dir die Büsten der florentinischen Quattrocento-Frauen voll einer edlen Pikanterie entgegenschauen. Und der Besitzer des kleinsten und billigsten dieser Läden spricht dir von Donatello und Mino da Fiesole, als habe er das Vervielfältigungsrecht von ihnen persönlich empfangen…[…] Blick um dich, sieh in die Fenster der Buchläden. Deinen Augen begegnen Titel wie ‚Die Wohnungskunst seit der Renaissance‘, ‚Die Erziehung des Farbensinnes‘, ‚Die Renaissance im modernen

|| Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2004/2005, S. 103–115; kritisch Jürgen E. Müller: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Hg. von Jörg Helbig. Berlin 1998, S. 31–40; verwiesen sei auch auf das grundlegende Kompendium: Ulrich Weisstein (Hg.): Literatur und Bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hg. von Ulrich Weisstein. Berlin 1992. Wichtig sind für den angesprochenen theoretischen Diskurs: Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 103). Willems’ entwickelt seine Überlegungen von drei Thesen aus: „1. Literatur ist wesentlich anschauliche Rede. […] 2. Literatur ist wesentlich anschauliche Rede. […] 3. Eine Geschichte der verschiedenen Darstellungsstile als der verschiedenen historischen Formen anschaulichen Redens läßt sich, wenn überhaupt, so noch am ehesten vor der Folie einer allgemeinen Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen schreiben, als deren Teilaspekt dann die Geschichte der Anschaulichkeit von Literatur erscheint.“ (S. 13) Der Autor konzentriert sich dabei „auf die beiden entscheidenden Umbruchsphasen in der neueren Literaturgeschichte, auf den Übergang vom allegorischen zum mimetisch-illusionistischen Darstellungsstil des 17. und 18. Jahrhunderts und auf die Auflösung dieses mimetisch-illusionistischen Darstellungsstils, die Entmimetisierung der Formen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts“(S. 14); ferner von Relevanz: Stefan Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter. München 1998, hier bes. S. 385–478.

1 Böcklin-Kult um 1900 | 211

Kunstgewerbe‘, ‚Das Buch als Kunstwerk‘, ‚Die dekorative Kunst‘, ‚Der Hunger nach Kunst‘ – und du mußt wissen, daß diese Weckschriften tausendfach gekauft und gelesen werden, und das abends für ebendieselben Gegenstände vor Sälen geredet wird…[…] Die Kunst blüht, die Kunst ist an der Herrschaft, die Kunst streckt ihr rosenumwundenes Zepter über die Stadt hin und lächelt. 3

Rein quantitativ schlägt sich die in der Erzählung thematisierte Omnipräsenz der Bildenden Kunst in der Literatur der Jahrhundertwende auch im exorbitanten Anstieg von Bildgedichten nieder, was sich im Laufe des 20. Jahrhunderts noch steigern sollte.4 Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert markieren sowohl im bildkünstlerischen als auch literarhistorischen Bereich die kulturgeschichtliche Schwelle zwischen einem mehr oder weniger verbindlichen ‚offiziellen‘ Kunstgeschmack hin zu einem „verhältnismäßig eigenständigen Subsystem einer ‚sezessionistischen‘ Kultur, das sich, teils unter Druck der politischen Umstände, teils aus eigenem Interesse, vom Zusammenhang der repräsentativen Kultur abgrenzt und einen eigenen literarisch-politischen und ästhetischen Diskurs formuliert“.5 Das macht es mithin schwieriger, Bildgedichte von ihrem Gegenstand her – also dem bedichteten Kunstwerk oder Künstler – zu einzelnen Gruppen zusammenzufassen, wenngleich auch um die Jahrhundertwende etwa die Rezeption antiker Skulpturen und Malerei, die Kunst Michelangelos oder dann van Goghs eine wichtige Rolle für die Literaturgeschichte des Bildgedichts spielen.6 Angesichts der Heterogenität der in Gedichten literarisierten Künstler und Kunstwerke nimmt der Schweizer Maler Arnold Böcklin für die Kunstrezeption innerhalb der unterschiedlichen literarischen Strömungen um 1900 eine herausragende

|| 3 Thomas Mann: Gladius Dei. In: Ders.: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt am Main 1993. S. 233–250, Zitat S. 235f. 4 Vgl. hierzu die Zahlen bei Kranz, die den Stand der frühen 1980er Jahre wiedergeben. Eine ergänzte, ähnlich umfangreiche Bibliographie dieser Art – die aber leider nicht vorliegt – würde sicherlich diese Tendenz noch untermauern, vgl. Gisbert Kranz: Das Bildgedicht. Theorie – Lexikon – Bibliographie. 3 Bde., hier Bd. 1. Köln 1981, S. 12; für das 20. Jahrhundert nennt Kranz die Zahl von 2827 Autoren von (nicht nur deutschsprachigen) Bildgedichten – gegenüber 577 Autoren im 19. Jahrhundert; ferner auch die älteren Zahlen bei Gisbert Kranz: Das Bildgedicht in Europa. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Paderborn 1973, S. 101–106. 5 Udo Köster: Die Moderne, die Modernisierung und die Marginalisierung der Literatur. Anmerkungen zu einigen Hypothesen über Literatur und Gesellschaft in Deutschland um 1900. In: Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Karl Robert Mandelkow zum 60. Geburtstag gewidmet. Hg. von Jörg Schönert. Frankfurt am Main u.a. 1988, S. 353–380, hier S. 366. 6 Vgl. Peter Sprengel: Wiener Moderne und Wiener Antike von Hofmannsthal bis Ehrenstein. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Stuttgart, Weimar 2001, S. 217–233.

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Stellung ein. In den Jahrzehnten von 1890–1910 zählt Böcklin nicht nur zu den am häufigsten in Bildgedichten rezipierten Künstlern, sondern die Autoren, die seine Person und seine Werke bedichten, gehören ganz verschiedenen literarästhetischen Gruppierungen und Strömungen an.7 Nach einem knappen Überblick zur Bedeutung und Wirkung von Böcklins Kunst um 1900 sollen die Analyse und Interpretation zunächst der Dedikationsgedichte an Böcklin, dann von Gedichten zu einzelnen Werken exemplarisch die unterschiedlichen Rezeptionszusammenhänge, ästhetischen und weltanschaulichen Funktionalisierungen des Künstlers und seiner Werke aufzeigen. Die anlässlich von Böcklins Geburtstagen 1887/1897 und seines Todes 1901 bzw. seines Totengedenkens verfassten Widmungsgedichte von Paul Heyse, Gottfried Keller, Adolf Graf Schack, Fritz von Ostini, Karl Henckell, Peter Hille, Emil von Schoenaich-Carolath und Stefan George literarisieren eine jeweils ganz persönlich geprägte Beziehung zu Böcklin. Die aus den Dichtungen sprechende Künstlerverehrung zielt aber anders als etwa bei den Dürer- oder MichelangeloGedichten nicht auf eine politisch-gesellschaftliche Indienstnahme des Künstlers mit möglichst breiter Wirkung, sondern reflektiert vielmehr ein ausgeprägtes ästhetisches Sonderbewusstsein, indem die Autoren den Schweizer Künstler in ganz unterschiedlicher Weise deuten und einzelne Aspekte seines Werkes akzentuieren. Gleichzeitig sind die Texte Teil eines Popularisierungsprozesses von Bildender Kunst. Denn erst mit den 1890er Jahren fand Böcklins Malerei im Deutschen Reich größere Aufmerksamkeit durch Kritiken, Lebens- und Werkdarstellungen in auflagenstarken Zeitschriften wie Der Kunstwart, Die Kunst für Alle, Deutsche Rundschau, Neue Deutsche Rundschau oder den Vorgängern der Zeitschrift für Kunstgeschichte, schließlich auch durch die Einrichtung eines eigenen Böcklinsaales in der Berliner Nationalgalerie im Zuge der Umstrukturierungsmaßnahmen unter Hugo von Tschudi und später Ludwig Justi.8 Ihren Höhepunkt erreichte die Böcklin-Rezeption mit den kunstnationalistisch und kulturkritisch ausgerichteten Vorlesungen des Heidelberger Kunsthistorikers Henry Thode vom Sommer 1905.9 Das im selben Jahr gedruckte Böcklin-

|| 7 Hierzu die Zahlen bei Kranz: Das Bildgedicht, Bd. 1, 1981, S. 441; ferner auch der Registereintrag im Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 898. 8 Vgl. Jörn Grabowski: Leitbilder einer Nation. Zur Präsentation von Historien- und Schlachtengemälden in der Nationalgalerie. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 91–100. 9 Vgl. Henry Thode: Böcklin und Thoma. Acht Vorträge über neudeutsche Malerei. Gehalten für ein Gesamtpublikum an der Universität zu Heidelberg im Sommer 1905. Heidelberg 1905; zur

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Buch Thodes ist auch eine Entgegnung auf Julius Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst von 1904 und Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten von 1905, in denen der Impressionismus-Apologet Meier-Graefe die neue französische Malerei verteidigt und Böcklin als Ursache und Inbegriff des kranken Zustandes der deutschen Kunst angreift und damit einen der am heftigsten und polemischsten geführten Kunstdebatten um die Jahrhundertwende auslöste.10 Erstaunlicherweise finden sich in den Gedichten zu Böcklin weder Tendenzen zur nationalistischen Instrumentalisierung wie in der Kunstliteratur,11 noch wird diese Art der Vereinnahmung des Schweizer Künstlers in den Texten rekapituliert oder auch nur angesprochen. Das Beispiel Böcklin und seine Literarisierung in Gedichten um 1900 markieren also zumindest teilweise einen Bruch zwischen Kunstpublizistik und Literaturproduktion, deren Allianz noch im späten 19. Jahrhundert vor allem im Zusammenhang mit Dürer und Menzel ein wichtiges Charakteristikum für Bild- und Künstlergedichte darstellt. Mehr noch: Der neben Adolph von Menzel und Hans Thoma von Meier-Graefe und seinen

|| Entstehung auf der Grundlage von Stenogrammen vgl. auch Anna Maria Szylin: Henry Thode (1857–1920). Leben und Werk. Frankfurt am Main u.a. 1993 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXVIII: Kunstgeschichte Bd. 170), S. 135. Thode charakterisiert seine Vorträge gleich zu Beginn in seinem Vorwort als Rechtfertigungstexte, S. IV: „Sie legten mir unsinnige Behauptungen in den Mund, wie z.B. die, daß der Deutsche keine Begabung für die bildende Kunst besitze. Ich bin der intellektuellen Immoralität geziehen, ein Komödiant genannt worden – und was nicht noch sonst! Meine einzige Antwort ist die Veröffentlichung dieses Buches.“ 10 Vgl. Julius Meier-Graefe: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. 3 Bde. Stuttgart 1904; die ausgesprochen populär gewordene Darstellung erlebte bis 1920 zwei weitere Auflagen; vgl. auch Julius Meier-Graefe: Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten. Stuttgart 1905; Meier-Graefes griffige Formulierung, „der Fall Böcklin“ sei der „Fall Deutschland“ und die damit einhergehende Parallelisierung künstlerischer und politisch-sozialer Zustände wurde in gleicher Weise von den Gegnern der französischen modernen Kunst als Denkmodell genutzt. Zu den einzelnen Positionen, Publikationen und Protagonisten vgl. Markus Bernauer: Der Klang als Vorgang des Bildes. Die Diskussion über Modernität und Konservatismus in der Kunstkritik seit Meier-Graefes Der Fall Böcklin. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Frankfurt am Main u.a. 2007 (Historische Politikforschung, 10), S. 290–309, hier bes. 293–299; zur frühen Indienstnahme von Böcklin, Thoma, Klinger gegen das ‚Deutsche‘ verfälschende Maler wie Liebermann, Corinth und Schiele vgl. auch Peter Ulrich Hein: Völkische Kunstkritik. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München u.a. 1996, S. 613–633, bes. S. 616–622. 11 Unter den Begriff der ‚Kunstliteratur‘ fallen Textsorten wie Traktate, Künstlerbiographien, Kunstkritiken, Werkmonographien oder Ausstellungskataloge, die seit Julius von Schlosser unter diesem Begriff zusammengefasst werden, vgl. Julius von Schlosser: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte. Wien 1924.

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Anhängern als führender Vertreter des deutschen Anti-Modernismus in der Kunst abgewertete, gleichzeitig aber auch durch Henry Thode, Ferdinand Avenarius und zahlreiche andere Publizisten und Kunstwissenschaftler nationalistisch interpretierte Böcklin wird gerade von Vertretern der literarischen Avantgarde(n) als moderner Maler wahrgenommen.12 Dass bei Peter Hille, Karl Henckell oder etwa auch bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, bei Detlev von Liliencron oder Otto Julius Bierbaum Böcklins Bildwelt – von seinen Gegnern als „Centaurenmorphismus“13 kritisiert – und seine von der Kunstwissenschaft als rückwärtsgewandte, als gründerzeitlich verworfene Darstellungsweise gerade als Ausdruck eines modernen Ich-Empfindens und moderner Weltsicht verstanden wurde, zeigt einmal mehr, dass die gängigen Moderne-Begriffe und die Vorstellung eines vollständigen ästhetischen Bruchs bei der Betrachtung einzelner Texte oder Rezeptionsphänomene an ihre Grenzen stoßen.14 Thodes spätere Vereinnahmung durch die Nazis und Meier-Graefes Böcklin-Invektive haben bisweilen den Blick darauf verstellt, dass auch Thode mit Böcklin zwar einen als urgermanisch instrumentalisierten Künstler als Vorbild für seine Kunstauffassung gewählt hat, dass dieser Künstler aber andererseits auch von nationalistisch ‚unverdächtigen‘ Autoren und Publizisten gerade wegen seiner unakademischen und antiakademischen Malweise auch als moderner Maler mit vitalistisch-antizivilisatorischer Stoßrichtung rezipiert wurde.15 In Böcklins Werken gehe es eben nicht nur um die Abbildung von Momenten, sondern um die idealistische Überhöhung ewiger Wahrheiten, wie sie nach Thode in Böcklins mythologischen Landschaftsdarstellungen zur Vollendung gekommen seien. Diese Vorstellungen werden mithin – freilich ohne die nationalistische Zielperspektive – auch in den Gedichten zu Böcklin aufgegriffen. Böcklin gilt für Henry Thode als Garant einer gegen die Auswüchse der Zivilisation gerichteten, echten Volkskunst, die Thode in eine kulturkritische Traditionslinie seit

|| 12 Vgl. Bernauer: Der Klang als Vorgang des Bildes, 2007, S. 294f. 13 Hier nach Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, 2000, S. 150. 14 Zur Problematisierung der Moderne mit guter Forschungsdiskussion vgl. Köster: Moderne, 1988; Sprengel: Wiener Moderne, 2001, bes. S. 218ff.; ausführlich und fundiert, um einen Blick auch auf scheinbar widersprüchliche Phänomene bemüht (Historismus als „konstitutives Moment der Moderne“, S. 26): Otto Gerhard Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Hg. von Otto Gerhard Oexle. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 228), S. 11–116. 15 Vgl. Andrea Linnebach: Böcklins Meeresszenen: „Klassische“ Ikonographie und „Deutsche Mythologie“. In: „In uns selbst liegt Italien“. Die Kunst der Deutsch-Römer. Hg. von Christoph Heilmann. München 1987, S. 60–69, bes. S. 60f.

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Rousseau einordnet.16 Meier-Graefe dagegen lässt nur Böcklins Frühwerk gelten. In den späteren Werken seit den 1860er Jahren sei die „Einheit“ der Bildkonzeption verschwunden und es springe stattdessen „das Ungeordnete ganz roh in die Augen“.17 Vor allem die Landschaftsszenen des Malers vergleicht Meier-Graefe mit einer „Illustration ohne Buch“, mit einem „Mosaik ohne Wand“ und einem „Theater ohne Bühne“,18 die nur dazu taugten, „die [künstlerische] Schwäche unserer Tage zu messen“.19

Bis in die 1870er und 1880er Jahre waren Böcklin-Gemälde fast ausschließlich in Privatsammlungen zu finden. Neben dem frühen Förderer und Freund Adolf Graf Schack, den Böcklin während seines Aufenthaltes in München im Herbst 1859 durch Paul Heyse kennengelernt und der bis zum Beginn der 1870er Jahre 16 Gemälde von Böcklin gekauft hat, sind als Käufer von Böcklins Kunst vor 1890 nur Hugo von Tschudi in Berlin und Alfred Lichtwark in Hamburg in Erscheinung getreten.20 Doch lässt sich bereits in dieser Zeit der relativen Unbekanntheit eine

|| 16 Vgl. Thode: Böcklin und Thoma, 1905, S. 121f.: „Die Landschaft genügt den starken schöpferischen Geistern nicht mehr, sondern aus der landschaftlichen Stimmung heraus, heraus aus dem Unbestimmten, was die Landschaft doch an sich hat, sehnt sich der Künstlergeist nach der bestimmten. Gestalt des Menschen. Und so entsteht von Neuem ein mythologisches Schaffen. Die Natur ist von der Kunst erobert worden. In langem, heißem Sehnen ist der Mensch dahin gelang, sie als Spiegel des Seelenlebens im Bilde hinstellen zu können. Und sieh da! der Augenblick kommt, da diese so beherrschte Natur wiederum, wie in den Zeiten der Gestaltung eines Volksglaubens, in menschliche Erscheinung verwandelt wird. Wie konnte das in den Zeiten einer so vorgeschrittenen Civilisation möglich werden? Es giebt hierfür wohl nur eine Erklärung. Das Suchen eines freien ursprünglichen Menschenthums ist es gewesen , welches, von der Liebe zur Natur und dem tief erkennenden Verständniß für sie veranlaßt und geleitet, zu solchen neuen Bildungen geführt hat. Diese Sehnsucht nach dem rein und ewig Menschlichen fand ihren ersten Ausdruck im XVIII. Jahrhundert. Im Widerspruch zu einer alle Wahrhaftigkeit bedrohenden unerträglichen Civilisation und Konvention! Mächtig und mit sich fortreißned ertönt der große Ruf der Seele nach Freiheit, nach einer Rückkehr zum Natürlichen aus dem Munde Rousseaus. Und was darauf folgte in Dichtung, Musik und Wissenschaft, war das Streben nach dem von Konventionen und historischen Bedingungen befreiten idealen Menschen.“ 17 Meier-Graefe: Der Fall Böcklin, 1905, S. 82. 18 Ebd., S. 258. 19 Ebd., S. 221. 20 Einen zuverlässigen und detaillierten Überblick zu Leben und Werk bieten die Zusammenstellung von Dorothea Christ: Arnold Böcklin 1827–1901. Biographie. In: Arnold Böcklin 1827– 1901. Gemälde, Zeichnungen, Plastiken. Ausstellung zum 150. Geburtstag veranstaltet vom Kunstmuseum Basel und vom Basler Kunstverein 11. Juni–11. September 1977. Red. Dorothea Christ. Basel, Stuttgart 1977, S. 14–21, hier S. 18; ausführlicher bei Rolf Andree: Böcklins Leben. In: Ders.: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Basel, Zürich 1977, S. 16–34, hier S. 22; zu den Ankäufen

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radikale Lagertrennung der überschaubaren Zahl von Kennern in eine ‚BöcklinGemeinde‘ auf der einen und ‚Böcklin-Feinde‘ auf der anderen Seite beobachten. Die ältere Generation von Kritikern und etablierten Malern wie Carl von Piloty oder Franz Lenbach, mit dem sich Böcklin spätestens seit 1874 überworfen hat, stehen der Malerei des Schweizers mit Unverständnis gegenüber und kritisieren seinen Hang zur ‚Absonderlichkeit‘ sowie das Abweichen von Akademie-Normen.21 Böcklins kurzzeitige Erfolge mit seinem Pan im Schilf (1858, Abb. 33) im Münchner Kunstverein, auf der Wiener Weltausstellung mit einem Kentaurenkampf (1873, Abb. 34) aber auch mit einer missverstandenen Fassung der berühmten Pietà (1885, Abb. 35), seine bescheidenen Verkaufszahlen während der durch viele Unterbrechungen gekennzeichneten Romaufenthalte in den 1850er und 1860er Jahren, die Berufung 1860 als Lehrer für Landschaftsmalerei an die Kunstschule in Weimar, an der unter anderen auch der ihm schon aus Rom bekannte Reinhold Begas und Franz Lenbach unterrichteten, können indessen nicht über Böcklins desolate finanzielle Situation und die ausbleibende künstlerische Anerkennung vor 1890 hinwegtäuschen.22 Zahlreiche schwere Krankheiten, Todesfälle nächster Angehöriger und immer wieder finanzielle Rückschläge, die die Familie oft hungern ließen, kennzeichnen die Vita des Schweizers. Verwunderlich ist, dass gerade dieses Künstlerprofil eines um den Erfolg Betrogenen und fast gescheiterten Genies, wie

|| vgl. Christoph Heilmann: Einleitende Anmerkungen zur Kunst der Deutsch-Römer. In: „In uns selbst liegt Italien“. Die Kunst der Deutsch-Römer. Hg. von Christoph Heilmann. München 1987, S. 11–18, hier S. 11. 21 Zum Nebeneinander unterschiedliche Kunstrichtungen vgl. Wilhelm Schlink: „Kunst ist dazu da, um geselligen Kreisen das gähnende Ungeheuer, die Zeit, zu töten…“. Bildende Kunst im Lebenshaushalt der Gründerzeit. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Hg. von M. Rainer Lepsius. Stuttgart 1992 (Industrielle Welt, Bd. 47), S. 65–81, hier S. 67ff.; zusammenfassend die Argumente, Positionen der Böcklin-Gegner: Ingrid Koszinowski: Böcklin und seine Kritiker. Zu Ideologie und Kunstbegriff um 1900. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 279–292; ferner auch mit Konzentration auf Meier-Graefe Juliane Greten: Böcklinkritik. Studien. Diss. masch. Heidelberg 1989; einen Überblick zu weiteren Kunstkritikern und Kunsthistorikern und deren Urteil über Böcklin vermittelt Lutz Tittel: Die Beurteilung Arnold Böcklins in der Zeitschrift für bildende Kunst von 1866 bis 1901. In: Arnold Böcklin 1827–1901. Gemälde, Zeichnungen, Plastiken. Ausstellung zum 150. Geburtstag veranstaltet vom Kunstmuseum Basel und vom Balser Kunstverein 11. Juni–11. September 1977. Redaktion Dorothea Christ. Basel, Stuttgart 1977, S. 123–130. 22 Vgl. Andree: Böcklins Leben, 1977, S. 21–26.

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man es dann in der Folge aus zahllosen van-Gogh-Mythen und Literarisierungen kennt, keinen Eingang in die Böcklin-Gedichte gefunden hat. In ihnen steht deutlich das Werk mit den aus ihm ableitbaren, produktions- und rezeptionsästhetischen Positionen im Vordergrund.

Abb. 33: Arnold Böcklin: Pan im Schilf (1858)

Abb. 34: Arnold Böcklin: Kentaurenkampf (1873)

Als deutscher Künstler wird Böcklin in den 1890er Jahren vor allem von Cornelius Gurlitt, Karl Woermann, Friedrich Haack, Carl Neumann, Ferdinand Avenarius und Franz Servaes inszeniert. In Die Kunst für Alle proklamiert Friedrich Haack am 1. Oktober 1895 „Böcklin und Klinger sind ihrem innersten Wesen nach vom Scheitel bis zur Zehe urdeutsch“23, Carl Neumann attestiert der Malerei „tiefe Wurzeln in die Rasseeigentümlichkeiten unseres Bodens“24 und Cornelius Gurlitt

|| 23 Friedrich Haack: Böcklin und Klinger. Eine vergleichende Studie. In: Die Kunst für Alle 11, 1 (1.10.1895), S. 1–4, hier S. 1. 24 Carl Neumann: Der Kampf um die neue Kunst. Berlin 1896, S. 129.

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stellt lapidar fest, „[e]r ist Deutscher“ und ergänzt, „[n]ur unsere Nation konnte einen solchen Mann erzeugen“.25

Abb.35: Arnold Böcklin: Pietà (1873/1885)

Karl Woermann argumentiert in einer viel gelesenen Darstellung, dass Böcklin „schon deshalb zur deutschen Kunst gehört, weil seine künstlerische Wirksamkeit fast nur in Deutschland verspürt und gewürdigt“ werde.26 Nach seinem Tod am 16. Januar 1901 würdigt Ferdinand Avenarius den Schweizer Künstler und fasst Böcklins ‚deutsche‘ Kunst noch einmal zusammen: „Was Böcklin anrührte, das ward Geist. Kunst in diesem Sinn, nordische, germanische, deutsche Kunst ist alles, was er geschaffen hat.“27 Neben dieser deutsch-nationalistischen Deutung des Künstlers wird dieser aber auch immer dezidiert als Inbegriff modernen Künstlertums und Kunstschaffens in Opposition zur offiziellen (Historien-)Malerei geradezu als prophetische und messianische Erscheinung gefeiert.28 Die Texte

|| 25 Cornelius Gurlitt: Arnold Böcklin. In: Die Kunst für Alle ,9, 2 (15.10.1893), S. 3–23, hier S. 23; zur Einordnung vgl. auch Greten: Böcklinkritik, 1989, S. 23 und 36f.; Koszinowski: Böcklin und seine Kritiker, 1983, S. 279–285; im weiteren Zusammenhang um die Diskussion einer deutschen Kunst Georg Bollenbeck: Die Debatten über die ‚deutsche Kunst‘ im Wilhelminischen Kaiserreich. Ein semantisches Laboratorium. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hier Bd. I. Hg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert. Darmstadt 2001, S. 223–228. 26 Karl Woermann: Was uns die Kunstgeschichte lehrt. Einige Bemerkungen über alte, neue und neueste Malerei. 3., verb. Auflage. Dresden 1894, S. 159. 27 Ferdinand Avenarius: Zu Böcklins Heimgang. In: Der Kunstwart 14, 9 (Februar 1901), S. 393– 396, hier S. 396. 28 Ekkehard Mai: Nationale Kunst – Historienmalerei vor und nach 1870. Von der Romantik der Geschichte zur geschichtlichen Wirklichkeit. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 19–32, hier S. 31; Koszinowski: Böcklin und seine Kritiker, 1989, S. 281f. führt hier vor allem Emil Heilbutt an, für den Böcklin den Höhepunkt individualistischer Malerei verkörperte.

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nennen, verarbeiten und verbreiten andererseits auch Merkmale und Charakteristika, die der Malweise und Wirkung von Böcklins Gemälden zugesprochen werden, und die sich auch in den Gedichten zu Böcklin finden.29 Böcklins Kunst zeuge von einer „poetischen Ausdrucksfähigkeit“30 und gründe auf der intensiven Naturanschauung einer „Naturseele“31 und seine Größe beruhe auf einer „selbstherrlichen Ursprünglichkeit der Phantasie“,32 die sich zu einer „phantastische[n] Wirklichkeitsdarstellung“33 vereinigten. Seine Landschaftsbilder seien ganz aus der Stimmung geboren,34 würden Böcklins Studium der Antike und den Einfluss des Südens erkennen lassen und verkörperten eine Realitätsüberhöhung im Sinne der Sublimierung von Wirklichkeit in überzeitliche Geltungsbereiche.35 Betont wird auch immer wieder, dass die Besonderheit Böcklins nicht in den (mythologischen) Motiven liege, sondern in der „Intensität des Ausdrucks und [der] unmittelbaren Kunstwirkung“.36

|| 29 Eine zusammenfassende Darstellung zur Literarisierung Böcklins existiert nicht. Wichtige Texte stellt der Aufsatz von Nikolaus Meier vor, dessen Bibliographie ebenfalls sehr wertvoll ist. Allerdings geht es Meier mehr um die Vorstellung als um die Analyse und Interpretation der Gedichte, vgl. Nikolaus Meier: Böcklin-Gesänge. In: Arnold Böcklin 1827–1901. Gemälde, Zeichnungen, Plastiken. Ausstellung zum 150. Geburtstag veranstaltet vom Kunstmuseum Basel und vom Balser Kunstverein 11. Juni–11. September 1977. Redaktion Dorothea Christ. Basel, Stuttgart 1977, S. 131–146. 30 So Hugo von Tschudi in seinem verglichen mit den anderen Texten vom Ton und Stil her verhalteneren, wenn auch würdigenden Nachruf auf Böcklin, Hugo von Tschudi: Arnold Böcklin. In: Die Kunst für Alle 16, 11 (1.3.1901), S. 251–256, hier S. 253. 31 Gurlitt: Arnold Böcklin, 1893, S. 20. 32 Avenarius: Zu Böcklins Heimgang, 1901, S. 394. 33 Woermann: Was uns die Kunstgeschichte lehrt, 1894, S. 163. 34 Haack: Böcklin und Klinger, 1895, S. 3. 35 Neumann: Der Kampf um die neue Kunst, 1896, S. 252. 36 Ebd., S. 259.

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1.1 Künstlerisch-kunstgeschichtlicher Freundschaftskult, ästhetische Selbstvergewisserung und kulturkritische Gallionsfigur: Widmungsgedichte auf Böcklin von Heyse, Schack, Keller, Hille, Ostini, Henckell und George Diese enorme Wirkung von Böcklins Malerei auf die eigene Weltwahrnehmung ist auch Thema eines der frühesten Gedichte auf Arnold Böcklin von Paul Heyse, das laut Verfasserangabe auf den 20. Dezember 1877 datiert. Ein vergleichender Blick auf die Entwicklung der Böcklin gewidmeten Gedichte von diesem frühen Beispiel bis zu Stefan George erlaubt gleichzeitig die Darstellung rezeptionsgeschichtlicher Kontinuitäten, Brüche und Neu-Perspektivierungen. Der Titel von Heyses Gedicht An Arnold Böcklin in Florenz37 weist einerseits den Adressaten des langen, in Terzinen geschriebenen und 175 Verse umfassenden Textes aus und signalisiert andererseits damit auch die Trennung des unter anderen aus Böcklin, Heyse und dem Maler Heinrich Dreber (gen. Franz-Dreber) bestehenden Freundeskreises, an dessen gemeinsame Zeit in Rom sich das lyrische, durchaus mit Heyse zu identifizierendes Ich erinnert.38 Der Münchner Dichterfürst lernte Böcklin im Herbst 1852 in Rom kennen, wo der Schweizer ein Zimmer als Atelier und Wohnung in der Via Sistina gemietet hatte.39 Auf den ersten Blick sind Heyses strenge Terzinen der auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts florierenden Rom-Lyrik zuzurechnen. Die persönlich-biographische Erinnerungserzählung, die den Sprecher „in alter Tage Traum“ (V. 11) schweifen lässt, von dem aus sich das an Böcklin gerichtete Gedenken entfaltet, verbindet

|| 37 Hier zitiert nach der Ausgabe: Paul Heyse: An Arnold Böcklin in Florenz. In: Ders.: Gesammelte Werke. Dritte Reihe, Bd. V: Hadrian / Alkibiades. Gedichte und Übersetzungen. Lebensbild von E. Petzet. Stuttgart, Berlin-Grunewald 1924, S. 465–469. 38 Das Gedicht wird immer wieder erwähnt, aber kaum interpretiert, vgl. Meier: Böcklin-Gesänge, 1977, S. 132ff.; Jürgen Wissmann: Arnold Böcklin und das Nachleben seiner Malerei. Studien zur Kunst der Jahrhundertwende. Diss. masch. Bielefeld 1968, S. 100f.; Robert Josef Kozljanič: Böcklin und die daimonische Dimension der Natur. Betrachtungen zu zwei BöcklinGemälden der Münchener Neuen Pinakothek. In: Hestia 19 (1998/99), S. 104–128, hier S. 115ff.; Heyse hat auf die historische Richtigkeit seiner Dichtung („Terzinenepistel“) selbst in seinen 1900 erschienenen Jugenderinnerungen hingewiesen, die heute auch noch ein lebendiges Bild des Freundeskreises in Rom bieten, vgl. hier nach der Neuedition Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse. Hamburg 2014, S. 150–155. 39 Vgl. Andree: Böcklins Leben, 1977, S. 20.

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gattungsgeschichtlich das Freundschaftsgedicht motivgeschichtlich mit dem gerade im späten 19. Jahrhundert vorwiegend in Terzinen verfassten Traumerlebnis:40

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Als ich in Rom nur eine Nacht geschlafen, An die Ripetta zog es mich hinab, Zu jenem Hause, wo wir oft uns trafen. Heut sahn die Fenster fremd auf mich herab. Stumm schlichen hin des alten Stromes Wellen, Und niemand war, der mir Willkommen gab. Wo sind sie nun, die fröhlichen Gesellen, Die Bienen gleich hier schwärmten aus und ein, Der Künste Honig tragend in die Zellen? Ich überwand mich nicht und trat hinein. Ich stand in alter Tage Traum verloren Und glaubte wieder jung und froh zu sein. Von neuem klang der Lärm vor meinen Ohren, Wie jenen Morgen, da an diesem Haus Der Wagen hielt, den wir zur Fahrt erkoren Zum Haine der Egeria hinaus, Wo Jahr um Jahr das lustige Gelichter Zu halten pflegte den Oktoberschmaus. Nun stiegen ein sechs lachende Gesichter, Bildhauer drei, zwei Maler außer dir Und auf den Bock ein grüner junger Dichter.41

Allgemeine Italiensehnsucht als überkommenes literarisches Motiv wird hier ins Persönliche transformiert. Die Stadt am Tiber ist nicht mehr nur Erinnerungsort und „Sinnbild eines allgemeinen menschlichen Welt-Schmerzes“42 für den Dichter nördlich der Alpen, sondern wird zum erinnerten Wirkungsort auch einer neuen Kunst erhoben, nämlich der Böcklins, für die das gemeinschaftliche Süderlebnis als konstitutiv hervorgehoben wird. Der genauen, auch topographisch präzisen Nacherzählung eines Ausfluges und nächtlich antikischen Gelages korrespondiert die damit implizit nahegelegte Wirkung von Böcklins Kunst, die nicht nur in der Erinnerung, sondern auch im damaligen Erleben aus der Sicht des lyrischen Ichs zu einer mythischen Weltwahrnehmung geführt hat:

|| 40 Vgl. Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchgesehene Aufl. Basel, Tübingen 1993 (UTB für Wissenschaft, 1732), S. 64–69. 41 Heyse: An Arnold Böcklin, 1924, S. 465. 42 Walther Rehm: Europäische Romdichtung. 2., durchgesehene Aufl. München 1960, S. 239.

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Du sagumklungen quellenkühles Tal, Dem zwei Jahrtausende vorübergingen, Seit Numa sich zu seiner Nymphe stahl, Nie sahst du schönre Glut zum Himmel dringen, Als wir entfacht im Eichenschatten dort, Wo wir uns lagernd unser Fest begingen. Du aber zogst, o Freund, den Neuling fort, Ihm erst der Grotte Heiligtum zu zeigen, Versteckt im Hochgras, sommerlich verdorrt. Rings die Campagna lag im Mittagsschweigen, Und wie wir traten aus der feuchten Nacht, Sahn wir den Rauch in stiller Wolke steigen Aus immergrünen Wipfeln, wie gemacht Zum Tempel, drin ein Opfer zu entflammen Den alten Göttern, deren ew’ge Macht Die klugen Nachgebornen kühl verdammen. Wir aber schlangen wucherndes Gerank Des Efeulaubs zu Kränzen leicht zusammen. Die fanden bei den andern lauten Dank, Und so bekränzt nun überm stillen Tale Erhoben wir die Hand zu Speis’ und Trank. Gedenkst du noch, wie Franz mit voller Schale In Priesterandacht unsres Herdes Glut Umschritt, den Göttern spendend vor dem Mahle? Und hoch und höher stieg der Übermut. Bacchantisch überschwoll die Festeslaune, Genährt von des Velletri dunkler Flut; Bis unser Däne dann, der Bärt’ge, Braune, Die Kleider abwarf und ums Feuer nackt Mit Jauchzen sprang gleich einem ries’gen Faune. Drei taten’s nach von gleichem Rausch gepackt, Und an den Schultern festlich sich umschlingend, Den Boden stampften sie im Reigentakt, Im Vierklang eine nordische Weise singend, Die hell und wild die Wipfel überflog, Mit dunklem Heimweh uns das Herz bezwingend.43

Die Italienwahrnehmung als vordergründiges Hauptthema des Gedichts ist an die Begegnung mit Böcklin und seiner Kunst gekoppelt. Die rekapitulierte Geographie des römischen Umlandes ist gleichzeitig auch der Ort und der soziale Kontext der Künstlergemeinschaft. Diese wird dezidiert mit dem Süden kontextualisiert. Die Mahnung „Gedenkst du noch“ (V. 61), die dem ganzen Gedicht zu

|| 43 Heyse: An Arnold Böcklin, 1924, S. 466f.

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überschreiben wäre, soll nicht nur als Aufforderung an Böcklin zur Besinnung auf diese Zeit verstanden werden, sondern bringt auch eine in späteren Gedichten etwa von Adolf von Schack noch stärker betonte künstlerisch-stilistische Verortung der Böcklinschen Malerei zum Ausdruck. Mit der vollzogenen und vorgestellten Erinnerung des lyrischen Ichs wird im Grunde auch eine kunstgeschichtliche Verortung von Böcklin als Deutsch-Römer vorgenommen.44 Nur wenig später erschienene Gedichte von Peter Hille oder Karl Henckell stellen diesen Aspekt nicht mehr so stark in den Vordergrund. Sie betonen die protonaturalistische und symbolistische Dimension von Böcklins Werken. Die sehr intime lamentatio über den recht früh, noch vor der Entstehung von Heyes Gedicht 1875 verstorbenen Freund Franz-Dreber, dessen sich schon in Rom andeutendes, mangelndes Lebenstalent und die ausbleibende Anerkennung, erlaubt es indessen, das Bild von Böcklin als produktivem Künstler mit einem wahrnehmungsverändernden Werk umso deutlicher und gewissermaßen als vitalistische Gegenfigur zu Franz-Dreber am Ende des Gedichts erscheinen zu lassen:

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Wie war er reich! Wie schien er die Gewähr Des höchsten Kranzes in der Brust zu tragen! Und dennoch gab er seiner Zeit nicht mehr. Natur, die weich auf Händen ihn getragen, Ihm Aug' und Seele mütterlich gefeit, Was mußte sie dem Liebling eins versagen, Wodurch allein sie Herrschgewalt verleiht: Die süße Dumpfheit, jedes Höchsten Quelle, Die seine Wurzeln tränkt mit Lauterkeit! Sein Auge war zu scharf, sein Geist zu schnelle; Er ward zu klug aus allem, was er schuf; Der Baum erkrankt bei steter Lampenhelle. Zu willig folgte Weisheit seinem Ruf Und lehrte sinnend ihn das All umfassen, Da Schranken heischt des Schaffenden Beruf. So hat er manch ein Werk zurückgelassen, Beseelt von seines Wesens edlem Hauch, Doch nicht erklingt sein Namen auf den Gassen.

[…]

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Indes auf Farb’ und Form die Augen ruhten, Sog still der Geist das Mark der Schöpfung ein Und stählte sich im Bad der Schönheitsfluten. Kunst ist ein Schatz, und Geister hüten sein.

|| 44 Vgl. Heilmann: Einleitende Anmerkungen zur Kunst der Deutsch-Römer, 1987.

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Wer glaubt und schweigt, kann ihn heraufbeschwören; Wer spricht, dem wird der Zauber nicht gedeihn. Und ob sie deine Zirkel wollten stören, Dich meisternd locken aus dir selbst heraus, Du lerntest früh dir schweigend angehören. So wuchsest du in stolzer Kraft dich aus, Da unser Freund so früh dahingegangen; Ich aber dachte beim Ripettahaus Des Herrlichen, was wir von dir empfangen.45

Die Vorstellung von der Kunst als einem von Geistern behüteten Schatz gerät zur geheimnisvollen Umschreibung von Böcklins Produktionsästhetik. In der Inszenierung des Künstlers als Schweigenden, dem sich nicht durch das Sprechen eines „Zauberworts“ – wie noch bei Eichendorff, auf dessen berühmte Verse aus der Wünschelrute die Stelle verweist – eine Welt eröffnet, sollte nicht als Paragone-Diskussion verstanden werden, wenngleich Heyse seine Dichtungen stets vor allem mit den deutschen Malern in Italien in Zusammenhang und Wettbewerb sah.46 Vielmehr spielen die Verse auf die später auch in den Beiträgen von Gurlitt, Haack, Neumann, Woermann und anderen betonte Ursprünglichkeit und Natürlichkeit der Böcklinschen Kunst im Gegensatz etwa zur von der Kunsttheorie ‚verseuchten‘ französischen Kunst an. Die letzten vier Terzinen und der Schlussvers stellen abschließend noch einmal das Verhältnis von Dichter und Bedichtetem dar: Der Maler Böcklin wird als Geber und der römische Freundeskreis um den Dichter Paul Heyse wird als Empfänger beschrieben, was die historische Konstellation variiert. Tatsächlich dürften eher umgekehrt Heyses Verse zur Popularisierung und Anerkennung des noch in den 1870er Jahren kaum erfolgreichen Böcklin nicht wenig beigetragen haben.

Im April 1885 übersiedelte Böcklin von Florenz nach Zürich. Dort arbeitete er an Neufassungen bisheriger Bildthemen wie heroischen Landschaften und mythologischen Szenen. Sein Atelier wurde aber auch zum Treffpunkt alter Jugendfreunde wie dem Maler Rudolf Koller und gleichgesinnter Weggefährten wie dem Bildhauer Richard Kissling oder dem Architekten Alfred Friedrich Bluntschli. Im gemieteten Haus zur Eidmatt am Kreuzplatz in Zürich entstanden in dieser Zeit auch einige von Böcklins berühmtesten Werken, darunter das Spiel der Najaden

|| 45 Heyse: An Arnold Böcklin in Florenz, 1924, S. 468f. 46 Vgl. hierzu Norbert Miller: Emmanuel Geibel, Paul Heyse und das literarische München zur Zeit Maximilians II. In: „In uns selbst liegt Italien“. Die Kunst der Deutsch-Römer. Hg. von Christoph Heilmann. München 1987, S. 29–37, bes. S. 35.

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(1886, Abb. 36) und Kentaur in der Dorfschmiede (1886, Abb. 37) das Heinrich Vierordt bedichtet hat und als Vorbild für Hofmannsthals Versdramolett Idylle diente. Während eines Besuchs in Böcklins Atelier hat auch Johannes Brahms, der zusammen mit dem Dirigenten Friedrich Hegar nach Zürich gereist war, dieses Gemälde im Frühsommer 1887 gesehen.47

Abb. 36: Arnold Böcklin: Das Spiel der Najaden (1886)

Abb. 37: Arnold Böcklin: Kentaur in der Dorfschmiede (1888)

Den Schweizer Dichter und Autor des Grünen Heinrich, Gottfried Keller, der selbst in jungen Jahren Maler werden wollte, lernte Böcklin erst im Frühjahr 1885 kennen und blieb in einer engen Freundschaft bis zu dessen Tod im Juli 1890 mit ihm verbunden. Keller schätzte und bewunderte Böcklins Kunst schon vor der persönlichen Bekanntschaft mit dem Maler. Im Oktober 1881 reiste er zusammen mit eben jenem Jugendfreund Böcklins, Rudolf Koller, und dem Sankt Galler Maler Emil Rittmeyer zum Vierwaldstättersee, um dort die von Ernst Stückelberg || 47 Vgl. Andree: Böcklins Leben, 1977, S. 30; zu Kellers Verhältnis zur Bildenden Kunst zusammenfassend Dominik Müller: Gottfried Keller. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 412–417.

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ausgemalte Tellkapelle zu besichtigen. Auf der Rückreise machten die Freunde Halt in Luzern, wo Keller im Atelier von Robert Zünd wohl sein erstes Originalgemälde von Böcklin gesehen hat. Bereits 1880 setzte sich Keller mit Böcklins Tritonenfamilie auseinander und rekapitulierte in einem 1882 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Essay die 1881 unternommene Reise, in dem sich allerdings noch eine gewisse Distanziertheit gegenüber Böcklin beobachten lässt.48 Kellers nur handschriftlich überliefertes, nie publiziertes Gratulationsgedicht An Arnold Böcklin zum sechzigsten Geburtstage 1887 wird in den wenigen Beiträgen, die das Gedicht erwähnen, meist nur als Gelegenheitstext charakterisiert, der Böcklins Malerei „uneingeschränktes Lob“ zukommen lasse.49 Für die literarische Böcklin-Rezeption sind die sechs Romanzenstrophen mit ihren eingängigen trochäischen, wechselnd weibliche und männliche Versausgänge aufweisenden Vierhebern insofern sehr interessant, gerade weil sie nur handschriftlich überliefert und nicht zum Druck gekommen sind. Ganz im Gegensatz zum siebzigsten Geburtstag Böcklins 1897, zu dem in Basel aber auch im Deutschen Reich zahlreiche Huldigungsfeiern stattgefunden haben, zählt Kellers Grußgedicht – soweit ich sehe – zur einzigen literarischen Reminiszenz an Böcklin in diesem Geburtstagsjahr 1887. Dieser Befund lässt sich nur mit der verhaltenen Rezeption Böcklins in seiner Schweizer Heimat vor 1890 erklären.50 Von der Konzeption her verbindet das Gedicht von der Gattung vorgegebene Wunschformeln mit Betrachtungen zur Bedeutung des Beglückwünschten: Seit du bei uns eingezogen Und dein leichtes Haus gebaut, Schauen wir der Iris Bogen, Wenn der hellste Himmel blaut! 5

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Seh’n die Fülle der Gesichte Dich im Reigentanz umzieh’n, Seh’n die Knospen, Blüten, Früchte, Rastlos deiner Hand entflieh’n. Heute rauscht ein leises Wehen – Lausche nicht zu lang, o Mann!

|| 48 Detailliert hierzu Dominik Müller: Keller und Hodler, Gleyre und Meyer, Böcklin und… . Begegnungen und Konstellationen zwischen Literatur und bildender Kunst in der Schweiz des späteren neunzehnten Jahrhunderts. In: Von Anker bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848–1900. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich 1998, S. 95–112, hier bes. S. 95f. und 103f. 49 Wissmann: Arnold Böcklin und das Nachleben seiner Malerei, 1968, S. 102; erwähnt und abgedruckt wird Kellers Gedicht auch bei Andree: Böcklins Leben, 1977, S. 30f.; ferner auch bei Meier: Böcklin-Gesänge, 1977, S. 134ff. 50 Vgl. Müller: Keller und Hodler, 1998, S. 103.

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Um Entstehen und Vergehen Fange nicht zu zählen an!

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Wie dir täglich hat gegohren In der Seele neuer Wein, Also sollst Du neu geboren Selber jeden Morgen sein! Und erst spät mag es geschehen, Daß es fern herüber hallt: „Seht, auf jenen grünen Höhen Hat der Meister einst gemalt! „Starken Herzens, stillen Blickes Theilt er Licht und Schatten aus, Meister jeglichen Geschickes Schloß gelassen er das Haus!“51

Das den ersten Vers einleitende temporale Adverb „seit“ markiert eine mit Böcklins Ankunft in Zürich gleichgesetzte neue Zeit. Das lyrische Ich spricht in den folgenden Versen für ein Kollektiv, das durch Böcklins Malerei zu einer veränderten Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit gelangt ist (V. 3, 5, 7). Ostentativ wird der eigene Lebensalltag auf die Beschreibung der Bedeutung Böcklins beschränkt, die gleichzeitig durch gezielt eingesetzte Vokabeln („Gesichte“, „Reigentanz“) auch einen Assoziationshorizont zu Böcklins Werken öffnet. Erst in der vierten Strophe wird die literarische Konvention des Geburtstagsgedichts vom Sprecher auch eingelöst, indem Wünsche für das weitere Leben formuliert werden. Die gängige Schlussformel vieler Geburtstagswünsche ad multos annos erfährt bei Keller eine auf ganze zwei Strophen ausgeweitete amplificatio. Die Verquickung der Zeitstruktur in den einzelnen Strophen ist dabei das auffälligste Merkmal. Bei der in eine ferne Zukunft verlegten Szene einer Erinnerung an Böcklin nach dessen Tod in der fünften und sechsten Strophe bezieht sich das „einst“ in der wörtlichen Rede (V. 20) auf eben jene Zeit, die das lyrische Ich gerade erlebt. Von einer Heroisierung des Künstlers kann aber gerade in den Versen, die den noch fernen Tod behandeln, keine Rede sein. Auch dieses einzigartige

|| 51 Das Gedicht ist nur in der HKA abgedruckt, Gottfried Keller: Sämtliche Werke. HistorischKritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe. Bd. 14: Verstreute Gedichte und Erzählungen. Hg. von Peter Stocker, Thomas Binder, Walter Morgenthaler und Karl Grob. Basel, Frankfurt am Main 2011, S. 135.

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Künstlerleben ist durch seine Endlichkeit gezeichnet. Gleichwohl macht die in die Zukunft verlegte, einem anonymen Sprecher in den Mund gelegte Erinnerung deutlich, dass Böcklin ein Maler ist, dessen Nachruhm lange währen wird. In den Schlussversen werden damit die Anerkennung des Künstlers und seine Etablierung im kollektiven Gedächtnis lyrisch vorweggenommen, die erst einige Jahre später Realität werden sollte.

In Adolf Graf Schacks ebenfalls An Arnold Böcklin in Zürich gerichtetem Gedicht wird die persönliche Beziehung und Freundschaft als Gegenstand der insgesamt zehn Strophen stärker in den Vordergrund gerückt. Entstanden sind die Verse wohl kurz nach Böcklins Übersiedlung nach Zürich im Jahre 1885. Publiziert wurde das Gedicht aber erst posthum im zehnten Band der Ausgabe von Schacks Gesammelten Werken.52 Es handelt sich hierbei um die in Gedichtform gebrachte Beschreibung des Verhältnisses von Mäzen und Künstler sowie um eine Mahnung an Böcklin, sich der südlich-italienischen Wurzeln der eigenen Malerei zu besinnen. Schack gehörte zu den bedeutendsten Sammlern zeitgenössischer Kunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erwarb neben Gemälden Böcklins auch Werke von Hans von Marées, Moritz von Schwind, Anselm Feuerbach, zahlreiche Kopien italiensicher Altmeister sowie spanische und italienische Landschaften von Malern der Generation Leo von Klenzes, die in den Räumen seines Hauses in der Münchner Prinzregentenstraße seit 1865 auch für interessierte Besucher zugänglich waren.53 Während Böcklins erstem Aufenthalt in München lernten sich die beiden 1859 durch Vermittlung von Paul Heyse kennen und sahen sich dann 1864 in Rom wieder, wo Schack den Schweizer Maler besuchte und zahlreiche Gemälde in Auftrag gab, darunter eine Fassung der berühmten Villa am Meer (1864), die auch im Gedicht eine Rolle spielt.54 Schacks Verse sind ein anschauliches Beispiel dafür, wie Böcklins Malerei die literarische

|| 52 Adolf Friedrich von Schack: Gesammelte Werke. 3., verbesserte Auflage, hier Bd. 10. Stuttgart 1899, S. 274–276; zur Überlieferung vgl. den 1992 zum ersten Mal gedruckten Aufsatz von Günter Hess: Schack und Italien. Die Galerie als literarisches Spiegelkabinett. In: Ders.: Panorama und Denkmal. Studien zum Bildgedächtnis des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2011 (Stiftung für Romantikforschung, Bd. 52), S. 303–313, hier S. 313. 53 Grundlegend die Dokumentation von Eberhard Ruhmer u.a. (Bearb.): Schack-Galerie. Vollständiger Katalog. Textband. München 1969 (Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Gemäldekataloge, Bd. II), hier die Chronik S. 18–20, zu Böcklin in der Schackgalerie v.a. S. 40–59, 77– 80. 54 Zu lesen Schacks Beschreibung in: Adolf Friedrich Graf von Schack: Meine Gemäldesammlung. Zweite durchgesehene Auflage. Stuttgart 1882, S. 141–157.

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Bildlichkeit und den Blick auf Italien in Gedichten des späten 19. Jahrhunderts – und teilweise darüber hinaus – prägte.55 Die Gedichte auf Böcklin und seine Bilder sind intermedial gesehen oftmals ‚Rückübersetzungen‘ von Bildmotiven der Literatur, da sich Böcklin vor allem von antiken Texten anregen ließ. Auf die „ungewöhnliche literarische Bildung“ hat auch Schack in der Beschreibung seiner Gemäldegalerie hingewiesen und Böcklins „Vorliebe für die Idyllendichter der Griechen, ebenso für Theokrit und Bion, wie für den Hirtenroman des Longos“56 betont. Obwohl Schacks Gedicht tatsächlich noch weit entfernt ist vom „symbolistisch-ästhetizistischen BöcklinKult Hofmannsthals“, ist es doch mehr als nur ein „poetischer Kommentar“.57 Darauf deutet schon die Wahl der Strophenform hin. Der traditionsreiche Achtzeiler aus trochäischen Vierhebern, doppeltem Kreuzreim mit wechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen zählt seit Hoffmann von Fallerslebens Lied der Deutschen nicht nur zur gebräuchlichen, liedhaften Form gemeinschaftsstiftender, politischer Dichtung, sondern wurde auch zum Ausdruck von freundschaftlicher Verbundenheit benutzt.58 Das Bekenntnis ist im Falle von Schacks Versen nicht politischer Art, sondern persönlich-künstlerischer Natur. Die ersten sechs Strophen entwerfen einen Bildersaal, der einerseits deutlich auf Schacks Galerie Bezug nimmt, andererseits auch wiederum den Einfluss von Böcklins Bildern auf die Literatur in performativer Weise vorführt. Die letzten vier Strophen sind eine Aufforderung zur Rückkehr nach Italien, die mehr Züge einer „melancholischen Regression“ als einer „zukunftsorientierten Renaissance“59 annimmt:

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Deinem nimmer wandermüden Fuße folgt’ ich früh schon, Freund, Wo die Sonne Glut im Süden Dir zuerst die Stirn gebräunt, Und ich sah, wie die Palette Mit der schimmernden Magie Deiner Farben jeder Stätte Neuen Wunderreiz verlieh. Bald, wo in des Südmeers Buchten Von dem Sturm die Felswand dröhnt, Und das Ufer mit den Schluchten Dumpf vom Wogendonner tönt,

|| 55 So mit zahlreichen Beispielen Hess: Schack und Italien, 2011, S. 313. 56 Schack: Meine Gemäldegalerie, 1882, S. 145. 57 Hess: Schack und Italien, 2011, S. 310. 58 Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 621–629. 59 Hess: Schack und Italien, 2011, S. 313.

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Bald in schattendunklen Thälern, Wo herab der Sturzbach schäumt, Neben alten Heldenmälern Hast du einsam still geträumt. Da, erfüllt von deinem Geiste, Strahlten höher Wald und Flur, Und die ew’ge Sonne streifte Hehrer durch den Lichtazur; Eine Seele hast dem Toten, Daß es atmet, fühlt und denkt, Eine ew’ge, du als Boten Der Unsterblichkeit geschenkt. Immerdar in deinen Bildern Flutet durch die klare Luft In den Gärten, die verwildern, Rosen- und Jasminenduft, Und im Laubgrün deiner Villen Längs der Schattengänge schweigt Nimmer der Zikaden Schrillen In den Bäumen dichtverzweigt. Wie durch Pfeifen dieses Rohres Pan sein Liebeslied verrät, Und im Sturme, mächt’gen Chores, Um ihn her das Schilfrohr weht, Wie mit Weibern sich ein trunkner Kriegsknecht in der Schenke neckt, Lebend hast aus langversunkner Zeit du alles das erweckt. Dann, wie von Poseidons Zorne Hoch die Meerflut schäumt und wallt, Und von seinem Muschelhorne Durch den Sturm das Echo hallt – Wer erbebte nicht dem Klange, Wie es an den Felsen tost, Während mit der Riesenschlange Sanft die Nereide kost? Hoch, Freund! Mit des Hornes Stoße Ruft Neptun dich: kehr’ zurück! In Italiens Mutterschoße, Deiner Heimat, ruht dein Glück. Ob auch der grimme Drache An der Teufelsbrücke harrt:

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Komm! Vom Winterschlaf erwache, Drin du lange lagst erstarrt! Hoch vom Pincio schweifen lassen Wir die Blicke über Rom, Bis wo dämmernd fern im blassen Schein sich zeigt Sankt Peters Dom. Zu der Juno Ludovisi Laß uns flehen, daß den Rest Des Zypressenparkes nie sie Von Barbaren plündern läßt. In dem Garten der Borghese Schweigen wir im süßen Naß, Das zur Zeit der Traubenlese Aus der Kelter strömt ins Faß, Und wenn rings von Schnee und Reife Straßen starren und Gefild, Lauschen wir der Hirten Pfeife Vor dem Muttergottesbild. In Altranis Felsgestaden, In dem Hain Olevanos Und an Tivolis Kaskaden Zeige dich noch einmal groß. Was du von des Südmeers Borden Schaffst bis an der Alpen Fuß, Feiern wird man es im Norden, Freund, mit einem Jubelgruß.60

Die erste Strophe setzt gleich mit der schon angesprochenen Darstellung der persönlichen Beziehung zwischen dem im Titel genannten Maler und dem lyrischen Ich ein, die einer nicht unbescheidenen Charakterisierung der eigenen Bedeutung für Böcklin gleichkommt. Zwar verwendet der Sprecher die zu dieser Zeit schon hinlänglich bekannten Epitheta Böcklins als Maler der „Magie“ (V. 6) und des „Wunderreiz[es]“ (V. 8) und ergänzt dies durch Umschreibungen von Gemälden in Strophe drei, in der zumindest die Villa am Meer (1864) zu erkennen ist (V. 9–12). Doch in das Künstlerlob mischt sich implizit auch eine Selbstcharakterisierung Schacks als Sammler, indem er betont, dem Stil und der Kunst des Malers schon „früh“ (V. 2) Bewunderung gezollt zu haben. Das Dedikationsgedicht gerät damit auch zur versteckten, in den folgenden Strophen freilich auch

|| 60 Schack: Gesammelte Werke, 1899, S. 274–276.

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ganz offensichtlichen Thematisierung von Kennerschaft und Künstlerfreundschaft. In späteren Gedichten um die Jahrhundertwende kann dagegen von einer ‚Entpersönlichung‘ gesprochen werden, die viele Texte auf Böcklin auszeichnet. Gleichwohl verortet auch Schack, wie wenig später Peter Hille und Karl Henckell, Böcklins Werk zwischen naturalistischer und phantastischer Wirklichkeitsdarstellung.61 Verlebendigung von Stoffen, Szenen und Landschaften aus „langversunkener / Zeit“ (V. 39/40) auf der einen Seite sowie Überhöhung und symbolische Idealisierung auf der anderen Seite (V. 21–24) werden als grundlegende Stilmittel und Wirkungsästhetik ausgemacht und exemplarisch auf die in Schacks Besitz befindlichen Gemälde Pan im Schilf von 1858 (V. 33–36; Abb. 33), Altrömische Weinschenke von 1867/68 (V. 37–40; Abb. 38) und Triton und Nereide von 1874 (V. 41–48; Abb. 39) bezogen. Durch die künstlerische Umformung von Wirklichkeit und Natur wird Böcklin als Schöpfer einer neuen, potenzierten Realität stilisiert. Diese Position wird mit den Komparativen in der dritten Strophe (V. 18, 20) untermauert. Gerade durch die berühmten Bilder mit Pan und Triton konturiert Schack Böcklin als Erinnerungskünstler, der die Realität mit einer versunkenen, gleichwohl ehedem lebendigen Welt der Vergangenheit in Einklang zu bringen vermag (Strophe 5).

Abb. 38: Arnold Böcklin: Altrömische Weinschenke (1867/1868)

|| 61 Die Begriffe in Anlehnung an die kurze Zeit nach Schacks Versen erschienene Darstellung von Karl Woermann. Er spricht von Menzel und Böcklin als Vertretern einer naturalistischen und phantastischen Wirklichkeitsdarstellung, vgl. Woermann: Was uns die Kunstgeschichte lehrt, 1894, S. 163.

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Abb. 39: Arnold Böcklin: Triton und Nereide (1874)

Wie schon bei Keller, schließt das Gedicht mit einem Aufruf an Böcklin, der italienisch-südlichen Maltradition sich zu besinnen und ihr treu zu bleiben.62 Die letzten Strophen sind daher Mahnung, künstlerische Verortung und Wunschausdruck in gleicher Weise. Die Strophen acht bis zehn reihen stichwortartig römische Identifikationsorte (V. 57, 60, 65. 73–75) aneinander, die gleichsam zum traditionellen Vokabular der Rom- und Südsehnsucht der deutschen Italienliteratur gehören und Böcklins Kunst damit als Malerei des Südens identifizieren. In der späteren nationalistischen Vereinnahmung und Deutung Böcklins ist der damit verbundene Antiken-Bezug angesichts eines deutsch-national geprägten Antikenbildes der entscheidende Ausgangspunkt, um den Maler des Südens zum ‚germanischen‘, also nordischen Maler umzuinterpretieren. Bezeichnenderweise gibt es im gesamten Gedicht keinerlei Auseinandersetzung mit der Form Böcklinscher Gemälde. Genannt werden lediglich die Gegenstände, die Stoffe und die Wirkung der Malerei. Schacks Gedicht fügt sich damit in die schon früh in den 1860er Jahren ausgeprägte Rezeptionstradition des Schweizers als Maler des Inhalts ein, der seit Böcklins Schüler Rudolf Schick und dem Kunsthistoriker und Freund Gustav Floerke, später dann auch bei Julius Meier-Graefe und Heinrich Wölfflin als Antipode des als Apologeten der Form beschriebenen Hans von Marées gesehen wurde.63

Der 1854 in Erwitzen geborene Peter Hille ist wie sein späterer Freund Karl Henckell über eine Generation jünger als Schack, Heyse und Keller. Sein Frühwerk ist – zumindest thematisch – teilweise geprägt vom Literaturverständnis

|| 62 Ähnliche Bedenken, was Böcklins Loslösung von dem in Italien ausgeprägten Stil anbelangt, äußert Schack auch andernorts, vgl. Schack: Meine Gemäldesammlung, 1882, S. 149. 63 Von der neueren kunsthistorischen Forschung ist diese Position relativiert worden, vgl. hierzu Hubert Locher: Traumbilder im Asyl der Kunst. Arnold Böcklin und das Problem der Form. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 48 (2003), S. 47–68, hier S. 49–53.

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eines gemäßigten Naturalismus. Hille führte ein unstetes Wanderleben zwischen London, den Niederlanden, Italien und schließlich Berlin und war sowohl mit den Brüdern Hart als auch mit Otto Julius Bierbaum, Detlev von Liliencron, Richard Dehmel, Else Lasker-Schüler und Erich Mühsam in freundschaftlichem, engem Kontakt verbunden, was auch sein literarisches Schaffen stark beeinflusste.64 Für die Rezeptionsgeschichte Hilles ist seine Selbstinszenierung als literarischer Vagabund und Mystiker ebenso bedeutsam und prägend wie die vor allem auf Else Lasker-Schüler zurückgehende Wahrnehmung des Autors als „tiefreligiöse[r] Schwärmer“,65 was die erst spät einsetzende, eingehende literarturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk bedingt haben dürfte. Trotz oder gerade wegen seines die Konventionen der bürgerlichen Moral und der gesellschaftlichen Gepflogenheiten missachtenden Lebenswandels – oft ohne feste Wohnung und geregeltes Einkommen – war Hille mit fast allen namhaften Autoren seiner Zeit bekannt und hat die Literatur um 1890 wesentlich mitbestimmt.66 Von der Forschung wurde er einerseits als „bedeutendster Vertreter des westfälischen Impressionismus“67 bezeichnet, andererseits wurde seine Zuordnung zum Naturalismus, Impressionismus oder auch Expressionismus als problematisch betrachtet.68 Am treffendsten auch im Hinblick auf Hilles literarische Auseinandersetzung mit Arnold Böcklin scheint mir Winfried Freunds Einreihung Hilles unter jene Autoren der Jahrhundertwende, die „keiner

|| 64 Zum ersten Überblick: Friedrich Kienecker, Philip Ajouri: Hille, Peter. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 5. Berlin, New York 2009, S. 426–427; Hilles breite Wirkung und seine vielfältigen Kontakte dokumentieren die seit einiger Zeit vorliegenden, voluminösen Bände von Cornelia Ilbrig (Hg.): Peter Hille im Urteil seiner Zeitgenossen. Rezeptionszeugnisse Peter Hilles. 2 Bde. Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 22/1 u. 2). 65 Cornelia Ilbrig: Peter Hille im Urteil seiner Zeitgenossen. Vorwort. In: Dies. (Hg.): Peter Hille im Urteil seiner Zeitgenossen. Rezeptionszeugnisse Peter Hilles. 2 Bde., hier Bd. I: 1884–1919. Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 22/1 u. 2), S. V– XIII, hier S. XI. 66 Vgl. Winfried Freund: Evokation gegen Reproduktion. Peter Hille und die neue Wirklichkeitsdeutung um 1890. In: Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Hg. von Robert Leroy und Eckart Pastor. Bern u.a. 1991, S. 15–30, hier bes. S. 16–18. 67 Ilbrig: Vorwort, 2007, S. X. 68 Hier vor allem Freund: Evokation gegen Reproduktion, 1991, S. 16 u. 19; zu Hilles Literaturverständnis auch das Kapitel in der Biographie von Rüdiger Bernhardt: „Ich bestimme mich selbst.“ Das traurige Leben des glücklichen Peter Hille (1854–1904). Jena 2004 (Jenaer Studien, Bd. 6), hier S. 183–194, bei Bernhardt auch die Zusammenfassung von Hilles später Freundschaft mit Johannes Schlaf, den Hille bereits 1893 bei Dehmel kennengelernt hatte, S. 253–266.

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Modeströmung verhaftet“69 geblieben sind. Hilles Werk noch vor 1900 ist nach Freund gekennzeichnet durch eine „betont antiwilhelminische und antinaturalistische Poetik“,70 „indem er dem subjektiven Sein vor dem objektiven Schein, der Wesensschau vor der bloßen Beschreibung den Vorrang gibt“.71 Peter Hille hat neben Gedichten auf Einzelkunstwerke von Böcklin auch zwei den Künstler selbst thematisierende Gedichte geschrieben, deren folgende Analyse und Deutung einerseits die eben beschriebene werkbiographische Problematik und epochale Konstellation der konkurrierenden Moderneströmungen veranschaulichen, andererseits auch das Anknüpfen an tradierte Motive und Böcklin-Bilder verdeutlichen. Hilles Gedichte zu Böcklin stehen (literar-)historisch an der Schnittstelle unterschiedlicher Böcklin-Bilder und -deutungen, die offenbar auch generationsspezifische Ursachen haben und die illustrieren, wie derselbe Künstler gleichzeitig zur Gallions- und Identifikationsfigur unterschiedlicher ästhetischer und literarischer Strömungen geworden ist. Denn wie für die ältere Generation von Autoren wie Schack, Heyse oder Keller avancierte Böcklin auch für die aufstrebenden, sich als Avantgarde fühlenden Naturalisten als ästhetischer Gewährsmann für eine neue Kunst. Anders aber als bei den älteren Autoren fungiert die Malerei des Schweizers nicht nur als Indiz für den Beginn einer neuen Kunstrichtung – was auf die eigene literarische Strömung übertragen wird –, sondern steht auch für ein neues Menschen- und Künstlerbild, das sich in fast allen naturalistischen Programmschriften finden lässt und mithin überhaupt die proklamierte ‚Modernität‘ erst ausmacht. Das Titelblatt des ersten Hefts der nur 1890 mit den Publikationsorten Brünn, Leipzig und Wien erschienenen, von Eduard Michael Kafka betreuten Zeitschrift Moderne Dichtung, die ab April 1891 als Moderne Rundschau fortgesetzt wurde, zierte eine Abbildung von Michael Georg Conrad. Neben Hermann Bahrs im ersten Heft gedruckten Aufsatz Die Moderne wurden dort auch Böcklin, Turgenjew und Storm als „Wirklichkeitsleute“ gefeiert.72 Hille und Böcklin hatten sich bereits im Mai 1889 flüchtig in Zürich kennengelernt, doch scheinen die maßgeblichen Anregungen für seine Böcklin-Gedichte dem über Henckell und Mackay vermittelten Kontakt zu eben jener Zeitschrift Eduard Michael Kafkas, deren sechstes Heft auch Hilles Der Johanniskäfer enthielt, geschuldet zu sein.73 Bereits im zweiten Heft der Zeitschrift erschien Hilles || 69 Freund: Evokation gegen Reproduktion, 1991, S. 19. 70 Ebd., S, 18. 71 Ebd., S. 19. 72 Bernhardt: Peter Hille, 2004, S. 107ff.; im sechsten Heft der Zeitschrift wurde auch Hauptmanns Der Apostel zum ersten Mal gedruckt. 73 Zur Begegnung mit Böcklin vgl. Bernhardt: Peter Hille, 2004, S. 99-101, zur Publikation in Kafkas Zeitschrift S. 107.

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kurzer Prosatext Die Kunst Böcklins. Plauderei, in der schon zentrale Motive und Themen der Gedichte vorgeprägt sind.74 Literatursoziologisch ist Hilles erstes, 1890 in Die Gesellschaft gedrucktes Böcklin-Gedicht dem Naturalismus zuzuordnen. Seine äußere Form von völlig gleichmäßigen elegischen Distichen und dem von einem neuen Menschen- und Künstlerbild dominierten Inhalt belegt eindrücklich das von Jürgen Schutte betonte Festhalten der (frühen) Naturalisten an „idealistischen weltanschaulichen Prämissen“ und das Schwanken „zwischen Arbeiterbewegung und Priestertum“.75 Das bedeutendste Beispiel für die von der Forschung schon früh betonte Diskrepanz zwischen naturalistisch-modernem Anspruch und literarischer Umsetzung ist die von Wilhelm Arent herausgegebene Gedicht-Anthologie Moderne Dichter-Charaktere aus dem Jahr 1885. Die vorangestellten programmatischen Schriften von Hermann Conradi und Karl Henckell proklamieren eine neue Literaturepoche und umreißen die Aufgabe der Dichter als „Hüter und Heger, Führer und Tröster, Pfadfinder und Weggeleiter, Aerzte und Priester der Menschen“76 und fordern, dass die „Poesie wiederum ein Heiligthum werde“,77 ohne dabei den gesellschaftlichen Auftrag von Literatur, die politischen und sozialen Verhältnisse zu thematisieren, aufzugeben.78 Gleichwohl sind in die Sammlung auch ältere Gedichte von Adolf Graf von Schack, Hermann Lingg, Julius Große, Robert Hamerling und Emanuel Geibel aufgenommen worden, was wiederum zeigt, dass

|| 74 Der kurze Text ist abgedruckt in Walter Gödden (Hg.): Peter Hille (1854–1904). Werke zu Lebzeiten nach den Erstdrucken und in chronologischer Folge. 2 Teile, hier Teil 2 (1890–1904). Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 21/2), S. 387–389; am Ende heißt es zusammenfassend: „So lebhaft, so ursprünglich, so wechselnd und in jeder Erscheinung so voll und ganz bewegt sich die Schöpferkraft Böcklins in seiner barock wehmüthigen, ausbündig heitern und sinnend tiefen Idyllik, so steigt sie aus den Stimmungen seiner Landschaften empor. Er ist der Poet der Farbe und der Stimmung schöpferischer Meister.“ 75 Jürgen Schutte: „Modern sei der Poet“ – Zur Lyrik des Naturalismus. In: Der Deutschunterricht 40, 2 (1988), S. 37–50, hier S. 39. 76 Hier nach dem Abdruck in der Sammlung Manifeste des Naturalismus: Hermann Conradi: Unser Credo [1885]. In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880– 1900. Hg. von Manfred Brauneck und Christine Müller. Stuttgart 1987, S. 347–352, hier S. 349. 77 Karl Henckell: Die neue Lyrik [1885]. In: Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Hg. von Manfred Brauneck und Christine Müller. Stuttgart 1987, S. 353–355, hier S. 354. 78 Immer noch erhellend der Aufsatz von Günther Mahal: Wirklich eine Revolution der Lyrik? Überlegungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung der Anthologie ‚Moderne Dichter-Charaktere‘. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Hg. von Helmut Scheuer. Stuttgart u.a. 1974, S. 11–47; Schutte: Zur Lyrik des Naturalismus, 1988, S. 39ff.

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eine scharfe Demarkationslinie zwischen konkurrierenden Literaturströmungen in der Moderne vor allem in den Programmschriften verläuft. Hille schickte seine elegischen Distichen über Arnold Böcklin im März 1889 Otto Julius Bierbaum, die entscheidende Empfehlung für Michael Georg Conrads und Karl Bleibtreus Zeitschrift erhielt er indessen von Detlev von Liliencron:

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Nur eine Stimmung verlangst du, o Meister, die Stille der Gegend, Um zu beleben das Feld mit der phantastischen Art! Schüchtern sind Träume der Andern, die glutengesättigte Tiefen Fluten mit leuchtender Macht neu in den schaffenden Geist. Schaust du die grünen, die wilden und weichen Wogen des Meeres, Rauschend und feierlich wild taucht es nereisch hinein. Auf deiner blumigen Wiese, bezittert von Bläue des Himmels, Tränkst du den rosigen Faun, zart animal und naiv, Während der sitzende Schmeerbauch starrt in bedeutendem Stumpfsinn Träge hinaus in die Welt, die ihm so schweigend und fremd. Mal auf der blockigen Matte bewehrst du mit wuchtigen Steinen Starken Centauren den Wurf, reizest den schmetternden Huf. Oder es lauscht mit heiliger Neugier ein himmlischer Pausback, – Hoch reckt er sich auf der Zeh, während der Fittig ihm bebt, Jener schlichten Musik, der melodischen Andacht des Mönches, Welcher in Liebe versenkt, geigt vor der Mutter des Herrn. So weißt du Meister die Stimmung gestaltend ins Leben zu schaffen, So zu erfüllen den Kreis, der allen Nüchternen leer.79

Durch die metrische Form des (deutschen) elegischen Distichons mit seinem daktylischen Sechsheber im eröffnenden Hexameter fällt die erste Betonung auf das Adverb „Nur“ (V. 1), das gleichzeitig auch den inhaltlichen Kern der Aussage betont: Trotz der enormen, in den folgenden Distichen vorgeführten Wirkungskraft von Böcklins Kunst braucht diese Malerei „nur“ Stimmung und Stille und kommt ohne einen voraussetzungsreichen kunsttheoretischen oder philosophischen Überbau aus, womit gleichsam auch eine Abgrenzung von der akademischen Malerei vorgenommen wird. Mit der aus kunstwissenschaftlicher Sicht doch relativ unscharfen, aber bewusst gewählten Kategorie der „Stimmung“ als Voraussetzung für Kunstschaffen und der Zuordnung Böcklins zur „phantastischen Art“

|| 79 Peter Hille: Arnold Böcklin. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur und Kunst 6 (1890), S. 849; neben der von Friedrich Kienecker besorgten Ausgabe liegt nun auch erfreulicherweise ein Band vor, der unter anderem auch das Böcklin-Gedicht enthält, vgl.: Walter Gödden (Hg.): Peter Hille (1854–1904). Werke zu Lebzeiten nach den Erstdrucken und in chronologischer Folge. 2 Teile, hier Teil 2 (1890–1904). Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 21/2), S. 391.

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(V. 2) greift Hille auf gängige Charakteristika der Böcklinschen Malerei zurück, die im Gedicht jedoch als Zusammenfassung dessen dienen, was in den folgenden Versen genauer ausgeführt wird:80 Von den insgesamt neun elegischen Distichen beziehen sich sechs auf mehr oder weniger gut identifizierbare, berühmte Gemälde von Böcklin: Das Spiel der Najaden von 1886 (Abb. 36) oder Triton und Nereide von 1874 (V. 5–6; Abb. 39), Faun einer Amsel zupfeifend von 1863 (V. 7– 10; Abb. 40), Kentaurenkampf von 1873 (V. 11–12; Abb. 34) und Der Eremit/Mönch spielt Geige beim Avemaria-Gebet von 1884 (V. 13–17; Abb. 41).

Abb.40: Arnold Böcklin: Faun einer Amsel zupfeifend (1863)

Auffällig im Vergleich mit den bisher behandelten Böcklin-Gedichten ist, dass hier nicht nur Bildassoziationen abgerufen und dem Leser angeboten werden, sondern sich die Verse auf das produktionsästhetische Verhältnis von Wirklichkeit und Kunst konzentrieren. Insofern ist das Gedicht paradigmatisch für die Verquickung von Bildender Kunst und Literatur im Frühnaturalismus. Mit dem bis dahin zwar nicht unverstandenen, aber bei weitem nicht so breit wie dann in den 1890er Jahren rezipierten Böcklin fand diese neue Generation von Dichtern einen Maler, dessen ‚Entdeckung‘ gleichsam als epochale, wahrnehmungsgeschichtliche Wende inszeniert werden konnte, mit der auch die Kunstrezeption und die Bedeutung des Naturalismus für dieselbe eine neue Entfaltung erleben sollte. Rückblickend formuliert diesen Befund Ferdinand Avenarius auch in seinem Nachruf auf Arnold Böcklin:

|| 80 Vor allem in den oben bereits zitierten, in den 1890er Jahren erschienenen Publikationen zu Böcklin sind die Begriffe „Phantasie“ und „Stimmung“ zur Beschreibung von Böcklins Kunst von zentraler Bedeutung, vgl. Gurlitt: Arnold Böcklin, 1893, S. 3; Woermann: Böcklin und Klinger, 1895, S. 1; Servaes: Praeludien, 1899, S. 242; Avenarius: Zu Böcklins Heimgang, 1901, S. 394; Hille bezeichnet Böcklin selbst schon als Stimmungsmaler in seinem kurzen Text aus demselben Jahr, Hille: Die Kunst Böcklins [1890], 2007, S. 389.

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Man hat gesagt, gerade der Naturalismus habe dem Verständnisse Böcklins die Wege gebahnt. Auch ich glaube, das ist wahr. In einer Zeit, deren Bilderlust im Anekdotenfinden und sonst in äußerlich stofflichem Interesse aufging, war der Naturalismus notwendig auch für das Volk, denn er erzog es dazu, die Bilder wieder mit dem Auge anzusehen auf das, was sich allein durchs Auge sagen ließ, nicht ebensogut durch ein Geschichtchen.81

Abb. 41: Arnold Böcklin: Der Eremit/Mönch spielt Geige beim Avemaria-Gebet (1884)

Dass es, wie Freund feststellt, auch in Hilles Texten nicht länger darum geht, „das Sichtbare zu reproduzieren, sondern das Eigentliche und Wesentliche […] im künstlerischen Prozess sichtbar zu machen“,82 es aber gleichzeitig an die Realität rückzubinden, veranschaulichen die Distichen in außerordentlicher Weise. Den durchrhetorisierten, durch zahlreiche Alliterationen gekennzeichneten Beschreibungen der „phantastischen“ Bildwelten Böcklins werden jeweils im vorangehenden Vers die Phänomene der Realität als Grundlage der Malerei an die Seite gestellt (V. 5–6; V. 7–8; V. 11–12; V. 13–14), deren Ziel es wiederum ist, in jene Realität hinein zu wirken, worauf der vorletzte Vers verweist („die Stimmung gestaltend ins Leben zu schaffen“, V. 17). Der durch Böcklins Meisterschaft neu geschaffenen Bildwirklichkeit entsprechen auf der Ebene der sprachlichen Umsetzung jener Werke die Neologismen (V. 6: „nereisch“, V. 7: „bezittert“) und ungewöhnlichen Wortverbindungen wie „bedeutender Stumpfsinn“ (V. 9), „heilige Neugier“ oder „himmlischer Pausback“ (V. 13), die zusammen die äußere Strenge des elegischen Distichons nicht nur auflockern, sondern inhaltlich auch konterkarieren. Die äußeren Verse, die jene dem Werkprozess gewidmeten Distichen rahmen, verweisen mit der zweimaligen Apostrophierung Böcklins als „Meister“ (V. 1 und 17) auf den 1890 schon florierenden Böcklin-Kult innerhalb der

|| 81 Avenarius: Zu Böcklins Heimgang, 1901, S. 395. 82 Freund: Evokation gegen Reproduktion, 1991, S. 19.

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Avantgarde. Seine Überhöhung zum messianischen Priester-Künstler, dessen Bedeutung für einen bestimmten „Kreis“ (V. 18) ästhetisch und weltanschaulich fortschrittlich Gesinnter und unter Ausschluss der „Nüchternen“ (V. 18) herausgehoben wird, deckt sich mit dem Bild des Dichter im Frühnaturalismus als „Führer und Tröster, Pfadfinder und Weggeleiter, Aerzte und Priester der Menschen“,83 wodurch hier eine Verquickung von Bildender Kunst und Literatur bzw. Künstler und Dichter zu konstatieren ist. Noch stärker auf die Bedeutung des Werkes für den Produktionsprozess von Literatur ausgerichtet und damit auch expliziter intermediale Aspekte thematisierend ist Hilles zwölf Jahre später entstandenes, anlassbezogenes Gelegenheitsgedicht Arnold Böcklin. Zum 75. Geburtstag des toten Meisters am 16. Oktober. Der Text ist Geburtstags- und Totengedenken zugleich. Die zunehmende Konzentration auf die Gemälde und ihre sprachliche Umsetzung in Böcklin-Gedichten lässt sich nicht nur bei Hille beobachten, sondern entspricht insgesamt einer Tendenz in Bild- und Künstlergedichten schon in den 1890er Jahren, was in der Zeit nach 1900 in einer großen Zahl von Gedichten auf Einzelkunstwerke (auch von Böcklin) kulminiert. Memorialgedichte zu Böcklins 75. Geburtstag am 16. Oktober 1902 sind wie etwa bei der weiter unten noch behandelten, heute völlig unbekannten Schweizer Dichterin Maidy Koch (1875–1931) auch oft Teil groß angelegter Gedächtnisfeiern im Deutschen Reich und in der Schweiz.84 Hilles Gedicht erschien am 25. Oktober 1902 im ebenfalls 1902 neu gegründeten, von Albert Weidner herausgegebenen Publikationsorgan des naturalistischen Friedrichshagener Dichterkreises Der arme Teufel. Entsprechend der um die Jahrhundertwende in Hilles Werk schon stark ausgeprägten mystisch überformten (christlichen) Religiosität, die auch in dem zeitgleich erschienenen Essay Arnold Böcklin wird am 16. Oktober fünfundsiebzig Jahre alt zum Ausdruck kommt, richtet das Gedicht zwar auch einen trostreichen Blick auf die jenseitige Form des Weiterlebens, bindet diese aber im Falle von Böcklin konsequent zurück an dessen Weiterwirken im Diesseits:85

|| 83 Hermann Conradi: Unser Credo [1885], 1987, S. 349; vgl. zu diesem Topos auch Schutte: Zur Lyrik des Naturalismus, 1988, S. 39f. 84 Vgl. Maidy Koch: Zwölf Gedichte. Gesprochen bei der Böcklin-Gedächtnis-Feier zu Freiburg im Breisgau, Januar 1902. Freiburg im Breisgau 1902. Auf einzelne Gedichte wird im nächsten Kapitel noch näher eingegangen; zu den Gedächtnisfeiern und Gedenken vgl. auch Greten: Böcklinkritik, 1989, S. 85–90. 85 Vgl. Peter Hille: Arnold Böcklin wird am 16. Oktober fünfundsiebzig Jahre alt. In: Walter Gödden (Hg.): Peter Hille (1854–1904). Werke zu Lebzeiten nach den Erstdrucken und in chronologischer Folge. 2 Teile, hier Teil 2 (1890–1904). Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 21/2), S. 725–728, hier symptomatisch S. 725: „Gott

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Er ging dahin, wo seine Werke wohnen. – Mit angetürmtem Nacken ihm zur Seiten trabt der Eroberer. Aus tiefem Sande grinsen fremde Zeichen: Gebeine sind es, die so leuchtend bleichen. Vor rohen Hufen knirscht die heiße Wüste; grün steigt ein Hügel auf und ruht in Blumenkühle aus vom heißen Gleißen. In träger Schräge ruht ein alter Faun und glotzt in Weiten, die wie bald verloren ihm, mit schwerem Auge, fremdbekümmert. Ein Fäunlein, goldnes Stroh im roten Nacken, reckt tief zum Quell die drallen Bäcklein nieder. Genug gesehn! Ich will mir selber lauschen; Da kommt ein Wald, der soll mir rauschen! Wie klopft des Mittags Angst! – Gescheckt, erschreckt die starren, steilen Stämme. Hoch und tückisch, das seltsam bösgedrehte Horn voraus: Das Einhorn… Sinnig-wild aufblickt des Märchens üppig-fremdes Auge. – Da von der Rechten schwellend atmet’s Raum, hebt grüne Gipfel hoch noch über die blauen brausendes überstürzendes Bauen! – und bietet der Erde, bietet Himmel Sträuße Schaum und schlägt lustkreischend einen Purzelbaum: und blickt wie Angst, wie Trauer der Unendlichkeit, wie Irrsinn, wie wehlachend Spotten: das wilde Element! – Und Abend wird’s; das Meer ging ferne schlafen. Ein braunes Glöckelhäuslein. Da steht, geneigt das weiße, stille Haupt, der braune Mönch und geigt und streut wie Blumen nieder zu Füßen der Maria späte Glut. –

|| wollte sich eine Freude verschaffen, so rief er den stark durchsonnenen Meister ehrwürdigen Jauchzens etwas näher zu sich. Da malt er mit seinem Geiste Gott seine Welt. Ein Bürger der Berge, weilt’s Böcklin gern auf der Höhe. Dann ging’s vom Arnoparadiese von Fiesole zu noch höherem Paradiese.“

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Auf Zehen, seine Wangen voll und fromm, ein Bublein lugt; leis zittert seiner Schwings blaugrüner Reif. __ Er ging dahin, wo seine Werke wohnen; sie leuchten heißer auf in ihrer Seele Saft, die Ungeburten dieses großen Lebens! Ein frohes Tosen wiehert der Stromsturz nieder; die Wälder öffnen atmend befreite Brust. Die großen stummen Seelen bitten der ungeheuren Dinge und der wilden Welt: „Du bist nun da; so läse [sic!: löse] uns die Lippen; du weißt uns alle träumen unser Brausen! Des Lebens Wein in heitrer Andacht trinkst du prüfend und bei hohem Lächeln neigt sich leicht dein Manneshaupt, da dir Freund Hein auf seiner Fiedel so Wundersames geigt.“ – Dein Gruß: im Feiern neigt er sich dem Tode; des Wageblutes Scharlachstürme lodern; in bleicher Stille ein cypressendichter Schlaf –86

Der Eröffnungsvers von Hilles lyrischem Totengedenken variiert die in Trauergedichten häufig zu findende, feststehende Formel vom ‚Heimgang zu Gott‘, übersetzt diese allerdings ins Künstlerische, was den Text gattungstypologisch zu einer säkularisierten, künstlerischen Spielart des Trauergedichts und Totengedenkens macht. Das weniger formstreng als die 1890 erschienenen elegischen Distichen daherkommende Gedicht ist gekennzeichnet durch weitgehende Reimlosigkeit, unregelmäßige Länge der einzelnen Versgruppen und typographische Strukturelemente, die dem Ganzen auch eine spezifische, auf den ersten Blick heterogene optische Erscheinung verleihen.87 Gleichwohl bleibt der Formwille

|| 86 Peter Hille: Arnold Böcklin. Zum 75. Geburtstag des toten Meisters. In: Walter Gödden (Hg.): Peter Hille (1854–1904). Werke zu Lebzeiten nach den Erstdrucken und in chronologischer Folge. 2 Teile, hier Teil 2 (1890–1904). Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 21/2), S. 730–731; der Abdruck folgt der Veröffentlichung in der angegebenen Zeitschrift. Das Gedicht ist auch die berühmte Sammlung Moderne deutsche Lyrik (1903) von Hans Benzmann aufgenommen worden. 87 Der Wortlaut des Gedichts, vor allem die Verse 49–53, wurde in späteren Fassungen verändert. Die Grundstruktur, vor allem die typographische Abtrennung der letzten Versgruppen durch Halbgeviertstriche bzw. Sternchen wurde immer beibehalten, vgl. etwa die posthum veröffentlichte, wichtige Sammlung von Hilles Gedichten: Peter Hille: Aus dem Heiligtum der

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dadurch erkennbar, dass die meisten Verse jambische Fünfheber aufweisen und das Gedicht insgesamt eine Dreiteilung erkennen lässt, die – freilich ohne inhaltliche Ausführung – noch Muster älterer Gattungen wie dem Epicedium mit seiner Dreiteiligkeit aus laudatio, lamentatio und consolatio zitiert.88 Der Mittelteil (V. 13–39), der selbst wiederum durch drei Versgruppen strukturiert wird, bedichtet die Gemälde Das Schweigen im Walde von 1885 (V. 13–22; Abb. 42), in kumulativer Weise Böcklins Meeresszenen (V. 23–30) und das schon aus dem früheren Gedichte bekannte Bild Der Eremit/Mönch spielt Geige beim AvemariaGebet von 1884 (V. 31–39; Abb. 41). Eingefasst wird dieser Mittelteil durch die vorangestellte bzw. folgende(n) Versgruppe(n), die mit einem gleichlautenden Vers eingeleitet werden (V. 1–12; V. 40–56): „Er ging dahin, wo seine Werke wohnen.“

Abb. 42: Arnold Böcklin: Das Schweigen im Walde (1885)

Der erste Teil (V. 1–12) rekurriert deutlich auf Visuelles, ohne dass auf konkrete Werke Bezug genommen wird. Das lyrische Ich markiert sein Bemühen, optisch Wahrgenommenes adäquat in Sprache zu übertragen, indem jedes Substantiv im Dienst einer intensiveren Veranschaulichung mit einem Adjektiv versehen wird. Das ändert sich im Mittelteil, der mit der Selbstermahnung „Genug gesehn!“

|| Schönheit. Aphorismen und Gedichte. Mit einem einleitenden Essay herausgegeben von Fritz Droop. Stuttgart 1909, S. 54–56. 88 Zur Orientierung über die Memorial-Lyrik vgl. den Artikel von Herrmann Wiegand: Epicedium. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. I. Hg. von Klaus Weimar u.a. Berlin, New York 2000, S. 455–45; ferner auch Christian Kiening: Totenklage. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 3 Bde., hier Bd. III. Hg. von Jan Dirk Müller u.a. Berlin, New York 2003, S. 655–657.

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(V. 13) beginnt. Das dichtende, lyrische Ich richtet den Blick nach innen, der aber in synästhetischer Überblendung als „lauschen“ (V. 13) inszeniert wird, was sich in der Dominanz von Vokabeln aus dem Bereich des Akustischen bestätigt.89 Das für die Dichtung fruchtbar zu machende Potential der angesprochenen Gemälde wird also im Gedicht selbst vorgeführt, indem das lyrische Ich die sprachliche Realisation als originären, inneren Prozess beschreibt, der selbst Bilder sprachlich zu entwerfen und zu zeichnen vermag. Mit dem letzten Teil (V. 40–56) wird die Sprechsituation vollends ins Phantastische gesteigert. Nicht mehr das lyrische Ich tritt in einen Akt der Kommunikation mit dem Künstler oder den Werken, sondern die zuvor als seelen- und wesenhaft identifizierten Werke (V. 40–41) richten sich in direkter Rede an den verstorbenen Künstler, so dass in diesen letzten Versgruppen die intermediale Kommunikationssituation des Gedichts ohne (Kunst-)Rezipienten auszukommen scheint. Vom ersten Teil mit seinen noch von der Kunstwahrnehmung und -beschreibung dominierten Versen über den Mittelteil, in dem ein inneres Sehen thematisiert wird, bis hin zum letzten Abschnitt lässt sich im Hinblick auf die im Gedicht fingierte Kunst-Anschauung eine Klimax erkennen. Am Ende sprechen die Gemälde mit dem Künstler selbst, scheinbar ohne Vermittlungsinstanz. Gleichzeitig wird mit dem Freund „Hein“, der auf seiner „Fiedel so Wundersames geigt“ (V. 51–52) noch einmal auf eines der berühmtesten Gemälde Böcklins, das Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872), angespielt, womit der Anlass des Gedichts in Erinnerung gerufen wird. Gerade aufgrund der komplexen Struktur rezeptiver und produktiver Prozesse, die das Gedicht literarisiert, kann es auch als poetologischer Text angesprochen werden. Im Vergleich mit den anderen an Böcklin gerichteten Widmungsgedichten geht es hier nicht mehr nur um lyrische Künstlerverehrung und Werkwürdigung, nicht mehr nur um das ‚Übersetzen‘ von Bildern in Text, sondern das Gedicht veranschaulicht den intermedialen Akt selbst.

Dagegen stellen die 20 Zahmen Xenien zu Boecklin’s 70. Geburtstag des lebensreformerisch engagierten Publizisten und Dichters Fritz von Ostini unter verschiedenen, die Sprecher jeweils charakterisierenden und identifizierenden Überschriften das bis dahin bekannte Spektrum an Stimmen und Positionen zu Böcklin und seiner Malerei zusammen, wie sie in der Kunstliteratur, Kunstwissenschaft und Dichtung zum Ausdruck gebracht worden waren. Dabei handelt es

|| 89 Vgl. folgende: lauschen (V. 13), rauschen (V. 14), klopft (V. 15), brausendes (V. 25), lustkreischend (V. 27), wehlachend (V. 29), geigt (V. 34), leis (V. 38).

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sich zwar im engeren Sinne nicht um historische Rollengedichte, da die einzelnen Sprecher alle erkennbar synchron aus der Perspektive des Geburtstagsjahres 1897 urteilen. Doch verweisen ihre inhaltlichen Positionen zumindest teilweise auf eine Zeit in der Vergangenheit, in der sich ihre Meinungen herausgebildet haben und erzählen damit auch etwas über die (Rezeptions-)Geschichte Böcklins.90 Die Alten: Uns gehört er, denn Ihr wißt, Er zählt siebzig Jahre; Uns gehört, was siebzig ist, Uns die weißen Haare! Freilich hat er collegial Nicht an uns gehandelt – Wir veralteten zumal, Er blieb unverwandelt! Die Jüngern: Unverglühte Jugendgluth Lebt in seinem Walten – Uns gehört er! Viel zu gut Ist er für die Alten. Uns bestrahlen leuchtend jetzt Seines Ruhmes Sterne. Hätt’ man ihn immer schon so geschätzt, Ließen wir ihn euch gerne. Die Jüngsten: Wir bewundern Alle sehr Seine schönen Sachen – Wär’s nur nicht so schrecklich schwer, Ihn auch nachzumachen. Heben bis zur Himmelshöh’ Wollten wir ihn willig, Doch er geb’ uns ein Chliché Nett und glatt und – billig! […]

|| 90 Vgl. zu den Begriffen Dirk Niefanger: Das historische Rollengedicht. In: Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Hg. von Heinrich Detering und Peer Trilcke. Bd. 1. Göttingen 2013, S. 215–268. Niefanger bezeichnet als historisches Rollengedicht, wenn das Sprecher-Ich „aus der Geschichte“ erzählt und nicht „seine eigene Geschichte“ (S. 259).

246 | III Kunstgeschmack und ästhetische Standortbestimmung um 1900 Der Kritiker: Was macht mir dieser Mensch für Pein! Mir hilft kein Schematismus! Er paßt mir in kein Fach hinein, Und paßt auf keinen – Ismus!91

Die Xenien rekapitulieren auch noch einmal die einzelnen Diskussions- und Kritikpunkte der Böcklin-Apologeten und -feinde seit der Mitte des Jahrhunderts. Die auf gedankliche Zuspitzung der Aussage schon von der im Titel beanspruchten Gattungstradition der Xenien her angelegten Verse fangen synthesehaft ästhetische, weltanschauliche, ökonomische, kunstpolitische und künstlerische Böcklin-Beurteilungen ein und bilden damit ein lyrisches Kompendium, das kunsthistorische Darstellung gewissermaßen ersetzt und bereits sieben Jahre vor Julius Meier-Graefes Der Fall Böcklin (1905) pointiert zusammenfasst:

K. Pr. National-Galerie-Geist: Zuerst, es ist wahr, da schickten wir schon Des Schweizers Gemälde zurücke. Doch wies am Ende die Collection Unter littera B eine Lücke. Da kauften wir schnell noch Einiges ein, That’s uns auch leid, es zu zahlen – Complet muß `ne schneidige Sammlung sein, Selbst auf Kosten des Idealen. […] Der „Kunstmaler“ im Allgemeinen: Ich, mit dem genialen Schlips Und dem braunen Sammetröcklin, Weiß, woran es fehlt dem Böcklin: Er studirte nie nach Gyps. Der Kunstmaler A.v.W. [d.i. Anton von Werner] im Besonderen: Lauter tolle Mißgestalten, Fisch und Frosch und Mensch zumal!

|| 91 Fritz von Ostini: Zahme Xenien zu Boecklin’s 70. Geburtstag. In: Jugend 2, 42 (1897), S. 714; Ostinis wenige Jahre später publizierte, sehr populäre Böcklin-Monographie, die in Hermann Knackfuß’ berühmter Reihe erschien, trug maßgeblich zum Weiterbestehen des Böcklin-Kultes bei, vgl. Fritz von Ostini: Böcklin. Bielefeld, Leipzig 1904 (Künstler-Monographien, Bd. 70), hierzu auch: Koszinowski: Böcklin und seine Kritiker, 1989, S. 279.

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Anatomisch nicht zu halten, Zoologisch ein Skandal! Gäbe doch in der enormen Welt des Schönen reichstes Maaß, Stiebel, Säbel, Uniformen, Orden, Helme, dies und das! Dieser Wust von Fabelthieren, Schwindel ist er, blauer Dunst, Wir, Gott Anton, dekretiren: „Das ist nicht die echte Kunst!“ […] Der Franzose: Als Großen grüß’ ich ihn mit scheuem Gruße, Ich ahn’ ihn wohl, doch zieht er mich nicht an: Für seine Kunst war nicht das Weib die Muse, Er ist ein Mann! Und Eins noch hindert, daß mit lautem Munde Mein Volk den Wundermann als Meister preist: Der Franzmann spürt in seines Wesens Grunde Urdeutschen Geist! […] Der Kunsthändler: Uns trifft es hart, daß er zur Geltung kam – Wo ist sie hin, die gute Zeit, die alte, Wo man noch zwanzigmal so viel bekam Von seinen Käufern, als man selbst bezahlte! […] Der Philister: Dieses Jubeln, dieses Lärmen! Seht doch solche Thorheit an, Wie sie für den alten Mann Sich so lächerlich erwärmen! Hätt’ er nicht in deutschen Landen Fünfundsiebzig Jahr’ gebraucht, Bis sie voll ihn anerkannten,

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Diese Liebe, dieser Ruhm Kommen etwas zu posthum.92

Anders als der Titel Zahme Xenien nahelegt, ist der spöttisch-ironische Unterton der Gedichte nicht zu überhören. Mit selbstentlarvenden, haarsträubenden Erklärungsversuchen wie im Falle des Königlich Preußischen National-Galerie-Geistes, anmaßenden Selbstbezeichnungen wie bei Anton von Werner oder dem rein ökonomischen Denken des Kunsthändlers wird gleichsam auch die Geschichte einer frühen Böcklin-Rezeption problematisiert und dokumentiert, die der eigentlichen Bedeutung des Künstlers nicht gerecht wurde und wird. Gleichwohl enthalten die einzelnen Gedichte und ihre Sprecher dadurch aber auch einen von jedem damaligen Leser leicht nachvollziehbaren und nachprüfbaren historischen und wahren Kern, was den Inhalt dieser Positionen und Werturteile anbelangt. Den letzten Vierzeiler der kleinen Sammlung unterzeichnet Ostini mit seinem eigenen Namen und gibt damit einen kritischen, ironisch-reflektierenden Kommentar zur Geschichte der Böcklin-Deutungen ab, nicht ohne den Maler – wie schon bei anderen Beispielen gezeigt – als Idealbild des modernen Künstlers zu beanspruchen: Der Unterzeichnete: Daß Ihr nie ihn voll erkannt, War wohl nicht zum Bösen – Wenn der Pöbel ihn je verstand, Wär’ er kein Böcklin gewesen. Fritz von Ostini93

Deutlich weniger weihevoll im Ton und Anspruch als die von Hille vorgestellten Gedichte sind Ostinis spielerisch-ironische Verse vor allem im Publikationskontext der Zeitschrift Jugend zu interpretieren. Ohnehin kann gerade das Geburtstags- und Jubiläumsjahr 1897 mit der begleitenden Ausstellung und Feier in Basel, zu der kein geringerer als Heinrich Wölfflin die Festrede hielt,94 als Sinnbild auch für die gleichzeitige Vereinnahmung Böcklins durch das Bildungsbürgertum gesehen werden.95 Das gesamte 42. Heft des zweiten Jahrgangs der Jugend

|| 92 Ostini: Zahme Xenien, 1897, S. 714. 93 Ebd. 94 Die Rede wurde ein Jahr später gedruckt: Heinrich Wölfflin: Arnold Böcklin. In: Basler Jahrbuch 17 (1898), S. 218–229. 95 Vgl. hierzu Othmar Birkner: Böcklin-Jubiläum und Böcklin-Fest Basel 1897. In: Arnold Böcklin 1827–1901. Gemälde, Zeichnungen, Plastiken. Ausstellung zum 150. Geburtstag veranstaltet

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war Böcklin gewidmet und an ihn adressiert. Der bei Ostini zu beobachtende unbeschwert-beschwingte Umgang mit Böcklin und dessen Werk entspricht insgesamt der Aufmachung des Heftes. Entsprechend der lebensreformerischen Orientierung der Zeitschrift Jugend, deren Mitherausgeber Ostini gewesen ist, mit ihrer vitalistischen, gegen Erscheinungsformen einer dekadenten Kunst und Ästhetik gerichteten Weltanschauung deuten die versammelten Texte und Graphiken den Gefeierten als heiteren und lebensbejahenden Künstler.96 Neben dem aus der Feder von Max Klinger stammenden Titelblatt und einer Graphik des Hauptillustrators der Jugend, Julius Diez, die beide Böcklinsche Figuren und Themen zitieren, trugen noch zahlreiche namhafte, meist mit der Münchner Secession verbundene Künstler zur Gestaltung des Heftes bei. So illustrierten der spätere offizielle Militärmaler des Ersten Weltkrieges Fritz Erler und der britisch-stämmige Charles Tooby Texte von Detlev von Liliencron und Richard Dehmel.97 Auch die ebenfalls Dehmels Erzählung Das Löwenherz. Ein Märchen für Große umrahmende humoristische Graphik Centauren-Finish von Max Feldbauer,98 der in der Jugend mehr als 250 Illustrationen publiziert hat und als Gründungsmitglied der Münchner Neuen Secession eine wichtige Rolle im künstlerischen Leben der Stadt spielte, stellt keine Böcklin-Satire dar, sondern adaptiert und variiert motivisch das Werk Böcklins unter vitalistischen Vorzeichen.

Die ebenfalls zum Geburtstagsjahr 1897 von Karl Henckell publizierte Sammlung Arnold Böcklin umfasst zwölf Gedichte und wird eröffnet von einer in Terzinen geschriebenen Widmung an den Künstler, in der die bürgerliche Vereinnahmung des Schweizers kritisiert wird. Wie schon bei Peter Hille ist auch bei Karl Henckell dessen Böcklin-Verehrung sowohl aus werkbiographischer als auch literarhistorischer Perspektive interessant. In den 1880er Jahren war die teils von aggressiver politischer, sozialistischer Rhetorik zeugende Lyrik des selbsternannten Arbeiterdichters im Deutschen Reich verboten und zwang Henckell zum Gang ins

|| vom Kunstmuseum Basel und vom Balser Kunstverein 11. Juni–11. September 1977. Redaktion Dorothea Christ. Basel, Stuttgart 1977, S. 147–150. 96 Ich verwende hier und im Folgenden die Begriffe „Vitalismus“ und „vitalistisch“ nicht nur in einem engeren Sinne auf Autoren etwa wie Wilhelm Bölsche bezogen, sondern greife die Überlegungen von Dieter Kafitz auf, der das Phänomen weiter fasst und nicht an Textsorten oder literarische Strömungen bindet, vgl. den meines Erachtens immer noch sehr lesenswerten und aufschlussreichen Beitrag von Dieter Kafitz: Tendenzen der Naturalismus-Forschung. In: Der Deutschunterricht 40 (1988), S. 11–29, bes. S. 15–19. 97 Jugend 2, 42 (1897), S. 706–709 bzw. 712–713. 98 Ebd., S. 713.

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Schweizer Exil, wo er allerding rasch Anschluss fand und seine Texte fortan im eigenen, neu gegründeten Verlag Karl Henckell publizieren konnte, in dem auch das Böcklin-Album erschienen ist.99 In der Widmung an Böcklin inszeniert sich das unschwer mit dem empirischen Autor selbst identifizierbare lyrische Ich als künstlerischer, von der eigenen Zeit und Gesellschaft verkannter Außenseiter (V. 4), dessen Blick auf die Feierlichkeiten des Geburtstages daher auch in den ersten beiden Strophen stark von einem soziologischen Blick geprägt ist. Dabei fällt auf, dass der Leser in den ersten vier Terzinen mehr über den Sprecher als den Angesprochenen bzw. Jubilar erfährt: Das weiss ich nicht, ob vor der Welt berufen Zu Deinem Jubeltag mein Lied sich weiht Und Blüten streut auf Deines Hauses Stufen.

5

Nicht würdigt mich die eigne Wirkenszeit, Auch zähl’ ich nicht zu Deinen Festgenossen, Noch lockt mich Gratulanteneitelkeit. Doch gern abseits hätt’ ich mich angeschlossen Und als der Jüngern Dank für Deine Kunst Dir meines Liedes Spenden ausgegossen.

10

15

Kein Freund bin ich von langer Reden Dunst. Frack und Toga lass ich lieber hängen, – Bei welchen Musen stünden sie in Gunst? So nimm den kleinen Kranz von Seelenklängen, Die mir beschert die quellende Natur, Sie widmen sich, doch wollen sich nicht drängen. Der Geist ergeht auf reicher Meister Spur In Wonnen sich, die jenseits armer Worte Den überwältigen, der sie erfuhr, Und öffnen schweigend ihm der Schönheit Pforte.100

Deutlich positioniert sich der Sprecher der Verse als Wortführer einer Gruppe von „Jüngern“ (V. 8), der gleichsam mit seiner aus den Terzinen ablesbaren

|| 99 Zum ersten Überblick vgl. den Artikel von Rolf Selbmann. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 5. Berlin, New York 2009, S. 260–261. 100 Karl Henckell: Arnold Böcklin gewidmet. Zürich, Leipzig 1897, S. 1; Gedichte aus der Sammlung auf Einzelkunstwerke werden im nächsten Kapitel behandelt.

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Selbstcharakterisierung (V. 7–12) die programmatischen, ästhetischen Ansprüche einer sich als Avantgarde fühlenden künstlerischen Gemeinschaft formuliert. Mit dieser Vorgehensweise profiliert der Sprecher ein gruppenspezifisches Selbstverständnis, das sich erkennbar von den offiziellen bürgerlichen Kunstfunktionären und deren Böcklin-Vereinnahmung distanziert. In metonymischer Verkürzung („Frack oder Toga“, V. 11) und im Rahmen einer rhetorischen Frage (V. 12) wird die Inferiorität und Konformität eines bürgerlichen Kunstgeschmackes gerade im Hinblick auf die Deutung Böcklins betont. Das Gedicht versteht und richtet sich damit als avantgardistische Publikation gegen die offiziellen Feierlichkeiten zu Böcklins Geburtstag und stellt vielmehr dessen Exklusivität als Seelenmaler und Stichwortgeber dichterischer „Seelenklänge“ (V. 13) heraus. Aus der Feder eines für seine politisierende ‚Klassendichtung‘ – nur wenige Jahre zuvor erschien Henckells berühmtes Gedicht Strike – bekannten Autors mag die hymnische Verehrung Böcklins als Schöpfer von „Geist“-Kunst (V. 16) und der durch ihn auch für die Dichtung mögliche Ausblick in das Reich der „Schönheit“ (V. 19) und damit das Ausblenden der sozialen Wirklichkeit seltsam anmuten. Die neuere Forschung hat allerdings zurecht auf die sehr bewegte Biographie Henckells sowie seine politisch-ideologisch teilweise widersprüchlichen Positionierungen noch bis in die 1890er Jahre hingewiesen. Peter Sprengel hob bereits die Bedeutung des nationalistischen Denkens im 19. Jahrhundert für das Werk des „Dichters der Sozialdemokratie“ und insgesamt für die Lyrik des Frühnaturalismus hervor.101 An solche Tendenzen knüpft Henckell hier indessen nicht an, wofür es angesichts der nationalistischen Deutung des Künstlers seitens der Kunstliteratur zahlreiche auch biographische Anknüpfungspunkte gegeben hätte. Die lyrische Böcklin-Rezeption Henckells nimmt innerhalb seiner Werkbiographie stilistisch insofern eine Sonderstellung ein, als gerade das WidmungsGedicht des Böcklin-Albums mit der Evokation und Hervorhebung des Seelischen

|| 101 Peter Sprengel: Zwischen Literaturrevolution und Tradition. Weckrufe an die Nation. Zu einem Topos der patriotischen Lyrik im Frühnaturalismus. In: Ders.: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin 1993 (Philologische Studien und Quellen, 125), S. 79–90, hier S. 81. Sprengels für die Einordnung frühnaturalistischer (und damit frühavantgardistischer) Lyrik wichtige Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt von der 1886 im Verlag Otto Meißner erschienenen, von Henckell herausgegebenen Gedichtsammlung Quartett mit Texten von Henckell selbst sowie von Arthur Gutheil, Otto Erich Hartleben und Alfred Hugenberg. Vor allem am Beispiel des Weckruf-Gedichts von Hugenberg skizziert Sprengel ein Kontrastbild zur sonst üblichen Vorstellung der frühnaturalistischen Gruppe als einer „über- und internationalen Strömung“ (S. 82).

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und der dezidierten Eleminierung von Fremdzwecken in der Kunst und Dichtung deutlich symbolistische Einflüsse aufweist.102

Das letzte, hier behandelte, lediglich mit Boecklin überschriebene Widmungsgedicht stammt von Stefan George und wurde nach der Erstpublikation in der sechsten Folge der Blätter für die Kunst von 1901/02 in die Zeitgedichte der 1907 erschienenen Sammlung Der Siebente Ring aufgenommen. Von der älteren Forschung wurde das Gedicht vor allem im Zusammenhang mit der Abwendung des Autors vom Ästhetizismus seines Frühwerks und der Hinwendung zu Gegenwartsfragen erwähnt.103 Tatsächlich treten in dem Gedicht ästhetische Diskurse zugunsten von weltanschaulichen und ideengeschichtlichen Positionsbestimmungen stärker in den Hintergrund als in den älteren Dichtungen auf Werke von Fra Angelico (Ein Angelico) und (vorgeblich) Vélazquez (Der Infant), die in einem anderen Kapitel noch behandelt werden und nach Michael Thimann eine „radikale Anthropozentrik“104 in Georges (frühem) Kunstverständnis belegen. Georges Böcklin-Bild der 1890er Jahre war zunächst vor allem von dem belgischen Symbolisten Paul Gérardy beeinflusst worden, der in den Blättern für die Kunst mehrere Beiträge publizierte, in denen Böcklin als Garant einer „geistigen Kunst“ und eines neuen, rauschhaften und vieldeutigen Schönheitskultes neben Wagner, Nietzsche und eben George zum Kulturheroen und „Überwindung der

|| 102 Die Charakteristika in Anlehnung an das Standardwerk von Paul Hoffmann: Symbolismus. München 1987 (UTB, 526). 103 Zur Entstehung des Gedichts um 1901/02, Überlieferung und Druckgeschichte informiert ausführlich und zusammenfassend mit Forschungsdokumentation Kai Kauffmann: Der Siebente Ring. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. 3 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2012, S. 175–191; relativierend den Blick auch auf die Kontinuitäten der Werkphasen richtend Jan Andres: Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ‚Zeitgedichten‘ des ‚Siebenten Rings‘. In: George-Jahrbuch 6 (2006/2007), S. 31–54, bes. S. 33. Ähnlich auch Dirk von Petersdorff: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? ‚Das Zeitgedicht‘ im ‚Siebenten Ring‘. In: George-Jahrbuch 5 (2004), S. 45–62. 104 Michael Thimann: Bildende Kunst. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. 3 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2012, S. 550–585, hier S. 560.

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Dekadenz“105 stilisiert wurde.106 Gérardy arbeitet die Differenzen zwischen seinem eigenen ästhetischen Programm und einem Literatur- und Kunstverständnis der „naturalistischen Schule“ heraus. Jenes habe nur Interesse daran, „oberflächlichkeiten“ wie „das Leben [einer] dampfmaschine auszudrücken, sie keuchend wütend lärmend und hustend zu zeigen“, was nicht mit „Leben, Mystizismus, Symbolik“107 verwechselt werden sollte. Für sein eigenes Programm erhebt Gérardy Böcklin zum Gewährsmann, das für die Kunstrezeption und -produktion der Blätter für die Kunst ebenso richtungsweisend gewesen ist wie für Stefan George selbst. Doch gerade in der Böcklin-Rezeption sind die Berührungspunkte bis hin in die Wortwahl („geistige Kunst“) der beiden literarischen Richtungen offensichtlich. Während die Naturalisten Hille und Henckell ihr ästhetisches Selbst- und Gruppenverständnis an Böcklin in Form von Widmungs- und Einzelgedichten profilierten und ihn als Versöhner von Idealismus und Realismus feierten, avancierte der Künstler gleichzeitig bei den Dichtern im George-Umfeld der 1890er Jahre wie Hugo von Hofmannsthal, Karl Wolfskehl oder Ludwig Klages zum „Überwinder des Naturalismus“ und wurde „im Zeichen nietzscheanischer Kunst- und Lebensphilosophie zur Kultfigur“.108 Um die Jahrhundertwende gerät Böcklin als Maler zur Projektionsfläche konkurrierender literarischer Gruppierungen und Strömungen sowie ganz unterschiedlicher ästhetischer Auffassungen, als deren verbindendes Moment die als antibürgerlich gedeutete Malerei und Biographie des Schweizers gesehen werden kann. || 105 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie. 2. Al. München 2007, S. 155; zu dem Komplex auch ausführlich: Wolfgang Frühwald: Zwischen Arkadien und Babylon. Münchner Literatur in der Zeit des Prinzregenten Luitpold. In: München – Musenstadt mit Hinterhöfen. Die Prinzregentenzeit 1886–1912. Hg. von Friedrich Prinz und Marita Krauss. München 1988, S. 258–266. 106 Der Zusammenhang wird in der Forschung prominent immer wieder behandelt, vgl. etwa Frühwald: Zwischen Arkadien und Babylon, 1988, S. 258ff.; auch immer wieder im Zusammenhang mit der Bedeutung für die Autoren des Jungen Wien, Ursula Renner: Das Erlebnis des Sehens. Zu Hofmannsthals produktiver Rezeption bildender Kunst. In: Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Hg. von Ursula Renner, G. Bärbel Schmid. Würzburg 1991, S. 285–305, bes. S. 89ff.; jüngst auch bei Jan Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum Swastika-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George. Göttingen 2014 (Castrum Peregrini, N.F., Bd. 6), S. 75f. 107 Paul Gérardy: Geistige Kunst. Wir wollen die GEISTIGE KUNST. In: Blätter für die Kunst, 2. Folge, IV. Band (Oktober 1894), S. 110–113, hier S. 112; das von Gérardy in Position gebrachte Quartett Nietzsche, Wagner, Böcklin, George führte unter Einbeziehung von Max Klinger schon der George-Vertraute und Herausgeber der Blätter Carl August Klein bereits 1892 als Vorreiter einer neuen ästhetischen und kulturellen Richtung an, vgl. Carl August Klein: Stefan George. Eine neue Kunst. In: Blätter für die Kunst, 1. Folge, II. Band (Dezember 1892), S. 45–50. 108 Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, 2000, S. 144.

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Bei George und seinem Umkreis nimmt allgemein die Rezeption und Funktionalisierung von Bildender Kunst im Hinblick auf das ästhetische Selbstverständnis immer eine programmatische Stellung ein, was sich besonders in der Zusammenarbeit mit dem Böcklin-Verehrer Melchior Lechter und der bildgestalterischen Aufmachung seiner Gedichtausgaben und den Blättern bemerkbar macht.109 Die von George und vor allem von Klein als Herausgeber der Blätter angestrebte, ausgedehnte Wechselwirkung zwischen Literatur und Bildender Kunst scheiterte allerdings am mangelnden Interesse der favorisierten Künstler Böcklin, Max Klinger, Hans Thoma und Franz von Stuck, die Klein im Juli 1894 angeschrieben hatte und zur Zusammenarbeit anregen wollte.110 Gleichwohl blieb die Bildende Kunst – und hier besonders die von Arnold Böcklin – als Medium der ästhetischen Selbstreflexion und Standortbestimmung in vielen zwischen „Kunstrausch und Schönheitskult“, „Erotismus und Schwermut“, „Vitalismus und Mystizismus“111 changierenden Texten aus dem George-Kreis präsent. Böcklins Todesjahr 1901 nimmt auch aus literarhistorischer Sicht dabei eine Schlüsselposition ein, wenn man die differierenden Böcklin-Literarisierungen und Instrumentalisierungen der Dichter um George untersucht. Zur Totenfeier des am 16. Januar 1901 bei Fiesole verstorbenen Schweizer Künstlers fand kaum einen Monat später am 14. Februar im Münchner Künstlerhaus die kulturelle Elite der Stadt zusammen. Anwesend waren neben den Malern Franz von Stuck und Franz von Lenbach auch die Dichter Stefan George, Karl Wolfskehl, Ricarda Huch, Rudolf Alexander Schröder und vermutlich auch Ludwig Klages, für deren Werk Böcklin eine herausragende Bedeutung besitzt.112 Nach der musikalischen

|| 109 Einen knappen Überblick zum Verhältnis Georges zur Bildenden Kunst bietet Stephan E. Hauser: Stefan George. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 228–233; ausführlicher Thimann: Bildende Kunst, 2012, S. 550–585; zu Lechter jetzt jüngst auch mit der älteren Forschung Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie, 2014, S. 95–138; speziell zur Buchgestaltung bei George liegen zahlreiche fundierte Studien vor, vgl. etwa Michael Thimann: Bildallegorien in der Buchgestaltung des George-Kreises. In: George-Jahrbuch 9 (2012/2013), S. 1–31; Wulf D. von Lucius: Die buchkünstlerische Gestaltung der Werke Stefan Georges – Solitär oder Zeitstil? In: George-Jahrbuch 9 (2012/2013), S. 69–91. 110 Vgl. Karlauf: Stefan George, 2007, S. 218. 111 Frühwald: Zwischen Arkadien und Babylon, 1988, S. 259. 112 Vgl. Frühwald: Zwischen Arkadien und Babylon, 1988, S. 258ff.; Martin Stern deutet die Verse des Prologs auch als Ausdruck des „Bewußtseins einer Kulturkrise“ (S. 326), Martin Stern: Böcklin – George – Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-Blätter 17/18 (1977), S. 326–333; zur Frage der Anwesenheit von Ludwig Klages, die ein Tagebucheintrag von Franziska zu Reventlow

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Eröffnung der Feier durch Richard Strauss’ Hymne trat ein venezianisch kostümierter Page vor das Publikum und sprach die Verse des Prologs, die Hugo von Hofmannsthal eigens für die Trauerfeier neu geschrieben und seinem bereits 1892 verfassten, fragmentarischen lyrischen Drama Der Tod des Tizian vorangestellt hatte. Böcklin-Anspielungen prägen die Bilder und Sprache des lyrischen Dramas, wodurch die heldenhaft inszenierte Renaissance-Welt mit Böcklin und der Gegenwart in Verbindung gebracht wird. Nach der Regieanweisung steht im „Procenium“ die „Büste Böcklins auf einer Säule“, an die sich der als venezianischer Jüngling auftretende Prolog richtet: 1

5

10

Nun schweig, Musik! nun ist die Scene mein, Und ich will klagen, denn mir steht es zu! Von dieser Zeiten Jugend fliesst der Saft In mir; und er, des Standbild auf mich blickt, War meiner Seele so geliebter Freund! Und dieses Guten hab ich sehr bedurft, Denn Finsternis ist viel in dieser Zeit, Und wie der Schwan, ein selig schwimmend Tier, Aus der Najade triefend weissen Händen Sich seine Nahrung küsst, so bog ich mich In dunklen Stunden über seine Hände Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum.

[…]

15

20

Hör mich, mein Freund! ich will nicht Herolde Aussenden, dass sie den Namen schrein In die vier Winde, wie wenn Könige sterben: Ein König lässt dem Erben seinen Ruf Und einem Grabstein seines Namens Schall. – Doch du warst solch ein grosser Zauberer, Dein Sichtbares ging fort, doch weiß ich nicht Was da und dort nicht alles von dir bleibt, Mit heimlich fortlebender Gewalt […].

[…]

25

Es weise euch ein Spiel Das Spiegelbild der bangen, dunklen Stunde Und grossen Meisters trauervollen Preis Vernehmet nun aus schattenhaftem Munde!113

|| nahelegt, Stefan Breuer: Ferntiefenrausch. Ludwig Klages und Arnold Böcklin. In: Hestia 18 (1998/99), S. 91–103, hier S. 92ff. 113 Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian. Ein dramatisches Fragment. Geschrieben 1892. Aufgeführt als Totenfeier für Arnold Böcklin im Künstlerhause zu München den 14. Februar 1901. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. III: Dramen 1. Hg. von Götz Eberhard

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Anders als bei den Naturalisten stehen hier nicht mehr nur der Wert der Böcklinschen Malerei für die Gedichtproduktion, sondern weltanschauliche Überlegungen im Vordergrund, in denen sich ein zur Kunstreligion erhobener Schönheitsund Renaissancekult manifestiert, wie er um 1900 nicht nur bei Hofmannsthal zu finden ist. Hofmannsthal überträgt das von Nietzsche geprägte, dämonische, vitalistische und von Machtdenken dominierte Bild des Renaissance-Künstlers auf Böcklin und zwar weniger aus historischem Interesse als von unbedingter „ästhetischer Aneignung“ geleitet,114 deren Ziel die Apotheose und Wiederbelebung des Titanischen ist.115 Dieses vor allem von Hofmannsthal so explizit mit Böcklin in Verbindung gebrachte Charakteristikum wird später unter anderem auch in dem schon erwähnten Aufsatz von Peter Hille zum 75. Geburtstag des toten Künstlers 1902 aufgegriffen, indem die Tatsache, dass ein Künstler wie Böcklin in der eigenen Zeit möglich gewesen war, gleichsam als positives Zukunftssignal gedeutet wird: „Und so giebt uns der Meister stolze, hohe Zuversicht: noch ist die Welt nicht veraltet, noch giebt es Künstlergiganten wie nur immer im

|| Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel. Frankfurt am Main 1982, S. 221–235, hier S. 223f.; zur Entstehung und Überlieferung vgl. auch den ausführlichen Kommentar S. 735–754. 114 Achim Aurnhammer: „Zur Zeit der großen Maler“. Der Renaissancismus im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. In: Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Il Rinascimento nell’Ottocento in Italia e Germania. Hg. v. August Buck, Cesare Vasoli. Berlin, Bologna 1989 (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 3), S. 231–260, hier S. 237. 115 Maßgeblich immer noch zum Thema die Studien von Gerd Uekermann: Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der letzten Jahrhundertwende. Berlin, New York 1985 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N.F. 84), bes. S. 103–110 und 201ff.; eine breite thematische Perspektive (C.F. Meyer, Rilke, Hofmannsthal, Panizza u.a.) bietet jetzt auch der Band von Thomas Althaus und Markus Fauser (Hg.): Der Renaissancismus-Diskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme. Bielefeld 2017 (Philologie und Kulturgeschichte, Bd. 5); die Renaissance-Rezeption Nietzsches und seiner Ausleger wird von der Forschung immer noch unterschiedlich bewertet, vgl. hierzu Volker Gerhardt: Die Renaissance im Denken Nietzsches. In: Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland. Il Rinascimento nell’Ottocento in Italia e Germania. Hg. v. August Buck, Cesare Vasoli. Berlin, Bologna 1989 (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 3), S. 93–116; immer noch lesenswert Walther Rehm: Der Renaissancekult um 1900 und seine Überwindung. In: Ders.: Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900. Hg. von Reinhardt Habel. Göttingen 1969 (zuerst 1929), S. 34–77, zum dämonischen Renaissance-Bild Nietzsches und zur Unterscheidung von Wiedergeburtsidee und Ungewissheitsempfinden bei Hofmannsthal S. 48–61, Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, 2000, S. 157–227.

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Cinquecento.“116 Hofmannsthals Interesse für die (venezianische) RenaissanceMalerei und Böcklin, das in seinem frühen lyrischen Drama zum Ausdruck kommt, wurde geweckt und befördert von Stefan George, den der junge Wiener Dichter Ende 1891 getroffen hatte. Seit dem Bruch mit George 1899 hatten die beiden kaum mehr Kontakt und auch über die Begegnung auf der Trauerfeier für Böcklin ist nichts Nähere bekannt.117 Dennoch weist Georges Böcklin-Gedicht durchaus Parallelen zu Hofmannsthals neu geschaffenem Prolog zum Tod des Tizian auf, die sich vor allem in der kulturkritischen Instrumentalisierung des Künstlers („Denn Finsternis ist viel in dieser Zeit“) bemerkbar machen. Nicht das zur Entstehungszeit des Gedichtes um 1901/02 von der Kunstliteratur und anderen ästhetizistischen Dichtern durch die Evokation und Hervorhebung des Seelischen und der dezidierten Eleminierung von Fremdzwecken vielfach als protosymbolistisch gewürdigte Werk des Schweizer Künstlers, sondern dessen kultur- und zivilisationskritisches Deutungspotential bilden den Ausgangspunkt für Georges Böcklin-Verehrung nach der Jahrhundertwende.118 Die vier Strophen bestehen jeweils aus acht Versen mit jambischen Fünfhebern und weisen bis auf sieben Ausnahmen (V. 8, 9, 13, 16, 17, 28, 32) unbetonte Versschlüsse auf, was an die Form der italienischen Stanze erinnert. Doch zeichnen sich die Strophen ausnahmslos durch Reimlosigkeit aus und auch das Muster der deutschen Stanze mit männlich einsetzender Alternation der Kadenzen und weiblichen Endungen in den letzten beiden Versen wird nicht imitiert.119 Die formale Gestaltung der Strophen kommt damit ohne konkreten Traditionsbezug aus, womit die auf inhaltlicher Ebene mit Böcklin verbundene Proklamation einer Lebenserneuerung durch die Kunst und Schaffung einer „wirklicheren“ (V. 17) Wirklichkeit korrespondiert. Innerhalb der

|| 116 Peter Hille: Arnold Böcklin wird am 16. Oktober fünfundsiebzig Jahre alt. In: Walter Gödden (Hg.): Peter Hille (1854–1904). Werke zu Lebzeiten nach den Erstdrucken und in chronologischer Folge. 2 Teile, hier Teil 2 (1890–1904). Bielefeld 2007 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, Bd. 21/2), S. 725–728, S. 728. 117 Vgl. Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, 2000, S. 144–157, Dies.: Das Erlebnis des Sehens, 1991, S. 289–300; ferner auch Frühwald: Zwischen Arkadien und Babylon, 1988, S. 258f.; Bernhard Böschenstein interpretiert schon die Figur des Desdiderio aus dem Dramen-Fragment als „bösartiges George-Porträt“, Bernhard Böschenstein: Hofmannsthal und die Kunstreligion um 1900. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. II: Um 1900. Hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs und Manfred Koch. Paderborn u.a. 1998, S. 111– 121, hier S. 112. 118 Vgl. Thimann: Bildende Kunst, 2012, S. 553: „Böcklin-Verehrung ist – hier steht StG keineswegs allein – wie so oft um 1900 implizite Zivilisationskritik.“ 119 Vgl. zu den Stanzenformen: Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, bes. S. 671–674.

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Zeitgedichte im Siebenten Ring werden Böcklin sowohl Kulturheroen wie Nietzsche, Goethe, Dante und Leo XIII. als auch Orte wie die Gräber im Speyerer Dom und die Trierer Porta Nigra an die Seite gestellt, die zusammen von der Forschung als „Gegenbilder zu den Zeitumständen“120 und kulturkritische Gegenwartsdiagnosen interpretiert wurden.121 Seit der Studie von Claude David aus dem Jahr 1967122 wurde der Dichter des Algabal und der Hymnen stark abgegrenzt vom Zeitkritiker George des Siebenten Rings. Mit seinen vergleichenden Beobachtungen zum „veränderten Rollenverständnis“, zur „Autor/Ich-Kongruenz, Reimlosigkeit, Härte der Sprache“ und zum „rhetorische[n] Gestus“123 hat Jan Andres allerdings diesen Befund relativiert und mit der Formel von der „Entwicklung vom starken zum schwächeren oder offeneren Ästhetizismus“124 bei George die Kontinuitäten in der Werkbiographie stärker hervorgehoben. Auch Georges BöcklinRezeption, die ja zunächst über den Symbolisten Gérardy vermittelt worden war, lässt sich mit Andres’ These trennschärfer erfassen. Denn freilich profitieren die kulturkritischen Argumentationsmuster auch von jenen noch ästhetizistisch geprägten Epitheta und Zuordnungen Böcklins, auf die George zurückgreift und in denen kulturkritisches Potential schon inhärent ist, insofern von Böcklin eine „eigene ästhetische Ordnung“125 abgeleitet und der zeitgenössischen Wirklichkeit gegenübergestellt wird:

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Trompetenstoß mag aus- und einbegleiten Umflittern popanz und feisten krämer – Du ziehst verschont von gnaden die entehren Aus stiller schar der nah- und fernen frommen Den sonnen zu. Dir winken ruh die Schöne Der Städte und Toskanas treue fichten Und weiter an ligurischen gestades Erglühtem fels das mütterliche meer.

|| 120 Jan Andres: Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ‚Zeitgedichten‘ des ‚Siebenten Rings‘. In: George-Jahrbuch 6 (2006/2007), S. 31–54, hier S. 42, zur Struktur der Zeitgedichte S. 43ff.; ferner auch Thimann: Bildende Kunst, 2012, S. 553f. 121 Dem Befund Achim Aurnhammers ist zuzustimmen, dass Georges Böcklin-Gedicht zu den weniger interpretierten Zeitgedichten gehört, vgl. Achim Aurnhammer: Der siebente Ring. Zeitgedichte. In: Stefan George – Werkkommentar. Hg. von Jürgen Egyptien. Berlin, Boston 2017, S. 333–355, hier S. 349–355. 122 Vgl. Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk. München 1967. 123 Andres: Gegenbilder, 2006/2007, S. 39. 124 Ebd. 125 Ebd., S. 36.

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Als damals hässlich eitle hast begann · Die glieder so verschnürt dass eins nur wuchre DER unrat schürfte · DER den himmel stürmte: Entflohest du des alltags frechem jubel: ›Was einzig hebt aus schlamm und schutt – ihr ehrt Und kennts nicht mehr · dies kleinod reinster helle Das alle farben strahlt rett ich zur fremde Bis ihr entblindet wieder nach ihm ruft.‹ Ja wirklicher als jene knechteswelt Erschufst du die der freien warmen leiber Mit gierden süss und heiss · mit klaren freuden. Du riefst aus silberluft und schmalen wipfeln Aus zaubergrüner flut aus blumigem anger Aus nächtiger schlucht die urgebornen schauer Und vors gesims der lorbeern und oliven Gelobtes land im duft der sagenferne. Du gabst dem schmerz sein maass: die brandung musste Vertönen · schreib durch güldne harfe sausen · Und steter hoffnung tiefste bläue wölktest Du über öde fall und untergang.. Dass heut wir leichten hauptes wandeln dürfen Nicht arm im dunkel schluchzen war dein walten · Du nur verwehrtest dass uns (dank dir Wächter!) In kalter zeit das heilige feuer losch.126

Die erste Strophe rekurriert auf Böcklins italienischen Lebensmittelpunkt seit 1874, blendet aber die historischen Zusammenhänge für den Weggang des Künstlers aus der Schweiz und aus München aus. Vielmehr knüpft der Sprecher durchaus traditionsbewusst an ein von ästhetischem Sezessionismus geprägtes ItalienBild an, was noch verstärkt wird, indem auch die italienische Wirklichkeit ausgespart wird und von Italien nur landschaftliche Stimmungseindrücke aufgerufen werden (V. 6–8). Böcklins Aufenthalt in Italien wird in dieser Strophe überhaupt erst als Exil definiert, um die gesellschafts- und kulturkritischen Motive für seinen Weggang zu formulieren.127 Eine Ab- und Umbewertung erfahren || 126 Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden, hier Bd. VI/VII: Der Siebente Ring. Bearb. von Peter Landmann und Ute Oelmann. Stuttgart 1986, S. 14–15. 127 Das Gedicht behandelt auch Peter Wolfgang Guenther. Die relativ ausführliche Analyse legt den Schwerpunkt aber in Anschluss an Morwitz auf die Identifizierung der möglicherweise vor allem in der dritten Strophe angedeuteten Gemälde Böcklins und geht noch auf weitere Gedichte Georges zu Böcklin ein, Peter Wolfgang Guenther: Stefan George und die Bildenden Künste. Diss. masch. Texas 1968, S. 59–78; die überschaubare Forschung zu dem Gedicht bedient sich oftmals

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die entehrenden, im normalen Sprachgebrauch semantisch sonst aber positiv besetzten „gnaden“ (V. 3) eines „Trompetenstoss[es]“ (V. 1), der symbolisch für die politische Sphäre des wilhelminischen Reiches steht und dessen Wirkung und „popanz“ (V. 2) nur den „feiste[n] krämer“ (V. 2) zu beeindrucken vermag, der pars pro toto für das Bürgerliche genannt wird. Die hier zum Ausdruck gebrachte Missbilligung einer bürgerlichen Vereinnahmung Böcklins bildet ebenso wie die Huldigung Böcklins als „Malerdichter und Visionär“128 eine Konstante in allen bisher behandelten Widmungsgedichten an Böcklin, die den Moderne-Strömungen um 1900 zuzurechnen sind. Strukturell entfaltet sich Georges kulturkritisches Denken in dieser ersten Strophe zunächst in der geographischen Antithetik mit dem wilhelminischen Reich auf der einen und Italien auf der anderen Seite. Die Erscheinungsformen der zivilisatorischen Moderne werden dann in der zweiten Strophe aufgegriffen. Nach den maßgeblichen Studien von Georg Bollenbeck kann der immer noch „extensional grenzunscharfe und intensional heterogene“129 Begriff der Kulturkritik nicht nur als „Reflexionsmodus der Moderne, der mit ihr entsteht und gegen ihre Zumutungen Einspruch erhebt“130 verstanden werden, sondern er konfiguriert inhaltlich auch ein Denken, das vor allem „die Entfremdung von sich selbst wie von der Gesellschaft und die schwierige Vermittlung von Individuum und Gesellschaft“131 im Blick auf die Neuerungen der Moderne abwägt und damit auch vom strikten Kulturpessimismus abzugrenzen sei. Das Zeitadverbium „damals“ (V. 9) bestimmt zwar den konkreten Beginn der „hässlich eitle[n] hast“ (V. 9) nicht näher, lässt sich aber durch die in der ersten Strophe angedeuteten Kontext von Böcklins Biographie auf die 1870er und 1880er Jahre beziehen. Reflektiert der erste Vers der zweiten Strophe in kulturkritischer Weise die zivilisatorische Moderne als Produkt einer Verfallserscheinung, so spielt die Wendung „Der unrat schürfte“ (V. 11) auf die von George verschmähte naturalistische Bewegung an.132 Fast schon katalogartig durch die

|| der schon von Morwitz formulierten, grundsätzlich hilfreichen Stichworte, vgl. Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. München, Düsseldorf 1960, S. 223–226. 128 Aurnhammer: Der Siebente Ring/Zeitgedichte, 2017, S. 352. 129 Georg Bollenbeck: Kulturkritik. Ein unterschätzter Reflexionsmodus der Moderne. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 137 (2005), S. 41–53, hier S. 43. 130 Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 10; fast wortgleich auch Bollenbeck: Kulturkritik, 2005, S. 46. 131 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, 2007, S. 11. 132 So bereits die Deutung bei Guenther: Stefan George und die bildenden Künste, 1968, S. 61; zum Böcklin-Gedicht und Kulturkritik auch Thimann: Bildende Kunst, 2013, S. 554; allgemein zu den angesprochenen Charakteristika der Kulturkritik Bollenbeck: Kulturkritik, 2005, S. 41ff. und 49ff.; Georg Bollenbeck: Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. Zum

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Dominanz apostrophierender Personalpronomina133 wird besonders in der dritten Strophe herausgestellt, was Böcklin als Künstler geschaffen hat (V. 17–24) und wie diese Schöpfungen nicht nur eine neue Bildwelt kreierten, sondern auch die kulturkritisch geforderte Entkoppelung von Kunst und bürgerlicher Moral verwirklichten.134 Dieses Künstlerlob kulminiert in den letzten beiden Versen, die sprachlich eine sakrale Aura evozieren und explizit Dank formulieren für eine Leistung, die über die rein künstlerische Bedeutung Böcklins deutlich hinausgeht. Die Aussagen des lyrischen Ichs über Böcklin sind in kulturkritischer Tradition nicht objektiv-empirisch nachvollziehbar, sondern erhalten ihre Wirkung gerade durch ihre „subjektiv-wertende und gesinnungsethisch-normative“ Tendenz.135 In der zweiten Strophe kommt zudem auch Böcklin selbst zu Wort (V. 13– 16), was die bisherige Forschung unkommentiert ließ.136 Dabei ist die wörtliche Rede Böcklins gerade im Hinblick auf die kulturkritische Argumentationsweise des Gedichtes von zentraler Bedeutung. Der Sprecher legt Böcklin Worte in den Mund, mit denen dieser zwar die ästhetische Wahrnehmung der Gesellschaft als geschichtsvergessen entlarvt, gleichzeitig aber auch die zeitliche Perspektive eines neuen, von den Fesseln der modernen Zivilisation befreiten Zeitalters eröffnet, für die George die neologistische Wendung des „Entblindens“ (V. 16) benutzt.137 Das Gedicht ist also nicht nur ein Text über Böcklin und eine

|| Verhältnis von Reformoptimismus und Kulturpessimismus. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hier Bd. I. Hg. von Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, S. 203–207. 133 Die Pronomina kommen in folgender Häufung vor: „Du“ (sieben Mal), „Dein“ (ein Mal) und „Dir“ (2 Mal). 134 Vgl. zu diesem Komplex Wolfgang Braungart: „die Schönheit, die Schönheit, die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus und Kulturkritik um 1900. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Frankfurt am Main u.a. 2007 (Historische Politikforschung, 10), S. 30–55, bes. S. 36–38; die in der dritten Strophe angedeuteten Gemälde Böcklins werden schon im Kommentar von Morwitz diskutiert, Morwitz: Kommentar zu den Gedichten Stefan Georges, 1968, S. 224–226; ausführlich aufgegriffen bei Guenther: Stefan George und die bildenden Künste, 1968, S. 67–74. Im Zusammenhang mit der kulturkritischen Gesamtanlage des Gedichts ist die Identifizierung der Gemälde allerdings nebensächlich. 135 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, 2007, S. 9. 136 Etwa bei Guenther: Stefan George und die bildenden Künste, 1968; Andres: Gegenbilder, 2006/2007. 137 Zur Formulierung alternativer Zielperspektiven in kulturkritischen Texten Bollenbeck: Kulturkritik, 2005, S. 49ff.; Bollenbeck: Weltanschauungsbedarf, 2001, S. 205f.; Martin Stern stellte schon 1977 die These auf, „George stilisierte […] Böcklin zu einem Doppelgänger seiner selbst, zu einem Propheten, der einen Glauben verkündet und seinen Jüngern weitergab“. Stern: Böcklin – George – Hofmannsthal, 1977, S. 328.

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kulturkritische Instrumentalisierung des Künstlers, sondern inszeniert ihn mit der wörtlichen Rede selbst als Kulturkritiker. Damit geht eine Überzeichnung der historischen Person und seiner Anschauungen einher, die nicht mehr nach den tatsächlichen weltanschaulichen Positionen des Künstlers fragt und zudem unkommentiert lässt, ob die ihm unterstellten Haltungen auch tatsächlich verbürgt sind.

Die in den Jahren um 1900 entstandenen Widmungsgedichte an Böcklin zeigen ein breites Spektrum von Böcklin-Deutungen, die den Künstler und die Person in den Mittelpunkt rücken und jeweils im Sinne der von den Dichtern vertretenen literarischen Richtung als Vermittler von Realität und Ideal oder als Überwinder einer zu sehr an der Wirklichkeit orientierten naturalistischen Ästhetik feiern. Allen gemein ist die Ablehnung der spätestens seit Mitte der 1890er Jahre zunehmenden bürgerlichen und auch ökonomischen Vereinnahmung des Schweizers. Die Widmungsgedichte dokumentieren und reflektieren damit einerseits die Bedeutung von Böcklin für die ästhetische Selbstreflexion der Dichter unterschiedlicher literarischer Strömungen um 1900, die ihn alle als Gewährsmann ihrer (produktions-)ästhetischen und weltanschaulichen Positionen benennen. Sie stellen versifizierte Rezeptionszeugnisse dar, die allerdings eine nationalistische Deutung Böcklins, wie sie von der popularisierenden aber auch wissenschaftlichen Kunstliteratur betrieben wurde, durchweg ablehnen. Andererseits sagen die Widmungsgedichte aber nicht nur etwas über den Apostrophierten, sondern meist auch viel mehr noch über den hinter dem lyrischen Ich greifbaren Dichter selbst aus.

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1.2 Vitalistisch-naturalistischer Lebenskult, symbolistische Todesapologie und christliche Jenseitshoffnung: Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod und Die Toteninsel (Henckell, Wolfskehl, Koch und Bulcke) Bleibt trotz aller Unterschiede bei den Widmungsgedichten an Böcklin noch der vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter national-politischen Vorzeichen florierende künstlerische Titanen- und Heroenkult erkennbar, so beschäftigen sich zahlreiche Gedichte der Jahrhundertwende auch mit einzelnen Gemälden, in denen zwar die huldigende Apostrophe an Böcklin immer mitschwingt, insgesamt aber stärker die Ikonographie und Motive, die Themen und zeitgenössischen ästhetischen und weltanschaulichen Diskurse in den Mittelpunkt gerückt werden. Anders als die bisher behandelten Gedichte setzen sich diese Texte intensiver mit dem Einzelkunstwerk auseinander und bieten daher auch aus intermedialer Perspektive mehr Anknüpfungspunkte für eine Deutung. Im Gegensatz auch zur musikalischen Rezeption von Böcklin in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit „Tondichtungen“ von Sergei Rachmaninov, Felix Woyrsch und Max Reger, machen die Gedichte auf Böcklins vielleicht berühmtestes, in fünf Fassungen überliefertes Gemälde Die Toteninsel überraschenderweise nicht den Großteil der Texte aus.138 Die mit der Toteninsel verbundene Vergänglichkeitsthematik und spiritistische Dimension sind allerdings auch im Zusammenhang mit Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872; Abb. 43) virulent, das um 1900 gleich von vier Dichtern – Karl Henckell, Karl Wolfskehl, Carl Bulcke und Maidy Koch – literarisiert wurde. Rezeptionsgeschichtlich sind diese Gedichte insofern interessant, da sie Böcklin als Künstler und Person weiterhin in den Mittelpunkt stellen, die damit einhergehenden zeitgenössischen Diskussionen und Diskurse aber ausgehend vom konkreten Gemälde entwickeln. Daneben bedichten Karl Henckell, Peter Hille, Maidy Koch, Otto Julius Bierbaum und Detlev von Liliencron Böcklins Meeresszenen (Triton und Nereide, 1873/75; Gefilde der Seligen 1877, Das Spiel der Najaden, 1886) und mythologische Landschaftsdarstellungen (Vita somnium breve, 1888; Der neue Faun, 1857/58; Pan im Schilf, 1858; Altrömische Weinschenke, 1867/68), deren Ikonographie für die Dichter um 1900 – gleich welcher literarischen Strömung – eine Fülle thematischer, aber auch formaler und struktureller Anknüpfungspunkte bot. In unterschiedlicher Weise akzentuieren die Dichter

|| 138 Zu den Zahlen vgl. Kranz: Das Bildgedicht, Bd. 1, 1981, S. 441.

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symbolistische, vitalistische, mythologische, religiöse und realistische Elemente der Gemälde.

Abb. 43: Arnold Böcklin: Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872)

Die literarische Rezeption von Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod ist eng verbunden mit der Geschichte seiner Provenienz. Noch im Jahr der Entstehung 1872 wurde das Gemälde, auf dem Böcklin erkennbar als Maler mit Palette und Pinsel aber ohne im Bild sichtbare Staffelei und einem auf einer einzigen Geigenseite – der G-Saite – spielenden Todesgerippe im Hintergrund zu sehen ist, im Münchner Kunstverein, ein Jahr später dann in Berlin ausgestellt. Bestimmt war es aber für den Kunstsammler und Unternehmer Adolph von Liebermann, ein Vetter des später berühmten impressionistischen Malers, in dessen Sammlung das Selbstbildnis bis zum Ankauf durch die Berliner Nationalgalerie unter Hugo von Tschudi 1898 auch verblieb. Erworben hatte es Liebermann auf einer Versteigerung bei Rudolf Lepke kurz vor Weihnachten 1876.139 In der kurzen Zeit, in der das Gemälde vor 1898 öffentlich zu sehen war, scheint das Interesse und der Zuspruch durch das Publikum und die Kunstkritiker offenbar enorm gewesen zu sein.140 Namhafte Kunsthistoriker wie Cornelius (Gustav) Gurlitt und Richard

|| 139 Zur Provenienz und Überlieferung vgl. den aktualisierten Katalog von Rolf Andree (Hg.): Arnold Böcklin. Die Gemälde. 2., ergänzte und überarbeitete Al. Basel, München 1998 (Schweizer Institut für Kunstwissenschaft; Œuvrekataloge Schweizer Künstler, 6), S. 325f. 140 Zur Provenienz und Entstehung sowie Rezeption vgl. Georg M. Blochmann: Zeitgeist und Künstlermythos. Untersuchungen zur Selbstdarstellung deutscher Maler der Gründerzeit. Marées – Lenbach – Böcklin – Makart – Feuerbach. Münster 1991 (Form & Interesse, Bd. 34), bes. S. 120ff.

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Muther widmeten sich dem Werk in ihren Überblicksdarstellungen zur Kunst des 19. Jahrhunderts und auch in Einzelartikeln.141 Den Auftakt zur lyrischen Auseinandersetzung mit dem Selbstbildnis bildet Karl Henckells 1897 in seiner Sammlung zum 70. Geburtstag abgedrucktes, aus 24 jambischen Fünfhebern bestehendes, unregelmäßig gereimtes Gedicht Du und der Tod? Noch vor dem Ankauf des Bildes durch die Nationalgalerie und dem davon ausgelösten wirkungsmächtigen Artikel Der Musaget Boecklins von Ferdinand Laban im vierten Heft des Pan von 1898, präsentiert Henckell dieses damals noch in Privatbesitz befindliche Werk der kulturellen Öffentlichkeit und nutzt den Text, um bereits verbreitete Deutungsaspekte des Gemäldes zu thematisieren und auch vorwegzunehmen. Schon der im ersten Vers wiederholte, mit einem Fragezeichen versehene Titel ironisiert das Sujet des Gemäldes und stellt dessen Titelgebung in Frage, indem die dem Gemälde attestierte künstlerische Potenz und Bedeutung des Künstlers betont werden (V. 11–14, 23–24):

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Du und der Tod? O herrlicher Pilot Durch’s blaue Wundermeer der Malerei! Wem solche Schöpferglut den Arm durchloht, Er wandelt aufrecht selbst dem Styx vorbei; Charon, der Fährmann, rudert seinen Kahn Die Schattenflut zurück auf bleicher Bahn… Ich sah vordem Dich wohl durch Zürich schreiten, Langsam, zu stiller Sommermittagszeit, Dein Blick schien sinnend vor Dir hinzugleiten Und trank doch träumend alles weit und breit. Dann bliebst Du stehn. Und eine farbensatte, Goldgelb durchblühte Wiese bot Dir Halt, In Deine Augen wirkte sich die Matte Zu unverwelklich bleibender Gestalt. Ein Pappelbaum, schwermütig ätherragend, Wob sich darüber, dunkel sehnsuchtklagend… Weisst Du, kraftleuchtend kunstgekrönter Mann, Wie Du die Seele nimmst in selt’nen Bann? Aus Deinen Bildern sieht mich die Natur Mit Augen an, die festlich mich beglücken, Und wenn Gott Pan tief lacht vor Lichtazur, Durchflutet mich ein schwelgendes Entücken.

|| 141 Vgl. ausführlich hierzu ebd., S. 128.

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Du, Böcklin, hast dem urgewalt’gen Leben Der Welt das Lied der Malerei gegeben.142

Es fällt auf, dass optischen Vorgängen, dem Sehen und Wahrnehmen von Werken der Bildenden Kunst insgesamt (V. 7–16, 19–22) und Farben im Besonderen (V. 2, 11, 17, 21) offenbar eine gewichtige Rolle zugeschrieben werden. Dies spiegelt einerseits das Thema des Selbstbildnisses wider, das viele Böcklin-Interpreten auch als Darstellung des Nachdenkens über die Kunst und den künstlerischen Prozess selbst deuteten. Andererseits rekurriert Henckell damit auch auf Böcklins Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen Fragen nach den physiologischen Voraussetzungen des Sehens von Farben, was nicht zuletzt durch die seit der Jahrhundertmitte bereits erschienenen naturwissenschaftlichen Studien von Hermann von Helmholtz angeregt wurde.143 Das Selbstbildnis wird damit auch als künstlerische Selbstbespiegelung inszeniert. Der im Bild dargestellte Tod wird nicht nur in der Überschrift des Gedichts mit einem Fragezeichen versehen. Das so markant von Böcklin in Szene gesetzte fiedelnde Gerippe wird im Gedicht als Figur vielmehr völlig ausgeblendet und ist nur noch durch die Anspielungen auf den Totenfluss Styx (V. 4) und den Fährmann Charon (V. 5) präsent. Obwohl die ikonographischen Allusionen auf ältere Bildtraditionen wie den Totentanz und das Memento Mori durchaus von den zeitgenössischen Kunstkritikern erkannt wurden, glättet Henckell in seiner literarischen Bearbeitung des Gemäldes diese Todesmotivik zugunsten einer lebensphilosophisch und vitalistisch inspirierten Vision des „urgewalt’gen Lebens“ (V. 23), das sich in und durch Böcklins Kunst Ausdruck verschaffe.144 Die Vieldeutigkeit und der Anspielungsreichtum des Selbstbildnisses mit fiedelndem Tod sind im Gedicht in eine stringente, lebensbejahende Lesart überführt worden. Der wirkungsmächtige Kunstwissenschaftler und seit 1894 auch Herausgeber des Jahrbuchs der Königlich-Preußischen Kunstsammlungen Ferdinand Laban greift genau diese Deutungsvariante in seinem überaus populär gewordenen, 1898 publizierten Essay Der Musaget Boecklins zu dessen Selbstbildnis wieder auf und relativiert ebenso die Tradition des Memento Mori. Davon, so Laban, „ist etwas in dem Gemälde“. Und er fährt fort: „Dieser Ton klingt mit. Aber er macht hier nicht die Musik, ist

|| 142 Karl Henckell: Du und der Tod? In: Ders.: Arnold Böcklin gewidmet. Zürich, Leipzig 1897, S. 2. 143 Vgl. die Diskussion bei Angelika Wesenberg: „Memento vivere“. Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod. Köln 2002, S. 9ff. 144 Zu den verschiedenen Deutungstraditionen ausführlich Blochmann: Zeitgeist und Künstlermythos, 1991, S. 128–134; ferner auch Wesenberg: „Memento vivere“, 2002, S. 18ff. und 58; zum Vitalismus-Verständnis hier auch Kafitz: Tendenzen der Naturalismus-Forschung, 1988.

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hier nicht die Sache selbst. Dies Bild ist nicht auf die Tonart des ‚Memento Mori‘ gestimmt. Vielmehr klingt aus seinem Pathos ein hoheitsvolles ‚Memento vivere‘ heraus.“145 Wie schon in den vorgestellten Widmungsgedichten geht es Henckell auch hier um eine Versöhnung zwischen naturalistischer Welt- und Realitätswahrnehmung und Böcklinscher mythologisch-symbolistischer Weltdarstellung. Das Gedicht bietet daher auch keine geschlossene Beschreibung oder Deutung nur des Bildgegenstandes, sondern stellt der thematisch mit dem Bildthema verknüpften mythologischen Welt des Styx, Charon und Pan aus der empirischen Beobachtung gewonnene Beschreibungen aus Zürich gegenüber (V. 7–16), was mitunter eine seltsame Wirkung entfaltet. Der bisweilen von Böcklin-Verehrern exzessiv betriebenen Isolation und symbolistischen Überhöhung von Böcklins Bildwelten wird hier deren Integration in die Wirklichkeit als alternatives Konzept gegenübergestellt.

Ganz anders perspektiviert der George-Vertraute Karl Wolfskehl die bildliche Vorlage und das Memento-Mori-Motiv in seinem aus drei Strophen bestehenden Gedicht Der Meister und der Tod (Böcklin), das in der fünften Folge der Blätter für die Kunst von 1900/1901 gedruckt wurde. Seit Wolfskehls erster Begegnung mit George im Oktober 1893 kam der junge, aus einer reichen Darmstädter BankiersFamilie stammende, promovierte Philologe und Dichter auch mit den bildkünstlerischen Heroen des Kreises wie Melchior Lechter, Arnold Böcklin aber auch den Malern des Blauen Reiter in Berührung.146 Während seines Studiums unter anderem in Leipzig hörte Wolfskehl auch Vorlesungen bei dem bedeutenden Kunsthistoriker Anton Springer, entwickelte sein Interesse an der Bildenden Kunst allerdings ausgehend von seiner Leidenschaft für die Buchkunst.147 In den ohnehin überschaubaren Studien zu seinem dichterischen Frühwerk wird das

|| 145 Ferdinand Laban: Der Musaget Boecklins. In: Pan 4, 4 (1898), S. 236–240, hier S. 238. 146 Vgl. zusammenfassend jetzt den Artikel von Friedrich Voit: In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. 3 Bde., hier Bd. 3. Berlin, Boston 2012, S. 1765– 1771, bes. S. 1766f.; wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, nahm Wolfskehl auch an der Totenfeier für Böcklin am 14. Februar 1901 im Münchner Künstlerhaus teil, vgl. hierzu Stern: Böcklin – George – Hofmannsthal, 1977. 147 Grundlegend Sebastian Schütze: Wolfskehl und die bildende Kunst. Ein Kenner, Kritiker und Sammler in der Epoche der großen Geistigen. In: „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln. Leben und Werk von Karl Wolfskehl (1869–1948). Hg. von Elke-Vera Kotowski und Gert Mattenklott. Hildesheim, Zürich, New York 2007 (Haskala, Bd. 33), S. 219–239, hier S. 223ff. Wolfskehl besaß auch zwei Gemälde von Kandinsky, zu denen aber leider keine dichterischen Bearbeitungen vorliegen.

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Böcklin-Gedicht zwar meist genannt und auf die für jene Phase seines Dichtens signifikante Thematik von Tod und Vergänglichkeit hingewiesen, doch wird es kaum eingehender analysiert.148 Die kreuzgereimten, jambische Fünfheber aufweisenden vier Verse jeder Strophe zitieren formal die seit Georges (Teil-)Übersetzung der Fleurs du mal (1891) von Baudelaire populär gewordene Strophenform, die in der Folge schon von den Zeitgenossen mit symbolistischem Dichten assoziiert wurde.149 Im Unterschied zu Henckells Du-Anrede des Malers markiert der Titel bei Wolfskehl schon eine größere Distanz zum im Gemälde verewigten Künstler Böcklin. Die Überschrift verweist aber nicht nur auf den Titel des bedichteten Selbstbildnisses, sondern erweist sich bei der Lektüre auch schon als Hinweis auf die dialogische Struktur des Gedichtes: Zu meinem nachen hast du dich gefunden An meinen wassern wartest du verhüllt Lebt wohl so blickt dein aug ihr bunten stunden Die mich erfüllten – die ich ganz erfüllt. 5

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Du Reicher du Erlesener im reigen Hörst du ihr wehe? aller gluten hort Willst du dem staunen dich der Untern zeigen? Du lächelst leise bittend: nimm mich fort! Zu deines weiten reiches letztem strande Lasse mich hinab – kein schacht ist mir zu tief. Wach war ich wie kein andrer dort im lande So darf ich schlafen fest wie keiner schlief.150

Unter völliger Ausblendung der durch den musizierenden Tod im Bild vorhandenen intermedialen Thematik konzentrieren sich die Verse auf das gesprochene Wort und nicht auf das Hören von Tönen, auf das imaginierte Zwiegespräch von

|| 148 Erwähnt wird das Gedicht kurz in dem sonst hervorragenden Ausstellungsband von Erich Zimmermann: Karl Wolfskehl 1869–1948. Leben und Werk in Dokumenten. Darmstadt 1969 (Schriftenreihe Agorà, Bd. 22), S. 124f.; Durzak erwähnt das Gedicht nicht, da es ihm insgesamt um eine Einordnung des Frühwerks geht auch im Horizont der bisherigen Forschung, die Wolfskehl frühe Dichtungen entweder nicht beachtet oder marginalisiert habe, vgl. Manfred Durzak: Der junge Karl Wolfskehl. Zu den frühen Gedichten in den Blättern für die Kunst. In: „O dürft ich Stimme sein, das Volk zu rütteln. Leben und Werk von Karl Wolfskehl (8169–1948). Hg. von ElkeVera Kotowski und Gert Mattenklott. Hildesheim, Zürich, New York 2007 (Haskala, Bd. 33), S. 121–132; ganz knapp auch bei Meier: Böcklin-Gesänge, 1977, S. 142. 149 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 321–327. 150 Karl Wolfskehl: Der Meister und der Tod (Böcklin). In: Blätter für die Kunst. Fünfte Folge 1900/1901, S. 8.

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Böcklin und dem Tod, in dessen Mittelpunkt der Abschied von der Welt und die Absage an alles Irdische stehen. Der in der ersten Strophe sprechende Meister zieht Bilanz seiner „bunten Stunden“ (V. 3) und lässt gleichzeitig in der Bezeichnung seiner irdischen Situation als „nachen“ (V. 1) erkennen, dass der Tod und die Vergänglichkeit zu den grundlegenden Werk- und Lebensbedingungen zu rechnen sind. Gesteigert wird diese Todessehnsucht noch dadurch, dass der Meister in der vom Tod gesprochenen zweiten Strophe sogar die Wehrufe seiner Gemeinde und Verehrer ignoriert (V. 5–7) und darum bittet, vom Tod mitgenommen zu werden (V. 8). Zeitgenössischen kunsthistorischen Deutungsmustern des Gemäldes, nach denen das Bild auch jenen ökonomischen und ästhetischen Wendepunkt 1872 nach langen Jahren der Erfolglosigkeit Böcklins reflektiere, wird damit ebenso eine Absage erteilt wie einer vitalistischen, lebensphilosophischen Relativierung des Todes angesichts eines monumentalen künstlerischen Werkes.151 Der im Bild nur fiedelnde Tod wird bei Wolfskehl zum gleichberechtigten Gesprächspartner. Die von dem jungen Dichter für die Beschäftigung mit Künstlern und Werken der Bildenden Kunst als Voraussetzung betrachtete „Seelenverwandtschaft“ scheint bei Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod gerade im Blick auf Wolfskehls Frühwerk in besonderem Maße gegeben zu sein. Hier wird nicht mehr in hymnischer Verehrung wie in anderen Böcklin-Gedichten das Weiterleben durch Kunst und im künstlerischen Werk betont, sondern an Gewicht gewinnt die für Wolfskehl im Gemälde anschaulich gewordene consolatorische, nicht mehr erschreckende, sondern sinnerfüllte Todesperspektive eines Lebens und Schaffens.

Wie eine Kontrafaktur auf Henckells lebensbejahendes Gedicht, aber beileibe nicht von der Ernsthaftigkeit der Wolfkehlschen Todesüberhöhung geprägt liest sich das in einer leichten Variation der auch von Wolfskehl verwendeten Strophenform verfasste Gedicht von Carl Bulcke. Der 1873 in Königsberg geborene Bulcke konnte zwar Achtungserfolge als Schriftsteller erzielen, doch ist er in kulturgeschichtlicher Hinsicht mehr als Staatsanwalt und Oberregierungsrat in seiner Funktion als Filmzensor in der Weimarer Republik interessant. Immerhin erschien seine Gedichtsammlung Die Töchter der Salome, aus dem auch die Böcklin-Verse stammen, im Verlag der renommierten Cottaschen Buchhandlung. Der Titel des Gedichts, Der Geiger, rückt den Hintergrund des Gemäldes, den Tod als Gerippe, in den Vordergrund des Textes. Erst der Untertitel, Zu Arnold Böcklins

|| 151 Die Deutungsansätze sind dokumentiert bei Blochmann: Zeitgeist und Künstlermythos, 1991, S. 108–110, ferner auch Wesenberg: „Memento vivere“, 2002, S. 7.

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Selbstporträt, markiert den Zusammenhang mit der Bildvorlage. Gleichwohl beschreibt und umschreibt Bulckes Böcklin-Dichtung am ausführlichsten und sehr genau die Figurenkonstellation des Gemäldes: Ein stolzes strenges Künstlerantlitz schaut Auf eines Werkes heiteres Vollbringen. Da horch. Ein feiner Ton. Ein fernes Klingen, Wie einer Geige schmachtend Laut. 5

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Der Künstler sinnt und lauscht mit halbem Ohr. Nah, immer näher dringen Ton um Töne, Durch seine Seele rauscht des Liedes Schöne, Woher das Lied? Er hört es nie zuvor. Der Künstler sinnt und sinnt. Das stille Lied Ist mächtig in sein tiefstes Herz gedrungen, Hat tönend eigne Stimmen wachgesungen, Die er wie lichte Farben vor sich sieht. Am Himmel brennt ein glühend Abendrot. – Der Künstler lächelt: …Ja, es ist das Leben… Und spürt den eignen Trug doch in sich beben, Und weiß: der stille Geiger ist der Tod.152

In balladesker Manier wird der Leser auf die Bedeutung der Musikalität hingewiesen, die für die erzählende Instanz offenbar die zentrale Thematik des Gemäldes darstellt. Der Rezipient wird nicht aufgefordert, zu schauen, sondern zu „horchen“ (V. 3). Die Dominanz von Vokabeln aus dem akustischen Bereich unterstreicht diese Ausrichtung des Gedichts (V. 3–8, 9, 11). Die Gedankenführung ist auf die Schlusspointe ausgerichtet, in der Böcklin die ihm vom Erzähler zuvor in den Mund gelegte Überzeugung, mit diesem Gemälde das Leben nachgezeichnet zu haben, revidiert und schließlich den Geiger als Tod identifiziert und anerkennt. Interessanter ist allerdings, in welchem Maße Bulcke hier spiritistische Motive bemüht, um den Schaffensprozess des Gemäldes in der dritten Strophe literarisch nachzuvollziehen.153 Das Gehörte wird nicht mehr nur als

|| 152 Carl Bulcke: Die Töchter der Salome. Stuttgart 1901, S. 109. 153 Hierzu mit Zusammenfassung auch der älteren Studien von Moritz Baßler und Georg Braungart Priska Pytlik: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Paderborn u.a. 2003, bes. S. 9–68; ferner auch mit einer Auswahl signifikanter Texte zum Thema, die thematisch gegliedert jeweils mit knappen Einleitungen versehen sind Priska Pytlik (Hg.): Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Tübingen, Basel 2006, bes. S. 203–208.

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Inspirationsquelle benannt, sondern verselbständigt sich und wird gewissermaßen verbildlicht auf der Leinwand. Entscheidend ist nun, dass dem Künstler selbst hier gar keine Funktion mehr als nur die eines Mediums zugeschrieben wird. Ist aus den bisher behandelten Gedichten der genialische Schaffenswille des Malers noch unhinterfragt integriert, so scheint bei Bulcke der Künstler nur noch Ausführender zu sein. Was sich bei Rilke und anderen Autoren mit okkultistisch-spiritistischen Tendenzen um 1900 in der Vorstellung des „passiven Geschriebenwerdens“154 findet, lässt sich hier in diesem Sinne auf den bildkünstlerischen Bereich übertragen. Ohne die Dichtung Bulckes zu sehr aufzuwerten, scheint die gerade in Berlin vor und um 1900 zu beobachtende Attraktivität von Theorien, die das autonome Subjekt im künstlerischen Schaffensprozess und in spiritistischer Absicht letztlich in Frage stellen, auch in einem Gedicht wie diesem von Bedeutung zu sein.

In ähnlicher Weise versteht auch Maidy Koch Böcklins Selbstbildnis. Die drei Strophen ihres Gedichts Selbstbildnis mit dem Tod wurden auf der Böcklin-Gedächtnis-Feier in Freiburg (i.Br.) im Januar 1902 in Erinnerung an den 75. Geburtstag des Toten zur Eröffnung gesprochen und zeigen dieselbe symbolistische Strophenform wie das Gedicht von Wolfskehl. Wie alle bisher behandelten Texte deutet Koch das Werk ebenfalls aus der Perspektive der Jahrhundertwende und übergeht die für die Entstehungszeit des Gemäldes 1872 wichtigen werkbiographischen Hintergründe und die darauf aufbauenden gängigen Interpretationen. Das Gemälde wird in seiner lyrischen Rezeption enthistorisiert und gleichzeitig aktualisiert, indem Böcklins Tod maßgeblicher Ausgangspunkt für die Interpretation des Selbstbildnisses und damit Ausdruck einer spezifischen Auffassung von Religiosität wird. Der mit dem Tod assoziierte „Geigenton“ (V. 8) avanciert gleichsam zur hauptsächlichen Inspirationsquelle und zum Erklärungsmodell für Böcklins gesamtes Werk und seine Bildwelten: Das Leben liebtest du, das rätselreiche, Und seine tiefste Schönheit schufst du nach. Es hielt der Weggenoss, der stille, bleiche, Dein klares Aug’ für seine Wunder wach. 5

Er liess dich mehr erschau’n als alle Andern, Zu seinem Schüler warst du auserwählt. In Kampf und Lust, im Schaffen und im Wandern Hat dir sein Geigenton das Herz gestählt.

|| 154 Pytlik: Spiritismus und ästhetische Moderne, 2006, S. 5.

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Geheimnisvolle Macht wird dem gegeben, Den je des Todes heil’ger Atem traf. Von ihm gesegnet liebtest du das Leben, Bis er dein Auge schloss zum letzten Schlaf.155

Das den Künstler im Gedicht direkt ansprechende lyrische Ich definiert die Beziehung und die Hierarchie zwischen Böcklin und dem fiedelnden Tod neu: Er wird zum „Schüler“ (V. 6) und Auserwählten des Todes. An die Stelle der Muse oder der göttlichen Inspiration tritt die Vergegenwärtigung der Endlichkeit und Unvollkommenheit allen Daseins als Voraussetzung für künstlerisches Schaffen. In einer solchen Todesverklärung kommt die Todesverfallenheit des Fin de siècle deutlich zum Ausdruck. Sie verrät auch eine tiefe religiöse Verunsicherung, die Böcklin im Nachhinein mit Blick auf das Selbstbildnis mit fiedelndem Tod attestiert wird und die gleichzeitig signifikant ist für die literarische Auseinandersetzung mit dem religiösen und christlichen Erbe um 1900.156 Deutlich mystisch inspiriert ist auch das Vokabular, das zur Erklärung und Deutung des bildkünstlerischen Werkprozesses benutzt wird. Böcklins Vorliebe für das „rätselhafte“ (V. 1) Leben, sein Blick für die „tiefste“ (V. 2) Schönheit und die „Wunder“ (V. 4) gerät lediglich zur individuellen Bedingung, um von der „geheimnisvollen Macht“ (V. 9) des Todes auserwählt zu sein. Von einer christlichen Rückbindung gänzlich befreit sind auch die dem Tod zugeschriebene „Heiligkeit“ (V. 10) und sein Segensgestus (V. 11), was eher im christologischen oder göttlichen Zusammenhang Verwendung findet.

Im Falle von Böcklins berühmtem Gemälde Die Toteninsel folgten Kunstkritik und auch die kunstwissenschaftlichen Studien einer symbolistischen Lesart des Bildgegenstandes und sahen darin eine Verabschiedung und Kritik der abendländischen Kultur.157 Indem Böcklin Topoi und Motive aus der antiken Mythologie und

|| 155 Maidy Koch: Arnold Böcklin. Zwölf Gedichte. Gesprochen bei der Böcklin-Gedächtnis-Feier zu Freiburg im Breisgau, Januar 1902. Freiburg im Breisgau 1902, S. 5. 156 Vgl. Justus H. Ulbricht: Der „neue Mensch“ auf der Suche nach „neuer Religiosität“. In: Der Deutschunterricht 50, 5 (1998), S. 38–48; Ulbricht untersucht das Verhältnis von Gesellschaft und Religion bzw. religiösen Bedürfnissen unter den Leitfragen der Säkularisation und Entkirchlichung, der Wirkung und Bedeutung Nietzsches und einer daraus resultierenden Wertediskussion. Grundlegend ist ferner noch in größerer Perspektive: Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918. München 1988 (Beck’sche Reihe, 363). 157 Eine erste Orientierung bietet der kleine Band von Franz Zelger: Arnold Böcklin. Die Toteninsel. Frankfurt am Main 1991 (Fischer Kunststück, 10514); Anita Maria von Winterfeld: Arnold

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der Décadence sowie dem rinascimentalen und romantischen Bildbestand aufruft, zitiert und neu kontextualisiert, wurde der auf das von Zypressen gesäumte Eiland zufahrende Nachen mit den nur schemenhaft erkennbaren Figuren vielfach als Todesfahrt einer zum Ende gekommenen Kultur interpretiert, was die moderne Forschung freilich mit Blick auf die biographischen Umstände der jung verwitweten Auftraggeberin (der zweiten Fassung von 1880), Marie Berna-Christ, und unter Berücksichtigung der Böcklinschen Initialen über der Grabkammer ab der dritten Fassung relativiert hat.158 Erstaunlicherweise knüpft das in der schon genannten Gedächtnis-Feier für Böcklin 1902 vorgetragene Gedicht Die Toteninsel von Maidy Koch an die zeitgenössischen Denkmuster und Interpretationen nicht an. Formal bemüht die Dichterin wieder jene symbolistische Strophenform, die im Bereich der Bildgedichte auf Böcklin eine herausragende Stellung einnimmt. Inhaltlich sind die ersten beiden Strophen eine sehr genaue Bildbeschreibung der Bildvorlage (Abb. 44) : Ein Eiland ragt aus regungslosem Meere; Cypressen stehen hoch an seinem Rand. In ihrem Schatten landet eine Fähre, Die still herüberschwamm von fernem Strand. 5

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Die Wipfel rauschen leis. Den heil’gen Frieden Betritt gebeugten Hautps ein neuer Gast. Es ist ein Pilgrim aus den Reih’n geschieden, Um heimzukehren in die ew’ge Rast. Hat seine Stirn den Königsreif getragen? Lag einst am Pflug die arbeitsharte Hand? Es dringt aus seinen fernen Lebenstagen Kein Hauch herüber in das Totenland.159

|| Böcklin. Bildidee und Kunstverständnis im Wandel seiner künstlerischen Entwicklung. München 1999; Andrea Linnebach-Wegner: Arnold Böcklin und die Antike. Mythos, Geschichte, Gegenwart. München 1991. 158 Vgl. Bernd Vielsmeier: Böcklin – Berna – Büdesheim. Zur Entstehungsgeschichte der „Toteninsel“ von Arnold Böcklin. In: Wetterauer Geschichtsblätter. Beiträge zur Geschichte und Landeskunde 30 (1981), S. 117–123; darauf aufbauend auch Hans Holenweg: Die Toteninsel. Arnold Böcklins populäres Landschaftsbild und seine Ausstrahlung bis in die heutige Zeit. In: Das Münster 54 (2001), S. 235–241; besonders Holenweg betont Böcklins „Religiosität“, geht aber nicht näher darauf ein, weshalb das Monogramm über der Grabkammer nun unbedingt als Ausdruck einer christlichen Ewigkeitshoffnung zu deuten ist. 159 Koch: Arnold Böcklin, 1902, S. 16.

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Abb. 44: Arnold Böcklin: Die Toteninsel, 2. Version (1880)

Die ersten beiden Strophen beschreiben das Gemälde streng vom Hintergrund zum Vordergrund. Die Darstellung ist nicht auf die Wiedergabe des rein Optischen beschränkt, sondern gleichsam durch Adjektiva und Substantiva aus dem Bereich der Akustik, Bewegung und Lichtwirkung wird insgesamt versucht, die Stimmung des Bildes einzufangen. Die dritte Strophe stellt indessen eine die gängigen Lesarten konterkarierende, eigenwillige Charakterisierung der Toteninsel dar und ist insofern überraschend, als in dem Gedicht zu Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod gerade der christliche Traditionszusammenhang des Bildgegenstandes negiert wurde. Hier werden explizit in einer Reihe rhetorischer Fragen Elemente von Totentanzdarstellungen aufgerufen und der von den frühen Interpreten symbolistisch überhöhte Tod in einen konkreten christlichen Zusammenhang gestellt. Was im Bild als antikes Zitat erscheint, wird im Gedicht christlich umformuliert, was am deutlichsten in der Bezeichnung der hellen Figur als „Pilgrim“ (V. 7) und seinem Tod als „Heimkehr“ (V. 8) zum Ausdruck kommt. Damit wird das individuelle Betrachter-Erlebnis gegenüber der von den frühen Interpreten wie Franz Hermann Meissner oder Richard Muther immer wieder betonten symbolistischen Deutung des Gemäldes als Abgesang auf die abendländische Kultur herausgehoben und die „erlebnissästhetische“ Dimension des Bildes betont.160

Eine Vergegenwärtigung des Todes angesichts einer blühenden und vitalistisch dargestellten Natur legt auch Böcklins 1888 entstandenes, im Hochformat

|| 160 Vgl. Holenweg: Die Toteninsel, 2001, S. 237; zur von aus Frankreich kommenden, namentlich von Baudelaire angeregten Diskussion um den Gegenstandsbereich von Bildbeschreibungen, die auch in Deutschland geführt wurde Hans Körner: Der imaginäre Fremde als Bildbetrachter. Zur Krise der Bildbeschreibung im französischen 19. Jahrhundert. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995 (Bild und Text), S. 397–424.

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gemaltes Werk Vita somnium breve nahe, zu dem Karl Henckell ein gleichnamiges Gedicht verfasst hat (Abb. 45). Die auf Pindar zurückgehende Wendung vom Leben als einem kurzen Traum oder Schatten eines Traumes, die der Titel zitiert, fand vor allem im barocken Welttheater-Drama und im 19. Jahrhundert etwa mit Grillparzers Der Traum ein Leben (1817/1834) prominente literarische Verarbeitungen und erlebte nicht zufällig in krisenhaften Umbruchszeiten besondere Aufmerksamkeit. In Böcklins Gemälde verdichtet sich die Spanne eines menschlichen Lebens in der symbolischen Bedeutung der einzelnen Figuren im Bild. Der dreistufige Aufbau des Bildraumes vom Vorder- zum Hintergrund rekurriert auf die drei Lebensalter. Ganz im Hintergrund und verschattet sieht man, wie der Tod auf dem Plateau einer Brunnenarchitektur – die gleichzeitig auch den Titel des Gemäldes als Inschrift auf dem Bauwerk wiedergibt – in einer gewaltsamen Szene kurz davor ist, einen alten Mann als Symbol des Lebensendes zu erschlagen. Inschrift, Titel und Gegenstand machen die Darstellung zu einem Bild von „Traum und Tod“.

Abb. 45: Arnold Böcklin: Vita somnium breve (1888)

Der um die Jahrhundertwende florierende Kult um das Leben, der sich in etlichen, den Begriff „Leben“ schon im Titel führenden Publikationen niederschlägt und für den Böcklin auch immer wieder eingenommen wurde, wird hier um eine kontemplative Todesreflexion erweitert.161 Das aus 55 Versen bestehende,

|| 161 Vgl. zum Komplex Vitalismus und Tod um 1900 die Studie von Sven Halse: Zyklischer Vitalismus. Die Dialektik von Tod und Leben in der deutschen Lyrik 1890–1905. In: Natur und

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unregelmäßig gereimte und ebenso unregelmäßig wechselnd jambische Dreiund Vierheber aufweisende Gedicht von Henckell gibt mit seiner typographisch und inhaltlich markierten Dreiteilung die Struktur des gleichnamigen Gemäldes von Böcklin wieder. Die einzelnen Teile entsprechen den drei Lebensaltern – so auch der ursprüngliche Titel des Gedichts – und folgen mit den im Bild angelegten drei horizontalen Bildebenen auch dem Blick des Betrachters. Der Sprecher fungiert in weiten Passagen als Cicerone, balladesker Erzähler und Kommentator des Dargestellten, schildert das Geschehen aber auch bisweilen aus der Perspektive einzelner Figuren aus dem Gemälde: Wie leuchten auf der grünen Au’ Die weißen Margeriten! Wie fein hat Lila, Gelb und Blau Rings eingestreut die Blumenfrau, 5 Die leise den Lenz durchschritten! Es rinnt ein flaches Wässerlein Mit seltsam kupferrotem Schein Durch saftig grüne Wiese. Ein Mägdlein und ein Knäblein spielt 10 An Baches Rand – ihr Seelchen fühlt Sich wohl im Paradiese. Zwei flackerrote Blüten hält Im Arm mein schlohweiß Bübchen Als Zepter seiner Zauberwelt 15 Er ist ein wahrer Märchenheld, Prinzeß ist ja sein Liebchen. Die stützt auf beide Ärmchen sich, Schaut neubegierig nach Der Sternenblume, die entwich 20 Hinab den Rieselbach. Die weiße Margarite schwimmt Ins himmelblaue Meer bestimmt, Es träumt das Kind und faßt es kaum – Das Leben ist ein kurzer Traum. –––––––– 25 Und höher auf dies Kindesglück Schaut eine reife Frau zurück; Sie hat am heiligen Lebensbronnen Gepflückt den Strauß der tiefsten Wonnen. Das glüht und blüht in ihrer Hand 30 Und will das reiche Rosenland,

|| Moderne um 1900. Räume, Repräsentationen, Medien. Hg. von Adam Paulsen und Anna Sandberg. Bielefeld 2013 (Edition Kulturwissenschaft, Bd. 23), S. 203–218.

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Das Land der Liebe loben – Ihr blau durchsichtiges Gewand Glänzt sternengolddurchwoben… Sieh, in die Ferne reitet Jenseits der starren Brunnensphinx, Die üppig Rosen überhängen, Der Mann zu Taten und Gesängen. Der führt im Schild kein Bild des Lamms, Wie Bärenzunge leckt sein Wams, Auf seines Rosses breitem Rücken Zieht er zum Kampf mit Schicksalstücken; Das Fähnlein weht, der Helmbusch flattert: „Zu Ruhm und Sieg, ob’s kracht und knattert!“ – Was Sieg und Ruhm! Zeus lenkt den Zaum. Das Leben ist ein kurzer Traum.

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Mit wallend weißem Haar und Bart In henkersrotem Kleide Der müde Greis es kaum gewahrt, Wie hinterrücks nach Meuchlers Art Der Lump, der leichengrüne, Ausholt, der klapprige Hüne. Mit roh zersplittertem Keulenstumpf Haut der auf den Nacken los. Tod bleibt Trumpf. Die Wolken wandern. Was raunt der Baum? Das Leben ist ein kurzer Traum.162

Aus dem anscheinend isolierten Nebeneinander der Figuren im Bild entwickelt der Erzähler im Gedicht ein Beziehungsgeflecht, das einerseits die einzelnen Teile des Textes miteinander verbindet, andererseits auch eine über die Bildgrenze hinausgehende Weiterdichtung der Bildvorlage darstellt. Das Gedicht verleiht den im Gemälde dargestellten Figuren auch durch erzählerische Mittel wie der internen Fokalisierung (V. 13–17) ein Innenleben und eine Weltwahrnehmung, als deren conclusio jeweils am Ende eines Abschnittes immer derselbe refrainartige, die Überschrift und Inschrift zitierende Vers „Das Leben ist ein kurzer Traum“ steht. Mit zahlreichen Farbausdrücken werden im ersten Teil sowohl die frühlingshafte, heitere Stimmung als auch die optische Wirkung des Gemäldes aufgerufen. Dem Lebenszeitalter der Kindheit entsprechend verwendet der

|| 162 Karl Henckell: Gipfel und Gründe. Neue Gedichte (1901–1904). Leipzig, Berlin 1904, S. 103– 105.

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Erzähler hier zahlreiche Diminuitiva (V. 10, 13, 16, 17) die das Spielerische und Unbeschwerte der Vordergrundszene veranschaulichen. Die hier trotz der Vielzahl eingesetzter rhetorischer Mittel noch dominierende deskriptive Verfahrensweise wird im zweiten Abschnitt relativiert. Die Frau und der Mann aus dem Mittelgrund des Bildraumes erscheinen in der Erzählung als die erwachsen gewordenen Kinder aus dem ersten Abschnitt, insofern das sehnsuchtsvolle Zurückblicken der Frau (V. 25–26) als Beschreibung ihrer konkreten Blickrichtung im Bild auf die Kinder und als zeitlicher Rückblick gedeutet werden kann. Der mit ihr im Gemälde in keine offensichtliche Beziehung gesetzte, sich vielmehr von der Szene abwendende Mann kann nach dieser Lesart als ihr Partner verstanden werden, was auf formaler Ebene die im zweiten Teil dominierenden Paarreime nahelegen – was ebenfalls einer Weitererzählung des Gemäldes darstellt. Der letzte Abschnitt ist gleichzeitig der kürzeste und gibt teilweise im detailgenauen Blick auf die Keule des Todes (V. 52) wieder, was sich im Hintergrund der Szene abspielt. Die Drastik der Böcklinschen Todes-Darstellung wird allerdings sprachlich nicht umgesetzt oder imitiert. Gleichwohl ist die letzte Wiederholung der Pindarschen Traumformel auch nicht mehr vom Erzähler gesprochen, sondern wird in synästhetischer und intermedialer Brechung als Raunen des Windes beschrieben. Die Statik und die Momentaufnahme des Gemäldes überführt Henckell in eine sprachlich farbenprächtige und bewegungsreiche Erzählung, die nicht im Deskriptiven verharrt, sondern die im Bild dargestellte Thematik der Vergänglichkeit des Lebens aus der sprachlichen Verlebendigung der Figuren deutet. In den Gedichten zu Böcklin-Bildern mit Todesthematik von Henckell, Wolfskehl, Koch und Bulcke kommen insgesamt vor allem für die Zeit um 1900 typische Deutungsmuster zum Zuge. Werkbiographische, von der Kunstgeschichte und Kunstkritik formulierte Interpretationsansätze treten zugunsten von Lesarten zurück, die im Horizont epochaler kultur- und literarhistorischer Phänomene wie Vitalismus, Naturalismus, dekadenter Todesverfallenheit und Spiritismus zu verstehen sind und sich mit jenen den Gemälden inhärenten ikonographischen Traditionen nicht immer decken.

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1.3 Mythologe der Wirklichkeit und „Realist des Innenlebens“ (Bierbaum): Böcklins Landschaftsdarstellungen und Meeresszenen (Henckell, Hille, Koch, Bierbaum und Liliencron) Besondere Aufmerksamkeit in der Böcklin-Rezeption um 1900 erhielten die Landschaften und mythologischen Szenen, deren Darstellung deutlich von einem (spät-)romantischen Mythologie-Verständnis geprägt ist. In dieser Tradition steht Böcklin aufklärerischer Mythenskepsis ebenso fremd gegenüber wie die Sujets seiner Gemälde geprägt sind vom Glauben an einen objektiven Wahrheitsgehalt des Mythos und einer Vorstellung der Natur als selbst gestaltendem Subjekt.163 Allerdings stieß nicht nur die unorthodoxe Malweise mit teilweise sehr dünn oft ohne Grundierung aufgetragener Farbe, sondern auch die Komposition und der bloße Gegenstand der Gemälde bis zur Entdeckung Böcklins in den 1870er Jahren vielfach auf Ablehnung seitens der Akademiemaler und konservativer Kunstkritiker.164 Erst im Zuge der auch nationalen Vereinnahmung des Künstlers als Schöpfer einer neuen Mythologie und Höhepunkt des titanischen Individualismus erregten die Werke mit Landschafts-, Meeres-, Mythos- und Natursujets bei den Dichtern der literarischen Strömungen um 1900 Interesse.165 Für den mit seinem großangelegten Werk zur Kunst des 19. Jahrhunderts berühmt gewordenen, in Breslau lehrenden Kunsthistoriker Richard Muther war Böcklin ein Künstler, „der keine Mythologie illustriert, sondern sie selbst erlebt“ und eine „mythenbildende Kraft“ besitzt.166 Böcklins Landschaftsbilder präsentieren zwar keine Szenen ohne Menschen, doch sind die Landschaftsausschnitte in auffälliger Weise von einem sichtbaren Einfluss der Zivilisation auf die Natur befreit. Schon die Zeitgenossen attestierten den Gemälden wie Villa am Meer (1865), Römische Landschaft mit Faun und Nymphen (1856), Vita somnium breve (1888) oder

|| 163 Vgl. ausführlich zur Rezeption romantischer Traditionen bei Böcklin Winfried Ranke: Böcklinmythen. In: Rolf Andree (Hg.): Arnold Böcklin. Die Gemälde. Basel, Zürich 1977, S. 64–91, hier S. 65–68; Heilmann: Einleitende Anmerkungen zur Kunst der Deutsch-Römer, 1987, S. 15. 164 Einen Überblick bietet Tittel: Die Beurteilung Arnold Böcklins in der Zeitschrift für bildende Kunst, 1977, S. 123–126. 165 Vgl. Koszinowski: Böcklin und seine Kritiker, 1983, S. 281ff. 166 Richard Muther: Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert, Bd. 3. München 1894, S. 616; zum allgemeinen kulturhistorischen Kontext und der Popularität solcher Sujets in der Nachfolge Böcklins exemplarisch Annette Runte: Narration und Bildlichkeit. Trügerische Geschlechteridyllen bei Hofmannsthal, Doderer, Böcklin und de Chirico. In: Narration und Geschlecht. Texte – Medin – Episteme. Hg. von Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick. Köln, Weimar, Wien 2006 (Literatur – Kultur – Geschlecht, Bd. 42), S. 179–204, bes. S. 193ff.

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Das Schweigen im Walde (1885) einen fremdartigen Reiz, die aus der ungewohnten und ungewöhnlichen Lichtführung herrühre.167 Gerade die in den Gemälden zur Anschauung kommende Verquickung von Traum und Wahrnehmung, realistischem Naturgefühl und mythologischer Erfahrung der Wirklichkeit greifen Dichter um 1900 in ihren Literarisierungen Böcklinscher Werke auf. Die insgesamt neun Gedichte auf verschiedene Gemälde von Böcklin (Gipfel und Gründe, 1904) des Naturalisten Karl Henckell, Peter Hilles Dichtungen zu Meeresszenen (Wellenspiel, 1902) sowie die dem literarischen Jugendstil verpflichteten Verse Otto Julius Bierbaums (Alter Wein und neues Blut, 1908) und Detlev von Liliencrons (Böcklins Hirtenknabe, 1890) stellen ausgehend von den bildkünstlerischen Vorlagen das Spannungsfeld von Mensch, Natur, Zivilisation, Geschichte und Mythologie dar und erweisen sich trotz unterschiedlicher literarischer Umsetzung der Gemälde als Wiedergänger des Symbolismus, insofern sie allesamt die in Böcklins Gemälden dargestellte Wirklichkeit als „Chiffre“ einer „tieferen Essenz“ verstehen.168 Mit Blick auf die von Böcklin übernommenen Themen und Motive wird einmal mehr deutlich, dass sich scharfe Trennlinien zwischen Dichtern unterschiedlicher Strömungen im Bereich der Böcklin-Rezeption um 1900 nicht immer so deutlich ziehen lassen wie etwa bei poetologischen Schriften oder anderen Texten. Bereits der Titel von Karl Henckells 1904 publizierter Gedichtsammlung Gipfel und Gründe, in der Dichtungen zu neun Böcklin-Gemälden enthalten sind, evoziert Naturbilder, die sich besonders bei der Literarisierung der ausgewählten Böcklin-Gemälde Schweigen im Walde, Faune und Quellnymphe, Vita somnium breve, Ein Frühlingstag oder Gefilde der Seligen verdichten.169 Allerdings werden hier nicht mehr wie bei Herder Natur und Lyrik als Naturpoesie im Sinne eines kulturpolitischen Legitimationsinstrumentes zur Deckung gebracht, sondern es wird – wie auch in der Dichtung von Arno Holz – die „Rückkehr“ zur Natur zu „einem revolutionären Akt stilisiert“.170 Gerade Böcklins Zwitterwesen und

|| 167 Dazu Ranke: Böcklinmythen, 1977, S. 67. 168 Die auffällige Anlehnung an symbolistische Motive und Traditionen scheint mir insgesamt ein zentrales Charakteristikum vieler Böcklin-Dichtungen zu sein. Vgl. zum Thema immer noch grundlegend: Paul Hoffmann: Zum Begriff des literarischen Symbolismus. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Hg. von Jürgen Brummack u.a. Tübingen 1981, S. 489–509; ferner anschaulich Horst Fritz: Symbolismus. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. von Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač. Tübingen 1994, S. 413–419, hier besonders S. 414. 169 Henckell: Gipfel und Gründe, 1904, S. 98–114. 170 Ulrich Breuer: „Farbe im Reflex“: Natur/Lyrik im 19. Jahrhundert. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer

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seltsam anmutende Figuren in seinen Landschafts- und Meeresgemälden wurden als Verkörperung einer zwar beseelten, aber dennoch künstlich geschaffenen Natur gedeutet und boten daher für die Autoren Anknüpfungspunkte für ihre Gedichte, in denen die poetische Wirkung der Gemälde selbst immer wieder in den Mittelpunkt der Literarisierung gestellt wird.171 Ein solches Betrachtererlebnis rekapituliert Karl Henckell in seinem Gedicht zu Böcklins Schweigen im Walde (1885):

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Still! Schweigendes Geheimnis künden Will weltverloren sich. Kein Laut. In dämmergrünen Waldesgründen Auf Rehes Spur Das Einhorn nur Groß auf des Mooses Sonnenzittern schaut. Wenn jetzt ein Zweig zur Erde fiele, Es wär’ ein Lärm in heiliger Ruh, Frau Märe schaut dem stummen Spiele Seltsamer Lichter staunend zu. Die Flecken an den Stämmen funkeln, Die Pilze leuchten plötzlich hell, Auf einmal liegt der Wald im Dunkeln, Laubgeister wispern leis und flüstern, – Sacht tränkt das Einhorn sich am Quell.172

Das in dem kleinformatigen Gemälde sofort ins Auge stechende, prominent im Vordergrund stehende Einhorn wird im Gedicht erst im fünften und dann wieder im letzten Vers genannt. Damit erhält schon von der ersten imperativischen, zum Schweigen gemahnenden Anrede des Lesers und Betrachters die Beschreibung des Sichtbaren und seiner Wirkung größeren Raum. Nicht auf dem sofort

|| und Claudia Stockinger. Bern u.a. 2005 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, N.F., Bd. 11), S. 141–164, hier S. 145, Zitat S. 151; Breuer verfolgt genau die poetologischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert und die lyrische Praxis und unterscheidet zwischen Lyrik über Natur und Natur als Lyrik mit folgendem Befund (S. 151): „Der Durchgang durch die Lyriktheorie belegt, daß sich bereits in der Wahrnehmung der Zeitgenossen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Auffassung von der Lyrik als Natur zu derjenigen von der Natur als Lyrik verschiebt. Zuerst bei Schopenhauer und spätestens in den Lyriktheorien Carrieres und Werners ist das Ursprungsdenken gebrochen und verabschiedet, so daß Natur aus einer Voraussetzung der Lyrik zu einem ihrer Gegenstände werden kann.“; zum Naturverständnis im Naturalismus auch zentral Kafitz: Tendenzen der Naturalismus-Forschung, 1988, S. 16ff. 171 Zum kunstkritischen und kunsthistorischen Hintergrund vgl. Koszinowski: Böcklin und seine Kritiker, 1983, S. 283. 172 Henckell: Gipfel und Gründe, 1904, S. 98.

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Offensichtlichen liegt das Interesse des lyrischen Ichs, sondern auf der aus Detailbeobachtungen gewonnenen, als Prozess dargestellten veränderten Wahrnehmung, auf die die beiden Adverbien „plötzlich“ (V. 10) und „auf einmal“ (V. 11) verweisen. Henckell interessiert bei Böcklins Schweigen im Walde also mehr die psychologische Wirkung auf den Betrachter als die künstlerische Anlage des Gemäldes. Wie bei kaum einem anderen Künstler, der um 1900 von den Autoren der literarischen Moderneströmungen rezipiert wurde, deckt sich dieses Verfahren mit der kunstgeschichtlichen Rezeption Böcklins um 1900, die geprägt ist von einem Zugriff auf die Werke, bei dem die formale Betrachtung gegenüber einer „Einfühlungsästhetik“, die nach dem Verhältnis von Betrachter und Objekt fragt, zurücktritt.173

Eine demonstrative Emotionalisierung kennzeichnet auch das Verhältnis des lyrischen Ichs zum Bildgegenstand in Henckells Gedicht Gefilde der Seligen (1877; Abb. 46), dessen Vorlage Böcklins gleichnamiges Gemälde aus dem Jahr 1877 ist. In auffälliger Weise wird die Distanz zwischen dem betrachtenden und räsonierenden Ich und der dargestellten Szene zurückgenommen. Die fünf Strophen mit je sieben Versen folgen dabei einem strengen metrischen Aufbau und Reimschema. Die trochäischen Vierheber werden durch zwei paargereimte Verse (5– 6) mit nur drei Hebungen unterbrochen. Das dadurch zustande kommende Reimschema abaaaccb gehört nicht zu den gängigen Varianten dieser ohnehin eine große Varianz aufweisenden siebenzeiligen Strophenform. Die einzelnen Strophen sind auch von der Gedankenführung, in der jeweils auch ein aus dem Gemälde genommener Komplex zur Sprache kommt, geschlossener und weisen nicht die oftmals typische, aus der Gattungstradition rührende Zweiteilung in einen Aufgesang und Abgesang auf.174

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An den seligen Gestaden, Wo im blauen Element Wunderwesen wonnig baden, Will auch ich zu Gast mich laden, Weil die Seele dort Ihren Heimatsort Nach den Wirren dieser Welt erkennt.

|| 173 Vgl. Magdalena Bushart: ‚Form‘ und ‚Gestalt‘. Zur Psychologisierung der Kunstgeschichte um 1900. In: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932. Hg. von Otto Gerhard Oexle. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 228), S. 147–179, hier S. 149ff. 174 Vgl. Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 525–527.

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Traumhaft ziehen dort die Fluten Ruhig jenseits Raum und Zeit, Keines Hauptes Wunden bluten, Nur die roten Rosen gluten, Um die Stirn gekränzt, Drauf es göttlich glänzt In verklärter Himmelsheiterkeit. Wie der Wasserspiegel, siehe! Da perlmutterfarben blinkt! Wenn der Leib sich Flossen liehe, Unten gleich zum Fisch gediehe, Oder Urweltkraft Mann wie Roß sich schafft Wellenreitens frische Labung trinkt! Schneeweiß hochgehalste Schwäne Furchen stolzgelassen hin – Mit emporgesträubter Mähne Zeigt kein Raubtier hier die Zähne, Auf beblümter Flur Streckt ein Paar sich nur Mit dem spielend unbeschwerten Sinn. Lichte Birken! Silberweiden! Lüftewispelnd, flutgeneigt. Fern von allen Erdenleiden Schöne Tänzer, sonder Neiden, Um den Lichtaltar Festgeschmückte Schaar, Draus zu blauen Höhen Wohllaut steigt.175

In Gefilde der Seligen wie in anderen Gemälden Böcklins mit mythologischem Gehalt werden nicht Götter gezeigt, die das Leben der Menschen bestimmen, sondern die Bildidee von Böcklin besteht darin, die mit „menschlichen Wesenszügen urtümlich verwandelten, naiv existierenden Naturgottheiten aus der Phantasie der antiken Welt“176 zu entwickeln, womit gleichsam ein kultur- und zivilisationskritischer Impuls einhergeht, insofern Böcklins Gemälde ja eine von Zivilisation vollkommen unberührte, mythische Welt zeigen. Böcklins Hinwendung und Verarbeitung des Mythos kann daher als Ausweg aus einer von Technik, Fortschritt

|| 175 Henckell: Gipfel und Gründe, 1904, S. 110f. 176 Heilmann: Einleitende Anmerkungen zur Kunst der Deutsch-Römer, 1987, S. 15.

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und Naturwissenschaft geprägten Gegenwart verstanden werden.177 Hierauf legt auch Henckell den Schwerpunkt. Das lyrische Ich identifiziert den Bildraum als einen der Gegenwart und den Zeitläuften entrückten Ort idyllischer Naturverbundenheit (V. 7, 9, 31) und einer im Titel schon angedeuteten antik-elysischen Stimmung, die allerdings keiner christlichen Umdeutung bedarf.

Abb. 46: Arnold Böcklin: Die Gefilde der Seligen (1877)

Das auf dem Gemälde klarer erkennbare Paar aus Zentaur und weiblicher Figur im Vordergrund hebt sich deutlich ab von den nur undeutlich erkennbaren Figuren des Hintergrundes, die nicht eindeutig als Wasserwesen kenntlich gemacht sind. Im Gedicht werden dagegen keine Figuren hervorgehoben, sondern insgesamt die Stimmung des Gemäldes betont. Das Wasser ist im Bild und auch im Gedicht das dominierende Element, mit dem durch die rhetorische Struktur auffällig zahlreicher w-Alliterationen die Zentralbegriffe der Strophen verbunden sind („Wunderwesen“, V. 3; „Wirren dieser Welt“, V. 7). Literarhistorisch und motivgeschichtlich stellt sich das Gedicht in die Tradition der (Liebes-)Lyrik des 18. Jahrhunderts und der romantischen Wassergeisterdiskurse, die allerdings hier in eine dezidiert gegenwartskritische Bildlektüre überführt werden.178

Neben solchen mythologischen Landschaftsdarstellungen wurden seit den späten 1870er Jahren vermehrt Meeres- und Wasserszenen zu einem festen Bestandteil von Böcklins Werk, wobei sich eine Abwendung von klassischen Bildtraditionen erkennen lässt, an deren Stelle die Vorliebe vor allem für niedere

|| 177 Vgl. hierzu Jochen Poetter: Studien zum Mythos im Werke Arnold Böcklins. München 1978, S. 22f. 178 Vgl. zur Tradition der Motive Monika Schmitz-Emans: Undines späte Schwester. Über Nixen und Wasserfrauen in der modernen Literatur und Kunst. In: Phantastik – Kult oder Kultur? Hg. von Christine Ivanović. Stutgart, Weimar 2003, S. 239–273.

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Meerwesen trat.179 Befördert wurde diese werkgeschichtliche Entwicklung freilich von Böcklins präferierten Urlaubsorten am Meer in den 1880er Jahren und seine Auseinandersetzung mit der romantischen Wassergeistermotivik.180 Peter Hilles Gedichte Wellenspiel (1902) und Der neue Faun (1902) rezipieren in sprachlich und formal ambitionierter Weise zwei Gemälde Böcklins und stellen einen deutlichen Bezug zur eigenen Gegenwart her, indem wiederum die zeitgenössische, kunstwissenschaftlichen Deutung verworfen und eine eigene Interpretation der Gemälde präsentiert wird. Die Vorlage für Hilles Dichtung Wellenspiel bildet Böcklins 1886 entstandenes Gemälde Das Spiel der Najaden (1886; Abb. 36), das eine Felsenklippe inmitten einer aufgewühlten, stürmischen See zeigt. Kontrastierend zu den in dunklen Tönen gehaltenen Felsen und dem Meer sind die aufschäumenden Wellen und die Nixen in hellen Farbtönen gehalten. Geprägt ist die Szene von überwiegend jungen und kindlich wirkenden Najaden, die Vergnügen daran haben, die Felsen zu erklimmen und wieder ins Meer zu rutschen. Im Wasser dagegen sind etwas älter wirkende Meerjungfrauen und zwei offenbar männliche Meereswesen zu sehen. Die letzten beiden der insgesamt sieben Strophen bestehen nicht wie die übrigen aus vier paargereimten Versen, sondern aus fünf bzw. sieben Versen und weisen auch nicht mehr das Paarreimschema auf. Zahlreiche Alliterationen, Wortwiederholungen und Neologismen prägen den Text ebenso wie die daktylisch regulierten Verse, die die Bewegtheit des Bildgegenstandes nachempfinden: Heiteres Leuchten im braunen Gesicht, Wählig der Himmel hinrollendes Licht, Prächtige Bläue so unten, so oben, Singender Jubel, freudiges Toben. 5

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Greifende Arme ins tolle Gemisch, Kinder mit Flossen, zappelnder Fisch, Fassen und flehen, krähen und haschen, Taumeln und tauchen, springen und waschen. Siehe der Väter verwunderlich Treiben, Wissen vor Freude nirgends zu bleiben,

|| 179 Grundlegend hier Andrea Linnebach: Böcklins Meeresszenen: „Klassische“ Ikonographie und „Deutsche Mythologie“. In: „In uns selbst liegt Italien“. Die Kunst der Deutsch-Römer. Hg. von Christoph Heilmann. München 1987, S. 60–69. 180 Vgl. Ranke: Böcklinmythen, 1977, S. 87.

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Greifende Arme ins tolle Gemisch Fassen die Kinder, fassen den Fisch.

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Schauen ihr lachendes Weltwunder an, Ja, so ein Vater, das ist euch ein Mann. In seinem Kinde ist nochmal sein Leben, Kann sich nun selber ja schwingen und heben.

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Wie eine Sonne, die selber sich scheint, Einmal rosig, das andere gebräunt, Wirft an das Licht sein fliegendes Wunder, Das an der Brust hält glattzackig Flunder.

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Auf grünem Gesteine rotflossige Hand, Goldüberrollt ins verschwimmende Land Schauen zwei Augen, Sterne stiller Freude, In verschwindende Weite. Lustige Väter, junge berauscht, Schleudern mit Flossen ausspannender Hand Schuppenumglitzerte Kinder Krähend ans Land –

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Mutter lauscht. So ist es, daß die Erden Von allem Wachsen schöner werden.181

In den ersten beiden Strophen sind die spielenden Meereskinder im Mittelpunkt, wobei auch die Nixen als „Kinder“ (V. 6) bezeichnet werden. Zwischen der Semantik des Wortes im normalsprachlichen Gebrauch und hier in der Verwendung für mythologische Wesen wird kein Unterschied gemacht. Die einzelnen Wesen werden zudem entindividualisiert, indem die spielenden jungen Zwitterwesen nur paraphrasenhaft durch „Heiteres Leuchten“ (V. 1, 48) und „Singender Jubel“ (V. 4) bezeichnet werden. Der Bewegtheit des Bildes entsprechen auf der sprachlichen Ebene die unvollständige syntaktische Struktur der Verse und insgesamt der assoziative Charakter des Sprechens, in dem der unruhige Blick des Betrachters nachvollzogen wird. Ab der dritten Strophe wechselt die Perspektive. Im Mittelpunkt steht die Beobachtung des Treibens durch die „Väter“ (V. 9, 14), denen aus der Schilderung des völlig zurückgenommenen Sprechers Freude und Stolz

|| 181 Peter Hille: Gesammelte Werke in sechs Bänden, hier Bd. 1: Gedichte und Schriften. Hg. von Friedrich Kienecker. Essen 1984, S. 48.

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über das Spiel der Kinder attestiert wird. Durch das Mittel der Epanalepse werden auch die alltagsprachlichen Begriffe aus dem Bereich der Familie und der Wassermythologie miteinander vermischt: „Fassen die Kinder, fassen den Fisch“ (V. 12). Die zeitgenössische Kunstkritik hat zurecht in dem Gemälde eine Tendenz zur „gründerzeitlichen Meeres- und Sturmflut-Mythologie“ gesehen, mit dem gleichsam auch Böcklins Orientierung am „Erwartungshorizont“ des deutschen Publikums offensichtlich werde.182 Dahinter verbirgt sich freilich auch ein kulturhistorischer Diskurs zum Wert von Familie, Partnerschaft und Kindern. Gerade diese Dimension von Böcklins Gemälde scheint Hille besonders interessiert zu haben, der aus der mythologischen Meeresszene im Gedicht auch ein Loblied auf die Familie macht. Denn die in den mittleren Strophen im Mittelpunkt stehenden Väter erleben durch die Kinder eine Art Wiedergeburt ihrer Jugend. Erst in den letzten beiden Strophen tauchen die Mütter auf, die wohl hinter der metaphorischen Umschreibung „Sterne stiller Freude“ (V. 23 und V. 30) zu vermuten sind. Gleichzeitig werden im Bild nur undeutlich erkennbare Details benutzt, um diesem Loblied der Familie auch einen Ton unterschwelliger Sexualität zu verleihen. Denn an einer Stelle geht Hille über das im Gemälde Sichtbare hinaus. Zwar sind dort zwei männliche Wesen zu sehen. Doch die nur schwer erkennbare Figur im Hintergrund nähert sich in wenig väterlicher, sondern eher in lüsterner Weise den jungen Nixen.183 Gerade Böcklins niedere, eine urtümliche Natur jenseits zivilisatorischer Errungenschaften und gesellschaftlicher Schranken verkörpernde Meereswesen bieten also für den Dichter genügend interpretatorische Offenheit, um die Szene im Gedicht zu einer Allegorie menschlicher Sinnlichkeit und Sexualität zu machen. Den Geschlechts- und Sexualtrieb arbeitet Hille auch als Zentralthema in seinem aus drei Strophen bestehenden Gedicht Der neue Faun heraus. In dem Gedicht verschmelzen gleich mehrere Gemälde Böcklins, von denen keines als

|| 182 In Anlehnung an Jost Hermand arbeitet Linnebach: Böcklins Meeresszenen, 1987, S. 64f. die für Böcklin naheliegenden Bezugspunkte zum gründerzeitlichen Verständnis solcher Wassermythologie heraus, auch um sich auf dem Markt zu platzieren. Die Forschung hat dem bisweilen widersprochen und gerade den kontrafaktorischen Charakter von Böcklins Meeresszenen herausgearbeitet; zum literarhistorischen Kontext vgl. Peter Sprengel: Meerfrauen, Kentauren und andere Fabelwesen. Paul Heyses Phantastik zwischen Böcklin und Genelli. Mit unveröffentlichten Briefen beider Maler an Heyse. In: Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern. Hg. von Konstanze Fliedl. Berlin 2013, S. 51–85. 183 So deutet auch Ranke: Böcklinmythen, 1977, S. 86f. das Gemälde. Vgl. insgesamt zum Sexualdiskurs um 1900 die einleitenden Bemerkungen bei Johannes R. Pankau: Sexualität und Moderne. Studien zum deutschen Drama des Fin de Siècle. Würzburg 2005 (Wedekind-Lektüren, 4), bes. S. 28–85.

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eindeutige Vorlage bezeichnet werden kann, zumindest existiert kein Bild mit diesem Titel. Von den zahlreichen Werken mit Pan- und Faunmotiv bieten das 1855/56 entstandene Waldrand mit Faun und Nymphe (Abb. 47) und Pan im Schilf von 1858 (Abb. 33) die deutlichsten Anhaltspunkte für Hilles Vorlage.184

Abb. 47: Arnold Böcklin: Waldrand mit Faun und Nymphe (1855/1856)

Das Gedicht besticht durch einen Überraschungs- und Verfremdungseffekt, indem in die mythologisch-urtümliche Landschaft, die in der ersten Strophe entworfen wird, ab der zweiten Strophe die moderne Zivilisation mit „Badewärter“ (V. 6) und „Fernglas“ (V. 7) einbricht: Blau leuchtet die Größe des Himmels hernieder, In weichem Lichte glänzen die Glieder. Nur ist es verboten, sie anzuschauen: Mit männlichem Auge die badenden Frauen 5

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Kein knisterndes Schilf, kein kicherndes Lachen, Die Augen der Badewärter wachen. Da hab’ ich nun mein Fernglas genommen Und habe von ferne die Dünen erklommen. Wie Kandidaten der Venus mit wallenden Mänteln kommen an sie gegangen:

|| 184 Kranz: Das Bildgedicht, Bd. 2, 1981, S. 924 schlägt Römische Landschaft mit Faun und Nymphe als Vorlage vor. Ein Gemälde mit diesem Titel existiert aber nicht, vgl. Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde, 1998, S. 566–570.

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Ein Musenchor mit flatternd abfallenden Weißscheinenden Mänteln kommt es gegangen. Ein Musenchor: wie große Vögel flatternd fallenden.185

Der getragene und gleichmäßige Rhythmus daktylischer Dreiheber der ersten Strophe wird zunehmend ab der zweiten Strophe durchbrochen, so dass auch auf der formalen Ebene eine – wenn auch schleichende – Zäsur zu beobachten ist. Fühlt sich der Leser in der ersten Strophe noch in die arkadisch-sinnliche Landschaft der Böcklinschen Bildwelt versetzt, markieren die wiederholte anaphorische Verneinung eben jener bildkonstituierenden Motive des „Schilf“ und des „kichernden Lachen[s]“ (V. 5) eine kritisch hinterfragte Distanz der eigenen Lebenswelt zum Böcklinschen Kosmos der Sinnenfreuden. Das lyrische Ich gibt sich als Zeitgenosse der Jahrhundertwende zu erkennen, imitiert aber mit modernen Instrumenten die Handlungen der Faune, wie sie in Böcklins Gemälden zu sehen sind. Es geht dem lyrischen Ich also um die Erklärung einer Wesensverwandtschaft des modernen Menschen mit den von Böcklins Faun- und Pandarstellungen verbundenen sinnlich-erotischen Elementen. Die Erregtheit des Beobachters wird vor allem in der um einen Vers erweiterten letzten Strophe in der Unruhe der Enjambements, Wortwiederholungen und Inversionen zum Ausdruck gebracht. Hille interessiert hier nicht so sehr die Beschreibung eines einzelnen Gemäldes, sondern ihm geht es um die vom Gegenstand her ableitbare Bedeutung des menschlichen Geschlechtstriebes. Auch die Gedichte des Jugendstil-Autors Otto Julius Bierbaum literarisieren zwar einzelne Gemälde des Schweizer Künstlers, verselbständigen aber ebenfalls den vom Kunstwerk vorgegebenen Inhalt. Der bei vielen bisher behandelten Gedichten explizit oder implizit thematisierte Diskurs zur Übersetzung von Bildinhalten und Bildgegenständen in Literatur wird zugunsten eines mit dem Gedicht neu geschaffenen Kunstwerks ausgeblendet, was Bierbaum in ästhetischen und essayistischen Schriften auch immer wieder betont.186 Das poetische Potential der Böcklinschen Gemälde hat Bierbaum bereits in seinem Beitrag von 1893 im Magazin für Litteratur herausgehoben. Die epochale kulturhistorische Konstellation und die daher rührende Dominanz Böcklinscher Gemälde in der literarischen Rezeption hat Bierbaum in seinem Böcklin-Essay nicht zuletzt auch durch eben jenen poetischen Charakter der Werke selbst erklärt, die er als „Farbengedichte“ bezeichnet:

|| 185 Hille: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 1, 1984, S. 50. 186 Vgl. Kranz: Das Bildgedicht in Europa, 1973, S. 15ff.; Kranz: Das Bildgedicht, Bd. 1, 1981, S. 131.

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Für Böcklin war Graf Schack in München einer der ersten, welcher den Verkannten innerlich stärkte durch lebhaftes, warmes Anerkennen, und er war der erste überhaupt, der auch äußerlich wirklich half: niemals darf ihm dies Verdienst vergessen werden. Es gehörte Mut und Herz dazu, in einer Zeit, da man einer leer-schönen Aeußerlichkeit anhing und noch kein Gefühl hatte für das innerlich Schöne des Charakteristischen, für die kühne Poesie einer Malerei, welche den Blick nicht allein auf Farben und Formen, sondern in die Seele zu lenken sich vermaß. Das war es ja, weswegen Böcklin so hart zu kämpfen hatte mit seiner Zeit: seine neue Schönheit, die Schönheit der innerlichen Erfüllung mit eigenster Poesie. Es war eine Zeit der Eigenartlosigkeit, eine gemächliche und behutsame Epigonenzeit in jeder Kunst, da noch nicht der Trieb des Individualismus in den Künstlerherzen gährte und drängte nach dem Einen und Höchsten: sich selber schrankenlos auszuleben. […] Da kam Böcklin, der erste kräftige Individualist, der rücksichtslos sein höchst persönliches Sehen und Fühlen betonte: nach einer ungezählten Schar von Lehnseelen der erste souveräne Künstler. […] Einen Realisten des Innenlebens möchte man darum Böcklin nennen, den Realisten des Traumbildes. […] Und darum, weil das Empfinden unserer Zeit entgegen dem Empfinden der letzten Epochen, sich zum Natürlichen, Naiven zurückzuwenden bemüht, darum wirkt jetzt auf uns der Meister von Zürich so warm und freundlich. In ihm steckt unverbrauchte Volksgemütskraft, Naturmenschentum, ein großer Herzschlag und ein unbekümmertes Fühlen: künstlerische Parsifalnatur. In den Farbengedichten Böcklins, die sehr häufig der Gattung der Idylle angehören, drückt sich dieser schlichte, grundkräftige Geist in entzückender Klarheit aus: es sind Naturdichtungen voll der Glückseligkeit dessen, der sie schuf und voll der Schönheit und Majestät der Natur selber. Sprechend tritt die Natur auf in der Zwiesprache mit Mensch und Tier und Fabelgeschöpf.187

In der Lyrik verfolgte Bierbaum die programmatische Absicht, den „impressionistischen Reiz des Augenblicks“ mit der Forderung nach einer entschiedenen künstlerischen Individualität zu verbinden, was mithin auch auf seine BöcklinGedichte zutrifft. Aus kunsthistorischer Sicht ist dabei freilich bemerkenswert, dass Bierbaum damit zwei scheinbar konkurrierende Rezeptionstraditionen miteinander vermischt: Auf der einen Seite steht Böcklin als der große Individualist und titanische Schöpfer, dem schon die Autoren der Gründerzeit und des späten 19. Jahrhunderts in teils nationalistischer Absicht huldigten. Auf der anderen Seite sind Bierbaums eigene Dichtungen zu Böcklin gerade der Momentaufnahme verpflichtet, als deren Ausgangspunkt er selbst wiederum die durch die Naturalisten geförderte Naturbeobachtung markiert.188

|| 187 Otto Julius Bierbaum: Arnold Böcklin. In: Das Magazin für Litteratur 22, 9 (1893), S. 140– 142, hier S. 140 bzw. 141, 142. 188 Grundlegend als Überblick zu Bierbaum immer noch Dushan Stankovich: Otto Julius Bierbaum – eine Werkmonographie. Bern, Frankfurt am Main 1971 (Australisch-Neuseeländische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 1), hier bes. S. 24–30; zur Charakterisierung Böcklins als großen Individualisten und Bierbaums eigenen programmatischen Forderungen nach einem lyrischen Individualismus vgl. auch Robert W. Rogers: Nationalismus in der

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Da das seelische Leben des Menschen auf den nämlichen Grundlagen beruht, wie das sinnenäußere, so ist natürlicherweise kein Grund vorhanden, warum der Künstler das Seelenleben nicht auch nachschöpferisch darstellen, in eine künstlerische Welt sichtlich hineinschaffen sollte. Je mehr ächte, gesunde Naturkraft in ihm steckt, um so ächter, gesunder wird er sie auch hier verwenden können. Organisch weiterbildend kann er mit ihr machen, was ihm beliebt. So schafft Böcklin. Er malt die Natur nicht ab, er malt der Natur nach. Manche Farben und Dinge auf seinen Bildern werden in der Wirklichkeit nicht erschaut, sie wären also nicht realistisch im strikten Schulbegriffe, aber von irgendwelchem Idealisten, von irgend welchem Schönermachen, irgend welchem Bemühen, sie landläufigen Schönheitsbegriffen näher zu bringen, ist auch nichts zu spüren.189

Die divergierenden Rezeptionslinien in der Kunstliteratur und Kunstkritik um 1900 mit Impressionismusverfechtern auf der einen Seite und Böcklinapologeten auf der anderen Seite – was sich später vor allem mit den beiden Namen Julius Meier-Graefe und Henry Thode verbindet – führt Bierbaum in seinem Essay und in seinen Gedichten zusammen. Aus kulturhistorischer und rezeptionsgeschichtlicher Sicht stellen seine Überlegungen und Gedichte zu Böcklin eine versöhnliche Synthese unterschiedlicher Böcklin-Deutungen dar.190 Die in Bierbaums Böcklin-Gedichten zu beobachtende bewusste Rückbindung der Bildlektüre an alltagsweltliche Erfahrungen und Erlebnisse scheint nicht zuletzt dem kulturellen Klima der Münchner Moderne und den dort nicht allzu restriktiv gezogenen Grenzen zwischen Naturalismus, Jugendstil und Impressionismus geschuldet zu sein.191 Bierbaum kam 1889 zum ersten Mal nach München und kehrte nach Zwischenstationen in den 1890er Jahren unter anderem in Berlin – wo er auch mit Meier-Graefe den Pan herausgab – 1905 nach Pasing zurück. In diesen Jahren entstanden auch seine Künstlermonographien zu Arnold Böcklin, Franz von Stuck, Fritz von Uhde und Hans Thoma, die neben der Zusammenarbeit mit den Künstlern Felix Valloton, Emil Rudolf Weiß und später Peter Behrens als Gestalter seines Kalenderbuches Der bunte Vogel eindrücklich Bierbaums Kennerschaft

|| deutschen Kunst. Die Forderung nach einer deutsch-nationalen Kunst im Wilhelminischen Deutschland – Eine Analyse anhand der Kunstzeitschrift „Die Kunst für Alle“ unter der Herausgabe Friedrich Prechts 1885–1903. Freiburg im Breisgau 1998, hier S. 313. 189 Bierbaum: Arnold Böcklin, 1893, S. 141. 190 Zum Hintergrund der vielfach schon erwähnten Lagerbildung in der Kunstliteratur vgl. Greten: Böcklinkritik, 1989, S. 93ff. 191 Speziell mit Blick auf Bierbaum vgl. Nicole Pelletier: Otto Julius Bierbaum et la modernité munichoise. In: Munich 1900 site de la modernité. München 1900 als Ort der Moderne. Hg. von Gilbert Merlio und Nicole Pelletier. Bern u.a. 1998 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongressberichte, Bd. 47), S. 189–201; im selben Band auch der Beitrag von Horst Möller: München um die Jahrhundertwende (S. 33–55) sowie Walter Müller-Seidel: Zur geistigen Situation im München der Jahrhundertwende (S. 51–72).

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der Bildenden Kunst belegen.192 Neben der lyrischen Auseinandersetzung mit Bildender Kunst machen den Großteil seiner Gedichtsammlungen Erlebte Gedichte (1892) und Nemt, Frouwe disen Kranz (1894) Naturbeobachtungen und die Literarisierung von Stimmungen aus, wobei von der älteren Forschung vielfach auf die Bedeutung der Bildgedichte für Bierbaums Naturlyrik hingewiesen wurde.193 Die meisten Gedichte der früheren Sammlungen wurden zusammengeführt in dem 1901 erschienenen Band Irrgarten der Liebe. Verliebte, launenhafte und moralische Lieder, Gedichte und Sprueche aus den Jahren 1895 bis 1900. 194

Abb. 48: Arnold Böcklin: Sieh es lacht die Au (1887)

In den aus jenem Band stammenden Gedichten Alter Wein und junges Blut (Zu Böcklins Altrömischer Weinschenke) und Die Mauer entlang, in dem erst im letzten Vers auf Böcklins Sieh, es lacht die Au (1887; Abb. 48) als bildkünstlerischen || 192 Zum Überblick der Artikel von Detlef Haberland und Thorsten Fitzon: Otto Julius Bierbaum. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 2. Berlin, New York 2008, S. 540– 542; im größeren Zusammenhang Stankovich: Otto Julius Bierbaum, 1971, S. 33ff.; neuerdings auch Franz Adam: „In schweigender Nacht draußen vor München“. Otto Julius Bierbaums Pasinger Jahre und sein Zeitroman ‚Prinz Kuckuck‘ (1906/07). In: helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang Walliczek. Göppingen 1999, S. 361–387, bes. S. 364f.; Erich Unglaub: Beziehungen auf Umwegen: R.M. Rilke, O.J. Bierbaum, F. Blei und M. Schwob. In: Gallo-Germanica. Wechselwirkungen und Parallelen Deutscher und Französischer Literatur. Hg. von Eckhard Heftrich und Jean-Marie Valentin. Nancy 1986, S. 273–292. 193 Vgl. Hellmut Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung. Leipzig 1935 (Palaestra, Bd. 199), S. 232ff.; im Zusammenhang der Lyrikproduktion Bierbaums auch Stankovich: Otto Julius Bierbaum, 1971, S. 58–99. 194 Im Verlag der Insel bei Schuster und Loeffler, Berlin, Leipzig 1901.

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Bezugspunkt hingewiesen wird, lässt sich ein signifikanter Wandel in der lyrischen Böcklin-Rezeption festmachen, der vor allem im Horizont der den Jugendstil bestimmenden Versöhnung von Leben und Kunst zu deuten ist.195 Nicht mehr die in den Werken immer wieder gesehene ideologische und inhaltliche Exklusivität und Entrücktheit der Gemälde macht Bierbaum für seine Literarisierung fruchtbar. Vielmehr überführt er die Bildgegenstände in einen Gebrauchszusammenhang, was sich vor allem im Umgang des lyrischen Ichs mit der Bildvorlage bemerkbar macht. In seinem Gedicht Die Mauer entlang (Böcklin) löst Bierbaum die regelmäßige Versbindung fast völlig auf. Von den aus fünf, sechs und sieben Zeilen bestehenden drei Strophen lässt nur die letzte eine Regelmäßigkeit von vier – meist jambisch regulierten – Hebungen erkennen. Die äußere Form wird zugunsten der Betonung der Frühlingsstimmung und erotischen Spannung zwischen lyrischem Ich und der apostrophierten Geliebten aufgebrochen:

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Die Mauer entlang, Wo das Wässerchen rinnt, Wo die Rosablüte des Apfelbaums Das ernste, dunkle Baumgrün grüßt, Da stehen die schönsten Blumen. Von jeglicher Art, Vielfarbenhell, Leis duftgewiegt und schattengeschützt Lachen sie her aus grünem Gras; Ach, wollen sie sterben im Frühlingsglanz? Ich breche die flammglührote. Dir, Liebe, geb ich sie, die du still Im schwarzen Kleide traurig gehst Zwischen Lautenschlag und blühender Pracht An deiner Brust aufprange sie hell, In dein Herz lohe ihre Lebensrot, Dir singe ihr Duft aus tiefem Kelch: Sieh, dir auch lacht die Au!196

|| 195 Zum ersten Überblick Horst Fritz: Jugendstil. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. von Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač. 2., neu bearbeitete Al. Tübingen 1993, S. 219–223. 196 Hier nach der zweiten Auflage zitiert: Otto Julius Bierbaum: Der neubestellte Irrgarten der Liebe. Um etliche Lauben vermehrt. Verliebte/ Launenhafte / Moralische und andere Lieder / Gedichte u. Sprueche aus den Jahren 1885–1905. Mit Leisten und Schlussstuecken von Heinrich Vogeler. Leipzig 1908, S. 382.

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Den Bildbezug zu Böcklins Sieh, es lacht die Au (1887) stellt erst der letzte Vers her, der auch die Identifizierung der in schwarz gekleideten, angesprochenen Liebe (V. 13) als Figur des Gemäldes im Nachhinein ermöglicht. Das heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt befindliche Werk zeigt eine Frühlingsszenerie, die durch in der Mitte aufragende Baumstämme und den im Gedicht genannten kleinen Fluss (V. 2) deutlich in zwei Hälften geteilt wird, in denen vom Betrachter aus links zwei an einer Mauer Blumen pflückende Frauen zu sehen sind, die sich einer Gruppe von drei Frauen, von denen die im Vordergrund befindliche eine Laute spielt, zuwenden. Realien und Motive des Gemäldes werden im Gedicht zwar zitiert, doch ist ganz offensichtlich die Evokation einer bestimmten Stimmung das Hauptinteresse des lyrischen Ichs. Die Neologismen (V. 7, 8, 11) und Farbadjektiva (V. 3, 4, 7, 11, 13) demonstrieren die für die Jugendstildichtung typische Dominanz visueller Eindrücke, die hier eine dezidiert sinnliche Atmosphäre und Stimmung erzeugen und damit die Bildlektüre zu einem Erlebnis stilisieren, das sich vor allem auch durch das Körperbewusstsein des lyrischen Ichs auszeichnet (V. 12–18).197 Für den zeitgenössischen Rezipienten war zudem der Bezug zwischen Böcklins Gemälde und Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal (1878) durch das Titelzitat offensichtlich.198 Das Zitat „Sieh! Es lacht die Aue“ stammt aus dem Gespräch zwischen Parsifal und dem Gralsritter Gurnemanz im dritten Akt – dessen Szene ebenfalls eine Frühlingsaue ist – und wird von Bierbaum leicht variiert (V. 18). Die Ergänzung „dir auch“ legt allerdings nahe, dass es sich eben nicht um die Figurenrede einer der Personen des Gemäldes handelt, sondern dass das lyrische Ich den Bildgegenstand in die Alltagswelt überführt und einen potentiellen Rezipienten damit direkt anspricht. Dem in den Bildgedichten des George-Kreises und auch bei Karl Henckell und Peter Hille gesuchte Anschluss an die von der Kunstliteratur vorgegebene || 197 Zur Bedeutung von Sprache, Bildwelt und Metaphorik in der Dichtung des Jugendstils vgl. Joachim W. Storck: „Jugendstil“ – ein literaturgeschichtlicher Epochenbegriff? Aspekte und Kriterien. In: Im Dialog mit der Moderne. Zur deutschsprachigen Literatur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Jacob Steiner zum sechzigsten Geburtstag. Hg. von Roland Jost, Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Frankfurt am Main 1986, S. 106–130, bes. S. 118–123; Volker Klotz: Jugendstil in der Lyrik. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung 4 (1957), S. 26–34, hier S. 32f.; ferner auch zum Thema die grundlegenden Darstellungen, die vor allem auch die Forschungsgeschichte und Möglichkeiten neuerer Definitions- und Abgrenzungsmodelle des Jugendstils problematisieren: Cornelia Blasberg: Jugendstil-Literatur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 682–711; Dominik Jost: Literarischer Jugendstil. Stuttgart 1969; am umfangreichsten immer noch der aus den drei Teilen in der Deutschen Vierteljahrsschrift 1964 hervorgegangene Bericht von Jost Hermand: Jugendstil. Ein Forschungsbericht (1918–1962). Stuttgart 1965. 198 Vgl. Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde, 1998, S. 475.

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„daimonische“ Charakterisierung Böcklinscher Naturszenen, mythologischer und antiker Darstellungen folgt Bierbaum ebenfalls nicht.199 In seinem aus drei Strophen zu elf, vier, neun und wieder vier Versen bestehenden Gedicht Alter Wein und junges Blut (Zu Böcklins Altrömischer Weinschenke), das durchgehend reimlose, trochäische Vierheber aufweist, wird die vielfach betonte entrückte und entrückende Wirkung und Dimension des Gemäldes aufgegeben. Sowohl auf lexikalischer als auch bildlicher Ebene wird vielmehr die eigene Gegenwart als Betrachterbezug deutlich gemacht. Der Wortbestand des Gedichts reflektiert die dionysische Stimmung des Werkes, verzichtet aber gänzlich auf eine schwermütige Ausrichtung oder Thematisierung historischer Lesarten des Gemäldes als Opferfeier oder Kultszene (Abb. 38).200 Es präsentiert eine durch spielerisches Agieren der Figuren (V. 4, 5, 8) bewegte Landschaftsszenerie, deren Beschreibung das lyrische Ich zudem durch onomatopoetische und der Alltagssprache entnommene Ausrufe eine heitere Note verleiht (V. 11: „Pfui“, V. 14: „hoppla“, V. 15: „Pst“):

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Alter Wein und junges Blut Tanzen durcheinander. Blumenmädchen, wirf die Rosen, Wirf die Rosen aus dem Schurze, Wirf die Rosen auf den Weg! Sieh, wir taumeln in geschienten Gliedern mit dem blauen, schweren Stahlhelm, taumeln wie am hohen Himmel die betrunkenen grauen Wolken. (Oder sind es Schläuche?) Pfui, wer wird hier stille stehn? Zwar, dort in den Rhododendren Lauern niederträchtige Dornen, Und es scheint mir, hoppla, Mädchen, Hinter ihnen schnarcht der Tod. Pst! Kommt! Auf den Zehenspitzen Schlüpfen leis wir in den Keller! Wo im Sand die spitzen Krüge

|| 199 Vgl. Kozljanič: Böcklin und die daimonische Dimension der Natur, 1998/99, S. 106f. 200 Das Gemälde liegt in verschiedenen Fassungen vor. Bierbaum wird wohl die seit 1865 in der Münchner Schack-Galerie – wo sich das Gemälde auch heute noch befindet – gesehen haben. Aspekte des Werkes, die vor allem die Kunstliteratur immer wieder herausgehoben hat – wie etwa die polychrome Darstellung antiker Architektur – beachtet Bierbaum nicht. Vgl. Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde, 1998, S. 289–292.

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Mit den dicken Bäuchen stehn. Kommt, wir machen eine Kette! Erst zwei stahlbeschiente Beine, Dann zwei nackte, schlanke, weiche, Und so nach der Regel weiter, Die Ovid beschrieben hat. Laßt den Tod im Busche schnarchen! Wenn die sehr betrunknen Wolken Sich auf Jovis Knien lagern, Legen wir uns neben ihn.201

Vor allem wird die Bedrohung diesseitiger Freuden durch den Tod entschärft, indem dieser nur noch als Nebenfigur und schnarchend hinter der Hecke (V. 14, 24) wahrgenommen wird. Die mitunter flapsige Wortwahl, der spielerische Ton und wiederum die betonte Körperlichkeit (V. 15–27) sollten jedoch nicht dazu verleiten, Bierbaums Böcklin-Gedicht als Umdeutung eines Böcklinschen Gemäldes zur reinen Dekoration zu verstehen oder darin die Transformation eines Bildes in ein „launisches Trinklied“202 zu sehen. Die Bewegtheit des Textes und die hervorgehobene Ausgelassenheit der beschriebenen Szene sind sowohl der Jugendstilästhetik als auch der Lebensreform um 1900 verpflichtet, womit gleichsam die literarische Böcklin-Rezeption bei Bierbaum auch an ideologischer Schärfe verliert. Sowohl Stilhöhe und Lexik als auch der lockere Umgang mit der Bildvorlage weisen Bierbaums Böcklingedichte als erlebnishafte Momentaufnahmen aus, denen an einer Demonstration überzeitlicher Bedeutung der Gemälde weniger gelegen ist, als das bei anderen Dichtern und Kunstliteraten der Fall gewesen ist.

Mit Böcklin hat die Literaturgeschichte des Bildgedichts um 1900 noch einmal einen zeitgenössischen Künstler als Leitfigur aufzuweisen, der über ästhetische und weltanschauliche Grenzen verschiedener literarischer Strömungen hinweg als Garant der eigenen vertretenen Positionen funktionalisiert werden konnte. Waren die Widmungsgedichte oftmals im Kontext persönlicher Bekanntschaften und Wertschätzungen entstanden und literarisierten einen titanischen Künstlerheros und Erneuerer, was nicht wenig zur Popularisierung und Anerkennung des Künstlers beitrug, so wurden einzelne seiner Gemälde von Dichtern des

|| 201 Otto Julius Bierbaum: Der neubestellte Irrgarten der Liebe. Um etliche Lauben vermehrt. Verliebte/ Launenhafte / Moralische und andere Lieder / Gedichte u. Sprueche aus den Jahren 1885–1905. Mit Leisten und Schlussstuecken von Heinrich Vogeler. Leipzig 1908, S. 323f. 202 Meier: Böcklin-Gesänge, 1977, S. 132f.

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(Früh-)Naturalismus, Symbolismus und der Décadence letztlich in Anlehnung an das ut- pictura-poesis-Prinzip zum Vorbild für das eigene Dichten erhoben. Die unterschiedlichen Charakterisierungen Böcklins und seines Werkes in der Kunstgeschichte und Kunstkritik boten dabei stets Anknüpfungs- und Abgrenzungspunkte. Der ideologischen, nationalistischen Vereinnahmung des Schweizer Künstlers in der Kunstliteratur sind die Dichter indessen nicht gefolgt. Die lyrische Böcklin-Rezeption ist unabhängig davon völlig eigenständige Wege gegangen.

2 Vom Kunstwerk zur Dichtkunst. Poetische Standortbestimmungen zwischen Ästhetizismus und Expressionismus (1895–1913) 2.1 Ästhetizistische Weltverrätselung, dekadente Farbenphantasien und künstlerische Selbstbestimmung: Emil Jakob Schindler, Edvard Munch, Diego Velázquez, Fra Angelico und Rembrandt in Gedichten der Jahrhundertwende (Felix Dörmann, Max Dauthendey, Stefan George und Rainer Maria Rilke) Der Streit um den Vorrang deutscher oder französischer (moderner) Kunst in der Kunstgeschichte, der sich in den Jahren um die Jahrhundertwende formierte, fand in deutschsprachigen Bildgedichten keinen Widerhall. Gleichwohl ist auffällig, dass nur wenige – zu den avantgardistischen Strömungen um 1900 gehörende – deutsche Autoren Gedichte auf Künstler oder Kunstwerke des französischen Impressionismus verfasst haben. Rainer Maria Rilkes 1907 entstandenes Gedicht Die Dame auf dem Balkon nach Édouard Manets Gemälde Der Balkon (1868) ist dabei eine der wenigen Ausnahmen. Mögen die Sujets mit momenthaften Natur- und Landschaftsaufnahmen oder auch Alltagsszenen der meisten impressionistischen Gemälde nur wenig Anknüpfungspunkte einer Literarisierung über eine stimmungsvolle Nachdichtung hinaus geboten haben, so ist doch erstaunlich, dass skandalträchtige Werke wie Manets Frühstück im Grünen (1863) in der deutschsprachigen Dichtung keine Beachtung fanden. Nicht einmal Felix Dörmann, der in seinen erotischen und erotisierenden, für damalige Verhältnisse skandalösen frühen Gedichten immer wieder die Grenzen des guten bürgerlichen Geschmacks überschritt, rezipierte in seinen Dichtungen nicht Werke der französischen modernen Malerei, sondern bedichtete den poetischen Realisten Emil Jakob Schindler. Die im Folgenden behandelten Bildgedichte von Autoren der Jahrhundertwende – Felix Dörmann, Max Dauthendey, Stefan George und Rainer Maria Rilke – zeichnen sich daher vor allem durch die Heterogenität der behandelten Werke aus, was eine deutliche, gattungsspezifische Abgrenzung von Prosatexten aus Zeit um 1900 möglich macht. Denn in Prosa-Bildbeschreibungen derselben Zeit dominieren Texte zu Künstlern wie Tizian, Chardin, Rubens, Blechen, Delacroix, Cézanne und Rembrandt, die dagegen in der Literaturgeschichte https://doi.org/10.1515/9783110700732-011

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des deutschsprachigen Bildgedichts – mit Ausnahme von Rembrandt – keine Resonanz fanden.203 Allerdings mag auch die zuvor bei Böcklin beschriebene gleichzeitige Indienstnahme desselben Künstlers durch Dichter unterschiedlicher literarischer Strömungen schon als Indiz dafür angesehen werden, dass sich um 1900 insgesamt die literarischen Zugänge zu gemalten, also künstlich hergestellten Wirklichkeiten vor allem durch eine tiefe Unsicherheit im Hinblick auf die Frage nach einem intersubjektiv nachvollziehbaren, unbestrittene und eindeutige Geltung beanspruchenden Aussagegehalt solcher Werke auszeichnet. Vor allem bei den Dichtern der Wiener Moderne und der Décadence werden Bild und Bildbegriff zum wichtigen Reflexionsinstrument. Nicht nur bei der Anzahl publizierter Gedichte auf Werke der Bildenden Kunst lässt sich um die Jahrhundertwende ein rapider Zuwachs beobachten.204 Jenseits von „Bild“ als gemaltem Werk oder rhetorischer Figur fungiert der Begriff auch in zahlreichen Prosatexten als Denkmuster, um überhaupt einen Zugang zur Wirklichkeit zu finden und deren Status zu hinterfragen, wobei um dem „bildungsbürgerlich gesättigten Bildkosmos […] schon vor 1900 ein Bewußtsein [korrespondierte], das sich seiner Unsicherheiten gerade durch das Medium Bild inne wurde“.205 Prominentes Beispiel dafür sind Hugo von Hofmannsthals Briefe des Zurückgekehrten (1907/08), in denen das van Gogh-Erlebnis als Ausgangspunkt für sprachskeptische Überlegungen zur Intermedialität fungiert. Das Sehen und Betrachten von Gemälden wird eng gekoppelt an Überlegungen zur Sprache und Literatur, deren Zeichensystem oftmals als insuffizient gegenüber den Möglichkeiten der Bildenden Kunst charakterisiert wird. Gerade auch in den Gedichten zu Schindler, Munch, Fra Angelico, Velazquez und Rembrandt lässt sich diese grundlegende Tendenz, dass „Bilderwelten […] nicht mehr Weltbesitz, sondern Weltverrätselung“ zeigen, nachvollziehen.206 || 203 Vgl. hierzu Stefan Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter. München 1998, hier vor allem das siebte Kapitel (Glücklich ist, wer vergißt? Von Baudelaire bis Rilke), S. 385–462. 204 Zu den Zahlen Kranz: Das Bildgedicht, Bd. 1, 1981, S. 11ff. 205 Klaus Schuhmacher: „Brüder der Schmerzen“. Zur Krise des geschriebenen Bildes um 1900. In: Bilderwelten als Vergegenwärtigung und Verrätselung der Welt. Literatur und Kunst um die Jahrhundertwende. Hg. von Volker Kapp. Berlin 1997 (Schriften zur Literaturwissenschaft, 12), S. 195–216, hier S. 195. 206 Ebd., S. 197; zum weiteren Kontext sprachkritischer Überlegungen um 1900, die ihren Ausgang von Bildern nehmen, und dem enormen Interesse der Dichter an einer „Cultur des Auges“ (Hofmannsthal an Kessler am 10. Juni 1911) vgl. Sabine Schneider: Klaffende Augen, starre Blicke. Krisen und Epiphanien des Sehens als Medium der Sprachreflexion bei Hofmannsthal und Rilke. In: Klassische Moderne. Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts. Hg. von Mauro Ponzi. Würzburg 2010, S. 167–179, die Stelle von Hofmannsthal dort S. 167; ferner auch und grundlegend

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Die Auseinandersetzung mit Werken der Bildenden Kunst ist in deutschsprachigen Bildgedichten um 1900 deutlich geprägt von einem philosophisch-weltanschaulichen Zugang und Zugriff auf Künstler und deren Werke. Kunstbetrachtung und ästhetische Beurteilung, Aspekte der Künstlervita und deren Rezeption werden in den Dienst auch weltanschaulicher Einordnungen gestellt. Spätestens mit dem Futurismus und Kubismus in der Bildenden Kunst und dann in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sollte diese schon um 1900 im Medium literarisierter Kunstwerke reflektierte Verunsicherung gegenüber der Wirklichkeit ihren Höhepunkt finden, insofern die bildkünstlerischen Werke selbst „die Infragestellung und [den] Verlust ihres traditionellen Mediums“207 betrieben haben und damit die Gattungsgrenzen zwischen Literatur und Bildender Kunst weiter aufgelöst wurden. Die im Folgenden behandelten Gedichte von Dörmann, Dauthendey, George und Rilke schreiben nicht einfach einen überkommenen Kanon von Werken bildender Künstler fort, sondern akzentuieren Wahrnehmungs- und Deutungsansätze, die einer bürgerlichen ‚Musealisierung‘ der bildkünstlerischen Vorlagen und einem kunstwissenschaftlichen „ikonographischen Erklärungsimperialismus“208 entgegenstehen.

Felix Dörmanns in die Sammlung Gelächter (1895) aufgenommenes Gedicht Pax auf das 1891 entstandene großformatige (207x271cm) Gemälde Pax (Der Friedhof von Gravosa bei Ragusa) von Emil Jakob Schindler (1842–1892) ist daher nicht an der kunsthistorischen Stellung oder Einordnung des Werkes interessiert, sondern stellt vielmehr eine ästhetizistische Um- und Weiterdichtung der Vorlage und ihrer Motive dar. Der bereits in einer Prosafassung im Juni 1891 neben zwei rätselhaften Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Jakob Leopold Windholz – die ebenfalls Kunstwerke bzw. Künstler behandeln – in der Wiener

|| Ursula Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im Breisgau 2000 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 55), S. 51–74. 207 Wolfgang Max Faust: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder vom Anfang der Kunst im Ende der Künste. München 1977, S. 14; Faust stellt auch den weiteren Verlauf der Interdependenz von abstrakter Kunst und Literatur dar und spricht im Zusammenhang dann mit Max Jacob und Pierre Reverdy von einem „Kubismus der Worte“ (S. 61). 208 Schuhmacher: Zur Krise des geschriebenen Bildes, 1997, S. 196; Schuhmacher bezieht sich hier auf Hofmansthals Briefe des Zurückgekehrten; seine Diagnose von einem „Ende der bürgerlichen Verbindlichkeit“ (S. 197) in Bezug auf den durch die Sezessionen ausgelösten, veränderten Umgang mit Bildzitaten auch in der Literatur, trifft meines Erachtens auch insgesamt auf Bildgedichte aus der Zeit um 1900 zu.

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Halbmonatsschrift Moderne Rundschau abgedruckte Text liest sich im Hinblick auf Motivik, Sprache und Thematik wie ein Programmgedicht von Dörmanns ästhetizistischer Dichtung, wie sie sich vielfach in seinem ersten, im selben Jahr erschienenen, skandalträchtigen Gedichtband Neurotica (1891) findet.209 Das 47 ungereimte und unregelmäßig lange Verse umfassende Gedicht huldigt einer dekadenten Todessehnsucht und entwirft die Friedhofsszene von Schindler als Ort, dessen architektonische Zeichen kultureller Vergangenheit und Größe im Verfall begriffen sind und damit insgesamt auf die Epochenmüdigkeit des lyrischen Ichs sowie auf einen Ganzheits- und Ich-Verlust und den Niedergang als epochalem Bewusstsein verweisen, was mit der Anlage des Gemäldes aus kunsthistorischer Sicht nur noch wenig zu tun hat (Abb. 49) :210

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Eisengraue, schründige Felsenwände schließen sich zu einem tiefen Kessel zusammen; darüber hin ein Himmel von einem schwülen, lauernden Weißlichgrau, das sich auf die Nerven legt, so schwer, so lastend wie Duft von Tuberosen. Fernher über die matten, glanzlosen Felsenmauern starren die Alpen, eine dunkle Gipfelreihe, von veilchenviolettem Dunste leicht umwoben. Feierliches Schweigen rings. Kein rauschendes Laub, kein jauchzender Vogelsang. Kaum, daß ein Windhauch in die Tiefen niederstreicht und leise, leise an den düstergrünen Wipfeln der Cypressen rührt und streichelt, oder wilde, weiße Rosen schüchtern schaukelt – wie wenn

|| 209 Zum Publikationskontext in der Modernen Rundschau vgl. ausführlich Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, 2000, S. 51–74; Renner behandelt hier allerdings nur Hofmannsthals Texte; zu Dörmann und seinen Gedichtbänden der 1890er Jahre vgl. Helmut Schneider: Felix Dörmann. Eine Monographie. Wien 1991 (Dissertationen der Universität Wien, Bd. 227); zu Dörmanns Gedichten im Kontext der Wiener Moderne immer noch hervorragend: Jens Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Kultur und Kritik im Fin de Siècle. Königsstein/Ts 1985, hier bes. S. 111–124. 210 Die Forschung zur Décadence ist längst Legion. Zum weltanschaulichen, geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund die Begriffe hier in Anlehnung an Gotthard Wunberg: Historismus, Lexemautonomie und Fin de Siècle. Zum Décadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende. In: Ders.: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors hg. von Stephan Dietrich. Tübingen 2001, S. 55–84; im selben Band: Gotthard Wunberg: Deutscher Naturalismus und Österreichische Moderne. Thesen zur Wiener Literatur um 1900, S. 187–207.

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sein süßes Spiel ihm Frevel schiene. Bleiche, bröckelnde Marmorgestalten ragen aus wirren Büschen von Immergrün und Epheu empor und halbverfallene Säulen; dort aber, wo die granitenen Wände tief hinein in den steinigen Boden Schießen, reiht sich Totenkammer an Totenkammer. Ungefüg und plump, mit schmetternden Hammerschlägen in trotzig starrendes Gestein hineingetrieben die eine, zierlich gemeißelt, marmorumkleidet, mit üppigen Corinthersäulen die andere. –

Und auch am Boden, den die breiten, großen Fliesen glätten und verkleiden, reiht sich Gruft an Gruft. – Entfärbte Blumen, braungedörrte Palmenwedel sind darüber hingestreut als todeswelke Zeichen 35 der Liebe, und dazwischen wuchert Gras empor – spärlich – arm. – In Fugen und Nischen und ausgetretenen Bodenfliesen sammelt sich das Regenwasser, vergilbte und verkrümmelte Rosenblätter wiegen sich darauf 40 und dürre Reiser. – An Grüften und Kapellen vorüber schreitet ein Mönch und entzündet Kerze um Kerze. – Groß und ruhig brennen die bleichen Flammen, kein Windhauch, der sie beugte – die Luft 45 ist still. Feierliches Schweingen rings! Lautlos süße Seligkeit des Todes – Frieden.211 30

|| 211 Felix Dörmann: Gelächter. Gedichte. Dresden, Leipzig, Wien 1895, S. 91–92.

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Abb. 49: Emil Jakob Schindler: Pax. Der Friedhof von Gravosa bei Ragusa (1891)

Die zahlreichen Farbadjektiva („eisengrau“, „weißlichgrau“, „veilchenviolett“, „düstergrün“, „braungedörrt“) rekurrieren weniger auf die im Gemälde sichtbaren Farbtöne, sondern werden gerade in den ersten 17 Versen, die den dargestellten Bildraum atmosphärisch einfangen, mit für die Décadence-Dichtung typischen Vokabeln oder Motiven in Zusammenhang gebracht („schwül“, „Nerven“, „Tuberosen“), die insgesamt die literarisierte Szenerie als etwas Künstliches erscheinen lassen. Die Farben werden also nicht mehr nur als reines Darstellungsmittel der Kunst verstanden und stehen auch nicht mehr im Dienste einer der Vorlage angemessenen Beschreibung. Ihnen wird vielmehr ein Eigenwert zur literarisch-bildlichen Evokation einer dezidiert künstlichen und dekadenten Stimmung zugeschrieben. Gesteigert wird diese düstere Stimmung durch den anscheinend vom lyrischen Ich ungerührt hingenommenen Verfall einstiger kultureller Errungenschaften, die sich in den „bröckelnde[n] Marmorgestalten“ (V. 18) und „halbverfallene[n] Säulen“ (V. 20) symbolisch verdichten. Am Ende erobert sich die Natur („Regenwasser“, V. 38; „dürre[n] Reiser[n]“, V. 40) den Kulturraum des Menschen zurück (V. 30–40), in dem dieser in Form des einsamen Mönchs nur noch ein inmitten des Verfalls sinnlos erscheinendes Totenritual vollziehen kann. Entsprechend dem hier zum Ausdruck gebrachten dekadenten Lebensgefühl steigert Dörmann die im Gemälde angelegte (poetische) Vergänglichkeitsthematik und nobilitiert Schindlers letztes Werk zu einer Inkunabel ästhetizistisch-dekadenter

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Malerei.212 Damit einher geht freilich eine Entkontexualisierung und Enthistorisierung der Vorlage zugunsten einer dekadenten Verrätselung des Bildgegenstandes. Denn der 1842 in der Wiener Leopoldstadt geborene Emil Jakob Schindler begann seine Karriere zunächst als romantischer Landschaftsmaler. Auf der Wiener Weltausstellung 1873 sah er zum ersten Mal zahlreiche Werke von Camille Corot, Théodore Rousseau und Charles-François Daubigny, also Vertretern der Schule von Barbizon (ca. 1830–1870), die neben seiner Venedigreise im selben Jahr einen entscheidenden Wendepunkt für seine Malweise und Bildauffassung bedeuteten.213 Greift auch der in der älteren Forschung zur sogenannten Schule von Plankenberg und Schindler vielfach gebrauchte Begriff des Stimmungsimpressionismus zu kurz, so steht seine mit offenem Pinselstrich ausgeführtes Gemälde Pax doch mehr in der Tradition (symbolistisch-)realistischer Naturschilderung eines Böcklin als es die Literarisierung Dörmanns nahelegt. Der Jungwiener Nervenkünstler vereinnahmt dagegen in seinem Gedicht Schindler als Vorreiter einer Décadence-Malerei, der dieser aber nicht zugerechnet werden kann.

Weitaus stärkere kunstgeschichtliche Sprengkraft entfaltete das von Max Dauthendey 1893 literarisierte Gemälde Vision (1892) des Norwegers Edvard Munch. Der Maler hielt sich von 1892 bis zum Frühjahr 1895 in Berlin auf, wohin er mit fast seinem gesamten Frühwerk, insgesamt 55 Gemälden, auf Einladung des Berliner Kunstvereins gereist war. Seine erste Ausstellung in Deutschland, die am 5. November 1892 im Architektenhaus in der Wilhelmstrasse 92 eröffnet wurde, endete in einem Fiasko. Der Direktor der Königlichen Hochschule der bildenden Künste und einflussreiche Hofmaler Anton von Werner betrieb mit zahlreichen Unterstützern, die in Munchs Werken nur das dilettantische Beschmutzen von Leinwänden eines „Verrückten“ und Sonderlings sahen, die Schließung der Ausstellung zum 12. November 1892, bereits eine Woche nach ihrem Beginn.214 Der Popularität Munchs im Berlin der 1890er Jahre hat der Vorgang || 212 Zur kunsthistorischen Einordnung Schindlers vgl. Alexander Klee: Paysage intime – Stimmung – Poetischer Realismus. In: Emil Jakob Schindler. Poetischer Realismus. Hg. von Agnes Husslein-Arco und Alexander Klee. München 2012, S. 9–23, zu Pax besonders S. 18f. 213 Vgl. zusammenfassend Peter Weninger: Emil Jakob Schindler 1842–1892. In: Die Schule von Plankenberg. Emil Jakob Schindler und der österreichische Stimmungsimpressionismus. Hg. von Peter Weninger und Peter Müller. Graz 1991, S. 15–27, bes. 16–20; gerade Schindlers letztes Gemälde war ein großer Erfolg und erhielt auf zahlreichen internationalen Ausstellungen Preise. Geplant war das Gemälde als Teil eines Lebenszyklus’ mit Mönch, der aber durch Schindlers Tod am 8. August 1892 nicht mehr verwirklicht werden konnte. 214 Im Einzelnen zu den Daten und zum Ablauf, vor allem auch eine Neuperspektivierung der Rezeption bietet Monika Krisch: Die Munch-Affäre – Rehabilitierung der Zeitungskritik. Eine

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indessen nicht geschadet. Nach der erzwungenen Schließung der Ausstellung kam der Düsseldorfer Galerist Eduard Schulte auf Munch zu und organisierte mit ihm eine Werkschau, die knapp ein Jahr später in den Privaträumen des Berliner Equitabel-Palastes stattfand und auf der zahlreiche namhafte Kritiker und Sammler wie Harry Graf Kessler Werke von Munch kauften. Aus kunsthistorischer Perspektive wird die Ausstellungsschließung als Auslöser für die Gründung der Berliner Secession und als „Durchbruch der [künstlerischen] Moderne in Deutschland“ bewertet.215 Die in Kunstkritiken der Tages- und Fachpresse heftig geführten Debatten um Munch, die vernichtenden Urteile vor allem des einflussreichen Kunsthistorikers Adolf Rosenberg oder in den Artikeln des Deutschen Reichsanzeigers, in denen von „willkürlichen Farbexperimenten“ gesprochen wurde,216 bilden das publizistische Gegenstück zu Dauthendeys Gedicht Vision. Wenn auch der Skandal um die geschlossene Ausstellung und die Vorwürfe der Kritiker bei Dauthendey völlig ausgespart werden, so ist das Gedicht schon alleine durch seine frühe Entstehung im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Streites und seine Apologie der Munch’schen Malweise und Farbapotheose eine versifizierte Stellungnahme gegen die erklärten Feinde des Malers. Ist Dörmanns Schindler-Gedicht als dekadente Literarisierung eines ästhetizistisch gedeuteten poetischen Realisten zu verstehen, so ist Dauthendeys fast zeitgleich entstandenes Munch-Gedicht || Analyse ästhetischer und kulturpolitische Beurteilungskriterien in der Kunstberichterstattung der Berliner Tagespresse zu Munchs Ausstellung 1892. Mahlow bei Berlin 1997, bes. S. 17–22; ferner auch Janine Klein: Edvard Munch als ‚Wanderer zwischen den Welten‘ in Kristiania und Berlin. In: Attraktion Großstadt um 1900: Individuum – Gemeinschaft – Masse. Hg. von Ortrud Gutjahr u.a. Berlin 2001 (Wahlverwandtschaft – Der Norden und Deutschland, Bd. 6), S. 221–233, bes. S 228ff.; zu Munchs Deutschlandreisen und -aufenthalten Wolfdietrich Rasch: Edvard Munch und das literarische Berlin der neunziger Jahre. In: Edvard Munch. Probleme – Forschungen – Thesen. Hg. von Henning Bock und Günter Busch. München 1973 (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 21), S. 14–24; zur Rolle und Bedeutung auch der offiziellen Kunstpolitik der Reiches vgl. auch Reinhold Heller: Anton von Werner, der Fall Munch und die Moderne im Berlin der 1890er Jahre. In: Anton von Werner. Geschichte in Bildern. Hg. von Dominik Bartmann. München 1993, S. 101–109. 215 Bengt Algot Sorensen: Der „Fall Munch“ und seine Auswirkungen. In: Spurensuche in Sprach- und Geschichtslandschaften. Festschrift für Ernst Erich Metzner. Hg. von Andreas Hohmeyer, Jasmin S. Rühl, Ingo Wintermeyer. Münster, Hamburg, London 2003, S. 517–532, hier S. 525; zum größeren kunstpolitischen und kunsthistorischen Kontext auch Klein: Edvard Munch als ‚Wanderer zwischen den Welten‘, 2001, S. 320ff.; Krisch: Die Munch-Affäre, 1997, S. 1ff. 216 Zit. nach Krisch: Die Munch-Affäre, 1997, S. 22; weitere Stimmen und Zeugnisse auch bei Jan Kneher: Edvard Munch in seinen Ausstellungen zwischen 1892 und 1912. Eine Dokumentation der Ausstellungen und Studie zur Rezeptionsgeschichte von Munchs Kunst. Worms 1994.

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literarhistorisch und werkbiographisch als Umsetzung von Dauthendeys Programm einer „dezidiert antinaturalistischen, sensualistischen Ausdruckskunst, die alle Sinne zusammen zu einem Totaleindruck steigert“ zu lesen.217 Dabei ist die Munch-Rezeption des Dichters auch im weiteren Kontext der Skandinavien-Begeisterung besonders im Umfeld Stefan Georges zu verstehen. Dauthendey kam Ende 1891 nach Berlin, wo er im Friedrichshagener Dichterkreis neben Wilhelm Bölsche und Bruno Wille auch Richard Dehmel kennenlernte und Kontakt mit August Strindberg und Edvard Munch hatte, der ihm später auch eine Lithographie vermachte. Die Begegnung mit Stefan George fällt erst in den Februar 1893, dürfte aber für Dauthendeys Rezeption und Bewertung skandinavischer Dichtung und Kunst als Vorbild für eine „große nordische Bewegung“ und Dichtungserneuerung aus dem Geiste eines ‚Nordraums‘ von ebenso entscheidender Bedeutung gewesen sein wie seine Bekanntschaft mit Dehmel und dem schwedischen Dichter und Übersetzer Gustav Uddgren.218 Auf Uddgrens Präsentation Dauthendeys in der dänischen Tageszeitung Politiken im August 1893 geht letztlich die von der Forschung auch immer wieder konstatierte Charakterisierung des Autors als „Farbendichter“ zurück, was sich schon in der Titelwahl seines Gedicht-Bandes Ultra Violett. Einsame Poesien von 1893 niederschlägt.219 Wofür Munch von seinen Kritikern in Deutschland als Dilettant gebrandmarkt wurde, seine entfesselten und intensiven Farbkompositionen und die Reduzierung des Gegenständlichen, wird in der Nachdichtung Dauthendeys gerade zum Leitmotiv, das das literarisierte Betrachtungserlebnis strukturell bestimmt. Dauthendey hat Munchs Gemälde Vision (Der Kopf des Ertrunkenen) wohl als „Nr. 26“ in der skandalumwitterten Ausstellung in Berlin gesehen und schickte sein Gedicht an den offiziellen

|| 217 Heinrich Anz: „Poesiens Revolte: Die Revolte der Poesie“. Stefan George, Max Dauthendey, Johannes Jørgensen im Wechselspiel von skandinavischen und deutschen Literaturzentren des Fin de siècle. In: Text & Kontext 21 (1998), S. 256–274, hier S. 267. 218 Vgl. hierzu Anz: „Poesiens Revolte“, 1998, S. 259–263; Sorensen: Der „Fall Munch“, 2003, S. 525. 219 Vgl. Anz: „Poesiens Revolte“, 1998, S. 363–367; Georges Aufenthalt in Kopenhagen 1890 fällt in die Hymnen-Zeit und markiert auch für ihn eine verstärkte Auseinandersetzung mit der skandinavisch-nordischen Kultur; zusammenfassend auch die Beziehungen Dauthendeys zu George, Dehmel und Uddgren: Klaus Uhrig: Dauthendey, Max. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde., hier Bd. 3. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. Berlin, Boston 2012, S. 1333– 1334.

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Herausgeber der Blätter für die Kunst, Carl August Klein, in denen es auch zuerst gedruckt wurde (Abb. 50):220 ! Stöhnendes Graugelb. Aber das Stöhnen nur im Blick. Lautlos sonst und mit unterdrücktem Atem.

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! Und ein Blau, Ein Blau, aus dem ganz zarte silberne Glockenspiele singen, Und ein Duft geht von Sonnenwärme und Mandelblüten. ! Silber darüber. Duftleeres, schneekühles Silber. Aber aus allem hebt sich steif Und hebt sich fahl, wie Gewitterlicht, Das stumme Graugelb. Und hebt sich lautlos stöhnend wie Asche, Mit welkem darbenden Blick. ! Ein Gesicht – die starre Maske eines Toten – Ein Kopf – aus Blau –aus dem blauen, glatten Wasser. Braunviolette Strähne – Haare in die Stirn, Das eine Auge schief, spitze Wangenknochen, Und trieft von den Schläfen das braunviolette Haar Über das öde aschige Gesicht. Und darüber: über das blaue Wasser Silbern ein Schwan . Silbern die Reflexe von Wolken, Duftleer, schneekühl. In das Blau, In das Silber Nagt der gelbaschige Kopf des Ertrunkenen. Und der Schwan zieht reglos vorbei, Reglos die Reflexe der Wolken.221

|| 220 Vgl. Kneher: Edvard Munch in seinen Ausstellungen, 1994, S. 10ff; Krisch: Die Munch-Affäre, 1997, S. 22ff.; kritisch zu dem von Wolfdietrich Rasch 1973 eingeführten Titel des Gemäldes (Der Kopf des Ertrunkenen), der seitdem und parallel zu Vision im Zusammenhang mit Dauthendeys Gedicht genannt wird auch Sorensen: Der „Fall Munch“, 2003, S. 528. 221 Max Dauthendey: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Vierter Band: Lyrik und kleinere Versdichtungen. München 1925, S. 44.

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Abb. 50: Edvard Munch: Vision/Der Kopf des Ertrunkenen (1892)

Dauthendey betrachtet das Gemälde Munchs nicht als Darstellung von etwas Real-Gegenständlichen, sondern dem Titel entsprechend als gemalte Vision.222 Daher kommt das Gedicht auch ohne erkennbaren Sprecher oder ein lyrisches Ich aus. Die insgesamt 14 substantivierten Farbadjektive setzen die Dominanz des vom Gegenständlichen her abstrahierenden sinnlichen Eindrucks und die Farbwirkung des Gemäldes auf den Betrachter in Dichtung um, was durch die den ersten vier Strophen vorangestellten Ausrufezeichen noch unterstrichen wird. Wie in zahlreichen anderen Gedichten aus dieser Zeit, sind visuelle, vor allem Farbeindrücke für Dauthendeys Dichtung von zentraler Bedeutung.223 Mit der herausgehobenen Stellung der Farben, die zum wichtigsten Ausdrucksmittel der Bildenden Kunst und zum Auslöser eines synästhetischen Totalerlebnisses nobilitiert werden (V. 4, 8, 10f.), bezieht das Gedicht auch deutlich Position gegen die von Munchs Kritikern vorgebrachten Einwände gegen dessen Malerei. Das Gedicht stellt damit weniger eine Umdichtung, als vielmehr eine Umsetzung der Vorlage dar, indem es die Dominanz des Malerischen durch die Farbe auch in der Literarisierung nachzuahmen sucht.224

|| 222 Vgl. auch Sorensen: Der „Fall Munch“, 2003, S. 528. 223 Vgl. hierzu Elisabeth Veit: Fiktion und Realität in der Lyrik. Literarische Weltmodelle zwischen 1890 und 1918 in der Dichtung Max Dauthendeys, Richard Dehmels und Alfred Momberts. Diss. masch. München 1987, S. 28ff. und 43ff. 224 Dauthendeys Gedicht enthält in nuce auch schon die kunsthistorischen Beschreibungsund Deutungsansätze von Munchs Gemälden, wie sie sich in der späteren Forschung findet, vgl. Henning Bock: Farbe als Ausdruck: Zur Deutung von Bildern Edvard Munchs. In: Edvard Munch. Probleme – Forschungen – Thesen. Hg. von Henning Bock und Günter Busch. München 1973 (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 21), S. 69–76, hier bes. S. 69f.

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Im Unterschied dazu sind die (möglichen) bildlichen Vorlagen für Stefan Georges aus den Hymnen (1890) stammende Gedichte Der Infant und Ein Angelico nur als Auslöser für Reflexionen über den Entstehungsprozess von Kunst zu bewerten. Die neuere Forschung hat die poetologische und produktionsästhetische Dimension der Gedichte herausgestellt und betont, dass es sich hierbei nicht im engeren Sinne um Bildgedichte handele, sondern dass erst im Gedicht ein Bild entworfen werde.225 Gleichwohl sind die beiden, gut zehn Jahre vor Georges Böcklin-Gedicht aus dem Siebenten Ring entstandenen Texte in den Hymnen gegenüberliegend unter der Überschrift Bilder angeordnet und verweisen damit schon auf die um 1900 zu beobachtende Variationsbreite von Bild, Bildbegriff und Bildverständnis, was George selbst in einigen – bereits 1893/94 in den Blättern für die Kunst erschienenen – Texten zu Gemälden und Graphiken aus dem Band Tage und Taten (1903) exerziert hatte.226 Tatsächlich hat sich die Forschung schwer getan, eine Bildvorlage für Georges Der Infant zu finden. Die im Gedicht beschriebene Person und ihr früher Tod sowie der in der letzten Strophe erwähnte „Seidenball“ (V. 14) und die „kühle Bergesbrise“ (V. 5) als „allzu rauher Spieltrabant“ (V. 6) lassen auf den Infanten Don Baltasar Carlos schließen, der als erstgeborener Sohn Philipps IV. und Elisabeths von Bourbon am 17. Oktober 1629 geboren wurde und infolge eines Fiebers – nach einem Ballspiel – bereits vor seinem 17. Geburtstag, am 9. Oktober 1646, gestorben ist. Der spanische Hofmaler Diego Velázquez wurde beauftragt, die Entwicklung des Thronfolgers in Gemälden festzuhalten, weshalb die ältere Forschung auch immer wieder ein Werk von Velázquez als mögliche Vorlage des Gedichtes vermutete.227 Doch finden sich auf keiner Darstellung des Infanten die in der ersten Strophe genannten Attribute „schild und degen“ (V. 1) und auch der dort entworfene Raum entspricht keinem der gemalten Porträtorte. Georges Der

|| 225 Vgl. die grundlegenden Studien von Jörg-Ulrich Fechner: Erfahrungen spanischer Wirklichkeit in frühen Gedichten Stefan Georges. In: Castrum Peregrini 138 (1979), S. 52–76, hier S. 63; Jörg-Ulrich Fechner: „Der alte Meister und mein sehr früher verehrter Lehrer – der Mönch von Fiesole“. Überlegungen zu Stefan Georges Sonett „Ein Angelico“. In: Studi germanici 37 (1999), S. 81–100, hier S. 86. 226 Michael Thimann nennt in seinem Überblicksartikel das Angelico-Sonett und problematisiert kurz Georges Umgang mit bildlichen Vorlagen, vgl. Michael Thimann: Bildende Kunst. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. 3 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2012, S. 550–585, hier S. 553 und 557f. 227 Zum historischen Kontext vgl. Fechner: Erfahrungen spanischer Wirklichkeit, 1979, S. 70f., zur Frage der Velázquez-Vorlage auch S. 65; ferner auch Franziska Merklin: Hymnen. In: Stefan George – Werkkommentar. Hg. von Jürgen Egyptien. Berlin, Boston 2017, S. 23–36, hier S. 34f.

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Infant kommt ohne konkrete Bildvorlage aus, evoziert aber gerade durch die Anordnung des Gedichtes unter der Rubrik Bilder und neben einem Sonett auf ein Werk von Fra Angelico ein Bildgedächtnis, das sich freilich aus den bekannten Infanten-Darstellungen Velázquez zusammensetzt, die George in Paris oder während seiner Spanienreise in Madrid oder im Escorial 1889 gesehen haben dürfte.228 Eine direkte Bezugnahme auf solche Gemälde wird im Gedicht aber bewusst vermieden und die Literarisierung von Bildern damit dezidiert von bildlichen Vorlagen isoliert. Insofern stellt Georges Gedicht auch eine Problematisierung von Text-Bild-Verhältnissen dar, was sich gerade in den Jahrzehnten um 1900 in zahlreichen Texten niederschlägt:229

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Bei schild und degen unter fahlem friese Mit weissem antlitz lächelt der infant In dunklem goldumgürtetem oval. Nicht lang im damals unberührten saal Ein zwillingsbruder: kühle bergesbrise Sie war ein allzu rauher spieltrabant. Doch wird er selber nimmermehr bedauern Dass er zum finstern mann nicht aufgeschossen Wie der und jener an den nachbarmauern begann · Denn seligkeiten wurden ihm beschlossen: Wenn vor dem mond die glasgranaten blühn Dass eine lichte elfenmaid ihn hole begann · Er folgen dürfe oft in flug und fall

|| 228 Vgl. ebd., S. 55ff. 229 Einige Jahre später verfasste Richard Schaukal ein Gedicht mit dem Titel Porträt eines spanischen Infanten von Diego Velazquez, das in der Gedichtausgabe von 1918 (Richard Schaukal: Gedichte. München 1918) in die Rubrik Tage und Träume 1899–1905 aufgenommen worden ist. Es ist anzunehmen, dass Schaukal sich hier weniger auf eine konkrete Bildvorlage von Velázquez bezieht, sondern Kenntnis von Georges Gedicht hatte. Schaukal macht aus dem Sujet ein Rollengedicht, in dem sich die symbolistischen und von der Décadence geprägten Grundlinien seiner Lyrik sowie sein Interesse an Velazquez und der spanischen Kunst des 17. Jahrhunderts, in der „Künstlertum und Leben, Sinnlichkeit und Religiosität keinen Widerspruch darstellen“, erfassen lassen (Dominik Pietzcker: Richard von Schaukal. Ein österreichischer Dichter der Jahrhundertwende. Würzburg 1997 [Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften; Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 219], S. 73).

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Mit ihr dem treubewahrten seidenball Der rosenfarben und olivengrün Noch schimmert auf der eichenen konsole.230

Der in der ersten Strophe in Szene gesetzte Saal ist möglicherweise jener ‚Bilderraum‘ im Escorial mit Statuen von Infanten, der 1862 von Königin Isabella als Pantéon d los infantes begonnen und schließlich von der Königinwitwe Maria Christina 1888, ein Jahr vor Georges Spanienreise, vollendet wurde. Wenn auch unklar bleiben muss, ob George den Saal betreten oder sehen konnte, so ist doch davon auszugehen, dass er vor Ort Kenntnisse über die Aufstellung der Statuen erworben hat. Dafür sprechen zumindest die in den ersten drei Versen beschriebenen Details und die Charakterisierung des Raumes als „damals unberührte[r] Saal“ (V. 4).231 Von Interesse ist aber nicht die Identifikation des im Gedicht literarisierten Infanten mit einer möglichen Skulptur-Vorlage oder einem Gemälde von Velazquez – dafür sind die beschriebenen Einzelheiten zu allgemein – , sondern eine bewusste Verunsicherung bei der Bewertung, welches Kunstwerk hier überhaupt Gegenstand von Dichtung geworden sein könnte. Durch die verschiedenen zeitlichen Dimensionen des Textes mit Präsens in der ersten, Futur in der zweiten und einer Konditionalkonstruktion in der dritten Strophe wird die Statik ekphratischer Bildgedichte gleichsam außer Kraft gesetzt. An deren Stelle tritt ein (temporal) dynamisches, literarisches ‚Bild‘, mit dem gleichzeitig ein zwingendes Abhängigkeitsverhältnis von Text und Bild infrage gestellt wird. Diese undeutliche Text-Bild-Relation wiederholt sich auf der formalen Ebene. Wie in seinem späteren Gedicht auf Arnold Böcklin folgt George auch hier keiner überlieferten Strophenform. Auf den ersten Blick vertrautes Formenrepertoire wird sowohl im Hinblick auf Reimbindung und Versfüllung abgewandelt. Einerseits stehen die jambischen Fünfheber der zweiten Strophe als Elfsilber mit Kreuzreim und unbetontem Versschluss in der Tradition des (französischen) vers commun. Andererseits lässt sich nach Fechner durch die Spiegelung des Reimschemas der ersten in der dritten Strophe (a, b, c, c, a, b – f, g, h, h, f, g) auch eine Sinnstruktur des Gedichts von jeweils einem Sechs- und dem Vierzeiler der Mitte

|| 230 Stefan George: Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal. In: Ders.: Gesamt-Ausgabe der Werke. Band 2. Endgültige Fassung. Berlin 1928, S. 46. 231 Fechner weist darauf hin, dass der erste Baedeker zu Spanien erst nach Georges Reise, 1897, erschienen ist. Es muss also offen bleiben, ob der Raum zumindest teilweise für Besucher zugänglich gemacht wurde. Dass Velázquez Infantendarstellungen George bekannt gewesen waren, ist dagegen ebenso unstrittig wie Georges Kenntnis von Carl Justis monumentaler Darstellung des spanischen 17. Jahrhunderts, in der Velázquez eine herausgehobene Position einnimmt. Vgl. Fechner: Erfahrungen spanischer Wirklichkeit, 1979, S. 66–72.

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herstellen, was zumindest von der Anlage her an die spanische Dezime erinnert und damit das spanische Thema mit der spanischen literarischen Dichtungstradition in Verbindung zu bringen sucht.232 Georges Der Infant problematisiert also in performativer Weise die Gattung des Bildgedichts selbst und entwirft ein von Unsicherheit und Verunsicherung geprägtes Verhältnis von Text und Kunstwerk. Insofern hier aber dennoch zumindest Bilderinnerungen an berühmte InfantenDarstellungen von Velázquez geweckt werden, stellt das Gedicht eine Sonderform des kumulativen Bildgedichtes dar. Nicht mehr verschiedene Werke eines Künstlers werden – wie etwa in einigen der behandelten Dürer- und Böcklingedichte – andeutungshaft oder stichwortartig genannt, sondern zusammengefasst wird eine ganze Werkgruppe, die ohne Nennung einzelner Gemälde auskommt.

Auch im Falle des in den Hymnen neben dem Infanten-Gedicht abgedruckten Sonetts Ein Angelico bezeichnet Jörg-Ulrich Fechner die Zuweisung zum ‚Bildgedicht‘ als problematisch. Das Sonett sei weniger „ein Gedicht über ein Bild“, sondern „vielmehr ein lyrischer Text über das Verfahren eines Malers beim Malen seines Kunstwerkes“. Und er fährt fort, dass „nicht das Religiöse, die Themenwahl und die Sinngebung dieses Sachgebietes […] im Mittelpunkt [stehen], sondern innerweltlich und künstlerisch verwendete Technik, die handwerkliche Fähigkeit und Kunstfertigkeit eines Meisters“.233 Ein solch eng gefasster Begriff des Bildgedichts wird indessen der Formen- und Themenbreite der Gattung nicht gerecht. Die bisher behandelten Gedichte zu Werken der Bildenden Kunst haben gerade gezeigt, dass es den Dichtern nicht immer und nur um die literarische Nach- oder Umdichtung der künstlerischen Vorlagen und ihrer Sujets geht, also nicht zwangsläufig ein Abbildverhältnis angestrebt wird, sondern – im Gegenteil – das ästhetische, optische, kulturgeschichtliche und auch zeitkritische Potential der Vorlagen in ganz unterschiedlicher Weise in Dichtung überführt wird. Wenn man auch Fechners Überlegungen grundsätzlich folgen mag, so ist doch seine These, Georges Ein Angelico nur aufgrund des Bruchs mit dem christlich-sakralen Aussagegehalt der Bildtafel nicht als Bildgedicht zu bezeichnen, aus verschiedenen Gründen zu relativieren. Zunächst einmal ist anders als beim Infanten-Gedicht die Bildvorlage für das Sonett geklärt. George hat wohl auf seiner ersten (1889) oder zweiten (1890) ParisReise das ursprünglich 1440 für den Altar der Seitenkapelle von San Domenico in

|| 232 Vgl. ebd., S. 63; zwischen 233 Fechner: „Der alte Meister und mein sehr früher verehrter Lehrer – der Mönch von Fiesole“, 1999, S. 92.

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Fiesole geschaffene, seit 1815 im Louvre befindliche Altarbild Incoronazione della Vergine von Fra Angelico gesehen (Abb. 51).234 Offensichtlich hat er dabei auch Théophile Gautiers Guide de l’amateur du Louvre (1882) benutzt, in dem dieser Fra Angelicos Krönungsdarstellung nicht wie von Menschenhand, sondern wie von Engelshand gemalt charakterisiert, was in Georges Sonett gerade ins Gegenteil verkehrt wird, indem der Schöpfungsakt des Künstlers im zweiten Quartett an die Natur und Realien der Gegenwart gebunden wird:235 Auf zierliche kapitel der legende – Den erdenstreit bewacht von ewgem rat · Des strengen ahnen wirkungsvolle sende – Errichtet er die glorreich grosse tat: 5

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Er nahm das gold von heiligen pokalen · Zu hellem haar das reife weizenstroh · Das rosa kindern die mit schiefer malen · Der wäscherin am bach den indigo Der herr im glanze reinen königtumes Zur seite sanfte sänger seines ruhmes Und sieger der Chariten und Medusen. Die braut mit immerstillem kindesbusen Voll demut aber froh mit ihrem lohne Empfängt aus seiner hand die erste krone.236

Das Tafelbild mit der Krönung Mariens von Fra Angelico wird im ersten Quartett als „glorreich grosse tat“ (V. 4) und nicht etwa als Seh-Erlebnis des lyrischen Ichs oder Verbildlichung einer göttlichen Eingebung angesprochen, als deren Grundlage wiederum ein literarischer Text, Jacobus de Voragines Legenda Aurea, genannt wird (V. 1). Insofern wird gleich zu Beginn des Sonetts der enge Zusammenhang von Text und Bild – in potenzierter Form – thematisiert.237 Die folgenden Verse präsentieren den Werkprozess in Konzentration auf den || 234 Ebd., S. 84–90; die ältere Forschung, etwa Franz Schonauer vermuteten noch, dass sich das Sonett auf die Kopie eines Gemäldes von Gabriele Rosetti beziehe; zur älteren Forschung vgl. Fechner S. 84f. 235 Vgl. ebd., S. 88–90; so bereits auch schon H. Stefan Schultz: Studien zur Dichtung Stefan Georges. Heidelberg 1967, S. 28–32. 236 George: Hymnen. Pilgerfahrten. Algabal, 1928, S. 47. 237 Vgl. Fechner: „Der alte Meister und mein sehr früher verehrter Lehrer – der Mönch von Fiesole“, 1999, S. 90.

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ausführenden Maler, der sein Material aus der Natur nimmt, das gleichsam durch die Zuordnung zu alltagsweltlichen Bereichen („wäscherin“, „kinder“, „weizenstroh“) ohne eine göttliche Dimension auskommt und sich damit vom Produktionsprozess des Gemäldes, wie ihn die Rezeptionsgeschichte deutete, unterscheidet.

Abb. 51: Fra Angelico: Incoronazione della Vergine (ca. 1440)

Die Farbigkeit der gemalten Figuren und Gegenstände (V. 5–8) sowie die Figurenanordnung und der dargestellte Krönungsmoment (V. 9–14) werden zwar in ekphratischer Manier präzise erfasst, abstrahieren aber durch die Konzentration auf den Maler in der Tat vom inhaltlich-sakralen Gegenstand. Durch die zweifache Nennung des Malers („er“) in den ersten beiden Quartetten wird zudem das männliche Possesivpronomen („aus seiner Hand“) im letzten Terzett doppeldeutig: Der Empfang der Krone lässt sich sowohl auf Christus als auch auf den Maler beziehen. Die strukturelle Anlage des Sonetts, das „stellvertretend für das Verfahren dieses Künstlers, ja, mehr und weiter noch […] für das Schaffen von Kunst überhaupt“ steht, 238 legt aber eine Lesart nahe, auch den dargestellten Moment und den Bildinhalt generell als Werk des Malers zu deuten. Die kunstvolle und seltene Form des an Antonio da Tempos angelehnten Sonetts mit dem drei aufeinander folgende Paarreime aufweisenden Reimschema ccddee in den Terzetten, die da Tempo voltae duatae nennt, korrespondiert dabei auf der dichterisch-formalen Ebene mit der inhaltlichen Überhöhung von Fra Angelico, insofern die äußerst seltene Sonettform die Einzigartigkeit auch der

|| 238 Ebd., S. 98; ähnlich schon in der Argumentation Rainer Nägele: Jenseits der Mimesis. Stefan George: Ein Angelico und Günter Eich: Verlassene Staffelei. In: Neophilologus 59 (1975), S. 98– 108, bes. S. 99ff.

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Bildvorlage thematisch aufgreift. Wiederum geht damit eine Enthistorisierung des Bildgegenstandes und eine Entsakralisierung der dargestellten Ikonographie einher, bei der die Überlegungen zum künstlerischen Produktionsprozess in den Vordergrund treten und gleichzeitig die Traditionslinie etwa zur geistlichen Sonettdichtung der Romantik auf Gemälde mit christlichen Sujets gebrochen wird.239 Georges Bilder in den Hymnen sind daher als künstlerische Standortbestimmung zu werten, als deren Auslöser und Anlass gleichwohl die Konfrontation mit Werken der Bildenden Kunst gesehen werden kann.

Das Verhältnis des biblischen Sänger-Dichters David und politischer Herrschaft thematisieren dagegen prima vista zwei Gedichte von Stefan George (König und Harfner, 1901) und Rainer Maria Rilke (David singt vor Saul, 1904). Beide Texte beziehen ihre Inspiration von dem 1650/55 entstandenen Gemälde Saul und David von Rembrandt, das im frühen 19. Jahrhundert bei einer Versteigerung in Paris aufgetaucht, seit 1898 im Den Haager Mauritshuis ausgestellt war und nach achtjähriger Forschung einer kunsthistorischen Expertenkommission seit Sommer 2015 als ‚echter‘ Rembrandt anerkannt ist.240 Den Gegenstand des Werkes und den biblischen Moment literarisieren beide Gedichte als Dialog bzw. als Gesprächssituation und verlebendigen mit dieser Figurenrede die Stummheit des Bildes, das gleichzeitig mit der Darstellung von Davids Harfenspiel Akustisches visualisiert.241 Die Gedichte sind Beispiele einer doppelten intermedialen Struktur: Sie greifen über das Bild auch auf den biblischen Prätext (1 Sam., 16, 14–23) zurück, perspektivieren diesen und auch das Gemälde aber neu, was Roman Luckscheiter als Ergebnis von „Selektion“ und „Säkularisation“ des Gegenstandes charakterisiert.242 Der biblische Stoff des melancholischen, von Gott fallen

|| 239 Zur Form vgl. Fechner: „Der alte Meister und mein sehr früher verehrter Lehrer – der Mönch von Fiesole“, 1999, S. 90f.; eine ähnliche Entsakralisierung lässt sich auch bei Georges Pietà nach einem Gemälde von Böcklin beobachten, die nach Thimann zu einer generellen „Darstellung der menschlichen Trauer“ werde, Thimann: Bildende Kunst, 2012, S. 554; Franziska Merklin sieht in den beiden Gedichten – und in der Tendenz auch in Georges Bildern und vor allem Hymnen – ein „Streben nach der Absolutsetzung der Kunst“, die sie als einen von George herausgestellten „Sieg der Kunst über das Leben“ interpretiert, vgl. Merklin: Hymnen, 2017, S. 34–36. 240 Vgl. die Meldung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Juni 2015. 241 Gisbert Kranz nennt es als Beispiel eines dialogischen Bildgedichtes, geht aber nicht näher darauf ein, vgl. Gisbert Kranz: Das Bildgedicht in Europa. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Paderborn 1973, S. 70. 242 Vgl. Roman Luckscheiter: David singt vor Saul. Aspekte einer biblischen Konstellation in Rainer Maria Rilkes programmatischem Gedicht. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34 (2002), S. 63–74; Luckscheiter bezieht sich nur auf Rilkes Text, die genannten Charakteristika

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gelassenen, israelischen Herrschers Saul (wohl um 1000 v. Chr.) und seinem späteren Schwiegersohn und Thronfolger David stieß besonders in der dramatischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts auf reges Interesse. Abseits der theologischen Deutung und Rezeption der biblischen Figuren wurden in diesen Werken meist beide Motive – Davids heilendes Harfenspiel und Sauls spätere Mordversuche und sein Zorn gegen den Hirtenjungen – zum Sinnbild des Spannungsverhältnisses von Macht und Kunst.243 Das ganz in dunklen, erdfarbenen Tönen gehaltene Gemälde Rembrandts konzentriert sich dagegen auf den intimen Moment, als der auf der linken Bildhälfte nah an den Betrachter herangerückte, fast die gesamte Bildhälfte einnehmende Saul zu Tränen gerührt dem Harfenspiel Davids lauscht. Die Literarisierungen Georges und Rilkes dichten in Anlehnung an den weiteren Bibeltext diese im Gemälde dargestellte Vertrautheit als eine nur trügerische fort, was in beiden Fällen die schon auf das spätere Zerwürfnis der beiden hindeutenden Aussagen Davids unterstreichen. Obwohl Rembrandt spätestens seit Julius Langbehns kulturnationalistischem Buch Rembrandt als Erzieher (1890) zu den am häufigsten literarisch rezipierten Künstlern der Jahrhundertwende gehört, fällt die Zahl von deutschsprachigen Bildgedichten auf diesen Künstler relativ gering aus.244 Gerade die deutsch-nationalistische Vereinnahmung und die ModernitätsDiskussion um den niederländischen Künstler um 1900 lösten eine regelrechte Rembrandt-Renaissance aus.245 Doch wie schon bei Böcklin blenden die Gedichte || lassen sich aber auch George anwenden, worauf später noch eingegangen wird. Ähnlich argumentiert auch Bernhard Böschenstein in seiner Studie zu Georges Gedicht. Nach seiner These ist Georges Rembrandt-Literarisierung im Kontext von Georges Idee der „Erziehung zu einer neuen, religiösen Lebens- und Liebesform“ zu deuten, vgl. Bernhard Böschenstein: André Gide und Stefan George. In: André Gide in Deutschland / André Gide et l’Allemagne. Hg. von Hans T. Siepe und Raimund Theis. Düsseldorf 1992 (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf), S. 83–91, hier S. 85. 243 Vgl. grundlegend Inger Nebel: Harfe, Speer und Krone. Saul und David in deutschsprachigen Dramen 1880–1920. Göteborg 2001; zur theologischen Deutung und Rezeption von Saul in christlicher Perspektive als Vertreter eines veralteten und David als Inbegriff eines verheißungsvollen Königtums vgl. auch Heinrich Krauss, Max Küchler: Erzählungen der Bibel. Saul – der tragische König. Das erste Buch Samuel in literarischer Perspektive. Freiburg / Schweiz 2010. 244 Zur Rezeption Rembrandts in europäischer Perspektive vgl. Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben, 1998, hier vor allem das siebte Kapitel (Glücklich ist, wer vergißt? Von Baudelaire bis Rilke), S. 385–462. 245 Vgl. zu Langbehns Rembrandt-Buch Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. von Uwe Puschner u.a. München u.a. 1996, S. 94–113; Peter Ulrich Hein: Völkische Kunstkritik. In: Ebd., S. 612–633, bes. S. 614 und 618; im weiteren Kontext auch bei Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik. 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 2010, S. 27f.; Robert W.

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Georges und Rilkes diese Rezeptionslinie völlig aus. Wenn auch die kunsthistorische Forschung wenig von der nationalistischen Rezeption des Malers beeinflusst worden ist und diesen – meist ohne nähere Betrachtung der Werke – zur „diffusen Leitfigur“ der Deutschen erhoben hat, scheint die Rembrandt-Auseinandersetzung von George und Rilke zumindest durch diese kultur-geschichtliche Konstellation begünstigt worden zu sein.246 Denn in den gängigen kunstkritischen und kunsthistorischen Handbüchern und Überblicksdarstellungen fand Rembrandt noch vor 1890 keine vergleichbare Würdigung und wurde im bildkünstlerischen Bereich auch erst mit Malern wie Max Liebermann, Lovis Corinth oder Emil Nolde wieder-entdeckt.247 George hat das Bild Saul und David im Mai 1901 zusammen mit seinen Begleitern Friedrich Gundolf und dem Maler Jan Toorop im Den Haager Mauritshuis gesehen und war offenbar von dessen Wirkung zutiefst erschüttert, wie Gundolf in einem Brief an Karl Wolfskehl mitteilt (Abb. 52).248

Abb. 52: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: David singt vor Saul (1650/1655)

|| Rogers: Nationalismus in der deutschen Kunst. Die Forderung nach einer deutsch-nationalen Kunst im Wilhelminischen Deutschland – Eine Analyse anhand der Kunstzeitschrift „Die Kunst für Alle“ unter der Herausgabe Friedrich Prechts 1885–1903. Freiburg im Breisgau 1998, S. 77ff. 246 Zur kunstgeschichtlichen und künstlerischen Rezeption Rembrandts um 1900 vgl. Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. München 1996, Zitat S. 50, zu Langbehn S. 47–53. 247 Vgl. ebd., S. 7ff. 248 Über Georges Position zu Rembrandt und den Besuch in Den Haag unterrichtet Jan Aller: Zur Deutung von Rembrandts Luminismus (Wie Albert Verwey und Stefan George ihn diskutierten). In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 12 (1967), S. 204–242, hier S. 229ff.; genauer auch Thimann: Bildende Kunst, 2012, S. 558; ferner auch Guenther: Stefan George und die bildenden Künste, 1968, S. 33ff.

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Von den 29 ungereimten jambischen Fünfhebern, die freilich von ihrer Silbenzahl an den vers commun oder Endecasillabi erinnern, entfallen nur neun auf den Harfner, dessen Redeanteil damit deutlich geringer ist als der des Königs. Die ersten beiden Verse nehmen deutlich Bezug auf die Bildvorlage. Der Harfner beschreibt in seiner Anrede des Königs, was der Betrachter sieht, nämlich den zum Gesicht gezogenen Mantel, mit dem sich Saul eine Träne im linken Auge trocknet. Die Intimität der dargestellten Szene sowie die ikonographische Wiedererkennbarkeit eröffnen das dialogische Bildgedicht und die Rede des Harfners. Gleichzeitig wird der Zusammenhang mit dem Rembrandtschen Gemälde aber auch verfremdet, da das Gedicht nicht den Titel des Bildes zitiert, sondern das biblische Paar durch den Verzicht auf die Namen zu einer allgemeingültigen Konstellation von Macht und Kunst erhebt:

5

10

15

20

25

HARFNER Wie vor das antlitz du den mantel zogst Gewahrt ich dass du eine träne bargest Und einen · Herr · mir nicht gewognen wink. Wenn du auch heut zu deinem knecht nicht redest: Um ihn kannst du nicht zürnen den du hiessest Mit seinem sang nicht mehr von dir zu weichen… So murrte wieder undankbares volk? Bedrohn die stolzen priester dich? Nun weiss ichs: Den sieg missgönnt der eifersüchtige gott. KÖNIG Da du in meiner schande mich belauert – So hör was dir nicht frommt: mehr als die feinde Die du genannt und die ich all bestehe Vernichtet mich der lieben will: du selbst. Nun trag auch du dein teil das keiner ändert: Den ich nicht missen mag und den ich hasse Und der nicht weiss wie er mit gift mich füllt. Mein schwert mein schild · von fürchterlichem saft Noch klebrig · klopfst du an dass es dir klirre. Ins wasser wirfst du dass es tanzt und ringelt Geschoss wie ich es zum verhängnis wähle. Die früchte meiner felder – siedend mühsal Der langen sommer – gehst du achtlos schütteln Und kühlst mit einer dir den satten mund. Dir dienen fieberqualen meiner nächte Um sie in ton und lispeln zu verwehn.

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Mein heilig sinnen drob ich mich verzehre Zerschellst du in der luft zu bunten blasen Und schmilzest mein erhabnes königsleid In eitlen klang durch dein verworfen spiel.249

Das Gedicht wurde von George in die 1907 erschienene Sammlung Der Siebente Ring in die Rubrik Gestalten aufgenommen und ist wohl zeitgleich mit seinem schon behandelten Böcklin-Gedicht kurz nach der Jahrhundertwende entstanden. Wenn auch Jan Andres zurecht die von der älteren Forschung propagierte Zäsurthese, die sich mit der Publikation des Siebenten Rings und Georges Hinwendung zu kulturkritisch unterlegten Gegenwartsfragen verbindet, relativiert, so lässt sich an Georges Rembrandt-Gedicht doch eine Problematisierung des Verhältnisses von ästhetischer und weltlicher Sphäre auch vor diesem werkbiographischen Horizont beobachten.250 In seiner Entgegnung auf den Harfner betont der König eine scharfe Trennlinie zwischen dem, was wirklich ist und jenem, was der Künstler aus dieser Wirklichkeit mache. Die im Gemälde thematisierte biblische Dimension der Auserwähltheit des Herrschers ist hier eingeebnet auf die Frage der Kunst und ihrer Wirkung und Bedeutung für den Herrscher, also für die Macht. An der Insuffizienz künstlerischer Auseinandersetzung mit den für die Machtausübung zentralen Bereichen Militär (V. 17–20) und Ökonomie (V. 21–23) lässt der König keinen Zweifel. Die Intimität der dargestellten Szene bei Rembrandt greift das Gedicht in den letzten, vom König gesprochenen Versen auf, in denen dieser neben den öffentlichen Bereichen auch noch des Harfners Umgang mit seiner Privatsphäre, seinen „fieberqualen“ (V. 24) und seinem „heilig sinnen“ (V. 26), als „verworfenes spiel“ (V. 29) entlarvt und kritisiert. In Anlehnung an die ältere Forschung, die in vielen Gedichten des Siebtenen Rings eine Abwendung Georges von früheren, ästhetizistischen Positionen erkennen wollte, formulierte Bernhard Böschenstein die These, dass sich George hier mit dem Herrscher identifiziere und dem Künstler – wie der König im Gedicht – eine „spielerische Verantwortungslosigkeit“251 unterstelle. Georges Rembrandt-Gedicht kann

|| 249 Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden, hier Bd. 1. Hg. von Robert Boehringer. München, Düsseldorf 1958, S. 252. 250 Zur Überlieferung und Druckgeschichte Kai Kauffmann: Der Siebente Ring. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hg. von Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. 3 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2012, S. 175–191; kritisch zu den älteren Thesen Jan Andres: Gegenbilder. Stefan Georges poetische Kulturkritik in den ‚Zeitgedichten‘ des ‚Siebenten Rings‘. In: George-Jahrbuch 6 (2006/2007), S. 31–54, bes. S. 33. Ähnlich auch Dirk von Petersdorff: Wie viel Freiheit braucht die Dichtung? ‚Das Zeitgedicht‘ im ‚Siebenten Ring‘. In: George-Jahrbuch 5 (2004), S. 45–62. 251 Böschenstein: André Gide und Stefan George, 1992, S. 88.

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insofern auch als Auseinandersetzung mit der eigenen Werkbiographie gelesen werden.

Deutlich selbstbewusster als Repräsentant der Kunst lässt Rainer Maria Rilke den biblischen David in seinem Gedicht David singt vor Saul auftreten. Das zeigt sich schon daran, dass in den drei Teilen mit vier, drei und zwei Strophen mit jeweils unterschiedlicher Verszahl (5553 – 544 – 85) ausschließlich Davids Ansprachen an den König bzw. sein Gesang für den König – wie es der Titel des Gedichts und die Darstellung der bildlichen Vorlage nahelegen – präsentiert werden. Dem monologischen Reden Davids steht eine dialogische Struktur des Gedichts als Ganzes gegenüber, insofern auch hier wieder der Text einen Dialog zwischen den Medien darstellt, nämlich mit dem Gemälde Rembrandts und dem biblischen Prätext. Wie George nutzt auch Rilke seine Dichtung auf Rembrandt als „Folie für eine programmatische Kunst- und poetische Selbstreflexion“.252 Im Unterschied zu George konturiert Rilke aber das Verhältnis von Macht und Kunst nicht als Spannungs- und Konkurrenzverhältnis. Vielmehr ist sein Rembrandt-Gedicht im werkbiographischen Kontext der Sammlung Neue Gedichte (1907) mit ihrer Tendenz zur Harmonisierung von Kunst und Leben vor allem in den Dinggedichten und solchen, die sich mit Werken der Bildenden Kunst auseinandersetzen, zu deuten.253 Neben den zahlreichen Bildgedichten in den Sammlungen Neue Gedichte (1907) und Der Neuen Gedichte anderer Teil (1908) zeigt sich Rilkes „privatistische Kunstvorstellung“254 und die von ihm proklamierte Bedeutung des Sehen-Lernens für die Dichtung nicht zuletzt in seinem insgesamt ausgeprägten Interesse an der Bildenden Kunst, aus dem mehrere Darstellungen wie Die neue Kunst in Berlin (1898), Impressionisten (1898), Russische Kunst (1901), Moderne

|| 252 Luckscheiter: David singt vor Saul, 2002, S. 63. 253 Vgl. Brigitte L. Bradley: R.A. Rilkes Neue Gedichte. Ihr zyklisches Gefüge. Bern, München 1967, S. 42–47; gegen diese vereinfachende These mit Blick auf das Gedicht David singt vor Saul und einer vorgeschlagenen biographischen Deutung im Horizont des Verhältnisses Rilke–Rodin wendet sich Luckscheiter: David singt vor Saul, 2002, S. 71f.; zur Einordnung der Neuen Gedichte zwischen dem Frühwerk des Stundenbuchs (1905) und dem Spätwerk der Duineser Elegien (1912) bietet sich der Überblick an von Peter Sprengel: Die Entwicklung von Rilkes Lyrik im Zeitraum 1900–1918. In: Rilke-Perspektiven: „aus einem Wesen hinüberwandelnd in ein nächstes“. Hg. von Hans-Albrecht Koch. Overath 2004, S. 108–125; ferner auch Wolfgang G. Müller: Neue Gedichte / Der Neuen Gedichte anderer Teil. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Manfred Engel. Stuttgart 2004, S. 296–318. 254 Manja Wilkens: Rainer Maria Rilke. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 643–648, Zitat S. 643.

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russische Kunstbestrebungen (1902) hervorgingen, schließlich auch die aus seinen Lebensumständen resultierende Studie zur Künstlerkolonie Worpswede (1902), wo Rilke einige Zeit lebte und seine spätere Frau, Clara Westhoff, kennenlernte.255 Frühere Gedichte, aus der Zeit um die Jahrhundertwende, zeugen dagegen eher von einer spontanen Auseinandersetzung mit Werken von Bildenden Künstlern wie etwa Henrich Vogeler (Die Hirten; Ruhe auf der Flucht, 1900; gedr. 1901 in Marienleben),256 die Rilke selbst in Worpswede kennengelernt hatte oder deren Pan-Illustrationen er, wie im Falle von Ludwig Hofmann, versifiziert hat (Die Bilder entlang. Ludwig Hofmann: Skizzen und Buchschmuck aus der Kunstzeitschrift PAN, 1898).257 Diese Texte lassen im Hinblick auf die im nächsten Kapitel behandelten Apollo-Sonette oder sein Rembrandt-Gedicht indessen nicht jene programmatisch-poetologische Ausrichtung erkennen, sondern begleiten und dokumentieren vielmehr Rilkes Kunstkennerschaft.258Andere, noch vor der Jahrhundertwende oder im Umfeld seiner Worpsweder Zeit bzw. vor den Neuen Gedichten entstandene Gedichte auf Werke der Bildenden Kunst, die sich nicht dem Werk eines noch lebenden Künstlers widmen, wie Das waren Tage Michelangelo’s (1899) aus dem Stundenbuch (1905) oder Velasquez (1895) fügen sich mit ihrer Tendenz zur Heroisierung des Künstlers in die bereits in Kapitel I., 5. aufgezeigte Tradition kumulativer Bildgedichte des späten 19. Jahrhunderts ein, indem sie die übermenschliche und überweltliche Potenz und kulturgeschichtliche Bedeutung der Maler herausstellen und damit die sowohl künstlerische als auch moralische Vorbildrolle betonen, wie folgende Ausschnitte aus den Gedichten auf Michelangelo und Velázquez zeigen:

|| 255 Das Verhältnis Rilke und die Bildende Kunst thematisieren zahlreiche Beiträge. Zusammenfassend der Artikel von Wilkens im Handbuch der Kunstzitate. Ferner auch und ausführlicher Antje Büssgen: Bildende Kunst. In: Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Manfred Engel. Stuttgart 2004, S. 130–150, hier bes. S. 139; Ralph Freedman: Dichtung und Bildende Kunst in den Neuen Gedichten. Rilke, Rodin, Baudelaire. In: Rilkes Paris 1920. 1925. Neue Gedichte. Hg. von Erich Unglaub und Jörg Paulus. Göttingen 2010 (Blätter der Rilke-Gesellschaft, Bd. 30), S. 185–195; eine Auswahl wichtiger Texte ist zusammengeführt in dem Band: Gottfried Boehm (Hg.): Rilke und die bildende Kunst. Insel-Almanach auf das Jahr 1986. Frankfurt am Main 1986. 256 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Dritter Band: Jugendgedichte [Gedichte 1884 bis 1905, Nachlass]. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Wiesbaden 1959, S. 464f. 257 Ebd., S. 621–628. 258 Vgl. zu Rilkes Verhältnis zur Kunst seiner Zeit Manja Wilkens: „…ein Stück Kunstgeschichte gesehen durch ein Temperament“. Rilke und die Kunstgeschichte. In: Rilke und die bildende Kunst seiner Zeit. Hg. von Gisela Götte und Jo-Ann Birnie Danzker. München, New York 1996, S. 113–118.

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Velasquez […] Das schöne Spanien däucht mich wohl das Land wo die Kunst sich ihre Obmacht durfte wahren, selbst als sie vor dem Sturm von dreißig Jahren allüberall an des Verderbens Rand floh. […] Die andern, die bei Hof den Pinsel führten, sie malten alles wohl nach Gunst und Haß stets; doch groß und wahr blieb einer nur: Velasquez.259

[Michelangelo]

5

Das waren Tage Michelangelo’s, von denen ich in fremden Büchern las. Das war der Mann, der über einem Maß, gigantengroß, die Unermeßlichkeit vergaß.

10

Das war der Mann, der immer wiederkehrt, wenn eine Zeit noch einmal ihren Wert, da sie sich enden will, zusammenfaßt. Da hebt noch einer ihre ganze Last Und wirft sie in den Abgrund seiner Brust.

15

Die vor ihm hatten Leid und Lust; er aber fühlt nur noch des Lebens Masse und daß er Alles wie ein Ding umfasse, – nur Gott bleibt über seinem Willen weit: da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse für diese Unerreichbarkeit.260

Seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kunst und seinen Plan, bei dem damals berühmten Kunsthistoriker Richard Muther in Breslau eine kunstwissenschaftliche Dissertation anzufertigen, hatte Rilke indessen schon kurz nach der Jahrhundertwende aufgegeben. Dennoch sind die persönlichen

|| 259 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Dritter Band: Jugendgedichte [Gedichte 1884 bis 1905, Nachlass]. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Wiesbaden 1959, S. 506f. 260 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte. Erster Teil. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main 1955, S. 270f.

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Kontakte zu Künstlern wie August Endell und Henry van der Velde in München, später vor allem ab August 1902 dann mit Auguste Rodin in Paris oder Kunsthistorikern wie Richard Muther in Breslau für den Zugriff des Dichters auf Kunstwerke und seine Bewertung der Funktion von Bildender Kunst in der Gesellschaft nicht ohne Spuren geblieben, was schon die Position der Torso-Gedichte in seinen Gedicht-Sammlungen und die Widmung des „anderen Teils“ seiner Neuen Gedichte an Rodin dokumentieren.261 In David singt vor Saul lässt sich Rilkes Vorstellung von der „Schule des Sehens“262 – wie sie symptomatisch ist für die Neuen Gedichte – nachvollziehen: Aus der Anschauung eines konkreten Gemäldes und dem Wissen über den für die Ikonographie maßgeblichen biblischen Text wird ein Bildgedicht, das weniger in der Beschreibung des Dargestellten verharrt, sondern vielmehr das Geschaute als Instrument nutzt, um über das Verhältnis von Kunstproduktion und ihrer politischen Indienstnahme zu reflektieren (Abb. 52):

5

I König, hörst du, wie mein Saitenspiel Fernen wirft, durch die wir uns bewegen: Sterne treiben uns verwirrt entgegen, und wir fallen endlich wie ein Regen, und es blüht, wo dieser Regen fiel.

10

Mädchen blühen, die du noch erkannt, die jetzt Frauen sind und mich verführen; den Geruch der Jungfraun kannst du spüren, und die Knaben stehen, angespannt schlank und atmend, an verschwiegnen Türen.

15

Daß mein Klang dir alles wiederbrächte, Aber trunken taumelt mein Getön: Deine Nächte, König, deine Nächte –, und wie waren, die dein Schaffen schwächte, o wie waren alle Leiber schön.

|| 261 Vgl. August Stahl: Rilke und Richard Muther. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte des Dichters. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 223–251, hier bes. S. 223–234. 262 Sprengel: Die Entwicklung von Rilkes Lyrik, 2004, S. 115)

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Dein Erinnern glaub ich zu begleiten, weil ich ahne. Doch auf welchen Saiten greif ich dir ihr dunkles Lustgestöhn? –

20

25

30

35

40

II König, der du alles dieses hattest und der du mit lauter Leben mich überwältigest und überschattest: komm aus deinem Throne und zerbrich meine Harfe, die du so ermattest. Sie ist wie ein abgenommner Baum: Durch die Zweige, die dir Frucht getragen, schaut jetzt eine Tiefe wie vor Tagen welche kommen –, und ich kenn sie kaum. Laß mich nicht mehr bei der Harfe schlafen; sieh dir diese Knabenhand da an: glaubst du, König, daß sie die Oktaven eines Leibes noch nicht greifen kann? III König, birgst du dich in Finsternissen, und ich hab dich doch in der Gewalt. Sieh, mein festes Lied ist nicht gerissen, und der Raum wird um uns beide kalt. Mein verwaistes Herz und dein verworrnes hängen in den Wolken deines Zornes, wütend ineinander eingebissen und zu einem einzigen verkrallt. Fühlst du jetzt, wie wir uns umgestalten? König, König, das Gewicht wird Geist. Wenn wir uns nur aneinander halten, du am Jungen, König, ich am Alten, sind wir fast wie ein Gestirn das kreist.263

Einen signifikanten Schwerpunkt setzt das lyrische Ich, David, in der Bewertung der sozialen und hierarchischen Verhältnisse von König und Sänger. Jede erste Strophe der drei Teile hebt mit der ehrerbietenden Apostrophe des Königs an. Aus

|| 263 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte. Erster Teil. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main 1955, S. 488–490.

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dem entrückten Blick Sauls und dem in sein Harfenspiel vertieften David auf Rembrandts Gemälde wird im Gedicht der Monolog Davids. In seine Selbstdarstellung als Sänger, der in und mit seiner Kunst über die Gegenwart und Vergangenheit des Königs verfügen kann (V. 1–10), mischen sich allerdings schon im ersten Teil Selbstzweifel über die eigene künstlerische Kompetenz, wenn David feststellt „trunken taumelt mein Getön“ (V. 12). Noch gesteigert wird diese Selbstkritik im zweiten Teil und gipfelt dort in einer Entsagung der Kunst (V. 10-14), freilich nur, um im dritten Teil die Abhängigkeit der beiden voneinander umso deutlicher wieder herauszustellen, was sich im astronomischen Bild des kreisenden Gestirns (V. 13) verdichtet. Diese „Versöhnung zwischen dem Repräsentanten des Lebens und demjenigen der Kunst oder des Geistes“, so Roman Luckscheiter, geschehe zwar „unter der Ägide der Kunst“, doch zeichneten sich „keine weiteren Hierarchien im Sinne von Befehlsgewalten ab“.264 Luckscheiter sieht darin eine Emanzipierung der Kunst gegenüber der Macht und der politischen Indienstnahme von Kunst. Andererseits deutet er das Gedicht insgesamt auch als Darstellung von Rilkes biographischer Situation, nachdem der Bildhauer Auguste Rodin die Zusammenarbeit mit dem Dichter im Mai 1906 beendet hatte. Das Konkurrenzverhältnis der beiden auf Rembrandts Gemälde dargestellten biblischen Figuren sei im Falle von Rilkes Gedicht ebenso auf die allgemeine Konstellation von Künstler und Herrscher zu beziehen wie auch auf die sich hier spiegelnde biographische Situation, in der sich gleichsam und symbolisch mit Rodin/Saul und Rilke/David auch „Vertreter unterschiedlicher Künste begegnen“.265 In den Rembrandt-Gedichten von George und Rilke spielen damit die religiöse Ikonographie und die zeitgenössischen Modernitäts-Diskussionen um den niederländischen Künstler nur noch mittelbar eine Rolle, da das Anschauungsobjekt sich im Gedicht verselbständigt und zum Reflexionsinstrument über die Verhältnisse von Kunstproduktion und Wirklichkeit, Künstlertum und politischer Macht erhoben wird. Nicht um malerische Gestaltung geht es, sondern um

|| 264 Luckscheiter: David singt vor Saul, 2002, S. 70; Luckscheiter wendet sich auch gegen die nach seiner Meinung zu sehr vereinfachende These Manfred Fuhrmanns, der die Konstellation eher im Horizont von Rilkes (neu-)religiösen Erlebnissen im Umkreis von Lou Andreas Salomé deutet und vor allem im Gegensatz zu Georges Rembrandt-Dichtung bei Rilke den „Leidensdruck und die dienende Funktion des religiös bestimmten Autors“ thematisiert sieht, vgl. Manfred Windfuhr: „Religiöse Produktivität“ – die biblisch-jüdischen Motive in Rilkes Neuen Gedichten. In: Traditionen der Lyrik. Festschrift für Hans-Henrik Krummacher. Hg. von Wolfgang Düsing in Verbindung mit Hans-Jürgen Schings, Stefan Trappen und Gottfried Willems. Tübingen 1997, S. 137–150, hier S. 144. 265 Ebd., S. 73.

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die Figurenkonstellation, die aber aktualisierend und nicht von ihrer ikonographisch historischen Bedeutung her verstanden wird.

2.2 Alte Götter und neue Dichtung: Rainer Maria Rilkes Gedichte auf antike Skulpturen Über kaum einen Satz in der Lyrikgeschichte wurde ähnlich viel nachgedacht und geschrieben wie über die zweite Hälfte des letzten Verses („Du mußt dein Leben ändern“) von Rilkes Sonett Achaïscher Torso Apollos, das als Eröffnungsgedicht seiner 1908 erschienenen Sammlung Der Neuen Gedichte anderer Teil von der Forschung in werkbiographischer und programmatischer Hinsicht besondere Beachtung gefunden hat.266 Die herausragende Bedeutung des Gedichts in der Forschung ist auch gerechtfertigt, wenn man die Stellung des Sonetts innerhalb der bisher schon aufgezeigten Literaturgeschichte des Bildgedichts und hier speziell mit Blick auf die in Kapitel I., 4. behandelten Dichtungen zu antiken Skulpturen betrachtet. Gerade der letzte Vers legt die dem Sonett zugrundeliegende Konzeption des Verhältnisses von Kunstwerk, Betrachter und Dichtung offen, die eine radikale Abkehr von auf den Betrachter fixierten Gedicht-Konzeptionen darstellt. Haben die Gedichte Conrad Ferdinand Meyers zu antiken Skulpturen in ihrem virtuosen Umgang mit dem Mythos einerseits und dem betrachteten Kunstwerk andererseits schon einen gewandelten Zugriff auf die Artefakte gezeigt, der sich vor allem durch das sich im Dichten verselbständigende Betrachten auszeichnet, so wird diese Tendenz in Rilkes Archaïscher Torso Apollos ins Extrem gesteigert: Das Sehen geht nun nicht mehr vom Betrachter, sondern vom Kunstwerk selbst aus, so dass der Rezipient nur noch der Angesprochene und

|| 266 Die Forschung zu diesem Sonett von Rilke ist Legion. Hier und im Folgenden werden einzeln nur für die gewählte Fragestellung – Rilkes Apollo-Sonette im Kontext von Skulptur-Gedichten seit dem späten 19. Jahrhundert – relevante Studien genannt. Die Bedeutung des Schlussverses diskutiert schon Christian Grawe: Die Apollo-Sonette aus R.M. Rilke ‚Neue Gedichte‘: ‚Früher Apollo‘ und ‚Archaischer Torso Apollos‘. In: Der Deutschunterricht 28 (1976), S. 97–107, hier S. 106; mit Verweis auf zahlreiche ältere Deutungen und Studien vgl. auch Sabrina Habel: Aporie des Ästhetischen – Rilkes Archaïscher Torso Apollos. In: Der Witz der Philologie. Rhetorik – Poetik – Edition. Festschrift für Wolfram Groddeck zum 65. Geburtstag. Hg. von Felix Christen u.a. Frankfurt am Main, Basel 2014, S. 210–218, hier S. 210f.; Christian Villiger: Steinschrift. Rilkes Archaïscher Torso Apollos. In: sêma. Wendepunkte der Philologie. Hg. von Joachim Harst und Kristina Mendicino. Würzburg 2013, S. 239–254, hier S. 240f.; Harald Fricke: „Du musst dein Leben ändern“. Rilkes ‚Torso‘ und die Ästhetik der Individualität. In: Sprachkunst 30 (1999), S. 11–28, hier S. 25f.

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Angeschaute ist und nicht mehr die umgekehrte Konstellation als grundsätzliche Situation einer Kunstbetrachtung suggeriert wird.267 Im Schatten dieses Sonetts standen und stehen dagegen das die 1907 publizierten Neuen Gedichte eröffnende Sonett Früher Apollo von 1906 und die bereits während Rilkes Romaufenthalt vom November 1903 bis Mai 1904 entstandenen, umfangreichen und zunächst in Prosa verfassten erzählenden Gedichte Geburt der Venus268 und Orpheus. Eurydike. Hermes,269 die jeweils auch auf antike Bildhauerarbeiten Bezug nehmen sowie die auf Rilkes Anschauung von römischen Grabmalen und Sarkophagen zurückgehenden Gedichte Hetären-Gräber und Römische Sarkophage.270 Bei diesen Texten lässt sich wie bei Conrad Ferdinand

|| 267 Vgl. hierzu Walter Busch: Gestalt und Fragment: Das neue Sehen in Archaïscher Torso Apollos. In: Ders.: Bild – Gebärde – Zeugenschaft. Studien zur Poetik von Rainer Maria Rilke. Bozen 2003 (Essay & Poesie, Bd. 14; Incontri veronesi, Bd. 5), S. 67–89, bes. S. 76. 268 Vgl. Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte. Erster Teil. Hg. vom RilkeArchiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main 1955, S. 549–552. Rilkes Geburt der Venus bezieht sich wohl auf ein Marmorrelief, das aufgrund seines Fundortes (1887) auf dem im Barock der Familie Ludovisi gehörenden Gelände der Sallustianischen Gärten als Ludovisischer Thron in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Es befindet sich im Thermenmuseum (Museo Nazionale Romano) in Rom, wo es auch Rilke während seines Aufenthaltes in der Ewigen Stadt gesehen hatte. Wenig konkrete Deutungsansätze liefert Nicola Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2010 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 714), S. 249–271; Ettlin nimmt auch nicht Middletons wichtige Studie von 1968 zur Kenntnis, der dort bereits von einer Verschmelzung der Venus-Ikonographie nach Botticellis La nascita di Venere (1484/86) und dem antiken Relief gesprochen hat, vgl.: Christopher Middleton: Rilke’s birth of Venus. In: Arion 7 (1968), S. 372–391. 269 Vgl. Rilke: Sämtliche Werke. Erster Band, 1955, S. 542–545. Neben der freilich durch die literarische Tradition geprägten Orpheus-Figur bezieht sich Rilke hier in Umkehrung der Figurenanordnung auf das wohl 430–400 v. Chr. entstandene, nur in drei römisch-kaiserzeitlichen Kopien (Paris: Louvre, Rom: Villa Albani und Neapel: Museo Nazionale) erhaltene Relief, das als einziges diese Dreierkonstellation darstellt. Barbara Neymeyr sieht schon in der Umformulierung der Figuren und vor allem in der „radikalen Umgestaltung der Relation zwischen Orpheus und Eurydike“ (S. 32), deren über den Tod hinausgehende wechselseitige Liebesbeziehung Rilke in einem Akt der Akzeptanz von Zeit und Tod aufhebe, eine Dynamik des Dichtens verwirklicht, die die „Simultaneität des Reliefs“ (S. 30) bewusst hinter sich lasse, vgl. Barbara Neymeyr: Poetische Metamorphosen des Orpheus-Mythos bei Rilke: Von seinem Gedicht Orpheus. Eurydike. Hermes bis zu seinen Sonetten an Orpheus. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 18 (1999), Sonderheft, S. 25–59. 270 Für die zuletzt genannten Gedichte konstatiert Olaf Hildebrand einen bewussten Verzicht auf das Thema der Sepulkral- und Denkmalfunktion, was für die bildkünstlerische Vorlage der Gedichte von zentraler Bedeutung ist. Vgl. Olaf Hildebrand: Denkmäler des Lebens. Antike Sarkophage in Gedichten von Goethe und Rilke. In: „…auf klassischem Boden begeistert“. Antike-

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Meyers Antiken-Gedichten eine zwar vom Kunstwerk seinen Ausgang nehmende Revitalisierung mythologischer Stoffe und Problematisierung anthropologischer und ästhetischer Fragen beobachten. Doch sind diese Gedichte geprägt von einer extrem zurückgedrängten Bedeutung der ihnen zugrundeliegenden Kunstwerke.271 Die langen, aus 95 (Orpheus. Eurydike. Hermes) und 63 Versen (Geburt der Venus) bestehenden Gedichte zeichnen sich vielmehr durch eine große Zahl intertextueller Verweise auf Prätexte wie etwa Hesiod Theogonie in Geburt der Venus oder die Umdeutung des Orpheus-Stoffes in Orpheus. Eurydike. Hermes zu einem „poetischen Paradigma für die Absage an die Individualität“ im Horizont der für Rilkes Neue Gedichte konstitutiven „Polarität von Leben und Tod“272 aus. Im Kontext der Orpheus-Dichtungen um 1900 wurde das dichtungsprogrammatische Potential gerade des zuletzt genannten Gedichts und im Blick auf die späteren Sonette an Orpheus (1992) immer wieder betont.273 Könnte man mit Gerhard Kaiser in diesen früheren Gedichten Rilkes seine dichterische Auseinandersetzung mit antiken Skulpturen noch in der Tradition Conrad Ferdinand Meyers sehen, so markieren die Apollo-Sonette von der Anlage und Aussageabsicht sowie vom Umgang mit den bedichteten Kunstwerken her einen Bruch mit der in den früheren Gedichten konzentrierten Verbindung von Skulptur und intertextuellen Verweisen im Sinne einer Weiter- oder Umdichtung des Mythos, weshalb im Folgenden die beiden Apollo-Sonette in ihrer Stellung

|| Rezeption in der deutschen Literatur. Hg. von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof. Freiburg im Breisgau 2004 (Rombach Wissenschaften. Reihe Paradeigmata, Bd. 1), S. 211–233. 271 Das hat bereits Hans Jürgen Tschiedel in seiner breiter angelegten Studie zu Rilke und die Antike betont und spricht von einer Anschauung der Kunstwerke, die im Gedicht und in der Dichtung zu einem anderen Sehen als nur dem in Worten gefassten Betrachten werde, vgl. Hans Jürgen Tschiedel: Orpheus und Eurydike. Ein Beitrag zum Thema: Rilke und die Antike. In: Rainer Maria Rilke. Hg. von Rüdiger Görner. Darmstadt 1987, S. 285–318; älter, aber immer noch wichtig zum Thema: Werner Kohlschmidt: Rilke und die Antike. In: Werner Kohlschmidt: RilkeInterpretationen. Lahr 1948, S. 37–78. 272 Neymeyr: Poetische Metamorphosen, 1999, S. 50 bzw. 49. 273 Vgl. Neymeyr: Poetische Metamorphosen, 1999; jenseits von Rilkes Orpheus-Sonetten konturiert Aurnhammer die dichtungsprogrammatische Funktion und Bedeutung von Orpheus als „Prototyp des modernen Künstlers“ um 1900 bei Karl Wolfskehl, Friedrich Gundolf und Ernst Bertram, vgl. Achim Aurnhammer: Orpheus im George-Kreis. In: „…auf klassischem Boden begeistert“. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Hg. von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof. Freiburg im Breisgau 2004 (Rombach Wissenschaften. Reihe Paradeigmata, Bd. 1), S. 295–313.

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und Bedeutung für die Literaturgeschichte des Bild-, genauer gesagt: des Skulpturengedichts analysiert werden sollen.274 Wie schon in Rilkes Rembrandt-Gedicht zeugen gerade die beiden Apollo-Sonette auch in werkbiographischer Perspektive von einer Distanzierung vom eigenen, älteren Werk, was nicht zuletzt auf Rilkes Begegnung und Auseinandersetzung mit Rodin in Paris 1902 zurückzuführen ist. Mit dessen Überlegungen zur Fragmentarik – die letztlich auch auf eine Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Michelangelos zurückgehen – und seine Konzepte des Fragmentarischen als genuin moderner künstlerischer Ausdrucksform war Rilke bestens vertraut.275 Die Forschung hat daher auch vielfach betont und herausgearbeitet, dass Rilkes späteres Apollo-Sonett – das trifft aber ebenso auf Früher Apollo zu – mittels der Unvollständigkeit der Skulptur-Vorlage in der dichterisch-sprachlichen Umsetzung einerseits die Möglichkeit der Wahrnehmung von künstlerischer Ganzheit problematisiere,276 andererseits sowohl das Kunstwerk als Fragment zum Inbegriff der Vollkommenheit als auch das Sonett selbst zum vollkommenen ästhetischen Artefakt erhebe und das Gedicht daher „eine Art moderner Wirkungsästhetik des Fragmentarischen“ enthalte:277 Früher Apollo Wie manches Mal durch das noch unbelaubte Gezweig ein Morgen durchsieht, der schon ganz Im Frühling ist: so ist in seinem Haupte Nichts was verhindern könnte, daß der Glanz 5

aller Gedichte uns fast tödlich träfe; Denn noch kein Schatten ist in seinem Schaun, zu kühl für Lorbeer sind noch seine Schläfe und später erst wird aus den Augenbraun

|| 274 Vgl. Gerhard Kaiser: Stein und Sprache. Rilkes Sonett „Archaïscher Torso Apollos“. In: Literatur für Leser 11 (1988), S. 107–118, hier S. 113. 275 Einen Überblick bieten die Beiträge folgender Ausstellungskataloge: Rodin und die Skulptur im Paris der Jahrhundertweden. Hg. von Katerina Vatsella. Bremen, Heilbronn 2000; Vor 100 Jahren. Rodin in Deutschland. Hg. von Michael Kuhlemann. München 2006. 276 Vgl. hierzu Busch: Gestalt und Fragment, 2003, S. 80. 277 Vgl. die grundlegende Studie von Peter Horst Neumann: Rilkes Archaischer Torso Apollos in der Geschichte des modernen Fragmentarismus. In: Fragment und Totalität. Hg. von Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt am Main 1984 (edition suhrkamp, 1107; N.F. 107), S. 257–274, bes. S. 257f., Zitat S. 262.

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hochstämmig sich der Rosengarten heben, aus welchem Blätter, einzeln, ausgelöst hintreiben werden auf des Mundes Beben, der jetzt noch still ist, niegebraucht und blinkend und nur mit seinem Lächeln etwas trinkend als würde ihm sein Singen eingeflößt.278

Archaïscher Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, 5

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sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz Unter der Schultern durchsichtigem Sturz Und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.279

Betrachtet man die nur einige Jahre zuvor entstandenen Gedichte zu antiken Skulpturen von Emmanuel Geibel, Martin Greif, Heinrich Vierordt aber auch Conrad Ferdinand Meyer und deren Verhältnis von künstlerischem Objekt, Geschichte, Zeit und Gedicht, so stand diese Kunstbetrachtung und Antikenrezeption im Dienste der Beförderung einer neuen (kultur-)politischen staatlichen Souveränität und formulierte Kritik an einem fehlgeleiteten musealen Kunstkonsum wie sie auch archäologische Funde und Diskussionen begleitete und literarisierte. Diese Aspekte spielen dagegen in Rilkes Apollo-Sonetten keine Rolle mehr. Beide Gedichte erinnern nur noch an einen „Kunstzusammenhang“ und

|| 278 Rainer Maria Rilke: Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895–1910. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main, Leipzig 1996, S. 449. 279 Ebd., S. 513.

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damit an einen mit den Skulpturen verbundenen kulturellen Kontext.280 Sie thematisieren aber nicht mehr die Entstehungszeit, kultisch-funktionale Kontexte oder formulieren gar eine (politisch-)kulturelle Indienstnahme, sondern geben den Skulpturen mit den neuen Namen – und der Bezeichnung als Apoll-Darstellung – gleichsam eine neue, dichtungstheoretische Funktion. Daher wurden im Zusammenhang von Rilkes aus den Neuen Gedichten ableitbaren programmatischen Überlegungen und Positionen die beiden Sonette gerade in der Zusammenschau als Dokumente einer „idealistisch grundierten Poetologie im Medium einer antiklassizistischen Antikenrezeption“ gedeutet, die „zwar auf dichtungstheoretische Prämissen der idealistischen Kunstepoche“ rekurriere, ihr poetologisches Programm aber „nicht am Beispiel einer klassischen Skulptur wie dem berühmten Apoll vom Belvedere“ exemplifiziere.281

Bei den bedichteten Bildhauerwerken handelt es sich um zwei vorklassische, aus der Zeit der späten, griechischen Archaik stammende Skulpturen-Fragmente. Sowohl der auf ca. 530 v. Chr. datierende Kuros-Kopf (Früher Apollo) als auch der ebenfalls aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert stammende sogenannte

|| 280 Vgl. Georg Braungart: Rainer Maria Rilkes Achaïscher Torso Apollos und das Ende der ästhetischen Beliebigkeit. In: Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm. Hg. von Dieter Heimböckel. Würzburg 2005, S. 229–236, Zitat S. 232. 281 Thorsten Valk: Antikenrezeption und Dichtungstheorie in Rilkes Sonetten Früher Apollo und Achaïscher Torso Apollos. In: „…auf klassischem Boden begeistert“. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Hg. von Olaf Hildebrand und Thomas Pittrof. Freiburg im Breisgau 2004 (Rombach Wissenschaften. Reihe Paradeigmata, Bd. 1), S. 335–363, hier S. 338; Valks Überlegungen vor allem zur „Suspendierung von Winckelmanns Antike-Bild“ ist zwar zuzustimmen, doch übergeht seine Ausgangsthese, dass bisher in der Forschung die poetologische Kodierung der Sonette nicht hinreichend beachtet worden sei, zahlreiche Ansätze zur poetologischen und programmatischen Lesart und Deutung der Sonette, wie sie schon bei dem von ihm zitierten Christian Grawe zu finden sind, vgl. Grawe: Die Apollo-Sonette, 1976, S. 103; ferner auch – worauf später noch weiter eingegangen wird – bei Neumann: Rilkes Archaischer Torso, 1984, S. 257; Fricke: „Du musst dein Leben ändern“, 1999, S. 12 bzw. 26; Lothar Huber: Von der bildenden Kunst zur Dichtung. Einige Bemerkungen zu den Programmgedichten in Rilkes ‚Neuen Gedichten‘. In: Sprachkunst 30 (1999), S. 29–45; die Studien von Habel und Sautermeister konnte Valk freilich noch nicht berücksichtigen, sie sind aber für diesen Zusammenhang ebenfalls relevant, vgl. Habel: Aporie des Ästhetischen, 2014, S. 210f. und Gert Sautermeister: Rilke in Paris. Kulturgeschichte und Ästhetik im Archaischen Torso Apollos und im Panther. In: Frankreich-Deutschland: Transkulturelle Perspektiven/France-Allemagne: Perspectives transculturelles. Literatur, Kunst und Gesellschaft – Littérature, arts, société. Festschrift für Karl Heinz Götze. Mélanges en l’honneur de Karl Heinz Götze. Hg. von Wolfgang Fink, Ingrid Haag und Katja Wimmer. Frankfurt am Main 2013, S. 235–255, hier S. 237f.

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Jünglingstorso von Milet (Archaïscher Torso Apollos) befindet sich im Pariser Louvre, wo sie Rilke gesehen hat (Abb. 53 und 54). 282

Abb. 53: Kuros-Kopf, archaisch (ca. 530 v. Chr.)

Abb. 54: Jünglings-Torso von Milet, archaisch (6. Jhdt. v. Chr.)

Die Wahl der Skulpturenfragmente verweist gleichzeitig auf die vor allem durch die Rezeption von Nietzsches Geburt der Tragödie (1872) um die Jahrhundertwende zu beobachtende antiklassizistische Antiken-Bilder als kulturgeschichtlichen Kontext.283 Gerade auch in der Bildenden Kunst um 1900 spielen dieser durch Nietzsche ausgelöste, gewandelte Zugang zur Antike, der Rückgriff auf vorklassische Werke und die (eklektizistische) Kombination antiker (dionysischer) Motive und Mythen mit eigenen, als modern empfundenen Stiltendenzen

|| 282 Grundlegend immer noch Ulrich Hausmann: Die Apollosonette Rilkes und ihre plastischen Urbilder. Berlin 1947, bes. S. 12f.; zur Diskussion auch Fricke: „Du mußt dein Leben ändern“, 1999, S. 18f. 283 Vgl. Valk: Antikenrezeption und Dichtungstheorie, 2004, S. 344f.

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und ästhetischen Vorstellungen eine bedeutende Rolle.284 Die Literaturgeschichte des Bildgedichts lässt sich mit Rilkes Rückgriff auf nicht-klassische Skulpturen der griechischen Antike also auch in einen größeren Kontext der Kultur- und Kunstgeschichte einordnen. Indem Rilke nun den nicht als Fragmente von Apollo-Figuren im Louvre ausgestellten, aber eindeutig als Vorlagen für seine Sonette identifizierbaren Skulpturen den Namen des antiken griechischen Gottes – in der Überschrift allerdings in der römisch-lateinischen Schreibweise – für Licht sowie für Musik, Dichtkunst und Kunst im Allgemeinen zuweist, öffnet sich der von der Forschung in der Zusammenschau der beiden Sonette immer wieder betonte programmatisch-poetologische Deutungshorizont der Gedichte für die beiden Sammlungen Neue Gedichte und Der Neuen Gedichte anderer Teil. So entwerfe das erste Sonett Früher Apollo mit seinen temporalen Adverbien des „noch nicht“ (V. 1, 6, 7, 12) und der jahreszeitlichen-typologischen Bindung an den Frühling einen Zustand der Frühe, demgegenüber das zweite Sonett, Archaïscher Torso Apollos, eine Situation der Reifezeit und des Nachklangs evoziere, die beide – schon von der Überschrift her – als metaphorische Umschreibungen des Apollon-Amtes, also des Dichters, der Dichtung und des Dichtens zu deuten seien.285 Wenn auch der Betrachter schon in diesem frühen Sonett kaum mehr in einer aktiven Beziehung zum angeschauten Kunstobjekt fassbar wird, sondern, umgekehrt, man bei einer narratologischen Beschreibung des Sonetts von einer internen Fokalisierung des Kuros-Kopfes selbst sprechen könnte, wird das Kunstobjekt doch erst in der Betrachtung zum Kunstding. Mehr noch: Das Kunstobjekt wird in der Korrelation mit der Apollon-Zuschreibung selbst zum Gedicht, indem das Haupt (V. 3) mit dem „Glanz aller Gedichte“ (V. 4–5) identifiziert wird.286 Im Unterschied zu den bisher behandelten Gedichten zu Skulpturen der Antike geht diese Betrachtung aber vom Gegenstand selbst aus. Das im späteren Sonett auf den Archaïschen Torso Apollos in der imperativischen Formel „Du mußt dein

|| 284 Am Beispiel zentraler Autoren (Freud) und Künstler (Klimt) stellt diesen Zusammenhang dar: Peter Sprengel: Wiener Moderne und Wiener Antike: von Hofmannsthal bis Ehrenstein. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hg. von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler. Stuttgart, Weimar 2001, S. 217–233; ferner auch im selben Band: Pascal Weitmann: Vom Akademismus bis zur Abstraktion. Antiken in der bildenden Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Ebd., S. 158–185. 285 Diese Zuordnung hat bereits Grawe: Die Apollosonette, 1976, S. 99–103 vorgenommen; siehe auch Hausmann: Die Apollosonette Rilkes, 1947, S. 16f.; daran knüpft auch Valk an, vgl. Valk: Antikenrezeption und Dichtungstheorie, 2004, S. 345ff. 286 Die Bedeutung der Sonette für Rilkes Konzept des Dinggedichts betont auch Busch: Gestalt und Fragment, 2003, S. 67f.

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Leben ändern“ (V. 14) kulminierende, sich selbst noch im Fragment entfaltende Wirkungspotential der antiken Skulpturen mit ihrer „daseinsverändernden Kraft“287 (V. 5: „uns fast tödliche träfe“) wird indessen auch schon in diesem früheren Sonett thematisiert.288 Durch die Korrelation von Apollon-Mythos mit dem archaischen Skulpturen-Fragment und die programmatische Positionierung des Sonetts als Eröffnungsgedicht der Neuen Gedichte entwirft Rilkes Früher Apollo eine vom Betrachter aus gesehen sowohl vom Kunstgegenstand Abstand nehmende, gleichzeitig diesen aber auch wieder überhöhendes Konzept der Kunstanschauung und -funktionalisierung, in der die „Bedingungen des (Über-)Dauerns der schönen, plastisch verkörperten Schönheit“289 problematisiert werden, was nicht zuletzt wieder auf Rilkes Erfahrungen mit und Kenntnisse von Rodins Fragment-Ästhetik zurückweist. Das Thema des Sehens und Betrachtens wird in dem weitaus berühmteren, von der Forschung aus kunstgeschichtlicher, immanent ästhetischer, zeitgeschichtlich-naturwissenschaftlicher und auch religions- und kulturgeschichtlicher Perspektive gedeuteten Sonett Archaïscher Torso Apollos wieder aufgegriffen,290 was das Verhältnis von Betrachter und Skulpturen-Fragmente anbelangt gegenüber dem früheren Gedicht allerdings um einem zusätzlichen Aspekt erweitert: War es in Früher Apollo immerhin der Kopf einer nicht mehr vollständig erhaltenen Kuros-Figur, von der das Sehen seinen Ausgang nahm, so wird der Sehvorgang im Eröffnungssonett von Der Neuen Gedichte anderer Teil nicht nur wieder umgekehrt, sondern auch einer Skulptur zugeschrieben, die nur noch aus einem Torso besteht, von der aber dennoch eine Betrachtung des Betrachters ausgeht (V. 13–14).291 Anders als bei den Antiken-Gedichten des späten 19. Jahrhunderts wird der im Kunstwerk zwar noch lebendige, aber nicht mehr lückenlos rekonstruierbare Kulturzusammenhang nicht dichterisch imaginiert, || 287 Grawe: Die Apollosonette, 1976, S. 106. 288 Huber spricht in seinem Beitrag von einer als „plötzliche Erleuchtung“ inszenierten Wirkung des Kuros-Kopfes bzw. des Sonetts. Die Wahl eines aus der griechischen Archaik und eben nicht aus der Klassik stammenden Skulpturen-Fragmentes wertet er als bewussten Anschluss an vitalistisch-künstlerische Tendenzen und sieht sowohl in der „Raubtierfell“-Metapher des späteren Sonetts als auch in der aus Früher Apollo zitierten Stelle (V. 4–5), in der es um die „fast“ tödlichen Wirkung von Gedichten geht, eine „Bedrohung des zivilisierten Bewußtseins in seiner Scheinsicherheit“, vgl. Huber: Von der bildenden Kunst zur Dichtung, 1999, S. 36–39, Zitate S. 37. 289 Busch: Gestalt und Fragment, 2003, S. 67. 290 So systematisiert Sautermeister die umfangreiche Forschung zu dem Sonett, vgl. Sautermeister: Rilke in Paris, 2013, S. 235ff. 291 Vgl. Grawe: Die Apollosonette, 1976, S. 100; ferner auch Sautermeister: Rilke in Paris, 2013, S. 237.

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phantasievoll-mythologisch oder archäologisch-wissenschaftlich im Gedicht entworfen. Schon der Eingangsvers „Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt“ (V. 1) eröffnet das Sonett mit einem Bekenntnis zur Unkenntnis über den ursprünglichen Zustand der Skulptur. Die zunächst konkret auf das Fragment bezogene, nicht mehr fassbare Ganzheit des Kunstwerkes, die sich beim Anblick des Torsos manifestiert und Ausdruck verschafft, kann indessen auch in einem allgemeinen kulturhistorischen Sinne verstanden werden: Der noch mit Artefakten der griechischen Antike oft auch im Gedicht verbundene Optimismus des späten 19. Jahrhunderts ist hier einem Krisenbewusstsein gewichen, das das Fragmentarische nicht mehr überspielt, sondern es – im Gegenteil – dichterisch und ästhetisch fruchtbar macht für eine Reflexion über die Voraussetzungen des Dichtens selbst und das Verhältnis von (idealem) Kunstwerk und sprachlicher Kunst- und Weltaneignung.292 Das allegorische Sprechen über den Torso ist nach Habel nicht nur das wesentliche rhetorische Mittel des Sonetts, sondern sei auch als „sprachliches Äquivalent“ zum „zerbrochenen Körper“293 zu deuten, insofern das Fragmentarische als auch die Allegorie nur noch einen mittelbaren Bezug zur Wirklichkeit herzustellen vermag. Dass Rilke mit dieser Behandlung des überzeitlich Schönen und Idealen am Beispiel eines antiken Skulpturenfragmentes auch an ältere, bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu Hegel und Moritz zurückreichende Ästhetik-Diskurse anknüpft, hat die Forschung vielfach betont.294 Entscheidend für die Bedeutung von Rilkes Apollo-Sonetten für die Literaturgeschichte des Bildgedicht ist neben dem kunst- und kulturhistorisch bedeutsamen Rückgriff auf archaische Skulpturen und der dichtungstheoretischen Ausrichtung der Sonette vor allem die Neu-Konzeption des Betrachter-Kunstwerk-Verhältnisses: Nicht mehr die Kunstwerke werden von einem Betrachter für die Wirklichkeit oder Wirklichkeitsdeutung angeschaut und instrumentalisiert,

|| 292 Mit Hinweisen und Anknüpfungen auch an die Sprachkrise der Jahrhundertwende vgl. Habel: Aporie des Ästhetischen, 2014, S. 215–217. 293 Ebd., S. 216. 294 Vgl. Hans Körner: Blickende Leiber, lebendige Farbe und die Krise der erotischen Kunst. Rilkes Sonett „Archaïscher Torso Apollos“ im Kontext. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 43 (1998), S. 59–76; Habel: Aporie des Ästhetischen, 2014, S. 215f.; Habel stellt vor allem den Zusammenhang zu Hegels Überlegungen zur griechischen Skulptur aus seinen Vorlesungen über die Ästhetik und hält fest (S. 215): „In dem steinernen Ideal des Klassischen ist der Bruch schon angelegt, den das Allegorische spiegelt. Das zeitlos gedachte Ideal ist immer schon vergangen. Diese Paradoxie des Geschichtlichen stellt Hegel als Vergangenheitscharakteristikum des Kunstideals an den Skulpturen selbst heraus.“

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sondern die „Überwältigung der Wirklichkeit durch die Kunst“295 kann als appellative Quintessenz der beiden Terzette (V. 9–14) und des gesamten Sonetts verstanden werden.

2.3 Zeitdiagnose und Zukunftsutopie: Richard Dehmel und die Bildende Kunst (Heine-Denkmal, Ferdinand Hodler, Max Klinger) In ähnlicher Weise wie Rilke räumt auch Richard Dehmel in seinen theoretischen Überlegungen der Kunst insgesamt einen hohen Stellenwert für das (Alltags-)Leben ein. Der 1863 im brandenburgischen Wendisch-Hermsdorf geborene, promovierte Ökonom wurde von der zeitgenössischen Öffentlichkeit aber auch von seinen Dichterkollegen wie Thomas Mann oder Frank Wedekind als bester ‚deutscher Dichter‘ apostrophiert und feierte mit seinen Gedicht- und Prosabänden auflagenstarke Erfolge.296 Dehmels programmatisch-poetologische und ästhetische Positionen sind einerseits durch eine post- und antinaturalistische, andererseits durch eine anti-ästhetizistische Tendenz gekennzeichnet und vor allem im Frühwerk geprägt von lebensreformatorisch-vitalistischem und nietzscheanisch-darwinistischem Ideengut, was sich in besonderer Weise an seinem „großangelegtem Weltanschauungsgedicht“297 Jesus und Psyche. Phantasie bei

|| 295 Körner: Blickende Leiber, lebendige Körper, 1998, S. 72; einen ähnlichen Befund formuliert auch Villiger, für den die Eigenart des Sonetts darin besteht, „vom Leser bzw. Betrachter über die kognitive, (literatur-)wissenschaftliche Erfassung des Gegenstands hinaus eine existentielle Betroffenheit, eine emotionale Erschütterung […] einzufordern“, Villiger: Steinschrift. Rilkes Archaïscher Torso Apollos, 2013, S. 240. 296 Grundlegend ist die Arbeit von Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg 2007 (Klassische Moderne, Bd. 9); nach werkbiographischen Kontinuitäten und Brüchen der Jugendstil-Dichtungen und Werken aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg fragt Barbara Beßlich unter der Perspektive, ob sich Dehmels Schaffen unter dem Begriff „ästhetisch-politischer Konservatismus“ und Traditionalismus fassen lässt, vgl. Barbara Beßlich: „Corrector Germaniae“. Naturalismus-Kritik, Schönheitsstreben und Nationalpädagogik bei Richard Dehmel. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Frankfurt am Main, New York: Campus 2007 (Historische Politikforschung, Bd. 10), S. 146–165. 297 Björn Spiekermann: Weltanschauungskunst. Richard Dehmels lyrische Bearbeitung von Klingers Christus im Olymp. In: Max Klinger. Wege zur Neubewertung. Hg. von Pavla Langer, Zita Á. Pataki und Thomas Pöpper, im Auftrag von Richard Hüttel, Hans-Werner Schmidt und Frank Zöllner. Leipzig 2008, S. 212–226, hier S. 218.

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Klinger (1895) zu Max Klingers Monumentalwerk Christus im Olymp (1893–1897) demonstrieren lässt. Dehmel gehört wie Stefan George, Carl Sternheim und Rainer Maria Rilke zu den großen Kunstkennern der um 1900 schreibenden Autoren und betreibt als Mitbegründer der seit 1895 erscheinenden Jugendstilzeitschrift Pan eine antiästhetizistische Versöhnung von Kunst und Leben, indem er eine „Kunst fürs Leben“ entwirft.298 Mit dieser Position steht Dehmel nicht alleine da. Neben dem Kunst- und Kulturhistoriker John Ruskin fordern in gleicher Weise auch der mit Dehmel befreundete Künstler Peter Behrens und Henry van de Velde eine Einheit von Leben und Kunst, was von der Forschung mit den für die Lebensreform maßgeblichen Schlagworten „Echtheit, Reinheit, Klarheit und Natürlichkeit“299 zusammengefasst worden ist. Daneben ist für den Dichter Dehmel die Forderung nach einer Verschmelzung der Einzelkünste von zentraler Bedeutung für seine Kunstauffassung. Nur in der Synthese der (Einzel-)Künste entstehe die „ethische Vervollkommnung durch die Kunst“, die ebenso wichtig sei wie die „Allianz von Künsten und Naturwissenschaften“,300 die gleichsam die Rückbindung an die Wirklichkeit garantiert. Die Verbindung von Kunst und Leben sowie die Korrelation von innerem Zustand des Menschen, menschlicher Erfahrung und künstlerischer Überhöhung des Lebens selbst markieren lebensreformerische Grundideen, in denen sich das von der Forschung formulierte Prinzip der „Schönheit als Weltanschauung“ verdichtet.301 Zwar ist die in Dehmels großangelegtem Gedicht Jesus und Psyche präsentierte Wirklichkeit die Traum-Imagination und künstliche Atelierwelt eines

|| 298 Vgl. zusammenfassend Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 45, bes. auch S. 47–87. 299 Kai Buchholz: Begriffliche Leitmotive der Lebensreform. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hier Bd. I. Hg. von Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, S. 41–43, hier S. 41. 300 Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 112 bzw. 217. 301 Kai Buchholz: Lebensreform und Lebensgestaltung. Die Revision der Alltagspraxis. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hier Bd. I. Hg. von Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, S. 363–368, hier S. 363; ähnlich auch die These bei Beßlich: „Corrector Germaniae“, 2007, S. 150, die Dehmels „Orientierung an der Schönheit“ als maßgebliches werkbiographisches Kontinuum herausstellt; schon etwas älter, aber immer noch griffig die Charakterisierung Dehmels im Kontext eines problematischen Jugendstil-Begriff von Paul Requadt, der George und Dehmel als „äußerste Pole“ einer Richtung auffasst, mit denen man die „Möglichkeiten des literarischen Jugendstils zwischen einer den Leib steigernden Geistigkeit bis zu profanem, obwohl oft religiös gemeintem Vitalismus“ konturieren könne, vgl. Paul Requadt: Jugendstil im Frühwerk Thomas Manns. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 40 (1966), S. 206–216, Zitat S. 207.

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kunstliebenden und kunstbetrachtenden Dichters, doch wird gerade in der weltanschaulich utopischen Perspektivierung der Konstellation von Antike und Christentum die Relevanz der Kunst und des künstlerischen Schaffensprozesses für das ‚äußere Leben‘ deutlich: Das biblisch-mythologische Sujet von Klingers Monumentalgemälde aktualisiert Dehmel in seinem Gedicht und markiert deutlich die Bezüge zu zeitgenössischen weltanschaulichen Diskussionen um Religion und Moral, Kultur und Natur sowie Kunst und Leben. Dementsprechend betont Dehmel auch in der Vorrede zu seinem Gedichtband Lebensblätter (1895), in dem auch das Klinger-Gedicht erschienen ist, dass er „gewiss nicht irgendeinen ‚ismus‘ predigen“ wolle, der Gegensatz aber von Innenwelt und Außenwelt ein „Schulwitz und ästhetischer Unsinn“ sei, da „was sinnlich wahrgenommen werden könne“, für den Künstler auch wahr sei.302 Wenn auch die anti-ästhetizistische Stoßrichtung der Vorrede überdeutlich erkennbar wird, indem Dehmel den „Menschheitswert der Kunst“ als „Ausdruck unseres Entwicklungswillens, Erhaltung und Züchtung der Lebenslust“303 definiert und damit die Trennung von Lebens- und Kunstwelt mit darwinistisch-vitalistischen Argumenten zu nivellieren versucht, so schließt er doch in der sakralen Überhöhung des Künstlers und seinem Genie-Konzept sowohl an Dichter- und Künstlerbilder der Décadence als auch an den Künstler-Titanismus des späten 19. Jahrhunderts an unter der Maßgabe, dass der „Künstler fähig und berechtigt ist, am ethischen Fortschritt der Menschheit mitzuwirken“.304 Dehmels Kenntnisse der Bildenden Kunst waren breit gefächert. Er verfolgte äußerst genau bildkünstlerische Entwicklungen und Strömungen, pflegte Kontakte zu Künstlern seiner Zeit wie etwa zu den Brücke-Malern Karl Schmitt-Rottluff und Erich Heckel oder zu den 1907 an die Hamburger Kunstgewerbeschule

|| 302 Richard Dehmel: Lebensblätter. Gedichte und Anderes. Mit Handzeichnungen von Josef Sattler. Berlin 1895, S. 7–29, hier S. 14; zur Bedeutung und Einordnung der Vorrede, auf die später noch weiter eingegangen wird, vgl. Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 104– 111; zum Thema „Kunst als das bessere Leben“ im Horizont der Jugendstil-Dichtung und -Kunst vgl. Cornelia Blasberg: Jugendstil-Literatur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 682–711, bes. S. 688–696; insgesamt das kultur- und zivilisationskritische Potential vieler Dehmel-Texte stellt Barbara Beßlich heraus, die auf die schon in den Titeln teilweise greifbaren „Erlösungen“ vom Alltag hinweist, vgl. Beßlich: „Corrector Germaniae“, 2007, S. 149. 303 Dehmel: Lebensblätter, S. 13. 304 Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 111; Spiekermann betont für die Vorrede und auch für die Schrift Die neue deutsche Alltagstragödie (1892) die „moraldidaktische Vorbildästhetik“, die Dehmels kunsttheoretisches Denken kennzeichne; zur Bedeutung von Dehmels darwinistischem Denken für seine Kunsttheorie vgl. auch Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 216f.

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berufenen Wiener Künstlern Richard Luksch und Carl Otto Czeschka. Wie Stefan George zeigte sich Dehmel penibel in der Material-Auswahl und Ausstattung seiner gedruckten Werke und trat auch als Möbel-Entwerfer für seine Wohnungen in Erscheinung, über die er sich vor allem mit seinem Freund Peter Behrens austauschte.305 Ließ sich Dehmel in seinen Werken durch andere künstlerische Disziplinen inspirieren wie etwa im Falle des von Edvard Munchs Bildwelt beeinflussten Bandes Zwei Menschen (1895/1903), so bot er umgekehrt mit seinen Gedichten auch Anregungen für Bildende Künstler, was am Beispiel von Ernst Ludwig Kirchners expressionistischem Holzschnittzyklus Zwei Menschen (1905) eindrücklich nachvollziehbar wird und auch Berührungspunkte unterschiedlicher Strömungen wie Jugendstil und Expressionismus dokumentiert, die nicht zuletzt in dem Bestreben, Gattungsgrenzen der Kunstdisziplinen aufzuheben, begründet sind. 306 Dehmels Umgang mit der Bildenden Kunst zeichnet sich vor allem durch sein programmatisches Bekenntnis und seinen Willen zum Gesamtkunstwerk aus. Mit der Forderung, Gattungsgrenzen zu überwinden und zu ignorieren formuliert Dehmel gleichzeitig auch einen lebensweltlichen Auftrag für die Künste, was an die nationalistische Indienstnahme von Literatur, Bildender Kunst, Musik und Architektur im Sinne eines Gesamtkunstwerkes erinnert, wie sie in der Gründerzeit und im späten 19. Jahrhundert etwa im Zusammenhang mit den Dürer-Feiern schon beschrieben worden ist. Dehmel diagnostiziert in seiner Kritik zur Berliner

|| 305 Die Brücke-Maler lernte Dehmel über den Hamburger Juristen und Kunstmäzen Gustav Schiefler kennen, der auch Werkverzeichnisse der graphischen Arbeiten von Edvard Munch und Ernst Ludwig Kirchner erstellte. Sehr genau zeichnet diese Beziehungen Peter-Klaus Schuster nach, der auch ausführlich auf Dehmels eigenes bildkünstlerisches Schaffen eingeht, vgl. PeterKlaus Schuster: Leben wie ein Dichter. Richard Dehmel und die bildenden Künste. In: Ideengeschichte und Kunstwissenschaft. Philosophie und bildende Kunst im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai, Stephan Waetzold und Gerd Wolandt. Berlin 1983 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 3), S. 181–221, hier bes. S. 185–190; trotz Dehmels weitläufiger Beschäftigung und zahlreichen Verbindungen mit der Bildenden Kunst fehlt ein Artikel zu ihm in dem sonst verdienstvollen Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. 2 Bde. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. Berlin, Boston 2011. 306 Vgl. Schuster: Leben wie ein Dichter, 1983, S. 185f.; die Nähe zum Expressionismus macht Barbara Beßlich an Dehmels mit Rembrandt verbundener Genieästhetik fest, vgl. Beßlich: „Corrector Germaniae“, 2007, S. 160; zu Dehmels Bedeutung für Kirchner vgl. Meike Hoffmann: Mit der Ausdrucksarabeske auf dem Weg zum Expressionismus – Ernst Ludwig Kirchners Holzschnittzyklus Zwei Menschen (Mann und Weib). In: wort wird bild. Illustrationen der „Brücke“Maler. Hg. von Hermann Gerlinger und Katja Schneider. Halle 2011 (Almanach der Brücke, Bd. 2), S. 23–29.

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Kunstausstellung von 1895, dass „wieder eine Zeit gekommen ist, in der die Künste gegenseitig sich befruchten, weil sie endlich alle wieder gleichen Sinnes auf das eine grosse Leben zielen, nicht auf getrennte Zunftwirtschaft, wie sehr auch mancher ganze Künstler in seine Meistertrics [sic!] verliebt sein mag“.307 Auch die von ihm bewunderten Künstlern der Vergangenheit und Gegenwart wie Michelangelo, Veronese und Rembrandt sowie Klinger, Munch, Böcklin und Thoma stehen für eine Kontinuität in der Geschichte der ‚wechselseitigen Erhellung der Künste‘.308 Gleichwohl akzentuiert Dehmel hier auch ganz im Sinne der Lebensreform und einer vitalistischen Weltanschauung etwa Michelangelo nicht mehr nur als übermenschlichen Künstlerheroen mit deutsch-nationalem Identifikationspotential, sondern betont, dass Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle „das moderne Ideal geschlechtlicher Kraftentwicklung in Mann und Weib“ offenbare, „den Kampf und Adel ihrer gottesewigen Verschiedenheit, samt ihrer seligen Einheit im Willen zur Verjüngung des ewig nach Erlösung ringenden Geschlechts“.309 So vielseitig Dehmels Interessen an der Bildenden Kunst auch gewesen sein mögen, Gedichte, die einen Künstler oder ein bildkünstlerisches Werk zum Gegenstand haben, beschränken sich auf seine komplexe Klinger-Literarisierung (Jesus und Psyche. Phantasie bei Klinger, 1895), das aus 150 Versen bestehende Gedicht Ein Heine-Denkmal. Standrede eines träumenden Herrschers (1895) und ein Sonett zu (vermutlich) zwei Gemälden des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (Sturmbild. Ferdinand Hodler zu Ehren, wohl Ende 1910). Die beiden zuletzt genannten Gedichte sind im Hinblick auf die bereits im I. Kapitel dieser Arbeit behandelte dichterische Auseinandersetzung mit der bildkünstlerischen Denkmalkultur und in werkbiographischer Perspektive für Dehmels Stellung zur Sozialen Frage von Interesse und sollen daher wenigstens knapp behandelt werden. Der Schwerpunkt soll im Folgenden allerdings auf Dehmels Klinger-Gedicht liegen. Denn am Beispiel von Dehmels Auseinandersetzung mit Klingers Christus im Olymp lassen sich verschiedene, bisher für die Literaturgeschichte des Bildgedichtes behandelte Aspekte aufzeigen und zusammenführen, die für die Interpretation des Gedichts fruchtbar gemacht werden sollen: Neben der persönlichen Bekanntschaft der beiden Männer und Dehmels Kenntnis des noch unfertigen

|| 307 Richard Dehmel: [Berlin]. In: Pan 1 (1895), S. 110–117, hier S. 115; zu Dehmels Kunstauffassungen und der Bedeutung des Gesamtkunstwerks vgl. zusammenfassend Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 89–131. 308 Vgl. hierzu Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 117f. 309 Richard Dehmel: Bekenntnisse. Berlin 1926 (Richard Dehmel. Gesammelte Werke in Einzelausgaben), S. 40f.

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Werkes während eines Aufenthaltes im Atelier des Künstlers in Leipzig sind vor allem der freie Umgang mit der Vorlage und der Antiken-Diskurs zu nennen.

Das im selben Jahr wie Dehmels Klinger-Literarisierung Jesus und Psyche in den Lebensblättern (1895) gedruckte Gedicht Ein Heine-Denkmal gibt sich schon vom Untertitel her als Rollengedicht zu erkennen. Streng genommen handelt es sich hierbei aber nicht um die Literarisierung eines Denkmals wie im Falle der behandelten Fontane-Gedichte, sondern die Standrede des Herrschers hat nur den Auftrag eines Denkmals zum Gegenstand. Dass sich hinter dem Herrscher eigentlich nur Wilhelm II. verbergen kann – zumindest wird mit der Identifikation des Herrschers mit Wilhelm II. gespielt –, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Das ohnehin angespannte Verhältnis deutsch-nationaler Kreise gegenüber Heine, die den Dichter gerne zum Feindbild stilisierten, fand seinen traurigen Höhepunkt im Mai 1908, als Wilhelm II. das erste überhaupt errichtete Denkmal für Heine auf Korfu abbrechen und durch einen Rundtempel mit einer Achillesund Elisabeth-Figur ersetzen ließ.310 In seiner Studie zu Dehmels Gedicht betont Christian Neuhuber, dass die „gesellschaftspolitischen Diskurse“, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Heine-Thematik verbinden, in Dehmels Gedicht problematisiert werden: Sowohl die schon seit den späten 1880er Jahren währenden Diskussionen um ein nationales Denkmal für Heine als auch die nationalistisch, teils antijudaistisch und antisemitisch geprägten Bedenken kommen bei Dehmel zur Sprache und werden vom Rollen-Ich selbst in seiner Forderung an den Bildhauer zusammengefasst:311 23

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Da soll er sitzen, wie er wirklich war, der kranke Jude und der große Künstler, der unsre Muttersprache mächtiger sprach als alle deutschen Müller’s oder Schulze’s. 312

Dehmel selbst unterschrieb anlässlich des 50. Todestages von Heine 1906 zusammen mit Max Klinger, Ernst Haeckel, Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Alfred Kerr und anderen einen Spendenaufruf für ein Hamburger Heine-Denkmal,

|| 310 Vgl. die grundlegende Studie von Dietrich Schubert: „Jetzt wohin?“ Heinrich Heine in seinen verhinderten und errichteten Denkmälern. Köln, Weimar, Wien 1999 (Beiträge zur Geschichtskultur, Bd. 17), hier besonders Kapitel VI: Deutsches Gedächtnismal für Heinrich Heine 1906–1913, S. 195–231, zum Abbruch des Denkmals auf Korfu S. 202f. 311 Christian Neuhuber: „Der kranke Jude und der große Künstler“. Richard Dehmels Gedicht „Ein Heine-Denkmal“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 125 (2006), S. 561–579. 312 Dehmel: Lebensblätter, 1895, S. 113–118, hier S. 114.

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für das der schon als Bildhauer des berühmten Hamburger Bismarck-Denkmals (1906) bekannte Hugo Lederer den Auftrag erhielt. Durch städtebauliche Arbeiten im Stadtpark 1912 und den Ersten Weltkrieg verzögerte sich die Aufstellung von Lederers Bildnis des Sinnenden Europäers, so dass Dehmel die Aufstellung im Jahre 1926 nicht mehr erlebte.313 Diese Entwicklungen ahnte Dehmel freilich 1895 noch nicht. Von Interesse ist das Gedicht für die Literaturgeschichte des Bildgedichts aber insofern, als gerade aus historischer Perspektive hier im Gedicht Auftragsfindung, Auftragsquerelen und -diskussionen um ein Denkmal exemplarisch rekapituliert werden, die sich auf ein noch nicht ausgeführtes Kunstwerk beziehen, rund zehn Jahre später aber genauso eingetreten sind. Tatsächlich kann es sich bei dem vom Herrscher im Gedicht angesprochenen Künstler nur um den 1843 in Siegen und 1906 in Agrigent gestorbenen Bildhauer Friedrich Reusch handeln, dessen Bronze-Standbild Wilhelms I. vor dem Königsberger Schloss 1894 errichtet worden war und von dem auch das wohl in Vers 13 gemeinte Standbild des Deutschen Michel in Königsberg stammt:

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10

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Ich danke dir, Bildhauer, daß du dich für deinen Fürsten noch bemühn willst; bitte, nimm Platz. – Du weißt, ich bin der Krone müde, zu Neujahr geb’ ich sie dem Volk zurück, es mag versuchen, selbst sich zu beherrschen, mir ist es teils zu reif und teils zu schlecht. Mein Hingang aber soll mein Volk und mich noch Einmal in beglückter Ehrfurcht einen und unsern Enkeln eine Ehrfurcht bleiben durch ein Geschenk fürstlicher Menschenliebe; dazu entbot ich dich. Ich weiß, dich drängt dein großes Lebenswerk: „der deutsche Michel, aus dem Schlaf erwachend.“ Ich danke dir, daß Mein Gesuch dir vorgeht. So höre, was ich ausgesonnen habe, du bist der Einzige, der es schaffen kann: ein Denkmal für Herrn Heinrich Heine.314

In der fiktiven Anredesituation zwischen dem Herrscher und Künstler wird nun entgegen den in den zeitgenössischen Diskussionen genannten möglichen Kandidaten für eine Ausführung eines solchen Denkmals mit Friedrich Reusch gerade ein Bildhauer ins Spiel gebracht, der mit Kunstwerken und Denkmälern in

|| 313 Vgl. Schubert: „Jetzt wohin?“, 1999, S. 197f. 314 Dehmel: Lebensblätter, 1895, S. 113.

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Erscheinung getreten ist, denen eine nationale Identitätsstiftung attestiert wurde. Die fiktive Auftragsvergabe an ihn lässt sich demnach als deutliche Forderung nach einer Versöhnung der unterschiedlichen Lager und Positionen im Heine-Streit deuten.

Den Schweizer Maler Ferdinand Hodler kannte Dehmel nicht persönlich, verfolgte aber dessen Schaffen. Spätestens mit der im Februar 1891 kurz vor der Eröffnung wegen Unsittlichkeitsverdacht geschlossenen Ausstellung unter anderem seines Gemäldes Die Nacht (1889/90) im Genfer Musée Rath war Hodler auch in Deutschland zu großer Bekanntheit gelangt.315 Hans Rosenhagen widmete ihm einen umfangreichen Artikel mit zahlreichen Abbildungen in der Oktober/MärzAusgabe (1905/06) der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration, der neben Fritz Burgers einschlägiger Monographie zu Cézanne und Hodler (1913) zur Rezeption des Schweizer Malers auch in Deutschland beigetragen hat, nachdem er bereits 1904 zum Mitglied des deutschen Künstlerbundes ernannt worden war und zahlreiche Großaufträge für Gemälde und Wanddekorationen in Deutschland erhalten hatte.316 Das Sonett Sturmbild. Ferdinand Hodler zu Ehren ist in den früheren Gedichtausgaben Dehmels nicht zu finden und wird in der dreibändigen Neuausgabe der Werke von 1913 mit dem Zusatz versehen, dass es sich um ein neu aufgenommenes Gedicht handelt.317 Für eine Entstehung im Spätjahr 1910 spricht die deutliche Anspielung auf das erst im selben Jahr als Auftragsarbeit der Schweizer Nationalbank entstandene, danach in verschiedenen Versionen geschaffene Gemälde Der Holzfäller (1910; Abb. 55) von Ferdinand Hodler, was neben dem bereits 1886 fertiggestellten Werk Das mutige Weib (1886; Abb. 56) im Sonett aufgegriffen wird.318

|| 315 Vgl. Franz-Joachim Verspohl: Die Rezeption Hodlers in Deutschland. In: Ferdinand Hodler. Hg. von Rudolf Koella. München 1999, S. 195–203, hier S. 195. 316 Vgl. Verspohl: Die Rezeption Hodlers, 1999, S. 196–199; ferner auch Jura Buschweiler: Hodler im Urteil der deutschen Presse. In: Ferdinand Hodler. Hg. von Rudolf Koella. München 1999, S. 213–229, bes. S. 219. 317 Vgl. Richard Dehmel: Gesammelte Werke in drei Bänden. Erster Band. Berlin 1913, S. 357 (Inhaltsverzeichnis). 318 Der knappe Katalog-Beitrag informiert hierzu: Ferdinand Hodler. Hg. von Rudolf Koell. München 1999, S. 278, Abb. S. 139: Eine Fassung ist heute im Von der Heydt-Museum Wuppertal, ein anderes befand sich damals im Krefelder Kaiser Wilhelm-Museum. Den Zusammenhang mit diesen zwei Gemälden schlägt bereits Nicola Ettlin vor, wenngleich sie Zweifel anmeldet, da die Entstehungszeiten der beiden Werke so weit auseinander liegen. Ein Blick in die Ausgaben hätte diese Zweifel allerdings ausräumen können, vgl. Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität, 2010, S. 243–247; zudem zeigt ein Brief von Dehmel an Ludwig Jahn vom 12. November

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Abb. 55: Ferdinand Hodler: Der Holzfäller (1910)

Dehmel inszeniert zwischen den beiden Bildfiguren eine Kommunikation und Interaktion, deren von einem lyrischen Ich in den ersten beiden Quartetten gedeutete Handlungen und Motivationen erst in den Terzetten, die als Rahmenerzählung fungieren, als Kunstbetrachtung feinsinniger Damen entlarvt werden. Von der Anschauung der Gemälde, besonders von Der Holzfäller ausgehend literarisiert der Förstersohn Dehmel damit einerseits sowohl moderne Arbeitsbedingungen als auch sozialromantische Reprisen der Handarbeit, wie sie im Gemälde dargestellt werden, andererseits auch die durch satirische Überzeichnung und den starken Kontrast zwischen bildlicher Darstellung und den Betrachterinnen als fehlgeleitet charakterisierte Rezeption solcher Werke: Fergin im Sturm, kehr um! Weib, wie du wüst dich plackst! Du bist kein Mann! – Sie hört nicht, sie stemmt sich langgestreckt gegens Gebrüll der Wellen, das übern Kahnrand bleckt; weiter und weiter stemmt sie, ruckt, rudert, ringt und rackt.

|| 1910, dass Dehmel in dieser Zeit wohl Gemälde von Hodler gesehen haben muss, zumindest vergleicht er in diesem Brief das Werk den aufstrebenden, später sich allerdings mit der nationalsozialistischen Ideologie identifizierenden Dichter und Künstler Hermann Burte (1879–1960) mit Hodler. Die im letzten Vers des Sonetts vorkommende Unterscheidung von „Gewaltsamen“ und „Gewaltigem“ kommt fast wörtlich auch in diesem Brief vor, was die Entstehungszeit des Sonetts Ende 1910 noch einmal wahrscheinlicher macht: „Er [Burte] ist noch ein wenig vernietzscht und verspittelert, aber das wird er sich schon abgewöhnen. In seiner Natur steckt etwas, das an Hodler erinnert; also wird’s sich wohl auch in seiner Kunst mal herausstellen, sobald er erst ganz dahinter gekommen ist, wodurch sich Sprachkraft von Kraftsprache unterscheidet, rhythmische Struktur von metrischer Konstruktion. Ein junger Kerl überspannt sich gern zu überflüssigen Kraftproben, versteift sich immer erst auf’s Gewaltsame, eh er sein Gewaltiges klar begreifen lernt; das war bei Hodler ebenso.“ Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920. Berlin 1923, S. 231f.

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Nach dem Holzfäller blickt sie, der mit geschwungener Axt jenseits des Stroms sich reckt, wieder und wieder reckt. Oder sieht sie ein Ziel gar, das ihr sein Angriff steckt, und fühlt nun hingerissen: Ich pack’s, da Du es packst!? So fragen sich im stillen mit hochgezognen Brauen in einem Ufergarten einige zarte Frauen von edlem Wuchs und edlerer Geberde. Sie denken an die Helden alter Zeiten und sinnen zwischen leichten Handarbeiten, wie das Gewaltsame – gewaltig werde.319

Den Kontrast zwischen den in den Terzetten beschriebenen, sinnierenden „zarten Frauen“ (V. 10) und den Bildfiguren der Fährfrau (Fergin) und des Holzfällers, die schon auf der lexikalischen Ebene durch Kraftwort-Alliterationen deutlich von den kunstliebenden Damen abgesetzt sind (V. 1, 3 und 4: plackst, bleckt; ruckt, rudert, ringt und rackt), spiegelt sich auch in der formalen Gestaltung des Sonetts wider, in dem sich die Kollision von bildkünstlerisch dargestellter Arbeitswelt (Quartette) und der Sphäre der unverfänglichen, neben der Handarbeit (V. 13) als Zerstreuung dienenden Kunstanschauung (Terzette) wiederholt: Vom Reimschema abba – abba – ccd – eed lehnt sich das Gedicht zwar an die Sonettform französischer Prägung an, doch stehen der hohen Form sowohl die gerade durch umgangssprachliche Einschläge (V. 3) holprig wirkenden Versfüllungen (V. 3, 4) als auch die insgesamt lapidare Erzählweise gegenüber.

Abb. 56: Ferdinand Hodler: Das mutige Weib (1886)

|| 319 Dehmel: Gesammelte Werke in drei Bänden (Erster Band), 1913, S. 163f.

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Das von Hodler in seinem Holzfäller auf die Schwingbewegung der Axt reduzierte Bildmoment steht symbolisch für die sich ständig wiederholende Handarbeit im Maschinenzeitalter aber auch für den Arbeitsvorgang an sich und rückt Dehmels lyrische Auseinandersetzung mit Hodler in die Nähe der kultur- und zivilisationskritisch unterlegten sozialen Dichtung. Von der Forschung wurde Dehmels Position zur Sozialen Frage weitgehend problematisch betrachtet und Spielarten sozialer Dichtung in seinem Werk im Horizont seiner vitalistisch-darwinistischen Weltanschauung relativiert.320 Gleichwohl zeigt sein Hodler-Sonett, dass er im Medium des Bildgedichts durchaus die Diskurse zur Bedeutung und Stellung von Arbeit, Maschine und Industrie in der Moderne aufgreift, wie sie prominent der mit Dehmel befreundete und von ihm geschätzte Joseph Winckler in einer Ausstellungbesprechung Die Industrie in der bildenden Kunst im Kunstmuseum der Stadt Essen von 1912 konturierte.321 Der gerade für seine soziale Lyrik bekannte ‚Arbeiterdichter‘ bzw. ‚Industriedichter‘ Winckler selbst hat wiederum über Dehmels Sonett und dessen Unterscheidung von „Gewaltsam“ und „Gewaltig“ im Rahmensonett (Hol Aus!) seiner Eisernen Sonette (1914) den Bildbezug zu Hodlers Holzfäller hergestellt, das im Unterschied zu Dehmel aber keine Kunstbetrachtung mehr literarisiert, sondern eine Überhöhung des Arbeiters und der Arbeit und damit den Bildgegenstand in den Mittelpunkt stellt.

Mit dem Leipziger Künstler Max Klinger war Dehmel – anders als im Falle Hodler – freundschaftlich verbunden, pflegte einen intensiven Kontakt und äußerte sich mehrfach hymnisch über die Qualität und überzeitliche Bedeutung von dessen Werk. Nach einer ersten persönlichen Begegnung der beiden auf einem Festakt zu Ehren Arnold Böcklins im Rahmen der Pan-Gründung am 11. Juli 1894, besuchte Dehmel den Künstler im Oktober desselben Jahres in seinem Leipziger Atelier und sah dort Klingers Beethoven-Büste und das im Entstehen begriffene Monumentalwerk Christus im Olymp, das allerdings erst 1897 fertiggestellt wurde und in seiner monumentalen Verbindung von Malerei, Plastik und

|| 320 Vgl. hierzu Spiekermann: Literarische Lebensreform, 2007, S. 283–288; am Beispiel von Dehmels bekannten Gedicht Der Arbeitsmann (1896) diskutiert auch Jürgen Viering Dehmels Position zu Arbeit, Arbeitern und Sozialer Frage, vgl. Jürgen Viering: Ein Arbeiterlied? Über Richard Dehmels Der Arbeitsmann. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte. Hg. von Harald Hartung. Stuttgart 2001 (Reclams Universal Bibliothek, 7894), S. 53–66; Dehmel selbst spricht in der Vorrede zu den Lebensblättern von einer „ethischen Gärung der Gegenwart“ und würdigt sowohl „Nietzsches Herrenmoral“ als auch „Lasalles Emanzipation der Masse“, Dehmel: Vorrede, 1895, S. 21. 321 Vgl. Tessy Korber: Technik in der Literatur der frühen Moderne. Wiesbaden 1998, S. 182–85.

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architektonischen Elementen bei Dehmels Vorstellung von künstlerischer Einheit im Sinne eines Gesamtkunstwerkes besonders entsprach und daher bei ihm wohl auch auf so großes Interesse gestoßen ist.322 Das 173 Verse und 20 Versgruppen unterschiedlicher Länge umfassende Gedicht wurde vielfach als „Fortdichtung“ der Klingerschen Vorlage charakterisiert.323 Entsprechend fragten die literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Forschung immer wieder nach den Zusammenhängen und Unterschieden zwischen bildkünstlerischer Vorlage und dichterischer Phantasie, als die sich das Gedicht vom Untertitel her zu erkennen gibt. Mit dieser Gattungsbezeichnung und der Umbenennung des von Klingers Werk in Jesus und Psyche als Gedichttitel markiert Dehmel, dass es ihm um die „Verklärung als Verschönerung und Verunklarung der Realität“ geht und er gleichsam damit die „Verquickung der religiösen und ästhetischen Sphäre“324 sucht, was sich bei zahlreichen anderen Gedichten ebenfalls beobachten lässt. Formal gesehen imitiert Dehmel die Vorlage, indem er – jenseits der Frage nach einer über die Bildbeschreibung hinausgehenden eigenständigen Fortdichtung – die Monumentalität von Klingers Werk in seinem Gedicht wiederholt. Dem überdimensionierten Werk Klingers, das mit dem mittleren Bild in Öl auf Leinwand (362x722cm) und den rahmenden, durch raumgreifende MahagoniPalmstämme abgetrennten Seitenteilen (362x86cm) auf eine Gesamtbreite von fast neun Metern kommt, steht das Gedicht mit seinen 173 Versen an Monumentalität nicht nach. Auch durch die Rahmen- und Binnenerzählung des lyrischen Ichs und die mehrfache Unterteilung durch verschiedene Sprecher der Binnenerzählung selbst wird formal auf die das Monumentalwerk Klingers kennzeichnende sowohl horizontale als auch vertikale Dreiteilung von Christus im Olymp angespielt, die die Forschung zurecht als Anlehnung an mittelalterliche und rinascimentale christliche Triptychen aber auch als Zitat antiker Wandaufrisse identifiziert hat (Abb. 57).325 Das Mittelbild von Klingers Monumentalwerk positioniert die Figur Christi genau in der Bildmitte. Die vom Betrachter aus links positionierten Tugend-Figuren werden als Symbole des Christentums der auf der rechten Bildhälfte situierten, allerdings deutlich durch Alter und Verfall gezeichneten antiken Götterwelt || 322 Detailliert mit zahlreichen Briefstellen hierzu Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 214. 323 Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 212. 324 Beßlich: „Corrector Germania“, 2007, S. 156. 325 Vgl. hierzu Eva-Maria Kaffanke: Der deutsche Heiland. Christusdarstellungen um 1900 im Kontext der völkischen Bewegung. Frankfurt am Main [u.a.] 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Histoire de l’art, Bd. 383), S. 270–274.

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antithetisch gegenübergestellt, was durch die Kleidung der einen und die Nacktheit der anderen auch eine „Kontrastierung von paganer Sinnlichkeit und christlicher Spiritualität“326 impliziert. Die Stellung und Rolle von Christentum und Antike im Mittelbild werden unterschiedlich bewertet. Für eine Interpretation des Bildgegenstandes als Darstellung einer Zeitenwende, nach der das Christentum die Antike völlig vereinnahmt, hat die kunsthistorische Forschung den Begriff der „Ablösung“ ins Spiel gebracht.327 Dagegen stehen Positionen, die eine „Versöhnungsthese“ favorisieren und die Darstellung Christi inmitten der antiken Götterwelt als Versuch eines Ausgleichs von sinnlich-antiker und moralischchristlicher Weltanschauung deuten.328 Dieselben Fragen lassen sich auch bei der Interpretation von Dehmels Gedicht problematisieren, wenngleich hier die Forschung gerade aufgrund der doch erheblichen Weiterführung der Bildhandlung in Dehmels Dichtung deutlich zwar das Moment der Zeitenwende aufgegriffen sieht, aber gerade in der Thronbesteigungsszene und der Jesus-Psyche-DionysosHandlung eine vollständige Annexion der Antike durch das Christentum relativiert.329

Abb. 57: Maximilian Klinger: Christus im Olymp (1886)

|| 326 Spiekermann: Weltanschauungslyrik, 2008, S. 218. 327 Vgl. Friedrich Gross: Vom Alltagsgetriebe fern: Der Große Einzelne in Klingers „Kreuzigung Christi“ und „Christus im Olymp“. In: Max Klinger. 1857–1920. Hg. von Dieter Gleisberg. Leipzig 1992, S. 72–83. 328 Diese Positionen vertreten vor allem Kaffanke: Der deutsche Heiland, 2001, S. 276–281 und besonders Christian Drude: Von Proteus zu Prometheus. Mythos als bricolage und Synkretismus im Werk Max Klingers. In: Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Hg. von Annette Simonis und Linda Simonis. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 233–246, hier bes. S. 241. 329 Vgl. Spiekermann: Weltanschauungslyrik, 2008, S. 220–223.

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Gleichwohl sucht Dehmels Gedichtvorlage als Gesamtkunstwerk formal nicht nur den Anschluss an zeitgenössische Forderungen nach der Einebnung von Gattungsgrenzen, sondern ist auch inhaltlich eine „synkretistische Endzeit-Vision im Kolossalformat“ und eine „eigenständige Erfindung ohne ikonographische oder literarische Vorbilder“,330 wenngleich beide Gegenstandsbereiche – Antike und Christentum – zu den wichtigsten Themenkreisen der Malerei überhaupt gehören. Christian Drude deutet Klingers Anliegen daher nicht nur als „Überbietung der mythologischen Ikonographie“, sondern „der Gattung Historienbild insgesamt“.331 Die Bildvorlage, die ohne literarische Vorbilder auskommt, wird in Dehmels Gedicht weitergedichtet und stellt insofern abermals eine (dichterische) Überbietung auch des bildkünstlerischen Werkes dar, die indessen alles andere als eine „schwül-erotische Vision“ oder einer „blasphemische Weiterdichtung“ ist.332 Vielmehr ist das Gedicht als kulturhistorische Zeitdiagnose und „utopisches Zukunftsmodell“ zu verstehen, in dem die für das Abendland maßgeblichen beiden Weltanschauungsmodelle auf ihre Bedeutung und ihren Wert für die Gegenwart thematisiert werden:

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Der Raum ist große wie eine Scheune, ist ganz voll Licht, da zeichnet er, da meißelt er, da malt er, du fühlst, er braucht so großen Raum: KLINGER. Und wenn das Glück dich wie ein Schreck befällt, daß du kein Wort weißt, das von Herzen kommt, so stand ich. Allein. Doch neben mir saß Zeus, der neue Zeus, von Antlitz und Gestalt BETTHOVEN gleich, und in den Abgrund der Welt und Menschheit starrt sein Schöpferblick herab vom Thron der Sünde und Erlösung, daß sich der Adler ihm zu Füßen sträubt, erwartungsvoll. Still! atme kaum! Dort drüben schimmert noch im Abendschein der alte Göttergarten, der Gipfel des Olympos flammt von Farben, buntfäulig ruht im Glanz der fernen Luft

|| 330 Drude: Von Proteus zu Prometheus, 2004, S. 241. 331 Ebd., S. 243. 332 Ebd., S. 243f.

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ihr Tempelhaus; es ruht zerfallen; aber die Pinien und die Lorbeern und die Palmen drängen sich immergrün wie einst zu Thal, am Strand des blauen Meeres glühn und duften des Südens große wilde Blumenbüsche, die Götter alle sind versammelt, und unter sie tritt Jesus. Sie sahn ihn kommen; immer größer kam er, der hagre Mann, den Blick zu Boden, langsam, als ob sein Fuß den Wiesenrasen schonte, im gelben Seidenkleid, das goldgestickt wie eines priesterlichen Königs Kleid schien und Spuren wie von Blut zeigt, – warum kommt er nicht nackt zu ihnen, wie sie selber sind?! Und streng verhüllt gleich ihm, tragen drei Frauen ein schweres schwarzes Kreuz ihm nach. Jetzt senken sie’s, ihr schwesterlicher Schritt stockt: Jesus sieht die Götter an.

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Weh uns! Der wilde Amor weicht empört, entsetzt zurück vor diesen Augen: Psyche, weh, Psyche, sieh! Doch seine Psyche fällt mit seligem Schrei dem Eindringling entgegen, weh, kniet vor ihm, – Psyche, der Götterliebling, vor Ihm, – umklammert ihm die Rechte, küßt sie, küßt diese grauenhaft blutstriemige Narbe der magern Hand, stammelnd und schluchzend: Mein, mein Herr und Heiland! Verwundert lauscht mit zuckenden Flügelchen der aufgescheuchte Schwarm der Amoretten aus einer Uferpalme; Hermes hat sich abgewandt und neigt den weißen Stab; Nymphen und Satyrn wälzen sich im Gras, daß jene Frauen fraulich-tief erröten, indessen die Olympierinnen kaum wissen, was geschieht, so stehn sie da, Juno in hoher Selbstzufriedenheit, Athene, selbstbewußt in sich versunken, und Venus, in sich selbst verliebt, Jede im Wohlgefühle ihrer Nacktheit, schamlos und lieblos, herrlich. Die Sonne taucht ins Meer, die Götter schweigen; und Jesus, Psyche überschattend, heftet

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den Blick auf Zeus. Der sitzt, zu Tode stumm, auf seiner Marmorbank. Die greisen Glieder versagen ihm den Zorn. Die alten Augen erstarren vor der Nacht im Auge Jenes. Er hört nicht, wie der Knabe Ganymed sich an ihn schmiegt und ängstlich flüstert: Vater, was will der fremde Zaubrer hier? – Zeus stirbt. Und hinter ihm, indeß er umsinkt, schleppt Eleosyne, die mitleidige Verachtetste der Göttinen, mühselig den kranken Mars her und will auch zu Jesus, und wieder hör’ ich Psyche’s Inbrunst stammeln: mein Herr und Heiland! und fühle ihren keuschen Schmerz, und fühle ihr nacktes Warten, wie sie kniet und weint und aufstehn möchte, und es wundert mich, daß man das Gras nicht sieht durch ihren Körper, so fast verzehrt von langer Sehnsucht ist er, so abgehärmt die blassen jungen Brüste – sah das der tote Göttervater nicht?! Sie zittert. Psyche! Weib, wer bist du? Sprich!

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Ich horchte auf: aus einer Rosenhecke antwortet mir Gelächter, übermütig tritt auf den Plan Bakchos-Dionysos, Blüten im Haar, sein Pantherfell in Fetzen, hoch in der Hand den hellen Tafelkelch voll dunklen Weines, drin der Widerschein des letzten Sonnenfunkens blutrot schwankt, und nickt mir zu und hält ihn mir entgegen: trink, Jesus, trink! Und langsam streckt sich meine Linke vor und will ihm wehren, aber Psyche küßt noch brennender die Narbe meiner Rechten, und langsam muß sich meine Linke wenden, und nickend nehm ich meinem Bruder Bacchus nun ab den Kelch und setz ihn an die Lippen, und ziehe meine Psyche an mir hoch, und setze nun den Kelch an Ihre Lippen: Trinke, das ist mein Blut! – Und Psyche trinkt. O, wie ihre bleiche Stirne rötet, sich ihre Brüste mir entgegenheben! doch weinend reicht sie mir zurück den Kelch.

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Da pack ich ihre Hand und schüttle sie, hoch fliegt das leere Glas: in blitzendem Bogen zerklirrt’s zu Scherben an der Marmorbank des toten Zeus. Ich aber ziehe meine Psyche an mich und schlage meinen Königsmantel um sie und spreche: Weine nicht, mein Liebling, komm! So steig’ ich mit ihr auf den Sitz des Zeus und lege meine Dornenkrone ab: heut feiert Jesus seine Hochzeitsnacht! Auf, Bruder Bachhus, schwinge deinen Thyrsos! Ihr Fraun, legt hin das Kreuz! Olympierinnen, nehmt eure blassen Schwestern bei der Hand: du, Juno, Die im blau-verblichnen Kleid, die mit dem Glaubensblick! Athene, du verbindest dich der Grünverschleierten, die so voll Hoffnung blickt! und du, Frau Venus, fasse den Purpur jener Blassesten, jungfräulich blickenden, sie heißt Die Liebe – dann jauchzt: der Bräutigam ist da! Auf, ihr Unsterblichen, zum Hochzeitsreigen! Eleosyne soll mit Amor tanzen, seht, wie das dunkle Meer von Sternen hüpft, Mars, stehe auf und wandle, und sei mein! Und lasset auch die Kindlein zu mir kommen: geh, Ganymed! heißa! die Amoretten warten auf dich! tanzt euern Ringelreihn! Du aber, Hermes, nimm den toten Zeus, und trag ihn sanft hinüber vor den Thron des neuen Zeus, den Ich errichtet habe, und neige deinen weißen Stab vor Jenem und bitte ihn: Spiel und, du Göttlicher, dein hohes Lied, das hohe Lied der Sünde und Erlösung, das hohe Freudenlied der Welt und Menschheit, das hohe Lied der Neunten Symphonie! Dann wird sein Adler rauschend sich erheben, still spannt er über uns die Fittiche und lauscht herab auf uns, wie wir erschauern, Du, meine Psyche, und dien Jesus, Ich, in unsrer hellgestirnten Hochzeitsnacht. Auf, ihr Unsterblichen, auf, tanzt und singt,

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singt mir das Lied vom Tode und vom Leben, morgen ist wieder Tag, die Sonne stirbt nicht, komm, Psyche, komm!

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Doch schaudernd lehnt sich Psyche von mir weg und starrt mich an mit Augen, daß mich friert, so rätselhaft voll Furcht, voll Sehnsucht – Psyche! Geliebte! Psyche! Du, wer bist du?! – „Du“ sprach laut mein Mund die Antwort meines Herzens, ein Echo huschte durch den großen Raum, so stand ich. Allein. Und stand und bebte vor dem Meister, der solches schuf. Endlich ermannt mich von seinem Werk Und wagte wegzusehn; da fiel mein Blick Auf einen großen, graugetrockneten Stranddistelstrauß, um den sich ein vergilbtes, einst brennend rotes Seidenband herabschlang, das einzige Stück Erinnrung in dem Raum, wo alles Uebrige von Zukunft zeugte. Die Sonne schien darauf und ließ noch Spuren des zart blaugrünen Purpurschmelzes ahnen, der einst die frischen Stacheln schmückte …still! die Thür ging, Er trat ein, der Maler, Zeichner und Bildner Unsrer Psyche – KLINGER – und da mußt ich denken: Welche Frau ihm wol einst diesen Strauß geschenkt hat? Denn es giebt Frauen, die solche Sträuße schenken…333

Grundsätzlich lassen sich die Verse in drei Gruppen zusammenfassen, von denen die ersten 15 die Rahmensituation des lyrischen Ichs in Klingers Atelier atmosphärisch einfangen und Klinger als ‚totalen Künstler‘ (V. 3) in seiner Einzigartigkeit auch typographisch herausstellen (V. 5). Die folgende Binnenerzählung (V. 16–158) changiert zwischen Bildbeschreibung einerseits und traumartigem Erleben und Wiedergabe seelischer Visionen andererseits. Der letzte Teil des Gedichts (V. 159–173) holt das lyrische Ich dann wieder in den Atelierraum zurück und schließt etwas grotesk anmutend mit einer anekdotischen Anspielung auf

|| 333 Hier der Text nach dem Erstdruck in Richard Dehmel: Lebensblätter. Gedichte und Anderes. Berlin 1895, S. 32–39.

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einen Blumenstrauß und eine vermeintliche Amour Klingers, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden braucht.334 Während Klingers Gemälde mit der deutlichen Betonung der Mittelachse durch die Figur Christi den Blick des Betrachters zuerst dorthin lenkt, beginnt die Binnenhandlung in Dehmels Gedicht nicht unmittelbar mit der Jesus-Figur. Erst in Vers 26 tritt Jesus in die Wahrnehmung des lyrischen Ichs. Dem Gedicht liegt also eine konträre Leserichtung der Bildvorlage von rechts nach links zugrunde, da zu Beginn zunächst die Landschaft und der antike Tempel auf der rechten Bildseite beschrieben werden (V. 17ff.) und dann erst die einzelnen Personen des Gemäldes. Auffällig ist dabei, dass Dehmel die Personenzahl ändert. Sind bei Klinger deutlich vier Frauen als christliche Kardinal-Tugenden auf der linken Bildhälfte zu sehen, so reduziert Dehmel diese um eine Person, um eine Analogie zu den drei griechischen Göttinen Aphrodite, Athena und Hera zu schaffen, deren Nacktheit gegenüber den (christlichen) Tugenden betont wird (V. 30–34).335 Das Zusammentreffen von Jesus und Psyche wird wie im Bild zunächst als Gegensatz zwischen antiker dekadenter Lebenswelt und maßvollem Christentum gezeigt. Als „schamlos und lieblos, herrlich“ (V. 59) wird die „Rokoko-Atmosphäre“336 der antiken Götterwelt charakterisiert. Aus dem alten und gebrechlich erscheinenden Zeus des Gemäldes wird im Gedicht ein sterbender Zeus (V. 68), ab dessen Tod sich die Jesus-Psyche-Handlung entwickelt, mit der Dehmel die Bildwelt der Vorlage völlig hinter sich lässt. Der weltanschauliche Kern des Gedichts auch in seinem Verhältnis zur Bildvorlage ist indessen zu beurteilen mit Blick auf die bereits erwähnten Ablösungsund Versöhnungsthesen. Während Klinger lediglich ganz allgemein den Konflikt zwischen Gesellschaft und „unbewusster Triebhaftigkeit“ darstelle, zeige Dehmel „zumindest in der Binnenhandlung ein utopisch-optimistisches Zukunftsbild“.337 Die in der dritten bis achten Versgruppe beschriebene Szenerie enthält auch eine Charakterisierung der beiden Sphären: Während die antiken Götter mit „Selbstzufriedenheit“ (V. 55), „selbstbewusst“ (V. 56) und „in sich selbst verliebt“ (V. 57) assoziiert werden, wird Jesus als „Eindringling“ (V. 41) mit „grauenhaft blutstriemiger Narbe“ (V. 44) erscheint. Mit dieser Opposition von „Weltleid

|| 334 Briefe von Klinger belegen, dass dieser sich zu Unrecht in die Nähe eines amourösen Abenteuers gerückt sah, da die Blumen angeblich von seiner Tante stammten (genauer hierzu Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 124f.). 335 Vgl. hierzu auch Kaffanke: Der deutsche Heiland, 2001, S. 272 und Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 219. 336 Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 219. 337 Ebd., S. 222.

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und Weltlust“338 greift das Gedicht auch lebensreformatorische Antithesen wie christlicher Jenseitsorientierung und diesseitiger dionysischer Lebensbejahung auf. In der Synthese bzw. Vereinigung von Jesus und Psyche als Prinzipien von Geist und Körperlichkeit vollzieht sich nicht nur die Vereinigung von Mann und Frau als Zentralthema von Dehmel, sondern sie verweist auch auf Dehmels Ideal einer neuen Weltauffassung, in deren Mittelpunkt die Versöhnung von (Trieb)Natur und Geist, Kunst und Leben steht. Als Garant für diese Position wird der bereits in der Rahmenerzählung genannte Beethoven mit seinem „Hohen Lied der Neunten Symphonie“ (V. 136–139) in die Binnenerzählung integriert. Der in der Apotheose Beethovens zum Ausdruck gebrachte Ganzheitsanspruch der Kunst entspricht Dehmels Ideal der Kunst als „Erlösung vom Alltag, Erhabenheit in Schönheit, Wiederverzauberung und Sakralisierung einer technisierten Welt“.339 Entscheidend für eine Deutung des Gedichts als „Sinnbild für innerseelische Vorgänge“340 ist die Konstruktion der verschiedenen Sprecherrollen: Das Sprecher-Ich der Binnenerzählung kann sowohl als identisch mit dem der Rahmenerzählung identifiziert werden, gleichzeitig wird aber auch eine bewusst betriebene Verunklarung der Sprecherzuordnung an neuralgischen Stellen der erzählten Handlung deutlich. Das lyrische Ich gliedert sich in verschiedene Instanzen und ist ein Sprecher in Klingers Atelier, dann räsönierender, träumender und visionärer Beobachter und Deuter des Monumentalwerks Christus im Olymp und schließlich Jesus selbst (V. 74, 79, 91, 93). Damit ist auch Psyche nicht nur als antikes Figurenzitat zu sehen, sondern als die „Seele des Einzelmenschen, in der sich der Konflikt zwischen Trieb und Geist, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, zwischen Tier und Gott täglich vollzieht“.341 In diesem Zusammenhang lässt sich Dehmels Klinger-Adaption auch im Sinne der „Selbsterlösung des Menschen durch eine Kulturreligion“342 lesen. Dehmel nutzt die lyrische Auseinandersetzung mit Kunstwerken zeitgenössischer Künstler, um an ihnen seine vitalistisch-lebensreformatorischen Weltanschauungsideale zu erproben und deutlich zu machen. Entsprechend stehen nicht mehr Elemente der Bildbeschreibung oder die Wiedererkennbarkeit der Vorlage in der Dichtung im Mittelpunkt, sondern das Bildgedicht selbst wird zum || 338 Kaffanke: Der deutsche Heiland, 2001, S. 310. 339 Beßlich: „Corrector Germaniae“, 2007, S. 148. 340 Spiekermann: Weltanschauungskunst, 2008, S. 221. 341 Ebd. 342 Ulrich Linse: Lebensreform und Reformreligion. In: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, hier Bd. I. Hg. von Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001, S. 193–197.

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neuen Kunstwerk, in dem Kunstbetrachtung, Kunstwerk und Dichtung im Sinne eines gattungsübergreifenden Gesamtkunstwerkes zumindest vom Konzept her vereinigt werden.

2.4 Farbe für die Dichtung, Mittelalter und Mythos für die Gegenwart im Expressionismus (Alfred Lichtenstein, Theodor Däubler, Kasimir Edschmid, Georg Heym, Ernst Stadler, Georg Trakl, Gottfried Benn) Die schon bei den anderen Avantgarde-Strömungen um 1900 zu beobachtende Verschiebung einer im späten 19. Jahrhundert noch deutlich politisch-ideologisch geprägten Literarisierung und Vereinnahmung von Künstlern und Kunstwerken hin zu einer ästhetischen Funktionalisierung und zunehmenden Reflexion über Medialitäten im Bildgedicht kennzeichnet auch die Auseinandersetzung der Expressionisten mit der Bildenden Kunst. Entschiedener noch als bei den Vertretern der Wiener Moderne und des Fin de Siècle, des Symbolismus und des Jugendstils oder der Lebensreformbewegung zeichnet die Dichtung der um die 1880er Jahre geborenen expressionistischen Autorengeneration nicht nur ein neues Lebensgefühl und eine neue Weltwahrnehmung und -deutung aus, sondern auch eine gesteigerte Vorstellung der Einheit von Literatur und Bildender Kunst.343 Publikationsgeschichtlich macht sich diese Tatsache auch in der großen Anzahl von zwischen 1907 und 1925 erschienenen, oftmals von namhaften Malern und Graphikern wie Max Beckmann, Max Ernst, George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Alfred Kubin, Ludwig Meidner oder Max Pechstein illustrierten Büchern nicht nur expressionistischer Autoren bemerkbar, in denen der Wille zum Ausdruck kommt, mediale Unterschiede einzuebnen und eine gemeinsame Ästhetik zu postulieren.344 Christoph Kleinschmidt

|| 343 Vgl. die schon etwas ältere, aber immer noch instruktive Ausstellungdokumentation mit einem Vorwort von Bernhard Zeller: Vorwort. In: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910– 1923. Eine Ausstellung des deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Paul Raabe (Kurator). Stuttgart 1960 (Sonderausstellung des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 7), S. 3–12. 344 Zum Thema gibt es zwei hervorragende Bände mit zahlreichen Abbildungen und Erläuterungen, die die Zusammenarbeit von Autoren und Künstlern eindrücklich dokumentieren: Ralph Jentsch: Illustrierte Bücher des Expressionismus. Katalog zur Ausstellung im Käthe-Kollwitz-Museum, Berlin vom 16. November 1989 bis 2. Januar 1990. Stuttgart 1990; Lothar Lang: Expressionismus und Buchkunst in Deutschland 1907–1927. 2., verb. u. erg. Auflage. Leipzig

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konstatiert in seiner Studie zur „Intermaterialität“ im Expressionismus ein „enormes Interesse an der Exploration von Techniken und Materialen anderer Künste […], das nicht selten durch das Feindbild eines konservativen Medienpurismus angetrieben“ worden sei und zählt über 300 Maler und Graphiker, die für Bücherund Zeitschriftenillustrationen von Autoren, Verlegern und Herausgebern gewonnen werden konnten.345 Das expressionistische Theater mit Stücken wie Ernst Barlachs Der gelbe Klang (1912) oder Oskar Kokoschkas Sphinx und Strohmann (1913) profitieren nicht zuletzt von der künstlerisch-literarischen Doppelbegabung ihrer Schöpfer und markieren rezeptionsästhetisch gesehen per se schon die multimediale Ausrichtung des Expressionismus.346 Im Zusammenhang mit den zentralen expressionistischen Publikationsorganen wie Franz Pfemferts Die Aktion (1911–1932) und Herwarth Waldens Der Sturm (1910–1932) hat die Forschung von einem ausgeprägten multimedialen Konzept gesprochen, als dessen Anliegen einerseits die Wesensverwandtschaft und Zusammenarbeit von Literatur und Bildender Kunst, andererseits als Ergebnis gleichsam auch die Präsentation und Durchsetzung des bildkünstlerischen Expressionismus gerade durch Autoren wie Herwarth Walden, Alfred Döblin oder Max Brod gesehen wird. Sowohl die Eröffnungsausstellung des Sturm im März 1912 als auch die Herbstausstellung ab September 1912 mit Werken von Künstlern aus der Gruppe um den Blauen Reiter und von Lionel Feininger markieren in kunstgeschichtlicher Perspektive ein zentrales Ereignis für die Etablierung und Rezeption der malerischen Avantgarde in Deutschland.347

|| 1993; zum gleichzeitigen Auftreten gleicher „Erlebnis- und Darstellungsformen“ (S. 29) im bildkünstlerischen und literarischen Expressionismus vgl. schon Karl Ludwig Schneider: Zerbrochene Formen. Wort und Bild im Expressionismus. Hamburg 1967. 345 Vgl. Christoph Kleinschmidt: Intermaterialität. Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus. Bielefeld 2012, Zitat S. 12. 346 Vgl. zusammenfassend Ralf Georg Bogner: Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt 2005 (Einführungen Germanistik), S. 80f.; zu den Doppelbegabungen Kokoschka, Barlach, Lasker-Schüler und Kubin – um nur die bekanntesten zu nennen – vgl. auch Kleinschmidt: Intermaterialität, 2012, S. 14f.; besonders Kokoschka stand mit vielen expressionistischen Dichtern in Kontakt, woraus zahlreiche Projekte hervorgegangen sind. Armin A. Wallas: Zwei „Seelenaufschlitzer“ oder: Albert Ehrensteins und Oskar Kokoschkas Reisen durch imaginäre und reale Wüsten. In: Österreichisches Literaturforum 2 (1988), S. 17–22. 347 Vgl. hierzu Wilhelm Haefs: Zentren und Zeitschriften des Expressionismus. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. Hg. von York-Gothart Mix. München, Wien 2000 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, B. 7), S. 437– 453, hier S. 438f.; zu kontroversen Positionen, etwa Feiningers Ablehnung von „Doppelbegabungen“, auch Franziska Lampe: „[…] ich kann mich einer gewissen Bangigkeit nicht erwehren“. Lyonel Feininger und die Futuristen im Kontext des Sturm. In: Der Sturm. Literatur, Musik,

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Poetologische und intermediale Überlegungen expressionistischer Autoren sind durch eine ins „Mythische gesteigerte Wesensvorstellung der Kunst“348 gekennzeichnet und Sehen, Wahrnehmen und Sprache werden als voneinander abhängige und miteinander verbundene Möglichkeiten der künstlerischen Weltaneignung verstanden. Gerade im Expressionismus lassen sich zudem in der Entwicklung von Literatur und Bildender Kunst zahlreiche Analogien und Parallelen beobachten wie etwa die Autonomisierung der Farbe bei Gottfried Benn und Henri Matisse,349 „Abstraktionstendenzen“ bei Georg Trakl und Oskar Kokoschka350 oder der Umgang mit der Stadt als Ort traumatischer Erfahrungen bei Georg Heym und Ludwig Meidner.351 Prominentestes Beispiel für ein solches Analogiedenken sind die Texte von Carl Einstein, der als Dichter und Kunsthistoriker schon von seiner Ausbildung her den engen Schulterschluss zwischen Literatur, Bildender Kunst und Kunstwissenschaft repräsentiert. Seine 1926 zum ersten Mal publizierte, bereits 1931 in dritter Auflage erschienene und als Band 16 in die Reihe der Propyläen Kunstgeschichte integrierte Darstellung Die Kunst des 20. Jahrhunderts sowie die

|| Graphik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus. Hg. von Henriette Herwig und Andres von Hülsen-Esch. Berlin, Boston 2015, S. 39–57; zu den im Sturm schreibenden Autoren auch der Beitrag in demselben Band von Friederike Kitschen: Herward Walden und die Kunstkritik. In: Der Sturm. Literatur, Musik, Graphik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus. Hg. von Henriette Herwig und Andres von Hülsen-Esch. Berlin, Boston 2015, S. 83–100; zu den Auseinandersetzungen um Schulkunst und Avantgarde auch Petra Kunzelmann: Der Sturm und die Kunstkritik. Von der Provokation zum Streit. In: Der Sturm. Literatur, Musik, Graphik und die Vernetzung in der Zeit des Expressionismus. Hg. von Henriette Herwig und Andres von Hülsen-Esch. Berlin, Boston 2015, S. 101–121. 348 Kleinschmidt: Intermaterialität, 2012, S. 17. 349 Vgl. Thorsten Valk: Lyrische Ekphrasis. Intermediale Referenzen in Bildgedichten von Paul Celan und Gottfried Benn. In: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Hg. von Wolf Gerhard Schmidt und Thorsten Valk. Berlin, New York 2009 (spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 19), S. 295–313, hier S. 307; Benns Bildgedichte werden weiter unten noch ausführlicher behandelt. 350 Vgl. Petra Renkel: „Das Wort ist ein innerer Klang.“ Abstraktionstendenzen in der expressionistischen Kunst zwischen Wasily Kandinsky und Georg Trakl. In: Intermedialität. Vom Bild zum Text. Hg. von Thomas Eicher und Ulf Bleckmann. Bielefeld 1994, S. 77–93; ferner auch Karl Pestalozzi: Das Bildgedicht. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995 (Bild und Text), S. 568–591, hier S. 585. 351 Franziska Thiel: Die Großstadt als apokalyptischer Raum in der frühexpressionistischen Lyrik und Bildenden Kunst. In: Weltentwürfe des Fantastischen. Erzählen – Schreiben – Spielen. Hg. von Laura Muth und Annette Simonis. Bochum 2014 (komparatistik online, 2013), S. 258– 272.

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berühmte Erzählung Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) und die Studien zur Negerplastik (1915) und zu Wilhelm Lehmbruck (1913) sind in intermedialer Perspektive von dem Grundgedanken geleitet, dass „Kunst und Literatur, die bis dahin dem Prinzip einer abgestuften Repräsentation verpflichtet sind, […] abgelöst [werden] von ihrer Deutung als einer schöpferischen Praxis, die eine Medialität des Augenblicks inszeniert“.352 Nicht mehr nur das Wahrnehmen von Kunstwerken und das Wissen über sie, sondern davon abgetrennt wird auch das als poetisch eingestufte Sehen und Kunsterlebnis selbst für die sprachliche Annäherung an Werke der Bildenden Kunst als bedeutsam angesehen. Die Diskussion um die Einebnung der „Grenzen der Malerei und Poesie“ wird gleichzeitig auch in der akademischen Kunstgeschichte geführt. Die Publikation von Oskar Walzels kunsttheoretischem Aufsatz Wechselseitige Erhellung der Künste (1917) fällt bezeichnenderweise in das ‚Expressionistische Jahrzehnt‘. Der Titel der Schrift ist in der Intermedialitätsforschung mittlerweile zum feststehenden Begriff avanciert und Walzels Abhandlung selbst wird vielfach als späte Replik auf Lessings Trennungsverdikt der Künste aus dessen Laokoon-Schrift (1766) gelesen.353 Trotz oder gerade wegen Lessings Trennungspostulat und des in den folgenden Epochen immer wieder unterschiedlich bewerteten Verhältnisses von Malerei und Dichtung kann festgehalten werden, dass sich das Verhältnis von Kunst und Literatur gerade nach Lessings Streitschrift kontinuierlich bis ins 20. Jahrhundert hinein durch ein reges Beziehungsgeflecht aus (gegenseitiger) || 352 Erich Kleinschmidt: Von der Schwierigkeit, über Bilder zu schreiben. Zur Poetologie der Kunst in Carl Einsteins Die Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1 (1995), S. 255–277, hier S. 260; zusammenfassend auch Johanna Dahm: Der Blick des Hermaphroditen. Carl Einstein und die Kunst des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2004 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schrifte. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 480); Klaus H. Kiefer sieht vor allem in Einsteins Bebuquin die dort aufgeworfene Thematik des Sehens im Zusammenhang mit dem Kubismus und der Formfragmentierung, Klaus H. Kiefer: Einstein & Einstein. Wechselseitige Erhellung der Künste und Wissenschaften um 1915. In: Komparatistische Hefte der Universität Bayreuth 5/6 (1982), S. 181–194, hier S. 181; Erich Kleinschmidt untersuchte in einer späteren Studie auch Einsteins Pariser Vorlesungen, in denen Einstein von „Sehakt“ und „Wortakt“ spricht, die im Umfeld seiner Darstellung entstanden sind, Erich Kleinschmidt: Das Rauschen der Begriffe. Produktive Beschreibungsproblematik in Carl Einsteins „Kunst des 20. Jahrhunderts“. In: Weimarer Beiträge 47 (2001), S. 507–524; im größeren Kontext von Einsteins Schriften zur Bildenden Kunst und mit Blick auch für die für Einstein maßgeblichen Wahrnehmungstheorien von Ernst Mach und William James vgl. auch Gabriele Hoffmann: Sehen und Wahrnehmen in der Kunsttheorie Carl Einsteins. In: Etudes Germaniques 53 (1998), S. 171–186. 353 Vgl. Rainer Rosenberg: „Wechselseitige Erhellung der Künste“? Zu Oskar Walzels stiltypologischem Ansatz der Literaturwissenschaft. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt am Main 1986, S. 269–280.

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Indienstnahme, Auseinandersetzung und Bezugnahme auszeichnet. Insofern kann von „Wort und Bild als einer kulturellen Leitdifferenz“354 – zumal für die Moderne – gesprochen werden, was besonders im Expressionismus und in Walzels Studie zur Geltung kommt, dessen Titel symptomatisch ist für die „Totalisation sämtlicher Erscheinungsformen des geistig-kulturellen Lebens einer Zeit zu einem Epochenstil“.355 Als Kernforderung postuliert Walzel die Übertragung kunstgeschichtlicher Begriffe auf die Literaturwissenschaft. Damit gibt sich die „wechselseitige Erhellung der Künste“ also als Methode der kulturgeschichtlichen Darstellung und Analyse zu erkennen. Wenngleich Walzels Überlegungen einen „Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe“, wie es im Untertitel heißt, darstellen und damit ihren Anlass und Bezug zu Heinrich Wölfflins zwei Jahre zuvor erschienenem, epochalem Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915) markieren, so ist seine Überzeugung der gegenseitigen Inanspruchnahme von aus einem bestimmten Zeitgeist heraus entstandenen, einheitlichen und intermedial vergleichbaren Formprinzipien als symptomatisch für die ästhetischen und poetologischen Positionen des Expressionismus zu betrachten.356 Schon die Wahl der bedichteten Künstler und Kunstwerke in Bildgedichten expressionistischer Autoren zeugt – wie insgesamt bei expressionistischen Texten zu beobachten – von der Tendenz, sich vor allem mit der zeitgenössischen Kunst auseinanderzusetzen und damit einen dezidierten Anschluss auch an die Nachbardisziplin zu suchen. Das ist bei anderen Literaturströmungen um die

|| 354 Gabriele Rippl: Text-Bild-Beziehungen zwischen Semiotik und Medientheorie: Ein Verortungsvorschlag. In: Ikono/Philo/Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Hg. von Renate Brosch. Berlin 2004 (Potsdamer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Bd. 2). S. 43–60, hier S. 44. 355 Rosenberg: „Wechselseitige Erhellung der Künste“, 1986, S. 279. 356 Walzels Vorstellung von für eine Epoche oder einen bestimmten Zeitabschnitt ähnlichen Geisteshaltungen und Formprinzipien in allen Künste wird an zahlreichen Stellen deutlich, exemplarisch in der Mitte des Textes: „Allein trotzdem mag es sich für den Betrachter von Dichtungen empfehlen, an Wölfflin dort anzuknüpfen, wo er unbestritten rechtbehalten muß, bei der Scheidung der Kategorien, und nicht dort, wo er Einwänden ausgesetzt bleibt, bei der Verwertung der Kategorien zu geschichtlichen Synthesen. Wir brauchen vor allem für die Welt der Dichtung etwas, was den Kategorien Wölfflins entspricht. Synthesen, die auf diesen Kategorien sich errichten lassen, werden nicht ausbleiben. Ich rufe nach einer Erhellung der Betrachtung von Poesie durch die Betrachtung der bildenden Kunst und meine, diese Betrachtung wird gewinnbringender sein, wenn sie vorläufig dem einzelnen Kunstwerk dient und nicht auf den Nachweis ausgeht, daß ganze geschichtliche Reihen von Kunstwerken einem einzigen Typus einzuordnen seien.“ Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917, S. 41.

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Jahrhundertwende nicht im selben Maße der Fall gewesen. Zwar finden sich auch dort Bildgedichte zu zeitgenössischen Malern (Edvard Munch, Emil Jakob Schindler, Arnold Böcklin), doch handelte es sich hierbei um Künstler, die zur selben Zeit (noch) aktiv gewesen waren, aber nicht derselben Generation angehörten wie die über sie schreibenden Autoren. Besonders im George-Kreis war die Beurteilung von Malern wie Paul Klee, Wasily Kandinsky oder Oskar Kokoschka, die wir heute zur bildkünstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts rechnen, von erheblichen Ressentiments geprägt gewesen.357 Die poetologisch geforderte Einheit von Literatur und Bildender Kunst wird gerade in Bildgedichten, die sich in der Wahl ihrer Gegenstände der zeitgenössischen Kunst bedienen und sich insofern auch rückbinden lassen an zentrale Themen, Motive und Diagnosen des Expressionismus, eingelöst. An den für das vorliegende Kapitel ausgewählten Bildgedichten lässt sich die für den Expressionismus typische, in den Texten zum Ausdruck gebrachte tiefgreifende Kultur- und Gesellschaftskrise festmachen. Die Thematisierung von Krankheit, Gefangenschaft und gesellschaftlichen Randgruppen (Alfred Lichtenstein, Georg Heym), die Tendenz zur Mythisierung (Gottfried Benn) und ästhetischen Selbstreflexion (Ernst Stadler) sowie eine am Bildlichen orientierte lyrische Ausdruckweise, die in der sprachlichen Inanspruchnahme von Bildender Kunst mediale Differenzen explizit einzuebnen versucht (Theodor Däubler Kasimir Edschmid), problematisiert auch das Bildgedicht im Expressionismus ein breites Spektrum krisenhaft empfundener und gedeuteter Zustände.358

Alfred Lichtensteins zuerst im Oktober und November 1913 in Die Aktion gedruckte, im selben Jahr noch in Lichtensteins Sammlung Die Dämmerung aufgenommene Gedichte Karnevalstraum (Zu einem Bilde) und Vergnügtes Mädchen (Zu meinem Bild von Schnackenberg) sind ein Beispiel für diese gegenseitige und wechselseitige Bezugnahme und Verflechtung von Bildender Kunst und Literatur im Expressionismus. Beide Gedichte beziehen sich, wie der Untertitel andeutet,

|| 357 George lehnte die Werke der genannten Künstler als „Gesudel“ ab. Wolfskehl dagegen schätzte nicht nur die Werke von Klee und Kandinsky, sondern war etwa mit Franz Marc auch befreundet. Vgl. hierzu Manfred Durzak: Nachwirkungen Stefan Georges im Expressionismus. In: The German Quarterly 42 (1969), S. 393–417, hier S. 394ff. 358 Zusammenfassend zu den epochalen Tendenzen und Themen vgl. Bogner: Einführung, 2005, S. 24–27 und 52–58; zur Bildlichkeit auch Karl Riha: Dichtung des deutschen Frühexpressionismus. In: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. Hg. von York-Gothart Mix. München, Wien 2000 (Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, B. 7), S. 454–469.

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auf eine Illustration des 1880 im niedersächsischen Lauterberg geborenen und später vor allem aufgrund seiner Plakatentwürfe für die Werbeindustrie bekannt gewordenen Graphikers Walter Schnackenberg, die in der Karnevalsnummer des Simplicissimus am 31.12.1912 erschienen war (Abb. 58).

Abb. 58: Walter Schnackenberg: Vergnügtes Mädchen (1912)

Auf der fast die gesamte Seite der Zeitschrift einnehmenden, in expressionistisch grellen Farben gehaltenen und durch starke Kontraste gekennzeichneten Darstellung sind eine Prostituierte und ihr Zuhälter vor einer nächtlichen Stadtsilhouette zu sehen, die einen feisten, offenbar bewusstlosen oder betrunkenen, wohlsituierten Mann jeweils an einem Fuß gepackt haben und hinter sich herziehen. Gleichwohl sind die einmal aus der Perspektive der Prostituierten (Vergnügtes Mädchen), im anderen Falle aus der Sicht des Freiers (Karnevalstraum) reflektierte Begegnung der beiden ‚Rückübersetzungen‘ in Sprache, insofern Schnackenbergs Darstellung schon eine recht freie malerische Umsetzung eines Gedichtes von Karl Borromäus Heinrich darstellt, dessen drei Strophen direkt unter der Abbildung abgedruckt wurden, die in dem Falle allerdings keine Bildunterschrift sein sollen. Vielmehr ist die Illustration umgekehrt eine freie Adaption und Deutung von Heinrichs Ballade:359 || 359 Sehr knappe Hinweise zum Überlieferungskomplex bietet der kurz geratene Artikel zu Lichtenstein von Michaela Nicole Raß: Alfred Lichtenstein. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 505f.; Heinrich wurde 1908 in Erlangen mit einer Arbeit über Nietzsches Stellung zur Geschichte promoviert und ist vor allem als Lektor und Freund von Georg Trakl und für seine späteren Texte, die von

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„…er war nicht dümmer als die meisten, und hatte viel mehr Lebensart als sonst die feisten, zugereisten und dreisten Herrn im blonden Bart. 5 Und da wir dich schon lauern sahen im Zwielicht der verschneiten Nacht, sprach er noch leise von der nahen und bald-erwachten Frühlingspracht. Noch dacht’ ich: lassen wir ihn laufen, 10 der gibt mir ja auch so sein Geld – da warst du mit ihm schon im Raufen, und futsch war seine Frühlingswelt…“360

Die Anführungszeichen und die Auslassungspunkte am Beginn und Ende des Gedichts signalisieren, dass es sich hierbei um einen Ausschnitt einer Figurenrede handelt. Grundsätzlich ist das kriminelle Milieu und gewalttätige Potential des Pärchens (V. 9–12) in Heinrichs Gedicht erkennbar, doch liefert erst Schnackenbergers deutende Illustration die Identifikation der Sprecherin als Prostituierte und ihres Komplizen als Zuhälter, was wiederum Lichtenstein in seinen Gedichten herausstellt und damit ein Bildgedicht vorlegt, das gleichzeitig auf die Illustration Schnackenbergs und Heinrichs Gedicht als Prätext Bezug nimmt: Vergnügtes Mädchen Sieh doch, so ein feines Luder. Diesmal hatt’ ich wirklich Schwein. Sein Gesicht ist weiß wie Puder… Louis, nimm ihn…Laß mich sein… 5

10

Wird sich noch ein Bein ausrenken – Oder schlägt an einen Pfahl – Hui, der wird sein Lebtag denken An den heut’gen Karneval. – Kannst ihn ganz allein behalten… Daß dich nur kein Wachmann faßt…

|| einer christlich inspirierten Wende geprägt sind, bekannt geworden. Knapp informiert der Artikel von Maria Behre: Karl Borromäus Heinrich. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 5. Berlin, New York 2009, S. 217f. 360 Hier nach der Erstpublikation in: Simplicissimus 16 (1911/1912), Heft 63, S. 19.

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Geh doch zu der Sau, der alten… Die du ja viel lieber hast… Ich finde alle Tage einen Neuen Freund…ich brauch dich nicht… Louis schielt nach meinen Beinen, Schimpft. Und schlägt mir ins Gesicht.

5

10

„Wirst du gleich ihn bei den Füßen Fassen…Quatsch nicht…So…Gradaus. Warte, Schleimstück, du sollst’s büßen, Kommst du erst mit mir nach Haus –“ Mich ergreift ein tolles Fieber. Hii – ich freu’ mich fürchterlich. Endlich wieder ist mein lieber Süßer Schieber geil auf mich.361

Wie Heinrich verwendet auch Lichtenstein eine populäre vierhebige, kreuzgereimte Strophenform, wählt allerdings statt dem jambischen Versfuß regelmäßige trochäische Vierheber mit wechselnd weiblichen und männlichen Versschlüssen. Der gewählten Romanzenstrophe steht inhaltlich das derbe, von gewalttätigen Kraftausdrücken dominierte Vokabular der Prostituierten und ihres Zuhälters sowie das kriminelle Halbweltmilieu gegenüber (V. 1, 2, 11, 16, 24), die sich auch in dem aus der Sicht des Opfers geschilderten Gedicht wiederfinden: Karnevalstraum Ich mach den Karneval sobald nicht wieder mit. So schlimm ist mir mein Lebtag nicht gewesen. Und solche Träume hab ich nie geträumt.

5

10

Auf einem harten, kahlen Wege, der der Stadt, Die ihn nicht halten konnte, fast entlaufen ist. Und nun, ein Bettler, in den Himmel wandert, schreiten Ein Mann, ein Weib…Der Mann: robust, gemein, Ein Raubtier, das sich auf das Fressen freut. Das Weib: graziös und schlank, halbnackt, im Domino. Herzlose Blicke stechen aus verbrauchten Augen… Kein Laster, kein Verbrechen ist ihr neu –

|| 361 Hier nach der Ausgabe Alfred Lichtenstein: Dichtungen. Hg. von Klaus Kanzog und Hartmut Vollmer. Zürich 1989, S. 34, zur Überlieferung auch der Kommentar S. 304; der Erstdruck erfolgte in: Die Aktion 3, Nr. 45 (8.11.1913), Sp. 1050.

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Und jedes hält wie ein Paket in einem Arm Ein Bein von mir. Mein Körper schleift am Boden.

15

20

Und immer, wenn ich stöhnend meinen Kopf Versuche zu erheben oder mit den Händen mich Verzweifelt an die Erde klammern will… Fühl ich des Mannes starke Knochen fester Um meinen Fuß sich legen…fühle, wie des Weibes Grausames, kühles Fleisch sich plötzlich enger preßt, Und mutlos, hoffnungslos sink ich zusammen – Die beiden aber schreiten schweigend weiter, Zu jeder Greueltat mit Lust bereit…362

Lichtenstein geht es nicht um eine genaue Bildbeschreibung der Vorlage – dazu ist Schnackenbergs Illustration auch zu wenig prominent –, sondern um das Ausschöpfen des literarischen Potentials einer bildlichen Darstellung, die ihrerseits wiederum die literarische Vorlage Heinrichs als Szene aus dem Prostituiertenmilieu gedeutet hat. Die Wiedererkennbarkeit ist aber dennoch durch die präzise Benennung der Figurenkonstellation in beiden Gedichten gegeben (Vergnügtes Mädchen: V. 17; Karnevalstraum: V. 7, 13, 18). Die drastische malerische Darstellung der Szene mit grellen Farben und harten, scharf konturierten Gesichtern sowie eindeutigen Attributen findet ihre sprachliche Entsprechung in der derben Sprache und einer – vor allem in der Perspektive der Prostituierten – assoziativen und lapidaren Gedankenfolge. Lichtensteins Bildgedichte machen die distributionsgeschichtlich enge Koppelung und den regen Austausch von Literatur und Bildender Kunst gerade in expressionistischen Zeitschriften deutlich. Mit der Hinwendung zu Künstlern, in deren Werk auch soziale Randgruppen und ehedem nicht literaturfähige Milieus zur Darstellung kommen, öffnet sich das Bildgedicht auch in gattungstypologischer Hinsicht: Lichtensteins Dichtung auf Schnackenbergs Illustration überblendet das Bildgedicht mit dem besonders in den Cabarets der Jahre nach der Jahrhundertwende eine Blütezeit erlebenden Dirnenlied.363

|| 362 Nach derselben Ausgabe Lichtenstein: Dichtungen, 1989; in: Die Aktion 3, Nr. 40 (4.10.1913) ist das Gedicht unter dem Titel Traum erschienen, vgl. den Kommentar in der Ausgabe S. 305. 363 Vgl. Roger Stein: Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. Köln, Weimar, Wien 2006; der von Lichtenstein verwendete Name „Louis“ für den Zuhälter/Freund der Sprecherin hat Tradition seit Aristide Bruant. Stein geht auf wenigen Seiten auch auf Lichtensteins Dirnenlieder ein, lässt aber den intermedialen Bezug unbeachtet, vgl. S. 255– 257.

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Auch der 1876 im damals noch österreichischen Triest geborene und in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie zweisprachig aufgewachsene Theodor Däubler pflegte einen engen Kontakt und Austausch mit der malerischen Avantgarde seiner Zeit. Während seiner Pariser Jahre (1900–1904) lernte er im Quartier Latin Pablo Picasso und Henri Matisse kennen, stand nach seiner Übersiedlung nach Florenz 1907 in enger Beziehung mit Ernst Barlach und trat in seinen allerdings erst nach Beginn des Ersten Weltkrieges erschienenen kunstphilosophischen Texten Der neue Standpunkt (1916) und Im Kampf um die moderne Kunst (1919) vehement als Verteidiger und Vermittler sowohl expressionistischer als auch futuristischer Kunst ein.364 Der ‚neue Standpunkt‘, den Däubler formuliert, ist im Wesentlichen von einem ausgeprägten Anti-Naturalismus dominiert. In den einzelnen, Edvard Munch, Ernst Barlach, Henri Matisse, Marc Chagall, Franz Marc, Pablo Picasso, Paul Klee sowie Wassily Kandinsky gewidmeten Kapiteln seiner Schrift stellt Däubler immer wieder Analogien zu Malern der Früh- und Hochrenaissance her, wenn er etwa Piero della Francesca als „Metaphysiker der Renaissance“365 bezeichnet, der sich mit Cézanne vergleichen lasse. Offensichtlich sollen die beobachteten bzw. nahegelegten kunsthistorischen Parallelen das Werk der ‚neuen‘ Künstler nobilitieren. Ebenfalls liegt auf der Hand, dass Däublers Überlegungen zu naturalistischen Tendenzen und deren Überwindungen im Laufe der Kunstgeschichte als ‚Standortbestimmung‘ auch für eine Überwindung des Naturalismus in der Literatur gelesen werden sollen, wenngleich dieser Kampf 1916 fast schon anachronistisch wirken mag. Der Naturalismus – in Kunst und Literatur – war nach Däubler immer nur ein „Element“ der Gestaltung, „nie Ausdruck“.366 Gerade darum aber gehe es der neuen Kunst, „um einen neuen Ausbruch der Seele“,367 den Däubler in der Autonomisierung der Farbe bei Franz Marc vollendet sieht.

|| 364 Einen Überblick zu Leben und Werk bietet der Artikel von Kristina Pfoser-Schewig und Paolo Chiarini: Theodor Däubler. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 2., Berlin, New York 2008, S. 537–540; ferner auch das Vorwort zur Neuausgabe von „Der neue Standpunkt“ von Fritz Löffler: Vorwort. In: Theodor Däubler: Der Neue Standpunkt. Hg. und eingeleitet von Fritz Löffler. Dresden 1957, S. 5–28, hier bes. S. 7–10; das Interesse an Däubler als Kunstvermittler skizziert Stefan Nienhaus: Theodor Däublers Nordlicht und die Kunst der Renaissance. In: Wirkendes Wort 42 (1992), S. 468–477, hier S. 468f. 365 Hier nach der Neuausgabe: Theodor Däubler: Der Neue Standpunkt. Hg. und eingeleitet von Fritz Löffler. Dresden 1957, S. 48. 366 Ebd., S. 46. 367 Ebd., S. 117.

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Neben den von Däubler favorisierten Künstlern und ihren Werken ist vor allem deren Funktionalisierung und Anschlussfähigkeit an das oben skizzierte Einheitsdenken von Bildender Kunst und Literatur im Expressionismus von Bedeutung. Das trifft sowohl auf Däublers kunsttheoretische und -philosophische Schriften als auch auf seine Bildgedichte zu. Diese wurden nicht als Einzeltexte publiziert oder in Sammlungen, sondern sind in Däublers von der Forschung immer noch nicht hinreichend gewürdigte „Privatkosmogonie“,368 das über 30 000 Verse umfassende Epos Das Nordlicht (1910/1921) integriert. Vor allem die Konzeption des Epos als eine vom Sehen und Schauen (von Kunstwerken) ausgehende und darauf aufbauende Dichtung hat bereits Carl Schmitt in seiner zeitgleich mit Däublers Der neue Standpunkt 1916 erschienenen Interpretation des Epos hervorgehoben: Der Weg, auf dem die künstlerische Überwindung des enormen philosophischen und kultur-historischen Stoffes erreicht wird, scheint der zu sein, daß ein mit heftigster Intensität des Schauens erlebter Vorgang im Augenblick des Erlebens zum Gemälde umgeschaffen und dann erst gedichtet wird. Eine Evolution von Bildern entsteht auf diese Weise, eine völlig neue, beispiellose pictura poesis. Die Vision stellt sich bereits für das primäre psychologische Bewußtsein als Gemälde dar; die dichterische Beschreibung der Vision ist dann die Umgestaltung eines bereits künstlerisch umgestalteten Vorganges, sozusagen eine künstlerische Darstellung in zweiter Potenz.369

Als beispielhaft für dieses Verfahren können die Strophen zu Taddeo Gaddi (1290–1366) gelten, die sich wohl kumulativ auf Kreuzigungsdarstellungen des Malers in der Sakristei von Santa Croce in Florenz und – nicht mehr in situ befindlich – San Salvatore in Ognissanti beziehen (Abb. 59). Die Farbgebung (V. 3) des Gedichts hat nichts mehr mit der Vorlage zu tun, sondern wird zur autonomen Beschreibung eines Seelenzustandes benutzt, der allerdings an die Ikonographie der Vorlagen gekoppelt ist:

|| 368 Harald Falck-Ytter: Theodor Däubler – Werk und Wirklichkeit. In: Theodor Däubler – Biographie und Werk. Die Vorträge des Dresdner Däubler-Symposions 1992. Hg. von Dieter Werner. Mainz 1996 (Germanistik im Gardez!, Bd. 5), S. 49–57, hier S. 49; Däubler selbst wählt eine ähnliche Formulierung in der ein Jahrzehnt später erschienenen, überarbeiteten „Genfer Ausgabe“ des Epos, der eine „Selbstdeutung“ vorangestellt ist, vgl. Theodor Däubler: Die Selbstdeutung. In: Theodor Däubler: Das Nordlicht. Erster Band. Genfer Ausgabe. Leipzig 1921, S. 5–40, hier S. 10. 369 Carl Schmitt: Theodor Däublers „Nordlicht“: drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes. Unveränderte Ausgabe der 1916 bei Georg Müller in München ersch. Erstaufl. Berlin 1991, S. 36.

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Im hellen Seelenscheine sehe ich mich selber, Seit Ewigkeit auf meinem eigenen Kreuzweg gehen, Ich irre durch das Zweifeln ab, die Welt wird gelber, Ich sterbe, lebe auf und ab, und muß bestehn. 5

10

15

Oh heilige Verachtung, großer Spott des Geistes, Der alles urerwogen dennoch tragen kann, Dein Wesen ist zu streng, denn sieh, mein Herz zerreißt es: Gesteh, entkomme ich durch Ehrfurcht Deinem Bann? Hinweg, Du großes Licht, ich will vor Dir vergehen, Ich fasse nicht die Majestät von Deinem Leib, Ich fliehe Dich, um stets in Dich zurückzuwehen, Ich zweifle, fluche, und bin doch zu sein bereit! Gefühle, die den Geist mit Schmerz geboren haben, Verstummen und zerwühlen sich vor ihrem Sohn, Das ganze Leid ist kalt, da kann uns niemand laben, Oh, welcher Hohn durchdonnert die Passion!370

Abb. 59: Taddeo Gaddi: Kreuzigung Christi (um 1330)

Erstaunlicherweise spielt die von Däubler in seinen expositorischen Texten verteidigte zeitgenössische Kunst im Nordlicht (1910/1921) keine Rolle.371 Das

|| 370 Hier und im Folgenden wird auf die Erstausgabe, die sogenannte „Florentiner Ausgabe“ verwiesen, auf der die in der Kritischen Ausgabe abgedruckte Fassung beruht. Die zahlreichen Verweise auf Künstler und Kunstwerke finden sich im Ersten Theil: Das Mittelmeer, Theodor Däubler: Das Nordlicht. Erster Theil/Das Mittelmeer. Pan. Orphisches Intermezzo. In: Ders.: Kritische Ausgabe in sieben Bänden, hier Bd. 6.1. Hg. von Stefan Nienhaus und Dieter Werner. Dresden 2004, S. 300. 371 Vgl. auch Nienhaus: Theodor Däublers Nordlicht und die Kunst der Renaissance, 1992, S. 468.

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Spektrum der jeweils neben den zugehörigen Versen notierten Künstlernamen reicht von Vertretern der Sieneser Schule des Trecento wie Simone Martini und Ambrogio Lorenzetti über Giotto bis hin zu den bekannten Malern der Florentiner Proto-, Früh- und Hochrenaissance wie Giotto, Andrea del Castagno, Filippo Brunelleschi, Sandro Botticelli, Taddeo Gaddi, Masaccio, Paolo Uccello und Bartolomeo Ammanati.372 Das von Däubler in Italien, am Fuße des Vesuv begonnene und 1910 in Florenz fertiggestellte Epos wird zwar dem literarischen Expressionismus zugerechnet. Doch schon Carl Schmitt hat darauf hingewiesen, dass die inhaltlichen „Wurzeln des Werkes in der Romantik“ liegen.373 In rezeptionsgeschichtlicher Perspektive und im Hinblick auf die Literaturgeschichte des Bildgedichtes ist Däublers Renaissance-Kult insofern interessant, als sich Berührungspunkte mit dem Renaissancismus der Jahrhundertwende-Literatur ergeben. Gleichzeitig wurde betont, dass sich Däubler mit dem Rückgriff auf Künstler der Frührenaissance stärker in die Tradition der Frühromantiker und Nazarener stelle und sein Renaissance-Bild daher abzugrenzen sei von dem etwa bei Hofmannsthal bevorzugten „pestdurchseuchten Milieu der Spätrenaissance“.374 In den Strophen, die Botticelli zugeordnet werden, lässt sich Däublers dichterischer Umgang mit Künstler und Kunstwerk, der nur andeutungsweise hergestellte Bezug zu Botticellis berühmten Tafelbildern Geburt der Venus (1485) und Primavera (1482/87) und der in Der neue Standpunkt geforderte „Ausbruch der Seele“ in der Anschauung von Kunstwerken besonders gut nachvollziehen: Die Windesschlangen lispeln schadenfroh von Eden Und fiebern goldig dort durch einen Lorbeerhain, Es will Abend mit den Blättern freundlich reden Und Dämmer zieht in die verborgenen Seelen ein. Am Arno wandeln junge, mythische Figuren, Ihr Frühling fühlt sich ungeschwächt zur Ruhe gehen, Ich sah sie oft mit Sonnenuntergangskonturen, Als Rätsel still erstehn und bald darauf verwehn. […] Es blicken Augen, die den ganzen Tag erschauten, Durch edle Lust vergeistigt, in den frühen Tod,

|| 372 Die zahlreichen Verweise auf Künstler und Kunstwerke finden sich im Ersten Theil: Das Mittelmeer, Däubler: Das Nordlicht, 2004, S. 294–311. 373 Schmitt: Theodor Däublers „Nordlicht“, 1991, S. 17. 374 Nienhaus: Theodor Däublers Nordlicht und die Kunst der Renaissance, 1992, S. 470.

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Und blasse Leiber, die der Tagespracht vertrauten, Sind urerborgt von goldenem Abendroth umloht. Die Sorgenbilder eigener Jugend werden schwinden, Wohl sind sie noch ein Traum, doch sehe ich sie kaum, Vielleicht kann ich auf einmal sie nicht wiederfinden, Doch perlt und schimmert jetzt des Flusses Muschelschaum. Auch in mir selbst ist vieles Schöne schon erstorben, Und Schnörkel, Schnecken, sehr ich Abends rings umher, Wie wenig habe ich bisher im Leid erworben, Und was mich freut, wird schließlich wieder inhaltsleer. Nun sind sie weg. Ich wußte es. Die Dunstgestalten, Die Frühlingsfreuden haben keinen eigenen Halt. Nun heißt es, Hoffnungen von trüben Dingen spalten, Der Geist glüht fort und viele Formen werden alt. Im hellen Seelenscheine sehe ich mich selber, Seit Ewigkeit auf meinem eigenen Kreuzweg gehen, Ich irre durch das Zweifeln ab, die Welt wird gelber, Ich sterbe, lebe auf und ab, und muß bestehn.375

Das Betrachten von Malerei folgt hier nicht einem ekphratischen Modell, sondern die einzelnen Bilddichtungen sind im Zusammenhang des Epos zu sehen, in das sie sich fügen als Führer einer mythisch-überhöhten Stadt- und Kunstlandschaft und insofern vor allem eine atmosphärische Funktion übernehmen.376 Däublers (Früh-)Renaissancekünstler werden nicht als Vorbild, nicht explizit als Gradmesser für die eigene Dichtung funktionalisiert, noch wird über intermediale Aspekte reflektiert: Die Künstlernamen und die teils nur undeutlichen Anspielungen auf zentrale Werke wie die Genesis-Fresken im Kreuzgang von Santa Maria Novella von Paolo Uccello,377 die Kreuzigungs- und Passionsdarstellungen von Taddeo Gaddi378 oder die heute in den Uffizien befindliche, ehemals in Santa Trinità aufgestellte Thronende Madonna von Cimabue379 (Abb. 60) sind nicht zuletzt bildgewordene und sprachlich verbildlichte Garanten eines (Bild-)Gedächtnisses, in dem sich diese Kunst auch als Geburtshelferin „des Christentums als

|| 375 Däubler: Das Nordlicht, 2004, S. 294f. 376 Vgl. auch Nienhaus: Theodor Däublers Nordlicht und die Kunst der Renaissance, 1992, S. 474. 377 Vgl. Däubler: Das Nordlicht, 2004, S. 297. 378 Ebd., S. 300. 379 Ebd., S. 309f.

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höchster Erfüllung der Erde“380 zu erkennen gibt und insofern auf Däublers religiöse Überzeugungen zurückweist.381

Abb. 60: Cimabue: Thronende Madonna (um 1271/1274)

Die bloße Namensnennung der Künstler am Rand der jeweils relevanten Strophen erinnert mithin an bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit und im Zusammenhang mit Albrecht Dürer behandelte Verfahrensweisen in Bildgedichten der Gründerzeit und im späten 19. Jahrhundert. Aber auch davon ist Däublers dichterische Künstlerrezeption abzugrenzen. Nicht um Größe geht es mehr, um künstlerischen Heroismus, sondern um die Bestätigung im Glauben, um mystisches

|| 380 Däubler: Selbstdeutung, 1921, S. 21. 381 Eine Deutung des Gesamtepos bzw. eine zusammenfassende Darstellung steht noch aus. Auf Berührungspunkte mit der sogenannten Konservativen Revolution und kulturkritische Dimensionen des Textes hat Stefan Nienhaus hingewiesen. Grundsätzlich sieht er aber die monoperspektivische Verkürzung des Aussagegehalts auf konservative und kulturkritische Aspekte problematisch, vgl. Stefan Nienhaus: Die „Kompensation des Zeitalters der Geistlosigkeit“: die Reduktion von Theodor Däublers „Nordlicht“-Epos auf konservative Kulturkritik. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1998), S. 9–21; Nicolaus Sombart verweist, wie auch Nienhaus, auf die Interpretation Möller van den Brucks, der das Epos als wichtigste literarische Leistung seiner Zeit und als Zeugnis für aktuelle Zeitfragen charakterisierte. Sombart geht in seinem Beitrag der „Phänomenologie der Geschlechtlichkeit“ nach und stellt die etwas pointierte These auf, es handele sich beim Nordlicht um das „Weltepos der Bisexuatlität“ (S. 179), vgl.: Nicolaus Sombart: Theodor Däublers Nordlicht. In: Theodor Däubler. Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst. Die Vorträge des Berliner Däubler-Symposions von 1996. Hg. von Dieter Werner. Dillenburg 2000 (Edition M&N, Bd. 4), S. 177–202.

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Erleben, das sich mit den Namen und betrachteten Kunstwerken verbindet.382 Neben der Hinwendung zu zeitgenössischen Künstlern und der Analogisierung von dichterischen und bildkünstlerischen Verfahren gerade im Hinblick auf die Nobilitierung der Farbe ist für das Verständnis von Däublers Bildgedichten von zentraler Bedeutung, dass er die meisten im Rahmen seines Nordlicht-Epos in den Dienst einer (christlichen) Remythologisierung stellt und sich die in ihnen zum Ausdruck kommende Funktionalisierung von Bildender Kunst hauptsächlich aus dieser Perspektive für den Leser erschließt.383

Zum Verhältnis von Dichtung und Bildender Kunst äußert sich programmatisch auch der 1890 in Darmstadt geborene Kasimir Edschmid. Er ist vor allem durch seine als prototypisch für den Expressionismus geltende Novellensammlungen (Die sechs Mündungen, 1915; Das rasende Leben, 1916) und die mit sechs Radierungen von Max Beckmann illustrierte, größere Erzählung Die Fürstin (1918) sowie die von 1919–1923 erschienene Tribüne der Kunst und der Zeit bekannt geworden.384 Der Lyriker Edschmid wurde dagegen bisher kaum beachtet. Der 1913 mit einer Auflage von 210 Exemplaren im Darmstädter Hohmann-Verlag unter dem Namen Ed Schmid erschienene Band Bilder. Lyrische Projektionen mit 25 Bildgedichten, denen sechs Holzschnitte von Hermann Georgi beigegeben sind, enthält mit der Vorrede Edschmids programmatische intermediale Überlegungen, die er in seinen Bildgedichten umgesetzt sah bzw. umgesetzt sehen wollte. Neben Gedichten zu Künstlern und Werken der Florentinischen Frührenaissance und Renaissance wie Sandro Botticelli, Lorenzo di Credi, Pietro Perugino, Bernardino Pinturicchio und Luca Signorelli stehen in der Sammlung mit den Impressionisten Claude Monet, Auguste Renoir und Edouard Manet, dem Symbolisten Gustave Moreau, den Jahrhundertwendekünstlern Gustav Klimt, Hanns von Marées und Ludwig von Hofmann aber auch mit den der schottischen Glasgow School

|| 382 Vgl. auch Nienhaus: Theodor Däublers Nordlicht und die Kunst der Renaissance, 1992, S. 470. 383 Zu Däublers Bewertung der Farbe und sein Umgang mit ihr in seinen Bildbeschreibungen vgl. Ernst Osterkamp: Däubler oder die Farbe – Einstein oder die Form. Bildbeschreibung zwischen Expressionismus und Kubismus. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995 (Bild und Text), S. 543–568, hier S. 562. 384 Zu Leben und Werk informiert mit Hinweis auf die nicht eben zahlreichen neueren Studien zu Edschmid der Artikel von Hans Sarkowicz: Kasimir Edschmid. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 3. Berlin, New York 2009, S. 195–196; mit Blick auf Edschmids Bildgedichte auch Kleinschmidt: Intermaterialität, 2012, S. 150–158.

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nahestehenden, heute kaum mehr bekannten Illustratorinnen Annie French und Jessie M. King vor allem Maler und Malerinnen der jüngsten Vergangenheit im Mittelpunkt. Die Gedichte bieten im Umgang mit den künstlerischen Vorlagen ein Spektrum von teils mit genauen Bildverweisen und Beschreibungen arbeitenden Darstellungen (Claude Monet: Fischerboote in Etretat; Lorenzo di Credo: Verkündigung; Honoré Fragonard: Les Hazards heureux de l’Escarpolette) bis hin zu von den malerischen Vorbildern recht frei abstrahierenden Rollengedichten (Gustav Klimt: Liebespaar) und balladesken Nachdichtungen (Hanns von Marées: Der Raub des Ganymed; Ludwig von Hofmann: Perseus und Andromeda). Die wohl in Paris entstandene Sammlung verzichtet bewusst auf Abbildungen der in den einzelnen Gedichten behandelten Werke und unterstreicht mit dem Titel Lyrische Projektionen einerseits die Möglichkeit, Bilder in und durch Sprache umzudichten, andererseits spielt der aus dem Bereich der Technik entlehnte Begriff „Projektionen“ auch auf die vielfältigen technischen Neuerungen durch Film und Foto an, die die Rezeption des Kunstwerkes im „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ entscheidend verändern.385 Edschmid hebt schon mit dem Titel seines Buches die enge Verbindung von optischen und durch Bildende Kunst ausgelösten Eindrücken und Erfahrungen mit der Entstehung und Produktion von Lyrik hervor. In dieser Sammlung von Bildgedichten geht es daher nicht in erster Linie um die Herstellung einer bestimmten kunsthistorischen Ordnung oder Verfechtung eines – an ein bestimmtes Museum gebundenen – Kanons, sondern um die Suggestivkraft von Malerei für die Literatur. In der Vorrede reflektiert Edschmid über intermediale Grundfragen und legt die Motivation, Anlage und Ausrichtung seiner Bildgedichte offen: Nicht um jenen Engländer nachzuahmen, Thomas Griffiths Wainewright, der vor hundert Jahren zuerst zeigte, wie Gemälde Antriebe seien für rhythmische, hastige Worte, rauschende Prosa….weniger noch: mit der Auswahl der neueren Bildnisse in diesem Sinne ein Zeitdokument zu geben….oder zu beweisen: dass vielleicht in Bildern mehr Inspiration sei, als in der eigenen Natur, da doch künstlerischer Wille und Instinkt schön grössere Dichtigkeit zusammengeraffter Reise in sie gelegt hat – Ganz allein der Zufälligkeit eines dahin gerichteten Gestaltungsdranges verdankt dieser Cyklus seine Entstehung in dem wachsenden Willen: den dekorativen, seelischen oder pigmentären Gehalt der Bilder auszuschöpfen und in die neue Form zu fassen. […] Der Gedanke, den darstellenden Künstler, ganz losgelöst von dem Wesen der Bilder und rein erregt durch den rhythmischen Reiz der Verse und die Ausstrahlung ihres suggestiven Erlebens, wieder nach linearen Formen suchen und

|| 385 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Kurt Schleucher: Der reisende Schriftsteller. Kasimir Edschmid. Darmstadt 1990, S. 10–12; ferner auch: Kleinschmidt: Intermaterialität, 2012, S. 150– 153.

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also zum Bildlichen zurückführen zu lassen, ist….wir betonen das…ein erstmaliger und kühner Versuch.386

Wenn auch Edschmids Bildgedichte nicht den „erstmalige[n] und kühne[n] Versuch“ darstellen, formale und materielle Eigenschaften von Gemälden in Sprache umzusetzen, so ist seine in dieser Vorrede formulierte Position für den Umgang mit Bildender Kunst im Expressionismus symptomatisch: Die produktive Auseinandersetzung mit der Nachbardisziplin soll nicht länger geprägt sein von einem Paragone-Gedanken, sondern vielmehr als Symbiose mit Synergieeffekten für die Kunstproduktion begriffen werden, was sich exemplarisch an dem Gedicht zu Monets berühmten Gemälde Fischerboote am Strand von Etretat (1883/84) zeigen lässt (Abb. 61): Claude Monet: Fischerbote [sic!] Von den Fäusten der Pflöcke gehalten, an zuckenden Seilen stehen Bote von schleifenden Wolken bedroht…. Stehen wie Pfeile, wie Wale…. Unregsam im Aufruhr von Meilen einsamer als Büffel vor einem Abendrot. 5

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Furchtsam wie Blumen bedrängen den Zaun, bricht sich an der Kiele stolzerer Phalanx der Fluss. Aus dem nahen Orkan quellen schon Dunkel und Pfeifen….Doch, unverrückbare Ziele, liegen die Kähne beglänzt von des Himmels zerstäubtem Mangan. Sie liegen wie gefroren im Strom und des Sturmes Gebaren zerschellt an der Sicherheit ihrer starren Schicht…. Als hätten sie eine Sehnsucht nach grösseren unendlichen Gefahren Wirrer wie Mohn, süsser als Patcholi, Weiber und Maienlicht.387

Die bildhafte Wirkung fast aller Gedichte Edschmids in dieser Sammlung rührt einerseits von der starken Betonung und Herausstellung von Farbadjektiven her.388 Andererseits setzt Edschmid seine eigene programmatische Forderung, die bedichteten Kunstwerke „zum Bildlichen zurück[zu]führen“,389 um, indem er etwa in die personifizierten und lebendig erscheinenden Boote in jeder Strophe jeweils durch den Vergleichspartikel „wie“ zu neuen Bildvorstellungen hin öffnet

|| 386 Ed Schmid [d.i. Kasimir Edschmid]: Lyrische Projektionen. Begleitet durch sechs Holzschnitte von Hermann Georgi. Darmstadt 1913, o.S. [S. 3]. 387 Ed Schmid: Lyrische Projektionen, o.S. [S. 10]. 388 Siehe hierzu auch Kleinschmidt: Intermaterialität, 2012, S. 153f. 389 Ed Schmid: Lyrische Projektionien, 1913, o.S. [S. 3].

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und damit auch alternative, über das rein Sichtbare hinausgehende Perspektiven des Gemäldes durch die literarische Rezeption anbietet.

Abb. 61: Claude Monet: Fischerboote am Strand von Etretat (1883/1884)

Die Affinität der wenigen vor und nach seinem frühen Tod 1912 erschienenen Dichtungen Georg Heyms mit der Malerei und seine Orientierung am Optischen insgesamt hat die ältere Forschung immer wieder herausgearbeitet.390 Sowohl sein 1924 posthum mit 47 Original-Holzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner erschienener Gedichtband Umbra vitae und Heyms zahlreiche Besuche der Ausstellungen der Berliner Secession als auch die titelgebende Novelle des Bandes Der Dieb (1913), in dem der Diebstahl der Mona Lisa vom 22. August 1911 literarisiert wird, zeugen von einem regen Interesse an der Auseinandersetzung mit Bildender Kunst.391 Vincent van Gogh nimmt dabei eine herausragende Stellung ein und avanciert nicht nur bei den Literaten, sondern auch bei den Malern des

|| 390 Vgl. hierzu schon Kurt Mautz: Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Die Dichtung Georg Heyms. Bonn 1961, S. 324ff.; Heyms Gedichte mit „gemäldehafter Wirkung“ untersucht auch Ronald Salter: Georg Heyms Lyrik. Ein Vergleich von Wortkunst und Bildkunst. München 1972, S. 70–128; an diesen Ergebnissen weitgehend orientiert ist auch der Artikel von Katharina Serles: Georg Heym. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 312–324. 391 Die Novelle wird vielfach in der Literatur zu Heym und die Bildende Kunst erwähnt, vgl. Burkhardt Wolf: „Auf diesem furchtbaren blutlosen Schlachtfelde“. Das ‚Pathos des Realen‘ bei Georg Heym. In: Ultima Ratio? Räume und Zeiten der Gewalt. Hg. von Gerhard Scholz und Veronika Schuchter. Würzburg 2013 (Film – Medium – Diskurs, Bd. 49), S. 11–26, hier S. 15f.; Melanie Klier: Kunstsehen – Literarische Konstruktion und Reflexion von Gemälden in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüdern mit Blick auf die Prosa Georg Heyms. Frankfurt am Main [u.a.] 2002 (Münchner Studien zur literarischen Kultur in Deutschland, Bd. 35), S. 17.

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Expressionismus zur Zentral- und Symbolfigur, wobei vor allem immer wieder der van Goghs Werken zugeschriebene starke, unmittelbare Ausdruck hervorgehoben wird.392 In seinem Tagebuch vom 2. September 1910 notiert Heym, dass er Gedichte mache, wie van Gogh in seinen Gemälden mit Farben umgehe.393 Mit der seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmenden Werkwahrnehmung des niederländischen Künstlers wird auch dessen Bewertung ausgesprochen facettenreich. Van Gogh gilt als Inbegriff des leidenden Künstlers und verkannten Genies, des antibürgerlichen Kunstrevolutionärs und radikalen Erneuerers aber auch des einsamen, wahnsinnigen und an der Gesellschaft gescheiterten Malers. Von den Vertretern der offiziellen Kunstpolitik des wilhelminischen Reiches verachtet und abgelehnt, brachte van Gogh gerade dieses Außenseitertum Bewunderung und Verehrung von Vertretern der literarischen und künstlerischen Avantgarde ein, allen voran von den Expressionisten, und avancierte vielfach zur Identifikations- und „Stellvertreterfigur“394 der Autoren auch in literarästhetischen Fragen. Daneben lässt sich aber auch eine recht starke Präsenz van Goghs im Kunstleben der großen Städte zumindest nach 1900 und bis zum Ersten Weltkrieg nachweisen, die flankiert und befördert wurde unter anderem durch die Schriften des Kunstschriftstellers und Impressionismus-Apologeten Julius Meier-Graefe, in denen sich „Historizität und Fiktion“ zu vermischen und zu verselbständigen beginnen.395 Dem Bild des Einzelgängers und Einsamen, das letztlich über eine Würdigung van Goghs durch den symbolistischen Schriftsteller Albert Auriers im

|| 392 Vgl. Salter: Georg Heyms Lyrik, 1972, S. 200–234. 393 Der Eintrag hier zitiert nach Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, S. 21. 394 Klaus Mönig: Malerei & Grafik in deutscher Lyrik des 20. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau 2002 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 102), hier S. 174. 395 Einen ersten Überblick zur literarischen van Gogh-Rezeption bietet Marina Rauchenbacher: Kanonisierte Blicke. Zur Literarisierung Vincent van Goghs. In: Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Tagung österreichischer und tschechischer Germanistinnen und Germanisten, Olmütz/Olomouc, 20.– 23.9.2007. Hg. von Jürgen Struger. Wien 2008, S. 177–190, hier S. 179; korrigierend zu dieser verbreiteten Beurteilung Meier-Graefes: Christian Lenz: Julius Meier-Graefe in seinem Verhältnis zu Vincent van Gogh. In: Vincent van Gogh und die Moderne. 1890–1914. Katalog zur Ausstellung Museum Folkwang, Essen (11.8.1990–4.11.1990) und Van Gogh Museum, Amsterdam (16.11.1990–18.2.1991). Hg. von Georg Wilhelm Költzsch und Ronald de Leeuw. Bearb. von Roland Dorn. Freren 1990, S. 47–59, bes. S. 49–52. Lenz versucht in dem fundierten Beitrag auch eine ‚Ehrenrettung‘ Meier-Graefes und relativiert die ältere Forschung, die in der Tat oft wertend mit Meier-Graefe umgegangen ist, ohne ihn stärker vom historischen Kontext her zu verstehen.

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Mercure de France bereits im Januar 1890 vermittelt worden ist,396 fügte MeierGraefe in seinen verschiedenen Texten noch zahlreiche andere Epitheta hinzu, die auch die frühe Wahrnehmung van Goghs bei den Expressionisten prägen sollten. Van Gogh wird bei Meier-Graefe als „der glühende Empfindende“,397 als „Revolutionär“ und „Retter des Impressionismus“398 heroisiert, der als „erster in ein neues, ein anarchisches Europa“ gehöre, „in das er alles elementare Gefühl der Alten retten wollte“.399 Auch „malte [van Gogh] seine Bilder nicht“, so MeierGraefe, sondern „er stieß sie aus“400 und sein Malen sei „animalisches Sichhingeben an fremde Natur, Rausch, Orgie“401 gewesen.402 Für die kunsthistorische und kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit van Goghs Werk waren die seit 1904 erschienenen (Teil-)Editionen und die deutsche Übersetzung der Briefe van Goghs von zentraler Bedeutung, dessen 1906 erweiterte und von Margarete Mauthner herausgegebene Ausgabe Heym wohl durch John Wolfsohn im Neuen Club 1909/1910 kennengelernt hat.403 Die Briefe sind zudem auch insgesamt für die literarische van Gogh-Rezeption im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Bedeutung, wenngleich das van Gogh-Bild und dessen ästhetische Funktionalisierung in den Texten von Rainer Maria Rilke (Briefe über Cézanne, 1907), Hugo von Hofmannsthal (Briefe des Zurückgekehrten, 1907/08), Theodor Däubler (Van Gogh, 1916/17), Gottfried Benn (Der Garten von Arles, 1920), Robert Walser (Das van Gogh-Bild, 1912/16) oder Carl Sternheim || 396 Zur Rezeption van Goghs kurz vor und nach seinem Tod vgl. Matthias Arnold: Vincent van Gogh. Werk und Wirkung. München 1995, S. 741–743. 397 Julius Meier-Graefe: Vincent van Gogh. Mit vierzig Abbildungen und dem Faksimile eines Briefes. 3. durchgesehene Auflage. München 1910, S. 29. 398 Ebd., S. 101. 399 Ebd., S. 99. 400 Ebd., S. 32. 401 Ebd., S. 93. 402 Bei aller Würdigung van Goghs sah der Berliner Kunstkritiker aber eine mögliche bürgerliche Anerkennung des Niederländers skeptisch, dazu Lenz: Julius Meier-Graefe, 1990, S. 50. 403 Ausgewählte Briefe erschienen bereits 1904 in der Zeitschrift Kunst und Künstler. Ebenfalls eine Auswahl von Briefen an Theo van Gogh und Emile Bernard publizierte Margarete Mauthner 1906 im Verlag Bruno Cassirers in Berlin, die Heym kannte. Erst im Kriegsjahr 1914 erschien eine fast vollständige Ausgabe, die von Theos Witwe Johanna van Gogh-Bonger (auch Johanna Cohen-Gosschalk) besorgt wurde. Vgl. hierzu Lenz: Julius Meier-Graefe, 1990, S. 49; kritisch zur Publikationsgeschichte der Briefe die grundlegende Biographie von Matthias Arnold: Vincent van Gogh. Biographie. München 1993, S. 13–21; zur Bedeutung des expressionistischen Neuen Clubs und den dort geführten Diskussionen um Wort und Bild vgl. Akana Nishioka: Die Suche nach dem wirklichen Menschen. Zur Dekonstruktion des neuzeitlichen Subjekts in der Dichtung Georg Heyms. Würzburg 2006 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 564), S. 34–38.

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(Vincent van Gogh, 1910, Legende. Fragment, 1916, Gauguin und van Gogh, 1924) doch maßgeblich geprägt und beeinflusst ist von den Schriften Meier-Graefes. Ob als Ausgangspunkt für sprachskeptische Überlegungen zur Intermedialität bei Hofmannsthal oder als Totalitätserlebnis und südlicher Rausch bei Benn, allen genannten Texten gemeinsam ist, dass sie die – meist auch autorbiographisch verbürgte – Konfrontation mit Werken van Goghs zur einzigartigen, lebens- verändernden Kunsterfahrung stilisieren und sich daraus ästhetische oder poetologische Positionsbestimmungen ableiten lassen.404 Eine erste öffentliche Ausstellung von immerhin fünf Werken van Goghs fand bereits am 8. Mai 1901 in der Berliner Secession wohl durch Vermittlung MeierGraefes statt.405 Wegweisend für die Entwicklung der deutschen bildkünstlerischen Avantgarde von der 1905 gegründeten Vereinigung der Brückemaler bis hin zur Münchner Gruppe Der Blaue Reiter, dem Düsseldorfer Sonderbund und den Rheinischen Expressionisten wurde dann die weithin rezipierte, von Paul Cassirer initiierte Hamburger Ausstellung von 54 Gemälden van Goghs im Herbst 1905, die als Wanderausstellung über Wien auch nach Dresden kam.406 Georg Heym besuchte bereits die erste Ausstellung der Berliner Secession mit Werken van Goghs im Frühjahr 1901 und wird wohl weitere Gemälde in den Ausstellungen der

|| 404 Vgl. Rauchenbacher: Kanonisierte Blicke, 2008, S. 177–190; Arnold: Vincent van Gogh, 1995, S. 780–798; in einem berühmt gewordenen Brief vom 25. Juni 1910 an seine Frau Thea berichtet der enthusiastische Kunstsammler, van Gogh-Verehrer und Dichter Carl Sternheim von einem außergewöhnlichen Kunsterlebnis, das sinnbildlich für die van Gogh-Bewunderung der Expressionisten gesehen werden kann: „In dem Keller der Pinakothek habe ich vor einem Selbstbild van Goghs, das wir nie erblickt, den größten Eindruck meines Lebens von einem Bild gehabt.“ Carl Sternheim: Briefe II. Briefwechsel mit Thea Sternheim, Dorothea und Klaus Sternheim 1906–1942. Hg. von Wolfgang Wendler. Darmstadt 1988, S. 71; in einem Brief vom 15. Juni 1911 (S. 90) berichtet Sternheim von seinem Eindruck des Doktor Gachet-Gemäldes, das er im Frankfurter Städel mit dem damaligen Direktor Georg Swarzenski sehen konnte. Sternheim notiert überrascht, dass Swarzenski nun auch behaupte, van Gogh sei größer als Rembrandt. 405 Vgl. Lenz: Julius Meier-Graefe, 1990, S. 48; sehr hilfreich der Anhang mit einer chronologischen Übersicht zu den Ausstellungen mit van Gogh-Werken der zweisprachige Katalog von Walter Feilchenfeldt: Vincent van Gogh & Paul Cassirer, Berlin. The Reception of Van Gogh in Germany from 1901 To 1914. Zwolle 1988, S. 144–154, hier S. 144; Ders.: Vincent van Gogh. Die Gemälde 1886–1890. Händler, Sammler, Ausstellungen. Frühe Provenienzen. Wädenswil 2009 (Quellenstudien zur Kunst, Bd. 3), S. 313–320. 406 Vgl. Magdalena M. Moeller: Van Gogh und die Rezeption in Deutschland bis 1914. In: Vincent van Gogh und die Moderne. 1890–1914. Katalog zur Ausstellung Museum Folkwang, Essen (11.8.1990–4.11.1990) und Van Gogh Museum, Amsterdam (16.11.1990–18.2.1991). Hg. von Georg Wilhelm Költzsch u. Ronald de Leeuw. Bearb. von Roland Dorn. Freren 1990, S. 312–333.

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Folgejahre auch im Kunstsalon Paul Cassirers gesehen haben.407 Van Goghs Die Runde der Gefangenen (1890; Abb. 62) gehört nicht zu den bekanntesten Werken des Künstlers und wurde daher auch nie in Berlin und Deutschland ausgestellt, sondern nur in Paris in den Jahren 1901 (Bernheim-Jeune) und 1905 (Paris Artistes Indépendants). Vermutlich hat Heym eine Abbildung des Gemäldes in der 1890 erschienenen Andries Bonger Liste (Catalogue des Œuvres de Vincent van Gogh) gesehen.408

Abb. 62: Vincent van Gogh: Die Runde der Gefangenen (1890)

Das Gemälde selbst geht wiederum auf eine Radierung von Gustave Doré zurück und ist damit selbst schon ein Rezeptionszeugnis. Bezeichnenderweise wählt der Kriegsvisionär (Der Krieg, 1911), Zivilisationskritiker, Untergangsprophet und pessimistische Dichter einer als feindlich empfundenen Gegenwart (Berlin I, 1910; Der Gott der Stadt, 1910) Heym damit eine Vorlage für sein Bildgedicht Die Gefangenen I (1910), das sich mit seinem deutlich sozialem Einschlag auch thematisch in Heyms frühexpressionistische Dichtung fügt, in der van Goghs Gemälde als Sinnbild für die existentielle Gefangenschaft des modernen Menschen gedeutet werden kann:

|| 407 Vgl. Patrick Bridgwater: The Expressionist Generation and van Gogh. Hull 1987 (New German studies texts & monographs, 8), S. 83–85. 408 Vgl. die Liste der Ausstellungen und ausgestellten Gemälde in Deutschland bei Feilchenfeldt: Vincent van Gogh & Paul Cassirer, 1988, S. 144–154; zu Der Rundgang der Gefangenen vgl. auch Feilchenfeld: Vincent van Gogh, 2009, S. 200.

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Die Gefangenen I Sie trampeln um den Hof im engen Kreis. Ihr Blick schweift hin und her im kahlen Raum. Er sucht nach einem Feld, nach einem Baum, Und prallt zurück von kahler Mauern Weiß. 5

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Wie in den Mühlen dreht der Rädergang, So dreht sich ihrer Schritte schwarze Spur. Und wie ein Schädel mit der Mönchstonsur, So liegt des Hofes Mitte kahl und blank. Es regnet dünn auf ihren kurzen Rock. Sie schaun betrübt die graue Wand empor, Wo kleine Fenster sind, mit Kasten vor, Wie schwarze Waben in dem Bienenstock. Man treibt sie ein, wie Schafe zu der Schur. Die grauen Rücken drängen in den Stall. Und klappernd schallt heraus der Widerhall Der Holzpantoffeln auf dem Treppenflur.409

Das im September 1910 entstandene Gedicht Die Gefangenen I bedient sich mit seinem Reimschema abba, den durchgehend jambischen Vierhebern und ausschließlich betonten Versschlüssen einer Strophenform, die Heym, nachdem sie seit dem Barock nur vereinzelt rezipiert worden war, im Expressionismus wieder populär gemacht hat.410 Das nur 64x80 Zentimeter messende Gemälde van Goghs bietet dem Betrachter den in düsteren Farben gehaltenen und mit grobem Pinselstrich ausgeführten Ausschnitt eines wohl achteckigen Innenhofes, dessen Steinplatten am unteren Rand des Bildes abgeschnitten sind und der Betrachter sich dadurch mitten in die Szene hineinversetzt sieht. Die klaustrophobische Enge des Innenhofes und die stumpfe, durch Tiervergleiche (V. 12, 13) dehumanisierte Gruppe der Gefangenen wird im Gedicht in der Personifikation der GefangenenBlicke perspektiviert (V. 1–4), die den Blicken des Betrachters entsprechen. Dabei strukturieren bewusst von der Vorlage abstrahierende, ausschließlich den Unfarben zuzurechnende Farbadjektive (V. 4, 6, 10. 12, 14) sowohl die Strophen des Gedichts als auch die Wahrnehmung der Gefangenen. Die Literarisierung des Gemäldes setzt eigene Schwerpunkte und ist insofern auch durch eine eigenständige Deutung der Vorlage gekennzeichnet. Walter Hinck hat darauf hingewiesen,

|| 409 Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Hg. von Karl Ludwig Schneider, Bd. 1: Lyrik. Hamburg 1964, S. 122. 410 Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen, 1993, S. 306f.

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dass im „Denkhorizont des Gedichtes“ die Frage nach dem „früheren Missbrauch von Entscheidungsfreiheit, nach Verbrechen und Schuld“ nicht auftaucht und sieht in dem Text eine bei Heym und anderen expressionistischen Autoren zu beobachtende „Dekonstruktion des lebendigen Menschen zum Automaten“ thematisiert.411 Die monotone, im Bild van Goghs festgehaltene Kreisbewegung der Gefangenen deutet Heym in seinem Gedicht als Sinnbild einer „Versklavung des Menschen durch die Maschine“412 und aktualisiert und übersetzt damit van Goghs Gefangenenthema in die Gegenwart am Vorabend des Ersten Weltkrieges.

Auch Kunstwerke älterer Epochen, namentlich des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wurden im Expressionismus oft mit einem deutlichen Gegenwartsbezug bedichtet, was im Folgenden am Beispiel von Ernst Stadler und Gottfried Benn gezeigt werden soll. So nutzt der 1883 im elsässischen Colmar in eine aus dem Allgäu stammende protestantische Familie geborene Ernst Stadler seine Literarisierung der zwei berühmten gotischen Skulpturen Ecclesia und Synagoge am Südportal der Kathedrale von Straßburg zu einer werkbiographischen, literarhistorischen und literarästhetischen Reflexion (Abb. 63).

Abb. 63: Ecclesia und Synagoge, Südportal Straßburger Münster (um 1220/1230)

|| 411 Walter Hinck: Die Rückbindung des lebendigen Menschen zum Automatenhaften. Georg Heyms Gefangenen-Gedichte. In: Der Mensch als Konstrukt. Festschrift für Rudolf Drux zum 60. Geburtstag. Hg. von Rolf Füllmann [u.a.]. Bielefeld 2008, S. 61–68, hier S. 65f. und 63. Hinck erwähnt allerdings an keiner Stelle, dass sich Heyms Gedicht auf eine Vorlage van Goghs bezieht. 412 Ebd., S. 68.

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Die Gegenstandswahl öffnet dabei unter einem engeren Blickwinkel nicht nur den Horizont zu Fragen nach Stadlers ‚stilgeschichtlichem Ort‘, seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Werkbiographie samt ihrer regionalistischen Schwerpunkte, sondern muss auch in den größeren Kontext eines in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kulminierenden kunsthistorisch und kunstphilosophisch ausgerichteten Gotik-Interesses gesehen werden, wie es etwa in der Habilitationsschrift des für das ideologische und künstlerische Selbstverständnis der Expressionisten ohnehin bedeutsamen Kunsthistorikers Wilhelm Worringer (Formprobleme der Gotik, 1909/1911) zum Ausdruck kommt.413 Als letztes Gedicht von Stadlers Sammlung Der Aufbruch (1913, vordatiert auf 1914) steht Gratia divinae pietatis adesto savinae de petra dura per quam sum facta figura (alte Inschrift am Straßburger Münster) ebenso wie die vielfach als expressionistisches Programmgedicht gedeuteten Eröffnungsstrophen von Form ist Wollust an exponierter Stelle und übernimmt daher auch eine zusammenfassende, räsonierende Funktion im Hinblick auf Stadlers Werkbiographie zwischen Heimatkunst, Symbolismus, Ästhetizismus und Expressionismus.414 Der Titel des Gedichts gibt die Inschrift auf dem Spruchband einer der am Südportal ebenfalls aufgestellten Apostel wieder („Die Gnade Gotte sei mit Sabina, von deren Hand aus hartem Stein gehauen ich als Figur hier stehe“) und spielt auf die 1914 allerdings schon widerlegte Legende an, nach der die vermeintliche Tochter Erwin von Steinbachs, Sabina, die beiden Skulpturen || 413 Vgl. hierzu Jost Hermand: Stadlers stilgeschichtlicher Ort. In: Der Deutschunterricht 17 (1965), S. 21–33, bes. S. 30f.; Hermand verweist neben Worringer auch auf Benz’ Vorstellung einer „gotischen Volkskultur“ und Gundolfs Forderung 1910 nach einer Wendung ins „domhafte“; für Arno Schirokauer waren schon die von Stadler verwendeten Langverse eine Mahnung an das Gotische und erinnerten nach seiner Lesart an „Skulpturen gotischer Kirchen“, vgl. Arno Schirokauer: Über Ernst Stadler. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung 1 (1954), S. 320–334, Zitat S. 320. 414 Das Eröffnungsgedicht Form ist Wollust hat weitaus mehr Beachtung in der Forschung gefunden als Stadlers Gedicht auf die Südportalfiguren. Einig sind sich fast alles Studien über den programmatischen Anspruch der beiden Gedichte mit einer deutlichen Absage an den früheren Ästhetizismus. Zum Eröffnungsgedicht vgl. die beiden maßgeblichen Studien von Ernst Schürer: Stadlers expressionistisches Programmgedicht „Form ist Wollust“. Rezeption und Interpretation. In: Lyrik – Kunstprosa – Exil. Festschrift für Klaus Weissenberger zum 65. Geburtstag. Hg. von Joseph P. Strelke. Tübingen 2004, S. 121–139; Achim Aurnhammer: ‚Form ist Wollust‘. Ernst Stadlers Beitrag zur Formdebatte im Expressionismus. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Hg. von Olaf Hildebrand. Köln 2003 (UTB, 2383), S. 187–197; die ganze Sammlung Der Aufbruch wertet Wolfgang Harms als expressionistisches Programm, Wolfgang Harms: Ernst Stadlers lyrischer Zyklus „Der Aufbruch“ als begriffsfreies expressionistisches Programm. In: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Hg. von Joachim Bromand und Guido Kreis. Berlin 2010, S. 581–599.

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geschaffen habe.415 Die Überschrift zitiert nicht nur die Inschrift, sondern fingiert diese auch als Figurenrede einer – nicht näher bestimmten – Skulptur selbst, womit dem Leser nahegelegt wird, die Sprecherin der folgenden Verse mit jener sagenhaften Bildhauerin Sabina zu identifizieren. Das Gedicht lässt sich daher nicht, wie Kranz konstatiert, als rein monologisches Bildgedicht ansprechen, sondern stellt eine Variation des historischen Rollengedichts dar, das sich aufgrund der in der Überschrift als Figurenrede einer Skulptur selbst erkennbar gemachten Inschrift auch als Dialog zwischen Kunstwerk(en) und Künstler(in) deuten lässt – eine Konstellation, die sich auch auf das Verhältnis Stadlers zu seinen Gedichten übertragen lässt.416 Die konkreten Vorlagen der Ecclesia und Synagoge werden mit der Inschrift-Überschrift im Gedicht zu einem Skulpturenensemble zusammengeführt, das in der Realität zum Entstehungszeitpunkt des Gedichts nicht mehr bestanden hat:

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Zuletzt, da alles Werk verrichtet, meinen Gott zu loben, Hat meine Hand die beiden Frauenbilder aus dem Stein gehoben. Die eine aufgerichtet, frei und unerschrocken – Ihr Blick ist Sieg, ihr Schreiten glänzt Frohlocken. Zu zeigen, wie sie freudig über allem Erdenmühsal throne, Gab ich ihr Kelch und Kreuzesfahne und die Krone. Aber meine Seele, die Schönheit ferner Kindertage und mein tief verstecktes Leben Hab ich der Besiegten, der Verstoßnen gegeben. Und was ich in mir trug an Stille, sanfter Trauer und demütigem Verlangen Hab ich sehnsüchtig über ihren Kinderleib gehangen: Die schlanken Hüften ausgebuchtet, die der lockre Gürtel hält, Die Hügel ihrer Brüste zärtlich aus dem Linnen ausgewellt, Ließ ihre Haare über Schultern hin wie einen blonden Regen fließen, Liebkoste ihre Hände, die das alte Buch und den zerknickten Schaft umschließen, Gab ihren schlaffen Armen die gebeugte Schwermut gelber Weizenfelder, die in Julisonne schwellen, Dem Wandeln ihrer Füße die Musik von Orgeln, die an Sonntagen aus Kirchentüren quellen. Die süßen Augen mußten eine Binde tragen, Daß rührender durch dünne Seide wehe ihrer Wimpern Schlagen.

|| 415 Vgl. die Kurzinterpretation von Karl Ludwig Schneider: Ernst Stadler: Gratia divinae pietatis adesto savinae de petra dura per quam sum facta figura (alte Inschrift am Straßburger Münster). In: Frankfurter Anthologie. Dritter Band. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Leipzig 1981, S. 133– 137; für einen kunsthistorischen Überblick bietet sich an Sabine Bengel: Das Straßburger Münster. Seine Ostteile und die Südquerhauswerkstatt. Petersberg 2011. 416 Vgl. Gisbert Kranz: Das Bildgedicht in Europa. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Paderborn 1973, S. 68.; Niefanger: Das historische Rollengedicht, 2013, S. 215– 268.

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Und Lieblichkeit der Glieder, die ihr weiches Hemd erfüllt, Hab ich mit Demut ganz und gar umhüllt, Daß wunderbar in Gottes Brudernähe Von Niedrigkeit umglänzt ihr reines Bildnis stehe.417

Ikonographisch und heilsgeschichtlich symbolisieren die beiden bedichteten Skulpturen die Dichotomie von Altem und Neuem (Bund) bzw. allgemein den Sieg des Neuen über das Alte. Die religiöse Dimension, die sich mit den Skulpturen verbindet, interessiert Stadler indessen nicht.418 Die oben angesprochene, das Gedicht prägende Kommunikationssituation der sagenhaften Künstlerin im Zwiegespräch mit ihren eigenen Kunstwerken lässt sich auch auf das Verhältnis des Dichters Stadlers zu seinen Werken und Werkphasen übertragen und machen Stadlers Auseinandersetzung mit den gotischen Skulpturen zu einem „expressionistischen Künstlergedicht“.419 Die betrachteten und bedichteten Skulpturen werden zum Symbol für das eigene Kunstschaffen und in der lyrischen Rezeption mit der heilsgeschichtlichen Ikonographie überblendet und neu kontextualisiert. So steht die triumphierende, „aufgerichtete“, „freie“, „unerschrockene“ (V. 3) Ecclesia in religiöser Hinsicht für einen Neuanfang, in ästhetischer und werkbiographischer Perspektive indessen für den „expressionistischen Aufbruch“. Auffällig ist dabei die ungleiche Verteilung der Verse. Der unterlegenen Synagoge als Verkörperung des Vergangenen wird mit 16 Versen (V. 7–22) deutlich mehr Raum gegeben als der siegreichen, das Neue symbolisierenden Ecclesia, der gerade einmal vier Verse gewidmet sind (V. 3–6), was durch das Metrum noch einmal hervorgehoben wird: Die paargereimten Langverse weisen unterschiedliche Hebungszahlen auf (5–11) und sind – mit zahlreichen Füllungsfreiheiten – bis auf die Verse sieben und acht jambisch reguliert. Durch den Wechsel des jambischen Metrums zu eindringlichen trochäischen Versen (V. 7 und 8) wird der Perspektivwechsel von Ecclesia zur Synagoge zusätzlich herausgestellt.

|| 417 Ernst Stadler: Dichtungen, Schriften, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Hurlebusch und Karl Ludwig Schneider. München 1983, S. 185. 418 Anders etwa als in dem 1913 erschienenen Straßburg-Gedicht des katholischen Paul Claudel, in dem die beiden Straßburger Skulpturen ebenfalls bedichtet werden, allerdings mit einer deutlich religiösen Aussageabsicht: Das überlegene Christentum bzw. die christliche (katholische) Kirche wird hier als Verkörperung einer neuen Zeit und Voraussetzung für gesellschaftliches Leben gepriesen („Die Kirche, bar jeder Träumerei, bedacht nur auf ihre Pflicht,/ Erbin der verflossenen Tage, meistert sie das Jetzt und Hie“). Einen Auszug aus dem Gedicht bietet der Band von Gisbert Kranz (Hg.): Bildmeditation der Dichter. Verse auf christliche Kunst. Regensburg, Hamburg 1976, S. 46. 419 Schneider: Ernst Stadler, 1981, S. 137.

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Liest man nun Stadlers Bildgedicht als ‚expressionistisches Programmgedicht‘ und damit auch als Auseinandersetzung mit der eigenen dichterischen Herkunft, so erscheint das in der neueren Forschung ohnehin schon längst relativierte 2-Phasen-Modell von Karl Ludwig Schneider, aber auch Jost Hermands provokative Infragestellung der Zugehörigkeit Stadlers zum Expressionismus insgesamt, mehr als fragwürdig.420 Gerade Stadlers Bildgedicht zu den Straßburger Skulpturen, das als letztes Gedicht des Aufbruch-Bandes erscheint, reflektiert und literarisiert das Spannungsfeld konkurrierender literarischer Strömungen und Richtungen zwischen Regionalismus, expressionistischer Dynamik und impressionistisch anmutender Bildlichkeit.421 Gerade in der Selbstcharakterisierung der Bildhauerin in ihrem Verhältnis zur „Verstoßenen“ (V. 8), der Synagoge (V. 10: „sehnsüchtig“; V. 12: „zärtlich“; V. 14: „liebkoste“) sowie der Kontextualisierung der eine Frühzeit verkörpernden Synagoge mit der „Schönheit ferner Kindertag und meinem tief versteckten Leben“ (V. 7), werden auf der dichterischen Ebene noch einmal an frühere Dichtungen Stadlers gemahnendes Vokabular, Motiv- und Bildebenen aufgerufen, die deutlich eine Kontinuität der eigenen Werkbiographie unterstreichen und nicht so sehr radikale Abgrenzung suggerieren. Die unterschwellige Trauer um die durch die Synagoge verkörperte Frühzeit und das „tief versteckte Leben“ (V. 7) wurde von Werner Kohlschmidt auch als ein für manche Vertreter des Expressionismus typisches Bedauern über das Ende des Ästhetizismus und Symbolismus gedeutet, das sich aber durch ein Bewusstsein der Notwendigkeit eines ästhetischen ‚Aufbruchs‘ auszeichne.422

|| 420 Vgl. Karl Ludwig Schneider: Kunst und Leben im Werk Ernst Stadlers. In: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 397–407; Hermand: Stadlers stilgeschichtlicher Ort, 1965, bes. S. 23 und 30; Günter Heintz: Ernst Stadlers Anfänge. In: Collectanea Philologica 1 (1985), S. 239–272; die älteren Forschungsvorschläge werden in den neueren, die Zusammenhänge stärker herausstellenden und mit einem anderen Moderne-Begriffe arbeitenden Studien diskutiert, vor allem Andreas Kramer: Regionalismus und Moderne. Studien zur deutschen Literatur 1900–1933. Berlin 2006 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 165), bes. S. 10ff, 43 und 91ff.; Alexander Nebrig hebt hervor, dass Stadler sich immer als Neuerer verstanden habe, ohne eine radikale Abkehr von älteren Dichtungsvorstellungen zu betreiben: Alexander Nebrig: Disziplinäre Dichtung. Philologische Bildung und deutsche Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2013 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 77/311), bes. S. 248–286. 421 Vgl. auch Klaus Hurlebusch: Ernst Stadler – Autor expressiver Verhaltenheit und literarischer Vermittlung. Eine Studie zu seinem 80. Todestag. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995), S. 219–239, hier S. 220. 422 Vgl. Werner Kohlschmidt: Die Lyrik Ernst Stadlers. In: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten. Hg. von Hans Steffen. Göttingen 1965, S. 25–43, hier S. 34f.

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Schon mit den beiden gotischen Skulpturen wählt Stadler für sein Bildgedicht Vorlagen, die auf den regionalen, elsässischen Zusammenhang sowohl des Kunstwerkes als auch des Gedichts hinweisen und damit Stadlers werkbiographische Herkunft aus der Heimatkunst und mithin auch sein Interesse an den bedichteten Skulpturen dokumentieren.423

Im Mai 1915, knapp zwei Jahre nach dem Erscheinen von Stadlers Aufbruch-Band, publizierte der 1912 mit seinen Morgue-Gedichten zumindest in Literatenkreisen bekannt gewordene Gottfried Benn in der expressionistischen Zeitschrift Die weißen Blätter sein dreiteiliges Gedicht Ikarus. Benn, für dessen Texte vor allem nach dem Ersten Weltkrieg Maler wie van Gogh, Gauguin, Rivera oder Matisse immer wieder eine Inspirationsquelle bilden, war, anders als die bisher in diesem Kapitel behandelten Dichter, kein passionierter Kunstkenner, gleichwohl aber ein interessierter und aufmerksamer Beobachter und Betrachter.424 Drei Jahre vor der Entstehung des Gedichts, 1912, tauchte im Londoner Kunsthandel ein bis dahin unbekanntes, wohl in den 1550/1560er Jahren entstandenes Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä. auf, das dort im Auftrag der königlichen Kunstsammlungen von Belgien erworben wurde und sich seitdem im Brüsseler Musées Royaux des BeauxArts de Belgique befindet (Abb. 64). Seit dem Auftauchen des Gemäldes in London und dann noch einmal befördert durch eine zweite, 1935 von der ebenfalls in Brüssel beheimateten Privatsammlung im Museum Alice und David Van Buuren (Abb. 65) erworbenen Fassung erlebte das Bruegelsche Werk eine geradezu sagenhafte Rezeption und war von einer Aura des Geheimnisvollen und

|| 423 Die Gruppe „Jüngstes Elsaß“ traf sich ab Herbst 1901 bezeichnenderweise auch im Atelier des Straßburger Malers Georges Ritleng. Die Wahl der elsässischen, gotischen Skulpturen für das letzte Gedicht des Aufbruch-Bandes erinnert im Horizont des deutschen Expressionismus auch noch einmal an die von Stadler und Schickele formulierten Gedanken zum „Geistigen Elsässertum“ und ihre Vorstellung von einer deutsch-französischen Misch- und Doppelkultur. Vgl. hierzu Kramer: Regionalismus und Moderne, 2006, S. 43 und 91–110; Hurlebusch: Ernst Stadler, 1995, S. 238f.; anschaulich auch mit zahlreichen Materialien der Band: Ernst Stadler und seine Freundeskreise. Geistiges Europäertum zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Mit Bild- und Textdokumenten dargestellt von Nina Schneider. Hamburg 1993, S. 33f. 424 Vgl. Bernhard Judex: Gottfried Benn. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 60–63; zur Publikationsgeschichte auch Anton Reininger: „Die Leere und das gezeichnete Ich“. Gottfried Benns Lyrik. Torino 1989 (Università degli studi di Torino fondo di Studi Parini-Chirio, Letterature, 2), S. 65.

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Rätselhaften umgeben.425 Jene Fassung in der königlichen Sammlung dürfte Benn wohl während seiner belgischen Jahre in Brüssel gesehen haben. Beat Wyss und Volker Riedel sehen bereits in dem den Alaska-Zyklus (Februar–Oktober 1913) abschließenden Fünfzeiler eine direkte Reminiszenz an Bruegel Gemälde.426

Abb. 64: Pieter Brueg(h)el d.Ä.: Landschaft mit Sturz des Ikarus (1550/1560?); Königlicher Mussen der Schönen Künste, Brüssel

Abb. 65: Pieter Brueg(h)el d.Ä.: Landschaft mit Sturz des Ikarus (um 1590/1595?); Museum van Buuren, Brüssel

|| 425 Zusammenfassend mit Dokumentation der umfangreichen zeitgenössischen Diskussionsbeiträge Beat Wyss: Pieter Bruegel. Landschaft mit Ikarussturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus. Frankfurt am Main 1994 (Fischer kunststück, 3962), S. 7. 426 1912 war Benn allerdings noch in Berlin und konnte von dem Bild nur gehört haben, was aber sehr wahrscheinlich ist, da das Auftauchen des Gemäldes über die Grenzen Belgiens hinaus großes Aufsehen erregte. Die Verse lauten: „Da fiel uns Ikarus vor die Füße, / schrie: treibt Gattung, Kinder! / Rein ins schlechgelüftete Thermopylä! – / Warf uns einen seiner Unterschenkel hinterher, / schlug um, war alle.“ (Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 1. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster. Stuttgart 1986, S. 23); vgl. Wyss: Pieter Bruegel, 1994, S. 13f.; Volker Riedel: „Er flog zu hoch hinaus. Er sah die Welt wie nie“. Aspekte der IkarosRezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Ost-Westlicher Ikarus. Ein Mythos im geteilten Deutschland. Hg. von Max Kunze. Stendal 2004. S. 45–68, hier S. 50.

388 | III Kunstgeschmack und ästhetische Standortbestimmung um 1900

Wie lässt sich nun das Verhältnis von Wort und Bild im Falle von Benns IkarusGedicht charakterisieren? Auf den ersten Blick hat das Gedicht mit dem Gemälde wenig zu tun und scheint vielmehr eine komplexe Weiterverarbeitung des IkarusMythos zu sein, den Benn neu fasst. Den jung an seiner Hybris scheiternden Dädalus-Sohn als Sinnbild des modernen Menschen inszeniert Benn im Kontext seiner eigenen Zivilisations- und Fortschrittskritik sowie seiner Wissenschaftsskepsis. Benn greift damit auch in diesem Gedicht die Vorstellung einer verlorenen Ganzheit und den Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen auf, was insgesamt seine Gedichte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nachhaltig prägte.427 Zwar wurde dem Ikarus-Gedicht noch keine Einzelstudie gewidmet, doch wird es in zahlreichen Studien zu Benns Lyrikentwicklung,428 seiner Stellung zu Nietzsche429 oder Antikerezeption430 als wichtiges Dokument herangezogen. Dabei wird immer wieder betont, dass Benn relativ frei über den bei Ovid überlieferten Mythos verfüge und den in den Prätexten angelegten Deutungsspielraum zwischen Schuldfrage im Horizont der Vorgeschichte (Dädalus, Perdix) einerseits und jenem in der Rezeption Ikarus immer wieder attestierten Symbolgehalt für das Freiheits- und Fortschrittsverlangen des Menschen andererseits auf das Sinnbild eines modernen Ichs konzentriere, das „durchpulst ist von Auflösungswünschen, Auflösung aber nicht schlechthin, sondern Auflösung […] der hirnbestimmten Persönlichkeit“:431

|| 427 Vgl. Annette Martschei: „Ich lebe Tiertage, ich bin eine Wasserstunde“. Motive und Themen der Bennschen Lyrik 1912–1922. In: Liebender Streit. Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn. Hg. von Dieter Burdorf. Iserlohn 2002 (Tagungsprotokolle – Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen), S. 59–77, hier S. 62. 428 Reininger: „Die Leere und das gezeichnete Ich“, 1989, S. 65. 429 Hiltrud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit. Stuttgart 1983, hier S. 203–206; Theo Meyer: Affinität und Distanz. Gottfried Benns Verhältnis zu Nietzsche. In: Gottfried Benn 1886–1956. Hg. von Horst Albert Glaser. Frankfurt am Main [u.a.] 1991, S. 95–121, hier S. 102ff. 430 Klaus Schuhmann: Vom „Modernen Ich“ zur „Dorischen Welt“ – Figuren und Konstellationen der Selbstdarstellung im Medium des Antiken Mythos bei Gottfried Benn. In: Cahiers d’Ètudes Germaniques 26 (1994), S. 39–50, hier S. 41f.; Thomas Pittrof: Gottfried Benns Antikerezeption bis 1934. In: „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Hg. von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof. Frankfurt am Main 2002, S. 472–501, hier S. 477ff. 431 Bernhard Greiner: Der Ikarus-Mythos in Literatur und Bildender Kunst. In: Michigan Germanic Studies 8 (1985), S. 52–126, hier S. 80; zur Rezeption des Mythos und der Figur vgl. Achim Aurnhammer: Nachwort. In: Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann. Hg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Leipzig 1998 (Reclams Bibliothek, 1646), S. 244–269; Riedel: „Er flog zu hoch hinaus“, 2004, S. 48–50; Detlev Rossek: Tod, Verfall und das Schöpferische bei Gottfried Benn. Diss. masch. Berlin 1969, S. 15.

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Ikarus I O Mittag, der mit heißem Heu mein Hirn zu Wies, flachem Land und Hirten schwächt, daß ich hinrinne und, den Arm im Bach, den Mohn an meine Schläfe ziehe – o du Weithingewölbter, enthirne doch stillflügelnd über Fluch und Gram des Werdens und Geschehns mein Auge. Noch durch Geröll der Halde, noch durch Land-Aas, vertaubendes, durch bettelhaft Gezack der Felsen – überall das tiefe Mutterblut, die strömende entstirnte matt Getragenheit. Das Tier lebt Tag um Tag und hat an seinem Euter kein Erinnern, der Hang schweigt seine Blume in das Licht und wird zerstört.

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Nur ich, mit Wächter zwischen Blut und Pranke, ein hirnzerfressenes Aas, mit Flüchen im Nichts zergellend, bespien mit Worten, veräfft vom Licht – o du Weithingewölbter, träuf meinen Augen eine Stunde des guten frühen Voraugenlichts – schmilz hin den Trug der Farben, schwinge die kotbedrängten Höhlen in das Rauschen gebäumter Sonnen, Sturz der Sonnen-sonnen, o aller Sonnen ewiges Gefälle.

II Das Hirn frißt Staub. Die Füße fressen Staub. Wäre das Auge rund und abgeschlossen, dann bräche durch die Lider süße Nacht, Gebüsch und Liebe. Aus dir, du süßes Tierisches, aus euern Schatten, Schlaf und Haar, muß ich mein Hirn besteigen, alle Windungen, das letzte Zwiegespräch. III

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So sehr am Strand, so sehr schon in der Barke, im krokosfarbenen Kleide der Geweihten und um die Glieder schon den leichten Flaum – ausrauschst du aus den Falten, Sonne, allnächtlich Welten in den Raum – o eine der vergeßlich hingesprühten mit junger Glut die Schläfe mir zerschmelzend, auftrinkend das entstirnte Blut –432

Zunächst lässt sich nur von der Überschrift her Ikarus als Sprecher-Ich der Verse erschließen, die sich in drei Mal wiederholter invokative exclamatio an den „Mittag“ bzw. synonym den „Weithingewölbten“ (V. 1, 5, 24) richten und damit nicht nur den Zeitpunkt der Anrufung festlegen, sondern auch ihren dezidierten Nietzsche-Bezug zu dessen „Großem Mittag“ als Stunde der Bewusstwerdung und menschlichen Erkenntnis – bei Benn als Erkenntnis der Erkenntnislosigkeit gedeutet – offenlegen. Die ersten acht Verse entwerfen eine von pastoralen (V. 2) und rauschhaften (V. 4) Elementen geprägte Landschaft, die zwar zu dieser Mittagsstunde erkennbar wird, gleichzeitig aber deutlich als eine transitorische gezeigt wird. Es handelt sich also um ein synkretistisches Gedicht, in dem Benn den Ikarus-Mythos mit Nietzsches „Großem Mittag“ zusammenführt und dabei nicht nur Ikarus der Stürzende ist, sondern die ganze (moderne) Welt. Der mit der Vernunft, dem Denken und Fortschrittsstreben des Menschen assoziierte Bereich des Hirns wird durchweg als Irrweg aufgefasst, die Zeit evolutionärer (‚enthirnter‘, V. 5) Frühe dagegen als Wunschzustand herbeigesehnt und dem modernen Ich gegenübergestellt (V. 16–19). Die dritte Anrufung des „Weithingewölbten“ (V. 24–30) wirkt auf den ersten Blick scheinbar nur phantasmagorisch, rhythmisch und sprachgestalterisch kühn. Verbunden mit der Revokation des Auges als zentralem Sinnesorgan der Aufklärung (V. 25–26) und der Infragestellung der Sonne als kulturgeschichtlich tradiertem Inbegriff von Ordnung – man denke an Fausts „Die Sonne tönt nach alter Weise“ oder Franz von Assisis Sonnengesang – wird der Widerstand gegen das cartesianisches Weltbild deutlich, der sich in der Selbstaussprache des Ikarus artikuliert.

|| 432 Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 1, 1986, S. 39f.

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Die radikale regressive Tendenz der vom Sprecher geäußerten Wünsche (V. 5–8) verdeutlicht noch einmal Benns Umdeutung des Ikarus-Mythos: Der für das Fortschrittsstreben des Menschen sinnbildlich verstandene Ikarus spricht sich nun selbst gegen das von Benn schon in seinem ersten Prosatext (Unter der Großhirnrinde. Briefe vom Meer, 1911) verabschiedete naturwissenschaftliche Zeitalter und dessen Wissensverehrung und Rationalitätsparadigma aus.433 Thomas Pittrof deutet daher das Gedicht als „expressionistisches Erkenntnisdrama, dessen Protagonist aus Nietzsches Erkenntnisekel an der Wirklichkeit und seiner Diagnose des vom europäischen Logozentrismus zerfressenen Subjekts in ein prärationales Einswerden mit dieser Wirklichkeit vor aller Spaltung in Subjekt- und Objektwelt zurückstrebt“.434 Der Mythos des Ikarus und in gleicher Weise Bruegels Gemälde verschwinden hinter dieser Umdichtung des Mythos nahezu vollständig. Benn autonomisiert das Kunsterlebnis, indem nur noch die Überschrift und das Kontextwissen des Lesers die Begegnung mit dem Bruegel-Gemälde verraten. Blieben in den bisher behandelten expressionistischen Gedichten zu Werken der Bildenden Kunst wenigstens noch passagenweise ekphrastische Versatzstücke zu beobachten, so reduziert Benn den Zusammenhang sowohl zu den literarischen Prätexten des Mythos als auch zu Bruegels Gemälde auf einzelne Signalwörter wie „Sonne“ (V. 29, 41), „Sturz“ (V. 29), „Hirten“ (V. 2), „Flaum (V. 42) und „schmelzen“ (V. 27), die allerdings gleichwohl den semantisch-lexikalischen Kernbestand des Mythos und des Gemäldes darstellen. Anders gesagt: So, wie das Gemälde den mythologischen und literarischen Stoff fast verbirgt vor den Augen des Betrachters und die Aufmerksamkeit vom Sturz des Ikarus ablenkt, so verdeckt das Gedicht die Kenntnis des Gemäldes und löst sich am Ende ganz von der Vorlage.435 In den Bildgedichten des Expressionismus tritt der in den anderen Avantgarde-Strömungen teilweise zu beobachtende Künstlerkult noch einmal deutlich zurück. Selbst in Gedichten zu van Gogh oder Renaissance-Malern ist keine auf künstlerischen Heroismus und Größe ausgerichtete dichterische Künstlerrezeption zu beobachten. Daneben wird aber gleichwohl die von den Expressionisten in zahlreichen Texten und Medien postulierte Wesensverwandtschaft und || 433 Vgl. hierzu den größeren Kontext bei Michael Ansel: Die Naturwissenschaften im Werk Gottfried Benns zwischen 1910 und 1933/34. Ein Rekonstruktionsversuch auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie, in: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Martin Huber und Gerhard Lauer, Tübingen 2000, S. 251–280. 434 Pittrof: Gottfried Benns Antikerezeption, 2004, S. 244. 435 Vgl. auch Schuhmann: Vom „Modernen Ich“ zur „Dorischen Welt“, 1994, S. 42.

392 | III Kunstgeschmack und ästhetische Standortbestimmung um 1900

Zusammenarbeit von Bildender Kunst und Literatur auch in den Bildgedichten deutlich. In den behandelten Beispielen wird einerseits das literarische Potential von bildlichen Darstellungen thematisiert und für die eigenen ideologische Position ausgeschöpft (Lichtenstein, Edschmid, Heym), andererseits gerät das Bildgedicht auch – wie schon in anderen Epochen – zum Reflexions-Instrument ästhetischer, weltanschaulicher und religiöser Selbstvergewisserung und Selbstbefragung (Stadler, Benn, Däubler).

| Teil IV:

Pluralisierung der Kunstbetrachtung zwischen Nationalismus und Distanz: Kunst für das Volk, religiöse Emphase, Parodie und Kritik (1914–1945)

1 Propaganda, Trost und Warnung: Kriegsdeutung, Kriegsbewältigung, ideologische Aufrüstung und Sinnstiftung durch die Kunst (1914–1945) Das Bildgedicht hat seit dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Dritten Reiches in gleicher Weise maßgebliche Impulse einerseits durch eine Re-Nationalisierung der Kunstbetrachtung sowie der bedichteten Künstler und Kunstwerke und andererseits durch eine Re-Funktionalisierung von lyrischer Bildbetrachtung im Horizont einer christlich geprägten und dominierten Erneuerungsbewegung der Dichtung erfahren. Letztere vollzieht sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg. Sie erkennt in der Literarisierung von Kunstwerken mit christlich-biblischem Gegenstand mehr das Potential zur Reflexion über eine krisenhaft empfundene Wirklichkeit und (religiös) Sinnfragen als nur die Möglichkeit zur ästhetischen Selbstvergewisserung und politisch-ideologischen Standortbestimmung gesehen, was noch bei zahlreichen Beispielen der im vorangegangenen Kapitel (III) behandelten Texte nachgewiesen wurde. Autoren schreiben am Vorabend und während des Ersten Weltkrieges, in der Weimarer Republik und während der NSDiktatur nur selten Bildgedichte auf Werke von Künstlern, die ihre Zeitgenossen waren und mit denen sie persönlich in Kontakt standen, sondern bedienen sich weit überwiegend kanonisierter Werke der Vergangenheit. Der Museumsbesuch, der Gang ins Atelier oder die künstlerische Wallfahrt an einen mit dem Künstler im Zusammenhang stehenden Ort verlieren dabei gegenüber den Bildgedichten der Jahre um die Jahrhundertwende, die im vorigen Kapitel (III) behandelt wurden, an Bedeutung. Bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Konrad Weiß’ Begegnung mit Grünewalds in den Novembertagen 1917 von Colmar nach München ausgelagerten Isenheimer Altar werden die Kenntnis des Originals oder die Sprechsituation am Ort eines Denkmals oder einer Skulptur vielfach nur noch in den Bildgedichten inszeniert bzw. vorausgesetzt. Zumindest aber werden diese Aspekte in den Gedichten weder thematisiert noch reflektiert. Die Orientierung der Dichter an Künstlern der Vergangenheit findet sich gleichzeitig als Tendenz auch in der zeitgenössischen Malerei. Deren avantgardistisches Selbstverständnis wird dabei aber nicht infrage gestellt. So reflektiert etwa Max Beckmann im Vorwort zu einem 1917 publizierten Katalog seiner graphischen Arbeiten über Referenzwerke und -epochen für sein eigenes Schaffen und bekennt, dass seine „Liebe [...] den 4 großen Malern männlicher Mystik:

https://doi.org/10.1515/9783110700732-012

396 | IV Kunst für das Volk, religiöse Emphase, Parodie und Kritik (1914–1945)

Müleßkirchner [d.i. Gabriel Mäleßkircher], Grünewald, Breughel und van Gogh“1 gelte, und George Grosz mahnt in einem 1931 in Westheims Kunstblatt abgedruckten Artikel „auf Blättern und Tafeln in dieser glaubenslosen und materialistischen Zeit den Menschen ihre verborgene Teufelsfratze [zu] zeigen“, lobt die „Gestaltungskraft der großen mittelalterlichen Meister“ und empfiehlt den Blick zurück auf „die Multscher, Bosch, Breughel und Mäleßkircher, und den Huber und den Altdorfer“.2 Die von Grosz geforderte Fortsetzung jener „deutschen Tradition“ grenzt er indessen deutlich von einem konservativ-nationalistischen und völkischen „Kunstprogramm à la Schultze-Naumburg“ ab.3 Die für das eigene Werk in Anspruch genommene und behauptete Modernität und Avantgarde werden mit der Forderung nach Rückbindung an eine bestimmte Malerei-Tradition offenbar nicht als unauflöslicher Widerspruch problematisiert, sondern vielmehr als zwei Seiten einer sinnvollen Produktionsästhetik begriffen.4 Bezeichnenderweise gehören zwei der bei Beckmann und Grosz genannten Namen, Grünewald und Bruegel, zu den in den Jahren zwischen Erstem Weltkrieg und 1945 am häufigsten von Autoren ganz unterschiedlicher politischer Ausrichtungen bedichteten Malern. Der von den Bildenden Künstlern proklamierten Vorbildfunktion dieser Maler sind die Dichter offenbar gefolgt. An Grosz’ Abgrenzungsversuch gegenüber einem der Chefideologen nationalsozialistischer Kunstpolitik, Paul Schultze-Naumburg, lässt sich zudem ein auch für die Bildgedichtproduktion zwischen 1914 und 1945 wichtiges Charakteristikum festmachen: Altdeutschen Malern wie Dürer, Grünewald und Holbein oder solchen, die wie Bosch und Bruegel kurzerhand zu Ahnherren deutscher Kunsttradition erhoben werden, wird in einer Zeit verstärkter ideologischer Profilbildung aber auch künstlerischer Unsicherheit sowohl von bildkünstlerischer als auch von literarischer Seite große Aufmerksamkeit zuteil. Dabei wird das zukunftsweisende Potential, das diesen Malern und ihren Werken zugeschrieben wird, je nach politischem Standpunkt unterschiedlich gedeutet und funktionalisiert. Wenn Grosz in seinem Beitrag die Rückkehr zur (spät-)mittelalterlichen deutschen Kunsttradition proklamiert und auf die handwerklich-formale Superiorität der altdeutschen Malerei verweist, formuliert er damit auch Kritik an einer nach seiner Auffassung zum Maschinenhaften verkommenen zeitgenössischen || 1 Max Beckmann: Vorwort. In: Max Beckmann. Graphik: November 1917 [Verkaufskatalog]. Berlin 1917, o.S. [S. 2]. 2 George Grosz: Unter anderem ein Wort für deutsche Tradition. In: Das Kunstblatt 15 (1931), S. 79–84, Zitate S. 84. 3 Ebd. 4 Vgl. die immer noch zurecht als Standardwerk geltende Darstellung von Wieland Schmied: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918–1933. Hannover 1969.

1 Kriegsdeutung und Kriegsbewältigung | 397

Kunstauffassung und -produktion sowie mithin an künstlerischen Tendenzen, die zur völligen Abstraktion neigen und den „Gegenstand [nur als] Sache der Fotografie“ begreifen.5 Seine Beurteilung der altdeutschen Malerei ist also vornehmlich von einer ästhetischen Perspektive geprägt. Dagegen instrumentalisieren zeitgleich die Kunstideologen der Nationalsozialisten wie Alfred Rosenberg, Robert Böttcher, Kurt Karl Eberlein oder eben Paul Schultze-Naumburg in ihren kunsttheoretischen Abhandlungen und Darstellungen dieselben Maler zur Durchsetzung eines gegen die Expressionisten und die Neue Sachlichkeit gerichteten Kunstverständnisses. Anders als bei Grosz ist die Überhöhung altdeutscher Maler bei ihnen von einem rassischen Erklärungsmodell geleitet: Die Zugehörigkeit zur germanischen Rasse wird als Voraussetzung für die künstlerischen Höchstleistungen dieser Maler gedeutet.6 Gerade in einer Zeit der Dominanz des Visuellen in Form von Fotografie, Kino, Werbung und Presse in einem – zumindest im städtischen Bereich – sich rasant durch eben diese Medien wandelnden Lebensumfeldes ist die Vorliebe für die künstlerische Vergangenheit bei den völkisch-nationalistisch ausgerichteten Kunsttheoretikern wenig überraschend. Für den Bereich der Bildgedichte scheint dieser Befund aber doch erklärungsbedürftig.7 Wurde von den Expressionisten und anderen Vertretern der literarischen Moderne um 1900 noch der enge Schulterschluss von Literatur und Bildender Kunst nicht nur im Allgemeinen, sondern auch die enge Zusammenarbeit und gegenseitige künstlerischer Befruchtung mit der zeitgenössischen Malerei proklamiert, scheinen die Autoren von Bildgedichten, um die es im folgenden Kapitel IV gehen soll, diese Allianz fast ganz außer Acht zu lassen. In den Jahren vor und während des Ersten Weltkrieges und dann wieder vor allem in den 1930er und frühen

|| 5 Ebd., S. 82. 6 Vgl. Paul Schultze-Naumburg: Kunst und Rasse. München 1928; Ders.: Kunst aus Blut und Boden. Leipzig 1934 (Schriften zur deutschen Lebenssicht); Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 1930; Robert Böttcher: Kunst und Kunsterziehung im neuen Reich. Breslau 1933; Kurt Karl Eberlein: Was ist deutsch in der deutschen Kunst? Leipzig 1934; zur Einordnung der Texte vgl. immer noch Jost Hermand: Bewährte Tümlichkeiten. Der völkisch-nazistische Traum einer ewig-deutschen Kunst. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Hg. von Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 102–117; grundlegend zum Thema Kunst- und Kulturpolitik immer noch Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Überarb. und aktualisierte Ag. München 1995 (dtv 4668). 7 Als Überblick mit weiteren Hinweisen zu Spezialforschungen vgl. Gregor Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009 (Einführungen Germanistik), bes. S. 23– 40.

398 | IV Kunst für das Volk, religiöse Emphase, Parodie und Kritik (1914–1945)

1940er Jahren zeichnen sich Bildgedichte durch Rückgriffe auf ältere Kunstdiskurse und Künstlerbilder aus. Mit diesen Texten wird vornehmlich (wieder) Künstlerheroisierung und ideologische – nicht so sehr ästhetische – Positionsbestimmung betrieben, wenngleich sich die Heroisierung von Künstlergrößen wie Michelangelo oder Rembrandt aus der Feder von NS-Schriftstellern konzeptionell abgrenzen lässt von einer solchen, wie sie bereits für die Zeit des späten 19. Jahrhunderts beschrieben worden ist. Kritisch-satirische Auseinandersetzungen mit solchen Künstlertitanen wie Michelangelo oder Leonardo, etwa bei Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht, bleiben die Ausnahme. Die literarästhetische Selbstvergewisserung, die Bildgedichte der Avantgarde-Strömungen um 1900 ausgezeichnet hat, macht einer gegenläufigen Tendenz Platz: Bruegel, Dürer, Grünewald, Michelangelo und Raffael werden in konservativ-nationalistisch bzw. rassischer Perspektive als Künstler- und Geistesgrößen, religiöse Sinnstifter und historische Kontinuitätsgaranten gedeutet und inszeniert, deren Schöpferkraft oft genug an ein gleichzeitig formuliertes und postuliertes Volkstum gekoppelt wird. Gedichte deutschsprachiger Autoren auf führende deutsche Maler der Kriegs- und Nachkriegsjahre, wie Franz Marc, August Macke und Karl SchmidtRottluff oder Max Beckmann, George Grosz, Otto Dix, Oskar Schlemmer, Paul Klee und Christian Schad, in deren Werken Kriegserfahrungen, gewandelte Alltags- und Weltwahrnehmung, gesellschaftliche Missstände und städtisches Leben dargestellt werden, finden sich nur vereinzelt wie etwa Iven (Iwan) Heilbuts 1924 in Der Sturm publizierte Verse zu Die Pferde von Franz Marc und Unter den Bäumen von August Macke.8 Selbst die Auseinandersetzung mit dem stil- und epochenübergreifend immer wieder bedichteten Vincent van Gogh verlagert sich in den 1920er Jahren auf die Prosa. Für einen Wandel in der literarischen Bewertung und Deutung des niederländischen Künstlers, der spätestens nach dem Ersten Weltkrieg nun auch von einem breiten Bürgertum verehrt wurde und nicht mehr nur als subversiver Geheimtipp einer Avantgarde gelten konnte, stehen die Texte von Carl Sternheim, die im Schnittfeld von fiktionaler und biographischer Literatur anzusiedeln sind.9 Robert Walsers Gedicht zu Vincent van Gogh

|| 8 Iwan [sic!] Heilbut: Gedichte [Die Pferde von Franz Marc; Unter Bäumen von August Macke]. In: Der Sturm 15, 3 (1924), S. 174–176. 9 Zu Sternheims Erzählung Gauguin und van Gogh (1924), den schon früher erschienenen Aufsätzen Van Gogh (1910) und Legende. Ein Fragment (1915) sowie seiner Kunstkennerschaft vgl. Bernhard Walcher: Künstlerbilder in der Krise. Carl Sternheims Erzählung Gauguin und van Gogh (1916/24) und die literarische van Gogh-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. von Barbara Beßlich, Ekkehard Felder unter Mitarbeit von Anna Mattfeldt und Bernhard

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(1927/1933) als Beispiel für ein lyrisches Rezeptionszeugnis bildet von diesem Befund nur eine Ausnahme. Tatsächlich scheint das Fehlen einer ausgeprägten lyrischen van-Gogh-Rezeption in den 1920er und 1930er Jahren dieser geänderten Rezeptionshaltung geschuldet sein.10 Bildkünstlerische, in ihrer drastischen Wirkung auch verstörende Kriegsverarbeitungen nach dem Ersten Weltkrieg von Otto Dix, Max Beckmann oder Darstellungen der Schattenscheiten einer vermeintlich ‚Goldenden Zeit‘ der 1920er Jahre werden für die Literaturgeschichte des Bildgedichtes erst wieder in den politisierten späten 1960er und 1970er Jahren für Autoren wie Uwe Berger, Lutz Rathenow, Bruno Stephan Scherer, Wolfgang Weyrauch, Kurt Bartsch oder Herbert Eisenreich interessant, spielen aber in den Jahren von 1914–1945 keine Rolle.11 Mit der Hinwendung zu Künstlern der Vergangenheit ist indessen nicht zwangsläufig eine Abwendung von der Gegenwart verbunden. Die bedichteten Werke und Künstler sind nur eben nicht auf neue Medien oder die Informiertheit des Rezipienten über die neuesten Kunstentwicklungen, Werke und Ausstellungen angewiesen, sondern in einem – auch national geprägten – kulturellen Gedächtnis präsent und abrufbar. Die Künstler und Werke älterer (Umbruchs-)Epochen scheinen den meisten Autoren offenbar geeigneter zu sein, um in der dichterischen Deutung dem eigenen Bewusstsein, Zeit- und Epochengefühl Ausdruck zu verleihen. Dieses Bewusstsein, das sich in den Bildgedichten und den von ihnen rezipierten Künstlern und Kunstwerken widerspiegelt, reicht von der Feststellung, dass die eigene Gegenwart der Vorkriegs- und Kriegszeit wieder nationaler Größe bedarf (Eberhard König, Walter Flex, Rudolf Herzog) bis hin zu den als krisenhaft empfundenen Jahren der Kriegsverarbeitung (Rudolf Alexander Schröder, Konrad Weiß, Johannes R. Becher, Albrecht Haushofer), von der || Walcher. Bern [u.a.] 2016 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte, Bd. 125), S. 35–57. 10 Vgl. Marina Rauchenbacher: Kanonisierte Blicke. Zur Literarisierung Vincent van Goghs. In: Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Tagung österreichischer und tschechischer Germanistinnen und Germanisten, Olmütz/Olomouc, 20.– 23.9.2007. Hg. von Jürgen Struger. Wien 2008, S. 177–190; ferner auch Magdalena M. Moeller: Van Gogh und die Rezeption in Deutschland bis 1914. In: Vincent van Gogh und die Moderne. 1890–1914. Katalog zur Ausstellung Museum Folkwang, Essen (11.8.1990–4.11.1990) und Van Gogh Museum, Amsterdam (16.11.1990–18.2.1991). Hg. von Georg Wilhelm Költzsch und Ronald de Leeuw. Bearb. von Roland Dorn. Freren 1990, S. 312–333. 11 Die Vorstellung der ‚Goldenden Zwanziger‘ hat Kurt Sontheimer bereits in den 1970er Jahren zu relativieren versucht; vgl. Kurt Sontheimer: Weimar – Ein deutsches Kaleidoskop. Mit einem Nachwort über Bonn. In: Merkur 27 (1973), S. 505–517; zsfd. auch die neueren Positionen vgl. Streim: Einführung, 2009, S. 12–42.

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wiederum jene Bildgedichte abzugrenzen sind, die angesichts der geistig-kulturellen Mobilmachung in der Nazi-Zeit (Josef Weinheber, Hans Friedrich Blunck, Agnes Miegel) lyrische Kunstrezeption als Möglichkeit des Rückzugs und der politischen Opposition verstehen (Paula von Preradović).12 Jenseits der politischen und ideologischen Standpunkte, die sich in den Bildgedichten ausmachen lassen, scheint mir das eine Parallele zu der nach der Reichsgründung beschriebenen Tendenz zu sein, nicht den zeitgenössischen Karl von Piloty oder Anton von Werner zu bedichten, sondern den eigenen ästhetischen Anspruch und die ideologische Absicht durch die auctoritas des ‚bedeutenderen‘, toten Künstlers zu unterstreichen, wie es im Falle der Dürer-Rezeption und des Dürer-Kultes sowie der Antike-Begeisterung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geschehen ist (s. Kapitel II., 4.). Gedichte zu deutschen Denkmälern, mittelalterlicher Kunst und altdeutscher Malerei erscheinen in großer Zahl zwischen 1914 und 1945 und sind ihrer Funktion nach auch als Teil eines ‚Kulturkrieges‘ zu deuten, bei dem die über ästhetische Erfahrung vermittelte Kriegspropaganda und Kriegsdeutung einen nicht unwesentlichen Teil ausmachte. Gerade in Gedichten zu mittelalterlichen Kunstwerken aber auch zu Dürer werden die „Stilisierung nationaler Einheit und lebensphilosophischer Ursprünglichkeit“ als zentrale Motive des „deutschen Kulturkrieges“13 sichtbar und kriegspropagandistisch funktionalisiert. Allerdings treten in dieser lyrischen Kunstbetrachtung ästhetische Parameter zurück: Im Mittelpunkt steht nicht das Kunstwerk als solches, sondern die ihm zugeschriebene Funktion der Gemeinschaftsstiftung, des ideologischen Aufrufs und der nationalen Ermunterung. In seiner 1917 publizierten Studie Der Geist der Gotik lehnt Karl Scheffler die Vorbildfunktion der Antike vehement ab und setzt ihr die nordisch-germanische Gotik entgegen.14 Der hier zu beobachtende kulturkriegerisch instrumentalisierte Nationalismus in der Zeit des Ersten Weltkrieges steht also unter anderen Vorzeichen als jener, der noch den Bildgedichten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

|| 12 Unterschiedliche Perspektiven auf die ‚Krisen‘ der Jahre 1918–1933 bietet der Band von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt am Main, New York 2005. 13 Barbara Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, hier S. 4; in ihrer Studie arbeitet Beßlich die zivilisationskritischen Wurzeln des ‚Kulturkrieges‘ heraus und betont, dass Zivilisationskritik nicht zwangsläufig und von Anfang an nationalistisch aufgeladen sein müsse (S. 327), wenngleich der ‚Kulturkrieg‘ im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg durchaus als „politisierte und nationalisierte Form der Zivilisationskritik“ (S. 15) zu werten sei. 14 Vgl. Renda: Studien zur Gotikrezeption, 1990, S. 60ff.

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eigen gewesen ist. Nicht zufällig finden sich in der Zeit von 1914–1945 keine nennenswerten Beispiele für Gedichte auf antike Kunstwerke. Der Nationalismus einer noch nach ihrem kulturellen Selbstverständnis suchenden jungen Nation nach der Reichsgründung von 1871, der noch sich weitgehend an einem eingedeutschten antiken Griechenland-Ideal abarbeitete, wird hier umorientiert und ausgerichtet auf ein (vermeintlich) deutsches Mittelalter.15 Das zu sich selbst gekommene Wilhelminische Reich suchte die Abgrenzung zu und die Auseinandersetzung mit anderen Nationen nicht nur politisch und militärisch, sondern bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges auch kulturell in der Rückbesinnung auf ein als deutsch apostrophiertes Mittelalter und dessen auf die Gegenwart gekommene Artefakte. Die Literarisierung von Kunstwerken mit religiöser und christlicher Ikonographie stellt ein weiteres übergreifendes Charakteristikum der Geschichte des Bildgedichtes zwischen 1914 und 1945 dar. Wenden sich Autoren im Ersten Weltkrieg mit ihren Dichtungen Werken zu, dessen kunsthistorische, christliche Deutungstradition wie etwa im Falle Dürers kriegspropagandistisch verwertet werden konnte, so sind die Hinwendungen zu Werken von Raffael und Grünewald in der Nachkriegszeit nicht nur als lyrische Verarbeitungsversuche des Krieges zu verstehen, sondern Autoren wie Konrad Weiß und Rudolf Alexander Schröder etablieren mit ihren Bildgedichten darüber hinaus auch eine neue geistliche BildDichtung. Trotz der heterogenen zeitgenössischen und restrospektiv-historiographischen Bewertung der Bedeutung von Religion, Christentum und Frömmigkeit für die Kriegspropaganda, den Kulturkrieg und das Fronterlebnis spiegelt die Vereinnahmung und Umfunktionalisierung christlicher Kunstwerke im Bildgedicht die zumindest brauchbare Allianz von christlicher (Bild-)Tradition und Kriegsbegeisterung wider.16 Wolfgang Mommsen spricht sogar davon, dass || 15 Als Orientierungspunkt und Ideal verschwindet Griechenland nicht vollständig aus dem kulturpolitischen Bewusstsein. In der Forschung wird relativierend von einer Schwächung des Griechenland-Mythos gesprochen – was sich im Bereich des Bildgedichtes besonders stark bemerkbar macht. Das Weiterleben des Griechenlandideals seit 1913 untersucht Elke Hartmann: Das antike Griechenland. Traditionelles Bildungsideal, Bezugspunkt des deutschen Nationalgefühls und Forschungsgegenstand. In: Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Hg. von Detlev Mares und Dieter Schott. Bielefeld 2014 (Histoire, Bd. 65), S. 121–142. 16 Die Problematik wird in der Forschung vielfach behandelt. Herangezogen werden sowohl ‚offizielle‘, publizierte Stimmen und Positionen, vor allem aber auch zunehmend Egodokumente wie Tagebücher und Briefe. Diametral und unauflöslich stehen sich Stimmen wie etwa Franz Schauweckers kriegsapologetisches Diktum, das Christentum habe kulturgeschichtlich versagt, und Privatäußerungen etwa des Frontsoldaten Nicolaus Freistroffer gegenüber, der die Frömmigkeit für den Soldaten betont. Herausgearbeitet hat die Problematik exemplarisch Matti

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nationales Sendungsbewußtsein und christlicher Glaube [...] gerade in der Anfangsphase des Krieges eine Symbiose“ eingegangen seien.17 Neben Dürer und Grünewald werden auch Raffael, Bruegel und vor allem Michelangelo in zahlreichen Bildgedichten zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg gewürdigt: Einen echten Bruch in der Kunst- und Künstlerrezeption scheint das Jahr 1933 für das Bildgedicht nicht zu markieren.18 Es verschieben sich lediglich ideologische Deutungen und Bewertungen vor allem von Dürer und Grünewald und die politische Verortung und Geisteshaltung der jeweiligen Autoren lässt sich im Einzelnen auch an ihren Bildgedichten festmachen: Die Hinwendung des Österreichers Josef Weinheber zum Künstlergiganten Michelangelo mit seiner Tendenz zum Antimodernismus und der „Ästhetisierung“ von „Staat und Volksgemeinschaft“19 im Medium des Bildgedichts ist deutlich abzugrenzen von der bewussten und programmatischen ‚Entweihung‘ des italienischen Renaissance-Künstlers etwa bei Bertolt Brecht.

|| Münch: Verdun. Mythos und Alltag einer Schlacht. München 2006, bes. S. 169–180; ein Beispiel für aussagekräftige Tagebücher, das in der Forschung viel Beachtung gefunden hat, bietet Ludwig Berg: „Pro Fide et Patria!“. Die Kriegstagebücher von Ludwig Berg 1914/18. Katholischer Feldgeistlicher im Großen Hauptquartier Kaiser Wilhelms II. Eingeleitet und herausgegeben von Frank Betker und Almut Kriele. Köln, Weimar, Wien 1998. Besonders instruktiv ist die Einleitung von Gerd Krumeich (S. IX–XIV), der die Tagebücher als „einzigartiges Zeugnis aus dem engsten Kreis der militärischen und politischen Entscheidungsträger des Deutschen Reiches“ (S. IX) bewertet und hervorhebt, sie lieferten aus der „Perspektive eines unkritisch-bewundernden Mitwirkenden im Kreise der Großen aus Politik und Militär uns tiefe Einblicke in deren Denk- und Sprechweisen, Vorstellungswelten und Informationshorizonte während des Krieges“ (S. IX); wichtig auch der Abschnitt zur Bedeutung der Religion am Beispiel der Schlacht von Verdun bei; eine Zusammenstellung bisher vorliegender Kriegstagebücher oder Berichte von Feldgeistlichen liegt nicht vor. 17 Wolfgang J. Mommsen: Die nationalgeschichtliche Umdeutung der christlichen Botschaft im Ersten Weltkrieg. In: „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann. Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 162), S. 249–261, hier S. 250. 18 Ich knüpfe hier an die Überlegungen von Hans Dieter Schäfer an: Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930. In: Ders.: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München 1981, S. 55–71, bes. S. 55ff.; Schäfer wendet sich gegen die seiner Meinung nach von der älteren Forschung zu stark hervorgehobene Bruchthese mit Blick auf das kulturelle Leben vor und nach 1933. Dem wiederum ist vielfach von der Forschung auch widersprochen worden. Weiterführende Literatur und Forschung zum Thema wird noch in Kapitel IV., 4. aufgearbeitet. 19 Ernst Hanisch: Die regressive Modernisierung des Nationalsozialismus in Österreich und die Funktion der Kunst. In: Macht Literatur Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus. Hg. von Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher, Sabine Fuchs unter Mitarbeit von Helga Mitterbauer. Wien, Weimar, Köln 1998 (Fazit, Bd. 2), S. 21–30, hier S. 28.

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Doch bleibt der rezipierte Künstlerkanon in der Zeit von 1914 bis 1945 relativ stabil. Hans Dieter Schäfer konstatiert in seinen Studien zum Verhältnis von Literatur der Weimarer Republik und dem literarisch-künstlerischen Leben nach der Machtübernahme Hitlers 1933, dass trotz der zweifellos auf Maßnahmen nationalsozialistischer Kulturpolitik zurückgehenden Auflösung von Gruppenstilen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges sich Ansätze einer „Zerfaserung“ schon in der Weimarer Republik bemerkbar gemacht hätten.20 Die Geschichte des Bildgedichtes mit Blick auf die vornehmlich bedichteten Künstler und Kunstwerke bestätigt diesen Befund: Nicht in der Gegenstandswahl, sondern in der Interpretation und Aussageabsicht unterscheiden sich die Gedichte. Was der Kunsthistoriker und Dichter Konrad Weiß 1933 in einer Rede zur Bedeutung der deutschen Kunst für die nationalsozialistische Bewegung – in damals unverhohlener Anbiederung an Hitler – formulierte, scheint mir erkenntnisleitend für die Untersuchung der Bildgedichte vor und nach 1933 zu sein: „Denn die Kunst ist immer Ausdruck der Weltanschauungen gewesen.“21 Daher sollen im Folgenden auch besonders die Kontinuitäten in der lyrischen Kunstrezeption zwischen 1914 und 1945 herausgearbeitet werden, um Erscheinung, Rahmenbedingungen und Funktion dieser Gedichte präziser zu konturieren. Grundsätzlich wird auch im folgenden Kapitel wieder chronologisch vorgegangen. Wo es sich aber anbietet, wird in den einzelnen Abschnitten (1.2 und 2.2.) die Chronologie der Texte unterbrochen; es werden Bildgedichte aus unterschiedlichen Entstehungszeiten zusammengefasst, wenn sich dadurch das intertextuelle Geflecht von Bilddeutungen und eine intermediale Dialogizität aufzeigen lassen.

Im ersten Kapitel sollen die propagandistische und consolatorische Funktionalisierung von lyrischer Kunstbetrachtung im Ersten Weltkrieg und in den Jahren unmittelbar danach analysiert werden. Walter Flex und Eberhard König nutzen die Literarisierung von Denkmälern, die für die deutsche Geschichte bedeutsam sind, um eine ideologische Perspektive und Marschrichtung für die Kriegszeit vorzugeben. Mit den Denkmälern wird gleichsam auch die Erinnerung an ein historisches Ereignis literarisiert, das in der Doppelperspektive von Geschichte und

|| 20 Ebd., S. 58f.; für eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung übernimmt Hans Dieter Schäfer diese Überlegungen auch in dem titelgebenden Beitrag: Das gespaltene Bewußtsein. In: Ders.: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München 1981, S. 114–162. 21 Konrad Weiß: Treuspruch des Sinnes am Tage der deutschen Kunst. In: Europäische Revue 9 (1933), 2. Halbband, S. 706–707, hier S. 706.

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an sie erinnerndem Kunstwerk in der Gegenwart Gemeinschaft stiften und gleichsam in die Zukunft weisen soll. Der katholische Theologe und Dichter Augustin Wibbelt entwirft dagegen mit seinen Versen zu Fra Angelico Trostbilder, in welche erste, ernüchternde Erfahrungen zerstörerischer Kriegswirklichkeit schon Eingang gefunden haben, die zwar nicht zwangsläufig als Durchhalteparolen zu werten sind, gleichwohl aber das Bild des Heldentodes für das Vaterland aufrufen. (IV., 1.1.) Verschiedene Zugänge zu Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel werden in Kapitel IV., 1.2. untersucht. Als Inbegriff deutscher Kultur und Wesensart wird Dürers Stich von Rudolf Herzog, Paul Steinmüller und Heinrich Anacker im Ersten Weltkrieg und im Kontext völkisch-nationalsozialistischer Aufrüstung gefeiert, bis hin zur Stilisierung von Dürers ‚Ritter‘ als Sinnbild einer Führerfigur. Dagegen wird dieselbe künstlerische Vorlage von Alexander von Bernus und der österreichischen Dichterin Paula von Preradović als Ausgangspunkt zur Reflexion über die Gefährdung des Individuums aus anthropologischer und politischer Perspektive genutzt. (III., 1.2.) Die dichterische Auseinandersetzung mit Kunstwerken, die christliche Ikonographie zum Thema haben, stellt zu einem großen Teil eine Flucht vor der Gegenwart dar und bietet die Möglichkeit zur Kontemplation und Sinnsuche. Einerseits sind die Sonette Rudolf Alexander Schröders auf Raffaels Sixtinische Madonna deutlich von ihrer Traditionsbindung an ältere, namentlich romantische, Deutungsmuster und Dichtungen zu dem Gemälde geprägt. Sie versprachlichen andererseits aber auch die Wirkung des Kunstwerkes auf einen zeitgenössischen Betrachter und überführen diese in Überlegungen zur Bedeutung von christlicher Heilsgeschichte angesichts einer heillosen Gegenwart. In ihrer „christlich-mystischen Auslegung“22 des Raffael-Gemäldes und ihrer Zeitenthobenheit stellen die Sonette daher auch eine besondere Spielart von Bildgedichten dar, die sich in ihrer Kunstbetrachtung sowohl gegen die moderne Lebenswirklichkeit der Weimarer Republik als auch gegen Ideologisierungsversuche völkischer und nationalsozialistischer Kunstbetrachtung sperren. (IV., 2.1.) Gedichte unterschiedlicher Autoren zu Hauptwerken Matthias Grünewalds stehen im Mittelpunkt von Kapitel IV., 2.2. Der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fast völlig vergessene Maler wird erst mit Jakob Burckhardts Äußerungen in Franz Kuglers Handbuch der Geschichte der Malerei (1847) und Alfred Woltmanns Artikel von 1866 in der Zeitschrift für Kunstgeschichte zum Isenheimer Altar wiederentdeckt. Für Grünewalds auf viele Zeitgenossen oft verstörend wirkenden

|| 22 Kurt Berger: Die Dichtung Rudolf Alexander Schröders. Das Unvergängliche im vergänglichen Sein. Marburg/Lahn 1954, S. 399.

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Realismus interessieren sich die Autoren der Jahrhundertwende und dann vor allem die expressionistischen und veristischen Maler, deren Grünewald-Bild geprägt ist von den Beschreibungen und Deutungen des französischen Symbolisten und Décadence-Autors Joris-Karl Huysmans. An den behandelten Bildgedichten lässt sich auch die Bewertungs- und Instrumentalisierungsgeschichte Grünewalds nachvollziehen. Die Analyse und Interpretation von Konrad Weiß’ SonettZyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha nimmt eine zentrale Stellung ein und berücksichtigt den beträchtlichen, in unterschiedlichen Textsorten überlieferten Grünewald-Kult der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ergänzend soll ein Exkurs zu Weiß’ Gedichten über andere Künstler und Werke das aus ihnen erkennbare Kunstverständnis und Weiß’ Vorstellungen von religiöser Dichtung profilieren. Bereits 1909 fasst Weiß in seinen Überlegungen zur christlichen Kunst der Gegenwart seine Vorstellung der Wirkung und Bedeutung von religiöser Malerei für den modernen Christen zusammen, was mithin auch für das Verständnis seiner religiösen Dichtung von Interesse ist: „Das moderne Staffeleibild sucht aber den einzelnen Menschen, und der Mensch sucht sich darin.“23 Seine Bildgedichte sollen daher auch als Ausdruck einer von bildkünstlerischen Vorlagen ausgehenden Neukonzeption christlicher Dichtung interpretiert werden. Neben Konrad Weiß bedichten auch Ernst Bertram und Paul Alverdes Werke von Grünewald. Während die beiden aber Grünewald neben Dürer und Holbein noch als Inkunabel deutschen Kunstschaffens verehren, wandelt sich die Wertung Grünewalds bei den Nationalsozialisten. In seiner Schrift Die Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art versucht einer der Mitorganisatoren der Ausstellung Entartete Kunst in den Münchner Hofgartenarkaden, Wolfgang Willrich, 1937 Dürer und Holbein wieder stärker gegenüber einem nach seinem Befinden ideologisch problematischen Grünewald aufzuwerten. Vor allem die ausgeprägte Vorbild-Funktion Grünewalds für die Expressionisten und deren Bewunderung für dessen „Halluzinationen und Deformationen“24 passt nicht in Willrichs Kunstideologie. Verläuft die völkisch-nationale Vereinnahmung Grünewalds bis in die 1920er Jahre hinein noch parallel zur bildkünstlerischen Rezeption des Malers bei den Expressionisten und Veristen, wandelt sich seine Bewertung durch die Nationalsozialisten deutlich. Mit den Sonetten zu Werken von Grünewald von Johannes R. Becher

|| 23 Konrad Weiß: Die christliche Kunst der Gegenwart. Gedanken zur Düsseldorfer Ausstellung für christliche Kunst. In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 6 (1909), S. 668–684, hier S. 669. 24 Wolfgang Willrich: Die Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Schrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art. München, Berlin 1937, S. 140.

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und Albrecht Haushofer, die zu Beginn und am Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, bietet das Kapitel einen Ausblick auf die lyrische GrünewaldRezeption, die von den unterschiedlichen Perspektiven auf den Maler seit seiner Wiederentdeckung profitiert. Christliche Motive werden in den Sonetten Bechers und Haushofers zu einer kunstreligiösen Mystik variiert. Johannes R. Becher charakterisiert Grünewald als ein Genie des Humanismus und deutet den Sozialismus als Erbe dieses Humanismus. Das für Konrad Weiß in seinem Sonett-Zyklus noch zentrale Christusmotiv aus Grünewalds Werken wird dabei entmythologisiert. Der bei Becher präsente ursprüngliche Inhalt der Huysman’schen Grünewald-Rezeption wird verdrängt und lediglich das äußere, morbide Gerüst dieser Rezeptionslinie bleibt erhalten. Auch Albrecht Haushofer nimmt Grünewald als einen humanistischen Meister im Sinne seines Selbstverständnisses als ein „Erbe der deutschen humanistischen Tradition“25 in sein lyrisches Werk auf. An die Stelle von Huysmans Supranaturalismus tritt eine fast schon ausufernde Mystifizierung des gesamten Grünewald-Motivs. Dieser auf Verehrung und gesteigerte Kontemplation angelegten Kunstbetrachtung stehen die in Kapitel IV. 3 behandelten Gedichte entgegen: In ihrer Haltung und ihrem Verhältnis zu den bedichteten Künstlern und Werken verfolgen sie die parodistische Hinterfragung künstlerischer Größe: Nicht ein bestimmter Künstler oder ein einzelnes Werk verbindet sie, sondern der bewusste Bruch mit der Künstlerverehrung. Daran gekoppelt ist eine humoristisch-parodistische Schreibhaltung, die damit implizit auch Rezeptionstraditionen von Kunstbetrachtung kritisch hinterfragt und die Gattung des Bildgedichts selbst reflektiert. Robert Walsers Gedichte zu Vincent van Gogh, Tizian oder Rembrandt markieren ebenso wie Bertolt Brechts Michelangelo-Schelte und die zahlreichen Gedichte zur Mona Lisa einen gewandelten Zugang zu ehedem als künstlerische Großtaten verherrlichten Werken und rütteln am kunsthistorischen Sockel der Künstler. Vor allem nationalsozialistische Autoren betreiben parallel dazu eine Re-Heroisierung von Künstlern wie Bruegel, Dürer, Michelangelo und Rembrandt im Dienste ihrer politischen Ideologie. Im letzten Kapitel (IV., 4.) sollen zunächst unterschiedliche Literarisierungen Michelangelos aus der Zeit nach Hitlers Machtübernahme vorgestellt werden. Dabei zeigt sich, dass der Österreicher Josef Weinheber und Hans Friedrich Blunck in ihren dem nationalsozialistischen Kunst- und Künstlerideal verpflichteten Michelangelo-Bild weniger Interesse am Werk des Renaissance-Künstlers zeigen als vielmehr an die Tradition des

|| 25 Felix Martin Wassermann: Ein Denkmal des ewigen Deutschlands: Albrecht Haushofers „Moabiter Sonette“. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 40 (1948), S. 305–313, hier S. 307.

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‚deutschen‘ Michelangelo aus dem späten 19. Jahrhundert anzuknüpfen suchen (Weinheber), gleichzeitig aber auch wie im Falle Rembrandts (Agnes Miegel) eine Tendenz zur Volkstümlichkeit aufweisen (Hans Friedrich Blunck).

1.1 Denkmäler, deutsches Mittelalter und paradiesische Schönheit im Ersten Weltkrieg (Eberhard König, Walter Flex, Augustin Wibbelt, Heinrich Vierordt, Ernst Bertram) Die Gedichte von Eberhard König und Walter Flex zum Hamburger BismarckDenkmal und Leipziger Völkerschlachtdenkmal gehören ihrer Funktion nach zur agitatorischen Kriegsdichtung und sind damit Teil der künstlerisch-intellektuellen Propaganda und Mobilmachung, wie sie durch Autoren, Publizisten und Professoren wie Rudolf Eucken, Thomas Mann, Johannes Plenge, Ernst Troeltsch, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff oder Hermann Kellermann betrieben wurden.26 Neben Texten dieser Autoren waren es vor allem literarische Kleinformen wie Gedichte und Lieder, die als Kriegspropaganda genutzt wurden und dabei eine schnelle und wirkungsmächtige Verbreitung fanden. Den kulturhistorischen Stellenwert der unüberschaubaren Zahl von kriegsverherrlichenden Gedicht-Anthologien und Gedicht-Sammlungen hat die Forschung zwar immer betont, den ästhetisch-künstlerischen Wert aber auch oftmals in Frage gestellt.27 Für das Verständnis der Debatte um die Kriegsziele und die „intellektuelle Kriegsdeutung“ sind solche Texte aber von zentraler Bedeutung, da sie „den Krieg durch die Suggestion von Selbst- und Fremdbildern zu rechtfertigen“ und

|| 26 Vgl. Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘, 2000; einen ersten Überblick zu kriegsapologetischen Texten bietet der Band: Mobilmachung 1914. Ein literarisches Echolot. Hg. von Matthias Steinbach. Stuttgart 2014 (Reclam Taschenbuch, 20287); ein breites Spektrum von Kriegsbewertungen in Gedichtform findet sich bei Thomas Anz, Joseph Vogl (Hg.): Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914–1918. München, Wien 1982. 27 Vgl. zuletzt mit Diskussion auch der älteren Forschung: Nicolas Detering: Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg – Germanistische Perspektiven. In: Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Hg. von Nicolas Detering, Michael Fischer und Aibe-Marlene Gerdes. Münster u.a. 2013 (Populäre Kultur und Musik, Bd. 7), S. 9–40; ferner auch im selben Band: Nicolas Detering: Sammeln und Verbreiten. Gedichtanthologien im Ersten Weltkrieg, S. 121–153.

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„zugleich den Ort der Intellektuellen in den Kriegsgesellschaften zu bestimmen“ suchen.28 Kriegsdeutung und Kriegsapologie in Eberhard Königs und Walter Flex’ Denkmal-Gedichten beziehen mit derselben kriegsapologetischen Aussageabsicht und ideologischen Ausrichtung ihre Argumente aus der Geschichte und einer von breiten Teilen der Öffentlichkeit getragenen Erinnerungskultur mit ihrem Dreischritt aus Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive.29 Es werden nicht einfach für die deutsche Geschichte denkwürdige Persönlichkeiten oder Ereignisse bedichtet, sondern deren bildkünstlerische Visualisierungen. Am Ort der Denkmäler und in der Anschauung der künstlerischen, steingewordenen Darstellung von Geschichte entfalten die Gedichte Überlegungen zur politischen und kulturellen Bedeutung des Einheitsstifters Bismarck und des zum patriotischen Mythos avancierten militärischen Sieges der Koalition gegen Napoleon in der Leipziger Völkerschlacht, womit einer Neuordnung Europas der Weg gebahnt wurde. Die Gedichte erinnern damit Tatsächliches, projizieren die Deutung der Geschichte aber auf die Kriegsgegenwart und Zukunft. Beide Gedichte stellen zwar das bedichtete Denkmal dem Rezipienten auch als Kunstwerk vor, sie führen aber in ihrer Ausrichtung auf die mit dem Denkmal verbundene Historie vor allem den Akt des Erinnerns und damit die genuine Funktion dieser Denkmäler performativ vor. Insofern haben die Autoren der beiden Gedichte auch nicht in erster Linie Charakteristika der künstlerischen Gestaltung der Denkmäler im Blick und thematisieren auch nicht unterschiedliche Strukturen literarischer und bildkünstlerischer Denkmalkultur. Sie ordnen sich vielmehr der in den Denkmälern schon angelegten sozialen Funktion unter und wiederholen diese gewissermaßen im Sprechakt vor dem Denkmal – in kriegspropagandistischer Absicht. Dabei hat die Errichtung der Denkmäler im Vorfeld und während des Ersten Weltkrieges mit diesem zunächst einmal nicht direkt etwas zu tun, wenn auch die Kriegspropaganda von der zeitlichen Nähe verschiedener Jubiläen, Todesund Geburtstage profitierte, die sich in Bismarck-, Hindenburg- und

|| 28 Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014, S. 237 (Zitat) und 236–250; zur Kriegszieldebatte auch ausführlich Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Berlin 2014, S. 216–244. 29 Hier der Begriff der Erinnerungskultur in Anlehnung an die Überlegungen von Jörn Rüsen. Gerade für die Denkmäler, die im Ersten Weltkrieg eine politisierende literarische Rezeption erfahren, ist Rüsens Konzept eines funktionalen Begriffs von Erinnerungskultur, der „kulturelle Aktivitäten“ einschließt, brauchbar. Vgl. Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln, Weimar, Wien 1994, bes. S. 211–216.

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Wilhelmfeiern und -denkmälern öffentliche Wirkung und Wahrnehmung verschaffte. So beschwor Kaiser Wilhelm II. in seiner berühmten „Parteien-Rede“ vom 4. August 1914 den ‚Geist von 1813’, der etwas mehr als ein halbes Jahr früher zeitgleich mit dem 25-jährigen Dienstjubiläums des Kaisers in der Einweihung des Leipziger Völkerschlachtdenkmals am 18. Oktober 1913 gefeiert wurde.30 Robert Musil bemerkte in seinem 1927 entstandenen Kurz-Essay Denkmale, dass Denkmäler „außer der Eigenschaft, daß man nicht weiß, ob man Denkmale oder Denkmäler sagen soll“ noch „allerhand Eigenheiten“ aufweisen, von denen die „Auf-fallendste“ sei, „daß man sie nicht bemerkt“ und dass nichts „so unsichtbar wäre wie Denkmäler“.31 Diese satirisch überspitzte Beobachtung zur Wahrnehmung von Denkmälern im öffentlichen Raum verweist auf den deutlichen Bruch mit der Erinnerungskultur der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges, von der man sich in Friedenszeiten nach 1918 zu distanzieren suchte. Die künstlerischen Vorstellungen von Monumentalität und der Hang zum Kolossalen der Vorkriegs- und Kriegsjahre wurden nach dem Krieg etwa von Wilhelm von Bode als deutsche „Grossmannssucht“ kritisiert.32 Die Fest- und Erinnerungskultur seit der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges ist dagegen noch völlig dominiert vom Erbe der ‚Denkmalwut’ des späten 19. Jahrhunderts, die neben den kulturkriegerischen Publikationen zur Beförderung der Kriegspropaganda umorientiert wurde.

|| 30 Einen Überblick zum Thema bieten folgende Bände: Ulrich Schlie: Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen. München 2002; Hans Ernst Mittig, Volker Plagemann (Hg.): Denkmäler im 19. Jahrhundert. Deutung und Kritik. München 1972 (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, Bd. 20); Lutz Tittel: Die Monumentaldenkmäler von 1871 bis 1918. Ein Beitrag zum Thema Denkmal und Landschaft. In: Kunstverwaltung, Bau- und Denkmal-Politik im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai und Stephan Waetzoldt. Berlin 1981 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 1), S. 215–275; Wulf Wülfing, Karin Bruns und Rolf Parr: Historische Mythologie der Deutschen. München 1991, hier bes. S. 189–205; zum historischen Kontext vgl. Leonhard: Die Büchse der Pandora, 2014, S. 82–146; ferner auch Wolfram Siemann: Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913. In: Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Düding, Peter Friedemann und Paul Münch. Reinbek bei Hamburg 1988 (rowohlts enzyklopädie), S: 298–320, hier bes. S. 299f. 31 Robert Musil: Denkmale. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 506–509, Zitat S. 506. 32 Wilhelm von Bode: Die Grossmannssucht in der deutschen Kunst. In: Kunst und Künstler 19 (1921), S. 140–145.

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Der mit Bismarcks Verabschiedung als Reichkanzler 1890 und dann mit seinem Tod 1898 sowie dem 100. Geburtstag im Kriegsjahr 1915 immer stärker florierende Bismarck-Kult, dem auch Eberhard Königs Gedicht zuzurechnen ist, verehrte in dem Gefeierten mit der Errichtung von Bismarcktürmen, -säulen und -denkmälern, in Huldigungsgedichten und Prosatexten in erster Linie den Stifter der nationalen Einheit aber auch Bismarcks soziale Errungenschaften sowie den Erwerb von Kolonien. In Eberhard Königs Gedicht auf das Hamburger Bismarck-Denkmal treten diese Aspekte hinter die Würdigung und Instrumentalisierung Bismarcks als Garant militärischer Überlegenheit zurück, was freilich im Ersten Weltkrieg die sinnfälligsten Aktualisierungsmöglichkeiten bot.33 Neben Bismarck-Denkmälern wurde während des Krieges auch Hindenburgs gedacht, der ähnlich wie Bismarck als Inbegriff deutscher (militärischer) Größe und Einheit gedeutet wurde. So wird in der dritten Strophe von Königs Gedicht einerseits die Vergegenwärtigung dieser Idee von Bismarck als Inkarnation und Symbol Deutschlands und deutscher Stärke, die im Denkmal zur Anschauung kommen, inszeniert, andererseits aber auch das Fortwirken jener positiven Eigenschaften im deutschen Volk an sich beschworen: „Du bist die heldgeboren/Urheilig deutsche Kraft,/Die in uns, unverloren,/Gewaltig wirkt und schafft!“ (V. 21–24).34

|| 33 Die berühmtesten Werke sind das 1901 eingeweihte Nationaldenkmal von Reinhold Begas in Berlin, der Bismarck-Turm am Starnberger See (1899) und im nordschleswigschen, heute dänischen Apenrade (1901) und die 1945 gesprengte Bismarck-Warte auf den Müggelbergen im Südosten Berlins (1904). Vgl. hierzu Reinhard Alings: Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal – zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Berlin, New York 1996, hier S. 130–133. Meist waren Vereine die Initiatoren und Träger der verschiedenen Projekte. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat Hans-Walter Hedinger 300 Vereine mit insgesamt teilweise 30 000 Mitgliedern gezählt, vgl. Hans-Walter Hedinger: Bismarck-Denkmäler und Bismarck-Verehrung. In: Kunstverwaltung, Bau- und Denkmal-Politik im Kaiserreich. Hg. von Ekkehard Mai und Stephan Waetzoldt. Berlin 1981 (Kunst, Kultur und Politik im Deutschen Kaiserreich, Bd. 1), S. 277–314, bes. S. 281–284; die neueren Studien zum Thema berücksichtigen in Anschluss an Hedinger die verschiedenen künstlerischen Medien, Organisationen und Funktionalisierungen der Bismarck-Verehrung: Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. München 2007; Lothar Machtan (Hg.): Bismarck und der deutsche National-Mythos. Bremen 1994; aus literarhistorischer Perspektive ist als prominenter Verfasser zahlreicher Bismarck-Huldigungen vor allem Ernst von Wildenbruch zu nennen, vgl. das entsprechende Kapitel bei Hans Rudolf Wahl: Die Religion des deutschen Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zur Literatur des Kaiserreichs: Felix Dahn, Ernst von Wildenbruch, Walter Flex. Heidelberg 2002 (Neue Bremer Beiträge, Bd. 12), S. 149–282. 34 Eberhard König: Vor dem Hamburger Bismarck. Am 3. August 1914. In: Bühne und Welt. Halbmonatsschrift für Theater und Literatur/Musik 17 (1915), S. 155f.

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Das nach den preisgekrönten Entwürfen des Architekten Johann Emil Schaudt und des Bildhauers Hugo Lederer ausgeführte und 1906 eingeweihte Monumentaldenkmal Bismarcks in Hamburg (Abb. 66) fand in einer Arbeit Siegmund von Suchodolkis Verwendung, der in der Kunstbeilage zur Bismarck-Jubiläumsnummer der Zeitschrift Der Türmer von 1915 – anlässlich von Bismarcks 100. Geburtstag – das Denkmal leicht verfremdet reproduzierte und die Gesichtszüge Bismarcks bezeichnenderweise mit denen Hindenburgs überblendete.35

Abb. 66: Johann Emil Schaudt und Hugo Lederer: Bismarck-Denkmal, Hamburg (1901–1906)

Dieser Umgang mit historischen Vorbildern und ihren Denkmälern macht deutlich, dass die von ihnen ausgelöste Erinnerung grundsätzlich einen recht breiten Deutungsspielraum für ihre Instrumentalisierung zulässt, was sich Denkmalgedichte im Ersten Weltkrieg für ihre kriegsbefördernde Stoßrichtung zunutze machen. Eberhard Königs Gedicht Vor dem Hamburger Bismarck. Am 3. August 1914 widmet sich nun gerade jenem aktualisierbaren Sinnstiftungs- und Identifikationspotential des Denkmals und führt die Funktionsweise solcher Werke vor, die hauptsächlich geprägt ist durch die Darstellung eines „gewollte[n] Erinnerungswert[s]“:36

|| 35 Vgl. Wülfing, Bruns, Parr: Die historische Mythologie der Deutschen, 1991, S. 197ff; das reine Erinnern am Denkmal und durch Denkmäler wurde bisweilen auch durch ein Handeln am Denkmal gesteigert. Am 4. September 1915 wurde in unmittelbarer Nähe der Siegessäule und des Bismarck-Denkmals von Begas ein hölzernes Standbild von Hindenburg enthüllt, in das jeder für einen kleinen Betrag einen Nagel hineinschlagen konnte, so dass nach und nach aus der Skulptur ein eiserner Hindenburg und damit der Siegeswille zum Ausdruck gebracht wurde. Vgl. hierzu Münkler: Der große Krieg, 2014, S. 440f.; zum Hindenburg-Mythos auch Jesko von Hoegen: Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos. Köln, Weimar, Wien 2007 (Stuttgarter historische Forschungen, Bd. 4), bes. S. 156–164. 36 Schlie: Die Nation erinnert sich, 2002, S. 13.

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Ragst du so weltenthoben Hoch ob der Deinen Not und Leid? Stehst allem Sturmestoben In steinerner Gelassenheit? Umheitert deine Stirne So Früh- und Abendglut, Wie auf der Alpenfirne Verklärungsleuchten ruht? Bist n u r Gedächtnis worden? Von einer Hoheit, die da war? Vom Helden, den der Norden Der deutschen Sehnsucht einst gebar? Ein Vorzeitmal, umtrauert Von Traum und Heldensang, Das fremd und schweigend dauert Nun Ewigkeiten lang? Wir glauben und wir wissen: Du hehrer Wächter hoch im Nord, Du bist uns nicht entrissen, Du bleibst uns nahe fort und fort: Du bist die heldgeboren Urheilig deutsche Kraft, Die in uns, unverloren, Gewaltig wirbt und schafft! Der Notruf ist ergangen. Von Ost und West, vom dunklen Meer Der Himmel rings umhangen, Rings Wetternacht verderbenschwer! – Seht, wie in roter Lohe Das Reckenbild sich hebt: Der Sturm- und Donnerfrohe Zuckt mit den Brau’n – er lebt! Wie das Gewölk sich ballte, Um seine Schläfen dräuend ruht! Mich dünkt, das ist der Alte, Der Gott in seinem Wetterhut! Er hebt das Schwert, der Aare Zorniger Weidruf gelt, Es brausen die Schwingenpaare: Komm an, du Neidlingswelt! Er hebt das Schwert, er hebt es Steil in die Sturmesnacht empor.

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Ob allem Volke schwebt es, Ein kreuzgestaltet Meteor; Und von dem Andachtsbilde Fließt ein getröstend Licht, Das macht des Hasses wilde Blitzflackerwut zunicht. Im Sturmesheerruf singt es Wie Orgelton, so voll, so tief, Wie frohe Botschaft klingt es, Wie wenn’s aus ew’gen Höhen rief’: „N u n s e i d d e s u n g e h e u r e n, Des Heldenschicksals wert, Indem ihr glaubend euren Zuchtmeister wieder ehrt! Denn gnädig ohnegleichen Hat Gott es mit den Seinen vor: Durch Wunder nur und Zeichen Führt euer Siegerschritt empor! Tragt eurer Waffen Reinheit Hindurch durch all die Uebermacht Des Neides, der Gemeinheit, Der Rohheit und der Niedertracht – In frommem Geistvertrauen! Auf daß die würdebare Welt Erleben mög’ und schauen, Daß doch der G e i s t der Herr im Feld; Daß wider seine Wunder Groß Macht und viele List Der Welt – ein mürber Zunder Im Flammensturme ist!“ – – – – – – – – – – – – – – – – Wie hoch bist du gewürdet, Mein Volk, in deiner heil’gen Not, Wie erdenfluchentbürdet! Nun sei getreu bis in den Tod! Sieh, wie in roter Lohe Das Heldenbildnis steht: Der Sturm- und Donnerfrohe Vor deinen Fahnen geht!37

|| 37 König: Vor dem Hamburger Bismarck. Am 3. August 1914, 1915, S. 155f.

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Der Titel des Gedichts benennt das literarisierte Denkmal und imaginiert mit seiner Bezeichnung gleichzeitig den Sprechort, an dem sich das lyrische Ich stellvertretend für das Kollektiv der Deutschen (Strophe 3) der patriotischen und gemeinschaftsstiftenden Bedeutung und Kraft der Statue besinnt. Zunächst scheint der Gegenwartsbezug des Gedichts ebenso verborgen wie die Skulptur des Reichskanzlers, die in der ersten Strophe als vermeintlich „weltenthoben“ (V. 1) entrückt charakterisiert wird. Die rhetorischen Fragen der ersten beiden Strophen nach dem Denkmalswert und der Bedeutung der dargestellten Figur für die Gegenwart sind in den ersten beiden Strophen von Zweifeln geprägt, die dann aber in der dritten Strophe mit einem Glaubensbekenntnis entkräftet werden, dem durch die anaphorische Reihung der Verse (V. 18–21) besondere Eindringlichkeit verliehen wird. Bemerkenswert ist dabei, dass der Erste Weltkrieg nicht genannt wird. Die Bilder der Bedrohung und des (scheinbar zeitlosen) Kampfes (V. 25–28; 40; 49–52; Strophe 10) dürften für den zeitgenössischen Rezipienten aber leicht aufzulösen und auf die Kriegsgegenwart zu beziehen gewesen sein. Zudem markiert das im Untertitel gewählte Datum des 3. August 1914 – das Gedicht ist im 17. Jahrgang von 1915 der Zeitschrift Bühne und Welt erschienen – den Tag der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich, den Einmarsch deutscher Truppen in Belgien und den Tag der britischen Mobilmachung.38 In der Wahl dieses Datums wird gleichsam auch der durch den Krieg und die Bedrohung der Feinde gegebene Anlass der Anrufung Bismarcks markiert und als „Notruf“ (V. 25) charakterisiert. Im dichterischen Umgang mit der künstlerischen Vorlage geht der studierte Kunsthistoriker König, der die öffentlichen Ausschreibungen und Ausführungen des Denkmals verfolgt haben dürfte und dessen bereits 1897 erschienenes Renaissance-Trauerspiel Filippo Lippi das Interesse des Autors an kunsthistorischen Gegenständen deutlich macht, eigenwillig vor.39 Neben dem Titel

|| 38 Vgl. Leonhard: Die Büchse der Pandora, 2014, S. 83–146, bes. S. 109ff. 39 Zu Königs Biographie, der 1871 im niederschlesischen Grünberg geboren wurde, vgl. die knappen Angaben bei Helmut Blazek: König, Eberhard. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 6. Berlin, New York 2009, S. 551; zur Einweihung des Denkmals wurde nicht nur ein großes Fest gegeben, sondern auch eigens Gedenkmünzen geprägt, die von Ernst Barlach gestaltet wurden. Zur Vorgeschichte des Denkmals, den Vereinsgründungen und der Ausschreibung, auf die 219 Entwürfe eingereicht wurden, vgl. ausführlich Jörg Schilling: „Distanz halten“. Das Hamburger Bismarck-Denkmal und die Monumentalität der Moderne. Göttingen 2006, bes. S. 96–108; eine Kurzform der wichtigsten Daten und Fakten auch bei Jörg Schilling: „Ein Bismarck und kein Popanz.“ Das Hamburger Bismarckdenkmal 1898–1998. In: Das Bismarckdenkmal in Hamburg 1906–2006. Beiträge zum Symposium „Distanz halten. 100 Jahre

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verweisen nur wenige Realien und Epitheta wie das in Vers 41 erwähnte Schwert, auf das sich die Bismarck-Skulptur stützt sowie die Bezeichnungen „Reckenbild“ (V. 30) und „Heldenbildnis“ (V. 78) auf das Kunstwerk von Schaudt und Lederer. Die Wirkung des Denkmals sowohl aus formaler als auch ideologisch instrumentalisierbarer Sicht machen dagegen die Gesamtanlage von Königs Gedicht aus. So beschreiben die ersten beiden Strophen auch nicht Details der Skulptur, sondern problematisieren zunächst die äußere Form und grundsätzliche Funktion des Denkmals (V. 9: „Bist nur Gedächtnis worden?“), indem die (vermeintlich) entrückende Wirkung durch die schiere Dimension und künstlerische Gestaltung bedauert wird. Das ist für den inneren Spannungsaufbau des Gedichts notwendig, in den folgenden Strophen aber aufgelöst wird. Gleichwohl wird damit die reale Monumentalität des Denkmals reflektiert und auch gewürdigt. Man darf sich dabei nicht vom heutigen Kunstgeschmack und Blick auf den Hamburger Bismarck verleiten lassen und in Anschluss an Wertungen der Weimarer Republik in dem Denkmal nur ein Symbol der Republikfeinde und „deutsche[n] Grossmannssucht“ (Wilhelm von Bode) sehen.40 Als das Werk am 2. Juni 1906 feierlich – in Abwesenheit Kaiser Wilhelms II. – eingeweiht wurde, würdigten die Festbesucher und auch die Kunstkritiker gerade die heute ästhetisch problematisch erscheinende Monumentalität der Anlage, die mit einer Gesamthöhe vom Sockel bis zum Scheitel von 34,3 Metern und einer Erhebung über die Elbe von insgesamt 59,3 Metern im wörtlichen und übertragenen Sinne als „Werk von überragender Größe“,41 „Inkarnation und Symbol Deutschlands“42, als „Bild mythischer Größe“43 oder etwa prominent von Aby Warburg als „einfach grandios“44 bewertet wurde und nur in Alfred Lichtwark einen ihrer wenigen negativen Kritiker fand.45 Die überwältigende Resonanz, die das Denkmal schon vor seiner Errichtung erfuhr, wird nicht zuletzt darin deutlich, dass die enorme Summe der Kosten || Hamburger Bismarckdenkmal“. Bearbeitet von Jörg Schilling. Heide 2008 (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Hamburg, Bd. 24), S. 30–45. 40 Vgl. zu den späteren Urteilen Schilling: „Distanz halten“, 2006, S. 309–325 und 394. 41 So die im gleichen Jahr 1906 erschienene Einschätzung von Albert Hofmann: Handbuch der Architektur. Vierter Teil: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude. 8. Halbband, Heft 2: Denkmäler (I. Geschichte des Denkmals). Mit 24 in den Text eingehefteten Tafeln. Leipzig 1906, S. 248. 42 Hedinger: Bismarck-Denkmäler, 1981, S. 290. 43 Schilling: „Distanz halten“, 2006, S. 195 44 Hier nach Schilling: „Distanz halten“, 2006, S. 194 45 Vgl. Rainer Donandt: „Hamburg drückt sich noch nicht aus“. Anmerkungen zu Alfred Lichtwark als Kritiker des Bismarckdenkmals. In: Das Bismarckdenkmal in Hamburg 1906–2006. Beiträge zum Symposium „Distanz halten. 100 Jahre Hamburger Bismarckdenkmal“. Bearbeitet von Jörg Schilling. Heide 2008 (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Hamburg, Bd. 24), S. 46–59.

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von 535 000 Mark allein durch öffentliche Spenden eingetrieben wurde. Über dem runden Sockel mit acht vorgeblendeten Achteckpfeilern, deren vorangestellte Männerfiguren acht (germanische) Volksstämme symbolisieren sollen, erhebt sich die Skulptur Bismarcks als Rolandfigur und Schwerthalter Deutschlands und wird damit als mythische Figur inszeniert.46 Die Motivation von Königs Literarisierung des Hamburger Bismarcks scheint zu einem guten Teil in der Bedeutung der im Denkmal dargestellten Figur selbst zu liegen. Daneben ist aber ebenso auffällig, dass die künstlerische Gestaltung, der künstlerische Wert und die intendierte Ausrichtung von solchen Denkmälern ebenso wichtig sind. Die uns heute etwas plump und bombastisch vorkommende Monumentalität des Hamburger Bismarcks wurde, im Gegenteil, von den Zeitgenossen wie Albert Hofmann und Aby Warburg als ausgesprochen moderne Form des Denkmals, sogar als Wendepunkt und Höhepunkt der Denkmalskunst und vor allem als Werk für das Volk bewertet, worauf besonders die ersten fünf Strophen und dann die letzte, zehnte Strophe von Königs Gedicht deutlichen Bezug nehmen.47 Das Gedicht hebt gerade die volkstümliche und breite Rezeption des Denkmals hervor. Dafür nutzt König das gängige Motiv der Verlebendigung der Skulptur, was sich in zahlreichen Gedichten auf Denkmäler und Skulpturen findet und schon in Gedichten zu Denkmälern des späten 19. Jahrhunderts beobachtet werden konnte.48 Diese literarische Verlebendigung Bismarcks ab der vierten Strophe erfährt eine Klimax mit der direkten Rede des Reichskanzlers, die zum Kern des Gedichts und damit seinem Gegenwartsbezug vorstößt: Kommende Kriegs- und Kampfhandlungen werden von der lebendig gewordenen Skulptur selbst sakralisiert und zum Evangelium erhoben (V. 57–60). Die Bismarck in den Mund gelegten Argumente und die den Feinden zugeordneten Epitheta wie „Neid“, „Gemeinheit“, „Rohheit“ und „Niedertracht“ (V. 63f.) entsprechen der || 46 Vgl. hierzu Alings: Monument und Nation, 1996, S. 246–254; Schilling: „Ein Bismarck und kein Popanz“, 2008, S. 33, Schilling: „Distanz halten“, 2006, S. 100. 47 Zu den Beurteilungen Schilling: „Ein Bismarck und kein Popanz“, 2008, S. 30; Alings: Monument und Nation, 1996, S. 254; den Volkscharakter hebt besonders auch Hofmann: Handbuch der Architektur, 1906, S. 237, hervor. 48 Heinrich Vierordt etwa lässt den steinernen Bismarck-Roland auch nächtens lebendig werden. Sein 1926 zuerst publiziertes Gedicht Bismarck-Roland macht überdies die Langlebigkeit der Verbindung literarischer Bismarck-Verehrung, Kriegs- und Kampfappell auch in der Weimarer Republik deutlich, was sich an der fünften Strophe besonders gut nachvollziehen lässt: „Und eine unendliche Feuerwelle / Wälzt durch das Reich sich mit Weltbrandhelle. / Und den Schläfern, die in Träumen verloren, / Gellt sein Ruf wild in die Ohren: / Hahoh! ich warn’ euch früh und spät, / Still schleicht der Feind, der Böses sät. / Hahoh! ihr alle, die ihr ruht, / Seid auf der Hut, / Laßt nimmer verlöschen des Feuers Glut – / Ich mein’ es mit meinen Deutschen gut…“ Heinrich Vierordt: Grotesken. Heidelberg 1974, S. 100.

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um 1914/15 vielfach und in ganz unterschiedlichen Textsorten formulierten Kriegsrhetorik und den ‚Ideen von 1914’. Wenn auch die sprechende Skulptur Bismarcks den Ersten Weltkrieg nicht explizit erwähnt, so lassen die Argumentationsweise der Schlussverse (V. 65–72) seiner Ansprache doch erkennen, dass die unverhohlene kulturelle Überlegenheit der Deutschen als Legitimation der hier imaginierten Kampfhandlungen auf den Ersten Weltkrieg zu beziehen ist (V. 68: „Daß doch der Geist der Herr im Feld“). Erst nach dieser Bismarck in den Mund gelegten Kriegsapologie meldet sich der Sprecher in der zehnten Strophe wieder zu Wort und vervollständigt die skulpturale Kriegsrhetorik des Denkmals mit einem Aufruf zur Opferbereitschaft und stellt sich damit ebenfalls in die Reihe der seit Kriegsbeginn wiederholten zentralen Werte von Pflichterfüllung und Ordnung.49 Solche Art der lyrischen Kriegspropaganda nutzt ganz offensichtlich sowohl den nationalen Symbolwert der im Denkmal dargestellten und anschaulich gewordenen Bismarckfigur, wie sie sich auch der Denkmuster von kultureller Konkurrenz und Überlegenheit bedient, die letztlich auf jene vor allem mit Ernst Troeltsch verbundene zivilisationskritische Tradition verweisen, hier aber nationalistisch und kriegsapologetisch ausgerichtet werden.50 Außer in der summarischen Zusammenfassung der Monumentalität des Werkes berührt das Gedicht die von der Kunstkritik gefeierte Modernität des Denkmals nicht. Es macht sich seine Popularität nur zunutze und zeigt damit, wie gerade im Ersten Weltkrieg kulturhistorisch dichotomisch gedachte Konzepte von reaktionärem, literarischem „Reichsnationalismus“ und bildkünstlerischer Moderne durchaus Berührungspunkte aufweisen.51

Stärker noch als Eberhard König in seinem dichterischen Umgang mit dem Hamburger Bismarck-Denkmal nivelliert Walter Flex in seinem Gedicht Totenklage im

|| 49 Vgl. Leonhard: Die Büchse der Pandora, 2014, S. 244ff. 50 Vgl. Beßlich: Wege in den ‚Kulturkrieg‘, 2000, S. 2–27; 327–350; betont wird (S. 327), dass der ‚Kulturkrieg’ „nicht ohne weiteres mit deutschem Nationalismus im Ersten Weltkrieg gleichzusetzen“ sei. Der ‚Kulturkrieg’ sei nicht „Nationalismus mit anderen Mitteln, sondern Zivilisationskritik in Zeiten des Krieges – zwar nationalisierte Zivilisationskritik, aber der Nationalismus bedeutet nicht den Kern der Sache. […] Zwar enthält der Nationalismus zwischen 1890 und 1914 in Deutschland zivilisationskritische Elemente, aber umgekehrt muß nicht jede Zivilisationskritik von Anbeginn an nationalistisch aufgeladen sein.“ 51 Der von Wehler für die Zeit ab dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts etablierte Begriff des „Reichsnationalismus“ wird in der historischen Forschung durchaus kritisch bewertet, vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, S. 946–949.

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Völkerschlachtdenkmal die im Leipziger Monument angelegten und mit seiner Errichtung verbundenen kulturpolitischen Spannungen zugunsten einer aggressiven Kriegspropaganda. Walter Flex war schon durch seine Erziehung in einem Elternhaus, das sich sehr stark in nationalistischen Vereinen und Gruppierungen engagierte, ideologisch konservativ geprägt und wurde zum glühenden Bismarck-Verehrer und begeisterten Weltkriegsteilnehmer. Das Ende des Ersten Weltkriegs hat Flex nicht mehr erlebt. Er ist im Oktober des vorletzten Kriegsjahres gefallen, hinterließ aber mit seinem autobiografischen Roman Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916) einen Kriegstext, der eine gewaltige Rezeption erlebte und zum Kultbuch der Kriegskameradschaft avancierte.52 Fast ebenso berühmt wurden seine vielgelesenen lyrischen Befeuerungen des Krieges, zu denen auch sein Gedicht zum Leipziger Völkerschlachtdenkmal gehört. Das als Denkmal des Mythos von nationaler Einheit und des Kampfes gegen Fremdherrschaft konzipierte Erinnerungsmal geht auf die entscheidende Initiative des Leipziger Architekten Clemens Thieme und seines bereits im April 1894 gegründeten Deutschen Patriotenbunds zur „Errichtung eines Völkerschlacht Nationaldenkmals“ zurück, in dem die deutschen Gefallenen der Völkerschlacht und damit in nationaldemokratischer Perspektive auch das deutsche Volk – aber eben nicht der Monarch – verherrlicht werden sollte. Zwar galt Kaiser Wilhelm II. als Repräsentant dieses deutschen Volkstums, sein eigener herrschaftlicher Anspruch, sein monarchisches Selbstverständnis und Repräsentationsdenken zeigen indessen deutliche Unterschiede zu diesem Konzept einer dezidiert bürgerlichen Volkskultur. Das macht sich auch in steingewordenen, gänzlich verschieden konzipierten und vom Kaiser vehementer unterstützten Denkmälern wie etwa dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica bemerkbar.53

|| 52 Zum Überblick der Artikel von Hans Peter Bleuel und Hans Rudolf Wahl: Flex, Walter. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 3. Berlin, New York 2008, S. 480– 482; Lars Koch: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger. Würzburg 2006 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 553), bes. S. 87–90; Hans Wagener: Wandervogel und Flammenengel: Walter Flex: Der Wanderer zwischen den Welten. Ein Kriegserlebnis (1916). In: Von Richthofen bis Remarque. Hg. von Thomas F. Schneider. Amsterdam 2003, S. 17–30. 53 Vgl. Birte Förster: Die Jahrhundertfeiern der ‚Völkerschlacht‘. Erinnerungskulturen und Kriegslegitimation im Jahr 1913. In: Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Hg. von Detlev Mares und Dieter Schott. Bielefeld 2014 (Histoire, Bd. 65), S. 143–167, hier S. 152–154; Steffen Poser: Die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht und die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals zu Leipzig 1913. In: Feste und Feiern. Zum Wandel städtischer Festkultur in Leipzig. Hg. von Karin Keller. Leipzig 1994, S. 196–213, hier S. 91f.

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Zum Vergleich: In der gleichzeitig publizierten panegyrischen Dichtung auf Bismarck und Wilhelm II. lässt sich zwar keine explizit gesuchte Hierarchisierung der beiden finden, doch spielt in der Bismarck-Lyrik der Gedanke einer mit ihm verbundenen Volkskultur eine deutlich größere Rolle als in der Lyrik auf Wilhelm II. In der Denkmalskultur und den zeitgenössischen kunsthistorischen Stellungnahmen zu den einzelnen Werken werden diese Unterschiede deutlicher: Bismarck wird als Mann des Volkes aufgebaut und inszeniert, was im Zusammenhang mit den hauptsächlich auf die Initiativen des Kaisers zurückgehenden Denkmälern in der kunsthistorischen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle spielt.54 Bezeichnenderweise war Wilhelm II. bei der zu einer großen Volksfeier geratenen Einweihung des Hamburgers Bismarck-Denkmals 1906 auf eigenen Wunsch nicht anwesend und lehnte auch das Konzept des Völkerschlachtdenkmals aufgrund des fehlenden Kaiserbezuges grundsätzlich ab.55 Da die Einweihung des Denkmals am 18. Oktober 1913 aber zugleich in das Jahr seines 25-jährigen Dienstjubiläums fiel und die politischen Spannungen in Europa über einen bevorstehenden Krieg nicht länger hinwegtäuschen konnten, nutzte Wilhelm II. trotz kritischer Beurteilung des künstlerischen Konzepts die Einweihung des Denkmals zur Bekräftigung nationaler Gemeinschaft.56 Dasselbe Prinzip der Einebnung ideologischer und kulturpolitischer Differenzen zugunsten einer gemeinschaftsstiftenden und agitatorisch gegen den Feind gerichteten Propaganda machen sich auch die Gedichte von Eberhard König und vor allem Walter Flex zunutze. Den Gegenwartsbezug allerdings konnte Flex schon von der künstlerischen Vorlage seines Gedichts übernehmen. Die Entwürfe des Berliner Architekten Bruno Schmitz sahen eine Synthese von

|| 54 Zu Lyrik auf Wilhelm II. vgl. zuletzt Philipp Redl: Kaiserlob um die Jahrhundertwende. Wilhelm II. in der panegyrischen Kasual-Lyrik 1888 und 1914. In: Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Hg. von Nicolas Detering, Michael Fischer und Aibe-Marlene Gerdes. Münster u.a. 2013 (Populäre Kultur und Musik, Bd. 7), S. 69–81; zu Bismarck vgl. Hedinger: Bismarck-Denkmäler und Bismarck-Verehrung, 1981; Machtan: Bismarck und der deutsche National-Mythos, 1994. 55 Zu den Diskussionen vgl. den Beitrag von Ulrich Schlie. Am Beispiel des Hamburger Bismarck-Roland macht Schlie folgendes deutlich: „Im Hamburger Monumentalstandbild soll die Kontinuitätslinie vom Eisernen Kanzler in der wilhelminischen Gegenwart gezogen werden, und doch betont dieses Denkmal des Jahres 1906 gerade den Kontrast zwischen der Bismarckzeit und der wilhelminischen Ära.“ Schlie: Die Nation erinnert sich, 2002, S. 65; ferner auch Schilling: „Distanz halten“, 2006, S. 391. 56 Vgl. Förster: Die Jahrhundertfeiern der ‚Völkerschlacht‘, 2014, S. 143–156; zum historischen Hintergrund auch Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. 12. Al. München 2014, S. 408–471.

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architektonischer Struktur und bauornamentalen Elementen vor, für deren Ausführung die Bildhauer Christian Behrens und Franz Metzner gewonnen werden konnten.57 Erst relativ spät, in der Konzeption von 1908, ergänzte Schmitz die heute die Kuppel des Völkerschlachtdenkmals umstehenden 12 Wächterfiguren, die nicht nur an das Hamburger Bismarck-Denkmal erinnern und dieses rezipieren, sondern auch dezidiert als Symbolfiguren gegen Bedrohungen der Nation von außen konzipiert wurden und daher schon im Denkmal selbst das Aktualisierungspotential der erinnerten Geschichte aufrufen.58 Das monumentale, im Südosten Leipzigs gelegene Denkmal besteht außen aus einem Stufensockel, über dem sich der insgesamt 91 Meter hohe, von einer Kuppel bekrönte Denkmalbau erhebt. Der Innenraum wird in lockerer Anspielung auf antike Tempelarchitektur im Eingangsbereich von vier überdimensionalen Sitz-Skulpturen – die vier deutsche Tugenden darstellen sollen (Tapferkeit, Glaubensstärke, Volkskraft, Opferbereitschaft) – dominiert.

Abb. 67: Bruno Schmitz, Christian Behrens und Franz Metzner: Völkerschlachtdenkmal, Leipzig (1898/1913)

|| 57 Vgl. zur Planungs- und Baugeschichte Peter Hutter: Zur Baugeschichte des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. In: Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur. Hg. von Katrin Keller und Hans-Dieter Schmid Leipzig 1995, S. 42–61, hier S. 56. 58 Vgl. Katrin Keller und Hans-Dieter Schmid: Einführung: Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur. In: Dies. (Hg.): Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur. Leipzig 1995, S. 7–19, S. 11.

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Dieser Raum ist wiederum nur das Obergeschoss der tiefer liegenden, von Totenwächtern gesäumten Krypta, die das Grab der Gefallenen symbolisieren soll. Den Eingang zum Denkmal an der Stirnseite markiert eine Skulptur des Erzengels Michael, dessen christliche ikonographische Tradition als Wächter und Beschützer zusammen mit der nach außen hin geschlossen und wehrhaft wirkenden Anlage die Stärke der Nation versinnbildlichen soll, wohingegen das Innere durch seine an die Sakralarchitektur angelehnte Struktur ganz auf den Opfer- und Totenkult ausgerichtet ist (Abb. 67 und 68).59

Abb.68: Bruno Schmitz, Christian Behrens und Franz Metzner: Völkerschlachtdenkmal, Innenansicht, Leipzig (1898/1913)

Die religiöse Dimension nationalistischen Selbstverständnisses, wie sie mit der Rückbindung christlich-ikonographischer Traditionen (Erzengel Michael) und dem Totenkult im Völkerschlachtdenkmal sinnfällig wird, kam Walter Flex und seiner Überzeugung von der sittlichen Wirkung und Läuterung durch den für ihn ‚heiligen Krieg’ entgegen.60 Die Denkmalbetrachtung rückt wie schon bei König noch stärker in den Hintergrund. Die in vier unterschiedlich langen Versgruppen zusammengefassten 57 meist paargereimten Verse stimmen eine intime

|| 59 Vgl. Förster: Die Jahrhundertfeiern der ‚Völkerschlacht‘, 2014, S. 154ff.; Hutter: Zur Baugeschichte des Völkerschlachtdenkmals, 1995, S. 155–160. 60 Zu diesem Komplex immer noch erkenntnisreich die Studie von Peter Walkenhorst: Nationalismus als ‚Politische Religion‘? Zur religiösen Dimension nationalistischer Ideologie im Kaiserreich. In: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. Hg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann. Gütersloh 1996 (Religiöse Kulturen der Moderne; 2), S. 503–531; ferner auch Koch: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne, 2006, S. 107 bzw. 144.

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Totenklage an. Diese Zwiesprache des lyrischen Ichs mit den Toten verlegt Flex ins Innere des Denkmals, wie es der Titel Totenklage im Völkerschlachtdenkmal verrät, und damit an den sowohl emotional als auch ideologisch aufgeladenen Ort, der auf die „Diesseitigkeit der Sinnstiftung des gewaltsamen Todes“61 (im Kriege) verweist. Markiert wird damit auch die für den Sprecher wichtigste Funktion des Denkmals, nämlich die Erinnerung an die Toten im Spannungsfeld von Trauer, Heldengedenken und Totenkult:62

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Ihr toten Brüder, jenseits der tiefen Nacht, Schaut Ihr die Feuer unserer Totenwacht? Habt Ihr der Lieder, habt Ihr des Lebens acht? Unsre jungen Seelen sind loh entfacht, Opferfeuer für Euch am gähnenden Schacht Dunkelnder Ewigkeiten und toter Zeit. Unsre Seelen sind Eurer Antwort bereit! Unsere Feuer verdämmern in Eure Nacht, Lichter, Gedanken und Lieder schicken wir weit, Weit hinüber zu Euch durch Dunkelheit, Hört uns, Ihr Brüder, wir halten Totenwacht! Ist der ein Tor, der harrend am Meeresstrand Rufend die Stimme schickt nach jenseitigem Land? Der nach dem Schiffe, das lange in Nacht entschwand Immer noch grüßt und grüßt mit winkender Hand? Ist der ein Tor, Der für die Nähe und Ferne den Sinn verlor, Weil ihm die Seele von zeitloser Sehnsucht entbrannt? Flutet ein Meer zwischen Zeit und Ewigkeit? So wenig seid Ihr uns fern, die Ihr nicht mehr seid! Unsere Füße rauschen durch Euer Haus, Wir fahren, Wellen im Strom, Ihr wuscht sein Bette aus. Gestern waret Ihr Strom und heute wir, Stromab gleiten wir alle, Ihr dort, wir hier. Aber es bleibt, den die Wogen befruchten, der Strand. Ewig dient unser Strom dem dauernden Land. Ewig prangt das Land von der kühlen Kraft,

|| 61 Michael Jeismann und Rolf Westheider: Wofür stirbt der Bürger? Nationaler Totenkult und Staatsbürgertum in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution. In: Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne. Hg. von Reinhart Koselleck und Michael Jeismann. München 1994 (Bild und Text), S. 23–50, hier S. 25. 62 Konzeptuell dazu mit Blick auf die genannte Denkmaltypologie Claude Haas: Im Schatten des ‚Unbekannten Soldaten‘. Trauer, Heldengedenken und Totenkult in der deutschen Literatur des Ersten Weltkriegs. In: Weimarer Beiträge 61 (2015), S. 202–228.

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Die, im Wechsel dauernd, das Dauernde schafft. Jede Welle gibt flutend ihr Bestes dem Land. 30

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Jede Welle verliert sich zuletzt ins Meer. Nie wird das heilige Bett des Stromes leer. Ihr strömt Welle um Welle zum Meeresschoß, Aber die Sonne reißt Euch vom Meere los, Schüttet aus Wolken Eure befruchtende Kraft Wieder über das Land, daß es nie erschlafft. Ewige Kräfte tauschen Ströme und Meer. Tote Brüder, Ihr wandert über uns her, Wandert als Wolken über der wandernden Flut. – Ewig in Eurer, ewig in unsrer Hut Dauert der Strand, Dauert das ewige, blühende deutsche Land! Wetterzeichen lohen am Horizont! Über die Heimat, die noch der Friede besonnt, Jagen Sturmschwalben mit unheilkündendem Flug… Brüder, wir wissen genug! Wenn an den Grenzen der Feind den Haß nicht hemmt, Wehe ihm! Woge auf Woge rollt ungedämmt Über ihn hin, bis er ins Nichts verschwemmt! Wenn die Schwerterstunde des Schicksals gleißt, aus Gewitterwolken strömt Euer Geist Rauschend nieder und mischt sich unserer Flut Und strömt mit uns über die fremde Brut! – Hört uns, Ihr Brüder! Wir halten Totenwacht. Unsere jungen Seelen sind loh entfacht, Unsere jungen Seelen sind wach und bereit. Um die Feuer sitzen wir, Hüter der Zeit, – Schickt uns zur Antwort Kräfte der Ewigkeit.63

Auch dieses Gedicht ist zunächst als Auseinandersetzung mit der Geschichte, also der Völkerschlacht von 1813 und ihren Toten zu deuten, die über das betrachtete Kunstwerk vermittelt wird. Doch legt schon der Publikationskontext der Totenklage als Eröffnungsgedicht von Flex’ Gedicht-Sammlung Das Volk in Eisen. Kriegsgesänge eines Kriegs-Freiwilligen (1915) nahe, dass sich die Totenklage in doppelter Perspektive sowohl auf die Toten der Völkerschlacht als auch die Toten der ‚neuen‘ Völkerschlacht des Ersten Weltkrieges beziehen lässt, wodurch Flex seine gern gewählte Selbstinszenierung als „neuer Körner“ literarisch einlösen

|| 63 Walter Flex: Das Volk in Eisen. Kriegsgesänge eines Kriegs-Freiwilligen. Lissa i. P. 1915, S. 3–4.

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konnte.64 Die Schlichtheit und bisweilen auch gedankliche Einfachheit der Verse korrespondieren mit dem Anspruch und der Funktion solcher Texte, das literarisierte Totengedenken am Erinnerungsort, den das Denkmal markiert, möglichst breit verständlich zu machen und emotional-appellativ als Kriegspropaganda instrumentalisieren zu können. Die Häufung und Dominanz der rhetorischen Fragen in den ersten beiden Versgruppen (V. 1–24) schaffen das Gegenteil von dem, was sie nahelegen, nämlich Gewissheit über die Gegenwart der Toten und damit die Gegenwart der selbstverständlich siegreichen Vergangenheit, um deren Bedeutung für die zeitgenössische Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung es im Gedicht eigentlich geht. Was erst nach dem Ersten Weltkrieg in den zahllosen Errichtungen von „Denkmälern des unbekannten Soldaten“ besonders für eine regional organisierte Kriegsverarbeitung und Trauerbewältigung denkmaltopographisch an Kontur gewinnt, ist letztlich im Leipziger Völkerschlachtdenkmal folglich schon angelegt.65 Die schon in dem Gedicht von König beobachtete kulturkritisch unterlegte Feindestopik (V. 46–52) und die von der Vergangenheitsbetrachtung ihren Ausgang nehmende Zukunftsperspektive eines „ewigen“ militärisch wie kulturell siegreichen Deutschlands (V. 41) bilden die Kernvorstellungen von Flex’ Totenklage. Auf der lexikalischen Ebene dominieren sowohl Begriffe, die dem semantischen Bereich des Kampfes (Feuer, Brand, Opfer, Feind) als auch dem hier inszenierten Totengedenken und Heldenkult (Ewigkeit, Dauer, Brüder, Seele) zuzuordnen sind. Die permanent bemühte temporale bzw. sakral-überzeitliche Perspektive der Ewigkeit (V. 19, 27f., 36, 39, 57) wird dabei nicht nur mit den Toten in Verbindung gebracht, sondern an entscheidender Stelle auch als Aktualitätsbeteuerung mit Blick auf den Ersten Weltkrieg markiert: „Ewig in Eurer, ewig in unsrer Hut/Dauert der Strand,/Dauert das blühende, ewige, deutsche Land!“ (V. 39–41). Der auf diese Verse folgende „unheilverkündende Flug“ der „Sturmschwalben“ kennzeichnet den Moment, in dem die vom lyrischen Ich vorgetragene Totenklage und der Totenkult verknüpft werden mit dem Kriegskult.66 Die

|| 64 Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918: Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX, 2), bes. S. 763–829 (Literatur im Weltkrieg). 65 Vgl. Haas: Im Schatten des ‚Unbekannten Soldaten‘, 2015. 66 Vgl. Marianne Vogel: Völkerschlacht und kollektives Gedächtnis – Vom Ende des deutschen Kaiserreichs bis heute. In: Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen. Hg. von Waltraud ‚Wara‘ Wende. Würzburg 2005, S. 26–41, bes. S. 30 und Wolfgang Ernst: Präsenz der Toten und symbolisches Gedenken: Das Völkerschlachtdenkmal zwischen Monument und Epitaph. In: Vom Kult zur Kulisse. Das

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ewigen Toten der historischen Schlacht werden zu Garanten des „ewigen Deutschlands“ (V. 41) der Kriegsgegenwart. Die in der letzten Versgruppe (V. 53– 57) beschworene Bereitschaft der „jungen Seelen“ (V. 54f.) zur Verteidigung Deutschlands gegen die Feinde – im Ersten Weltkrieg – bezieht ihre rhetorische Überzeugungskraft hauptsächlich aus dieser im Denkmal gehaltenen Totenklage und der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Lyrische Denkmalbetrachtung im Ersten Weltkrieg nimmt die Erinnerungsfunktion solcher Kunstwerke als Instrument der Aktualisierung von Geschichte ernst und inszeniert das Sprechen vor oder im Denkmal nicht nur als Auseinandersetzung mit der steingewordenen Geschichte, sondern als kriegspropagandistischen Aufruf.

Von dieser deutlich agitatorischen, auf eine Beförderung des Krieges hin konzipierten Literarisierung von Kunstwerken sind die im Oktober 1915 entstandenen Terzinen des katholischen Priesters und Dichters Augustin Wibbelt auf Fra Angelico merklich abzugrenzen. Zwar stellt das Gedicht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen dem bedichteten Künstler und der Kriegsgegenwart her, hebt dabei aber stärker die consolatorischen Wirkungsmöglichkeiten der Kunst des Dominikanermönches hervorhebt. Der heute fast vergessene, 1862 im westfälischen Vorhelm in eine Bauernfamilie geborene Wibbelt wurde nach dem Studium der katholischen Theologie, Philosophie und Philologie 1888 zum Priester geweiht, blieb aber auch neben seinen Kaplan- und Pfarrerstellen seiner Leidenschaft für die Literatur treu und wurde 1899 in Würzburg mit der Arbeit Jöseph von Görres als Litterarhistoriker zum Dr. phil. promoviert.67 Seinen Zeitgenossen war der Vielschreiber Wibbelt vor allem durch seine Prosatexte und Gedichte in westfälischer Mundart bekannt und wird daher von der Forschung gerne neben den ungleich berühmteren, in niederdeutscher Sprache schreibenden Fritz Reuter gestellt. Die seine Werke auszeichnende vaterländisch-nationalistische Grundhaltung speiste sich vor allem aus einer von ihm selbst durchaus nicht als rückständig verstandenen Heimatverbundenheit und seinem Interesse am (regionalen) bäuerlichen Milieu. Völkischen Tendenzen, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg aus einer Umdeutung patriotisch-nationalistischer Ideologiebestände in der Literatur Verbreitung fanden, stand Wibbelt ebenso kritisch

|| Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur. Hg. von Katrin Keller und HansDieter Schmid. Leipzig 1995, S. 62–77. 67 Einen soliden Überblick bietet der Artikel von Peter Heßelmann: Augustin Wibbelt. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 12. Berlin, Boston 2011, S. 362f.

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gegenüber wie dem Nationalsozialismus.68 Den Ersten Weltkrieg dagegen hat er wie zahlreiche andere katholische Theologen und Dichter künstlerisch unterstützt, wie besonders seine um die Jahreswende 1914/1915 entstandene, wohl berühmteste Sammlung mundartlicher Gedichte De graute Tied. Kriegs-Gedichte in Münsterländer Mundart (1915) dokumentiert.69 Die Gedichte dieser Sammlung sind zum größten Teil gute neun Monate vor den Terzinen auf Fra Angelico entstanden und noch sichtlich von der Vorstellung geprägt, dass mit dem Krieg eine Reinigung der im Verfall begriffenen Werte und Sitten möglich sein könnte. Die agitatorische Verve der lyrischen Kriegstreiberei ist in den 13 Terzinen zu Fra Angelico einem zurückhaltenden Ton gewichen. Der Künstler Fra Angelico wird daher auch nicht zum Zwecke kulturellen oder politisch-ideologischen Superioritätsdenkens ‚eingedeutscht’, wie es im Falle von Michelangelo-Gedichten zu beobachten ist. Im Mittelpunkt des Gedichts stehen neben der künstlerischen Überhöhung der Werke des Florentinischen Malermönchs vielmehr die Themen Tod, Leiden und die Vergänglichkeit menschlichen Handelns, deren Überwindung durch die Anschauung „engelsgleicher“ Werke das Gedicht suggeriert und die freilich ex negativo einen deutlichen Bezug zur Kriegsrealität herstellen:

|| 68 Vgl. Rainer Schepper: Das Werk Augustin Wibbelts in Literaturkritik, Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung. Ein Beitrag zur Rezeptionsforschung. In: Jahrbuch Augustin-Wibbelt-Gesellschaft 1 (1984/85), S. 16–42; Spezial-Studien zu Wibbelt gibt es neben Schepper kaum, im Zusammenhang mit Dialektdichtung und im Kontext der westfälischen Regionalismusforschung taucht Wibbelt immer wieder auf. Zur mundartlichen Lyrik nimmt die alte Studie von Baldus wenigstens eine literarhistorische Einordnung vor, vgl. Alexander Baldus: Augustin Wibbelt. Sein Leben und sein Werk. Leipzig 1921, bes. S. 49–77; zum 100. Geburtstag erschien von Siegbert Pohl eine kleine Studie, die vor allem auch Wibbelts (negatives) Verhältnis zu den Avantgarden (Expressionismus und Symbolismus) beleuchtete, vgl. Siegbert Pohl: Augustin Wibbelt als niederdeutscher Lyriker. Köln, Graz 1961. 69 Grundlegend zum Thema Katholizismus und Erster Weltkrieg immer noch Wilhelm Spael: Das katholische Deutschland im 20. Jahrhundert. Seine Pionier- und Krisenzeiten 1890–1945. Würzburg 1964, zur katholischen Dichtung bes. S. 282–287; theologische Positionen am Beispiel von Militärpfarrern untersucht Roland Haidl: Ausbruch aus dem Ghetto? Katholizismus im deutschen Heer 1914–1918. In: „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann. Göttingen 2000 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 162), S. 263–271; für den Bereich der katholischen Moraltheologie vgl. den fundierten Beitrag von Leugers, der die von katholischen Theologen im Krieg vertretene Vorstellung schon in moraltheologischen Texten um 1900 festmacht und dafür Protokolle der Katholikentage und bischöfliche Hirtenbriefe ausgewertet hat: August-Hermann Leugers: Einstellungen zum Krieg und Frieden im deutschen Katholizismus vor 1914. In: Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Hg. von Jost Dülfer und Karl Holl. Göttingen 1986, S. 56–73.

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Ich führe dich in eine arme Zelle, Der heil’gen Freude und des Friedens Port. Nun tritt voll Ehrfurcht über diese Schwelle!

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Siehst du den schlichten Mönch am Fenster dort, In Schauen und in Sinnen ganz verloren? Es ruht in seiner Hand ein reicher Hort. Denn Gott hat ihn begnadet und erkoren Zum hohen Werke frommer Künstlerschaft: Was unter seinem Pinsel wird geboren,

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Durchhaucht der Geist mit seiner Gnadenkraft; So lebt sein Werk als heil’ge Himmelsgabe Und nimmt die Seele still in seine Haft. Den fernen Zeiten eine frische Labe, Mit vollen Händen bietet er sie an: So reich ist dieser Mönch, der ohne Habe, Daß er die ganze Welt beschenken kann. O Fra Beato, fromme Künstlerseele, Der Engel Bruder, heil’ger Gottesmann!

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Der Pinsel klingt wie Nachtigallenseele, Du hast im Leben mehr als wir geschaut Mit Herz und Augen, rein und ohne Fehle. Die Wonneseligkeit der Gottesbraut, Der Heilandsliebe schmerzensvolles Schweigen, Du sahst der Engel lichte Jubelreigen,

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Du sahst im sel’gen Land das Wiederseh’n: Zum Frieden und zur Freude kannst du leiten, Drum wollen wir in deine Schule geh’n. In diesen dunklen, trauervollen Zeiten, Ob sie schon lange ruhet, deine Hand, Noch immer kann sie süßen Trost bereiten. Du zeigst die Wege in das Vaterland: Wer dorthin richtet all sein höchstes Hoffen, Dorthin sein Herz in Liebe hält gewandt,

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Und wird er auch von Leiden schwer getroffen, Ihm ist der Erde Leid und Freud wie Tand – Was will die Welt, wenn uns der Himmel offen! MEHR b. Cleve, im Oktober 191570

Die von Wibbelt gewählten Epitheta und Charakterisierungen der Werke Fra Angelicos als „heil’ge Himmelsgabe“ (V. 11) und des Künstlers als „fromme Künstlerseele“ (V. 17) oder „der Engel Bruder, heil’ger Gottesmann“ (V. 18) bedienen sich eines Künstlerbildes, das vom Kontrast materieller Besitzlosigkeit und geistig-künstlerischem Reichtum („arme Zelle“, V. 1; „schlichter Mönch“, V. 4) gekennzeichnet ist und vor allem von der Frührenaissance-Begeisterung der deutschen Romantiker und Nazarener geprägt wurde. Bereits Vasari bezeichnet in Le Vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori (1555) den als Guido di Pietro geborenen Künstler als Fra Giovanni Angelico und begründete damit den in verschiedenen Namens-Variationen (Il Beato Angelico, Fra Angelico) immer wieder zum Ausdruck gebrachte Verbindung von Malermönch und Engelsgleichheit.71 In der Perspektive der zeitgenössischen Gegenwart reflektieren Wibbelts Terzinen aber mit ihrer deutlichen Profilierung der Trostfunktion von Bildender Kunst angesichts massenhaften Sterbens und Leidens auch die in zahlreichen anderen publizistischen Zeugnissen sich bemerkbar machende Ernüchterung einer spätestens Mitte 1915 gedämpften Kriegseuphorie, die sowohl einer durch den Gaskrieg veränderten Wahrnehmung und Beurteilung des Krieges als auch den Fronterfahrungen der Soldaten geschuldet ist.72 Neben diesem Gegenwartsbezug, auf den noch zurückzukommen ist, lassen sich die Verse aber auch von ihrer Erinnerungs- und Gedächtnisfunktion her zu deuten. Denn das Entstehungsjahr der Terzinen, 1915, markiert den 460. Todestag des Künstlers, der am 18. Februar 1455 in Rom gestorben war. Die von dem Dominikanerpater Innocenz Strunk publizierte Studie zu diesem „eigenartigen

|| 70 Augustin Wibbelt: [Ich führe dich in eine arme Zelle]. In: P. Innocenz M. Strunk O.P.: Fra Angelico aus dem Dominikanerorden. Mit farbigem Titelbild und 133 Abbildungen. Mönchengladbach 1916 (Monographien zur Geschichte der christlichen Kunst, Bd. IV), S. VII. 71 An Werkkatalogen und Überblicksforschung zu Fra Angelico fehlt es nicht. Die wichtigsten Lebensstationen und für die Rezeption relevanten Quellen bietet Diane Cole Ahl: Fra Angelico. Aus dem Englischen übersetzt von Uli Nickel und Iris Nölle-Hornkamp. Berlin 2008, hier die Einleitung: S. 7–11; grundlegend: Venturino Alce: Angelicus Pictor. Vita, opere e teologia del Beato Angelico. Bologna 1993 (Collana divinitus, 1); zur Verehrung und Rezeption Fra Angelicos bei den Nazarenern, vgl. Frank B. Mitchell: German Romantic Painting Redefined: Nazarene Tradition and the Narratives of Romanticism. Aldershot 2001, bes. S. 11–14, 151–159. 72 Vgl. zum historischen Kontext Leonhard: Die Büchse der Pandora, 2014, S. 294–300 und 326–347.

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und liebenswürdigen“73 Künstler, dem die Verse Wibbelts vorangestellt sind, knüpft explizit an die frühen Forschungen zu Fra Angelico des ebenfalls dem Dominikanerorden angehörenden Vincenzo Marchese (Memorie dei piu insigni pittori, scultori e architetti Domenicani con aggiunta di alcuni scritti intorno le belle arti, Florenz 1845) an und nimmt das 700-jährige Bestehens des Ordens seit 1216 zum Anlass, seinen vielleicht bedeutendsten Künstler zu würdigen. Kunsthistorische Forschung und lyrische Künstler- und Kunstverehrung gehen in diesem Fall also eine publizistische Symbiose ein. Allerdings blendet Wibbelt in seinen Terzinen kunst- und kulturhistorische Problemhorizonte, die in der auf das Gedicht folgenden Studie von Strunk behandelt werden, aus. Die von der Reimbindung her strenge Form der aus dem Romanischen kommenden Terzinen mit ihrem Mittelvers, der jeweils den Reim für die äußeren Verse der folgenden Strophe vorgibt, löst Wibbelt nicht wie üblich mit einem überhängenden vierten Vers in der letzten Terzine auf, sondern greift für den letzten Mittelvers (V. 38) auf den Reim der äußeren Verse der vorletzten Strophe zurück. Sowohl die formale als auch von der Vergänglichkeitsthematik her die inhaltliche intertextuelle Rückbindung an die Terzinendichtung Hofmannsthals aus der Mitte der 1890er Jahre (Terzinen über Vergänglichkeit) dürfte Wibbelt dabei ebenso bewusst gewesen sein, wie die Strophenform an sich als Reminiszenz an die italienische Herkunft des bedichteten Künstlers zu deuten ist. Gleich die erste Terzine öffnet mit den allegorisch vieldeutigen Begriffen „Port“ (V. 2) und „Schwelle“ (V. 3) Assoziationsbereiche, die neben der konkreten, vom Sprecher-Ich inszenierten Situation des Eintritts in die Mönchzelle auch auf Tod und Vergänglichkeit verweisen und damit der vom Sprecher betriebenen Sakralisierung der Kunst Fra Angelicos (Strophe 2–6) einen konkreten zeitgeschichtlichen Bezugspunkt dieser Kunstbetrachtung zuweisen, nämlich den Ersten Weltkrieg. Kontrastiv zur bedrückenden, nur andeutungshaft mit „dunklen, trauervollen Zeiten“ (V. 31) umschriebenen Alltagsrealität der Weltkriegsjahre wird Fra Angelicos Kunst als Inbegriff paradiesischer Schönheit gepriesen. Das lyrische Ich erscheint dabei als Cicerone (V. 1), der dem Rezipienten und Kunstenthusiasten die Werke des Künstlers mehr erläutert und deutet als sie beschreibt. Vor allem aber wird Fra Angelico oxymoronisch als Reicher ohne materiellen Besitz, als von Gott mit einer Gabe beschenkter Malermönch charakterisiert und damit eine Koppelung von Frömmigkeit und Künstlertum, von Glaubensstärke und ästhetischer Qualität propagiert. Der Künstler wird nicht

|| 73 P. Innocenz M. Strunk O.P.: Fra Angelico aus dem Dominikanerorden. Mit farbigem Titelbild und 133 Abbildungen. Mönchengladbach 1916 (Monographien zur Geschichte der christlichen Kunst, Bd. IV), S. VIII.

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in erster Linie als Schöpfer, wie etwa in Georges Gedicht Ein Angelico, gesehen, sondern als Seliger und Seher (Strophe 3–6). Das zeigt sich besonders deutlich ab der siebten Terzine, in der der Sprecher die Perspektive wechselt und sich in direkter Apostrophe an den Künstler selbst wendet. Er spricht aber nicht dessen Schaffensprozess an, sondern ruft schlagwortartig mit der Nennung ikonographischer Titel einen Katalog berühmter Tafelbilder Fra Angelicos auf (V. 22–27). Deren Genese offenbar auf die unmittelbare ‚Anschauung‘ der Heilsgeschichte durch den Künstler zurückgeht, wie die vier Mal wiederholte anaphorische Reihung „Du sahst“ (V. 25–28) unterstreicht. Die nicht beschreibende, sondern mit Kurznennungen auskommende Evokation einzelner Werke dürfte für den zeitgenössischen Rezipienten dennoch leicht aufzuschlüsseln gewesen sein. Der Sprecher der Terzinen verweist tatsächlich nur auf ausgesprochen berühmte Werke Fra Angelicos. In der „Wonneseligkeit der Gottesbraut“ (V. 22) und der „Engel lichte Jubelreigen“ (V. 27) werden die schon für Georges Gedicht zentrale Marienkrönung (1427/29) im Louvre (Abb. 51), in der Umschreibung des Schmerzensmannes (V. 23) die als Predella des Altarbildes von San Marco in Florenz in Auftrag gegebene, heute in der Münchner Alten Pinakothek befindliche Grablegung Christi (1438/40) erkennbar (Abb. 69).

Abb. 69: Fra Angelico: Grablegung Christi (1438/1440)

Dagegen verweisen die Verse der neunten Terzine auf die berühmte Verkündigung (1425/27) im Prado (V. 25) und auf die heute im Museo di San Marco aufbewahrte Kreuzabnahme (1432) des Altarbildes von Santa Trinità in Florenz (V. 26). Dieser Werkkatalog, die lyrische Imagination und Vergegenwärtigung der bedeutendsten und bekanntesten biblischen Darstellungen Fra Angelicos hat zum einen das Ziel, den Künstler als Maler des Seelischen zu überhöhen. Zum anderen werden die Werke und ihre herausragende künstlerische Qualität als Garanten einer im besten Sinne glaubhaften Heilsgeschichte und eines nie

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zurückgenommenen Heilsversprechen angesichts von Leiden und Tod charakterisiert. Wibbelts Appell, bei Fra Angelico in die „Schule zu geh’n“ (V. 30), stellt den Zusammenhang mit der Kriegsgegenwart von 1915 her und leitet damit zum eigentlichen Kern dieser Kunstbetrachtung: In „dunklen, trauervollen Zeiten“ (V. 31) sollen Fra Angelicos Tafelbilder mit ihrer Grazie, Eleganz und paradiesischen Schönheit Trost spenden. Wenn auch der Krieg explizit an keiner Stelle erwähnt wird, so legen die den Werken zugeschriebenen Wirkungen von „Freude und Friede“ zu Beginn und am Ende des Gedichts (V. 2 und 29) auch eben das schmerzlich empfundene Fehlen von „Frieden und Freude“ nahe. Die Verse formulieren mit ihrer Reflexion über Wirkungsmöglichkeiten von Kunstbetrachtung auch ihr eigenes Ziel und Bestreben: „Zum Frieden und zur Freude kannst du leiten“ (V. 29). Wie leicht ersichtlich wird, handelt es sich bei Wibbelts Terzinen gewiss nicht um propagandistische Kriegslyrik wie bei Eberhard König oder Walter Flex. Die Anspielungen auf die Kriegsrealität bleiben aber vage und der Krieg als solcher wird auch nicht verurteilt, sondern nur im Kontext einer allgemeinen Klage über irdisches Leid abrufbar, aus dem die himmlische Kunst Fra Angelicos einen Ausweg weisen soll. Gleichwohl ist die in der letzten Terzine formulierte Abkehr von der Welt und himmlische Trostperspektive auch im Kontext des Heldentodes zu deuten, auf den die hier gebrauchte Bildlichkeit anspielt, insofern die zwar allgemein gehaltene, an die Bildvorlagen Fra Angelicos anknüpfende Thematik der Unvermeidbarkeit des Leidens und Todes doch bewusst auf die zeitgenössische Rhetorik des unvermeidlichen Krieges und des heldenhaften Todes für das Vaterland anspielt.74 Neben deutschen Denkmälern und italienischer Quattrocento-Malerei spielt auch die ‚deutsche‘ Gotik für das Bildgedicht im Ersten Weltkrieg eine bedeutende Rolle. Spiegelte und reflektierte der Expressionist Ernst Stadler in seinem Gedicht Gratia divinae pietatis adesto savinae de petra dura per quam sum facta figura (alte Inschrift am Straßburger Münster) noch vor dem Ersten Weltkrieg die eigene Werkbiographie mit Blick auf ihre regionalistischen Schwerpunkte in seinem Gedicht zu gotischen Portalfiguren des Straßburger Münsters und konnte so auch im größeren Kontext des unter anderem von Wilhelm Worringer ausgelösten Gotik-Interesses verortet werden, so verweisen Gedichte über gotische

|| 74 Vgl. Wolfgang J. Mommsen: Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914. In: Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890–1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Hg. von Jost Dülfer und Karl Holl. Göttingen 1986, S. 194–224.

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Skulpturen von Ernst Bertram und Heinrich Vierordt, die kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren entstanden sind, auf die Folgen der von Worringer vertretenen „Anbindung der Gotik an die germanische Rasse“, die einer „nationalistischen Interpretation des Mittelalters Vorschub [leistete]“.75 In der bürgerlich-konservativen Intelligenz, die mit Ernst Troeltsch, Hans Preuß oder auf kunsthistorischer Seite Wilhelm Pinder den Gotik- und Mittelalter-Diskurs der Vorkriegs- und Kriegsjahre neben Worringer bestimmte, wurde die Rückbesinnung auf die deutsche Gotik auch in bewusster Abgrenzung und Ablehnung kultureller Einflüsse anderer europäischer Nationen und zur Hervorhebung einer Sonderstellung der deutschen Kultur betrieben.76 Zahlreiche nationalistisch ausgerichtete Dichter kümmern sich wenig um ein historisches Gotik-Verständnis und verteidigen noch wie der Kunstkritiker Robert Breuer die Beschießung der Reimser Kathedrale am 19. September 1914 gegen die Verurteilung des Angriffes von französischer Seite als Akt der Barbarei mit dem Hinweis darauf, dass die Deutschen ohnehin die „Urgotiker“ seien.77 Auf den nicht nur von französischer Seite, sondern auf internationaler Ebene von Vertretern zahlreicher Nationen formulierten Vorwurf der kulturellen Barbarei reagieren Autoren wie Friedrich Meinecke, Julius Bab und Ernst Jünger, aber auch Alfred Döblin, Friedrich Gundolf, Thomas Mann und Stefan Zweig, indem sie den Franzosen „Heimtücke und Heuchelei“78 vorwerfen und damit die Schuld an der Zerstörung an die Geschädigten selbst zurückweisen. Thomas Mann betont zudem, dass in der Reimser Kathedrale zwar eine (christliche) Kulturleistung sichtbar werde, diese aber nicht als „Wahrzeichen der Zivilisation des jakobinischen Frankreichs“ gelten könne.79 Diese Vorstellung einer kulturellen Überlegenheit treibt der vielfach schon erwähnte völkische Dichter Heinrich Vierordt in seinem wohl um 1920 || 75 Gerhard Renda: „Nun schauen wir auch anders an“. Studien zur Gotikrezeption im deutschen Expressionismus. Diss. masch. Erlangen-Nürnberg 1990, S. 42. 76 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang folgende Werke: Hans Preuß: Luther und der gotische Mensch. Leipzig, Erlangen 1919; Wilhelm Pinder: Die deutsche Plastik des 14. Jahrhunderts. München 1925; als Einstieg mit breitem Themenspektrum zur Rolle der intellektuellen Elite vgl. Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996. 77 Vgl. hieru Renda: Studien zur Gotikrezeption, 1990, S. 134f. 78 Michael Großheim: Schöpferische Zerstörung? Über ein Philosophem deutscher Intellektueller im Kulturkrieg. Dargestellt am Fall der Kathedrale von Reims. In: Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation? Intellektuelle Legitimationsversuche des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich (1914–1918). Hg. von Olivier Agard und Barbara Beßlich. Berlin 2018 (Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 19), S. 53–77, hier S. 63. 79 Ebd., S. 62.

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entstandenen Gedicht Domfiguren-Nachtgesang auf die Spitze, indem er die von den Deutschen im Krieg zerstörten Skulpturen der Reimser Kathedrale zwar in ihrer Fragmentierung durch Kriegsschäden beschreibt, sie dann aber ab der vierten Strophe selbst sprechen und die Franzosen angesichts der „Trümmerbrandmale“ (V. 34) in Deutschland als eigentliche „Barbaren“ verurteilen lässt. Die Szenerie und das nächtliche Sprechen der Skulpturen werden dabei in den noch nicht zum Ende gekommenen Ersten Weltkrieg verlegt. Kulturelle, steingewordene künstlerische Leistungen werden gegeneinander abgewogen und bewertet. Vierordt wirft 1920 damit die Kriegsschuldfrage und die Diskussion um Kriegsverbrechen neu auf. Die kriegsbeschädigte Reimser Kathedrale und ihre gotischen Skulpturen werden somit paradoxerweise nicht zum Sinnbild der Zerstörung französischer, sondern deutscher Kulturgüter. Vierordts Gedicht ist ein später Reflex der Instrumentalisierung einer vermeintlich deutschen, urwüchsigen Gotik und verdeutlicht noch einmal die Brauchbarkeit und Langlebigkeit dieses Denk-Konzepts. Einige Strophen aus dem Gedicht mögen genügen, um diese Art der Instrumentalisierung gotischer Skulpturen zu veranschaulichen: 1

Zu Reims an der Domfassade Da dunkeln viel Heil’ge von Stein; Dem einen mangelt die Schulter, Dem andern Arm oder Bein.

[…]

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15

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In banger Geschützfeuerpause Summt dumpf das Münster entlang Der Kathedralfiguren Gespenstischer Mitternachtsgesang: „Was rauscht wie fernes Gedonner Ein europäischer Chor Zu unserm vielhundertjähr’gen Steinfußgesellen empor?“ Das schwirrt so von „deutschen Barbaren“, Von „preußischer Hunnenkultur“ – Da möchten wir Heilige selber Mitsprechen ein Wörtlein nur.

[…] 25

Franzosen hütet die Zungen, Obwohl ihr uns Landsleute seid!

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Wir kennen euch „Tigeraffen“ Schon lange vor Voltaires Zeit. […]

35

Ihr seid die Barbaren, die wahren, Die Seelen voll Teufelsgehalts: Des zeugen die Trümmerbrandmale An der Mosel, am Rhein, in der Pfalz.“80

Auch in einem unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Gedicht Ernst Bertrams ist es nicht zufällig eine gotische Skulptur, mittels derer sich Kriegserwartung, End- und Wendezeitvorstellungen Ausdruck verschaffen. Die von Bertram bedichtete Sibylle im Dom zu Bamberg (1913) wird auch als Hl. Anna oder Hl. Elisabeth gedeutet und ist neben der Marienskulptur und dem berühmten lachenden Bamberger Engel die weniger berühmte Figur am Pfeiler der Bamberger Ostchorschranke:

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Leidvoll verstümmelt, übergroße gereckt Trägt dich der graue Pfeiler grau hinauf. Hat dich die Klage deines Volks geweckt? Wie bist du müde. Müd und zauberalt. Aber Gewalt Reißt dich riesig herauf. Schweigen erbraust Ehern um dich. Du schaust. Du leidvoll Ahnende, urgraue Norne Du unsres Volkes, trankst am bösen Borne Das Wissen, das versteinert. Zu vergehen Sehnst du dich trauernd. Aber du mußt sehen. Sehen und warten. Das Jahrtausend kreißt: Norne, du weißt. Rede, rede! Reiße den ehernen Flor! Wird Herbst, wird Öde? Wende steht bevor. Ein ganzes Land harrt atmend vor dem Tor. Was sieht dein groß verstümmelt Angesicht? Dein Auge starrt wie ein flackernd Licht. Dein Mund – du höhnst uns? Still. Sie ist entrückt. Ihr Mantel rauschte. Hört. Sie spricht. Sie spricht.

|| 80 Heinrich Vierordt: Grotesken. Heidelberg 1926, S. 97f.

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Sie schweigt. Sie sieht ins Graue. Sie erblickt Im Feuer schon das Letzte: das Gericht.81

Die Beschreibung des Zustandes und der stilistischen Eigenart der gotischen Skulptur sowie ihre zeitgenössische Anbringung am Pfeiler eröffnen das Gedicht. Indem die Skulptur als „urgraue Norne [.] unsres Volkes“ (V: 10) apostrophiert wird, stellt Bertram die kulturideologische Relevanz der deutschen Gotik heraus und vergegenwärtigt das Kunstwerk der Vergangenheit im Geist zeitgenössischer Gotikdeutungen.82 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs entfaltet das Gedicht die Vision einer bevorstehenden Wende (V. 13: „Das Jahrtausend kreißt“), der „ein ganzes Land harrt“ (V. 17), in der verbreitete Vorstellungen eines aus kultureller Überlegenheit begründeten und herbeigesehnten Krieges, der als Reinigung antizipiert wird.83 Dieser Erwartung einer bevorstehende Wende, die mit der ganz anders als bei Wibbelt gemünzten heilsgeschichtlichen Perspektive des (letzten) Gerichts angereichert und überblendet wird (V. 23), ist die Gewissheit – zumindest aber die Hoffnung – eingeschrieben, kulturell als Überlegener aus dem nahen Wandel hervorzugehen. Von der Sprechsituation her richtet sich dieser Wunsch an die gotische Skulptur im Bamberger Dom, die zugleich auch Ausdruck dieser kulturellen Überlegenheit ist und als Garantin zur Behebung der „Klage des Volks“ inszeniert wird. Wie in den Gedichten von Eberhard König, Walter Flex und Augustin Wibbelt findet der Erste Weltkrieg als Vision oder Reprise auch in den Gedichten von Heinrich Vierordt und Ernst Bertram seinen Widerhall. Die bedichteten Kunstwerke der Vergangenheit haben von ihrer Entstehungsgeschichte her nicht unmittelbar etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun. Sie werden historisch aktualisiert und ideologisch instrumentalisiert. Betrachtet werden sie nicht ihrer Form nach oder mit Blick auf produktionsästhetische Problemhorizonte. Vielmehr werden sie zum Mittel der literarischen Teilhabe am Kulturkrieg. Die im Ersten

|| 81 Hier nach der Ausgabe Ernst Bertram: Gedichte und Sprüche. Wiesbaden 1951, S. 23. 82 Vgl. auch grundsätzlich zu Bertrams Umgang mit Geschichte und Kunstwerken Anna Maria Arrighetti: Der Sinn für das Mythische in den Geschichtskonzeptionen von Friedrich Gundolf und Ernst Bertram. In: Nachleben der Antike – Formen ihrer Aneignung. Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Klaus Ley. Hg. von Bettina Bosold-DasGupta, Charlotte Krauß und Christine Mundt-Espín. Berlin 2006 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, 98), S. 443–462, hier S. 455f.; ferner auch Hajo Jappe: Ernst Bertram. Gelehrter, Lehrer und Dichter. Bonn 1969, S. 45–77. 83 Prominent für die Koppelung von kultureller Reinigung und Kriegserwartung ist die 1912 erschienene Schrift von Otto Schmidt-Gibichenfels: Der Krieg als Kulturfaktor, als Schöpfer und Erhalter der Staaten, vgl. dazu Mommsen: Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, 1986, S. 196f.

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Weltkrieg verfassten Texte von König und Flex entfalten dabei das stärkste agitatorische Potential.

1.2 Ideologische Indienstnahme, Führervision und Warnbild: Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel in der Deutung der Dichter (Rudolf Herzog, Paul Steinmüller, Alexander von Bernus, Heinrich Anacker, Paula von Preradović) Als Adolf Hitler auf dem Nürnberger Reichsparteitag im September 1933 aus den Händen des amtierenden Bürgermeisters Willy Liebel einen Druck von Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel (1513) als Geschenk erhielt, war dessen nationalistisch-patriotische und nationalsozialistische Deutungs- und Bewertungsgeschichte, an der neben kunsthistorischen Arbeiten vor allem auch literarische Publikationen einen wesentlichen Anteil hatten, zu einem vorläufigen Ende gekommen: Die bis dahin vorgenommenen Interpretationen und Charakterisierungen vor allem der Ritterfigur als Sinnbild deutscher Wesensart, Stärke und tugendhafter Beständigkeit, als „Symbol unseres Daseins“ (Nietzsche) bildeten das Motiv- und Themenarsenal für zeitgenössische und spätere Neukontextualisierungen aber auch Karikaturen des Stiches und seiner Deutungsgeschichte. Thomas Manns zwischen 1943 und 1947 entstandener Roman Doktor Faustus (1947) markiert in der Perspektive des Untergangs von Nationalsozialismus und Diktatur in der fiktionalen Erzählung gleichsam auch das Ende jener Deutungslinie von Dürers Stich und reflektiert am Beispiel von Ritter, Tod und Teufel nicht mehr Charakteristika deutscher Wesensart, sondern in ironischer Brechung „Wesen und Unwesen des Deutschtums“.84 Bereits während des Krieges formulierte Bruno Frank in seinem 1937 in Amsterdam erschienenen Roman Der Reisepaß eine Revokation des auf Hitler umgeschriebenen Dürerschen Rittermythos’.85 Aufgrund dieser ausgesprochen breiten Rezeptionsgeschichte literarisieren

|| 84 Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962, S. 243. 85 Vgl. Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom „Führer“. Bonn 1993, S. 169ff.; zu Franks heute völlig vergessenem Roman vgl. Reinhold Grimm: Vom sogenannten Widerstand gegen die Völkischen: Ein Nachtrag zum Thema ‚Ritter, Tod und Teufel‘. In: Lawrence Baron u.a.: Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays II. Bern, Frankfurt am Main 1975 (New York University Ottendorfer Series, NF, Bd. 8), S. 73–85.

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Gedichte auf Dürers Meisterstich zwischen 1915 und 1945 nicht nur die bildliche Vorlage, sondern immer auch und in besonderem Maße dessen Deutungsgeschichte. Die Geburtsstadt Dürers, Nürnberg, war für die Nationalsozialisten zugleich der Veranstaltungsort, an dem sie schon vor der Machtübernahme, ab 1933 aber jährlich ihre Reichsparteitage abhielten. Als berühmtester, von der Parteiführung und ihren Kunstideologen verehrter Sohn der Stadt musste der RenaissanceKünstler regelmäßig als Stichwortgeber, Traditions- und Autoritätsspender fungieren, wenn etwa Baldur von Schirach in seinem Gedicht Nürnberg 1927 anlässlich des dortigen Parteitages der NSDAP 1933 konstatiert: Wir stehen staunend in der alten Stadt, die grüßt uns heute wie ein Kind bekränzt. Noch niemals hat so festlich sie und feierlich geglänzt. Dies Heer der Braunen bietet ihr ein Bild der Zeit, die einst aus tiefem Schlaf sie küsst. Aus Wolken lächelt Albrecht Dürer mild dem Manne zu, der morgen Deutschland ist.86

Die schon von zahlreichen Autoren seit dem frühen 19. Jahrhundert betriebene Identifikation des Dürerschen Ritters mit dem tugendhaft-heroischen Deutschen, dem tapferen Kämpfer und furchtlosen Reiter gipfelte vor dem Zweiten Weltkrieg in dem 1937 während der Großen Deutschen Kunstausstellung im Münchner Haus der Kunst gezeigten, wirkungsmächtigen Gemälde Bannerträger (1934/35) des 1880 in Innsbruck geborenen Malers Hubert Lanzinger, der die Identität des Ritters – und damit der genannten Epitheta – mit Hitler selbst visualisierte (Abb. 70). Dürers Ritterfigur aus seinem Meisterstich wird in diesem Gemälde auch für den kunsthistorisch wenig versierten Betrachter deutlich erkennbar zitiert aber auch als Führerfigur isoliert und damit vom Dürerschen Stich emanzipiert und in einen neuen (ideologischen) Funktionszusammenhang gestellt.87 Parallel zu der || 86 Baldur von Schirach: Die Fahne der Verfolgten. Berlin 1936, S. 36. Der Band ist, wie viele andere von Schirach, Hitler gewidmet. 87 Vgl. den zusammenfassenden, maßgeblichen Katalogartikel zu Dürers Stich von Matthias Mende: Der Ritter (Ritter, Tod und Teufel). In: Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk. Bd. 1: Kupferstiche, Eisenradierungen und Kaltnadelblätter. Bearbeitet von Rainer Schoch, Matthias Mende und Anna Scherbaum. München, London, New York 2001, S. 169–173; eine fundierte Darstellung der literarischen Rezeption des Stiches bietet Peter Sprengel: Ritter, Tod und Teufel. Zur Karriere von Dürers Kupferstich in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm. Hg. von Dieter Heimböckel.

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im Sommer 1937 in München eröffneten Ausstellung Entartete Kunst stellte Lanzingers Hitler-Porträt nicht nur den Inbegriff ‚echter‘ deutscher Kunst dar, sondern avancierte auch als einzige von Hitler offiziell genehmigte künstlerische Darstellung seiner Person in historisierendem Gewand zur Inkunabel einer als organisch-natürlich dargestellten Traditionsanknüpfung zwischen Dürer und Hitler über die Jahrhunderte hinweg.88

Abb. 70: Hubert Lanzinger: Der Bannerträger (1934/1935)

Alle im folgenden Kapitel behandelten Gedichte auf Dürers Stich von Rudolf Herzog (1915), Paul Steinmüller (1921), Heinrich Anacker (1934), Alexander von Bernus (1930) und Paula von Preradović (1941) verwenden als Titel jene Bezeichnung, die das Werk erst relativ spät 1778 durch Heinrich Sebastian Hüsgen in dessen Verzeichnis aller Kupfer- und Eisenstiche Dürers erhalten hatte und die nicht vom Künstler selbst stammt. Für die im vorliegenden Zusammenhang relevante Deutungsgeschichte ist dieser Titel allerdings von zentraler Bedeutung, weil er die gedankliche Grundlage der ideologisch und politisch unterschiedlich ausgerichteten Literarisierungen bildet. In den Quellen der Dürer-Zeit ist lediglich der immer wieder auftauchende, wohl auf den Künstler selbst

|| Würzburg 2005, S. 189–210, bes. S. 207f.; im größeren literarhistorischen Kontext geht auch Schoeps auf Lanzinger und Dürers Stich ein, Joachim Schoeps: Literatur im Dritten Reich (193– 1945). 2., überarbeitete und ergänzte Al. Berlin 2000 (Germanistische Lehrbuchsammlung, Bd. 43), S. 124f. 88 Vgl. zu Lanzinger Tobias Ronge: Das Bild des Herrschers in Malerei und Grafik des Nationalsozialismus. Eine Untersuchung zur Ikonografie von Führer- und Funktionärsbildern im Dritten Reich. Münster, Berlin 2010 (Kunstgeschichte, Bd. 89), S. 129–139; Brigitte Schütz: Hitler – Kult – Visualisierung. In: Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930–1945. Eine Ausstellung im Historischen Museum Berlin. Hg. von Hans-Jörg Czech. Dresden 2007, S. 268–283.

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zurückgehende Titel Der Reuter überliefert.89 Die fehlende, eindeutige ikonographische Tradition hat die Rezipienten und Interpreten aller Jahrhunderte vor ein kaum lösbares Problem gestellt. Gleichzeitig hat der Stich aber auch zu teils verstiegenen Deutungen angeregt. Letztlich ist sowohl Joachim Sandrarts früher Versuch, das Blatt vor allem als Tugendallegorie des christlichen Ritters (1675) – was Herman Grimm dann 1875 mit dem Hinweis auf den Miles Christianus aus Erasmus von Rotterdams Enchiridion militis Christiani (1503) präzisierte – als auch Georg Wolfgang Knorrs Höllen-Identifikation (1759) und schließlich Heinrich Sebastian Hüsgens Notname Ritter, Tod und Teufel (1778) aus der Ratlosigkeit geboren, das Verhältnis von Sichtbarem, das Dürer in geradezu naturalistischer Genauigkeit ins Bild brachte, und allegorisch-symbolisch Unsichtbarem sinnvoll zu deuten.90 Gerade das Uneindeutige der Darstellung wurde im 18. Jahrhundert als dunkel und verworren apostrophiert und der Stich daher meist negativ gedeutet. Das änderte sich erst im frühen 19. Jahrhundert, als man sich wieder auf Hüsgens Notnamen besann. Friedrich de la Motte Fouqués romantische Erzählung Sintram und seine beiden Gefährten. Eine nordische Erzählung nach Albrecht Dürer (1814) markiert mit der positiven Rezeption von Hüsgens Titel Ritter, Tod und Teufel und seiner Heroisierung der trotz Tod und Teufel zum Sieg bestimmten Ritterfigur eine Wende in der Bewertungsgeschichte des Dürerschen Stiches. Die Mittelalterbegeisterung und der Dürer-Kult der Romantik – man denke an die Feierlichkeiten zum 300. Todestag von Dürer 1828 in Nürnberg – beförderten insgesamt das Interesse an Dürers Werken und bahnten auch den von christlichen Tugend- und Temperament-Vorstellungen geprägten Interpretationen des Stiches den Weg.91

|| 89 Vgl. Mende: Der Ritter, 2001, S. 169f.; eine gute Zusammenfassung der Fakten und älteren Forschungs- und Deutungsgeschichte bietet immer noch Heinrich Theissing: Dürer Ritter, Tod und Teufel. Sinnbild und Bildsinn. Berlin 1978, hier S. 9. 90 Der später als SS-Mann identifizierte Hans Ernst Schneider, legte 1962 als Hans Schwerte eine Arbeit vor, in der Dürers Stich prominent im Zusammenhang mit dem Faust-Stoff behandelt wird und auf die schon zuvor hingewiesen wurde. Trotz aller ideologischen Vorbehalte gegen Schneider und seine Biographie ist die Studie immer noch lesenswert, vgl. Schwerte: Faust und das Faustische, S. 251–261; ferner auch Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 192ff. 91 Grundlegend zur Dürer-Rezeption in der Literatur mit Quellen-Ausschnitten und Kommentaren: Reinhard Heinritz (Hg.): Dürer und die Literatur. Bilder – Texte – Kommentare. Bamberg 2001 (Fußnoten zur Literatur, H. 49), bes. zum späten 18. Jahrhundert bis zum Realismus, S. 44– 112; ferner auch Schwerte: Faust und das Faustische, 1962, S. 256–260; zu Fouqué vgl. Jörg Petzel: Ritter und Bürger oder einige Gedanken zur Dürer-Rezeption von Fouqué und E.T.A. Hoffmann. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 9 (2001), S. 81–90; hervorragend in Auswahl und Kommentar auch der Band von Heinz Lüdeke, Susanne Heiland (Hg.): Dürer und die Nachwelt. Urkunden, Briefe, Dichtungen und wissenschaftliche Betrachtungen aus vier Jahrhunderten.

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Hans Schwerte hat in seiner Studie zum Faustischen materialreich und überzeugend die Bedeutung dieser gewandelten Dürer-Bewertung für die weitere Rezeption und ideologische Indienstnahme von Ritter, Tod und Teufel nachgewiesen und vor allem die auf Carl Gustav Carus und seine Briefe über Göthe’s Faust (1835) zurückgehende Verknüpfung des tugendhaft-christlichen Ritters mit dem Faustischen als den zwei herausragenden deutschen Wesensarten betont.92 Alle im Folgenden behandelten Gedichte zu Dürers Stich bedienen sich der kunsthistorischen und literarischen Debatte und Deutungstradition, die jedoch für unterschiedliche Aussageabsichten genutzt wird. Sie rechnen auch dezidiert mit einem zeitgenössischen Rezipienten, der die Deutungsgeschichte des Stiches kannte. Sie rekapitulieren daher auch explizit oder implizit Schlüsselbegriffe wie Volkstum und Heroismus, um die die populären Deutungen von Dürers Stich kreisen. In kriegsaffirmativer Absicht findet Dürers Stich als Identifikations- und Schicksalsbild von deutscher Geschichte und Größe, im wörtlichen und visuellen Sinne als kulturelle ‚Aufrüstung‘ bei Rudolf Herzog Verwendung. Als stählerne Führer-Vision, die ihre Erfüllung in Hitler erfährt, fungiert Ritter, Tod und Teufel bei Paul Steinmüller und Heinrich Anacker. Dagegen greifen Alexander von Bernus und Paula von Preradović diese Zuschreibungen zwar auf, entwickeln aber von der dem Stich immer wieder attestierten Versinnbildlichung deutscher Wesensart eine allgemein-existentielle (von Bernus) und gegen den Nationalsozialismus gerichtete ideologiekritische Literarisierung (von Preradović) von Dürers Werk. Allen genannten Gedichten ist die Vorstellung vom ‚großen Dürer‘ inhärent. Anders als bei den in Kapitel II behandelten Dürer-Gedichten wird diese Größe aber nicht mehr bedichtet, sondern vorausgesetzt. Die noch in den Gedichten der Gründerzeit und des späten 19. Jahrhunderts gefeierte Genialität und Größe des Künstlers wie auch der mit ihm verbundene Heroismus kommen in den genannten Gedichten nicht mehr vor. Epitheta wie Beständigkeit, Größe, Tugend und Stärke verlagern sich auf eine vom Künstler geschaffene Figur, den Ritter, und damit auf das Werk (Abb. 71).

Die Apostrophierung des Dürerschen Ritters als „Sinnbild eines nationalen Tatwillens“93, wie es sich im späten 19. Jahrhundert in Dürer-Studien von Moritz Thausing oder Herman Grimm herausgebildet hatte, wird für den von der

|| Berlin 1955 (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie der Künste), hier bes. auch die Quellen zur Feier von 1828: S. 185–213, Kommentar S. 382–396. 92 Vgl. Schwerte: Faust und das Faustische, 1962, S. 256ff. 93 Schwerte: Faust und das Faustische, 1962, S. 265.

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Forschung und Kritik oft geschmähten, von den Zeitgenossen aber millionenfach gelesenen, aus dem Rheinland stammenden Erfolgsschriftsteller Rudolf Herzog zur maßgeblichen Formel seiner Dürer-Dichtung, dessen Figurenkonstellation er im Horizont des Ersten Weltkrieges interpretiert und kriegsaffirmativ instrumentalisiert.94

Abb. 71: Albrecht Dürer: Der Reiter/Ritter, Tod und Teufel (1513)

Seine zehn Strophen mit ihren kreuzgereimten, im Wechsel jambische Vier- und Dreiheber aufweisenden Versen stehen in der Tradition älterer Reiterlieder etwa von Körner oder Uhland aus der Zeit der Napoleonischen Befreiungskriege und stellen damit schon den Zusammenhang zwischen Dürerschem Reiter und dem Thema Krieg her.95 Das Gedicht zitiert in der Überschrift den von Hüsgen eingeführten Titel Ritter, Tod und Teufel und steht an prominenter Stelle als Eröffnung von Herzogs im zweiten Kriegsjahr 1915 mit gleich lautendem Obertitel erschienener Gedichtsammlung Kriegsgedichte: Stumm kauern im zerstampften Feld Die dunklen Schicksalsmächte… Drei Reiter reiten durch die Welt, Ich sah sie manche Nächte.

|| 94 Vgl. auch Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 206f. 95 Vgl. ebd.

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Der eine trabt in blanker Wehr, Hoch das Visier geschlagen. Nichts als das Schlachtschwert kennt er mehr, Kein Fürchten und kein Fragen. Von Bauernkraft das Blut ihm schwillt, Er trägt nicht Flaus noch Flitter. Hau um dich, Michel! lacht’s vom Schild Er reitet wie ein Ritter.

Die andern drängen dicht heran Und haschen nach dem Zügel. 15 Der eine hängt, ein bleicher Mann, Mit rotem Blick im Bügel.

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Sein welsches Wams ist blutgetränkt, Sein Roß zermürbt vom Ritte; Doch wenn den Gaul er abseits lenkt, Stößt vorwärts ihn der Dritte. Der bleckt die Zähne breit zum Fluch In glatter Teufelsfratze Und trägt ein englisch Andachtsbuch In der gekrallten Tatze.

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Ein klirren ist von Pferd zu Pferd, Ein purpurn Blutgeträufel… Es hallt des Ritters wuchtend Schwert Vom Sporn sich Tod und Teufel. Und steigt aus stillem Morgenrot Taufrisch des Tages Seele, Dann greift der Teufel nach dem Tod Und würgt ihn an der Kehle. Der Ritter lenkt des Rosses Bug Hinein ins güldne Blinken, Als könnt’ er nicht genug, genug Von Gottes Sonne trinken. Dies trink’ ich, murmelt er ins Feld, Dem kommenden Geschlechte – –

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Und schlägt sich schweigend durch die Welt Und schweigend – durch die Nächte.96

Herzog legt eine Doppelperspektive an: Einerseits beschreibt er sehr genau die Figuren Ritter (Strophe 2–3), Tod (Strophe 4–5) und Teufel (Strophe 6) des Stiches, andererseits scheint die Übernahme jener mit dem Ritter verbundenen Tugenden wie Tapferkeit, Kampfbereitschaft und Siegeswillen in die Gegenwart von 1915 das zentrale Anliegen des Textes zu sein. So nimmt das Gedicht auch erst ab dem dritten Vers der ersten Strophe direkten Bezug zu Dürers Stich, in dem die drei Reiter genannt werden, die von einem offenbar im kriegerischen Felde agierenden lyrischen Ich in der Nacht gesehen werden. Dagegen bieten die ersten beiden Verse eine allgemeine, unheimlich und bedrohlich anmutende Szenerie, die zwar mit dem Hintergrund des Dürer-Stiches in Zusammenhang gebracht werden kann, vielmehr aber mit dem „zerstampften Feld“ (V. 1) den semantischen Bereich des Krieges und der Kriegsrealität von 1915 öffnet. Das Aktualisierungspotential von Dürers Stich verdeutlicht auch noch die kleine Abbildung links neben der ersten Strophe von Georg Belwe, der für den ganzen Band den Buchschmuck lieferte (Abb. 71a). Vom Vordergrund zum Hintergrund sind dort im Profil Ritter, Tod und Teufel zu sehen, die aber keine Abbildung der Dürerschen Vorlage sind, sondern in der formalen Reduktion zeitgenössische künstlerische Adaptionen nach Dürers Figuren darstellen.

Abb. 71a: Georg Belwe und Rudolf Herzog: Ritter, Tod und Teufel (1915)

Unschwer lässt sich in dem lyrischen Ich der empirische Autor Herzog deutlich wiedererkennen. Herzog war nicht nur ein ausgesprochen vielgelesener Feldberichterstatter, sondern auch als Begleiter verschiedener Generäle an zahlreichen

|| 96 Rudolf Herzog: Ritter Tod und Teufel. Kriegsgedichte von R.H. Leipzig 1915, S. 10f.

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Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg beteiligt und damit Zeitzeuge.97 Hinzudichtungen beim Tod und dem Teufel gehen indessen über die Bildvorlage hinaus. Das Pferd des Todes wird entsprechend der Vorlage als „zermürbt“ (V. 18) beschrieben, die Kleidung, die als „welsches Wams“, das „blutgetränkt“ (V. 17) ist, wird dagegen imaginiert. Ebenso wird die vom Teufel in der linken Hand gehaltene Lanze ersetzt durch ein „englisch Andachtsbuch“ (V. 23). Peter Sprengel sieht in Herzogs literarischen Ergänzungen der Bildvorlage mit ihren Evokationen der Kriegsparteien von 1915 zum einen eine Konzentration auf die Situation an der Westfront im Herbst 1914, „als der britische Entlastungsangriff die wankende französische Front stabilisierte“.98 Zum anderen sei die Reduktion der Feinde auf die zwei Parteien England und Frankreich auch der Stichvorlage geschuldet, da mit Tod und Teufel nur zwei Figuren als Symbole und Identifikationsmöglichkeiten mit den deutschen Kriegsgegnern zur Verfügung standen. In seiner kriegsagitatorischen Anlage intendieren die Figurenzuordnungen eine ‚Verteufelung‘ Englands und Dämonisierung Frankreichs. Noch im Jahr des Kriegsendes greift der seit 1922 in Köln lehrende Philologe, aus dem George-Kreis kommende Ernst Bertram in seinem Nietzsche-Buch von 1918 Nietzsches DürerDeutung auf, stilisiert das Werk aber zum deutschen Kulturgut gegen eine verkommene romanische Zivilisation. 99 Der auf der Bildvorlage von rechts nach links reitende, mit edler Rüstung und einem Pferd mit hochwertigem Zaumzeug ausgestatte Reiter überdeckt die anderen Figuren sowohl optisch als auch in der ihm von den älteren Deutungen vorgeschlagenen symbolischen Lesart als unbeirrter Miles Christianus und deutscher Kämpfer.100 Auf der Grundlage der im Stich angelegten, mit dem Ritter verbundenen christlich konnotierten Fortidudo entwickelt Herzog das Bild des edlen Kämpfers ohne „Fürchten und Fragen“ (V. 8) als Sinnbild des tapferen deutschen Soldaten, dessen Apostrophe als „Michel“ (V. 11) sowohl der deutsch-nationalen

|| 97 Vgl. Dirk Hallenberger: Rudolf Herzog (1869–1943). In: Literatur von nebenan. 1900–1945. 60 Portraits von Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens. Hg. von Bernd Kortländer. Bielefeld 1995, S. 144–151, hier S. 144ff. 98 Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 206; vgl. auch die neuere Studie von Konstanze Fliedl: Vorwörter und Nachbilder. Noch einmal zu Ritter, Tod und Teufel. In: Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern. Hg. von Konstanze Fliedl. Berlin 2013, S. 177–193, bes. S. 188–192. 99 Vgl. Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918; dazu Bernhard Böschenstein: Ernst Bertram. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters und der Beruf der Wissenschaft. Hg. von Bernhard Böschenstein u.a. Berlin, New York 2005, S. 187–193, hier S. 189; ferner auch Jappe: Ernst Bertram, 1969, S. 78–94. 100 Vgl. Theissing: Dürers Ritter, Tod und Teufel, 1978, S. 117–120.

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Interpretation als auch der christlichen Ritter-Allegorie, als St. Michael, Rechnung trägt. Die imperativische Wendung an den Ritter „Hau um dich“ (V. 11) sucht zwar ebenfalls den Anschluss an ältere Deutungsmuster des Stiches als Sinnbild der vita Activa, offenbart aber in ihrer Drastik und vulgärsprachlichen Tönung die kriegstreibende Wirkabsicht von Herzogs Versen.101 Als Zukunftsperspektive entwerfen schließlich die letzten vier Strophen (Strophe 7–10) eine durch die Anspielung auf das Ambrosianische Aurora coelum purpurat nobilitierte „Morgenrot“ (V. 29) und den rituellen, christologisch deutbaren Trank des Ritters „dem kommenden Geschlechte“ (V. 38) in der letzten Strophe eine heilsgeschichtlich aufgeladene Deutung des Ritters, der als Heiland und Retter auftritt und den Krieg als Verteidigung der deutschen Kultur erscheinen lässt.

Nach dem Ersten Weltkrieg verlor Dürers Stich keineswegs an Bedeutung für Dichter, die über die literarische Verarbeitung der Bildvorlage ein volkstümlichdeutsches Erweckungs- und Gemeinschaftsgefühl erzeugen wollten, wie die beiden folgenden Gedichte von Paul Steinmüller und Heinrich Anacker belegen. Wenngleich im Abstand von 13 Jahren in der der Weimarer Republik (1921) und nach der Machtübernahme Hitlers (1934/35) entstanden, stellen sie die schon bei Herzog und den älteren Dürer-Deutungen gängigen Vorstellungen der Reiterfigur als deutscher Ritter und messianischer Heilsbringer in den konkreten ideologischen Zusammenhang einer Führervision und Führererwartung. Sie versuchen, den Ritter und seine positiven Epitheta mit Hitler zur Deckung zu bringen. Trotz der Kriegsniederlage Deutschlands hatte der Kult um Dürers Stich also nicht ausgedient, sondern wurde nach dem Krieg vielmehr als „Trostsymbol“ – und wohl auch als Trotzsymbol –gerade von solchen Autoren verwendet, die der Literarisierung und Deutung des Meisterstichs eine neue Richtung geben und ideologisch auf eine nationalsozialistische Linie einschwenken wollten.102 An den Gedichten von Paul Steinmüller und Heinrich Anacker lässt sich so gewissermaßen das Ende der seit dem frühen 19. Jahrhundert mit Fouqué beginnenden national-patriotischen und konservativen Vereinnahmung und Deutung von Dürers Stich festmachen. Nicht nur nehmen diese das nationalistische Potential der Rezeptionsgeschichte für sich in Anspruch. Sie betreiben zudem in radikaler Weise eine Instrumentalisierung von Dürers Ritterdarstellung als Vorbild || 101 Auf das 1881 erschienene Dürer-Buch des Kunsthistorikers und Bonner Politikers Leopold Kaufmann geht die Interpretation des Stiches als Teil einer Dreiergruppe zur Darstellung der Temperamente zurück, zu der noch Melencolia I (1514) und Der heilige Hieronymus im Gehäus (1514) gehören, vgl. Schwerte: Faust und das Faustische, 1962, S. 265. 102 Vgl. auch Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 208f.

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und Vorausdeutung einer Führerfigur vom Zuschnitt Hitlers und setzen damit völlig neue Akzente. Diese Gedichte befördern einen aus vielfältigen Quellen gespeisten und in Szene gesetzten Hitler-Mythos, der sein Idol als Held und Retter, Befreier und Traumerfüller, als Ausnahmemenschen und Auserwählten feiert.103 Die Dichtungen Steinmüllers und Anackers zu Dürers Stich machen exemplarisch deutlich, wie solche Mythenbildungen immer auch bereits vorhandene Motive und Deutungstraditionen aufgreifen und damit einen bestimmten Erwartungshorizont bedienen, dabei gleichzeitig auch selber erschaffen.104 Paul Steinmüllers Gedicht Der Ritter besteht aus drei Strophen, deren acht kreuzgereimte Verse eine Verdoppelung der Vagantenzeile darstellen und damit die von Rudolf Herzog für sein Dürer-Gedicht gewählte Strophenform erweitern. Ob Steinmüller damit bewusst an Herzogs berühmte Dürer-Strophen anknüpft oder diese kannte, muss dahingestellt bleiben. Über den 1870 in Berlin geborenen und 1940 im Vorpommerschen Holthof bei Grimmen gestorbenen Dichter, der erst nach der Jahrhundertwende bis zu seinem Tod einige Bände mit Prosatexten und Gedichten vorgelegt hat, ist wenig bekannt. Die Forschung hat seinen Werken keine Aufmerksamkeit geschenkt, eine literarhistorische Einordnung der Texte jenseits marginaler Versuche, ihn mit seinen Naturgedichten im Umkreis von Friedrich Lienhards Heimatkunstbewegung zu verorten, ist bisher nicht vorgenommen worden.105 Das nur mit Der Ritter überschriebene Rollengedicht stellt die Dürersche Figur in den Mittelpunkt und setzt den Reiter in Form eines reflektierenden-räsonierenden Visionärs in Szene. In der letzten Strophe kommt Steinmüllers Annäherung an Vorstellungen und Sehnsüchte nach einer politischen Führerfigur jenseits der demokratischen Realität der Weimarer Republik vollständig zur Entfaltung. Das Gedicht eröffnet die Rubrik Ritter trotz Tod und Teufel, die wiederum als erste in Steinmüllers Sammlung Lieder des Kommenden von 1920 angeordnet ist. Die Ausgabe ist bereits ein Jahr später in der 2. Auflage erschienen. Die in der Überschrift des Einzelgedichts fehlenden Bestandteile des Hösgen-Titels – Ritter, Tod und Teufel – werden durch den Bezug zur Abteilungsüberschrift (Ritter trotz Tod und Teufel) vervollständigt:

|| 103 Grundlegend zum Thema ist immer noch die Arbeit von Scholdt: Autoren über Hitler, 1993, S. 54–96. 104 Vgl. die Überlegungen zur Mythenbildung bei Marcel Atze: „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003, S. 19–27. 105 Das Gedicht von Steinmüller findet kurz Erwähnung bei Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 208f.; einen Eintrag im Killy-Artikel zu Steinmüller gibt es nicht, Lebens- und Todesdaten sowie eine Werkliste finden sich lediglich in Kürschners Deutschem Literaturkalender. Nekrolog 1936–1970. München, Leipzig 1973, S. 496.

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Ich reite wieder, den keiner kennt, in stiller Wege Geleisen, der Wache, den man den Träumer nennt, der Ritter in Trotz und Eisen. Des Volkes Leid liegt als stählernes Band um meine Seele geschlungen, doch draußen schreitet die Sehnsucht durchs Land, und ihr Rufen ist zu mir gedrungen. Ich sing ein Lied, und das Lied bringt Schmerz, denn es muß an Wunden rühren, das soll wie Häuerhämmer nach Erz in wertlosen Schlacken spüren; es soll wie weltlicher Märzenwind die Eichen zerren und reißen, vom Edelholze das morsche Gesplint trotz Tod und Teufel schleißen. Und sing es auch von Schmerz und Schmach, doch will es suchen den Einen, den Schmach nicht verdarb und Schmerz nicht zerbrach im Land voll von Totengebeinen; den neuen Menschen aus kraftvollem Guß, der nicht von Selbstsucht gekettet, und der, schlägt die Stunde, erwachen muß und aufsteht und Deutschland errettet.106

Kunstbetrachtung oder literarische Kunstbeschreibung findet in Steinmüllers Gedicht nicht mehr statt. Die Berühmtheit des Stiches und die Popularität seiner Deutungsgeschichte erlauben es dem Dichter, den Bezug zur bildkünstlerischen Vorlage auf die auch ideologisch benutzbare Formel „Der Ritter“ zu reduzieren, mit dem gleichzeitig die positiven Charaktereigenschaften der Unbeirrbarkeit (V. 1–2), des Auserwählten (V. 3) und des starken Deutschen (V. 4) aufgerufen werden, der als Sinnbild des Volkes auch dessen „Leid“ (V. 5) in seiner Seele erkennt und trägt. Der Ritter geriert sich in der zweiten Strophe als Sänger, der mit Liedern über den Schmerz des Volkes dieses zugleich erwecken und die Vision eines Ausweges weisen möchte. Die dafür eingesetzten Bilder stammen aus dem Bereich des Bergbaus und der Holzwirtschaft und bedienen sich eines auffällig altertümlichen, auch 1920 veraltet und antiquiert wirkenden Wortbestandes (V.: 11: „Häuerhammer“; V. 15: „Gesplint“; V. 16: „schleißen“), die allerdings von der

|| 106 Hier nach der 2. Auflage: Paul Steinmüller: Die Lieder des Kommenden. 2. Al. Stuttgart 1921, S. 5 [Ritter trotz Tod und Teufel].

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Stichvorlage her gesehen und als Rollenrede des Dürerschen Ritters sinnfällig erscheinen. Gleichzeitig wird diese bewusste Altertümlichkeit der Sprache kombiniert mit wiederum anachronistisch anmutenden Anspielungen auf die patriotisch-revolutionäre 1848er-Bewegung („Märzenwind“, V. 13). Die Rollenrede der Dürerschen Stichfigur stellt damit das Konglomerat verschiedener ideologischer Vorstellungen und Sehnsüchte dar, die auf den Reiter projiziert wurden und bündelt diese im vorliegenden Gedicht. Die Nachkriegszeit und das „Land voll von Totengebeinen“ (V. 20) werden dann in der dritten Strophe zur Geburtsstunde und Grundlage einer Führervision stilisiert, in der sich nicht zwangsläufig wie in aller Deutlichkeit bei Heinrich Anacker die Person Hitlers spiegelt. Vielmehr lassen sich bei Steinmüller in einem allgemeineren kulturhistorischen Kontext Führererwartungen und die Sehnsucht nach einer Zeitenwende ausmachen, wie sie auch Mitglieder des George-Kreises wie Karl Wolfskehl, Ernst Bertram oder auch Paul Ernst und Gottfried Benn auf der Basis kultur- und zivilisationskritischer Haltungen in den 1920er Jahren formulierten.107 Bei Steinmüller sind es aber gerade die dem Dürerschen Ritter von der älteren Deutungsgeschichte unterlegten, in seinem Gedicht dann von diesem Ritter selbst dem kommenden Führer attestierten bzw. von diesem verlangten Attribute und Charaktereigenschaften der moralischen und körperlichen Unzerbrechlichkeit und Selbstlosigkeit (V. 19), der Einzigartigkeit und Auserwähltheit (V. 18), die in den Mittelpunkt gerückt werden. Nur wenige Jahre später bei Anacker und dessen Dürer-Deutung sowie in zahlreichen anderen Gedichten der späten 1920er Jahre kommen solche Lesarten voll zur Geltung und werden maßgeblich zum ‚Hitler-Mythos‘ beitragen.108 Die für das ‚Lied des Volkes‘, das der Ritter im Gedicht zusammenfasst, maßgeblichen Konstanten „Schmerz und Schmach“ (V. 17) lassen sich unschwer als Erinnerungen an Krieg („Schmerz“) und die Pariser Vorortverträge („Schmach“) identifizieren, deren geschichtliche Revokation später einen prominenten Platz in der nationalsozialistischen Propaganda-Rhetorik einnehmen und zu einem der zentralen Anliegen und Versprechen Hitlers werden sollte.

Was sich bei Steinmüller und seiner auf Dürers Stich projizierten Führervision andeutet, konkretisiert und radikalisiert Heinrich Anacker in seinem Gedicht Ritter, Tod und Teufel, das 1934 in der von Herbert Böhme im Berliner Verlag Junge Generation publizierten Sammlung Rufe in das Reich. Die heldische Dichtung von

|| 107 Vgl. Scholdt: Autoren über Hitler, 1993, S. 35–48. 108 Ebd., S. 50–96.

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Langemarck bis zur Gegenwart erschienen ist. Sie präsentiert nach dem Willen und nach der Ansicht des Herausgebers Lyriker, die „durch die stählerne Gewalt unseres Sprachbildes zu Rufern wurden“ und „Künder der neuen Zeit“ werden sollen.109 Heinrich Anacker kann exemplarisch als Vertreter dieses Dichter-Typus beschrieben werden. Er verfasste und publizierte ausschließlich Gedichte und gilt trotz seiner Schweizer Herkunft – am 29. Januar 1901 wurde er im Kanton Aargau geboren – als Inbegriff des führertreuen, ideologisch geradezu fanatischen Dichters, der bereits im April 1924 in die österreichische NSDAP, nach seiner Übersiedelung nach Deutschland 1928 am 1. Dezember desselben Jahres erneut in die deutsche NSDAP eingetreten ist. Unzählige Führergedichte und die lyrische Begleitung fast aller wichtigen Wegstationen Hitlers seit 1933 machen den inhaltlichen Kern von Anackers Dichtungen aus.110 Sein Gedicht Ritter, Tod und Teufel bringt Führer- und Dürerverehrung zusammen und verankert Hitler in der „deutschen Kunst, Geschichte und Mythologie“.111 Günter Scholdt sieht in Anackers Dürer-Gedicht auch den Versuch, dem „namenlosen Mann eine Legitimation für die Herrschaft nachzuliefern“,112 was gerade angesichts der prominenten und populären Deutungsgeschichte und dem hohen identifikatorischen, sinnstiftenden Potential von Dürers Stich Anackers Wahl dieser künstlerischen Vorlage für seine Zwecke erklärt.113 An die Stelle des rollenhaften, verklausulierten Sprechens wie in Steinmüllers Dürer-Gedicht ist bei Anacker die direkte Ansprache des Führers in der Figur des Ritters und damit die unverhohlene Identifikation Hitlers mit der Dürer-Figur getreten. Angesichts der schon bei Herzog betriebenen ideologischen Instrumentalisierung des Stiches zur agitatorischen Evokation deutscher kultureller Größe und moralisch-militärischer Überlegenheit staunt man über die Karriere, die das

|| 109 Herbert Böhme: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Rufe in das Reich. Die heldische Dichtung von Langemarck bis zur Gegenwart. Berlin 1934, o. S. 110 Vgl. Verena Schulz: Heinrich Anacker – der „lyrische Streiter“. In: Dichter für das „Dritte Reich“. Bd. 2: Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 9 Autorenporträts und ein Essay über literarische Gesellschaften zur Förderung des Werkes völkischer Dichter. Hg. von Rolf Düsterberg. Bielefeld 2011, S. 21–40, hier S. 25f.; in neonazistischen Kreisen und Foren nimmt in den letzten Jahren die Vereinnahmung und identifikatorische Erinnerung an den Dichter leider zu, vgl. hierzu S. 36–38. 111 Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 2000, S. 117. 112 Scholdt: Autoren über Hitler, 1993, S. 61. 113 Hitler selbst hat die Bedeutung altdeutscher Kunst für die nationalsozialistische Ideologie betont, etwa in seiner Rede: Die deutsche Kunst als stolzeste Verteidigung des deutschen Volkes, gehalten auf der Kulturtagung des Parteitages 1933. München 1934 (Hier spricht das neue Deutschland, 7), vgl. hierzu Uwe-Karsten Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld 1992, S. 301ff.

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Werk nach dem Ersten Weltkrieg und bei den Nationalsozialisten machte. Trotz der Kriegsniederlage und der besonders von den Nationalsozialisten immer wieder herausgehobenen ‚Schmach‘ von Versailles lässt sich die literarische Weitertradierung von Dürers Stich als ‚Blatt des Sieges‘ und Ausdruck deutschen Siegeswillens und deutscher Überlegenheit nur dadurch erklären, dass diese Bewertungen mit der Vision eines künftigen politischen Retters und Erlösers verbunden und damit einer deutlichen Perspektivenverschiebung unterzogen wurden. Prominent und in besonders radikaler Deutlichkeit hat diese Dürer-HitlerAchse der Kunsthistoriker Wilhelm Waetzoldt hervorgehoben und zwei Jahre nach Anackers Gedicht in seiner Studie zu Dürers Stich zusammengefasst. Obwohl Waetzoldt von den Nazis 1933 seines Amtes als Generaldirektor der Staatlichen Museen in Berlin – angeblich aufgrund von finanziellen Unregelmäßigkeiten – enthoben worden war, bildet sein Dürer-Bild doch in nuce die gleiche nationalsozialistische Kunstideologie ab, von der auch Anackers Gedicht geprägt ist: Es ist ein Sinnbild, das, vor Jahrhunderten herausgebrochen aus dem Urgestein der deutschen Seele, bis in unsere Tage seine unerschöpflichen Energien aussendet. […] Die tiefe Lust des nordischen Menschen an der ritterlichen Gestalt, als einer edelen [sic!] Form heroischen Menschentums, hat aus den Händen deutscher Künstler eine Reihe der herrlichsten Ritter und Reiter hervorgehen lassen. […] Die heroischen Seelen lieben diesen Kupferstich – wie Nietzsche es getan hat und wie Adolf Hitler es tut. Sie lieben ihn, weil er ein Blatt des Sieges ist. […] Wir hören über Jahrhunderte hinweg den Zuruf Dürers – und heute findet er wieder ein Echo in unsern deutschen Herzen.114

Das in der auch poetischen Deutungsgeschichte des Stiches mehrfach bemühte religiöse Potential des Ritters als Luther-Symbol oder Sickingen-Gestalt ruft auch Anacker in seinem Gedicht auf, indem er die Berufung der (Hitler-)Führerfigur gleich in der Eröffnungsstrophe mit einem heilsgeschichtlichen Anstrich versieht (V. 2) und damit auch das Bild eines ‚dornigen Weges‘ aufruft, das auf wiederum auf die kultur- und literaturgeschichtlich traditionsreiche Zwei-Wege-Allegorie verweist:115

|| 114 Wilhelm Waetzoldt: Dürers Ritter, Tod und Teufel. Berlin 1936, S. 7, 22 bzw. 23. 115 Zum Führer-Bild als Heiland und auch den Vereinnahmungen christlich-reformatorischer Denkmuster durch die Nazis bei aller generellen Religionsfeindlichkeit vgl. Ekkehard Hieronimus: Zur Religiosität der völkischen Bewegung. In: Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik. Hg. von Hubert Cancik. Düsseldorf 1982, S. 159–175, hier bes. S. 164ff.; zur Tradition der Ritter-Deutung als Luther, Sickingen etc. vgl. Schwerte: Faust und das Faustische, 1962, S. 256; zur Zwei-Wege-Allegorie immer noch lesenswert: Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970 (Medium aevium, 21).

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In Dürers Bild erkennen wir dich tief, du, den der Herr zum Führertum berief: Einsam, dem erzgeschienten Ritter gleich, begannst du deinen Ritt ins ferne Reich. 5

Am Weg, der hart und steil und dornig war, lag hundertfältig lauernd die Gefahr. Und listiger Verführer suchten viel Dich wegzulocken vom erkornen Ziel.

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Du aber bliebest klar und unbeirrt, kein Trugbild hat dir je den Sinn verwirrt. Dein Blick, von einer innern Schau gebannt, blieb streng zur deutschen Gralsburg hingewandt. Unsichtbar zogen Tod und Teufel mit, bis Kraft und Reinheit dir den Sieg erstritt.116

Schlüsselbegriffe nationalsozialistischer Selbstverständigung und Führervorstellung wie Volk, Blut, Kampf, Führer oder Gefolgschaft werden mit dem als „klar und unbeirrt“ (V. 9) charakterisierten Führer und einer Siegesvision der „Kraft und Reinheit“ (V. 14) aufgerufen und sichtbar gemacht. Ein im ersten Vers inszeniertes Wir-Kollektiv wird über die imaginierte Betrachtung von Dürers Stich auf diese Führergestalt eingeschworen. Die Gemeinschaftsstiftung durch Kunstbetrachtung und Kunsterinnerung, der Blick auf die Sammlung, in der das Gedicht erschienen ist und die rhetorische Struktur machen Anackers Verse zu einem Musterbeispiel nationalsozialistischer „Aktionslyrik“,117 die sich die Nobilität der künstlerischen Persönlichkeit Dürers und die Popularität seines Werkes für ihre ideologischen Zwecke zunutze macht. Die sieben Strophen mit jeweils nur zwei paargereimten Versen klingen mit ihren rein männlichen Versschlüssen hart, und neigen in ihrer sentenziösen Knappheit – Strophen- und Satzende fallen stets zusammen – zum Spruchhaften und Parolenhaften. Sie literarisieren die

|| 116 Heinrich Anacker: Ritter, Tod und Teufel. In: Rufe in das Reich. Die heldische Dichtung von Langemark bis zur Gegenwart. Ausgewählt von Herbert Böhme. Berlin 1934, S. 124; Anacker hat das Gedicht in eine spätere Sammlung aufgenommen, wo es an zweiter Stelle eines Zyklus aus 11 Gedichten steht, der mit Nürnberg 1933 überschrieben ist und an den NSDAP-Reichsparteitag 1933 erinnern soll. Heinrich Anacker: Der Aufbau. Gedichte. München 1936, S. 19. 117 Der Begriff hier in Anlehnung an Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, 1992, S. 338; zu den genannten Schlüsselbegriffen ausführlich Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 2000, S. 52.

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Figurenkonstellation von Ritter, Tod und Teufel der Bildvorlage in der dritten und vierten Strophe zu einer formelhaften Kurzfassung von Hitlers Lebens- und Leidensweges, für die andeutungshafte Formulierungen genügen. Die komplexe und durchaus widersprüchliche Deutungsgeschichte von Dürers Stich wird perspektivisch reduziert auf einen einzigen Sinngehalt: Die Identität des Ritters mit Hitler. Dürers Stich wird durch einen solchen Umgang mit der altdeutschen Malerei der Charakter eine künstlerischen Vorsehung und Führer-Vision unterstellt, die in dieser Denkweise in großen heroischen Zeiten von einem Malergenie wie Dürer bereits ins Bild gesetzt worden ist und nun in der Gegenwart ihre Vollendung findet.

Nichts weniger als eine vollständige Revokation dieser nationalsozialistischen Dürer-Verklärung und Überhöhung des Meisterstichs zur Inkunabel deutscher Tugenden und Führervision stellen die Gedichte von Alexander von Bernus (1930) und Paula von Preradović (1941) dar. Sie literarisieren den Dürer-Stich gewissermaßen an den zeittypischen Deutungsmustern vorbei als Sinnbild existenzieller und anthropologischer Grundfragen (Alexander von Bernus) und Warnbild angesichts politischer Bedrohung und Einschüchterung in Zeiten des Zweiten Weltkriegs (Paula von Preradović). Auf die beiden Gedichte soll abschließend ein Blick geworfen werden. Die dem Stich eigene und in den bisher aufgezeigten Interpretationen immer thematisierte Konstellation der Gefahr oder Bedrohung wird in beiden Gedichten zwar aufgegriffen, aber die Figuren Tod und Teufel werden völlig anders funktionalisiert. Der Ritter bleibt bedroht durch Tod und Teufel, die beiden symbolisieren aber nicht mehr wie bei Rudolf Herzog im Ersten Weltkrieg die Feindesmächte Frankreich und England und auch nicht mehr in völkisch-nationalsozialistischer Lesart die Gegner deutscher Wesensart wie bei Paul Steinmüller und Heinrich Anacker. Jenseits aller bisher aufgezeigten ideologischen und politischen Positionen bedichtet so der 1880 in Aeschach bei Lindau geborene Alexander von Bernus Dürers Stich als Symbolbild menschlicher Existenzfragen. Von Bernus’ Werk ist schon zu Lebzeiten kaum einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden und von der Forschung fast völlig unbeachtet geblieben, obgleich der Dichter in seinen Münchner Jahren um die Jahrhundertwende regen Kontakt mit der Schwabinger Bohème unterhielt und später in seiner Heidelberger Zeit das 1908 erworbene Stift Neuburg am Neckar zum Treffpunkt für Vertreter der literarischen Moderne machte. An den regelmäßigen Treffen, bei denen alte Freunde wie Alfred Kubin und neben Stefan George selbst auch Mitglieder seines Kreises wie Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf teilnahmen, waren Mystik, Spiritismus und Ästhetik die

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Hauptthemen.118 Vielfach wurde von Bernus als „letzter Romantiker oder Neuromantiker“, als „Dichter und Magier“, als „Romantiker und Alchemist“ bezeichnet, der in seiner Stift Neuburger Zeit zum praktizierenden Okkultisten wurde.119 Diese zunächst unaggressive Rückwärtsgewandtheit macht sich in seinem DürerGedicht Ritter, Tod und Teufel schon in der Strophenwahl bemerkbar. Die im 20. Jahrhundert nur selten benutzte Chevy-Chase-Strophe mit kreuzgereimten jambischen Vier-und Dreihebern und ausschließlich betont schließenden Versen markiert auf formaler Ebene die ästhetische Orientierung an älteren Vorbildern, namentlich der Romantik: Und immer ziehen sie mit dir: Der Teufel und der Tod; Doch nur dein Hund, das stumme Tier, Fühlt sich davon bedroht. 5

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Du aber ahnst zuweilen bloß, Mehr als du schaudernd fühlst, Wenn du in der Geliebten Schoß Dich lüstern nachts verwühlst, Daß drohend irgendein Geschick Nach deiner Kehle greift, So oft ihr fremder Schlangenblick Dich kalt und lauernd streift. Und plötzlich wächst aus dir das Tier, Das sich den Zwein gesellt, Und fletscht mit geilem Maul nach dir, Und deine Stimme bellt. Bis du, vielleicht zu spät, erkennst, Daß du es selber bist,

|| 118 Einen sehr knappen Überblick zu Bernus bietet der Killy-Artikel von Frank Raepke und Joachim Telle: Bernus, Alexander von. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 1. Berlin, New York 2008, S. 496; eine umfassendere Einschätzung und Charakterisierung des Werkes nehmen vor: Hans-Ulrich Kolb und Joachim Telle: Schattenbeschwörung. Wirkungsgeschichtliche Noten zum lyrischen und alchemistischen Werk von Alexander von Bernus. In: Heidelberger Jahrbücher 17 (1973), S. 86–128, bes. 109–120; informativ und mit einem Querschnitt der Werke Franz Anselm Schmitt: Alexander von Bernus. Dichter und Alchymist. Leben und Werk in Dokumenten. Nürnberg 1971. 119 Vgl. Mirko Sladek in Zusammenarbeit mit Maria Schütze: Alexander von Bernus. Nürnberg. Nürnberg 1981, bes. S. 147; Kolbe, Telle: Schattenbeschwörung, 1973, S. 90.

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Der sich zeitlebens zum Gespenst An seiner Leber frißt.120

Die grammatische Form der zweiten Person Singular in der Apostrophe ist hier zugleich als Selbstansprache und Selbstaussprache des von Zweifeln und Ängsten geprägten Subjekts zu interpretieren. In der figuralen Perspektive von der Dürer-Vorlage her richtet der Ritter die Worte an sich selbst. Aus dem Idealbild des Ritters als Inbegriff deutscher Stärke und Glaubensfestigkeit, wie es bei den bisher betrachteten Texten aufgerufen wurde, macht von Bernus einen zaudernden, unsicheren von mangelnder Fähigkeit zur wahrhaften Selbsterkenntnis (V. 17) dominierten Charakter. Der Bedrohung durch Tod und Teufel, die in den kriegs-agitatorisch ausgerichteten und im nationalsozialistischen Geiste geschriebenen Gedichten Herzogs, Steinmüllers und Anackers als unverzichtbares negatives Gegenstück deutscher Ritterlichkeit in Szene gesetzt wurden, wird in von Bernus’ Gedicht nur der im Vordergrund zu sehende, von den anderen Gedichten bislang vollkommen ausgesparte Hund gewahr (V. 3–4). Romantisierende Schlüsselbegriffe wie „ahnen“ (V. 5) und „schaudern“ (V. 5) verweisen nicht nur auf das Dichtungsideal des Autors, sondern konturieren auch die psychische Verfasstheit des Ritters, dessen noch bei Herzog, Steinmüller und Anacker beschworene Stärke und Unbeirrbarkeit hier nachdrücklich revidiert wird. Ersetzt werden diese Eigenschaften mit Unsicherheit und Abgründigkeit. Was zunächst nur als Ahnung beschrieben wird (V. 5–12), kommt in der letzten Strophe – durch den Zusatz „vielleicht“ (V. 17) aber auch wieder relativiert – als Erkenntnis einer Bedrohung durch das eigene Ich und die eigene Tierhaftigkeit (V. 13) zur Sprache. Bedrohung und Anfechtung, die den Reiter gefährden, kommen nicht mehr von außen. Damit verlässt von Bernus’ Gedicht die bis dahin beschrittenen Pfade lyrischer Dürer-Deutung und verwirft eine eindeutige Zuordnung und Bewertung der im Stich zu sehenden Figuren. Der seit dem frühen 19. Jahrhundert doch recht einheitlichen Interpretationslinie des Dürerschen Werkes folgt von Bernus nicht. In seinem stark introvertierten, an Traditionen des Jugendstils und des Expressionismus anknüpfenden Gedicht avanciert der Stich zum Symbol allgemeiner menschlicher Bedrohung, zum Sinnbild eines durch sich selbst verunsicherten Subjekts und führt dem Rezipienten damit eigentlich jene in der uneindeutigen Ikonographie des Stiches schon angelegte Deutungsoffenheit von Dürers Werk (wieder) vor Augen.

|| 120 Alexander von Bernus: Gold um Mitternacht. Gesammelte Gedichte. Weimar 1930, S. 242.

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Grundsätzlich folgt diesem Modell auch die heute fast nur noch als Verfasserin des Textes der österreichischen Bundeshymne bekannte austro-kroatische Dichterin Paula von Preradović. Am Ende seiner Studie zur literarischen Rezeption von Dürers Stich geht Peter Sprengel nur mit wenigen Worten auf den insgesamt acht Sonette umfassenden Zyklus Ritter, Tod und Teufel der Dichterin ein und betont, dass sich Preradović „eindeutiger Bezugnahmen auf das Zeitgeschehen zugunsten einer dramatischen Disposition, in der das bildliche Arrangement Dürers unmittelbar gegenwärtig wird“ enthalte.121 Im Hinblick auf die formelle Struktur ist Sprengel zuzustimmen: Die Anordnung der Sonette mit ihrer Sprecher-Aufteilung von zwei Sonetten Der Ritter, ein Sonett Der Tod, zwei Sonetten Der Teufel, zwei Sonetten Der Tod und schließlich ein abschließendes Sonett Der Ritter hat eine Tendenz zum Dramatischen, da die einzelnen Sprecher jeweils auch auf ihre Vorredner reagieren. Der Einschätzung, der Zyklus stelle „vertraute Requisiten“122 zusammen und erlaube keine politische Lesart, ist aber zu widersprechen. Sprengels Annahme ist vor allem darauf zurückzuführen, dass er von einem falschen Entstehungsjahr der Sonette ausgeht. Tatsächlich publizierte von Preradović den Zyklus 1946 in einem Band mit Gedichten, der denselben Haupttitel trug – Ritter, Tod und Teufel – und bereits 1947 in der dritten Auflage erschienen ist.123 Unerwähnt lässt Sprengel, dass der Zyklus zuerst und in unveränderter Textgestalt aber bereits mitten im Krieg, und zwar 1941, im letzten erschienenen Heft der Zeitschrift Die neue Saat. Eine Monatsschrift für Kunst und Kultur gedruckt wurde. Zwar publizierten in der im Christophorus-Herder-Verlag Freiburg, später Berlin erschienenen Zeitschrift der nationalsozialistischen Ideologie nahestehende Autoren wie Josef Weinheber, Ludwig Bäte, Theodor Seidenfaden oder Karl Benno von Mechow, doch fanden auch vor allem religiöse Dichtungen und Texte von Rudolf Alexander Schröder, Hans Bethge oder Franz Johannes Weinrich in dem Organ ihren Publikationsort.124 Es verwundert also nicht, dass auch von Preradovićs Sonett-Zyklus Aufnahme in die Zeitschrift gefunden hat, zumal die Sonette schon aufgrund der Bildvorlage und Deutungsgeschichte des Stiches (auch) als religiöse Dichtung bezeichnet werden können.

|| 121 Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 209f. 122 Ebd., S. 210. 123 Vgl. Paula von Preradović: Ritter, Tod und Teufel: Gedichte. Innsbruck 1946. 124 Vgl. zusammenfassend: Thomas Dietzel und Hans-Otto Hügel: Deutsche literarische Zeitschriften 1880–1945. Ein Repertorium. Band I: 1–764 A travers les Vosges – Deutsch-Nordisches Jahrbuch. München u.a. 1988, S. 892f.

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Die Sonette konterkarieren aber nicht nur wie von Bernus’ Gedicht gängige Interpretationen und Literarisierungen des Stiches, sie nutzen die Figurenkonstellation auch als Folie für die Darstellung von ideologischer Verblendung, politischer Verfolgung und Bedrohung durch das NS-Regime und sind damit entgegen Sprengels Lesart vor allem auch als ein kritischer Kommentar zum Zeitgeschehen zu lesen. Dürers Stich avanciert damit zum Warnbild in Zeiten des Krieges und der Diktatur. Die in Wien geborene und lebende Autorin und Enkelin des kroatischen Nationaldichters Petar von Preradović heiratete 1916 den Historiker und erklärten Gegner der Nationalsozialisten Ernst Molden, der nach dem Krieg als Herausgeber der Wochenzeitung Presse (seit 1949 Die Presse) zu einem einflussreichen Publizisten der Zweiten Österreichischen Republik aufstieg. Seit dem ‚Anschluss‘ Österreichs 1938 wurde das Ehepaar von der Gestapo überwacht und unter anderem aufgrund auch der Teilnahme ihres Sohnes Fritz am österreichischen Widerstand im letzten Kriegsjahr kurzzeitig verhaftet.125 Ungeachtet der dichterischen Vereinnahmung von Dürers Werk für die nationalsozialistische Propaganda wählt von Preradović den Stich, um anhand von dessen Figurenkonstellation die Gefahren- und Bedrohungssituation von Gegnern der Nationalsozialisten zu erfassen. Der Zyklus ist als Dokument der – auch persönlichen – Verarbeitung einer politisch von den Nazis als Gegnerin betrachteten Dichterin zu verstehen: Der Ritter I In die dunkle Schlucht bin ich verschlagen, Pferd und Hund, sie wittern Spuk und Grauen. Darf ich hier noch meiner Lanze trauen Und getrost Visier und Panzer tragen? 5

Frühlicht tagte wie zu allen Tagen, Arglos trabt’ ich durch beglänzte Auen Hoch am Mittag. Doch hier unten brauen Braune Dunstgespenster, mich zu jagen.

|| 125 Die wichtigsten Informationen bei Christa Veigl: Preradović, Paul von. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 9. Berlin, New York 2010, S. 327; mit einigen Beispielen aus dem Werk illustriert folgender kurzer Artikel die Vita der Dichterin: Erika Mitterer: Im Blut zwei Vaterländer. Vor 120 Jahren wurde Paula von Preradović, die Dichterin der österreichischen Bundeshymne, geboren. In: Der literarische Zaunkönig 5, 3 (2007), S. 6–9.

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Wen denn spüre ich zu meiner Rechten? Wer denn atmet her mit kühlem Hauche, Schaut mit fremdem Auge aus dem Strauche? Und von rückwärts wer mit falschem Schleichen Schreitet tückisch an des Pferdes Weichen, Willens mich zu fangen und zu knechten?

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II Finster schweift es, wie um Sarg und Grüfte, Trüb gespenstisch weiß ich mich umlauert, Schwül umzwinkert, eingekreist, umkauert, Und mein Schwert, es rostet an der Hüfte. War ich nicht der heitre Vielgeprüfte? Hab’ ich alle Not nicht überdauert? Hat den Leib mir zage Furcht durschauert Je bei Kampf und Pfad durch schwarze Schlüfte? Aber heut und hier ist’s arg zu weilen. Wer denn seid ihr, fahle Weggesellen, Zauberische, die mich dicht umstellen? Totenschädel rollen uns zu Füßen, Molche springen geil, uns zu begrüßen. Auf, mein Pferd, mein Hund, wir müssen eilen.

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Der Tod Du kennst mich, und doch fragst du, wer ich bin. Du willst mich fliehn und bist mir doch verfallen. Gelüstet’s mich, mit deinen Waffen allen Raff’ ich als Beute noch dich hin. In mich zu münden, ist des Lebens Sinn, Mir zuzuwelken, Schicksal alles prallen Und starken Fleisches. Panzer, Ketten, Schnallen Nicht wehren mir den fälligen Gewinn. Ich werde dich in meinen Armen halten Wie eine Mutter, die des Kindleins pflegt, Wie eine Braut, die ihren Liebsten hegt.

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Das Nicht-Sein ist mein sternlos stilles Reich. Darin vergeht, zerwehtem Nebel gleich, Der Erdentraum der Farben und Gestalten.

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Der Teufel I Ich schreite in betäubendem Geruche. Drei Schritte schreit’ ich hinter einem jedem. Es tut mir not nicht, lautes Wort zu reden, Mein Anhauch schon gereicht zu Fall und Fluche. Denn wer mich wittert, fühlt sich umgewendet, Und wer mich spürt, geht als ein Fremder weiter. Mein bloßes Nah-Sein hat die stärksten Reiter Mit kranker Botschaft in die Welt gesendet. Mein Dunstkreis schwängert mit den schwersten Giften Die Atemluft der Ahnungslosen. Keiner Entkam mir wieder nach gesunden Triften,

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Den ich enthüllt’ mit meinem Nachtgestanke. Und keiner ward gerettet als ein Reiner, Den ich verfolgt’ an seines Pferdes Flanke. II Drum, Ritter, bist du mein mit Haut und Haar. Von meinem Wesen magisch angezogen, Bist du in meine Fährte eingebogen, Weil ich seit je in deinem Blute war. So häßlich, wie ich bin, bist bald auch du, Der Stadt am Berg bist ewig du verloren, Du reitest nächtig aufgetanen Toren, Entsetzensvollen, ohne Rettung zu.

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Der Bruder dort auf seiner Knochenmähre, Der wackre Knecht, das Stundenglas in Händen, Bald lockt er dich auf seine feuchte Fährte. Er setzt dich über mit Gewalt und List, Er weiß dein Enden schlau mir zuzuwenden, Als der getreue Scherge, der er ist. Der Tod I Wohl bin ich Scherge, doch dein Scherge nicht, Wohl bin ich Knecht, jedoch in anderm Dienste, Wohl bin ich hart, doch dir nicht zum Gewinste, Denn größ’rem Meister leist’ ich Fergenpflicht.

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Durch dunkle Flut in unverhofftes Licht Hinfährt mein Nachen. Dein Truggespinste Dein Lachen, das die Erde übergrinste, Wie bleichen sie vor jenem Angesicht, Das überm Meer des Nichts-Seins, überm Tod, Wie Schneegebirg’ sich auftut, Anbeginn Der wahren Welt. Mein armes Fergenboot, Zu dessen Dienst ich schlechter Knecht geheuert, Das randvoll schwankend durch die Urnacht steuert, Es gleitet dennoch gegen Morgen hin.

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II Das Nicht-Sein ist mein sternlos stilles Reich, Ist Wasserflut, an zweien Ufern brandend, So-Sein als Wieder-Sein von fern umrandend, Ist selber schattenhaft und algenbleich. Doch es vergeht, zerwehtem Nebel gleich, Das Zwischenreich, wenn meine Schiffe landend, Am Fuß des Gott-Gebirges selig strandend Hinspei’n das Totenvolk auf Bucht und Deich. Nun hebt ein neugebornes Wandern an, Ein Steigen, Staunen, Schauen, Schweifen, Reifen, Herzklopfend Innewerden und Begreifen, Was jeder ahnte, wird ihm aufgetan. Der Ferge aber wendet stumm den Kahn Und kehrt zurück zum alten Küstenstreifen. Der Ritter

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Auf, mein Pferd, mein Hund, wir müssen eilen, Rücklings stürzt mich sonst auf den verseuchten Schluchtengrund die Gier der aufgescheuchten Nachtdämonen, rasch den Raub zu teilen. Hohlwegs Ende blaut, und in den steilen Schieferwändern spiegelt, in den feuchten, Abendsonnenrot, und Sterne leuchten Früh und blaß, den grausen Spuk zu heilen. Ritter reitet, steigt vorwärtsschauend, Lautern Wesens starkem Mark vertrauend. Reiner Ritter wird die Welt gewinnen.

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Die ihn fällen wollte, elbisch grauend, Teufelsbrut, der Ritter schlägt sie, innen. Reiner Ritter wird dem Tod entrinnen. 126

Die durch die Anordnung der Sonette inszenierte Dramaturgie bezieht ihre Spannung hauptsächlich aus der spätestens mit der zweiten Wortmeldung des Todes erkennbaren Konkurrenz der beiden um den Ritter ringenden „fahle[n] Weggesellen“ (V. 24). Nicht mehr beide, Tod und Teufel, werden als eigentliche Gefährdung des Ritters charakterisiert, sondern der nur mit zwei Sonetten zu Wort kommende Teufel wird, anders als in den bisher behandelten Gedichten, als Figur in Szene gesetzt. Mit dieser Figur erschließen sich nicht nur negative Epitheta von der christlichen Ikonographie her, sondern diese werden in der Fremd- und Eigencharakterisierung des Teufels innerhalb des Sonettzyklus’ auch konkretisiert. Er beschreibt sich selbst als einen, der auf andere eine magische Anziehungskraft (V. 58) ausüben kann und sich dies zunutze macht, um „Fall und Fluch“ (V. 46) über andere – oder Andersdenkende – zu bringen und seine Erfüllungsgehilfen „mit kranker Botschaft in die Welt“ (V. 50) zu senden. Die eigentliche Bedrohung, die in Dürers Stich selbst und den bisher von den Dürer-Literarisierungen aufgegriffenen Deutungsansätzen immer auf beide Figuren projiziert worden ist, ordnet von Preradović nur noch dem Teufel zu. Die ihm zugeordneten Sonette setzen sich daher auch auf formaler Ebene in ihrer Reimstruktur von den übrigen Sonetten ab und machen so die herausgehobene Stellung und Bedeutung der Teufelsfigur deutlich: Die umfassenden Reime sind in den Quartetten der Ritter- und Tod-Sonette gleich, beim Teufel indessen nach dem Muster abba / cddc strukturiert. Zudem verdient die Weigerung des Todes, sich als Erfüllungsgehilfe des Teufels instrumentalisieren zu lassen, nicht nur Beachtung, wie Peter Sprengel meint, weil die Dichterin damit die Figurenkonstellation des Stich-Vorlage verändert, sondern weil damit der Teufel noch deutlicher als reine Negativ-Figur profiliert wird, dem sogar der Tod die Gefolgschaft verweigert (V. 71–78).127 Es bleibt nun zu fragen, wer sich auf einer symbolischen Ebene hinter der Teufelsfigur verbirgt? Ist es tatsächlich nur die literarische Reprise der biblischchristlichen Verführer- Figur? Oder lassen sich nicht vielmehr gerade die dem Teufel zugeschriebenen Eigenschaften wie seine magische Anziehungskraft und die „krankhafte“ (V. 50) Botschaft mit einer Kritik an dem zeitgenössischen

|| 126 Paula von Preradović: Ritter, Tod und Teufel. In: Die neue Saat. Eine Monatsschrift für Kunst und Kultur 4 (1941), S. 22f. 127 Vgl. Sprengel: Ritter, Tod und Teufel, 2005, S. 210; sehr knapp und nur beschreibend zu Preradović auch Fliedl: Vorwörter und Nachbilder, 2013, S. 191.

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Führerkult und der nationalsozialistischen Ideologie in Verbindung bringen, durch die von Preradović selbst „Fall und Fluch“ (V. 46) erleben musste, in Verbindung bringen. Der teuflische Versucher lässt sich vor dem zeitgeschichtlichen und biographischen Hintergrund durchaus als ‚Ver-Führer‘ Hitler interpretieren. Die vom Ritter gesprochenen Eingangssonette liefern nicht nur eine präzise Beschreibung des Stiches mit seiner durch Enge und Unheimlichkeit geprägten räumlichen Situation (V. 1–4), sondern bieten korrespondierend dazu das Bild einer von Gefährdung (V. 12–14) und Wehrlosigkeit (V. 18) dominierten psychopathologischen Verfasstheit des Ritters, in dessen Wahrnehmung er umgeben ist von „tückisch“ (V. 13) agierenden Begleitern und Beobachtern, die sein Tun „umlauern“ (V. 16). Verantwortlich für seine Situation macht der Ritter „braune Dunstgespenster“ (V. 8) deren farbliche Präzisierung Assoziationen zur politischen Rechten und auch namentlich der Parteizentrale der NSDAP in München, dem „Braunen Haus“, aufruft, und eine Gesamtdeutung der Sonette als Kritik am Nationalsozialismus nahelegt. Gleichzeitig mit Thomas Manns Exkursen zu Dürers Meisterstich im Doktor Faustus und seiner Kritik am deutschen Unwesen, für das Dürer und sein Werk instrumentalisiert wurden, markiert der Sonettzyklus Paula von Preradovićs dergestalt eine Gegenposition zur gängigen DürerDeutung der Nationalsozialisten. Indem sie die statische Bildvorlage durch die Form der aufeinander antwortenden Rollensonette mit einer Dramaturgie bereichert, bildet sie die für politisch Andersdenkende und Verfolgte dramatischen Zeitumstände in der Nazi-Diktatur ab. Dürers Stich, der von Hitlers Kunstideologen und Dichtern für die eigenen ideologischen Zwecke missbraucht wurde, ist nicht Sinnbild für die Gefährdung deutscher Wesensart, sondern Warnbild für die von Deutschen ausgehende Bedrohung. Paula von Preradovićs Sonettzyklus zu Dürers Meisterstich muss demnach als hochpolitische, regimekritische Dichtung angesprochen werden, die ältere lyrische Dürer-Deutungen vollständig revidiert.

Auch daran zeigt sich wieder, was schon als Ergebnis des ersten Dürerkapitels (II. 2) dieser Arbeit festzustellen war: Die Rezeptionsgeschichte des wohl berühmtesten deutschen Malers der Frühen Neuzeit ist gleichzeitig die Geschichte seiner ideologischen, ästhetischen und politischen Vereinnahmungen. An der Bedeutung seiner Werke für die Kunstgeschichte und der Qualität und Vielseitigkeit seines Schaffens ließen Kunstwissenschaftler und Literaten über die Jahrhunderte hinweg – und anders etwa als im Falle von Matthias Grünewald – keinen Zweifel. Regelmäßig wurde dem Künstler zu Geburts- und Todestagen gedacht. Die Auseinandersetzung mit seinem Werk und dessen Identifikation mit deutscher Kultur fand seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den

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Dürerbund und Dürer-Vereine vermehrt auch in institutionalisierten Kontexten statt. Die Heroisierung Dürers in der Kaiserzeit und die Apotheose seiner Werke zum geistig-künstlerischen Kulturschatz der Deutschen bildet die Grundlage für die Rezeptionslinie, die sich für Dürers Meisterstich Ritter, Tod und Teufel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachen lässt. In Zeiten nationaler Selbstbehauptung und Abgrenzung wurde das Werk im Ersten Weltkrieg als künstlerische Auf-Rüstung gegen den militärischen und kulturellen Feind zur Speerspitze deutscher Kulturleistung überhöht und in den 1920er und 1930er Jahren von nationalsozialistischen Dichtern als visionäre Darstellung ihres durch Hitler verkörperten Führerideals gefeiert. Dass sich auch Autoren, die von den Nazis verfolgt wurden, mit Dürers Stich identifizieren konnten und die Bildvorlage als Folie der Kritik an der Diktatur und am Krieg nutzten, verdeutlicht einmal mehr die grundsätzliche Deutungsoffenheit gerade von Dürers Meisterstich, dessen Symbolstruktur auch von Seiten der Kunstwissenschaft zu immer wieder neuen Interpretationsansätzen anregt.

2 Religiöse Besinnung, kontemplativer Rückzug und politische Bilanz nach den Kriegen: Lyrische Deutung von christlicher Malerei (1918–1945) In der ideologischen Instrumentalisierung von Dürers Stich bei Herzog, Steinmüller und Anacker sowie in der kritischen Revision solcher Deutungen bei Alexander von Bernus und Paula von Preradović lässt sich vor allem im Vergleich mit Bildgedichten des späten 19. Jahrhunderts eine deutliche Verlagerung des dichterischen Interesses vom Künstler auf das konkrete Kunstwerk und dessen Bildinhalt beobachten. In den folgenden Kapiteln (2.1. und 2.2.) werden zwei Sonettzyklen und Gedichte untersucht, in denen sich diese Tendenz noch stärker bemerkbar macht. Die dichterischen Auseinandersetzungen mit Raffaels Sixtinischer Madonna und Matthias Grünewalds Kreuzigung des Tauberbischofsheimer Altars (Karlsruher Kreuzigung) sowie der Kreuzigung und der Auferstehung Christi des Isenheimer Altars machen den konkreten Bildgegenstand und damit dessen heilsgeschichtlich-christlichen Gehalt zu ihrem Thema. Das Sehen des Kunstwerkes wird in der dichterischen Umsetzung vor allem bei Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß gleichsam zum Mittel religiöser Erfahrung und Sinnstiftung. Der Künstler als Vermittler christlich-religiöser Inhalte bleibt zwar implizit präsent und verehrungswürdig, seine Thematisierung tritt aber zugunsten des Bildthemas zurück. Insofern sind die im Folgenden behandelten Texte als christlich-religiöse Dichtung anzusprechen. Mit Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß stehen zwei Autoren im Mittelpunkt, die als Hauptvertreter und Erneuerer christlich-geistlicher Dichtung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten dürfen und zudem als ausgewiesene Kunstkenner in Erscheinung getreten sind.128 Die Beobachtung und Auseinandersetzung aktueller bildkünstlerischer

|| 128 Rudolf Alexander Schröder studierte in München u.a. Architektur und Kunstgeschichte und war mit namhaften Künstlern wie Franz von Stuck und Kunsthistorikern wie Julius Meier-Graefe eng befreundet. Nach dem Krieg war Schröder von 1946 bis 1950 auch Leiter der Kunsthalle Bremen gewesen, vgl. zuletzt Frank Laukötter: R.A. Schröder als Direktor der Kunsthalle Bremen – eine Miszelle über „eine Formsache“. In: Rudolf Alexander Schröder (1878–1962). Hg. von HansAlbrecht Koch. Frankfurt am Main 2013 (Beiträge zur Text-, Überlieferungs- und Bildungsgeschichte, Bd. 4), S. 173–182; Konrad Weiß’ Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst, seine zahlreichen Kunstkritiken und Ausstellungskommentare sind, soweit ich sehe, noch nicht zusammenfassend gewürdigt, vgl. hierzu Lorenz Wachinger: Bild und Wort. Dimensionen der Kunstkritik bei Konrad Weiß. In: Münchner Moderne. Kunst und Architektur der zwanziger https://doi.org/10.1515/9783110700732-013

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Debatten und Entwicklungen vor allem um die Möglichkeiten und Erscheinungsformen religiöser Malerei haben die Autoren genau verfolgt. Mit Raffael und Grünewald widmen sich die Gedichte nun aber nicht der zeitgenössischen religiösen Malerei eines Walter Firles, Eduard von Gebhardt, Karl Caspar oder Fritz von Uhde, sondern greifen stattdessen auf Werke zurück, die sowohl bei einer breiten gebildeten Öffentlichkeit populär gewesen sind als auch in der akademischen Kunstwissenschaft und Kunstliteratur im frühen 20. Jahrhundert besondere Beachtung fanden. Es gilt daher, die Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Bildgedichte mit den kunstwissenschaftlichen aber auch religionsphilosophischen Diskursen ihrer Zeit aufzuzeigen. Christlich-religiöse Dichtung, die ihren Ausgangspunkt von der Malerei nimmt, was sich bei Konrad Weiß in der dichtungstheoretischen Überzeugung niederschlägt, dass „an dem gemalten und angeschauten Bild“ der Dichter „zu seinem Wort“129 kommt, enthält in der Wahl ihrer bedichteten Vorlagen immer schon implizit eine Beurteilung der zeitgenössischen religiösen Malerei und von deren Bedeutung für die Möglichkeiten religiöser Dichtung. Noch vor dem Ersten Weltkrieg, 1909, hat Konrad Weiß in einer Ausstellungsbesprechung den ‚Bildbedarf‘ des christlichen Menschen und Dichters herausgestellt, gleichzeitig aber die defizitären Entwicklungen im Bereich der religiösen Malerei der Gegenwart moniert: „Das moderne Staffelbild sucht aber den einzelnen Menschen, und der Mensch sucht sich darin. […] Eine christliche Kunst von Stilcharakter, die also der Ausdruck einer Zeit- und Weltanschauung in einer typischen künstlerischen Sprache dieser Zeit wäre, gibt es schon lange nicht mehr.“130 Mit der Hinwendung zu den genannten Altarbildern von Raffael und Grünewald, die zu den bekanntesten Werken sakraler Malerei der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gehörten und gehören, beziehen sich die religiösen Bildgedichte von Schröder und Weiß folgerichtig auf bildkünstlerische Vorlagen, die ihrerseits wieder sakrale (Auftrags-)Malerei gewesen sind und für den liturgischen Kontext, für den Vollzug des Glaubens bestimmt waren. Vor allem die beiden Sonettzyklen von Schröder und Weiß zu Raffael und Grünewald rekonstruieren diesen liturgischen Kontext in der sprachlich-lyrischen Betrachtung der Altartafeln und der durch sie ausgelösten religiösen Besinnung und heilsgeschichtlicher Reflexionen. Sie schaffen damit im Medium des Bildgedichts jene intermediale Allianz

|| Jahre. Hg. von Felix Billeter, Antje Günther und Steffen Krämer. München, Berlin 2002, S. 226– 237. 129 Wachinger: Bild und Wort, 2002, S. 226–237, hier S. 232. 130 Konrad Weiß: Die christliche Kunst der Gegenwart. Gedanken zur Düsseldorfer Ausstellung für christliche Kunst. In: Hochland 6 (1909), S. 668–684, hier S. 669 u. 672.

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von religiöser Malerei und Dichtung, die von Autoren wie Schröder und Weiß als Möglichkeit der christlichen Heilsvergewisserung angesichts einer als moralischkulturell defizitär empfundenen Gegenwart vor dem Ersten Weltkrieg und nach den Weltkriegen betrachtet wurde. Seit der Jahrhundertwende werden solche Ideen einer Wiederbelebung und Stärkung der christlichen Religion durch künstlerische Medien auch in Publikationsorganen wie der von 1904 bis 1937 erschienenen Zeitschrift Die christliche Kunst, in der auch Konrad Weiß einige Beiträge publizierte, thematisiert und diskutiert. Der größte Teil der behandelten Gedichte – auch Schröders Sonette an die Sixtinische Madonna – ist erst nach dem Ersten Weltkrieg, in der Zeit der Weimarer Republik entstanden. Die lyrische Verinnerlichung christlich-heilgeschichtlicher Bildthemen ist daher auch als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg als ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts zu werten. Die literarischen Verarbeitungen des Ersten Weltkriegs und des Zivilisationsbruches sind aber im Falle des Bildgedichts auch in der gedanklichen Fluchtperspektive der schon als krisenhaft empfundenen, von einem allgemeinen Gefühl der (moralischen) Endzeit geprägten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zu deuten, was Rudolf Alexander Schröders Zyklus An die Sixtinische Madonna (1927) eindrücklich demonstriert, von dessen 24 Sonetten acht bereits 1909 publiziert und inhaltlich unverändert in die Sammlung von 1927 aufgenommen worden sind. Die scheinbare Zeitenthobenheit dieser Gedichte ist zwar symptomatisch und von der bildnerischen Vorlage vorgegeben, sie verweist aber gleichzeitig auf das consolatorische Funktionspotential solcher Dichtung, die kontemplative Rückzugsmöglichkeiten aus einer politischsozialen und historischen Realität angesichts einer vor allem durch den Ersten Weltkrieg erschütterten moralischen Welt bietet. Die Sonettzyklen von Schröder und Weiß zeigen indessen aber auch zahlreiche Berührungspunkte mit seit der Jahrhundertwende in der Literatur zu beobachtenden neomystischen, spiritistischen und visionären Tendenzen angesichts der „Marginalisierung religiöser und metaphysischer Vorstellungswelten“131 und im Spannungsfeld von ‚neuer‘ Religiosität und Christentum.132 Die

|| 131 Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn u.a. 1997, S. 9. 132 Einen knappen Überblick zum Verhältnis von Religion und Literatur bietet das schmale, aber auf Weiterführendes hinweisende Handbuch von Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion. Stuttgart 2016, hierin chronologisch die Artikel zur Jahrhundertwende (Manfred Engel), Expressionismus, Neue Sachlichkeit (Alexander Nebrig), S. 175–186; ferner Justus H. Ulbricht: Der „neue Mensch“ auf der Suche nach „neuer Religiosität“. In: Der Deutschunterricht 50 (1998), S. 38–48; Priska Pytlik (Hg.): Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Tübingen, Basel 2006; Saskia Wendel: Die Bedeutung der mystischen Erfahrung

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prinzipielle interpretatorische Anschlussfähigkeit von Schröders und Weiß’ religiösen Bildgedichten an neomystische Strömungen seit der Jahrhundertwende sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Dichter dezidiert eine christlich-visionäre Bilddichtung anstreben. Von ihrer inhaltlichen Seite her, der Literarisierung religiös-christlicher Gegenstandsbereiche, im Falle von Schröder und Weiß aber auch auf formaler Ebene mit der Strenge des Sonettzyklus, sind die im Mittelpunkt stehenden Sonettzyklen literarhistorisch als religiöse Bildgedichte auch Teil einer „traditionalistische[n] Gegentendenz“ zur übrigen Lyrikproduktion in der Weimarer Republik, deren Autoren ihre Werke ausdrücklich als modern und auch moderne Gebrauchslyrik verstanden wissen wollten.133

2.1 Romantische Tradition, defizitäre Gegenwart und heilgeschichtliche Zukunfts-Verklärung: Rudolf Alexander Schröders Sonette an die Sixtinische Madonna (1909/1927) Dass Raffaels Sixtinische Madonna (Abb. 72) nicht zuletzt aufgrund ihrer spätestens seit Winckelmann von überschwänglicher, beinahe kultischer Verehrung geprägten Rezeptionsgeschichte kein Dichtungsgegenstand eines weltzugewandten, die Triebfedern der modernen Welt der 1920er Jahre kritisch in den Blick nehmenden Autors sein kann, legt Alfred Polgar in seinem kurzen Essay Andacht und Erschütterung von 1931 nahe.134 Sein Anliegen ist es, in satirisch-

|| im Kontext des Religiösen. In: Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Hg. von Wilhelm Gräb u.a. Frankfurt am Main [u.a.] 2007 (Religion – Ästhetik – Medien, Bd. 2), S. 217–230. 133 Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933. München 2017, hier S. 1053; für einen anderen Autor, Max-Herrmann Neisse und seine 1911 entstandenen Sonette für Franziskus, hat Ähnliches kürzlich Wilhelm Kühlmann festgestellt: Wilhelm Kühlmann: Franziskanische Standortsuche im Frühexpressionismus. Unvorgreifliche Bemerkungen zu „Die zehn Sonette für Franziskus“ (1911) von Max-Herrmann Neisse. In: Euphorion 111 (2017), S. 247–256. 134 Winckelmann wird gemeinhin als Stichwortgeber und Wegbereiter der deutschsprachigen literarischen Sixtina-Verehrung gesehen. Die ältere, quellenreiche Studie von Wilhelm Hoppe ist bereits 1935 zum ersten Mal erschienen, zum Thema aber noch lesenswert: Wilhelm Hoppe: Das Bild Raffaels in der deutschen Literatur von der Zeit der Klassik bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Hildesheim 1974 (Quellen und Forschungen, H. 8); repräsentativ und aussagekräftig ist die Zusammenstellung von Quellen bei Michael Ladwein (Hg.): Raffaels Sixtinische Madonna. Literarische Zeugnisse aus zwei Jahrhunderten. Gesammelt und erläutert von M.L. Dornach 2004.

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bissiger Überspitzung die Sixtina-Betrachtung und -Verehrung als weltfremdes, unzeitgemäßes und sinnentleertes Ritual bildungsbürgerlicher Prägung zu entlarven. Dafür kontrastiert er die Kunstbetrachtung des Altarbildes aus dem 16. Jahrhundert mit den Anzeigetafeln von Kursbewegungen der Finanzmärkte und der Ergriffenheit ihrer Beobachter. Kritisiert wird vor allem das Unauthentische und daher Unzeitgemäße der Sixtina-Verehrung, wobei der linksliberale Polgar sicherlich wohl ebenso wenig eine Apologie eines ungebremsten Kapitalismus im Sinn gehabt haben dürfte: Die Sixtinische Madonna hat in Dresden ihr eigenes Kabinett. An der Wand dem Bild gegenüber: ein Bänkchen. Dort sitzen die Anschauer, in konzentrierter Bereitschaft zur Ergriffenheit, und bemühen sich, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dieser und dem Gemälde herzustellen. Tiefe Stille. Es fällt keine Stecknadel, woher sollte auch eine fallen?, aber wenn sie fiele, würde man es sprichwörtlich hören. Die Andächtigen schauen nicht nur, sie lauschen auch. Sie verharren unbeweglich, als könnte das Geheimnisvolle, das von dem Bild zu ihnen strömt, durch jeden lauteren Atemzug verscheucht werden. Es ist im Raum die Spannung einer spiritistischen Séance. […] In dem vornehmen Pariser Hotel gibt es, zwischen Halle und Speisesaal, ein Zimmer, dessen geladene Atmosphäre sehr an jene in der Stube der Sixtinischen Madonna erinnert. In zwei Reihen sitzen andächtige Männer und Frauen, oder eigentlich Herren und Damen, den Blick festgesaugt an der Wand ihnen gegenüber. Kein Wort wird gesprochen, nur zuweilen weht ein schwaches Flüstern durch die Reihen. Manche, die auf den Stühlen keinen Platz mehr gefunden haben, nehmen stehend an dem Gottesdienst (denn so etwas Ähnliches wird hier zelebriert) teil, die Rückwärtigen auf den Zehenspitzen, um über die Köpfe vor ihnen hinwegzusehen. Lautloses Erscheinen und Verschwinden. Silence religieux. An der Wand, die alle Augen so magisch fesselt, ragt eine schwarze Tafel, drei Meter hoch und mindestens doppelt so breit, mit Zauber-Chiffren bedeckt. Vor ihr gleitet auf unhörbaren Sohlen ein Mann, in Sweater und Hemdsärmeln, von rechts nach links, von links nach rechts. Er ist an einem langen Draht befestigt, die in den Kopfhörer um des Mannes Haupt mündet, und hält Schreibkreide zwischen den Fingern, mit welcher er, Stimmen von irgendwoher folgend, die der Kopfhörer ihm zuraunt, immer neue Zeichen auf die von Zeichen starrende Tafel malt. Bisweilen setzt er sich nieder, still auf neue Erleuchtung harrend, und jedesmal, wenn er sich erhebt und an die Tafel schreitet, zittert eine Welle der Erregung über die Gesichter der Gläubigen. Andacht und lautlose Erschütterung wie vor der Sixtinischen Madonna! Nur wirken beide hier, vor den amerikanischen Börsennotierungen, entschieden echter als dort, obwohl das Kolossalgemälde der New Yorker Kurse (in dem Pariser Hotel) ziemlich kunstlos und nur weiß auf schwarz gemalt ist. Die Perspektive allerdings ist großartiger als bei Raffael.135

Einer glaubensstärkenden Wirkung und andachtsstiftenden Funktion des Altarbildes für die Gegenwart erteilt Polgar ebenso eine Absage wie der (vergangenen) || 135 Alfred Polgar: Andacht und Erschütterung. In: Ders.: Kleine Schriften. Bd. 1: Musterung. Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 423f.

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literarischen Heiligen- und Raffael-Verehrung mit ihrer Betonung des Wunderbaren, Übersinnlichen und Unaussprechlichen der Malerei, wie sie durch Winckelmann und Herder vermittelt, von der Romantik bis zum Realismus bei E.T.A. Hoffmann und Novalis, bei A.W. Schlegel, Ludwig Uhland, Theodor Körner, Zacharias Werner, Wolfgang Robert Griepenkerl, Friedrich Hebbel und Paul Heyse in zahlreichen Gedichten, Dramen und erzählenden Texten zum Ausdruck gebracht wurde.136 Allerdings verlief die deutschsprachige literarische und ideologische Rezeptionsgeschichte der Sixtina seit Winckelmann nicht völlig bruchlos, wie es Polgar in seiner ‚Entweihung‘ des Altarbildes unterstellt. Zwar beschwor noch 1867 Carl Gustav Carus die Unvergleichbarkeit der Madonnendarstellung, die „immerfort durch und durch einzig, an sich aber eigentlich unaussprechbar“ sei und wiederholte in Anlehnung an den Ausspruch Augusts III. bei der Aufstellung des Altarbildes 1754 in Dresden, dass „wir an diesem Werke das erste Bild der Welt [besitzen]“,137 doch war gerade das späte 19. Jahrhundert, in seiner öffentlichen, populärwissenschaftlichen und kunstgeschichtlichen Wahrnehmung und Beurteilung der italienischen Renaissancekunst von der dichotomischen Vorstellung geprägt, die in Michelangelo und Raffael zwei vollkommen gegensätzliche Künstler inszenierte. Polgar mag mit seiner Diagnose für die Motivation des durchschnittlichen Museumsbesuchers in Dresden durchaus Recht haben, für die literarische Rezeptionsgeschichte der Sixtina ist allerdings eine differenzierte Perspektive notwendig. Gleichwohl kommt auch Theodor Lessing ein Jahr vor der Entstehung von Schröders ersten acht Sonetten zur Sixtina (1909) zu einem ähnlichen Befund wie Polgar, ohne aber an der Omnipräsenz des Werkes eine Minderung seines religiös-christlichen Gehaltes festzumachen. „Kein Kunstwerk überhaupt“ gebe es, so Lessing 1908 in seiner Studie zu Raffael, „das so volkstümlich und so allgemein beliebt [ist], wie Raffaels Madonna von San Sisto.“ Und er fährt fort: „In allen Stuben hängt sie. In allen Schaufenstern liegt sie aus. In ganz Europa, ganz Amerika. Milliarden Menschen haben das Bild erschaut.“138 Tatsächlich hingen

|| 136 Die wichtigsten Quellen bei Ladwein (Hg.): Raffaels Sixtinische Madonna, 2004; bis heute grundlegend zur Wirkungsgeschichte des Altarbildes ist die Studie von Marielene Putscher: Raphaels Sixtinische Madonna. Das Werk und seine Wirkung. Tübingen 1955, zur literarischen Rezeption S. 162–175; ferner auch Ernst Osterkamp: Der Kulturheiland. Raffael in der deutschen Literatur der Goethezeit. In: Sterbliche Götter. Raffael und Dürer in der Kunst der deutschen Romantik. Hg. von Michael Thimann und Christine Hübner. Petersberg 2015, S. 42–61, bes. S. 43–51. 137 Carl Gustav Carus: Ueber die Sixtinische Madonna des Raphael. Dresden 1867, S. 7 bzw. 3. 138 Theodor Lessing: Madonna Sixtina. Ästhetische und religiöse Studien. Mit 6 Farbdrucktafeln und 12 Textabbildungen. Leipzig 1908, hier S. 13.

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Reproduktionen der Altartafel nicht nur in den Arbeitszimmern von Dichtern und Komponisten wie Fjodor Dostojewski und Johannes Brahms. Auf der Werkbundausstellung 1906 wurde die Sixtina von dem Jugendstilkünstler Richard Riemerschmid in seinem Entwurf einer Arbeiter-Musterwohnung auch als Kleinformat über dem Ehebett drapiert.139

Abb. 72: Raffael: Sixtinische Madonna (1512/1513)

Dieser allgemeinen, kommerziellen Rezeption der Sixtina und ihrer Omnipräsenz im öffentlichen und privaten Raum der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende steht eine durchaus problematische literarische Rezeption von Raffael und der Sixtina gegenüber. Diese hat durch die Präferenz für Michelangelo spätestens seit der Reichsgründung 1871 bis ins frühe 20. Jahrhunderts einen deutlichen Dämpfer erhalten.140 Die von Herman Grimm maßgeblich vorangetriebene Heroisierung Michelangelos, die dem Künstler Schwere und Ernst, Eigenwilligkeit und Ruhelosigkeit, Unerbittlichkeit sich selbst und anderen gegenüber attestierte, war für eine deutsch-nationale Vereinnahmung und Funktionalisierung besser geeignet

|| 139 Zur Werkbund-Ausstellung vgl. Wolfgang von Löhneysen: Raffael unter den Philosophen. Philosophen über Raffael. Denkbild und Sprache der Interpretation. Berlin 1992, S. 218f. 140 Gisbert Kranz spricht sogar von einer „Raffaelverachtung“ und konnte keine Sixtina-Gedichte nach 1945 in nichtsozialistischen Ländern mehr nachweisen, vgl. Gisbert Kranz: Gedichte über die Sixtinische Madonna. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 44 (1981), S. 159–170, hier S. 167. Kranz stellt – meist summarisch – 64 Gedichte aus vier Jahrhunderten und 10 Sprachen vor.

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als die im Gegensatz dazu als akademische Malerei inszenierte Kunst Raffaels.141 In Abgrenzung zu Raffael wurde Michelangelo unter deutsch-nationalen Vorzeichen im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Aushängeschild „germanische[r] Gehaltskunst“ gefeiert, wohingegen der zierliche und jünglingshafte, entrückt wirkende Raffael als Inbegriff „romanischer Formkunst“ verstanden wurde.142 Seine klassische Harmonie und Klarheit, seine religiöse Tiefe und sein christlicher Ernst sind es aber gerade, die der Klassizist und sich selbst als „Wiederholer und Fortsetzer“143 bezeichnende Rudolf Alexander Schröder für seine Sonette an die Sixtinische Madonna als Anregung versteht. Acht Sonette sind wohl schon ab 1907 entstanden und 1909 in dem von Schröder und seinen Freunden Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt herausgegebenen Jahrbuch Hesperus im Leipziger Insel-Verlag gedruckt worden. Nach der Zählung im Sonettzyklus sind das die Sonette 1–4 sowie 8, 15, 22 und 21.144 Die restlichen 16 Sonette hat Schröder erst nach dem Ersten Weltkrieg während der 1920er Jahre geschrieben und dann 1928 fertiggestellt.145 In seiner vorliegenden Form mit 24 Sonetten nahm Schröder den Zyklus in den ersten Band der von 1952 bis 1965 publizierten achtbändigen Ausgabe seiner Gesammelten Werke auf und zwar seltsamerweise nicht in die Abteilung Geistliche Gedichte, sondern der Autor hat den Zyklus den Weltlichen Gedichten zugewiesen.146 Die Forschung hat diesen Umstand immer erwähnt aber nicht weiter kommentiert oder gedeutet.147 Angesichts von Schröders akribischer Werkpolitik und der Reflexion seiner

|| 141 Grundlegend die Studie von Joseph Imorde: Michelangelo Deutsch! Berlin 2009. Imorde behandelt die deutsch-nationale Michelangelo-Rezeption von 1860 bis 1945; Herman Grimm: Leben Michelangelos. 2 Bde. Hannover 1860/1863. Detailliert dazu auch oben, Kapitel I.5). 142 Imorde: Michelangelo Deutsch, 2009, S. 117; die Formulierung und Denkweise stammen aus dem Avenarius-Umkreis. 143 Hans Egon Holthusen: Tradition und Ausdruckskrise. Der Lyriker Rudolf Alexander Schröder. In: Merkur 6 (1952), S. 415–436, hier S. 417. 144 Vgl. Rudolf Alexander Schröder: An die Sixtinische Madonna [8 Sonette]. In: Hesperus. Ein Jahrbuch 1 (1909), S. 171–175. 145 Die Überlieferungs- und Druckgeschichte erläutert ausführlich Kranz: Gedichte über die Sixtinische Madonna. 1981, S. 167ff.; ferner auch und ausführlicher Gisbert Kranz: Das gläubige Weltkind. Rudolf Alexander Schröder (1878–1962). In: Ders.: Begegnungen mit Dichtern. Wuppertal, Zürich 1990, S. 9–17. 146 Schröders Unterteilung seiner Dichtungen in weltliche und geistliche Dichtung seit den 1930er Jahren behandelt Marion Heide-Münnich: Homo Viator. Zur geistlichen Dichtung Rudolf Alexander Schröders. Frankfurt am Main 1996 (Christliche deutsche Autoren des 20. Jahrhunderts, 4), bes. S. 32f. 147 Vgl. Kranz: Gedichte über die Sixtinische Madonna, 1981, S. 167; Kranz: Das gläubige Weltkind, 1990, S. 15.

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eigenen Schaffensbiographie sowie mit Blick auf die christliche Ikonographie der Bild-Vorlage und die erbauliche Wirkungsabsicht der Sonette ist die von Schröder vorgenommene Zuordnung doch einigermaßen verwunderlich. Betrachtet man aber die Provenienz von Raffaels Sixtina, so fällt auf, dass Schröder mit dieser Zuordnung des Zyklus offenbar bewusst eine Parallele zur Funktionsgeschichte der Bildvorlage seiner Sonette zieht. Zu der wohl berühmtesten Raffaelschen Altartafel mit ihren gewaltigen Abmessungen von 270cm Höhe und zwei Metern Breite fehlen zwar jegliche Dokumente über die Entstehungs- und Auftragsgeschichte. Doch spricht vieles spricht dafür, dass die Madonnendarstellung mit Kind und korrespondierenden Heiligen Barbara und Papst Sixtus II. – dessen Name titelgebend in der Rezeptionsgeschichte wurde – von Raffael 1511/14 für den Hochaltar des Benediktinerklosters San Sisto in Piacenza geschaffen worden ist, das im 18. Jahrhundert in finanzielle Nöte geraten war und das Werk nach fast zweijährigen Verhandlungen mit einem Beauftragten des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs August III. an diesen verkaufte.148 Der Dichter Schröder gibt seinem Sonettzyklus als einem Werk der christlichen Andacht innerhalb der Abteilungen seiner Dichtung denselben Platz im Bereich der weltlichen Dichtung wie auch die bedichtete Altartafel Raffaels – aus ihrem ursprünglichen liturgischen Zusammenhang der Klosterkirche entfernt – nunmehr im weltlichen Rezeptionskontext des Museums betrachtet werden muss. Beiden Kunstwerken, der Altartafel und dem Sonettzyklus, kommt somit schon rein äußerlich eine zwischen weltlicher und himmlischer Sphäre vermittelnde Funktion zu. Die der weltlichen Dichtung zugeordneten Sonette sollen wohl gerade in ihrer sprachlichen Adaption des Madonnenbildes dem (weltlichen) Leser den Weg zur ursprünglichen (religiösen) Funktion der Tafel und damit zur christlichen || 148 Untersuchungen und Darstellungen zu Raffaels Madonnen-Darstellung sind Legion. Tatsächlich fehlen jegliche Dokumente zur Auftragsvergabe, so dass in der langen kunsthistorischen Rezeptionsgeschichte bisweilen sowohl der ursprüngliche Bestimmungsort als auch Raffaels Urheberschaft angezweifelt wurden und die Sixtina als schlechtes ‚Machwerk‘ bezeichnet wurde. Für Andreas Prater ist das Altarbild daher eines der „am besten ikonographisch erforschten und quellenmäßig am schlechtesten belegten Hauptwerke Raffaels“, vgl. Andreas Prater: Jenseits und diesseits des Vorhangs. Bemerkungen zu Raffaels ‚Sixtinischer Madonna‘ als religiöses Kunstwerk. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 42 (1991), S. 117–136, Zitat S. 17; zuverlässig zur Entstehungs-, Auftrags- und Ankaufgeschichte sind folgende Studien, die auch jeweils den Stand der Forschung zusammenfassen: Claudia Brink: Der Name des Künstlers. Ein Raffael für Dresden. In: Raffael. Die Sixtinische Madonna. Geschichte und Mythos eines Meisterwerks. Hg. von Claudia Brink und Andreas Henning. München, Berlin 2005, S. 53–92, zum Ankauf bes. S. 58–68; Michael Rohlmann: Raffaels Sixtinische Madonna. In: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 30 (1995), S. 223–248, bes. S. 223ff.

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(Rück-)Besinnung weisen. Dafür verzichtet Schröder auf eine detaillierte Bildbeschreibung und lässt das lyrische Ich vielmehr in der Anrede der einzelnen Bildfiguren den direkten Kontakt mit den Heiligen suchen. Gleichwohl werden in den Sonetten nach und nach alle wesentlichen Charakteristika der Bildkomposition (Rahmen, Vorhang: 9; 14), Figurenanordnung und Blickrichtungen (Dreieck, Kreisform, Betrachter: 8; 9; 11; 14) und Hintergrundgestaltung (Wolken: 1, V. 14; 4, V. 4) sowie die seit Winckelmann thematisierten Auffälligkeiten (Blick der Madonna, Ernsthaftigkeit und Alter des Jesuskindes: 3, V. 8; 6, V. 9; 15, V. 1–4) angesprochen. Zwar machen die von der Betrachtung ausgehenden Reflexionen zur Heilsgeschichte quantitativ den Großteil des Zyklus aus, doch entsteht gewissermaßen in impressionistischer, punktueller Manier vor den Augen des Lesers auch das tatsächliche Bild Raffaels. Der Sonettzyklus Schröders – das trifft analog auch auf den von Grünewald-Zyklus von Konrad Weiß zu zu (Kapitel III., 2.2.) – soll in seiner vollständigen Form mit 24 Sonetten (1928) als Dokument der religiösen Reflexion und heilsgeschichtlichen Vergewisserung gelesen werden. Umso mehr, als er dem durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verunsicherten Individuum und einer demoralisierten Welt Trost und kontemplative Rückzugsmöglichkeiten zu bieten imstande ist. Die einzelnen Sonette folgen zwar ihrer Form nach nicht einem strengen Typus der Sonett-Dichtung und weisen auch viele verschiedene Reimschemata auf, doch wählt Schröder eben nicht das Einzelgedicht, sondern greift auf den Sonett-Zyklus als eigene poetisch-ästhetische Ordnung zurück, der auf formaler Ebene ein Gegengewicht zur vor allem in religiösen Fragen als fragmentiert empfundenen und in Unordnung geratenen Gegenwart markieren soll.149 Wenn auch die Bildkomposition, wie noch zu zeigen sein wird, für die Anlage der Sonette eine wichtige Rolle spielt, so kommt die Überhöhung des Künstlers Raffael – wie sie prominent noch die Eröffnungsstrophe von Friedrich Hebbels Gedicht Auf die Sixtinische Madonna formuliert, wo der Künstler zum gottgleichen Schöpfer erhoben wird – bei Schröder nicht zur Sprache, er konzentriert sich vielmehr auf die heilsgeschichtliche Bedeutung des Dargestellten.150 In den

|| 149 Für Rilkes Stundenbuch (1905) und vor allem die Duineser Elegien (1912/1922) hat Wolfgang Braungart in älteren Studien, die er 2016 als Kapitel in eine neue Publikation überführt hat, die zyklische Dichtung als auffälliges Charakteristikum religiöser Dichtung im frühen 20. Jahrhundert herausgearbeitet, vgl. Wolfgang Braungart: Literatur und Religion in der Moderne. Studien. München 2016, hier bes. S. 263–296 und S. 297–332. 150 Die berühmten ersten vier Verse von Hebbel lauten: „Das hätt’ ein Mensch gemacht? Wir sind betrogen!/Das rührt nicht her von einer ird’schen Hand!/Das ist entstanden wie der Regenbogen/Und auch, wie er, ein göttlich Unterpfand!“ Friedrich Hebbel: Werke. Dritter Band. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. München 1965, S. 84.

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ersten acht Sonetten richtet sich der betrachtende Sprecher an die Madonna und kontrastiert die mit ihr verbundene himmlische Sphäre mit einer als düster und moralisch verkommenen Gegenwart einer „alten, abgelebten Welt“ (2, V. 2) und „Totenwelt“ (3, V. 3) voller „kranker Seelen“ (1, V. 5),151 denen jeder metaphysische Horizont und heilsgeschichtliche Sinnzusammenhang und daher auch Raffaels Altartafel und ihr ikonographischer Gehalt fremd geworden sind. Die Sonette acht bis zehn wenden sich die Heiligen Barbara und Sixtus sowie den Putti (Engeln) am unteren Bildrand zu, wohingegen sich die letzten 13 Sonette (12–24) auf das Christuskind konzentrieren (Abb. 72). In dieser übergeordneten Struktur und Abfolge der Sonette werden einerseits die grundlegende Dreieckskomposition sowie die verschiedenen Blickachsen der dargestellten Figuren und damit die Blickrichtungen des Betrachters textuell nachvollzogen.152 Andererseits trägt die implizite Selbstcharakterisierung des lyrischen Ichs, das sich einer unwürdigen gleichzeitig aber Erlösung bedürftigen Welt und Gegenwart zurechnet, auch der Bildrhetorik Raffaels Rechnung: So wie der himmlische Bildraum, in dem die Madonna mit Jesuskind auf einer Wolkenformation – an deren Rändern sich unzählige Engelsköpfe identifizieren lassen – gleichsam ort- und zeitlos zu schweben scheint, durch den zurückgezogenen grünen Vorhang und die Bordüre, auf der die beiden Putti kauern, deutlich abgetrennt ist vom Betrachterraum, so ist auch der Sprecher in jenem Betrachterraum seiner Gegenwart gefangen. Aber „indem er spricht“, so fasst es Marielene Putscher zusammen, „entsteht seine Welt, die wirkliche, in der wir leben, als neuer Raum ‚vor‘ dem Bild“,153 was die ersten vier Sonette, die sowohl den Hesperus-Druck als auch den Zyklus in der Werkausgabe eröffnen, verdeutlichen: 1 O Königin, wie blickst du streng ins Weite, Als wüßtest du von unserer Seelennot Und hättest durchgekostet alle Streite Des schmalen Wirbels zwischen Tod und Tod. 5

Als wüßtest du vom Kampf der kranken Seelen Und von der Bitternis, die uns befällt,

|| 151 Hier nach der Ausgabe: Rudolf Alexander Schröder: Sonette an die Sixtinische Madonna. In: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 1: Die Gedichte. Frankfurt am Main 1952, S. 226–237. Zitate im Fließtext werden im Folgenden mit der Sonettnummer und Verszahl angegeben. 152 Vgl. Stefan Hasler: Zur Komposition des Bildes. In: Raffaels Sixtinische Madonna. Eine Vision im Dialog. Hg. von Harald Schwaetzer, Stefan Hasler, Elena Filippi. Münster 2012, S. 91–122. 153 Putscher: Raphaels Sixtinische Madonna, 1955, S. 173.

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Wenn immer neu mit heftigen Befehlen Die Feuersbrunst des Morgens sich erhellt.

10

Dir, freilich, leuchtet nun das andere Licht, Das nicht so leidenschaftlich wirr und schwank Sich mit der kalten Finsternis bekriegt: Hier ist ein ewig bleibendes Gesicht Voll weißen Friedens, ohne Untergang, Das schmeichelnd sich um deine Füße schmiegt. 2 Wenn die Verzweiflung träte aus den Toren Der alten, abgelebten Welt und fände Der reinen Wolken graues Schneegelände, Das deiner Sohle zu dem Feld erkoren,

5

10

Wenn in des Grames blindgeweinten Augen Ein Leuchten träfe, wie zu deinen Füßen Die Ferne leuchtet, würden sie dich grüßen Und sich Gesundung aus der Kühle saugen. Du wohnst in einem Licht, das milde blickt, Nicht allzu hell, nicht allzu warm: denn Herzen, Verdorrt von Wirbelfeuern dieser Zeit, Sie tauchen gern, zum letztenmal erquickt, Aus allem Gegensatz von Brunst und Schmerzen Ins immer laue Bad der Ewigkeit. 3 Wenn dieses Kind, aus deinem Arm entlassen, Den schmalen Sims mit Lächeln übersteigt, Und in der Totenwelt beschmutzten Gassen Die Reinheit seiner Götterstirne zeigt,

5

10

Und wenn Begierde kommt mit ihren Qualen Und zu dem einzig Auserwählten spricht: Du sollst mit Wucher mir dein Glück bezahlen: – Du weißt das alles; und du lächelst nicht. Du hast in deinem reinen Leib getragen Die einzig reife, einzig wahre Frucht Und bist die Mutter, bist die Königin.

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Was Schicksal hieß und heißt in allen Tagen, Nahm vor sich selbst in deinen Schoß die Flucht Und streckt als Kind die Hände nach dir hin. 4 O allzu weites, allzu fernes Land! Flur, drin Entsagung nicht zu Hause wäre (Denn wo entsagte man, da nichts sich fand Als eine einige Göttlichkeit und Leere?) 5

10

Wie hast du dich mit Wolken aufgeschmückt, Die scheinbar deine Einigkeit zertrennen, Und hast uns Bilder vor das Aug gerückt, Himmlische Bilder, die wir nicht erkennen. Nicht weiß auf Erden eine jener Fraun, Die gleich den Tieren eine Frucht getragen, Von dieser Frucht so göttlich wegzuschaun, Wir sind die Ausgeburt von Nacht und Tagen: Die große Heiligkeit erweckt uns Graun. Wir haben der Madonna nichts zu sagen. 154

Wie schon in diesen ersten vier, so spielten auch in den folgenden Sonetten die Dimension des Themas und der Moment des Blickens und der Blicke eine herausragende Rolle.155 Sie markierten die Interaktion von Bildraum und Betrachterraum und verdeutlichten die Opposition von heilloser Gegenwart und heilsgeschichtlicher Verklärung. Das deiktische „Hier ist ein bleibendes Gesicht“ (1, V. 12) bezieht sich auf die Madonnendarstellung selbst und charakterisiert Raffaels Malerei damit als Medium, das heilsgeschichtliche Gewissheiten nicht nur malerisch visualisiert, sondern auch verewigt und nachvollziehbar macht, selbst wenn am Ende des vierten Sonetts die kritische Diagnose formuliert wird, nach der die „Heiligkeit“ (4, V. 13) des Dargestellten und der Darstellung im Gefühlsund Gedankenhaushalt des modernen Menschen als „Ausgeburt von Nacht und Tagen“ (4, V. 12) keine Bedeutung mehr besitzen. Die „blindgeweinten Augen“ (2, V. 5) trifft nicht mehr das Leuchten jener Malerei, weil sie sich vor der Bildwirkung verschließen. Das liegt aber nicht an Raffaels Kunst, sondern an einer abgelebten, demoralisierten Welt.

|| 154 Schröder: Sonette an die Sixtinische Madonna, 1952, S. 226. 155 Verwiesen sei hier nur auf Stellen, die explizit auf das Sehen, Blickrichtungen und Blickbewegungen Bezug nehmen: 5, V. 1; 8, V. 1 u. 9; 9, V. 9; 10, V. 2; 13, V. 6; 15, V. 2.

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Trotz dieser gegenwartskritischen Befunde eröffnen die Konditionalfügungen in den Sonetten zwei bis vier einen möglichen Ausweg aus dem beschriebenen Dilemma: In erster Linie evoziert Schröders Sonettzyklus ein visionäres Bild und damit sprachlich das, was sowohl die zeitgenössische Raffael-Literatur als auch die jüngere Forschung als wesentliches Merkmal der Tafel diskutiert und herausgestellt haben: Auch sie interpretieren Raffaels Altartafel als Vision einer Himmelsvision oder nach Hans Beltings prägnanter Formulierung, in Abgrenzung zu Raffaels älterem Tafelbild der Madonna di Foligno (1512, Abb. 73) gesprochen: „Das ältere Bild enthält eine himmlische Erscheinung. Die ‚Sixtinische Madonna‘ ist eine solche.“156 Indem Raffael den in der italienischen Malerei auf eine enorme Tradition blickenden Bildtypus der Sacra conversazione – die intime Madonna mit Kind-Darstellung mit korrespondierenden, unterschiedlichen Heiligenfiguren – variiert und nicht mehr auf einen architektonischen oder landschaftlichen Hintergrund für seine Bildkomposition zurückgreift, sondern mit der Wolkenformation einen gleichsam zeitlosen wie überirdischen Bildraum schafft, verlasse er die tradierte Form der Bildaufgabe und öffne die Gattung hin zu einer Visionsdarstellung.

|| 156 Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990, S. 535; zum bildtheoretischen, kulturhistorischen und epochalen Hintergrund einer Epoche des „neuen Sehens“ und deren Voraussetzungen vgl. Harald Schwaetzer: Die Sixtinische Madonna als Visionsdarstellung. In: Raffaels Sixtinische Madonna. Eine Vision im Dialog. Hg. von Harald Schwaetzer, Stefan Hasler, Elena Filippi. Münster 2012, S. 31–49; Kranz weist das hier bei Schröder konstatierte Phänomen der visionären Dichtung auf ein Visionsbild auch an anderen Texten nach und kommt zu folgendem Schluss: „Wir blicken durch den geöffneten Vorhang nicht in den Himmel hinein, sondern aus dem Himmel heraus? Obwohl wir auf der Erde stehen? Nun, wenn wir vor dem Bilde stehen, wäre der ‚Thron Gott Vaters‘ identisch mit Himmel […], doch hinter uns zu denken. Jedenfalls weisen die Augen beider Putten, Jesu und Mariä und Sixtus’ Zeigefinger dorthin. Ist damit die Deutung des Bildes als Epiphanie, als Himmelsvision, hinfällig? Nein. Sie müßte nur etwas komplizierter formuliert werden. Was Raffael in der Sixtinische Madonna malte, ist keine Himmelsvision, sondern die Vision einer Himmelsvision; eine indirekte Epiphanie; eine Epiphanie, die auf eine höhere Epiphanie verweist. Theologisch gesprochen: Er malte den inkarnierten Sohn als den Mittler zum Vater, als den Abglanz des Vaters. Er malte, was Mystiker, Kirchenväter, ja das Neue Testament in Worten auszudrücken suchten.“ Kranz: Gedichte über die Sixtinische Madonna, 1981, S. 165.

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Abb. 73: Raffael: Madonna di Foligno (1512)

Ähnliches hat der bereits zitierte Theodor Lessing in seiner Raffael-Studie von 1908 schon festgestellt und Raffaels Werk eine „Theophorie“, eine „Darbringung Gottes“ genannt.157 Dagegen interpretiert Schröder die Raffaelsche Visionsdarstellung vollständig aus einer christlichen Perspektive und wendet sich damit auch gegen eine Ästhetisierung und mithin Bagatellisierung des Religiösen, wie es Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (1878/1886) anhand der Sixtina vorgenommen hat: Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne „Glauben“ a u c h haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt. Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren, wir Jüngern wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt: „Nicht wahr? Diese Mutter und ihr Kind – das ist ein angenehmer, einladender Anblick?“158

Indem nun das lyrische Ich in Schröders Sixtina-Sonetten immer wieder die Lichtführung und deren Wirkung (1, V. 9–11; 2, V. 6 u. V. 9) sowie die Madonna in ihrer

|| 157 Lessing: Madonna Sixtina, 1908, S. 40; die Forschung zur Sixtina verfolgte kontinuierlich diese Deutung, vgl. Putscher: Raphaels Sixtinische Madonna, 1955, S. 81; Rohlmann: Raffaels Sixtinische Madonna, 1995, S. 232; Prater: Jenseits und diesseits des Vorhangs, 1991, S. 120; Kranz: Gedichte über die Sixtinisch Madonna, 1981, S. 165f. 158 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. I und II. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980 (Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2), S. 585.

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durch eine Wolkenformation symbolisierten himmlischen Sphäre (2, V. 3–4; 4, V. 5–8) beschreibt, macht es das Potential ‚richtig‘ angeschauter religiöser Malerei deutlich und führt eine solche Anschauung sprachlich performativ vor. Der millionenfachen, sinnentleerten und entkontextualisierten Kunstbetrachtung, wie sie auch Alfred Polgar in seinem Essay satirisch entlarvt, wird hier die religiöse Meditation und Andacht im Medium des Bildgedichts entgegengesetzt und gleichzeitig das scheinbar seiner religiös-liturgischen Funktion beraubte Altarbild rehabilitiert. In programmatischer Weise sucht Schröder mit einer solchen Konzeption (christlich) visionärer Bilddichtung, in der Sixtina-Deutungen als gemalte Visionen aufgerufen und rezipiert werden, programmatisch den Anschluss sowohl an ältere Sixtina-Dichtungen wie die Sonette und Gedichte von August Wilhelm Schlegel, Theodor Körner und Friedrich Hebbel als auch an zeitgenössische bildtheoretische und kunstphilosophische Konzepte, wie sie 1912 der Hamburger Kunsthistoriker und Freund Aby Warburgs Oscar Ollendorff zusammenfasste.159 In seiner breiter angelegten Studie zum Verhältnis von Malerei und religiöser Andacht, in der auch Michelangelo, Correggio, Tizian, Holbein, Dürer, Rubens, Murillo und Rembrandt behandelt werden, widmet sich Ollendorff im 6. Kapitel Raffael und interpretiert die Sixtina als Gottesvision.160 Die religiöse Andacht, die für Ollendorff vom Visuellen, vom Gemalten ihren Ausgangspunkt nimmt und Anregung erhalten kann, charakterisiert er als „Verkehr der Seele mit Gott“,161 was Schröder in seinen Sonetten über die Sixtina in Sprache übersetzt. Schröders Sonette deuten Raffaels Sixtina in diesem Sinne als Zeichen und Visualisierung des Absoluten und versprachlichen die Begegnung mit diesem Göttlichen und die Erfahrung christlicher Heilsgeschichte im Rückgriff auf sprachliche und bildliche Elemente mystisch-spiritueller Dichtung, die im Zuge der Mystikrezeption und eines gesteigerten Mystikinteresses seit der

|| 159 Gisbert Kranz bezeichnet den Zyklus daher auch zurecht als Zusammenfassung und Synthese verschiedener Sixtina-Dichtungen: „Die Dante nachahmende Andacht Schlegels, die pietistische Frömmigkeit des Novalis, das meditierende Gebet Sophie Brentanos, die Erschütterung Körners, der Urmutter-Kult Goethes, die Christozentrik Zacharias Wernes, aber auch der Pessimismus Schopenhauers, die Ratlosigkeit Brigitte Wolfs und die Rebellion Streubels haben in Schröders Dichtung Platz. Wären nicht das ästhetische Interesse und das Enkomium auf Raffaels Genie völlig abwesend, könnte man den Zyklus eine Summe aller Möglichkeiten der Sixtina-Gedichte nennen.“ Kranz: Gedichte über die Sixtinische Madonna, 1981, S. 168. 160 Vgl. Oscar Ollendorff: Andacht in der Malerei. Beiträge zur Psychologie der Grossmeister. Leipzig 1912, bes. S. 64ff.; auf Ollendorff und seine wichtige Studie verweisen auch Putscher (Raphaels Sixtinische Madonna, 1955, S. 67) und Prater (Jenseits und diesseits des Vorhangs, 1991, S. 120), schreiben aber beide konsequent den Namen falsch als „Ollendorf“. 161 Ollendorff: Andacht in der Malerei, 1912, S. 13.

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Jahrhundertwende enormen Zuwachs erlangte und auch noch in den 1920er Jahren eine klare Gegenströmung zur sachlichen, sich selbst avantgardistisch verstehenden Literatur der Klassischen Moderne markiert. Die dezidiert christliche inhaltliche Ausrichtung ist dabei als bewusste Differenz zur „gottlosen Mystik“ der Jahrhundertwende zu werten und erprobt entgegen Max Webers berühmtem Diktum von der „Entzauberung der Welt“ im Bildgedicht die „Verzauberung“ der Gegenwart durch eine Renaissance christlicher Werte und Vorstellungen in der Begegnung mit dem Absoluten, das sich zeichenhaft in Raffaels Sixtina konkretisiert.162 In Anlehnung an Josef Quints Forschungen zu Meister Eckhart definiert Martina Wagner-Egelhaaf Mystik als „Erfahrung der Wahrheit in der Einigung des Urgrundes alles Seins mit der Seele“. Sie sei eine „Erscheinung kultureller Überreife“ und hebe, „getragen von der Sehnsucht des Menschen nach direktem Kontakt mit dem Göttlichen, die Disharmonie zwischen menschlichem und übermenschlichem Bereich auf“.163 Raum-Reflexion und die Markierung unterschiedlicher Räume, Bildlichkeit und Vergeistigung machen also das gedankliche und sprachliche Koordinatensystem in der mystisch inspirierten Dichtung aus, was sich exemplarisch bereits an den ersten vier, aber ebenso an den erst in den 1920er Jahren entstandenen Sonetten – mit Ausnahme von Nummer acht – fünf bis neun nachweisen lässt: 5 Ich weiß, dein Blick geht über uns hinweg; Du blickst in Fernen ohne Gegenstand. Hier unten ist die Trübsal allzu reg, Wie hättest du dich da zu uns gewandt?

|| 162 Vgl. Spörl: Gottlose Mystik, 1997; Ulbricht: Der „neue Mensch“ auf der Suche nach „neuer Religiosität“, 1998, S. 39ff.; Saskia Wendel: Die Bedeutung der mystischen Erfahrung im Kontext des Religiösen. In: Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Hg. von Wilhelm Gräb u.a. Frankfurt am Main u.a. 2007 (Religion – Ästhetik – Medien, Bd. 2), S. 217–230; die Relevanz des Themas für die Zeit um 1900 und die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt das groß angelegte, von der Volkswagen-Stiftung geförderte und von Klaus Vondung und Ludwig Pfeiffer geleitete Forschungsprojekt „Mystik und Moderne“ (2003–2006), aus dem insgesamt vier Publikationen mit unterschiedlichen Schwerpunkten hervorgegangen sind (erschienen 2006–2008: Jenseits der entzauberten Welt. Mystik und Naturwissenschaft in der Moderne; Cybermystik; Biomystik; Mystik und Medien. Erfahrung – Bild – Theorie). 163 Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik und Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 29f.

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5

10

Du bist die Reine; und wir sind nicht da, Um deiner Sohle nur uns hizulegen. Und doch: das Heiligste, das dir geschah, Du trugst es und ertrugst es unsertwegen. Und wenn dein Antlitz also tränenlos Und ungerührt mit göttlichem Verzichten Nur in die Leere deiner Himmel schaut, So trugst du doch uns Kinder all im Schoß; Und aller irren Welt vergebenes Dichten Stammt aus der Dunkelheit, die dir vertraut. 6 Wenn du nach vorgeschriebenen Lebenstagen, Nach allem Grauen seiner Wanderschaft, Nach aller Last, die er herangerafft, Um Menschen-Los nach Götter-Art zu tragen,

5

10

Wenn du den so Beschmutzten, voller Harm, Erdrückt von Ekel, überschwemmt mit Hohn, Wenn du den also schwer beladenen Sohn Mit Kraft emporhebst, fest in deinem Arm, Daß er wie jetzt mit kindlich ernstem Sinn Von deiner Brust ins Graun der Leere schaut, Die um die Fülle seiner Gottheit wirbt, So glauben wir, du bist die Königin, Vor der die Flut der Weltgeschicke staut, Vor der die Angst und die Begierde stirbt. 7 Du zitterst nicht, in deinem Arm zu tragen Das Schicksal, das sich als dein Kind gefällt. Wohl müßte jede andre Mutter zagen, Nur du nicht, Ur-Ur-Älteste der Welt.

5

10

Eh Gott noch war, und eh er sich empfunden Und uns empfunden, trugst du ihn im Schoß; Und so ist alles fest an dich gebunden Und löst sich nicht aus deinen Armen los. Wohl sendest du den Herrscher unsrer Zeiten Von deiner Brust und läßt ihm seine Zeit, Das alte Schicksal wieder zu bereiten, Des Lichts und Dunkels wundervollen Streit.

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Ach, Menschen Sohn, du machst dich uns gemein, Verfinsterst dich und machst uns doch nicht rein! 8 Du zitterst nicht, in deinem Arm zu tragen Das Schicksal, das sich als dein Kind gefällt. Wohl müßte jede andre Mutter zagen, Nur du nicht, Ur-Ur-Älteste der Welt. 5

10

Eh Gott noch war, und eh er sich empfunden Und uns empfunden, trugst du ihn im Schoß; Und so ist alles fest an dich gebunden Und löst sich nicht aus deinen Armen los. Wohl sendest du den Herrscher unsrer Zeiten Von deiner Brust und läßt ihm seine Zeit, Das alte Schicksal wieder zu bereiten, Des Lichts und Dunkels wundervollen Streit. Ach, Menschen Sohn, du machst dich uns gemein, Verfinsterst dich und machst uns doch nicht rein! 9 Die Kindlein, die im bleichen Geisterringe Als Wache schweben vor dem Himmelreich Die alle freundlich schaun und alle gleich Und nur ein Antlitz sind und eine Schwinge,

5

10

Sie bleiben fremd dem Spiel, das vor dem Rahmen, In dem ihr steht, sich streng mit uns begibt; Sie wissen nicht, wie bitter Liebe liebt, Denn Lieb und Haß sind ihnen gleiche Namen. Sie blicken nur mit unentwegten Sternen Ins Wunder, das vor ihnen aufgetan, Begnügt am Schimmer zugemessner Fernen, Da keiner weichen will und keiner nahn. Fiel unser Schatten über jene Schwelle, Ihr Himmel würd im Augenblick zur Hölle. 164

|| 164 Schröder: Sonette an die Sixtinische Madonna, 1952, S. 228–230.

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Bezeichnenderweise thematisiert und reflektiert das lyrische Ich in diesen Sonetten wiederum Raffaels Bild- und Raumkonzeption. Von der Bildbetrachtung ausgehend nimmt das lyrische Ich zunächst immer wieder eine Einteilung von überirdischer und weltlicher Sphäre vor. In der überirdischen Sphäre schweben vor das „Himmelreich“ (9, V. 2) drapiert die beiden Putti und die „Seligen“ (10, V. 2), Sixtus und Barbara, bleiben in „abgetrennten Zonen“ (11, V. 1). Davon unüberwindbar abgetrennt sieht sich der Sprecher in seiner Gegenwart wie in einem „Gefängnis“ (10, V. 12) und einer „niedern Sphäre“ (11, V. 5) zugehörig. Die beiden Putti markieren also nicht nur den „Rahmen“ (9, V. 5) des Bildraums, sondern auch die Grenze heilsgeschichtlicher bzw. transzendenter Sphären, wie sie das lyrische Ich Raffaels Bildkonzeption entsprechend konstruiert. In dieser Trennung von himmlischer Seligkeit und irdischem Jammertal bildet sich für Schröder offenbar der religiöse, geistige Zustand des modernen Individuums ab. Die Einteilung wird ja nicht nur betont, sondern der Sprecher fordert regelrecht dazu auf, diese Trennung aufrechtzuerhalten, wenn er die Heiligen mehrfach ermahnt, in ihrer „Ruhe heiterem Gefilde“ (11, V. 2) zu bleiben und die in der bildlichen Darstellung angedeutete Bewegung hin zum Betrachter umzukehren (10, V. 1–4: „Ich möchte wohl, ihr wendetet die Schritte/Und blicktet uns, o Selige, nicht an;/Und, rückwärts schwebend nach des Himmels Mitte,/Verschwändet ihr in dem bewölkten Plan.“), da nach seiner Lesart die „dunklen Mienen“ (10, V. 5) des Gegenwartsmenschen nichts mit ihrem „Götterangesicht gemein“ (10, V. 6) haben. Kennzeichnend für die aus der Zwiesprache mit den dargestellten Figuren – hier allen voran der Madonna – vorgetragenen christlichen Glaubensinhalte ist einerseits, dass das lyrische Ich sich als Sprecher eines (erlösungsbedürftigen) Kollektivs, der Menschheit, versteht, worauf die zahlreichen Plural-Pronomina verweisen (5, V. 1, 5, 6, 8; 6, V. 12; 7, V. 9, 13, 14; 8, V. 4, 9–12; 9, V. 6). Andererseits ist die auf der Darstellung von Widersprüchen und Antagonismen (Sonette 7, 8 und 9) sowie Konditionalfügungen (Sonett 5 und 6) aufbauende gedanklichrhetorische Struktur dieser Reflexionen paradoxerweise ein Mittel, um den Rezipienten zur Erfahrung einer höheren Einheit anzuregen, womit auf ein geradezu klassisches Instrument mystischen Sprechens zurückgegriffen wird.165 Die dergestalt angestrebte, sprachlich evozierte unio mystica, die ihr visuelles Vorbild in der Bildbetrachtung von Raffaels Sixtina hat, wird für den religiös empfindenden und spirituell erlebenden Menschen erst in der Vergegenwärtigung des Irrationalen der Heilsgeschichte erfahrbar. Dabei macht der Sprecher deutlich, dass die

|| 165 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 1989, S. 29.

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thematisierten Widersprüche nur durch den festen Glauben an die Erfüllung dieser Heilsgeschichte aufzulösen sind (7, V. 9–14): Wohl sendest du den Herrscher unsrer Zeiten Von deiner Brust und läßt ihm seine Zeit, Das alte Schicksal wieder zu bereiten, Des Lichts und Dunkels wundervollen Streit. Ach, Menschen Sohn, du machst dich uns gemein, Verfinsterst dich und machst uns doch nicht rein!

Die im achten Sonett einen sündenfreien Zustand symbolisierenden Engel werden dem Leser zudem als Sinnbilder einer möglichen Erlösung vorgestellt und damit als eine auf der Interaktion von Altartafel und Betrachter beruhende, besser gesagt in diesem Verhältnis schon vorgeprägte Versöhnung von himmlischer und irdischer Sphäre inszeniert: „Blickt her zu uns! Vielleicht verstünden wir/Die Kindlichkeit, die wir an euch gewahren;/Denn einmal blickten wir so seelenlos//Und ohne Furcht ins irdische Revier,/Da wir noch ohne Wort und Lüge waren/Die kaum Entsprossenen aus dunklem Schoß.“ (8, V. 9–14) Schröder rekapituliert damit im Gedicht die bereits genannten kunstwissenschaftlichen Überlegungen zur Sixtina, die darin nicht mehr (nur) die Anknüpfung an die Bildtradition der sacra conversazione sehen, sondern die Altartafel als Darstellung der Vision einer Gottesvision deuten, die gleichsam von den Bildfiguren und dem Betrachter gesehen wird und damit in Raffaels Tafelbild schon die Möglichkeit einer Versöhnung von himmlischer und irdischer Sphäre angelegt sieht.166 Die der Christusfigur gewidmeten letzten 13 Sonette entfalten am ernsten „traurig[en ]Angesicht“ (15, V. 1) des Jesuskindes den rational nicht zu begreifenden Kern der christlichen Heilsgeschichte, den Opfertod Christi. Im Anblick der Sixtina eröffnen sich für den Sprecher weitere Bilder der Heils- und Passionsgeschichte, so dass der bildtheoretische Status der Altartafel als unbegreifliche Visionsdarstellung noch untermauert wird. Nicht-Sichtbares, die zukünftige Passionsgeschichte, wird in der Darstellung des Raffaelschen sichtbaren Jesuskindes vom lyrischen Ich für den Betrachter als anschaulich und erfahrbar deklariert:

|| 166 Vgl. Schwaetzer: Die Sixtinische Madonna als Visionsdarstellung, 2012, S. 31–35; Elena Filippi: „Durch Schauen wird also Seligkeit errungen…“. Eine Art Einleitung. In: Raffaels Sixtinische Madonna. Eine Vision im Dialog. Hg. von Harald Schwaetzer, Stefan Hasler, Elena Filippi. Münster 2012, S. 9–29.

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14 Die Glieder schwellen schon von wilder Kraft, Da du noch kaum als ein unmündig Kind Und durch die Leerheit deiner Himmel blind Vom Schoße dich gelöst der Mutterschaft. 5

10

Erdrücke diesen Arm, der dich umfaßt, Wie Herkules die Schlangen in der Wiege, Wer schwerer stets und schwerer, daß sich biege Zum Abgrund hin die Trägerin deiner Last. Mit deiner Stirn sollst du den Boden küssen, Den jedes Gift der Erdenschmach getränkt; Und wärest du noch göttlicher als Gott, Du, Erstgeburt der Himmel, sollst es büßen, Was über uns der Dämon hat verhängt: Hilflosigkeit und das Gewand aus Kot. 15 O du unnennbar traurig Angesicht, Das also ernst aus Kinderaugen blickt, Wo ist der Tau, der deine Stirn erquickt, Wo Dämmerung, die freundlich zu dir spricht?

5

10

Schon spürt die schwere Hand das Nägelmal, Die Schulter trägt des Kreuzes dürre Last, Schon fühlt dein Herz die hoffnungslose Qual, Die du, o Sohn, auf dich genommen hast. Du breitest schweigend deine Arme aus Und schließest eng an deine Brust den Haß Und gehst hinweg in unsre Einsamkeit. Sag, armes Kind, wo ist dein Vaterhaus? Hat denn für dich der Himmel kein Gelaß, Kein Obdach, ärmster Wanderer, bereit?

[…] 17 Wirst du die Last der Menschenherzen tragen, Die du, o Sohn, mit Willen übernommen, Wenn wieder dir nach vorbestimmten Tagen Dein Bethlehem und Golgatha gekommen? 5

Geheimnis unergründlicher Gewalt, Die dich verstößt aus der ererbten Wohne,

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Anheimgegeben knechtischer Gestalt, Den eignen Zorn zu büßen in der Frone

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Der Unerlösbarn! – Wunderlicher Gott, Zwingt dich so krank Gelüst, mit Adams Söhnen Die Strafe, die du selbst verhängt, zu teilen? Der Juden und der Hohenpriester Spott Hängst du, Gekreuzigter, und hörst ihr Höhnen: „Da seht den Arzt; er kann sich selbst nicht heilen.“ 167

Waren die bisherigen Sonette eindeutig als Aussagen des in Andachtshaltung vor Raffaels Sixtina verharrenden lyrischen Ichs zu verstehen, so ist die Sprechsituation in den Sonetten 15 bis 17 uneindeutig. Zwar können auch die an das Jesuskind gerichteten Worte als Ansprache des bisherigen Sprechers gelesen werden, doch lässt die Kommunikationssituation auch zu, die unerwiderten Apostrophen des Jesuskindes als „o Sohn“ (15, V. 8; 17, V. 2) und „armes Kind“ (15, V. 12) als intime Zwiesprache zwischen der Madonna und ihrem Kind zu deuten. Durchaus theologisch versiert werden der im Kind schon sichtbar gemachte spätere Leidensweg Jesu und die Vorstellung der Präexistenz Christi als zentrale Botschaft der Raffaelschen Darstellung gedeutet. Dabei werden sie aber nicht in dogmatische Formeln gegossen, sondern dem Leser als Ergebnis sprachlich-meditierender Anschauung präsentiert. Dabei wird ein komplexes Zeitgefüge sichtbar: Der Moment des Betrachtens wird vom Sprecher nicht nur zur Reflexion über die historische Passionsgeschichte Jesu perspektivisch ausgeweitet (Sonette 14–15), sondern durch die rhetorischen Fragen in Sonett 15 und 17 auch als ein Geschehen charakterisiert, das sich in der eigenen Gegenwart immer wiederholt und ein sich ständig erneuerndes, hoffnungsvolles göttliches Versprechen in sich birgt. Bildende (sakrale) Kunst wird damit neben der religiösen Dichtung zum wesentlichen Ausdrucksmedium des Religiösen erhoben, was prominent in den 1920er Jahren – ausgehend von seiner 1917 erschienenen Studie Das Heilige – in den Schriften des evangelischen Theologen und Religionswissenschaftlers Rudolf Otto diskutiert und entworfen wurde.168

|| 167 Schröder: Sonette an die Sixtinische Madonna, 1952, S. 232–234. 168 Zu Ottos einflussreichem religionsphilosophischem Denken in der Weimarer Republik vgl. Jan Rohls: Das Heilige und die Kunst. Rudolf Otto und die theologische Ästhetik der zwanziger Jahre. In: Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte. Hg. von Jörg Lauster u.a. Berlin, Boston 2014, S. 463–475.

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Nach Kurt Berger, einem der besten Kenner der Dichtung Rudolf Alexander Schröders, ist Raffaels Altartafel dem Dichter zwar zum „Sinnbild“ einer Seligkeit geworden, die nicht mehr „diesseitig“ ist, doch seien die christlich-mystischen Elemente und Auslegungen des Raffael-Bildes erst das Werk von 1928.169 Bergers These will zum einen eine klare Zäsur zwischen den frühen Dichtungen Schröders vor dem Ersten Weltkrieg und den späteren Texten aus den 1920er Jahren unterstellen und knüpft damit an die in der älteren Forschung verbreitete Vorstellung an, Schröders religiöse „Erfahrung“ habe sich erst ab und nach 1918 vertieft.170 Die frühe Entstehungszeit der ersten acht Sonette und deren unveränderte Übernahme in die Sammlung von 1928 sowie die hier vorgenommene Analyse und Deutung des Zyklus machen indessen deutlich, dass Bergers These einer genauen Betrachtung nicht standhält, worauf schon Gisbert Kranz hingewiesen hat.171 Schröders Sixtina-Zyklus verweist werkbiographisch nicht nur auf die antinaturalistische Gesinnung172 und klassizistische Rückbesinnung des Autors, was in seinem Antiken-Zugang, im Motiv der Wanderschaft und der Sehnsucht nach dem Ewigen als zentralen Konstanten des Werkes zum Ausdruck kommt.173 In den Sonetten an die Sixtinische Madonna manifestiert sich auch Schröders christliche Grundhaltung und Spiritualität sowie sein religiöses Dichtungsverständnis, die trotz der langen Entstehungszeit der Sonette als Konstanten seines

|| 169 Kurt Berger: Die Dichtung Rudolf Alexander Schröders. Das Unvergängliche im vergänglichen Sein. Marburg an der Lahn 1954, S. 399. 170 Zusammenfassend hierzu besonders Richard Exner: „Dieses ganze Netz von Freundschaften“: Das große Beispiel Rudolf Alexander Schröder. In: Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Hg. von Ursula Renner und G. Bärbel Schmid. Würzburg 1991, S. 72–93, bes. S. 85. 171 Vgl. Kranz: Gedichte über die Sixtinische Madonna, 1981, S. 168: „Diese [Bergers These] läßt vermuten, die negativen, nonkonformen, rebellischen Töne beschränkten sich die zuerst entstandene Sonette, die frommen, affirmativen Züge dagegen auf die späteren, nach Schröders Bekehrung geschriebenen. In Wirklichkeit verhält es sich anders: die eine wie die andere Tendenz zieht gleichmäßig durch alle Teile.“ 172 Vgl. Rotraut Straube-Mann: Rudolf Alexander Schröder. In: Christliche Dichter im 20. Jahrhundert. Beiträge zur europäischen Literatur. Begr. von Hermann Friedmann und Otto Mann hg. von Otto Mann. Bern, München 1968, S. 315–327, hier S. 316. 173 Zu zentralen Motiven und Charakteristika von Schröders Dichtung vgl. Heide-Münnich: Homo viator, 1996, S. 10–32; überblickshaft zur Auseinandersetzung mit der Antike und Schröders Übersetzungen Hans-Albrecht Koch: Rudolf Alexander Schröder. Zur Einführung. In: Rudolf Alexander Schröder (1878–1962). Hg. von Hans-Albrecht Koch. Frankfurt am Main 2013 (Beiträge zur Text-, Überlieferungs- und Bildungsgeschichte, Bd. 4), S. 11–22; Ingeborg Scholz: Deutsche Lyrik im Spannungsbogen zwischen Kunst und Religion. Werner Bergengruen und Rudolf Alexander Schröder. Bonn 2002 (Untersuchungen zu den Sprachen und Kulturen der Welt, Bd. 6), zu Schröder S. 41–73, zur Lyrik speziell S. 49ff.

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Werks zu begreifen sind und trotz aller gegenteiligen Positionen die gedankliche und weltanschauliche Geschlossenheit des Zyklus ausmachen. Tagespolitische Konnotationen oder konkrete historische Kontext werden in Schröders Zyklus ausgespart. In ihrer (scheinbaren) Weltabgewandtheit und Zeitenthobenheit wiederholen sie freilich die mit dem ikonographischen Gehalt der Bildvorlage verbundene überzeitliche Thematik.174 Andererseits ist die Verweigerung aktueller ästhetischer und politischer Diskurse auch eine spezifische Form der Weltzuwendung und Weltaneignung – vor allem, wenn man sich die von Schröder selbst vorgenommene Zuordnung des Zyklus zu seinen Weltlichen Dichtungen in Erinnerung ruft. Die hier vorgeführte lyrische Bildbetrachtung geht über die Rezeption des rein Visuellen deutlich hinaus. Sie zeigt eine christlichreligiöse Gedankenwelt als letzten alternativen Rückzugsraum für den Menschen der Gegenwart und soll dezidiert geistige und geistliche Orientierung verschaffen. Der mit solchen Dichtungsvorstellungen und religiösen Positionen an die Öffentlichkeit tretende Dichter Schröder ist zwar unverdächtig, damit (politisch) reaktionäre oder gar mit der nationalsozialistischen und völkischen Ideologie liebäugelnde Literatur zu favorisieren, doch verrät sein in den späten 1920er Jahren vollendeter Sixtina-Zyklus die Nähe zur „schöpferischen Restauration“ Rudolf Borchardts und Hofmannsthals „konservativer Revolution“.175 Ihrem inhaltlichen Kern und ihrer Aussageabsicht nach sind Schröders Sonette Bildgedichte, die religiöse und weltliche Dichtung zugleich sind und sein wollen, insofern sie eine Gegenwartsdiagnose im Sinne tagespolitischer Stellungnahmen zwar verweigern, doch in der Darstellung des modernen Menschen im Spannungsfeld zwischen Welt und Gott ein spezifisch christlich geprägtes Gegenwartsverständnis formulieren.

|| 174 Kranz geht spricht in seiner Charakterisierung des Zyklus von einer Dichtung, „die weder in ihre Entstehungszeit noch an ihren Autor gebunden“ ist. Kranz: Das gläubige Weltkind, 1990, S. 16. 175 Vgl. Lars Korten: Vielfach verstanden und völlig verschlüsselt? Rudolf Alexander Schröders Die Ballade vom Wandermann als Widerstandslyrik. In: Rudolf Alexander Schröder im Dritten Reich. Hg. von Gunilla Eschenbach. Göttingen 2015 (Marbacher Schriften. Neue Folge, 12), S. 63– 83, bes. S. 63f.; Thomas Althaus: Gleichung. Das Netz tautologischer Bezüge in R.A. Schröders früher Lyrik. In: Rudolf Alexander Schröder (1878–1962). Hg. von Hans-Albrecht Koch. Frankfurt am Main 2013 (Beiträge zur Text-, Überlieferungs- und Bildungsgeschichte, Bd. 4), S. 103–128, bes. S. 103f.

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2.2 Grünewald und kein Ende. Zwischen religiöser Sinnstiftung und humanistischem Erbe (Konrad Weiß, Ernst Bertram, Paul Alverdes, Josef Winckler, Johannes R. Becher, Albrecht Haushofer) Die Tafeln des Isenheimer Altars (1512–1516) von Matthias Grünewald sind die bildkünstlerische Vorlage für den 30 Sonette umfassenden Zyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha, die Schröders Zeitgenosse Konrad Weiß wohl zwischen dem Jahresende 1918 und Anfang 1920 verfasste. Sie umkreisen gedanklich in immer neu ansetzender sprachlicher Vergegenwärtigung des Kreuzigungsgeschehens die menschheitsgeschichtliche Bedeutung des leidenden und sterbenden Gottessohnes. Die Sonette beziehen sich damit auf den Normalzustand des Wandelaltars mit Doppelflügeln, der in dieser geschlossenen Form als Mitteltafel die Kreuzigung, auf den flankierenden, schmaleren Seitentafeln links den Hl. Sebastian und rechts den Hl. Antonius präsentiert (Abb. 74).

Abb. 74: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, geschlossene Mitteltafeln, erste Wandelbild (1512/1516)

Wie Schröders Sonette auf Raffaels Sixtinische Madonna sind auch die Grünewald-Dichtungen von Konrad Weiß als Bildgedichte anzusprechen, die in der Auseinandersetzung mit der bildkünstlerischen Vorlage gleichzeitig zu religiösen Meditationen über existentielle anthropologische und geschichtsphilosophische Grundpositionen christlicher Weltanschauung und Weltdeutung des modernen Menschen geraten. Als christliche Dichtung markieren sie damit auch „Problemkonstellationen der Moderne“, indem sie „aktuelle Sinnverluste des

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unrettbar an seine fatale historische Stunde gebundenen Subjekts“176 und den Stellenwert von christlichem Heilsversprechen nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs reflektieren. Bis in die neuere Forschung hinein wurde die Bedeutung von Grünewalds Altartafeln als Anregung und Bildvorlage für den Sonett-Zyklus von Konrad Weiß nicht erkannt, was wohl auch der insgesamt spärlichen Forschungsliteratur zu dem als dunkel und hermetisch geltenden Werk Konrad Weiß’ geschuldet sein mag.177 Erst die Studien von Wilhelm Kühlmann,178 Heiko Christians179 und am ausführlichsten zuletzt Paul Bellebaum180 haben die für das Gesamtwerk von Weiß zentrale Allianz von Bildender Kunst und Dichtung auch mit Blick auf die Gesichte des Knechts auf Golgatha und deren Grünewald-Bezug herausgestellt. Die Sonette fassen das Kreuzigungsgeschehen nicht nur vom biblischen Wort oder von hagiographischen Texten her, sondern stellen bewusst den Zusammenhang mit Grünewalds Bildtafeln und damit einer im Medium der Malerei sinnlich erfahrbare Heilsgeschichte her. Weiß ging es also nicht um „eine erbauliche Paraphrase biblischer Erzählungen“, sondern um „deren Aneignung

|| 176 Wilhelm Kühlmann: „Jäger ohne Wahl“: Existentielle Mythopoesis und die Tradition geistlicher Lyrik. Konrad Weiß’ Aktäon-Gedicht (1925). In: ‚Schöpferische Restauration‘. Traditionsverhalten in der Literatur der Klassischen Moderne. Hg. von Barbara Beßlich und Dieter Martin. Würzburg 2014 (Klassische Moderne, Bd. 21), S. 275–289, hier S. 277. 177 Die sonst sehr verdienstvollen und auch noch heute maßgeblichen Arbeiten zu Weiß von Carl Franz Müller und Ludo Verbeeck etwa gehen auf diesen Zusammenhang nicht ein, vgl. Carl Franz Müller: Konrad Weiss. Dichter und Denker des „geschichtlichen Gethsemane“. Freiburg/Schweiz 1965; Ludo Verbeeck: Konrad Weiss: Weltbild und Dichtung. Eine Untersuchung nach dem inneren Zusammenhang der ersten Schaffensperiode (1909–1920). Tübingen 1970; die literarische Grünewald-Rezeption seit der Jahrhundertwende fasst Achim Aurnhammer zusammen, der ebenso wie die jüngst erschienene, nur auf den Isenheimer Altar und dessen Rezeption ausgerichtete Arbeit von Mathias Mayer die Auseinandersetzung mit Grünewald im Werk von Konrad Weiß nicht erwähnt, vgl. Achim Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans’ ‚Supranaturalismus‘ im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter. Berlin, Wien 2008 (Rombach Wissenschaften, Reihe Catholica, Bd. 1), S. 17–42; Mathias Mayer: Die Rezeption des Isenheimer Altars zwischen Ethik und Ästhetik. Grünewald-Spuren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 27 (2017), S. 528–541. 178 Vgl. Wilhelm Kühlmann: „Der eigenen Unrast Qual“: Sündenfall und Prophetenfigur in der Lyrik von Konrad Weiss. In: Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments. Zweiter Teil: 20. Jahrhundert. Hg. von Frank Link. Berlin 1989 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 5/2), S. 563–576, bes. S. 574f. 179 Vgl. Heiko Christians: Und immer wieder nur das Wort. Konrad Weiß’ Sonett-Zyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha und Der Geist der Liturgie. In: Euphorion 102 (2008), S. 481–502. 180 Vgl. Paul Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort. Untersuchungen zur Lyrik von Konrad Weiß. Borchen 2009, bes. S. 202–220.

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im Verfahren der Selbstanalyse“,181 für welche die die Anschauung der gemalten Heilsgeschichte die grundlegende Voraussetzung ist. Noch stärker als bei Schröder ist bei dem katholischen Theologen und Kunsthistoriker Weiß der Anspruch ausgeprägt, den für die Sonette vorbildhaften Bildgegenstand von seiner Ikonographie her als Mittel der Verkündigung ernst zu nehmen. In gleichem Maße, wie das schon bei den im vorigen Kapitel behandelten Sonetten von Rudolf Alexander Schröder der Fall gewesen ist, geht damit auch hier wieder eine ‚Vernachlässigung‘ des Künstlers im Bildgedicht einher. Im Mittelpunkt steht die von der Bildvorlage vorgegebene Darstellung eines heilsgeschichtlichen Moments, nicht (mehr) die Künstlerverehrung. Konrad Weiß sah zudem im Dichter, der in seinem literarischen Werk das Gesehene sprachlich umsetzt, den „Vermittler und Dolmetscher einer christlichen Heilsbotschaft“.182 Religiöse Malerei, namentlich jene von Matthias Grünewald, wurde von Schröders und Weiß’ Zeitgenossen aber auch nicht nur aus christlicher Perspektive rezipiert und gedeutet. Die hier neben Konrad Weiß behandelten Gedichte von Ernst Bertram (1920), Paul Alverdes (1922), Johannes R. Becher (1937/38) und Albrecht Haushofer (1945) konzentrieren sich auf die bekanntesten und eindringlichsten Darstellungen des leidenden Christus am Kreuz, auf den auch als Karlsruher Kreuzigung (Abb. 75) in der Grünewald-Literatur geführten Tauberbischofsheimer Altar (1523/24) und den Isenheimer Altar (1512–1516). Dieser war während des Ersten Weltkriegs im Winter 1917 zum Schutz vor Beschädigung von seinem ursprünglichen Aufstellungsort im elsässischen Colmar nach München verbracht worden, wo er vom 22. November 1918 bis zum 27. September 1919 in der Alten Pinakothek ausgestellt war.183 Konrad Weiß, der nach der Jahrhundertwende bis 1920 unter anderem als Redakteur für Carl Muths katholische Zeitschrift Hochland in München gearbeitet hat und ab 1920 Kunstreferent der Münchener Neuesten Nachrichten gewesen ist, hat den Isenheimer Altar in dieser Ausstellung gesehen und auch in einem Artikel für Muths Hochland darüber berichtet.184 Von den anderen genannten Autoren ist zumindest bei Ernst Bertram, der nach dem

|| 181 Kühlmann: „Der eigenen Unrast Qual“, 1989, S. 569. 182 Christians: Konrad Weiß’ Sonett-Zyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha, 2008, S. 489. 183 Vgl. Katharina Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung. Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945. In: Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert. Hg. von Brigitte Schad und Thomas Ratzka. Köln 2003, S. 8–17, hier S. 12; einen Eindruck der Münchner Ausstellung vermittelt eine Fotografie des späteren Nazi-Fotografen Heinrich Hoffmann, abgedruckt bei Sylvie Ramond: Grünewalds Nachleben. In: François-René Martin, Michel Menu und Sylvie Ramond: Grünewald. Köln 2013, S. 274–319, hier S. 277. 184 Konrad Weiß: Gesichte eines Knechtes. Zu Grünewalds Isenheimer Altar. In: Hochland 16 (1918/1919), S. 109–112.

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Ersten Weltkrieg auch in München gelebt hat, und Paul Alverdes, der nach dem Krieg in München wie Bertram Kunstgeschichte studiert hat, anzunehmen, dass sie während dieser Zeit Grünewalds Hauptwerk im Original kennengelernt haben.

Abb. 75: Matthias Grünewald: Tauberbischofsheimer Altar/Karlsruher Kreuzigung (1523/1525)

Alle hier behandelten Autoren verbindet thematisch, dass sie Grünewalds Darstellungen des leidenden Christus gerade aufgrund ihres drastischen Realismus als Sinnbild des leidenden Menschen verstehen. Allerdings unterscheiden sie sich erheblich in der Bezugnahme zur christlichen Heilsgeschichte und Heilsbotschaft. Als christliche Meditation literarisiert einzig Konrad Weiß Grünewalds Isenheimer Altar und ist sicherlich als die ästhetisch und intellektuell anspruchsvollste Grünewald-Dichtung zu bezeichnen. Bei Ernst Bertram und Paul Alverdes steht eine gegen den Kriegsgewinner Frankreich ausgerichtete völkisch-nationale Vereinnahmung des ‚deutschen‘ Künstlers im Mittelpunkt, im Zuge derer der Blick auf das Werk und seine heilsgeschichtliche Botschaft deutlich zurücktritt. Dagegen sehen Johannes R. Becher und Albrecht Haushofer in der Kreuzigungs- bzw. die Auferstehungsdarstellung des Isenheimer Altars eine Mahnung, jenseits der christlichen Heilsgeschichte das humanistische Erbe Deutschlands gegen die Nazi-Barbarei zu verteidigen.185

|| 185 Mayer nimmt an den von ihm ausgewählten Texten, die sich mit dem Isenheimer-Altars auseinandersetzen, eine ähnliche Einteilung in ihrer Tendenz nach ästhetisch, theologisch und ethisch ausgerichtete Rezeptionszeugnisse vor. Die hier behandelten Gedichte – vor allem von Bertram und Alverdes – berücksichtigt er nicht. Seine Kategorisierung wäre noch um eine

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Der überschaubaren Anzahl von Bildgedichten zu Grünewald steht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine regelrechte Flut kunstwissenschaftlicher Untersuchungen und Studien sowie popularisierender erzählender Texte zu Grünewald gegenüber, von denen Leo Weismantels 1940 bis 1943 erschienene monumentale Romantrilogie den Fluchtpunkt und die heute noch bekannte Spitze bildet.186 Das ausgeprägte wissenschaftliche und literarische Interesse an Grünewald in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdankt sich zu einem guten Teil der Tatsache, dass der Maler erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. Werkzuschreibungen und Identifikationen bedeutender Altarwerke des frühen 16. Jahrhunderts – etwa des Isenheimer Altars in Colmar – als Arbeiten des über die Jahrhunderte seit Joachim Sandrart behelfsmäßig als Matthias Grünewald von Aschaffenburg, Meister Mathis, Mathis Gothart Nithart oder unter seinen Kürzeln MG und MGN geführten Malers wurden erst seit Wilhelm Füssli (1842), Jakob Burckhardt (1847) und den Arbeiten von Alfred Woltmann vorgenommen, der 1866 eine Studie in der Zeitschrift für Kunstgeschichte veröffentlichte und zusammenfassend zehn Jahre später Grünewald als Schöpfer des Isenheimer Altars in seiner Geschichte der deutschen Kunst im Elsass (1876) in der Forschung zu etablieren versuchte. Bei aller Bewunderung für die Bedeutung der Altäre und Tafelbilder hielt sich Woltmann aber auch mit Kritik an der für ihn ins Widerliche gehenden Darstellungsweise Grünewalds nicht zurück.187 Die radikal-naturalistische malerische Präsentation des Leidens und geschundenen Körpers in Grünewalds Kreuzigungsdarstellungen rief bei den Rezipienten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowohl hymnische Verehrung und

|| ideologisch ausgerichtete zu ergänzen. Vgl. Mayer: Die Rezeption des Isenheimer Altars, 2017, S. 528f. 186 Vgl. Leo Weismantel: Das Totenliebespaar. Roman aus d. Kindheit und den Lehrjahren des Mathis Nithart, der fälschlich Matthias Grünewald genannt wurde. München 1941; Der bunte Rock der Welt. Roman aus den Wander- und frühen Meisterjahren des Mathis Nithart […]. München 1941; Die höllische Trinität. Roman aus den Jahren der Vollendung des Meisters Mathis Nithart […]. München 1943. 187 Einen zuverlässigen Überblick zum Lebensweg bietet Horst Ziermann (unter Mitarbeit von Erika Beissel): Matthias Grünewald. München, London, New York 2001, S. 8–28; zur frühen Forschungsgeschichte Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung, 2003, S. 8–10; die „Fragmente einer Biographie“ stellt François-René Martin zusammen. In: François-René Martin, Michel Menu und Sylvie Ramond: Grünewald. Köln 2013, S. 12–35; bedeutsam für die frühe wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Grünewald waren noch die bei Heinemann nicht angeführten Arbeiten von: Franz Bock: Die Werke des Matthias Grünewald. Mit 31 Lichtdrucktafeln. Strassburg 1904 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 53) und Max J. Friedländer: Grünewalds Isenheimer Altar. München 1908.

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Faszination als auch schroffe Ablehnung hervor, die nach dem Bekunden ihrer Verfasser bis zur körperlichen Abneigung reichte. Die spärlichen Nachrichten und wenigen gesicherten Daten zu Grünewalds Biographie bildeten in der Folge jener ersten Phase der stilkritischen und kunstwissenschaftlichen Beschäftigung mit Grünewald einen günstigen Nährboden für allerlei rührselige, oft genug der erzählerischen Phantasie freien Lauf gebende Texte, wie sie zunehmend vor allem in den 1920er Jahren publiziert wurden. Die Forschung hat die legendenhaften Romane Matthias Grünewald. Ein Büchlein für die Kinder Gottes (1920), Vor dem Isenheimer Altar Matthias Grünewalds. Eine Andacht (1923) und Der Barbar. Ein Matthias-Grünewald-Roman (1930) von Nikolaus Schwarzkopf sowie vor allem Herbert Eulenbergs Grünewald-Phantasie in seiner Sammlung Erscheinungen (1924) als Indizien sowohl für einen auch nach dem Ersten Weltkrieg anhaltenden Grünewald-Manie als auch für dessen „Verflachung“188 und Abgleiten zur „modischen Attitüde“189 gewertet. So bedeutsam die Studien von Ingrid Schulze zur Grünewald-Rezeption in Literatur und Bildender Kunst auch sind, so scheint ihr noch zu DDR-Zeiten formuliertes Verdikt über diese Texte nicht nur von den meisten Autoren unreflektiert übernommen worden zu sein, sondern wurde auch offensichtlich nicht im Zusammenhang mit der durchaus klar erkennbaren ideologischen Ausrichtung ihres Forschungsbeitrags von 1987 rezipiert, in dem Grünewald in seiner Vorbildrolle für Otto Dix, Johannes R. Becher oder George Grosz regelrecht zu einem „frühbürgerlichen Meister“190 mit Neigung zum Anti-Kapitalismus avant la lettre stilisiert wird.191 Die stilistisch und kompositorisch innovativen, von ihrer Kritik an reaktionären Kräften in der Weimarer Republik auch politisch subversiv gedeuteten bildkünstlerischen Kriegsverarbeitungen von George Grosz oder Otto Dix – mit seinem deutlich an Grünewald und seine „Gefühlsekstatik“192 || 188 Ingrid Schulze: Zur Grünewald-, Bosch- und Goyarezeption in der antifaschistischen Kunst und Literatur. In: Wissenschaftliche Zeitschrift. Martin Luther-Universität Halle Wittenberg 36 (1987), S. 79–98, hier S. 88. 189 Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung, 2003, S. 14. 190 Schulze: Zur Grünewald-, Bosch- und Goyarezeption, 1987, S. 79. 191 Schulzes Urteil entbehrt beim Blick in die Texte nicht einer gewissen Berechtigung. So ließen sich bei Schwarzkopf etliche Passagen finden, die voller Pathos die historische Distanz zu Grünewald einebnen wollen und auf affektive Berührung des Lesers ausgerichtet sind: „Wahrlich: die Seele dieses Meisters war ein brennender Dornbusch, aus der Gott zu uns reden möchte.“ Nikolaus Schwarzkopf: Matthias Grünewald. Ein Büchlein für die Kinder Gottes. München 1920, S. 15; immerhin ist sein ähnlich angelegter, zehn Jahre später erschienener zweiter Roman zu Grünewald 1930 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet worden und dürfte die Leseerwartungen eines bildungsbürgerlichen Publikums durchaus bedient haben. 192 Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung, 2003, S. 13.

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gemahnenden Kriegstriptychon (1929–1932, Abb. 76) – bilden in den 1920er Jahren das avantgardistische, bildkünstlerische Gegenstück zu jenen gefälligen Grünewald-Erzählungen und waren nach dem Zweiten Weltkrieg die maßgeblichen Anknüpfungspunkte etwa für den künstlerischen Neuanfang in der DDR.193

Abb. 76: Otto Dix: Der Krieg (1929/1932)

Berücksichtigt wurden von Schulze in diesem Zusammenhang auch nicht die Grünewald-Sonette von Konrad Weiß. Ebenso wurden die Studien von Wilhelm Rolfs (1923) und Margarethe Hausenberg (1927) nicht beachtet, die schon in den 1920er Jahren die Entwicklung der Grünewald-Rezeption seit Heinrich Alfred Schmids 1911 erschienener, bis heute in weiten Teilen noch maßgeblicher zweibändiger Monographie durchaus kritisch reflektierten.194 Entscheidend für die unterschiedlichen kulturhistorischen und ideologischen Ausrichtungen der Grünewald-Rezeption in den Bildgedichten nach dem Ersten Weltkrieg ist der von der frühen kunstwissenschaftlichen Forschung betonte Antagonismus von Dürer und Grünewald. Bis heute werden in der Forschung bisweilen nicht nur die Diskussionen um seine vermeintliche – wahrscheinlich aber ins Reich der Legenden gehörende – Begegnung mit Dürer oder || 193 Vgl. Schulze: Zur Grünewald-, Bosch- und Goyarezeption, 1987, S. 79; ausblickhaft auch Rudolf Kober und Gerd Lindner: Paradigma Grünewald. Zur Erbe-Rezeption in der bildenden Kunst der DDR. In: Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert. Hg. von Brigitte Schad und Thomas Ratzka. Köln 2003, S. 32–43. 194 Vgl. Heinrich Alfred Schmid: Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald. 2 Bde. (Textband und Bildband). Strassburg 1911; Wilhelm Rolfs: Die Grünewald-Legende. Kritische Beiträge zur Grünewald-Forschung. Mit 24 Tafeln. Leipzig 1923; Margarethe Hausenberg: Matthias Grünewald im Wandel der deutschen Kunstanschauung. Leipzig 1927.

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seine Italienreise weitergeführt, sondern auch Grünewalds letztlich nicht beweisbares, positives Verhältnis zur Reformation.195 Im Unterschied zu Dürer wurde Grünewald aufgrund der überlieferten Werke einerseits ausschließlich als Tafelmaler und Zeichner wahrgenommen. Andererseits wurde in der frühen Rezeption bis zum Ersten Weltkrieg und teilweise darüber hinaus seine deutsche Wesensart herausgestellt, die zwar nicht zu einer Abwertung Dürers aufgrund dessen „italienisierender Richtung“196 und intellektuellem Profil führte, durchaus aber zumindest bis in die frühen 1930er Jahre eine Favorisierung Grünewalds gegenüber Dürer auch bei national-konservativen und völkischen Autoren mit sich brachte.197 Bezeichnenderweise versuchte der nach dem Ersten Weltkrieg und vor seiner Berufung in die USA 1924 noch in Göttingen Kunstgeschichte lehrende Oskar Hagen in seinem bedeutenden Grünewald-Buch von 1919 diese Sicht auf die beiden Künstler zu relativieren und Dürer und Grünewald als zwei „grundverschiedene Seiten des deutschen Wesens“ zu beschreiben.198 Gleichwohl lassen sich bemerkenswerte Unterschiede im Umgang mit Dürer und Grünewald beobachten. Anders als die bereits in Kapitel I., 2 dargestellte literarische Dürer-Rezeption steht die frühe literarische Grünewald-Begeisterung zunächst weniger unter ideologischen als religiösen Vorzeichen. Das hängt maßgeblich mit den aus der Feder des Décadence-Dichters Joris-Karl Huysmans stammenden und in Deutschland breit rezipierten Beschreibungen der Karlsruher Kreuzigung und den Bildtafeln in Colmar zusammen, die der Autor, der sich nach seiner symbolistischen Phase seit Mitte der 1890er Jahre dem Katholizismus verschrieben hatte, in seinem Roman Là-Bas (1891) und der Essaysammlung Trois Primitifs (1905) vorgelegt hatte.199 Intensiver als von deutschen Dichtern wurden Huysmans Grünewald-Literarisierungen zunächst von Vertretern der bildkünstlerischen Avantgarde wie Max Beckmann, Paul Klee und August Macke als

|| 195 Vgl. hierzu Karl Arndt: Mathis Neithart Gothart, genannt Grünewald, in seiner Epoche. In: Grünewald und seine Zeit. Große Landesausstellung Baden-Württemberg. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 8.12. 2007–2.3.2008. Hg. von Dietmar Lüdke und Jessica Mack-Andrick. Karlsruhe, München, Berlin 2007, S. 19–29, bes. S. 20. 196 Schmid: Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald, 1911, S. 10. 197 Vgl. Arndt: Mathis Neithart Gothart, 2007, S. 21ff. 198 Oskar Hagen: Matthias Grünewald. Mit 111 Abbildungen. München 1919, S. 15. 199 Huysmans’ Beschreibung der Karlsruher Kreuzigung wurde vor allem durch die aus dem Roman isolierte deutsche Übersetzung bekannt, abgedruckt 1895 in der Zeitschrift PAN, auf die im Zusammenhang mit Weiß, Becher und Haushofer noch eingegangen wird. Das Kapitel zu Grünewald in Trois Primitifs erschien zuerst 1904 in der Kunstrevue Le Mois littéraire et pittoresque unter dem Titel Les Grünewald du Musée de Colmar. Vgl. hierzu ausführlich Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans’ ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 20–30.

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Anregungen für ihr eigenes Schaffen zur Kenntnis genommen. In den Jahren nach der Jahrhundertwende haben diese Künstler regelrechte Wallfahrten nach Colmar und Karlsruhe unternommen.200 Die Begegnung mit den Originalen von Grünewald spiegelt sich in ihren frühen Werken wider. An späteren Bekenntnissen der genannten Maler zu Grünewald aus den 1920er Jahren fehlt es ebenso wenig wie an Grünewald-Bezügen in der Malerei dieser Jahre von Lovis Corinth, Otto Dix, George Grosz oder Oskar Kokoschka, die allesamt konkrete künstlerische Gestaltungselemente und ästhetische Charakteristika von Grünewald übernahmen, was gleichzeitig auch den markantesten Unterschied zur Dürer-Rezeption darstellt. Insgesamt kann von einer gesteigerten Popularität Grünewalds gegenüber Dürer vor und nach dem Ersten Weltkrieg gesprochen werden, was sich sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung eines gebildeten und politisch interessierten Publikums als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Malerei der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts beobachten lässt.201 Diese Popularität Grünewalds gerade in und nach den Tagen der Münchner Ausstellung des Isenheimer Altars funktionalisiert Ernst Bertram im Sinne einer völkischnationalen Vereinnahmung des Künstlers. Das lapidar mit Grünewald überschriebene Gedicht wurde zuerst in seiner 1920 erschienenen Gedichtsammlung Straßburg publiziert. Es nimmt die Rückgabe des Isenheimer Altars an Frankreich und dessen Rückführung ins nun zum Kriegsfeind gehörende Elsass im Herbst 1919 zum Anlass (V. 5–9), sowohl der Vorstellung eines geschändeten, isolierten

|| 200 Max Beckmann und August Macke sollen 1904 bzw. 1909 in Colmar gewesen sein, Paul Klee hat sich die Karlsruher Kreuzigung im Jahr 1906 im Original angesehen. Vgl. Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung, 2003, S. 10; ferner auch Reiner Meyer: „…einen Stahl Grünewaldscher Kunst in unserer Zeit“. Eine Studie zur Grünewald-Rezeption bei Max Beckmann. In: Grünewald in der Moderne. Die Rezeption Matthias Grünewalds im 20. Jahrhundert. Hg. von Brigitte Schad und Thomas Ratzka. Köln 2003, S. 44–50, hier S. 44; Thomas Ratzka: Dix, Grünewald und die Neue Sachlichkeit. In: Ebd., S. 51–62. Sylvie Ramond bezweifelt mit Blick auf die Tagebücher Beckmanns Reise nach Colmar im Jahr 1904, lässt aber an der Bedeutung Grünewalds für Beckmann keinen Zweifel, vgl. Ramond: Grünewalds Nachleben, 2013, S. 288–294. 201 Am deutlichsten wird das in der schon erwähnten Studie von Franz Bock, der Grünewald als „Vater des Barock im Norden“ (S. 95) bezeichnet und die Konkurrenz von Dürer und Grünewald zugunsten des ‚neu‘ entdeckten Malers historisch einzuordnen versucht: „Wer vielleicht eine Ueberschätzung Grünewalds auf Kosten Dürers und Baldungs finden sollte, möge bedenken, wieviel an Werken und an Ruhm diesen gegeben worden ist, das ihm gehörte und gebührte.“ Bock: Die Werke des Matthias Grünewald, 1904, S. 4; ähnlich auch dann die Position in der einschlägigen Studie von Schmid: Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald, 1911, S. 1–25; vgl. auch Ingrid Schulze: Die Erschütterung der Moderne. Grünewald im 20. Jahrhundert. Eine Studie. Leipzig 1991 (Seemann-Beiträge zur Kunstwissenschaft), S. 15–20.

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und besiegten Deutschlands Ausdruck zu verleihen als auch darauf aufbauend die Überzeugung eines kulturell trotz der Kriegsniederlage weiterhin überlegenen Deutschlands zu inszenieren und aufrechtzuerhalten.202 Der kämpferische Ton des Gedichts und seine bisweilen martialische Wortwahl befeuern rechtsnationale Überzeugungen eines ungerecht behandelten Kriegsverlierers. Das verdichtet sich in der Rückgabe des Isenheimer Altars nach Bertrams Lesart exemplarisch:

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Legende unsres innersten Geblüts, Einsiedelwerk, du höchster Eremit, Verkündigung des Heils, Geburt des Retters, Aus Horn und Harfe orgelnde Musik: Fahr hin, o Traumgebirg und Farbendonner Auf fremden Boden (ach, auf Heimatgrund), Wo sie dich scheu bestaunen, scheu bemakeln Wie uns, unsäglich Fremdling du. Fahr hin In Einsamkeit, wildre als dich gebar, Weise, du Täufer Gottes, den der wächst, Tröste, du Treuer, was in Weh verstöhnt, Und über Tod und Teufel im Triumph Sei Geistes Auferständnis, der sich hoch Aus Bogenglorie in die Himmel wirft. Schrei feuerzungend und pfingstlich Wort, Sing engelharfend herrlich unser Blut, Und klage, klage, höchster Eremit, Die Sterbenot des Volkes, das dich schuf, Der Bläue auf mit solcher Beterwut, Daß sie zerberstend schüttert über uns Den Schrei Gerechtigkeit.203

Die 21 ungereimten, bis auf zwei Ausnahmen (V. 10–11) regelmäßige jambische Fünfheber aufweisenden Verse setzen ein mit einer über 4 Verse hinweg ausgedehnten Apostrophe. Sie besteht aus zunächst für den Leser nicht recht schlüssigen, durch die Überschrift vermeintlich auf Grünewald beziehbaren Epitheta, die bei genauerer Lektüre aber auf Figuren der Isenheimer Altartafeln verweisen. Gemeint ist der Eremit und Hl. Antonius (V. 2), der unter anderem auf den beiden Seitentafeln des vollständig geöffneten Altars (zweite Öffnung bzw. drittes

|| 202 Zu den unterschiedlichen Bewertungen des Kriegsendes und der Niederlage Deutschlands vgl. Leonhard: Die Büchse der Pandora, 2014, S. 979–996; mit Verweis auf die ähnlich wie Bertrams Gedicht ausgerichteten Quellen zur Rückführung des Altars vgl. Heinemann: Entdeckung und Vereinnahmung, 2003, S. 13; Schulze: Die Erschütterung der Moderne, 1991, S. 95f. 203 Ernst Bertram: Straßburg. Ein Kreis von Ernst Bertram. Leipzig 1920, S. 60.

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Wandelbild) sowie die Verkündigungsszene und Geburt Jesu (V. 3–4), die auf der Mittel- und linke Seitentafel des Isenheimer Altars im Zustand geschlossener Innenflügel (erste Öffnung bzw. zweites Wandelbild) zu sehen sind (Abb. 77a und 77b).

Abb. 77a: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, zweites Wandelbild (1512/1515)

Abb. 77b: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, drittes Wandelbild (1512/1515)

Angesprochen wird also nicht, wie der Titel des Gedichts vermuten lassen würde, der Künstler Grünewald, sondern sein berühmtestes Werk, der Isenheimer Altar. Dennoch bilden der Künstler und seine oberdeutsche Herkunft das gedanklichideologische Zentrum des Gedichts. Mit der Umschreibung des Werkes als „Legende unsres innersten Geblüts“ (V. 1) knüpft Bertram an das seit Franz Bock (1904) über Heinrich Alfred Schmid (1911) bis Wilhelm Hausenstein (1919) proklamierte Konzept von Grünewalds Malerei als Inbegriff nordisch-deutscher Wesensart an, gibt mit seiner Wortwahl („unsres innersten Geblüts“) dieser Vorstellung aber einen deutlich völkisch-rassischen Anstrich. Der trotzig klingende, wiederholt benutzte Imperativ „Fahr hin“ (V. 5 und 8) verweist zwar auf den konkreten Anlass des Gedichts und charakterisiert in diesem Zusammenhang auch Grünewalds Darstellungsweise als „Traumgebirg und Farbendonner“ (V. 5).

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Doch wird damit vor allem auch die Unrechtmäßigkeit der Rückführung herausgestellt, insofern dem Werk im Elsass eine Rezeption prognostiziert wird, die von Unverständnis gekennzeichnet sein würde (V. 8). An der kulturellen Zugehörigkeit des Altars zu Deutschland lässt Bertram indessen keinen Zweifel und schlägt noch nationalen Profit und argumentatives Potential aus dieser Zuschreibung, wenn paradoxal die Rückführung des Isenheimer Altars „auf fremden Boden“ gleichzeitig als Rückführung „ach, auf Heimatgrund“ (V. 6) charakterisiert wird. Nachkriegsrevanchismus und Revisionismus verbinden sich in Bertrams Grünewald-Gedicht mit völkisch-nationaler Kunst- und Künstlerdeutung, nationale Kunstzuschreibungen und Künstlercharakterisierungen werden zur Basis territorialer, kulturgeographischer Forderungen und Ansprüche. Rund ein halbes Jahrhundert früher finden sich in Alfred Woltmanns Grünewald-Beitrag von 1866 und vor allem seiner Darstellung des Isenheimer Altars in seiner Geschichte der deutschen Kunst im Elsass (1876) solche Denkmuster vorgeprägt, in denen Kunstbetrachtung und nationale Machtinteressen miteinander in Zusammenhang gebracht werden.204 Bertram geht sogar so weit, den Isenheimer Altar, nachdem er im ersten erst zur „Legende unsres innersten Geblüts“ (V. 1) stilisiert worden ist, zum künstlerischen Produkt des deutschen Volkes zu deklarieren (V. 18). Daneben treten die religiösen Dimensionen von Grünewalds Isenheimer Altar und Kreuzigungsdarstellungen, wie sie noch bei Huysmans vorgegeben waren und später bei Konrad Weiß im Mittelpunkt stehen werden, fast vollständig zurück. Christliche Heilsgeschichte wird lediglich zum Bildspender einer oberflächlichen Beschreibungsebene. Die bei Grünewald in Szene gesetzten Figuren werden nicht in existentieller Selbstbefragung angerufen, die visualisierte Heilsgeschichte nicht im Akt kontemplativer Rückbesinnung vergegenwärtigt. Vielmehr richtet sich das offenbar gemeinschaftsstiftend und für ein Kollektiv sprechende lyrische Ich ab der Mitte des Gedichts an einzelne, mit den Bildtafeln des Isenheimer Altars identifizierbare Figuren, und zwar an Johannes den Täufer (V. 10), den Gekreuzigten selbst (V. 11–14) und schließlich an den Hl. Antonius (V. 15–19), der hier als Eremit angesprochen wird, um für ein Kollektiv Wiedergutmachung und Hilfe zu erbitten. Das geschieht aber nicht im Ton demütigchristlicher Gottesverehrung, sondern erinnert vielmehr rhetorisch und inhaltlich an die deutsche agitatorische Weltkriegslyrik. Syntaktisch wirken diese Aufrufe – vor allem die letzten fünf Verse – durch Parenthesen und

|| 204 Vgl. hierzu auch Schulze: Die Erschütterung der Moderne, 1991, S. 97f.; zu Bertrams Rolle als ‚Sänger des Nordens‘ und seiner ideologischen Ausrichtung vor allem nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Karl Otto Conrady: Völkisch-nationale Germanistik in Köln. Eine unfestliche Erinnerung. Schernfeld 1990, S. 18–51; Böschenstein: Ernst Bertram, 2005.

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Silbentrennungen („aufklagen“, V. 17 u. 19) gestelzt, ungelenk und angestrengt. Dazu trägt auch die bewusst altertümliche Wortwahl bei (V. 17–19: „aufklagen“; V. 20: „schüttern“). Die Aussageabsicht der Imperativreihen lässt sich doch recht gut erfassen, wenngleich sie bei der ersten Lektüre nicht sofort ersichtlich ist. Maßgeblich für die Deutung von Bertrams Grünewald-Dichtung bleibt seine Funktionalisierung des Malers für eine lyrische Verklärung nicht des leidenden und von Wunden übersäten gekreuzigten Christus des Isenheimer Altars, sondern für die Verherrlichung des deutschen Bluts (V. 16) und die Apologie der „Sterbenot des Volkes“ (V. 18), was in einem Appell für Wiedergutmachung und „Gerechtigkeit“ (V. 21) gipfelt. Bertram betreibt also eine – aus christlicher Sicht – Profanisierung und Säkularisierung des christlichen Bildgegenstandes und stellt sich bewusst in die Tradition der vergangenen Weltkriegslyrik, wohingegen Konrad Weiß zur selben Zeit Grünewalds Isenheimer Altar und dessen Kreuzigung Christi in seinem Sonettzyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha zum Ausgangspunkt christlicher Rückbesinnung und lyrischer Meditation gerade im Bewusstsein des Ersten Weltkriegs als Kultur- und Zivilisationsbruch erhebt. Umgekehrt wird durch den traditionsreichen Deutungsrahmen eine völkische Identität sakralisierend überhöht.

Zwei Jahre nach Bertrams Straßburg-Sammlung erschien in Der Weiße Ritter Verlag in Berlin ein Band mit Gedichten von Paul Alverdes mit dem programmatischen Titel Die Nördlichen (1922). Einige der Gedichte des später vor allem als Herausgeber der konservativen Kulturzeitschrift Das Innere Reich bekannt gewordenen Autors sind geprägt von einem durchaus christlichen Vokabular und zielen meist auf die Vergewisserung heilsgeschichtlicher Kernvorstellungen wie Auferstehung und Opfertod.205 Die Sammlung enthält auch sechs unter dem Titel Matthias Grünewald. Fragmente einer Sonate206 zusammengefasste Gedichte, die, wenngleich weitaus weniger explizit als bei Bertram, auch einen ideologisch || 205 Die „Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben“ erschien 1934 bis 1945. Alverdes selbst betonte immer wieder – vor allem auch nach dem Zweiten Weltkrieg – die Publikationsprobleme während der nationalsozialistischen Diktatur. Zu mehreren Verboten oder gar einem endgültigen Verbot der Zeitschrift, wie von ihm betont, ist es allerdings nie gekommen. Obgleich auch regimekritische Autoren in der Zeitschrift zu Wort kommen konnten und Alverdes im Nachhinein die Zeitschrift auch als Möglichkeit der ‚Inneren Emigration‘ charakterisierte, hat die Forschung die ideologische Nähe des Organs zur nationalsozialistischen Kulturpolitik immer wieder betont. Vgl. Marion Mallmann: „Das Innere Reich“. Analyse einer konservativen Kulturzeitschrift im Dritten Reich. Bonn 1978, bes. S. 138–151. 206 Paul Alverdes: Die Nördlichen. Gedichte. Berlin 1922, S. 39–47.

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konservativ-nationalistischen Subtext aufweisen, der aber unter dem Gestus religiöser Ergriffenheit durchaus erkennbar bleibt und ebenso wie bei Bertram in der Rezeptionslinie völkisch-nationaler Vereinnahmung Grünewalds steht. Die mittleren drei Gedichte (III–V: Madonna, Kreuzigung, Auferstehung) spielen zumindest von ihren Überschriften her auf Grünewalds Isenheimer Altar an, ohne dabei aber auf den extremen Naturalismus der Darstellung oder dessen Wirkung einzugehen. Vielmehr verneinen die Verse von Alverdes regelrecht Grünewalds extremes Leidenspathos, das sprachlich geglättet wird und gänzlich hinter den eher an Passionslieder erinnernden exclamationes (Kreuzigung) oder an biblische Prätexte erinnernden anaphorischen Preisungen (Auferstehung) verschwindet:

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III Madonna Selig in der Sommersonne Glänzt das Goldhaar der Madonne. O Maria, süße Frau, Märchenbild auf grüner Au, Hingelehnt an Gottes Knie, Deiner Hände Melodie Wiegt das Licht der dunklen Erde, Ewig singende Gebärde! Gott ist deiner Locken Kräuseln, Gott das Lächeln deines Kindes, Sieh, er wohnt im sanften Säuseln, Nicht im Donnerton des Windes. IV Kreuzigung O Leib am Kreuze, Ewiges Zeugnis! O sinkende Mutter, Ewiges Gleichnis!

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O Demut des Hauptes, Verlöschend in Nacht, Triumphschrei der Arme: Es ist vollbracht! Mit Blitzen in Wolken Gemeißelte Tat! – Es bersten die Tempel, Weltende naht!

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V Auferstehung Selig, wer hindurchgerungen, Selig, wer sich selbst bezwungen, Selig, wer in Staub gesunken, Selig, wer den Kelch getrunken, Selig, wer den Leib verachtet, Selig, wer am Kreuz verschmachtet, Wer um des Gedankens Willen, Wer die Sendung zu erfüllen Irdischkeiten sich entblößt, Selig, denn er ist erlöst! Unverwelkt in Grabesengen, Alle Fesseln wird er sprengen, Feile Wächter niederschmeißend, Feuerstrom, nach oben reißend, Flammenleib, mit Donnersausen, Sonnengleich zum Himmel brausen Um, erwählt aus Sternenheeren, In Gottes Frieden heimzukehren. 207

Schon der Titel der Gedichtsammlung gibt die ideologische Ausrichtung von Alverdes Grünewald-Deutung vor, die allerdings erst im letzten Gedicht entfaltet wird, in dem der studierte Kunsthistoriker Alverdes die Verklärung (VI) des Künstlers anspielungsreich mit zeitgenössischen Forschungsdiskussionen verknüpft:

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VI Verklärung Nun weilest du längst, Verklärter Meister, An den Tischen der Ewigkeit. Über den zerfurchten Acker Deines Dulder-Gesichtes, Über die karge Saat Deines schütteren Greisenhaares Schimmert die Sonne Unendlichen Friedens. Wahrlich, du leertest Bis auf die Neige Den Kelch.

|| 207 Ebd., S. 43–45.

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Trugest du doch Das tausendjährige Seltsame Herz deines Volkes Im Busen. Doch du ließest Lodernd die Flamme, Die zehrende, In die Gestirne schlagen. Siehe, nun steht sein Name Und deiner Mit glühenden Lettern Ewig am Firmament. Du aber ruhest. Der Weltwind streichelt Deine zerspellten Sucherhände, Und die Musik Der kreisenden Sphären Umweht deine gebirgige Stirn. Doch du blickst nur verzückt In die Augen Gott-Vaters, Die unergründlichen, Stille und selig, In aller Rätsel Ewigen Aufgang Und ewige Lösung. 208

Alverdes betreibt in Gedichtform die Apotheose eines Malers (V. 21–24), die sicherlich auch als Reaktion auf die schon erwähnte, vor allem in der kunstwissenschaftlichen Literatur thematisierte Dürer-Grünewald-Dichotomie zurückzuführen ist. Entscheidend ist dabei, dass Grünewald in Alverdes Lesart nicht nur in Anlehnung an den Titel der Gedichtsammlung als ein „Nördlicher“, als Künstler des germanischen Nordens – im Gegensatz zum ‚italienischen‘ Dürer – etabliert wird, sondern dass Ursprung und Ausdruck seiner Kunst gekoppelt werden an die Vorstellung einer deutschen Volkskunst (V. 13–16), was sich auch schon bei Bertram beobachten ließ und ideologisch mehr den Anschluss an die agitatorische Rhetorik der Vorkriegs- und Kriegsideologie sucht als vorauszuweisen auf nationalsozialistische Kunstpolitik.209 Das Bild Grünewalds, das Alverdes dabei

|| 208 Ebd., S. 46f. 209 Vgl. zu Alverdes späteren literarischen Publikationen auch Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 2017, S. 776–782; ferner auch: Joachim Schoeps: Literatur im Dritten Reich (1933–1945). 2., überarbeitete und ergänzte Al. Berlin 2000 (Germanistische Lehrbuchsammlung, Bd. 43), S. 128.

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nachzeichnet und entwirft (V. 4–7), ist indessen nicht der dichterischen Phantasie entsprungen, sondern spielt auf eine als Selbstporträt Grünewalds seit seiner Wiederentdeckung äußerst populär gewordene Zeichnung an, die schon Joachim von Sandrart 1679 in Form einer vermeintlichen Kupferstichkopie zusammen mit einem ebenso ungesicherten Jugend-Bildnis Grünewalds in seiner Teutschen Academie publizierte (Abb. 78).

Abb. 78: Joachim Sandrart: Teutsche Akademie, vermeintliches Jugendbild Grünewalds (1679)

Ungeachtet der bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der kunstwissenschaftlichen Forschung rege diskutierten Frage nach der Glaubwürdigkeit dieser Zuschreibungen und der in den späten 1920er Jahren dann auch scharf kritisierten Identifikation der beiden Bildnisse mit dem historischen Grünewald, nimmt Alverdes vor allem Grünewalds sogenanntes Altersbildnis und dessen Popularität zur Vorlage, um mit möglichst großem Nachdruck, Grünewald als Maler der deutschen Volksseele zu evozieren, dessen keineswegs bruchlose, leidvolle Künstler-Biographie gerade Identifikations- potential für das notleidende, verkannte deutsche Volk (nach dem Ersten Weltkrieg) bieten sollte (V. 4–9). 210 Es ist naheliegend, solche ideologischen Grünewald-Vereinnahmungen, die bei Bertram besonders deutlich völkisch-nationale Züge annehmen, in der Fluchtlinie nationalsozialistischer Kunst- und Kulturpolitik der 1930er und 1940er Jahre zu denken. Interessanterweise lassen sich aber gerade in der Grünewald-Rezeption die Demarkationslinien zwischen (älterer) völkisch-nationaler und (jüngerer) nationalsozialistischer Kunstideologie festmachen: Während

|| 210 Die Thesen um die vermeintlichen Selbstbildnisse Grünewalds fasste einige Jahre später Hubert Schrade zusammen: Zur Frage der Grünewald-Selbstbildnisse. In: Zeitschrift für bildende Kunst 59 (1926), S. 28–32; kritisch und bilanzierend hierzu der Abschnitt „Präsenz und Absenz von Grünewald. Porträt und Selbstporträt“ bei François-René Martin. In: François-René Martin, Michel Menu und Sylvie Ramond: Grünewald. Köln 2013, S. 36–51.

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gleichzeitig mit den Bildgedichten von Bertram und Alverdes zu Grünewald die expressionistischen Künstler und Avantgardisten der 1920er Jahre den spätmittelalterlichen Maler für sich entdecken, wird er den Chefideologen der Nationalsozialisten mehr und mehr suspekt. Porträtiert der österreichische Dichter, Dramatiker und stramme Nazi Hermann Heinz Ortner, der gleich 1933 seinen Mitgliedsantrag für die NSDAP ausfüllte, 1935 Grünewald noch wohlwollend als deutschen Künstler, so lässt der Künstler, Partei-Funktionär und Mitorganisator der Münchner Ausstellung Entartete Kunst, Wolfgang Willrich, keinen Zweifel an seiner Geringschätzung Grünewalds, weil ihm die Verehrung, die dieser durch ‚entartete‘ Künstler erfährt, befremdet.211 In seiner 1937 erschienenen kunstpolitischen Schrift Die Säuberung des Kunsttempels schreibt Willrich, dass die Expressionisten „an Meistern wie Grünewald nicht das Naturgefühl, sondern einzig und allein die Halluzination und Deformation“ liebten.212 Die Erklärung für diese Bewunderung hat zwar die Verunglimpfung der Expressionisten zum Ziel, doch verrät sie auch Willrichs Urteil über Grünewald: „Sie [die Expressionisten] sind viel päpstlicher als der Papst […] und völlig besessen von dem Gefühl der Erbsünde, sie sind Flagellanten, und ihre Geißel ist die seelenpeitschende ‚Ausdruckskunst‘. Ihre Bilder sind fürchterliche Bekenntnisse über ihr Seelenleiden.“213 Willrichs Zweifel an Grünewalds Eignung zur Beförderung kunstpolitischer Ziele der Nationalsozialisten sind exemplarisch für die problematische offizielle Bewertung des Künstlers seit der Machübernahme durch die Nazis. Parallel zu dieser Abstandwahrung gegenüber Grünewald seitens der Nazis nimmt die Vereinnahmung des Malers im politisch linken Spektrum zu, was noch am Beispiel der Sonette von Johannes R. Becher und Albrecht Haushofer gezeigt werden soll.

Diese politisch-ideologische Dimension ist bei Konrad Weiß vollständig ausgeblendet. Gleichwohl ist sein Sonettzyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha (1918/1920) nicht als weltabgewandte, sich der (Nachkriegs-)Realität verweigernde Dichtung zu charakterisieren, der jeder zeitgeschichtliche Bezug fehlt. Vielmehr können die Sonette – wie bei Rudolf Alexander Schröder – auch als lyrische Kriegsverarbeitungen gelesen werden, in denen sich „subjektive

|| 211 Vgl. Hermann Heinz Ortner: Matthias Grünewald. Meisterlegenden und Erzählungen. Wien, Leipzig 1935, bes. S. 6–12. 212 Wolfgang Willrich: Die Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art. München, Berlin 1937, S. 140. 213 Ebd.

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Selbstbestimmung und metaphysische Epochendiagnose“ verschränken.214 Bildkünstlerische und sprachliche Ausdrucksformen sind für Weiß Möglichkeiten der Weltaneignung und Weltdeutung, die immer wieder dem Verhältnis von Natur, Geschichte und Kunst aus der Perspektive christlicher Anthropologie nachgehen und den Blick sowohl auf diesseitige als auch auf metaphysische Dimensionen des Daseins richten.215 Die 30 Sonette des Gesichte-Zyklus stellen in diesem Sinne eine Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen des modernen Menschen im Spannungsfeld von Heilsbedürftigkeit und Heilsvergewisserung dar. Ihr gedankliches Zentrum hat Weiß in zahlreichen anderen Dichtungen und Texten immer wieder im Bild und der Formel des ‚geschichtlichen Gethsemane‘ zum Ausdruck gebracht und damit die grundsätzliche „Schmerz- und Leidensgewissheit“ des menschlichen Daseins gemeint, worauf noch zurückzukommen ist.216 Als meditative, reflektierende Dichtungen sind die Sonette Ausdruck von Weiß’ Geschichtsphilosophie und nur vor dem Hintergrund seiner Vorstellung der Notwendigkeit einer christlichen Erneuerung von Kunst, Literatur und Gesellschaft zu verstehen. Von der Literaturgeschichtsschreibung wurde dieser Erneuerungswille geistlicher Dichtung nach dem Ersten Weltkrieg oft als antimodernistischer Impuls gewertet und Weiß selbst in die Nähe der Konservativen Revolution gerückt. Die Forschung hat seine Dichtungen – mit einer gewissen Berechtigung und nicht zwangsläufig abwertend gemeint – als hermetisch und dunkel, formvollendet und voraussetzungsreich beschrieben. Auch die Sonette des Gesichte-Zyklus weisen die für Weiß typischen komplexen Gedankenführungen und oftmals erst beim wiederholten Lesen verständlichen syntaktischen Strukturen auf. Zudem rechnen sie in

|| 214 Wilhelm Kühlmann: Im Schatten des Leviathan (1933). Carl Schmitt und Konrad Weiß. In: Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter. Berlin, Wien 2008 (Rombach Wissenschaften, Reihe Catholica, Bd. 1), S. 257–305, hier S. 258; Herrn Professor Wilhelm Kühlmann danke ich für viele anregende Gespräche und wertvolle Hinweise. 215 Vgl. hierzu die maßgeblichen Studien von Verbeeck und Heselhaus, auf auch neuere Forschungen immer wieder Bezug nehmen. Ludo Verbeeck: Konrad Weiß: Weltbild und Dichtung. Eine Untersuchung nach dem inneren Zusammenhang der ersten Schaffensperiode (1909–1920). Tübingen 1970, bes. S. 66ff.; Clemens Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Düsseldorf 1961, S. 379–397; Friedhelm Kemp: Konrad Weiss. In: Gestalt und Gedanke 2 (1953), S. 42–63, hier S. 49f.; Helmut Kreuzer: Ein Blick auf Konrad Weiß und seine Lyrik. In: West-östlicher Divan zum utopischen Kakanien. Hommage à Marie-Louise Roth. Hg. von Annette Daigger, Renate Schröder-Werle und Jürgen Thöming. Bern [u.a.] 1999, S. 165–185, bes. S. 171–179. 216 Vgl. zunächst zusammenfassend Kühlmann: „Jäger ohne Wahl“: Existentielle Mythopoesis, 2014, S. 278.

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ihrem Anspielungsreichtum offenbar mit einem theologisch versierten und kulturgeschichtlich beflissenen Leser.217 Das strenge Formbewusstsein und auf ältere literarische Traditionen verweisende symbolische Bildrepertoire, das Weiß’ Lyrik auszeichnet, seine „archaische Begrifflichkeit und kombinatorische Bilderwelt“,218 sein christliches Pathos und scheinbare Zeitenthobenheit haben Versuche seitens der Forschung, den Dichter epochalen Strömungen wie dem Nachexpressionismus zuzuordnen oder von solchen abzugrenzen, scheitern lassen. Als 1880 geborener Autor gehört er von der Generation her den Expressionisten an, sein dichterisches (Haupt-)Werk fällt aber erst in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.219 Der Vorschlag von Clemens Heselhaus, Weiß dem Nachexpressionismus zuzuordnen, wurde kaum weitergedacht, ihm wurde dafür umso öfter widersprochen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Konrad Weiß mit den im selben Jahrzehnt geborenen Dichtern des Frühexpressionismus, von denen die meisten den Krieg nicht überlebten, zumindest die „Revolte gegen den humanistisch-bürgerlichen Idealismus des 19. Jahrhunderts“ verbindet.220 Die Mythen-Affinität seiner Dichtungen und sein Formwille scheinen diese Bezüge zum frühen Expressionismus eines Georg Heym, Ernst Stadler oder Georg Trakl mehr zu unterstützen als zu widerlegen, denkt man etwa an die Sonettdichtung von Georg Heym oder Wilhelm Klemm. Den Unterschied machen hier nur die verschiedenen literarisierten Gegenstandsbereiche wie Großstadterlebnis und moderne Lebenswelt auf der einen und die Reflektion über die Bedeutung christlicher Lebensführung in der Gegenwart auf der anderen Seite aus. Zudem wählt Weiß als bildkünstlerische Anregung für seinen Zyklus ja nicht eine harmonisierende Kreuzigungsdarstellung von Giotto, Raffael oder Rogier van der Weyden, sondern eben jene des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald, der ja gerade aufgrund seiner expressiven Darstellung des leidenden Christus und geschundenen Körpers sowohl bei den

|| 217 Vgl. Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 2017, S. 1056ff.; Kühlmann: Im Schatten des Leviathan, 2008, S. 263–278. 218 Kühlmann: Im Schatten des Leviathan, 2008, S. 263. 219 Vgl. Clemens Heselhaus: Oskar Loerke und Konrad Weiß. Zum Problem des literarischen Nachexpressionismus. In: Der Deutschuntericht 6 (1954), S. 28–55; Heselhaus älteren Versuch kritisiert Helmut Kreuzer, ohne allerdings einen überzeugenden alternativen Vorschlag zu formulieren, vgl. Kreuzer: Ein Blick auf Konrad Weiß und seine Lyrik, 1999, S. 170–179; ohne epochale Einordnungen vornehmen zu wollen und näher zu erläutern weist Heiko Christians im Rückgriff auf Ludo Verbeeck die nach seinem Dafürhalten für Weiß’ Dichtung wichtige „Krise der spätsymbolistischen Sprache“ hin, vgl. Christians: Konrad Weiß’ Sonett-Zyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha, 2008, S. 490. 220 Kühlmann: „Der eigenen Unrast Qual“, 1989, S. 576; ähnlich auch Kühlmann: Im Schatten des Leviathan, 2008, S. 259.

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expressionistischen Dichterkollegen als auch bei den Malern des Expressionismus und der Weimarer Republik Bewunderung fand. Gleichzeitig wirkt Weiß’ Sonett-Zyklus in der Literaturlandschaft der Weimarer Republik wie ein Solitär. Auf den ersten Blick haben die Sonette mit den von seinen schreibenden Zeitgenossen in der Literatur verhandelten Phänomenen der industriellen Massenkultur oder den sozioökonomischen Verhältnissen von Angestellten und Arbeitern, mit der Not der geistigen Arbeiter (Max Weber 1923), mit Rationalisierung, Technisierung und Popularisierung ebenso wenig zu tun wie mit den noch in den frühen 1920er Jahren die Lyrik dominierenden Formen dadaistischen Cabarets oder literarischen ‚Gebrauchsanweisungen‘ – wenngleich man die Gesichte auch als lyrische Anleitung zur christlichen Meditation verstehen kann. Als Vertreter eines „kulturrevolutionären Avantgardismus“221 der jungen Weimarer Republik wird man Weiß jedenfalls nicht missverstehen wollen. Von seinen Selbstaussagen her und seinen Apologien zeitgenössischer Künstler von Vincent van Gogh und Paul Cézanne über Edvard Munch und Lovis Corinth bis hin zu Karl Caspar ist Konrad Weiß aber auch nicht als dezidierter Avantgarde-Gegner zu charakterisieren.222 Wie im Falle von Rudolf Alexander Schröders Sonettzyklus auf Raffaels Sixtinische Madonna bestätigt Konrad Weiß’ Gesichte-Zyklus den Befund, dass gerade eine große Zahl von Bildgedichten der frühen 1920er Jahre mit ihrer dezidierten christlich-theologischen Deutung von Dasein und Zeit ein konstantes Gegengewicht – nicht konfrontative ästhetische Opposition – zu den Strömungen der Klassischen Moderne bildet.223 Einer schlüssigen epochalen Beschreibung und Einordnung solcher Art der Dichtung wird man mit Blick auf ihre kulturgeschichtlichen Voraussetzungen und funktionalen Ansprüche nur gerecht, wenn die vordergründige ‚hermetische Dunkelheit‘ ebenfalls als Kernelement der Moderne verstanden wird.224 Konrad Weiß’ Grünewald-Sonette sind insofern dann

|| 221 Gregor Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009 (Einführungen Germanistik), S. 35. Streim verweist auf das insgesamt heterogene Erscheinungsbild der Lyrik in den 1920er Jahren. 222 Vgl. hierzu Lorenz Wachinger: Dichtung und Traum im Werk des Konrad Weiss (1880– 1940). In: Stimmen der Zeit 1 (1980), S. 395–404, S. 397f.; Kreuzer: Ein Blick auf Konrad Weiß und seine Lyrik, 1999, S. 168; Lorenz Wachinger: Bild und Wort. Dimensionen der Kunstkritik bei Konrad Weiß. In: Münchner Moderne. Kunst und Architektur der zwanziger Jahre. Hg. von Felix Billeter, Antje Günther und Steffen Krämer. München, Berlin 2002, S. 226–237, hier S. 229ff.; Kühlmann: „Jäger ohne Wahl“: Existentielle Mythopoesis, 2014, S. 280. 223 Vgl. hierzu auch Heselhaus: Oskar Loerke und Konrad Weiß, 1954, S. 44. 224 So der Appell von Kühlmann, der gleichzeitig scharfe Kritik an Kreuzers (Ein Blick auf Konrad Weiß und seine Lyrik, 1999) Darstellung übt und dessen Befund, Weiß’ Gedichte würden mit

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auch als literarische Dokumente der Weimarer Republik zu lesen, als sie die Perspektive auf eine innerliche, komplexe Wirklichkeit richten, die sich abgrenzt von reiner Unterhaltung, politischer Innovation und gesellschaftlichem Fortschrittglauben und damit die Widersprüchlichkeiten der eigenen Zeit und Gegenwart zum Ausdruck bringt.225 Gerade diese innere Zerrissenheit des modernen Menschen thematisieren die Sonette mit ihrer selbstanklagenden Diagnose der eigenen menschlich-irdischen Unwürdigkeit und Unvollkommenheit und ihrer visionär präsentierten Erlösungshoffnung, wie sie sinnbildlich im Angesicht der Kreuzigungsdarstellung des Isenheimer Altars entfaltet wird. Der Zusammenhang zwischen Grünewald und dem Sonettzyklus wurde dabei erst relativ spät erkannt und diskutiert, obwohl die den Gedichten vorangestellte Bibelstelle „Illum opportet crescere me autem minui“ (Joh. 3,30: Jenem gebührt zu wachsen, mir aber kleiner zu werden) – die dann auch noch einmal im 15. Sonett zitiert wird – schon einen ersten Anhaltspunkt bietet, da sie sich prominent auch auf Grünewalds Kreuzigungsdarstellung über dem Zeigegestus des Johannes in der rechten Bildhälfte findet (Abb. 79).226 Gleichzeitig mit der Arbeit an den Sonetten verfasste Weiß zudem den schon erwähnten, im Hochland erschienenen Aufsatz zum Isenheimer Altar, den er in der Münchner Ausstellung noch vor Kriegsende gesehen hatte und der denselben Obertitel trägt wie der später publizierte Sonett-Zyklus: Gesichte eines Knechts.

|| ihrer unverständlichen, hermetischen Dunkelheit den Sinn von Poesie verfehlen, zurückweist, vgl. Kühlmann: „Jäger ohne Wahl“: Existentielle Mythopoesis, 2014, S. 279. Schon Ludo Verbeeck hat Weiß’ „Irrationalismus“ positiv als „eigentliche Signatur der Weiß’schen Diktion“ hervorgehoben. Verbeeck: Konrad Weiss: Weltbild und Dichtung, 1970, S. 3. 225 Die Spannung von kultureller Blüte und politisch-sozialer Krise ausführlich und umfangreich bei Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 2017. Die Krisenhaftigkeit und Zerrissenheit der Epoche hat schon Kurt Sontheimer in einem immer noch lesenswerten Beitrag hervorgehoben: Kurt Sontheimer: Weimar – ein deutsches Kaleidoskop. In: Die deutsche Literatur der Weimarer Republik. Hg. von Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 9–18, bes. S. 14f. 226 Vgl. Kühlmann: „Der eigenen Unrast Qual“, 1989, S. 572; nur marginal behandelt den Zusammenhang mit Grünewald Christians: Konrad Weiß’ Sonett-Zyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha, 2008. Ausführlich dann bei Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort, 2009, S. 202– 220; Ludo Verbeeck stellt in seiner grundlegenden Studie zu Weiß indessen noch keinen Zusammenhang mit dem in München ausgestellten Altar her, Verbeeck: Konrad Weiss: Weltbild und Dichtung, 1970, S. 144–166.

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Abb. 79: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, Hl. Johannes (1512/1515)

Weiß sinniert in seinem Hochland-Aufsatz auch über die bevorstehende Rückgabe des Altars an die Franzosen, die dann in den Novembertagen 1919 vorgenommen wurde. Anders als Ernst Bertram in seinem Gedicht schlägt er aber – wie man seinen Treuspruch aus den frühen 1930er Jahren auch deuten möchte227 – keine völkisch-nationalen Töne an, sondern legt den Schwerpunkt seiner Betrachtung schon auf die Bedeutung des Altars für das religiöse Erleben, die christliche Meditation und Kontemplation, was mithin schon die Richtung der Sonette vorgibt: Gegenwärtig ist dieses größte Werk deutscher Malerei in der Münchener Alten Pinakothek ausgestellt, wohin es wegen der Gefahren des Krieges aus Kolmar zu einer vorübergehenden Zuflucht gebracht wurde. Es ist wie ein Zeichen des Schicksals, daß dieses Werk stillster jungfräulicher Seligkeit, aber noch mehr einer fast trostlos tiefen Traurigkeit, die durch die Gestalt des Johannes des Täufers in ihrem harten biblischen Wahrheitssinne als ein notwendiges Menschheitsverhängnis gedeutet wird, heut inmitten eines Chaos der gesellschaftlichen Welt aufragt und Geister und Herzen beschäftigt; und wenn es Deutschland verloren gehen muß, dann wird es sein, wie wenn das Herz der deutschen Kunst, ihrer innigsten Tiefe und visionären Höhe hätte verloren gehen müssen. 228

Gerade das visionäre (Dichtungs-)Potential von Grünewalds Kreuzigungsdarstellung ist der Kern nicht nur von Weiß’ grundlegender Überzeugung der Bedürftigkeit der eigenen Gegenwart nach heilsgeschichtlicher Erfüllung, sondern konkret

|| 227 Vgl. Wachinger: Bild und Wort, 2002, S. 234f. 228 Konrad Weiß: Gesichte eines Knechtes. Zu Grünewalds Isenheimer Altar. In: Hochland 16 (1918/1919), S. 109–112, hier S. 109.

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auch des gesamten Sonett-Zyklus.229 Die Sonette verhandeln die Frage nach den Gründen für den heillosen Zustand der Welt, die für Weiß im Anblick der ungeschönten malerischen Darstellung des geschundenen, von Wunden übersäten Gottessohnes von Grünewalds Isenheimer Kreuzigung an Virulenz gewinnt. Die 30 Sonette des Gesichte-Zyklus bilden den Mittelteil der 1921 publizierten Sammlung Die cumäische Sybille und werden eingerahmt von jeweils 12 Gedichten, die als Stationen von Neid und Wort und als Wettlauf des Knechtes mit Gott, mit der Erde und dem Menschen zusammengestellt sind. Allen Gedichten gemeinsam ist die heilsgeschichtliche Gegenwartsdeutung und lyrisch-meditative Ich- und Selbstreflektion. Entstanden sind die Sonette zwischen Dezember 1918 und Januar 1920. Sie thematisieren ausschließlich und anders als die Stationen von Neid und Wort das Geschehen auf dem Kreuzigungshügel und nicht auch die zeitlich davor gelegenen Kreuzwegstationen.230 Paul Bellebaum hat bereits auf die chronologischen Brüche innerhalb des Zyklus hingewiesen, dass etwa der Lanzenstich nicht im 5., sondern erst im 29. Sonett thematisiert wird, die Annagelung Christi sowohl im 6. als auch 30. Sonett vorkommt; die Schmährede des Schächers schließlich dürfte nicht im 30., sondern müsste vor dem Tod Christi, also im 16. Sonett erfolgen.231 Als Gesichte, im älteren Wortsinne also Visionen, stellen die Verse das Ergebnis eines inneren Sehens dar und werden als visionäre Meditationen des Knechts auf Golgatha, des zur rechten Seite Christi gekreuzigten Räubers oder auch Schächers, präsentiert: 1 Ich wollte zeigen, was ich sah und was ich immer mehr erfuhr, und fand mich auf der eignen Spur besinnungslos und mir geschah, 5

als ich mich fand, war ich schon da, ich bin geteilt und in der Schur des Schmerzes fand lebendig nur ich mich erkannt auf Golgatha.

|| 229 Vgl. Heselhaus: Konrad Weiss, 1968, S. 329. 230 Vgl. Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort, 2009, S. S. 191–202 und 221–234; in der von Friedhelm Kemp besorgten Gedichtausgabe listet der Herausgeber minutiös die (wahrscheinlichen) Entstehungsdaten der einzelnen Sonette auf, vgl. Friedhelm Kemp: Zeittafel der Gedichte. In: Konrad Weiß: Gedichte 1914–1939. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1961, S. 775–783. 231 Vgl. ebd., S. 203f.

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Den Sinn frug ich umsonst um Rat, Erkenntnis, die nur Blöße sucht, nahm mir mein letztes Eigenkleid, nun schlägt der Sinn der Schmerzenszeit, ein dürres Blatt noch, um die Frucht, wann fällt sie ab, wann reift die Tat? 2 Der Sinn muß brechen, wie den harten Geiz der Schale bricht die wahrhaft innenreiche, die in sich kummerlose, seelengleiche Ohnmacht der Blüte ganz verzehrt von Reiz.

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Um wahr zu werden, ledig jeden Neids, ein Lebensfaden nur wie Mark der Eiche, den rollend schlägst du mit des Rades Speiche, so laß dein Bild dahin des Weltgeleits. Du Sucher eines Sinns stets überholt von einem erdverlornen Widerhall Daß dich die Wurzel nie verlassen hätte, die Nabe um dein Mark nie fortgerollt, nun bist du Hungerwüste überall, einst warst die Blüte du der Schädelstätte. 3 Ich bin ein bitterkeitgetränkter Schwamm; als müsse ich den Satz der Erde büßen, so schwermuttrunken steigt aus meinen Füßen und schwillt mir in die Brust des Markes Stamm.

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So mundvoll quillt der Worte Rand und Damm, die ich einfältgen Sinnes dich zu grüßen, aus meiner Galle sog, sie dir zu süßen, mein Sinn vergeht, ich bin ein blökend Lamm. Mich flieht des Menschen wohlgetan Geschick, das Rohr fällt nieder kümmerniszertrümmter, doch hüllenloser macht mich nur dein Blick,

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der leichte Sinn wird schwerer stets verirrt, bis daß dem ganz in Sichtbarkeit verkrümmter, dein wahrer Leib mir unvergeßlich wird. 232

DerEröffnungsvers des ersten Sonetts macht bereits deutlich, was den Leser in den folgenden 30 Sonetten erwartet und um was es in dem Zyklus geht: Das lyrische Ich will sein inneres Sehen, seine Visionen sprachlich artikulieren, als deren Ausgangspunkt Grünewalds Isenheimer Kreuzigung gelten darf, auf die immer wieder angespielt wird – am deutlichsten in den Sonetten 3, 6–8, 15, 17 und 24– 27. Die naturalistische, schockierende Darstellung des Körpers Christi wird mit Formulierungen wie dem „in Sichtbarkeit verkrümmte[n] Leib“ (3, V. 13/14) oder den „Schmerzensknoten“ (7, V. 3) aufgerufen, der am Kreuz hängende Christus in Anspielung auf Joris-Karl Huysmans wird als „mein Inbild hängend am trostlosen Bogen“ (17, V. 2) angesprochen oder der Zustand des Körpers als deformiert beschrieben („gekreuzt bricht sein Gebein, sein Leib wird krumm“, 18, V. 4).233 Konrad Weiß wählt mit dem nur bei Lukas (Lk 23, 39–43) und in apokryphen Überlieferungen erwähnten ‚guten‘ Räuber Dismas (Dysmas/Dimas), der zur rechten Seite Christi gekreuzigt worden sein soll, gerade ein Rollen-Ich, das die von Weiß thematisierte Schmerzens- und Leidensverlorenheit des Menschen und

|| 232 Hier nach der Ausgabe Konrad Weiß: Gedichte 1914–1939. Hg. von Friedhelm Kemp. München 1961, S. 93–95. 233 Vgl. Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort, 2009, S. 204f. Die Sonette 6 und 7, die ebenfalls einen deutlichen Grünewald-Bezug zeigen, behandelt Bellebaum nicht. Bellebaum bezieht sich hier auf eine Beschreibung des Kunsthistorikers Walther Karl Zülch, der zahlreiche Grünewald-Publikationen verfasste und 1917 auch mit einer Urkunde des Frankfurter Stadtarchivs das schon erwähnte Monogramm „MGN“ Grünewald alias Mathis Gothart Neithardt identifizieren konnte. Allerdings stützt sich Bellebaum auf Zülchs große, 1954 im Leipziger Seemann-Verlage erschienene Studie Grünewald. Mathis Neidhart genannt Gothart, nicht etwa auf den schon 1923 in der Zeitschrift Der Cicerone erschienen kurzen Essay Die Grünewaldlegende. Naheliegender scheint mir als Anregung für die Erwähnung des deutlich gebogenen Querbalkens im 3. Sonett die berühmte Beschreibung von Joris-Kral Huysmans zu sein, die Konrad Weiß gekannt haben dürfte. Dort heißt es in der Eröffnungspassage: „In fahler Dämmerung ragts furchtbar in die Höhe: der Christ an seinem Kreuz. Ein roher Stamm, quer darauf ein halb entrindeter Ast, der sich biegt unter der Last wie ein gespannter Bogen und hinaufschnellen möchte wie aus gekrampftem Mitleid und das armselige Fleisch gen Himmel schleudern, hinweg von diesem schmachgetränkten Boden, der es noch hält, fest, mit riesigen Nägeln.“ Hier nach der im Pan erschienenen Übersetzung, Joris-Karl Huysmans: Die Kreuzigung von Mattheus Grünewald. In: Pan 1 (1895), S. 95f., hier S: 95. Allerdings bezieht sich Huysmans Beschreibung nicht auf den Isenheimer Altar, sondern auf die Karlsruher Kreuzigung. Bei dieser ist der gebogene Querbalken auch viel deutlicher ausgeprägt. Mit der Huysmans-Reminiszenz verlässt Weiß wenigstens mit diesem Vers den Bildbereich des Isenheimer Altars.

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seine Erlösungsbedürftigkeit wie kaum ein anderes zu versinnbildlichen vermag. Der Sprecher ist nach der Überlieferung Betrachter und Deuter des historischen Golgatha, er wird aber auch als Betrachter von Grünewalds gemalter Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars inszeniert. Im ersten Sonett wird dieses Sehen gekoppelt an den Prozess einer Ich-Suche, als deren zentrale Voraussetzung der Sprecher die mit Golgatha verbundene „Schmerzenszeit“ (1, V. 12) aber auch nur in Golgatha erfahrbare Schmerzens- und Erlösungsgewissheit des Menschen deklariert. Weiß schreibt den Visionen seines Knechts und die Ausrichtung des gesamten Zyklus damit in die ältere Tradition der compassio- und Frömmigkeitsliteratur ein, was gleichzeitig auf den schon von Heiko Christians nahegelegten Zusammenhang des Zyklus mit der katholischen Liturgiebewegung im Umkreis von Romano Guardini und der Theologie Karl Barths verweist.234 Dass es sich beim Opfertod Christi am Kreuz um den Kerngedanken seines Menschenbildes und seiner heilsgeschichtlichen Vorstellungen handelt, hat Konrad Weiß bereits in seinem Essay Zum geschichtlichen Gethsemane (1919) betont, in dem er fordert, „wir müssen dem geschichtlichen Gethsemane zusteuern“.235 Der Beitrag ist dem von Weiß selbst zusammengestellten, im Mainzer Matthias-Grünewald-Verlag (Richard Knies) erschienenen Band vorangestellt, der die „Versuche“ des Autors präsentiert, „des neuen Kunstgefühls als eines neuen und doch nur erlösungsbedürftigen alten Weltwesens voll überpersönlich geschichtlicher Spannungen habhaft und teilhaft zu werden“.236 Der Beitrag, den der Autor Renouveau catholique zuordnet, ist eine Mischung aus kunstphilosophischer Betrachtung und theologischer Reflexion.237 Mit Blick auf Weiß’ Überzeugung einem von Schmerz und Qualen geprägten Dasein, die er mit vielen

|| 234 Vgl. Christians: Konrad Weiß’ Sonett-Zyklus Gesichte des Knechts auf Golgatha, 2008, S. 485; Kühlmann: „Der eigenen Unrast Qual“, 1989, S. 576; Mayer: Die Rezeption des Isenheimer Altars, 2017, S. 530; auf Karl Barths ausführliche Deutung von Grünewalds Hauptwerk kann nicht näher eingegangen werden, da es Barth vornehmlich um die Deutung der Johannes-Figur für seinen theologischen Grundgedanken geht. Verwiesen sei auf die Arbeit von Reiner Marquard: Karl Barth und der Isenheimer Altar. Stuttgart 1995 (Arbeiten zur Theologie, Bd. 80). Grünewald darf wohl auch als einer der ersten gelten, der die in der Passionsliteratur immer wieder erwähnte Zerschlagung der Glieder wörtlich genommen hat und seine Kreuzigungen – anders als bis dahin üblich – auch daraufhin ausgerichtet hat, vgl. hierzu Astrid Reuter: Zur expressiven Bildsprache Grünewalds am Beispiel des Gekreuzigten. In: Grünewald und seine Zeit. Große Landesausstellung Baden-Württemberg. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 8.12. 2007–2.3.2008. Hg. von Dietmar Lüdke und Jessica Mack-Andrick. Karlsruhe, München, Berlin 2007, S. 78–86. 235 Konrad Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane. In: Ders.: Zum geschichtlichen Gethsemane. Gesammelte Versuche. Mainz 1919, S. 3–28, hier S. 13. 236 Ebd., S. 3. 237 Vgl. auch Wachinger: Bild und Wort, 2002, S. 229f.

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seiner katholischen Gesinnungsgenossen teilte, dürfte die Malerei in Grünewalds – speziell in dessen Kreuzigungsdarstellungen – für ihn die sinnfällig und ausdrucksstarke Präfiguration und künstlerische Umsetzung dieser Grundidee gewesen sein. Der Gethsemane-Essay und das Bild vom ‚geschichtlichen Gethsemane‘ wurde von der Forschung als „eine Art Prolog zum Gesamtwerk“238 gewertet und ist in seiner Bedeutung für den Gesichte-Zyklus nicht zu überschätzen. Diese „Versuche neuen Kunstdenkens“239 flankieren gedanklich den Sonettzyklus und nehmen zentrale Ansichten zur Funktion der Kunst insgesamt vorweg, die für die Wirkabsicht und Wirkmöglichkeiten der Sonette im Sinne einer religiösen Meditation eine zentrale Rolle spielen. Für Weiß ist die Kunst „immer mehr zu einem gesellschaftsbildenden, gesellschaftsprüfenden, gesellschaftsrichtenden, geschichteformenden Element“240 geworden und der Künstler „der innerste Mensch seiner Zeit“.241 Als wesentlichen Kern seines eigenen Kunstverständnisses sieht er „in allen diesen Erhebungen und Quälungen“ den „Gedanke[n], daß die Weltkraft und die Weltform und die Kunst vor Christus eine andere sein müsse als Welttrieb, Bewußtseinsquelle und Geschichtsform nach Christus, die neue Zeit in innerster Wesenheit der alten entgegengesetzt sein müsse“.242 Die an christliche Heilsgeschichte gebundene Kunst und von christlicher Erlösungshoffnung inspirierte Dichtung und Kunst wird für Weiß auch epochal gesehen zum ästhetischen und poetologischen Parameter künstlerischer Weltanneignung: Unsere Kraft wurzelt in unserem Leidvertrauen. […] In Gethsemane verwandelte sich die ohnmächtige Anschauung der Zeitlichkeit in die innerste Erfahrung, und nun wird alles, was aus Menschheit und Natur auf die Seelen wirkt, eine Folge von Seelen, die der Geschichte eine innere Grenze in innerer Bewahrung geben, nein nur erhalten. […] Es ist ein eigentümliches Bemühen, in der Kunst nicht die wirkliche Lebenswahrheit gelten lassen zu wollen, ohne Fühlen, mystisches Leben denken und gestalten zu wollen, ohne die wahrste christliche Vergangenheit ganz mit einzuschließen. In der Kunst, in der dem Menschen das Maß seiner Zeitlichkeit gegeben wird, gilt nicht der Wille für das Werk. Ein geringeres bestimmtes Werk ist besser als ein allgemeiner unbestimmter Wille. Sichtbar, spürbar ist eine geistige, eine religiöse Kraft gerade nur in der geschichtlichen Bedingtheit, in der errungenen und angewandten Gegenkraft, sie zu tragen, in dem auf sich genommenen Zeugnis der göttlichen Spur. Es ist eine sonderbare, immer wieder lockende Verkehrtheit, absolute geistige Werte dadurch retten zu wollen, daß man ihre geschichtliche Charaktermischung als zeitliche Bedingtheit lieber unterdrückt, daß man nach einem äußerlich vermittelnden

|| 238 Müller: Konrad Weiss. Dichter und Denker des „geschichtlichen Gethsemane“, 1965, S. 25. 239 Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane, 1919, S. 4. 240 Ebd., S. 11. 241 Ebd., S. 12. 242 Ebd., S. 5.

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Schönheits- und Geistigkeitsideal oder einem bloß resthaft notwendigen Sittlichkeitsmaße, – von einem Scheinziele getäuscht und schließlich immer auch selber zum Allgemeinnatürlichen in einer kultürlichen Konvention herabsinkend, – die Seele zu retten meint, indem man die begriffliche Reinheit der Idee pflegt. Diese ist ja nicht Mensch geworden, sondern etwas der Seele viel erbarmungsvoll Verwandtes, das doch unendlich über ihr bleibt. Selbst in der seligsten Sättigung mit Naturfülle wie bei den Gotikern und in der stärksten Zeugniskraft wie bei Grünewald bleibt die unendliche Nichterfüllung gerade um die ganze Fülle und für das ganze Zeugnis erhalten. Nicht Abstraktion und Wille zu zeitloser Größe, nicht ein äußerlich objektives Weltbild ist ein wahrhaftes Ziel (wie ich in den ersten Versuchen noch glaubte). In der Zeit des Modernismus sprang man allzuleicht in den Gegensätzen einer falschen Äußerlichkeit und einer falschen Innerlichkeit hin und her. Es fehlt die wahre, an die in uns wirkliche Gottmenschspaltung gebundene Stete, die stete Mitte, in der das harrende Herz mehr vertraut als fordert. […] Menschentum und Christentum sind keine Wesenheiten neben einander, die mit Absicht als gleich freie in einander geleitet, einander wahlweise ergänzen, so wie man aus zwei Gefäßen ein drittes füllt. Christentum ist ein neues Menschentum, ist ein neuer Mensch. 243

Letztlich sind die Sonette des Gesichte-Zyklus das sprachliche Abbild psychischer Vorgänge, aus deren immer wiederholtem Neuansatz, das Kreuzigungsgeschehen zu denken und zu deuten, jenes Vertrauen des „harrenden Herzens“ spricht, das für Konrad Weiß offenbar Voraussetzung für sein neues Kunstdenken gewesen ist. Über die welt- und menschheitsgeschichtliche Bedeutung des Christentums und der christlichen Heilsgeschichte, über den Zusammenhang von historischer Kreuzigungsszene und Gegenwart lässt er den Knecht auf Golgatha sinnieren. Mit ihm, dem guten Schächer, lässt sich auch die komplexe Zeitstruktur des SonettZyklus sinnvoll beschreiben und auflösen: In seiner Rolle als Zeitzeuge nach der biblischen und apokryphen Überlieferung ist der Schächer historische Figur, er ist aber auch Bildfigur auf den meisten Kreuzigungsdarstellungen – wenn er auch gerade in Grünewalds Isenheimer Kreuzigung fehlt – und wird von Weiß als Betrachter des Isenheimer Altars gleichzeitig zum Zeitgenossen der eigenen Gegenwart. Seine Visionen haben eine historische und gegenwartsbezogene Aussageabsicht und -funktion. Der sündige aber reuige Schächer Dismas, der noch nicht zur Kirche gehören und sich noch nicht zum Christentum bekennen konnte aber schon ein Heilsversprechen des Gottessohnes (Lk 23, 43) erfahren hat, wird zum Inbegriff und Sinnbild des unerlösten Menschen. Gleichzeitig ist er damit auch Identifikationsfigur für den Leser über die zeitliche Distanz von fast 2000 Jahren hinweg.

|| 243 Weiß: Zum geschichtlichen Gethsemane, 1919, S. 3, 10, 19f. und 21.

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Die ersten drei Sonette weisen schon ein für Weiß und seinen Sonett-Zyklus entscheidendes Charakteristikum auf: Sie bieten eine Fülle von bei der ersten Lektüre nicht gleich eindeutig identifizierbaren Ich-sagender Instanzen (Sonett 1–3, 8, 15, 16), die aber nur als visionäre Äußerungen des Schächers zu verstehen sind und – narratologisch gesprochen – verschiedene Figurenperspektiven einnehmen. Häufig wendet sich der Sprecher an ein Gegenüber, das einerseits als Pronomen der Selbstaussprache und Selbstansprache (1, V. 9–14), andererseits tatsächlich als Apostrophe des Gekreuzigten zu deuten ist (3, V. 11–14). Diese grammatikalische Unterbestimmtheit bzw. potentielle Unbestimmtheit der Pronomenzuordnung ist sowohl ein Charakteristikum Weiß’scher Dichtung als auch ein für das Verständnis des gesamten Zyklus entscheidendes dichterisch-gestalterisches Mittel, insofern sich damit ein Deutungshorizont eröffnet, der über die bedichtete konkrete historische Szenerie auf Golgatha hinausweist. Der Leser soll sich mit den Visionen des Schächers beim Anblick der Kreuzigung identifizieren und damit die zeitliche Distanz zwischen der Golgatha-Szene und der eigenen Gegenwart einebnen. Noch Ludo Verbeeck wollte sich nicht auf eine Sprecher-Instanz festlegen und vermutete hinter dem lyrischen Ich die „Spiegelung mehrere[r] biblischer Gestalten“ wie etwa des Lanzenträgers Longinus, wofür wohl vor allem das dritte Sonett mit seiner durchaus zu Longinus passenden Thematik Anlass geboten hat.244 Noch deutlicher wird die in der Forschung bisher immer wieder problematisierte schwierige Nachvollziehbarkeit der Sprecherinstanzen in den Sonetten 15 und 16: 15 Jener muß wachsen, ich an ihm abnehmen, damit auch ich getrocknet im Geblüt das Zeugnis werde, welches aus mir schied, sein Blutgewand der Menschheit muß mich zähmen; 5

10

So schlägt das Zeugnis um des blassen Schemen daß eh der Sinn des Wortes noch verglüht, die Endgestalt des Menschen aus mir tritt, ich schaue sie und muß das Opfer lähmen. Denn ich bin auch das nahtlos leise Kleid, kann mir nur Mutterwillens Spielraum geben, die Mutter litt und hat in Furcht gedient,

|| 244 Verbeeck: Konrad Weiss: Weltbild und Dichtung, 1970, S. 164.

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mir gabt sie alles, hier geschah kein Neid, so ich dir über, ehe wuchs dein Leben, bin einer Mutter ganz gegebnes Kind. 16 „Vater verzeih“, und ich, ich kann es schaffen – „verzeih den Unwissenden, was sie tun“, „Wahrlich ich sage dir, auch du wirst ruhn im Paradies“, – und ich muß nicht erblassen. 5

10

Von mir zu dir nicht Erdenpein der Massen, – doch „sieh die Mutter“, ja ich sah, ihr Lohn, wofür ward sie geschlagen in den dem Sohn? „Mein Gott, warum hast du mich ganz verlassen?“ In diese Furche wie in stumme Nacht „Mich dürstet“, so geronnen meine Seele, in diesen Mangel, der sie tränkt und speist, wie ringt die Furcht mit mir „es ist vollbracht“, die Mutter trägt mich immer, „ich empfehle Vater in deine Hände meinen Geist“. 245

Sowohl das Zitat (15, V. 1) der Bibelstelle Joh. 3,30, das sich auf Grünewalds Kreuzigungsdarstellung direkt über der Figur Johannes des Täufers befindet, als auch die Aussagen der Terzette (15) lassen das Gesagte zunächst als Rede des Johannes erscheinen, der Christi Mutter nach dessen Tod als seine eigene anzunehmen versprach. Einfacher scheint der Fall im 16. Sonett zu liegen: Die Anführungs- und Abführungszeichen markieren die die bekannten Bibelzitate der letzten Worte Jesu als direkte Figurenrede des Gekreuzigten, in die sich immer wieder der Schächer kommentierend einschaltet. Insofern hatte Verbeeck mit seiner Beobachtung wenigstens teilweise recht, dass in den Sonetten unterschiedliche biblische Figuren zu Wort kommen. Diese sind aber bei genauerer Betrachtung als vom übergeordneten Sprecher, also des Knechts auf Golgatha, eingenommene Figurenperspektiven zu verstehen, so dass die genannten Figuren nur innerhalb der visionären Schau und meditativen Betrachtung des Schächers zu Wort kommen. Die beiden Sonette demonstrieren indessen eindrücklich Weiß’ virtuoses Textverfahren, das den gesamten Zyklus auszeichnet. Eröffnet das erste Quartett des 15. Sonetts mit dem Bibelzitat gleichzeitig auch die Rezeptionsperspektive von Grünewalds Isenheimer Kreuzigung, so werden im 16. Sonett durch die als

|| 245 Weiß: Gedichte, 1961, S. 107f.

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wörtliche Rede und Bibelzitat gleichermaßen markierten letzten Worte Christi bildliche Vorlage und biblischer Prätext ineinandergeflochten, wobei der Schächer als Sprecher der Verse eine Mittlerfunktion einnimmt. Hinter diesem fast übergangslos gestalteten Wechsel intertextueller poetischer Textstrategie und intermedialem Verweis auf Grünewalds Kreuzigung verbirgt sich die für Konrad Weiß grundlegende Kunst- und Literaturkonzeption: Als Dichter und Kunsthistoriker, Autor und Kunstkritiker sah er sich nicht nur von seinen Interessensgebieten den beiden Disziplinen künstlerischer Arbeit mit Wort und Bild verpflichtet, er sah im visuell Wahrnehmbaren der Kunst und dem durch Sprache Mitteilbaren und Erfahrbaren geradezu eine anthropologische Konstante, wie er in seinem kurzen Essay Vom Wesen der Dichtung konstatiert: Was zwischen Sehen und Hören nicht aufgeht, das ist unser Dasein auf der Erde. Wir suchen es im Sinne durch Worte und Bilder. Wie aber unsere Erde dazwischen steht und also im Sinne hängt und offenbar wird gleich einem dunklen Kerne in einer ewigen Geschichte – also zwischen Bild und Wort steht die Zeit unseres Daseins auf der Erde […] also sind wir in einer bewegten Maßgabe zwischen Bild und Wort für unsere Zeit auf Erde. Bild der gespiegelten Schöpfung, durch unser Wort in Bewegung, das ist unser Dasein im Sinne […] Unser Sinn also teilt uns mit unserem Grunde; und die Teile sind in uns wie Worte von einer Bewegung. Die Bewegung muß zuvorkommen, je stärker sie selber im Teile ist, und in der Teilung ist eine Macht gegen uns wie ein Drittes. Wir suchen in allem ein Drittes. So lebt es zwischen uns in den Abständen von Bild und Wort, in denen wir leben. Was aber ist es, welches lebt? Und indem es lebt und unserem Dasein von beiden Teilen zu leben gibt, das Wort zu seinem Bilde, bezeichnet es die Maße einer Geschichte. Wir tragen also, geteilt zwischen Bild und Wort, die Maße einer Geschichte über unserm Mangel und Grunde. Dichtung ist das Suchen nach dem, „Worte“ eines eigenen Lebens. 246

Die Spannung des Daseins zwischen „Bild und Wort“ lässt Weiß auch seinen Schächer-Sprecher in den Visionen auf Golgatha erfahren und mehrfach zur Sprache bringen. Neben den bereits genannten Stellen, die konkret auf Grünewalds eigentümliche Gestaltung der Kreuzigung und vor allem des Leibes Christi Bezug nehmen, finden sich zahlreiche Verse, in denen der Sprecher sich selbst und dem Rezipienten das Verhältnis von Wort und Bild und damit den Dichtungsprozess performativ ins Gedächtnis ruft, am deutlichsten im ersten Quartett des 12. Sonetts, in den beiden Terzetten des 17. Sonetts sowie den Quartetten des 21. Sonetts: Du gehst durch Bild zu Bild, als ob dich riefe Ein unvollbracht unlösbar einzig Wort,

|| 246 Konrad Weiß: Vom Wesen der Dichtung. Ein unveröffentlichter Text von Konrad Weiß. In: Hochland 54 (1961), S. 41–44, hier S. 41.

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es lockt dich zügellos im Strome fort Echo um dich, als ob es in dir schliefe; (12, V. 1–4) Solange hat der Anblick mich gelockt, bis das Gesicht in mein Verhängnis fiel, der Sinn der Mutter kehrt mir ewig zu, bis daß geschieht: das Wort im Fleisch bestockt geschwistert wird des reinsten Auges Spiel, vom Bild zum Wort bist ruhelos nun du. (17, V. 9–14) Vom Bild zum Wort, nicht hier und dort nicht Kraft, mit Moses auf die ehern tote Schlange hinweisend, nein nur Jonas, Gram vom Gange zur Stadt hinwälzend auf die eigne Last, So wartest du des Fruchtbaums, dessen Bast und Lebensfasern von der Untat lange verdorrt, und willst mit einem starren Klange erschaffen neu das Bild, das du nicht hast. (21, V. 1–8). 247

Neben den intertextuellen neutestamentlichen und den auf Grünewald verweisenden intermedialen Bezügen greift Weiß, wie neben dem zitierten 21. Sonett auch die Sonette 9 und 23 belegen, zudem auf alttestamentliche Motive und Figuren wie den Baum des Lebens (21, V. 5), die in der christlichen Typologie als Präfiguration Christi gedeutete eherne Schlange (21, V. 2), die Moses während der Wüstenwanderung auf einem Pfahl anbringen ließ und die Geschichte um den Propheten Jonas zurück (21, V. 3), dessen Anklage gegen die Stadt Ninive und Untergangsprophezeiung ein für Weiß deutliches Aktualisierungspotential für seine eigene Gegenwart barg.248 Nehmen die Sonette 6 bis 23 und 28 bis 30 aus unterschiedlichen Figurenperspektiven den am Kreuz hängenden Christus in den Blick, so steht in den Sonetten 24 bis 27 der tote Heiland im Mittelpunkt. Die Anregung für diesen Perspektivwechsel dürfte, das hat schon Paul Bellebaum vermutet, die Predella des Isenheimer Altars gegeben haben. Die der Kreuzigungsretabel als Sockel

|| 247 Weiß: Gedichte, 1961, S. 104, 109, 113. 248 Vgl. auch Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort, 2009, S. 207–211.

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dienende, auf der Altarmensa aufsitzende Predella zeigt den toten Christus kurz vor der Grablegung (Abb. 80).249

Abb. 80: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, Predella (1512/1515)

Die typologische Betrachtungsweise bleibt erhalten und bezieht damit auch die kunsthistorische Tradition von Altaraufbauten mit ein. Häufig wurde die aufgrund der Form und Position als ‚Sarg‘ bezeichnete Predella-Zone zur Darstellung von Grablegungen genutzt und bildlich auch die Identifikation des Lebensbaumes – von dem auch ein Zweig auf dem Grab Adams (neu) gepflanzt wurde – mit dem Kreuz Christi nahegelegt, das der Überlieferung nach aus dem Adamsgrab gewachsen sein soll.250 Diese typologische, auf Altären häufig dargestellte Perspektive vom alten Adam des Sündenfalls (AT) und dem neuen Adam der Zeit sub gratia (NT), also auf den toten Christus, eröffnet den Blick auf die Predella im ersten Quartett des 24. Sonetts: 24 Adam, wo bist du, siehe der dich sucht, es bleibt mein Innbild nicht am Kreuze hängen, der Abgrund muß sich in den Abgrund drängen und mein Erbarmen fällt in deine Schlucht.251

Aus der Sicht der Wächter am Grabe wird dann im 26. Sonett das einzige Mal im gesamten Zyklus die konkrete Betrachter-Situation vor dem Altar – und eben nicht auf dem Golgatha-Hügel – und der Altar als Betrachtungsobjekt selbst erwähnt (V. 10):

|| 249 Vgl. Bellebaum: Der Weg vom Bild zum Wort, 2009, S. 206. 250 Vgl. Karl-Werner Bachmann, Géza Jászai, Friedrich Kobler, Catheline Périer-D’Ieteren, Barbara Rommé, Norbert Wolf: Flügelretabel, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte. Begonnen von Otto Schmitt. Hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte München. Bd. IX: Firstbekrönung–Flügelretabel. München 2003, Sp. 1450–1536. 251 Weiß: Gedichte, 1961, S. 116.

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26 So wie uns Wachende mit Schlaf bedrängt Verlassenheit und uns ein dunkler Jammer Zusammenschmiedet in die gleiche Klammer, in Grab und Gottverlies die Seele zwängt, 5

10

so schließt den reichen Ring die Erde, fängt das Wort sich tonlos in des Grames Kammer, doch dröhnend immer härter schlägt der Hammer, nur du, nur du, du bist in dich verhängt. Ich bin in Schlaf gefallen auf den Stufen der Innenschau die saugend Mark und Blut mein Bein hilflos eingrub vor dem Altar, wach auf, wach auf, die Morgenwinde rufen, in Nacht der Seele taucht der Berg der Glut, die Schöpfung wallt, aufsteigt die kleine Schar.252

Wenn den Sonetten und ihren lyrischen Meditationen über den Kreuzestod Christi ein Aktualisierungspotential für die Nachkriegsgegenwart des Dichters Weiß unterstellt wird, so ist auch zu fragen, woran der ‚kunstliebende‘ Knecht eigentlich leidet bzw. worin er den Grund für den von ihm konstatierten unvollkommenen, leidensvollen Zustand der Welt und des menschlichen Daseins sieht. Aus der Perspektive des betrachtenden Zeitgenossen auf dem Golgatha-Hügel, so legen die beiden Quartette des 9. Sonetts nahe, hat sich in theologischer Lesart die Heilsgeschichte noch nicht erfüllt, sondern mit dem Kreuzestod Christi erst nur ihren Anfang genommen. Die Lösung des Bundes, also die Erfüllung der Gnadenzeit (9, V. 6) bleibt aber noch aus: 9 Der stand und schauend sich genügte schon, ich kaute Speise immer bittern Mundes und was ich tat, war Angst vergrabnen Pfundes, ich lebte stets die falsche Passion. Im Vorhof stand ich wie betäubt vom Mohn der Schreckgesichte unerlösten Bundes, da spaltet sich die Erde tiefsten Grundes, der Pan versinkt, ich bin, mich hält kein Ton.253

|| 252 Ebd., S. 118. 253 Weiß: Gedichte, 1961, S. 101.

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Die Sonette fragen in heilsgeschichtlicher Perspektive nach den übergeordneten moralischen und ethischen Zusammenhängen zwischen der Kreuzigung Christi und der Gegenwart von 1918/1920: 6 Ein Wurm, so krümmt sich pfadlos hin das Leid – ich sah das Bild und wieder du entschwunden, kann ich dich aus mir nur wie Blut aus Wunden auffangen in ein rünstig starres Kleid? 5

10

Und du zernichtest mich mit Kleinigkeit, durch Erde kriechend und der Seele Schrunden in mir ist nichts und außer mir gefunden, nichts, Finsternis und Trauertrunkenheit. Ein Tier, so mir das Mark aus Knochen frißt, ein Mensch ich, so sich kantet in die Regel, ein Gott in mir, dem leer der Tempel ist. – Der auch den Baum zernichtet, den er mißt, nimm, der den Balken schlägt und setzt die Nägel, da Tau und schlinge es um dein Gerüst. 7 Ich bin ein hingetretner Wurm und kein Mensch, Gott, ich bin, der so dich überboten, daß du dich sammeln darfst in Schmerzensknoten, die mich befrieden, ich bin maßlos dein.

5

10

Du gehst durch mich, aus mir erst in dich ein. Und eiliger, je mehr du trittst den Toten, verkrustet er und wird zu Samenschoten verkrümmt und klafft in silbrig weißem Schein. Und öffnet immer mehr den dürren Mund und läßt wie Perlen springen hin das Wort Und wird lebendig, so verläßt er sich und seines Bleibens Grab entrollt er und dem seine Seele bricht des Leibes Ort, mein letztes Denken überkraftet dich.

[…] 18 So geht der Mensch hinweg und kehrt sich um die eignen Angeln, reiner sich zu dehnen,

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er wächst zur Pforte doppelt, denn sein Sehnen gekreuzt bricht sein Gebein, sein Leib wird krumm. 5

10

Dann sieht er sich gebraucht und je mehr stumm Den Durchgang duldend er sein Werk will krönen, desto geringer muß der Diener stöhnen die Frage immer und zuletzt: warum? Warum die Mutter erdenschuldlos litt, warum verbannt, den Kampf zu überdauern, den reifen Kampf einmalig und zum Heil? Er sieht die ganze Last ihm nicht zu teil als nur durch Lasten, die gesetzt gleich Mauern ihm geben von der Menschheit Schwere mit. 19 O der du unter Menschheit stufend willst in Kraft einfügen all ein Sein und Wesen der Erde, daß sie göttlich muß genesen, so wie du bildhaft aus den Dingen quillst,

5

10

in Dingen meinst du spielend, der du spielst nur um die Seelenangeln, dich zu lesen, ein blinder Schein beschlägt des Spiegels Blößen, weil due am hungerhaften Born dich stillst. O Mensch du Mensch, so eile daß du bist, die Dinge wollen deiner Seele mangeln, wahr ohne dich und in dir nur Verrat: Lebendiger allein im Wort der Tag, gebrochen um den Sinn bildloser Angeln entwirfst du Mensch, der nun ein Nächster ist. 254

Die Befunde, die vom Geschehen auf und um den historischen Golgatha-Hügel abgeleitet werden, lassen sich in der Denkweise des Sprechers und von der strukturellen Anlage der Sonette her in einem zeitlichen Kontinuum auf die Gegenwart beziehen, der auf Erlösung hoffende Knecht gibt sich in der doppelten Lesart der Sonette im Subtext auch als Zeitgenosse des Dichters Konrad Weiß zu erkennen, der inmitten „eines Chaos der gesellschaftlichen Welt“255 steht. Die Visionen

|| 254 Weiß: Gedichte, 1961, S. 98f. und 110f. 255 Weiß: Gesichte eines Knechts, 1918/1919, S. 109.

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versprachlichen psychische Vorgänge, die ihre Anregung aus der Reflexion über die Heilsgeschichte und der Betrachtung von Grünewalds Isenheimer Altar beziehen. Die Gottverlassenheit und Gottesvergessenheit, die sich selbst entfremdete Zeit und Gegenwart aus „Finsternis und Trauertrunkenheit“ (6, V. 8) und der seinen Wurzeln nachspähende aber ohne metaphysischen Sinnzusammenhang verlorene Mensch, der sich selbst zum „Wurm“ und „Tier“ (7, V. 1; 6, V. 9) erniedrigt sind die Kernpunkte der hier vorgetragenen düsteren Gegenwartsdiagnose. Um die Frage danach, wie sich der Sprecher selbst als Mensch in dieser Heilsgeschichte verortet, die ja auch mit Maria Protagonisten kennt, die frei von der Erbsünde sind (18, V. 9), kreisen das zweite Quartett und erste Terzett des 6. und 19. Sonetts sowie die beiden Quartette des 7. und 18. Quartetts. In sprachlichen Bildern, die in ihrer semantischen Schonungslosigkeit gewissermaßen die bildkünstlerische Darstellungsweise des geschundenen Körpers am Kreuz bei Grünewald zitieren (6, V. 5–11), entwirft der Sprecher den Menschen als innerlich leer (6, V. 7) und ratlos angesichts rational nicht auflösbarer Fragen und Konflikte (18, V. 9–14). Daraus resultiert schließlich die Sehnsucht nach Erlösung, die in allen Sonetten vorhanden ist und die der Sprecher im letzten Terzett des letzten Sonetts noch einmal in Form einer Apostrophe zum Ausdruck bringt. 30 Und immer wieder nur das Wort und ich nicht in des Wortes Welle, ich trete kummerhaft die Stelle, der Stein erbebt, die Luft verdorrt, 5

10

der Mond flieht mit der Sonne fort, – bin ich am Pfahl des Kreuzes, belle zu dir des Schächers Wort: Geselle, ich eingerammt am selben Ort? Zerreiß den Vorhang vor dem Neid der Seele, blitzerstarrt am Dorn im Wetterlicht erblüht die Schlehe, nimm aus dem Mund das bittre Wehe mir, gibt dem Wiehernden den Sporn, erlöse mich, es ist die Zeit.256

Die Erlösungsbitte fasst nicht nur die vorangegangenen Sonette und deren christlich-religiöse Meditation zusammen. In ihr korreliert Weiß auch das visionäre || 256 Weiß: Gedichte, 1961, S. 122.

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Sprechen des Schächers auf dem Golgatha-Hügel und als Betrachter des Isenheimer Altars mit dem Thema des religiösen Dichtens und christlichen Dichters. Wie schon am Beispiel des 17. und 19. Sonetts gezeigt, reflektiert der Sprecher hier im ersten Quartett des letzten Sonetts am Ende auch noch einmal über den Weg vom Bild zum Wort und verweist damit auf Weiß’ grundlegendes Denkmuster der reziproken und fruchtbaren Beziehung von Bildender Kunst und Dichtung.

Abschließend sollen zwei Sonette zu Grünewald von Johannes R. Becher und Albrecht Haushofer behandelt werden, die aus unterschiedlicher biographischer Perspektive eine lyrische Annäherung an den Maler wagen. Die beiden Autoren und ihre Texte verbindet nicht zuletzt die Schreibsituation und der Schreibanlass: Von den nationalsozialistischen Machthabern verfolgt und diskreditiert verfasste Johannes R. Becher 1937 im Moskauer Exil seine Verse auf Grünewald und deutet den Maler als ein Genie des Humanismus, als dessen Erbe der politische Sozialismus installiert wird. Albrecht Haushofer, der im Dezember 1944 von einem SS-Kommando aufgegriffen wurde, schrieb sein Sonett im Gefängnis der Lehrter Strasse in Berlin-Moabit, wohin er nach seiner Entdeckung gebracht wurde bis zu seiner Ermordung kurz vor Kriegsende am 23. April 1945 inhaftiert gewesen ist. Auch er charakterisiert Grünewald als einen humanistischen Meister, widmet sich im Angesicht des drohenden Todes nicht einer Kreuzigungsdarstellung, sondern der Tafel mit dem auferstandenen Christus des Isenheimer Altars. In Grünewalds Kreuzigungsdarstellungen bzw. in der Auferstehungsdarstellung des Isenheimer Altars sehen Becher und Haushofer jenseits und abseits der von Weiß noch prominent in den Vordergrund gestellten christlichen Heilsgeschichte in Grünewald das humanistisches Erbe Deutschlands, das es nach ihrem Verständnis gegen die Nazi-Barbarei zu retten und zu verteidigen gilt. Der Künstler Grünewald, der als Schöpfer des Isenheimer Altars in Weiß’ lyrischen Meditationen nur über sein Werk präsent ist, aber sonst keine nennenswerte Bedeutung für den Sonett-Zyklus im Sinne einer Künstlerverehrung wie bei Bertram und Alverdes hatte, nimmt in Johannes R. Bechers Sonett Grünewald schon allein deshalb eine prominente Position ein, da das Sonett als Rollenrede des Malers gestaltet ist, wobei Grünewald als ich-sagender Sprecher streng genommen nur im zweiten Quartett und im ersten Terzett präsent ist und die beiden äußeren Strophen des Sonetts auch als (Eindrucks-)Beschreibungen scheinbar ohne Sprecherinstanz gelesen werden können. Wie Konrad Weiß war auch Becher ein Kenner der Bildenden Kunst seiner Zeit. Er gehörte aber anders als Konrad Weiß zum inneren Autorenkreis des Expressionismus und erinnerte auf dem 3. Kongress des Verbandes Bildender Künstler 1955 rückblickend an die kreative

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Atmosphäre des Expressionismus. Tage und Nächte habe er mit Ludwig Meidner über Landschaften von Bruegel oder mit Max Oppenheimer über unterschiedliche Kreuzigungsdarstellungen von El Greco oder eben Matthias Grünewald diskutiert.257 Erschienen ist Bechers Sonett 1938 in dem sowohl in Moskau als auch in London publizierten Gedichtband Der Glücksucher und die sieben Lasten. Die Entstehung des Sonetts fällt wohl erst in die Zeit seines Moskauer Exils ab Oktober 1935. Achim Aurnhammer vermutet das Jahr 1937 als Entstehungsdatum und begründet das mit der – allerdings nur beiläufigen Nennung – Grünewalds im Eröffnungs-Sonett Tränen des Vaterlandes anno 1937, dessen zweiter Vers auf ein „zartes Himmelsblau, von Grünewald gemalt“ verweist.258 Die Forschung hat vielfach die Bedeutung der Gedichtsammlung für Bechers Werkbiographie hervorgehoben. Im Moskauer Exil habe der Autor nicht nur eine neue Heimat, sondern auch eine neue Sprache und Dichtung gefunden, was gelegentlich auch mit Blick auf einen von der DDR-Biographik oft unterschlagenen Brief Bechers an Hans Carossa vom 27. Februar 1947 relativiert wurde, in dem Becher die 12 Jahre Exil außerhalb von Deutschland als „Fegefeuer“ und „Hölle“ bezeichnete.259 Sein sozialistisches und kommunistisches Engagement als Erster Sekretär des Bundes proletarisch-revolutionäre Schriftsteller (seit 1928) und seine Arbeit als Redakteur der Linkskurve (1929–1932) und der Roten Fahne (1932) fallen allerdings erst in die Zeit der späten Weimarer Republik. Trotz seiner politischen Überzeugungen und Positionen, nicht zuletzt auch wegen seiner Rolle als Funktionär in der späteren DDR, wurde Bechers Wandel vom Expressionisten über den „proletarisch-revolutionären“ Dichter bis zum „sozialistischen Realismus“ und einer „sozialistischen nationalen Poesie“260 als Erneuerung der nationalen Literatur

|| 257 Vgl. Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher. Berlin 1998, S. 739f. 258 Vgl. Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 38; Bechers Exilzeit, vor allem den Beginn und die ab 1936 einsetzenden großen Säuberungsaktionen Stalins thematisiert Alexander Behrens. Von Stalins radikalem Vorgehen gegen vermeintliche Gesinnungsfeinde waren nach neueren Schätzungen gut drei Viertel der deutschen Polit-Emigranten betroffen und Behrens erinnert daran, dass Gründe für Bechers Überleben bis heute im Dunkeln liegen, vgl. Alexander Behrens: Johannes R. Becher. Eine politische Biographie. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 200ff. 259 Hans Dieter Schäfer: Johannes R. Becher im Exil. In: Ders.: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München 1981, S. 96–106, hier S. 96. 260 Horst Haase: Johannes R. Bechers Deutschland-Dichtung. Zu dem Gedichtband Der Glücksucher und die sieben Lasten (1938). Berlin 1964, S. 5, 35, 37 bzw. 344;

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jenseits eines nationalsozialistisches Verständnisses gewertet.261 Gerade in der Sammlung Der Glücksucher und die sieben Lasten habe dieses Literaturkonzept einen ausdrucksstarken Höhepunkt erreicht, in dem sich „konservativer Kulturnationalismus mit dem Bekenntnis zur Sowjetunion“ verbinde.262 Für das Grünewald-Sonett ist zunächst die Position innerhalb der Gedichtsammlung von Interesse. Der erste, mit Deutschland überschriebene Teil der Sammlung hebt an mit dem Sonett Tränen des Vaterlandes anno 1937, das dem Titel und Inhalt nach Andreas Gryphius’ berühmtem Sonett von 1636 (Tränen des Vaterlandes) nachempfunden ist und eine Reihe von Landschaftsbeschreibungen eröffnet, in denen sowohl die laus patriae als auch die Klage um die unter dem Nationalsozialismus verschüttete deutsche Kultur im Mittelpunkt stehen. Mit 12 weiteren Sonetten ist Grünewald Teil der Rubrik Inschriften und Fragmente. Dort werden intellektuelle lyrische Porträts von Geistesgrößen in – weitgehend – chronologischer Reihenfolge wie Dante, Grünewald, Bosch oder Goethe präsentiert, die nach Becher sinnbildhaft für eine humanistische Denktradition stehen. Nach Horst Haase ist ein durchgehendes Motiv dieser „Reihe der großen Humanisten“ das „Fragmentarische im Leben ihrer Helden, deren Genie sich unter den Bedingungen der Klassengesellschaft nicht erfüllen kann“ und das zentrale Anliegen Bechers jenes, „daß der sozialistische Mensch durch das Erbe der Weltkultur bereichert und vervollkommnet wird“.263 Während Bertram und Alverdes Grünewald als urdeutschen Maler völkisch-nationalistisch instrumentalisieren und Konrad Weiß den Künstler und seinen Isenheimer Altar als Werk heilsgeschichtlicher Visionen literarisiert, charakterisiert Becher Grünewald als deutschen Humanisten. So wie Weiß mittels der lyrischen Visionen seines Knechtes und angesichts von Grünewalds Kreuzigungsdarstellung die Relevanz christlicher Heilslehre für die Gegenwart herausstellt, ist Becher ebenfalls am || 261 Vgl. auch Schäfer: Johannes R. Becher im Exil, 1991, S. 96f.; Peter Davies: Die Überwindung der Sprache. Johannes R. Bechers Weg in die Partei. In: Engagierte Literatur zwischen den Weltkriegen. Hg. von Stefan Neuhaus, Rolf Selbmann und Thorsten Unger. Würzburg 2002 (Schriften der Ernst-Toller-Gesellschaft, B. 4), S. 277–285; kritisch auch zu Bechers lyrischen Bekenntnissen zum Kommunismus und den damit verbundenen Problem einer Diktatur-Apologie vgl. auch: Dirk von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne. Zur Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts. Tübingen 2005 (Hermea. Germanistische Forschungen, Neue Folge, Bd. 107), S. 193–289, bes. S. 283–289. 262 Behrens: Johannes R. Becher, 2003, S. 210; zu Becher vgl. neuerdings auch die Studie von Helmuth Kiesel: Trost und Erbauung aus der „schweren Strenge“ des Sonetts. Sonettdichtung in den Jahren 1933 bis 1945 bei Albrecht Haushofer, Reinhold Schneider und Johannes R. Becher. In: Sonett-Gemeinschaften. Die soziale Referentialität des Sonetts. Hg. von Mario Gotterbarm, Stefan Knödler und Dietmar Till. Paderborn 2019, S. 257–272. 263 Haase: Johannes R. Bechers Deutschland-Dichtung, 1964, S. 164 bzw. 168.

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Aktualisierungspotential des frühneuzeitlichen Malers gelegen, dessen humanistisches Erbe es anzutreten und zu bewahren gelte. Für Bechers Werkbiographie ist Bechers Bildgedicht unter dem Gesichtspunkt eines lyrisch propagierten Humanismus insofern interessant und auch erstaunlich, als Becher zeitgleich Gedichte verfasst, die nicht nur gegen die Weimarer Republik gerichtet sind, sondern auch aus ideologischen Motiven heraus ästhetische Fragen zurückstellt.264 Anschaulich wird diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart in der Gesamtanlage der Ausgabe. Auf die Inschriften und Fragmente folgt ein vermittelndes, allein gestelltes Luther-Gedicht, dem sich die Abteilung Das Denkmal anschließt. Die dort versammelten kommunistischen Heldengedichte stellen den Zusammenhang von sozialistischer Gegenwart und (deutschem) Humanismus explizit her, was Becher bereits in einem Brief vom Juni 1935 an die Internationale Vereinigung revolutionäre Schriftsteller als die zwei hauptsächlichen Problemkreise der politischen Zukunft und als Aufgabe der Dichter und der Leser betont hat, nämlich die „Fragen des ERBES und der BESTIMMUNG DES MENSCHEN (Humanismus)“ [Hervorhebungen im Original].265 Den ‚Humanisten‘ Grünewald lässt Becher in seinem Sonett selbst zu Wort kommen. Die beiden Quartette sind formal durch den Wechsel des Reimschemas vom Kreuzreim zum umarmenden Reim kontrastiv gestaltet, dagegen werden die Terzette mittels Schweifreim miteinander verbunden. Der traditionellen Struktur der Sonettform mit These und Antithese in den Quartetten und einer Synthese in den Terzetten folgt Becher, einer der „fruchtbarsten Sonett-Dichter überhaupt“,266 insofern, als sein Sonett sowohl menschliches Elend (1. Quartett) und menschliche Größe (2. Quartett) thematisiert. Über das Sonett als poetische Gattung äußerte sich Becher in seiner Philosophie des Sonett oder kleine Sonettlehre und sah in der Sonettform das „Bewegungsgesetz des Lebens zum Inhalt“ verwirklicht, „das [sich] aus Satz, Gegensatz und der Auflösung in einem Schlußsatz“267 formal vom Vierzehnzeiler unterscheide. Diese innere Struktur findet sich auch in seinem Grünewald-Sonett wieder:

|| 264 Vgl. von Petersdorff: Fliehkräfte der Moderne, 2005, S. 275–289. 265 Johannes R. Becher: Briefe. 1909–1958. Hg. von Rolf Harder. Berlin, Weimar 1993, S. 213; vgl. auch Horst Haase: Becher. Sein Leben und Werk. Berlin (West) 1981, S. 126f. 266 Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. Bd. 2. Göttingen 2002 (Münchner Universitätsschriften, Münchener komparatistische Studien, Bd. 2), S. 379. 267 Johannes R. Becher: Philosophie des Sonetts oder Kleine Sonettlehre. Ein Versuch. In: Ders.: Das poetische Prinzip. Berlin 1957, S. 403–440, hier S. 407.

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Grünewald Wie sich das Blut bis in die Augen preßt, Und sich die Arme aus den Schultern renken, Die Haut hängt schlaff, von Todesangst durchnäßt, Es zerrt der Schmerz in Sehnen und Gelenken: 5

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Ich muß sie malen, diese große Last. Ein Höllenreich ist über uns errichtet. Von keinem Schein von oben her belichtet, So lebt der Mensch, geduckt, sich selbst verhaßt. Ich muß sie malen, diese Finsternis, Es geht die Erde mitten durch ein Riß, Und aus dem Abgrund kommt Geheul und Winseln. Ein grüner Flor von Licht. Ein wenig Schimmer Wie Spur von blödem Lächeln, das noch immer Erlösung hofft, und winziges Sterneblinzeln.268

Das erste Quartett beschreibt und vergegenwärtigt dem Leser durch das deiktische „Wie“ (V. 1) und die Verwendung dynamischer Verben wie „preßen“ (V. 1), „renken“ (V. 2) oder „zerren“ (V. 4) die Passion Christi und imitiert sprachlich die spezifische, radikal-naturalistische Darstellung des geschundenen Christus am Kreuz. Bis auf „Schmerz“ (V. 4) und „Todesangst“ (V. 3) stammen auch alle sieben Substantive des ersten Quartetts aus dem physischen bzw. anatomischen Bereich und betonen damit nicht nur Grünewalds ‚Supranaturalismus‘, sondern machen auch die menschliche Natur Christi am Kreuz deutlich. Eine Klimax zur Betonung physischer Vorgänge bildet die das innere Leiden erfassende „Todesangst“ (V. 3). Dass diesem Christusbild allenfalls in seiner Nebenbedeutung ein religiöser Bezug zugrunde liegt oder eine heilsgeschichtliche Bedeutung zuerkannt wird und vielmehr in erster Linie metaphorisch als „Sinnbild der gequälten Menschheit“269 dient, legt die Phrase des letzten Verses des zweiten Quartetts nahe, der das zuvor Gesagte verallgemeinernd auf den Menschen im Allgemeinen bezieht: „So lebt der Mensch“ (V. 8). Unklar bleibt, ob sich Becher auf die Kreuzigung des Tauberbischofsheimer Altars (Karlsruher Kreuzigung) oder die des Isenheimer Altars bezieht, wenngleich die Forschung unterschwellig, aber ohne das zu thematisieren vom Isenheimer Altar als Vorlage ausgeht. Der deutliche Huysmans-Bezug, auf den noch

|| 268 Johannes R. Becher: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 78. 269 Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 38.

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zurückzukommen ist, würde allerdings eher auf die Karlsruher Kreuzigung als konkrete bildkünstlerische Vorlage verweisen.270 Das zweite Quartett und das erste Terzett stellen den künstlerischen Produktionsprozess in den Mittelpunkt und bilden eine thematische Einheit, die durch die einleitende Anapher „Ich muß sie malen“ (V. 5 und 9) zum Ausdruck gebracht wird. Sie artikulieren einen zwingenden Schöpfungswillen und reflektieren das im ersten Quartett konstatierte Leid der Menschheit nicht mehr wie im ersten Quartett unter einen destruktiven, sondern einer produktiven Perspektive.271 Trotz der durch das Rollenich gegebenen Einheit bilden die beiden Quartette eine Antithese im Sinne von Bechers Sonettlehre: Im zweiten Quartett und ersten Terzett verdrängt ein fiktives, sprachlich imaginiertes apokalyptisches ‚Bild‘ das doch recht präzise beschriebene Bild einer Grünewaldschen Kreuzigung. Ganz anders als bei Konrad Weiß führt die Betrachtung der Kreuzigungsszene nicht zu einem Wunsch nach heilsgeschichtlicher Erfüllung, schon gar nicht wird eine Gewissheit der Erlösung unterstellt. Im Gegenteil wird jede Hoffnung auf Erlösung eliminiert. Die Ausweglosigkeit der evozierten Bedingungen menschlichen Daseins wird metaphorisch in der „großen Last“ (V. 5) verdichtet, die „über uns“ (V. 6) und „von oben“ (V. 7) den Menschen zum „Ducken“ (V. 8) zwingt und selbst das sonst mit der oberen Sphäre assoziierte Reich Gottes zu einem „Höllenreich“ (V. 6) umdeutet. Auffällig ist im zweiten Quartett die Lichtmetaphorik (V. 7), die kontrastiv zur „Finsternis“ (V. 9) des ersten Terzetts funktional als Befreiung von der zuvor beschriebenen Enge zum Sinnbild von Sehnsucht und Hoffnung avanciert.272 Das Fehlen dieser Hoffnung („von keinem Schein von oben her belichtet“, V. 7) führt zur physischen und psychischen Destruktion des Menschen, die formal in der asyndetischen Reihung des folgenden Verses hervorgehoben wird: „So lebt der Mensch, geduckt, sich selbst verhaßt“ (V. 8). Die Lichtmetaphorik des zweiten Terzetts fängt mit dem „Flor aus Licht“ (V. 12) ein schwaches „Hoffen auf Erlösung“ ein,273 das der zuvor durch Weltuntergangsmotive heraufbeschworenen metaphysischen Dunkelheit entgegengestellt wird. Die abschließenden Verse „Wie Spur von blödem Lächeln, das noch immer / Erlösung hofft“ (V. 13 und 14) haben schon Achim Aurnhammer und Ingrid Schulze als Anspielung auf die Beschreibung in Huysmans’ Roman Lá-Bas interpretiert: „[…] das Antlitz hügelig, die Stirne geebnet, die Wangen verdorrt; alle Züge weinten in der Zerstörung, während der Mund mit seinem Kiefer, den

|| 270 Vgl. ebd. 271 Vgl. auch Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 38f. 272 Vgl. Schulze: Die Erschütterung der Moderne, 1991, S. 185. 273 Schulze: Zur Grünewald-, Bosch- und Goyarezeption, 1987, S. 85

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scheußlich schütternden Starrkrampf preßte, sich lachend entsiegelte“.274 Dieses Lachen bzw. Lächeln findet sich indessen nicht auf Grünewalds Kreuzigungsdarstellungen, sondern dient wohl eher dazu, christliche „Erlösungshoffnung“ als „falschen Trost“ zu entlarven.275 Aurnhammer sieht Bechers Grünewald-Sonett trotz seiner „marxistischen Verdiesseititung“ von dessen Kreuzigungs-darstellung in der „Tradition von Huysmans’ Grünewald-Kult“ (S. 38). Damit übersieht er aber die vor allem im abschließenden Terzett seine Auflösung findende Religionskritik Bechers: Synthesehaft fügt sich die Bildlichkeit des zweiten Terzetts in die zuvor aufgerufenen, das menschliche Elend betonenden apokalyptischen Beschreibungen. In Form einer Antiklimax wird aus dem „Flor aus Licht“ (V. 12) über „wenig Schimmer“ (V. 12) ein „winziges Sterneblinzeln“ (V. 14), das wiederum auf das zweite Quartett zurückweist, das die Vision des Malers „von keinem Schein von oben her belichtet“ (V. 7) als Illusion entlarvt. Der bei Becher präsente ursprüngliche Inhalt der Huysman’schen Grünewald-Rezeption wird verdrängt und lediglich das äußere, morbide Gerüst dieser Rezeptionslinie bleibt erhalten. Die Kreuzigungsdarstellung Grünewalds wird damit vielmehr – und anders als bei Huysmans – entmythologisiert, religionskritisch betrachtet und für Bechers sozialistisch-humanistische Zwecke uminterpretiert. Diese Vorgehensweise hat Becher bereits zehn Jahre vor seinem Grünewald-Sonett angewandt. In seinem 1926 erschienenen Roman Levisite oder Der einzige gerechte Krieg symbolisiert sein Christus aus dem Gleichnis des Gekreuzigten einen Akt der „Selbstbefreiung“, die auf „revolutionäre Veränderung der Gesellschaft“ ziele und damit über Huysmans religiöse Tendenzen hinausgehe. 276

Auch in Albrecht Haushofers Sonett Qui resurrexit (1945) sieht Achim Aurnhammer starke Parallelen zu Huysmans Naturalismus, Religion und Ästhetizismus verbindendem ‚Supranaturalismus‘. Anders als bei Becher transponiert Haushofer zwar die christlichen Motive zu einer kunstreligiösen Mystik, doch fungiert diese letztlich auch als Mittel christlicher Erlösungsvorstellungen. Haushofer

|| 274 Joris-Karl Huysmans: Tief unten. Übersetzt von Victor Pfannkuche. Köln 1972, S. 10; vgl. auch Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 38; Schulze: Die Erschütterung der Moderne, 1991, S. 143. 275 Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 38. 276 Ingrid Schulze: Johannes R. Becher und der antiimperialistische Charakter der GrünewaldRezeption in bildender Kunst und Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Zum Verhältnis von Geist und Macht im Werk Johannes R. Bechers. Redaktion Simone Barck [u.a.]. Berlin (Ost) 1983, S. 74–89, hier S. 74–79; ähnlich fasst Schulze dann den Komplex in ihrer späteren Studie zusammen, vgl. Schulze: Zur Grünewald-, Bosch- und Goyarezeption, 1987, S. 85.

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wurde nach der Machtübernahme trotz fehlender Überzeugung von der nationalsozialistischen Ideologie und trotz seiner halbjüdischen Mutter Berater von Rudolf Heß und Mitarbeiter des späteren Außenministers Joachim von Ribbentrop. Letzterer war Schüler und Freund seines Vaters, des Geopolitik-Professors Karl Haushofer. Nach zwischenzeitlichen Inhaftierungen schon zu Beginn der 1940er Jahre wurde Haushofer im Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Attentat ins Gefängnis von Berlin-Moabit gebracht, wo die insgesamt 79 Moabiter Sonette entstanden sind.277 Das Manuskript der Texte wurde nach seiner Exekution in seiner Mantelinnentasche entdeckt. Den Zyklus von Sonetten dominieren ein resignativer Ton und eine pessimistische Weltanschauung. Sie reflektieren aber auch das europäische humanistische Kulturerbe und sein Sonett auf Grünewalds Auferstehungstafel des Isenheimer Altars deutet den Maler als ein „Erbe der deutschen humanistischen Tradition“.278 Der Titel des Sonetts ist nicht nur eine Allusion auf Grünewalds Auferstehungsdarstellung (Abb. 81), sondern zitiert auch eine Passage aus der ersten der Gloria mysteria des Rosenkranzgebets, „Qui resurrexit a mortuis“ (auch bei Lk, 24,6). Von der Überschrift her und dem intermedialen Bezug verschmelzen in Haushofers Sonett liturgisches Gebet, Kunstbetrachtung und Selbstreflexion im Angesicht des Todes. Im Gegensatz zu den GrünewaldDichtungen von Konrad Weiß reflektiert das Sonett von Haushofer die autobiographische, konkrete Situation der Gefährdung immer mit: Qui resurrexit In tausend Bildern habe ich Ihn gesehn. Als Weltenrichter, zornig und erhaben, als Dorngekrönten, als Madonnenknaben, – Doch keines wollte ganz in mir besthn. 5

Jetzt fühl ich, daß nur eines gültig ist: Wie sich dem Meister Mathis Er gezeigt – Doch nicht der Fahle, der zum Tod sich neigt – Der Lichumflossne: dieser ist der Christ.

|| 277 Zum Überblick: Heidrun Ehrke-Rotermund: Albrecht Haushofer. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann u.a. Bd. 5. Berlin, New York 2009, S. 92; ferner auch Kemp: Das europäische Sonett. Bd. 2, 2002, S. 389. 278 Felix Martin Wassermann: Ein Denkmal des ewigen Deutschlands: Albrecht Haushofers „Moabiter Sonette“. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 40 (1948), S. 305–313, hier S. 307.

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Nicht Menschenkunst allein hat so gemalt. Dem Grabesdunkel schwerelos entschwebend, das Haupt mit goldnem Leuchten rings umschwebend. Von allen Farben geisterhaft umstrahlt, noch immer Wesen, dennoch grenzenlos, fährt Gottes Sohn empor zu Gottes Schoß.279

Abb. 81: Matthias Grünewald: Isenheimer Altar, Auferstehung Christi (1512/1515)

Das erste Quartett hebt an mit der hyperbolischen Formel von „tausend Bildern“ (V. 1), die einerseits die Ausdrucksschwäche sakraler Malerei und deren Beliebigkeit thematisiert. Andererseits wird damit auch die Größe und Bedeutung der hier bedichteten Auferstehungstafel von Grünewalds Isenheimer Altar herausgestellt. In der Beurteilung des lyrischen Ichs hat von allen Christusdarstellungen, der als Heilsbringer schon in den beiden Quartetten orthografisch durch die Hoheitsformeln „Ihn“ (V. 1) und „Er“ (V. 6) betont wird, nur die Auferstehung Christi, wie sie „Meister Mathis“ (V. 6) gemalt hat, Bestand. Diese Sonderstellung beschreibt das zweite Quartett, in dem der Sprecher sich auf Grünewalds Auferstehung bezieht, zu dem er vom „Weltenrichter“ (V. 2) über den „Dornengekrönten“ (V. 3) zum „Madonnenknaben“ (V. 3) in Form einer chronologischen Antiklimax der Christusikonographie gedanklich gelangt.280 Der im ersten Quartett mit Blick auf

|| 279 Albrecht Haushofer: Moabiter Sonette. Berlin 1946, S. 23. 280 Vgl. auch Aurnhammer: Joris-Karl Huysmans ‚Supranaturalismus‘, 2008, S. 39.

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bildkünstlerische Christusdarstellungen konstatierten Beliebigkeit und Ausdruckslosigkeit stellt der erste Vers des zweiten Quartetts mit seinem Einzigartigkeitstopos die Grünewaldsche Darstellung kontrastiv gegenüber. Dabei geht es dem Sprecher nicht nur um die malerischen Darstellungen, sondern generell um die Beurteilung und Konkurrenz der Christusikonographie des Gekreuzigten und des Auferstandenen. Parenthetisch wird der Tote, der „Fahle“ (V. 7) gegenüber dem Auferstandenen, „Lichtumflossenen“ (V. 8) zurückgestellt. Haushofer richtet damit die bisher betrachtete lyrische Grünewald-Rezeption neu aus und lenkt den Blick – sicherlich auch in Anbetracht seiner persönlichen Situation – auf den tröstenden Auferstandenen. Der Auferstehung widmen sich die beiden Terzette, die sowohl eine Sakralisierung des Malers („Nicht Menschenkunst allein hat so gemalt“, V. 9) und Mystifizierung der Altartafel betreiben als auch die Auferstehung theologisch reflektieren und sich dabei der Darstellung Grünewalds bedienen. Menschliches Dasein und irdische Mühsal überwindet Christus in der Lesart des lyrischen Ichs, indem er den Tod und ganz real die Schwerkraft überwindet und dem „Grabesdunkel schwerelos entschwebt“ (V. 10). Die Auferstehung wird paranomastisch („entschwebend“, V. 10; „umschwebend“, V. 11) als Zwischenzustand entworfen und durch die Antithese „noch immer Wesen, dennoch grenzenlos“ (V. 13) als rational nicht auflösbares Mysterium charakterisiert. Das „goldene Leuchten“ (V. 11) um das Haupt Christi ist sicherlich als Anspielung auf Grünewalds Tafel zu verstehen, es verweist aber farbsymbolisch und ikonographiegeschichtlich auf das in der Auferstehung Christi eingelöste Versprechen auf Erlösung, die das „Grabesdunkel“ (V. 10) verdrängt. Die Kunstbetrachtung des lyrischen Ichs, seine Reflexionen zur Heilsgeschichte und Auferstehung lesen sich angesichts des Entstehungskontextes wie die Selbstaussprache des Autors, der mit seinen „äußeren Hoffnungen“281 abgeschlossen hat. In der erinnernden Konfrontation mit Grünewalds Auferstandenem Christus wird zugleich aber auch in der Himmelfahrt Christi (V. 14) die Möglichkeit eines Neubeginns erwogen, der allerdings das Irdische als abgeschlossen betrachten muss.

Der Wiederentdeckung Grünewald im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts folgt eine beispiellose kunstgeschichtliche Rezeption, die sich um Zuschreibungs- und Einflussfragen des Künstlers und seines Werks kümmert. In meist bewusst zur unterhaltenden ‚leichten‘ Bildung konzipierten, heute kaum mehr bekannten Romanen und erzählenden Texten wird ein Grünewald-Bild popularisiert, das oft

|| 281 Wassermann: Ein Denkmal des ewigen Deutschlands, 1948, S. 308.

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genug wenig historisch fundiertes Wissen verbreitet. Bildgedichte, kunstwissenschaftliche und fiktionale Texte zu Grünewald sind Teil einer um sich greifenden, regelrechten Grünewald-Manie, die sich mit der deutschen Rezeption von JorisKarl Huysmans Auseinandersetzung mit Grünewald (1891, 1905) noch verstärkt. Am Anfang jeder Betrachtung von Grünewalds Werken steht immer die Verwunderung über seine eigentümliche, von Faszination oder Abneigung gekennzeichnete Bewertung seiner realistisch-veristischen Darstellungsweise vor allem des leidenden Christus. Die literarische Rezeption im Bildgedicht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert sich auf die Tafeln des Isenheimer Altars und die sogenannte Karlsruher Kreuzigung. Den religiösen Gehalt und die heilsgeschichtliche Botschaft der Tafeln von Grünewalds Werken räumen die Autoren in ihren Bildgedichten einen unterschiedlichen Stellenwert ein. In der Kunst- und Weltanschauungsliteratur wird Grünewald vor und nach dem Ersten Weltkrieg neben oder in Konkurrenz zu Dürer als ‚deutscher‘ Maler charakterisiert, der die Seele des Volkes in seinen Werken erfasst habe. War er von den völkisch-national gesinnten Autoren noch bis zur Machtübernahme Hitlers zum Inbegriff deutscher Kunst stilisiert worden, so wandelte sich diese Bewertung, als die ‚Hardliner‘ der nationalsozialistischen Kunstideologie, namentlich Wolfgang Willrich, lieber doch Dürer favorisierten und mit dem auch von der bildkünstlerischen Avantgarde verehrten Grünewald nichts mehr zu tun haben wollten. Grünewald-Rezeption im Bildgedicht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnet vor allem aus, dass die Werke des Malers von Autoren wie Konrad Weiß (1918/1920), Ernst Bertram (1920), Paul Alverdes (1922), Johannes R. Becher (1937/38) und Albrecht Haushofer (1945) literarisiert wurden, die von ihren politischen, weltanschaulichen und ästhetischen Positionen ganz unterschiedlich ausgerichtet waren. Sie alle verbindet aber thematisch, dass sie besonders die Leidensdarstellungen von Grünewald aufgrund ihres drastischen Realismus als Sinnbild des leidenden Menschen verstehen. Die Sonette von Konrad Weiß entfalten in ihrer Kunstbetrachtung eine religiöse Meditation über existentielle anthropologische und geschichtsphilosophische Fragen des modernen Menschen. Eng verbunden sind diese Reflexionen mit dem heilsgeschichtlichen Denken von Weiß und der in seinen literarischen Werken immer wieder beschworenen, gleichzeitig aber auch hinterfragten Relevanz christlicher Vorstellungen in einer von säkularen Triebfedern gekennzeichneten Welt.

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Mit den fast zeitgleich entstandenen Dichtungen von Paul Alverdes und Ernst Bertram, die ihre Texte völkisch-national und agitatorisch gegen den Kriegsgewinner Frankreich in Stellung bringen oder mit Johannes R. Bechers und Albrecht Haushofers unter humanistischen Vorzeichen gedeuteten Kreuzigungsund Auferstehungs-darstellungen hat der ästhetisch und intellektuell anspruchsvolle Zyklus von Konrad Weiß wenig zu tun.

3 Parodie, Sachlichkeit und Künstler-Kritik: Bildgedichte zur Zeit der Weimarer Republik (Robert Walser, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht) Zeitgleich mit den Gedichten von Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß, die zwar nicht die Künstler ihrer Bildvorlagen – Raffael und Grünewald – zu Künstlerheroen stilisieren, wohl aber ihre Dichtung als lyrische Verinnerlichung christlich-heilsgeschichtlicher Bildthemen und kontemplative Rückzugsmöglichkeit begreifen, entsteht in den 1920er Jahren auch eine Reihe von Bildgedichten von Joachim Ringelnatz, Robert Walser, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht, die sich durch ein dezidiert distanziertes, nicht selten ironisch-parodistisches Verhältnis gegenüber den bedichteten Künstlern oder literarisierten Kunstwerken auszeichnen. Sie hinterfragen nicht nur überkommene Muster künstlerischer Größe und inszenieren einen Bruch mit jeglicher Art von Kunst- und Künstlerverehrung, sondern konterkarieren auch gängige Deutungsdiskurse ikonographischer oder kulturanthropologischer Aspekte der bedichteten Kunstwerke. Diese Gedichte verweigern ihren bildkünstlerischen Vorlagen demonstrativ eine ‚ernsthafte‘ Würdigung und ersetzen eine solche mit einem ironisierenden Blick sowohl auf das Kunstwerk als auch auf dessen Deutungs- und literarische Aneignungsgeschichte. Damit gewichten sie die umfangreiche Rezeptionsgeschichte etwa der Gemälde van Goghs, Tizians Venus von Urbino, der Mona Lisa oder Michelangelos Schöpfungsfresko in der Sixtinischen Kapelle nicht als Fundgrube ambitionierter und gelehrter Literarisierungen von Kunst, sondern als kulturhistorischen Ballast und perspektivieren ihre lyrische Kunstrezeption maßgeblich durch ironische-satirische Distanznahme. Der Unterschied zu den im vorangegangenen Kapitel IV., 2 behandelten Gedichten könnte nicht größer sein. Waren vor allem die Sonett-Zyklen von Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß von der dichterischen Verinnerlichung der Bildvorlagen geprägt und die eigene künstlerisch-literarische Weltaneignung an die Poetologie einer von christlicher Erlösungshoffnung inspirierten Dichtung und einer auf die christliche Heilsgeschichte verpflichteten Bildenden Kunst geprägt, so versuchen die im folgenden Kapitel analysierten Gedichte gerade dieses enge Verhältnis von Bild und Wort

https://doi.org/10.1515/9783110700732-014

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aufzulockern und die bildkünstlerischen Vorlagen für die Dichtungen von ihrer trivialen Seite her zu betrachten.282 Mit der humoristisch-parodistischen Schreibhaltung, die sich nicht zuletzt auch gegen tradierte Rezeptionsmuster der Kunstbetrachtung richtet, geht bei den genannten Dichtern auch eine generelle Skepsis gegenüber der Kunsttheorie einher. Bei etlichen der bisher behandelten Autoren ließen sich die Gedichte auf Künstler oder Kunstwerke auch im Kontext ihrer allgemeinen kunsttheoretischen oder kunsthistorischen Positionen deuten. Dies ist bei den hier behandelten Texten nur bedingt oder allenfalls ex negativo möglich. Robert Walsers Abneigung gegen jegliches bildungsbürgerliches Gehabe und weihevolle Kunstbetrachtung ist für sein Verhältnis zur Bildenden Kunst und seine Bildgedichte ebenso bedeutsam wie auch Kurt Tucholskys Anspruch, als Chronist der Weimarer Republik, Satiriker und Aufklärer Kritik am (Weimarer) Staat und seinen Institutionen sowie am Kapitalismus zu üben, in seinem Umgang mit (berühmten) Kunstwerken seinen Niederschlag findet.283 Symptomatisch für eine solche kritische Haltung gegenüber allgemein gültigen kunsttheoretischen Vorstellungen und Ansprüchen ist ein Gedicht des 1883 im sächsischen Urzeln geborenen als Hans Bötticher geborenen Joachim Ringelnatz, das unter dem Titel Was ist Kunst? in die letzte zu Lebzeiten erschienene Sammlung Gedichte, Gedichte von Einstmals und Heute (1934) aufgenommen worden ist. Ringelnatz war nicht nur mit zahlreichen Künstlern und bekannten || 282 Die Opposition von Gedichten aus der Feder von Rudolf Alexander Schröder oder Konrad Weiß mit solchen von Ringelnatz, Robert Walser, Tucholsky oder Brecht im Bereich des Bildgedichts findet eine Entsprechung in der literarhistorischen Konstellation der 1920er Jahre, in der sich (zeitgleich) grundsätzlich gegenläufige ästhetische Positionen und vollkommen unterschiedliche Lyrik-Konzeptionen beobachten lassen. Vgl. Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, 2017, S. 1011–1056. 283 Vgl. zu Robert Walser und Kurt Tucholsky überblickshaft die Artikel von Wolfram Groddeck: Robert Walser und Ulrich Stadler: Kurt Tucholsky. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 785–788 (Walser) bzw. 760–764 (Tucholsky); zu Walsers bildungsbürgerlicher Kritik auch Kerstin Gräfin von Schwerin: Im weitverzweigten Lebensgarten. Robert Walsers Gedicht Der verlorene Sohn und Rembrandt Bild Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. In: Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Hg. von Anna Fattori und Margit Gigerl. München, Paderborn 2008, S. 129–141, hier S. 138f.; zu Tucholsky vgl. Willi Zimmermann: Kurt Tucholsky als politischer Aufklärer. Versuch einer Systematisierung seiner Aussagen zu Staat und Gesellschaft. In: Kurt Tucholsky. Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung. Hg. von Irmgard Ackermann. München 1981, S. 109–130, hier S. 118f.; Hermann Korte: Kurt Tucholskys Lyrik. In: Kurt Tucholsky. Das literarische und publizistische Werk. Hg. von Sabina Becker und Ute Maack. Darmstadt 2002, S. 173–212, hier S. 174–178.

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Illustratoren der Weimarer Republik bekannt wie Karl Hügin, Jules Pascin, Lotte Pritzel, Max Unold und – als Illustratoren seiner Werke – Richard Sewald, Karl Arnold und Olaf Gulbransson, sondern arbeitete aufgrund seiner Doppelbegabung auch als Graphiker, Maler und Illustrator.284 Als Mitglied der sich als künstlerische Avantgarde verstehenden Vereinigungen Das junge Rheinland (1921– 1929) und vor allem der 1929 von Max Pechstein gegründeten Berliner Novembergruppe, der unter anderem Hans Arp, Willy Baumeister, George Grosz, Paul Klee, Otto Dix, Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch angehörten, war Ringelnatz in der Weimarer Republik als Bildender Künstler durchaus angesehen und fand mit Ausstellungen in der berühmten Düsseldorfer Galerie Alfred Flechtheims 1923 und 1928 in Leipzig zusammen mit Otto Dix und George Grosz auch Beachtung in Kunst- und Künstlerkreisen.285 In seinem Gedicht Was ist Kunst? macht er deutlich, welchen Stellenwert der Kunst einräumt wird: Was ist Kunst? Was ist Kunst?? Verwegen ging die Frage Durch Jahrhunderte und bis in meine Tage.

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Doch in mein Haar griff eines Windes Wehen. Und Straßensänger sangen mir von fern: „Weißt du wieviel Sternlein stehen? –“ Am Himmel hoch erlosch im Licht ein Stern.286

|| 284 Vgl. Joanna Wolf: Joachim Ringelnatz. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 649–651; in insgesamt finanziell prekären Zeiten schaffte es Ringelnatz immer wieder, vergleichsweise teure und edle Buchausgaben seiner Gedichte und Werke zu publizieren, die sich gut verkauften wie die illustrierten Neuauflagen seiner berühmten Turngedichte und Kuttel Daddeldu im Kurt-Wolff-Verlag 1923, vgl. hierzu Nils Büttner: Ringelnatz und seine Illustratoren. In: Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt. Hg. von Frank Möbus, Friederike Schmidt-Möbus, Frank Woesthoff und Indina Woesthoff. Göttingen 2000, S. 109–117. 285 Vgl. Friederike Schmidt-Möbus: Spurensuche, Bild-Welten, Sehweisen. Joachim Ringelnatz und die Kunst seiner Zeit. In: Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt. Hg. von Frank Möbus u.a. Göttingen 2000, S. 190–208, bes. S. 197–204; knapp aber instruktiv auch der Artikel zu Ringelnatz sub verbo von Kurt Böttcher, Johannes Mittenzwei: Dichter als Maler. Stuttgart [u.a.] 1980, S. 249–252. 286 Joachim Ringelnatz: Gedichte. In: Ders.: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Hg. von Walter Pape, Bd. 2. Berlin 1985, S. 107.

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Kunst ist für das lyrische Ich, ist für Ringelnatz irrational und verwehrt sich nach dieser Position bildungsbürgerlicher Vereinnahmung.287 Die eingangs noch bedeutungsschwer formulierte Frage nach dem Wesen der Kunst verliert sich in humoristischer Weise in einer Antwortfindung, die keine sein will und auch mit der Frage nichts mehr zu tun hat. Dem lyrischen Ich ist am Ende des Gedichts offenbar nicht nur die Frage entfallen, sondern es nimmt in humoristischer Manier eine dezidiert anti-intellektuelle, der Eingangs- und Titelfrage entgegenlaufende Haltung ein, indem es völlig zusammenhanglos das Versatzstück des Volksliedes Weisst du, wie viel Sternlein stehen zitiert. Kohärenz, Ernsthaftigkeit und Sinnhaftigkeit der Frage nach Wesen und Anspruch der Kunst werden damit unterlaufen. Auch Ringelnatz’ Gedichte zu einigen seiner eigenen bildkünstlerischen Werke wie Flucht, Schwerer Fisch am Nagel, Hafenkneipe, An der harten Kante oder Fernes Grab bemühen sich zwar, die Bildgegenstände und Bildthemen teils in ekphrastischer Tradition, teils in satirischer Überzeichnung narrativ in Sprache zu übersetzen. Wie bei seinem Gedicht Was ist Kunst wird gleichzeitig aber auch eine ästhetisch, ideologisch oder politisch identitätsstiftende Bedeutung und Sinnebene negiert. In erster Linie sind diese Gedichte in ihrem Verhältnis zur gemalten Vorlage genau das, was sie auch im anderen Medium sind. Auf eine Erhöhung oder Ausschmückung eines Mehrwerts mit ideologischem Überbau wird grundsätzlich verzichtet. Bildnerische Vorlage und sprachliche Umsetzung bleiben aufeinander angewiesen und sind auch von Ringelnatz’ Konzeption seiner Gedichtbände her als Wort-Bild-Ensemble zu rezipieren. In seiner grundlegenden Studie zu Ringelnatz als Dichter und Maler hat Walter Pape bereits 1974 „Parodie und Selbstparodie“ als zentrale Kategorien und Charakteristika von Ringelnatz’ dichterischem und bildkünstlerischem Werk herausgestellt. So greifen seine Gedichte zu eigenen Ölgemälden und Aquarellen den leichten Pinselstrich und die skizzenhafte Anlage der Vorlagen insofern wieder auf, als sie mit ihrem gewählt humoristischen Ton, den stilistischen und semantischen Brüchen diese

|| 287 Vgl. die immer noch nicht überholte Darstellung von Walter Pape: Joachim Ringelnatz. Parodie und Selbstparodie in Leben und Werk. Mit einer Joachim-Ringelnatz-Bibliographie und einem Verzeichnis seiner Briefe. Berlin, New York 1974 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, NF 62[186]), hier S. 69ff.; das kreative Potential und seine Vorliebe für skurrile und abwegige Themen und Motive beleuchten auch zwei Beiträge von Ariane Walsdorf: „Simpl-Glasglüh-Morgenrot“ – Auf dem Weg zum Dichter. Ringelnatz und die Münchner Boheme. In: Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt. Hg. von Frank Möbus, Friederike Schmidt-Möbus, Frank Woesthoff und Indina Woesthoff. Göttingen 2000, S. 51–61; Dies.: „Wenn ich einen Anfang wüßte – säng ich ein Lied aus Inmirland“. Zu den Gedichten von Joachim Ringelnatz. In: Ebd., S. 85–91.

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malerische Leichtigkeit und unakademische Darstellungsweise imitieren. Exemplarisch für diesen Umgang mit der künstlerischen Vorlage und für Ringelnatz’ Konzept von Wort-Bild-Verhältnissen können seine aus dem Nachlass überlieferten Gedichte Flucht und An der harten Kante (Abb. 82 und 83) gelten: Flucht Du segelst allein. Es soll niemand dabei sein. Doch tausende Fischlein begleiten dein Boot ein Stück. Des Weges. Aber du willst ganz frei sein, Schaust weder nach rechts noch nach links noch zurück. 5

Nur fort! Nur weiter! Du willst das Vergangene Vergessen. Fort! Du glaubst an den rechten Gradaus fliehenden Weg ins Glück. Hinter dir, hinter Glas und Draht und Eisengeflechten Blicken dir lange nach: Gefangene.

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Du glaubst deiner Richtung. – Mit Hilfe des Windes, Der Strömung segelst du weiter und reist Und reist und reist. Und die Sehnsucht des Kindes Erkennt sich allmählich, älter, vergreist.

Nun und? – Aber die Wellen umspielen Dein Boot. Es folgen dir Himmel und Licht. Fremde Ziele passierst du. Von deinen Zielen Das schönste, das einzige – kommt nicht in Sicht. Hering in der Nordsee, Papagei In Aschaffenburg? – – – Wer ist ganz frei?

An der harten Kante

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Ein leerer Kinderwagen stand Vor der steilen Felsenwand, Als ich abends gewandert bin. War kein Kind darin. War auch kein Mensch dabei, Kein Mensch in der kahlen Weite.

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Aber Bettchen lagen beiseite Und im Wagen ein Pferdchen mit nur drei Holzbeinchen. – – Und ein verschlossener Brief. 10

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Weit sieht man vom Felsen dort über das Meer, Das tosend unter mir tief In blendender Brandung zerschellte Und wieder sich wälzte und wellte. Ein Schiff am Horizont. Woher? Wohin? War nicht zu sehen, Und was auch kümmerte mich das. Ich fühlte nur: Es war etwas Verzweifeltes geschehen.288

Abb. 82: Joachim Ringelnatz: Flucht (1933)

Abb. 83: Joachim Ringelnatz: An der harten Kante (1933)

Die Gedichte beziehen sich unverkennbar auf die in der Bildvorlage sichtbaren Motive und Gegenstände. Allerdings kommentieren oder deuten sie die vom Gegenstand her keinem bestimmten Sujet oder tradierten Motiven verpflichteten || 288 Ringelnatz: Gedichte, Bd. 2, 1985, S. 210f. und 214f.

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Darstellungen nicht und liefern in ihrer vom Visuellen ausgehenden assoziativen Erzählung des Gesehenen ebenso wenig eine verständliche, kohärente Geschichte wie ihre bildlichen Vorlagen. Weder die präzise Beschreibung und lyrische Deutung von Bildender Kunst stehen also im Zentrum der Gedichte noch eine vom Bildgegenstand abstrahierende lyrische Erschließung ‚inneren Schauens‘, wie das bei den Sonett-Zyklen von Rudolf Alexander Schröder und Konrad Weiß der Fall gewesen ist. Man könnte Ringelnatz’ Literarisierung seines bereits wohl im Spätjahr 1933 entstandenen Flucht-Gemäldes aber durchaus als Reaktion auf seine zunehmend prekäre und isolierte Situation nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten deuten, die Ringelnatz’ Werke schon im Mai 1933 als „undeutschen Schmutz“ bei Bücherverbrennungen in die Flammen warfen.289 Das Fluchtmotiv, gemalt und in Worte gefasst, verweist dementsprechend auf eine wenn auch nur hypothetisch durchgespielte Möglichkeit der Emigration, die aber aufgrund von Ringelnatz’ frühem Tod am 17. November 1934 obsolet geworden war. Der Bestandsaufnahme des Gefühls einer gesellschaftlichen und künstlerischen Isolation (Strophe 1 und 2) wird eine im Grunde aussichtslose Glücksperspektive entgegengestellt (Strophe 4 und 5), die sich aber einer ernsthaften Lesart jenseits der insgesamt parodistischen und selbstparodistischen Ausrichtung des Gedichts aber ohnehin entzieht. Wie das unvermittelte Zitat einer Volksliedstrophe in Was ist Kunst?, arbeitet Ringelnatz in den beiden zitierten Gedichten vor allem mit stilistischen Brüchen, unerklärlichen, aber auch ungeklärten und nicht zu klärenden Motiven und Realien wie den Heringen und Papageien in Flucht (V. 18) oder dem nicht auf Plausibilität und Verständlichkeit ausgerichteten Zusammenhang eines „verzweifelten“ Ereignisses mit einem leerem Kinderwagen am Strand. Letztlich zielen Ringelnatz’ Gedichte auf seine eigenen Ölgemälde und Aquarelle darauf ab, dem Wechselspiel von Wort und Bild oder Bild und Wort, der bildkünstlerischen Vorlage und dem dazu gehörigen Gedicht eine humoristisch-satirische Stoßrichtung zu geben. Damit verbunden ist ein demonstrativer und vorgeführter Anti-Intellektualismus, der nicht nur Ringelnatz’ Bildgedichte prägt, sondern auch kennzeichnend ist für die im Folgenden noch zu behandelnden Gedichte von Robert Walser, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht. Parodie im Bildgedicht der 1920er und 1930er Jahre ist nicht Selbstzweck oder ästhetischer Klamauk, sondern richtet sich auch gegen gelehrte oder bildungsbürgerliche Kunstanschauung und -funktionalisierung oder was als bürgerliche Kunstanschauung und Kunstdeutung

|| 289 Vgl. hierzu Frank Möbus: Ein Darmwind für Olympia! Wie Ringelnatz unter den Nationalsozialisten zu einem politischen Lyriker wurde. In: Joachim Ringelnatz. Text+Kritik Heft 148, Oktober 2000, S. 97–105, hier S. 97ff.

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betrachtet wurde.290 Vor allem die lyrischen Auseinandersetzungen mit berühmten Werken der Kunstgeschichte wie Leonardos Mona Lisa oder Tizians Venus von Urbino wenden sich in satirischer Manier und mit anti-intellektuellem Habitus gegen eine bürgerlich und akademisch geprägte Kunstbetrachtung. Sie sind also im Spannungsfeld von „antibürgerlicher Kulturkritik“ der Weimarer Republik zu verorten, die jenseits des Bildgedichts ihre literarischen Ausformungen in der Intellektuellensatire etwa von Brechts Tui-Roman-(Fragment) gefunden hat, deren grundlegende kritische Überzeugungen gegenüber einer bürgerlichen Kunstanschauung schon in Carl Einsteins Studien zur Negerplastik (1915) sowie der 1926 zum ersten Mal publizierter Darstellung Die Kunst des 20. Jahrhunderts, die 1931 bereits in dritter Auflage erschienen und als Band 16 in die Reihe der Propyläen Kunstgeschichte integriert worden ist, vorgeprägt sind. Wahrnehmen und Sehen werden grundsätzlich bei Walser, Tucholsky und Brecht nicht an ein spezifisches Wissen gekoppelt, sondern davon abgetrennt.291 Bei den genannten Autoren handelt es sich zwar nicht um ausgesprochene Apologeten der parlamentarischen Weimarer Demokratie, doch verbindet sie ihre Opposition gegen politisch-ideologischen Nationalismus und ästhetischen Konservatismus. Für die Zeit der Weimarer Republik hat Ludger Heidbrink die sinnvolle Erweiterung des KulturkritikBegriffes vorgeschlagen, nach der damit nicht mehr nur rückwärtsgewandte, konservative Haltungen gegenüber der ‚Moderne‘ gefasst werden können, sondern auch als eine „Form der bürgerlichen Selbstkritik“ verstanden werden können. Insofern können in diesem Zusammenhang die lyrischen Kunstbetrachtungen von Joachim Ringelnatz, Robert Walser, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht auch als „antibürgerliche Kulturkritik“ gedeutet werden.292

|| 290 Vgl. Bernd Wirkus: Menschsein und Werkgesinnung. Das Dilemma der Intellektuellen. In: Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach. Hg. von Bernd Wirkus. Konstanz 2007, S. 305–333. 291 Vgl. Ludger Heidbrink: Der Kampf des Bürgers gegen sich selbst. Antinomien moderner Kulturkritik. In: Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach. Hg. von Bernd Wirkus. Konstanz 2007, S. 153–175; Erich Kleinschmidt: Von der Schwierigkeit, über Bilder zu schreiben. Zur Poetologie der Kunst in Carl Einsteins Die Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 1 (1995), S. 255–277, hier S. 260; zusammenfassend auch Johanna Dahm: Der Blick des Hermaphroditen. Carl Einstein und die Kunst des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2004 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 480); Wirkus: Menschsein und Werkgesinnung, 2007, S. 328f. 292 Heidbrink: Antinomien moderner Kulturkritik, 2007, S. 154; seine These präzisiert Heidbrink noch weiter: „Die antibürgerliche Kulturkritik setzt, um ein Zwischenfazit zu ziehen, in dem Moment ein, in dem die bildungsbürgerlichen Schichten nicht mehr Träger des Kulturprozesses sind und ihre alte Deutungshoheit, sei sie faktisch vorhanden oder eingebildete gewesen,

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Zu einem guten Teil ist der humoristisch-parodistische Umgang mit berühmten und von der bürgerlichen Gesellschaft sowie einer intellektuell-akademischen Elite als bedeutend angesehenen Kunstwerken auch der verstärkten Rezeption des Mediums Fotografie in der Weimarer Republik geschuldet. Gerade Autoren, die dem politisch linken und ästhetisch anti-konservativen Spektrum zuzurechnen sind, setzten sich seit den 1920er Jahren – und teilweise auch schon früher – intensiv mit der Relevanz und den Wirkungsmöglichkeiten der Fotografie für die eigene Gegenwart auseinander. Schon vor dem Ersten Weltkrieg forderte Kurt Tucholsky am 28. Juni 1912 in einem kleinen Beitrag für die Zeitschrift Vorwärts vehement Mehr Photographien! und sah in ihnen die Möglichkeit der politischen Agitation, die nicht „schlagfertiger geführt werden“ könnte als durch Fotografien.293 Anlass für Tucholskys Apologie war eine Ausstellung im Berliner Gewerkschaftshaus mit Fotografien von verstümmelten Arbeitern, die bei Betriebsunfällen zu Schaden gekommen waren. Die Bedeutung und Signifikanz der Wechselwirkungen von Wort und Bild wird durch die vermehrte Berücksichtigung der Fotografie zwar nicht geschmälert, doch fällt besonders in den 1920er Jahren auf, dass links eingestellte Autoren immer wieder zur Charakterisierung der eigenen Gegenwart die Fotografie hervorheben und in gleichem Maße der literarische Umgang mit kanonisierten Werken der Bildenden Kunst auch der jüngeren Vergangenheit – etwa im Falle van Goghs – eine deutlich parodistisch-satirische Richtung gewinnt. Alfred Döblin bekennt in seinem Vorwort zu einer Sammlung des berühmten Fotografen August Sander, die bezeichnenderweise den Titel Antlitz der Zeit trägt und 1929 im Kurt Wolff/Transmare-Verlag erschienen ist, „Soziologie“ schreiben zu wollen, „ohne zu schreiben“.294 Die

|| einzubüßen beginnen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Kritik an der Bürgerlichkeit aus den eigenen Reihen hervorgeht.“ (S. 156). 293 Kurt Tucholsky: Mehr Photographien! (28.6.1912). In: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 1: Texte 1907–1913. Hg. von Bärbel Boldt, Dirk Grathoff und Michael Hepp. (Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe). Reinbek bei Hamburg 1997, S. 67f. hier S. 68; aus geschichtsphilosophischer und soziologischer Perspektive problematisch sieht Siegfried Kracauer die Stellung der Fotografie. In seinem berühmten Aufsatz (1927) zum Thema wertet er – schon Mitte der 1920er Jahre – die Omnipräsenz von Bildmedien und Abbildungen im öffentlichen Raum und den Medien und kritisiert, dass seine Zeit meine „ein Bild von den Dingen [zu] haben“, das ihnen im Sinne der Fotografie aber nur ähnlich sei (S. 93), Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Ders.: Aufsätze 1927–1931. Hg. von Inka Mülder-Bach (Siegfried Kracauer, Schriften, Bd. 5.2.). Frankfurt am Main 1990, S. 83–98. 294 Alfred Döblin: Einleitung. In: August Sander: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts. München 1976 (Neudruck der Ausgabe 1929 Kurt Wolff, Transmare Verlag), S. 7–15, hier S. 14: „Dies meine Hinweise. Wer blickt, wird rasch belehrt

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unkommentierten, bis auf die Titelgebung nur auf visuelle Darbietung ausgerichteten Fotografien zeigen als Lebensstationen und Ereignisse inszenierte (scheinbare) Momentaufnahmen einzelner oder mehrerer Personen sowie die Typik von unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen wie Bauern, Lehrern, Brautpaaren, Arbeiterfamilien, Berliner Kohleträgern, Konditoren, Revolutionären und Kommunistischen Führern. Einen nennenswerten Anstieg von Gedichten auf Fotografien – deren Zahl ohnehin ausgesprochen gering ist – bringt diese Hinwendung zur und Auseinandersetzung mit der Fotografie vieler Autoren allerdings nicht mit sich. Repräsentativ für diese Entwicklung in der Weimarer Republik, die überkommene kulturhistorische Konstante der Wort-Bild-Beziehungen mit dem Blick auf ein neues Medium zu erweitern, ist das von Kurz Tucholsky zusammen mit Fotomontagen von John Heartfield 1929 herausgebrachte Buch Deutschland, Deutschland über alles, das mit über 50 000 gedruckten und verkauften Exemplaren erstaunlicherweise einer von Tucholskys größten geschäftlichen Erfolgen geworden ist.295 In den meisten Fällen kommentieren die teilweise von Tucholsky aus früheren Publikationen in der Vossischen Zeitung, der Weltbühne oder der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) stammenden Texte die montierten, weitgehend aus dem Verlagsarchiv der AIZ genommenen Fotos und überziehen jede politische Richtung, staatliche oder gesellschaftliche Institution mit bissigen, polemischen und spöttischen Bemerkungen. Die Verkaufszahlen sind nicht nur aufgrund des durchaus hohen Preises und der Ausstattung verwunderlich, sondern auch, weil der Band sowohl von linker als auch rechter Seite gleichermaßen und gleichzeitig Kritik und Befürwortung erfahren hat. Der Völkische Beobachter sah in Tucholskys und Heartfields Publikation eine „Tollheit“ und „Ausgeburt

|| werden, besser als durch Vorträge und Theorien, durch diese klaren, schlagkräftigen Bilder und wird von den andern und von sich erfahren.“ 295 Vgl. Lothar Köhn: „Montage höherer Ordnung“. Zur Struktur des Epochenbildes bei Bloch, Tucholsky und Broch. In: Ders.: Literatur – Geschichte. Beiträge zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit einer Einführung von Thomas Düllo. Münster 2000 (Zeit und Text, Bd. 14), S. 165–189, hier S. 181ff.; Dieter Mayer: „Aktiver Pessimismus“. Kurt Tucholskys Deutschland Deutschland über alles (1929). In: Kurt Tucholsky. Das literarische und publizistische Werk. Hg. von Sabina Becker und Ute Maack. Darmstadt 2002, S. 68–112, hier S. 67–77; John Heartfield war der Bruder von Wieland Herzfelde (1896–1988), der zahlreiche publizistische Projekte gemeinsam mit seinem Bruder initiierte, die meist – wie die mit George Grosz um die ‚erste‘ Fotomontage wetteifernde Publikation Väter und Söhne (1924) – im eigenen Malik-Verlag erschienen sind. Knapp die Übersicht von Marina Rauchenbacher: Wieland Herzfelde. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 311.

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unserer Zeit“,296 begrüßte sie aber unter vorgehaltener Hand auch als willkommene Helferin bei der Destruktion des Weimarer Verfassungsstaates.297 Prägnantestes Beispiel ist sicherlich die Fotomontage, die einen im dunklen Anzug gekleideten, den Kopf in die Hand gestützten schlafenden Mann zeigt, der sinnbildlich mit seinem Hintern auf der Reichtagskuppel sitzt und sich vor allem durch Untätigkeit auszeichnet. Das dazu gehörige Gedicht ist mit der lapidaren Überschrift Das Parlament versehen. Der offensichtlich nicht auf schlichte Wiedergabe der Wirklichkeit durch Fotografie, sondern auf Deutung dieser Gegenwart durch die Montage mehrerer Fotos ausgerichteten bildlichen Darstellung wird die lyrische Beschreibung des Sichtbaren an die Seite gestellt, die in dieselbe Richtung zielt wie die Vorlage. Für das Verständnis der Fotomontage und ihre satirisch-kritische Haltung liefert das Gedicht die maßgeblichen Hinweise. Umgekehrt wäre das Gedicht ohne die beigegebene Fotomontage weniger gut verständlich, die Aussageabsicht und die vehemente Obrigkeits- und Parlamentarismus-Kritik würden weniger pointiert zur Geltung kommen (Abb. 84):

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Das Parlament Ob die Sozialisten in den Reichstag ziehn – is ja janz ejal! Ob der Vater Wirth will nach links entfliehn, oder ob er kuscht wegen Disziplin – is ja janz ejal! Ob die Volkspartei mit den Schiele-Augen einen hinmacht mitten ins Lokal und den Demokraten auf die Hühneraugen… is ja janz ejal! is ja janz ejal! is ja janz ejal!

|| 296 Hier nach Köhn: „Montage höherer Ordnung“, 2000, S. 181. 297 Vgl. Mayer: Kur Tucholskys Deutschland Deutschland über alles, 2002, S. 70; anders als Ulrich Stadler knüpft Mayer nicht nur an die Forschung an, die mit Recht für Tucholskys Band von einem Beispiel der „Schrumpfform des barocken Emblems“ gesprochen hat, sondern versucht auch, eine Erklärung für die seit Hans J. Beckers Studie (Mit geballter Faust. Kurt Tucholskys ‚Deutschland, Deutschland über alles‘. Bonn 1978) im Raum stehenden Frage nach dem Rezipientenkreis zu formulieren, nach der die Zielgruppe des Buches „keine Gefolgschaftsleser“ gewesen sein dürften, sondern die Autoren auf ein Publikum blickten, „das bei dem vielfältigen, durchaus inhomogenen Bild- und Textangebot im Buch die Aufgabe übernimmt, sich ein eigenes Deutschlandbild zu entwerfen“ (S. 101); vgl, auch Ulrich Stadler: Bild und Text und Bild im Text. Photographien bei Tucholsky und Heartfield und die Prosaskizze ‚Hinter der Venus von Milo‘. In: Kunst im Text. Hg. von Konstanze Fliedl unter der Mitarbeit von Irene Fußl. Frankfurt am Main, Basel 2005, S. 69–87.

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Die Plakate kleben an den Mauern – is ja janz ejal! mit dem Schmus für Städter und für Bauern: „Zwölfte Stunde!“ – „Soll die Schande dauern?“ Is ja janz ejal! Kennt ihr jene, die dahinter sitzen und die Schnüre ziehn bei jeder Wahl? Ob im Bockbiersaal die Propagandafritzen sich halb heiser brüllen und dabei Bäche schwitzen –: is ja janz ejal! is ja janz ejal! is ja janz ejal! Ob die Funktionäre ganz und gar verrosten – is ja janz ejal! Ob der schöne Rudi den Ministerposten endlich kriegt – (das wird nicht billig kosten): is ja janz ejal! Dein Geschick, Deutschland, machen Industrien, Banken und die Schiffahrtskompagnien – welch ein Bumstheater ist die Wahl! Reg dich auf und reg dich ab im Grimme! Wähle, wähle! Doch des Volkes Stimme is ja janz ejal! is ja janz ejal! is ja janz ejal!298

Abb.84: Kurt Tucholsky und John Heartfield: Das Parlament/Deutschland, Deutschland über alles (1929)

|| 298 Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles. Hg. von Antje Bonitz und Sarah Hans. (Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe, Bd. 12). Reinbek bei Hamburg 2004, S. 138f.

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Im Unterschied zu fast allen bisher behandelten Gedichten sind jene von Ringelnatz auf seine eigenen Werke und die von Tucholsky zu den Fotomontagen in Deutschland, Deutschland über alles auf die Abbildung bzw. eine Publikationsweise angewiesen, die sowohl Text als auch Abbildung berücksichtigt. Da es sich nicht um allgemein oder in bestimmten Rezipientenkreisen bekannte bildkünstlerische Vorlagen handelt, kommen die Texte zum Foto oder zum Gemälde nicht ohne deren Abdruck aus und auch die zeitliche Nähe in der Entstehungsgeschichte beider Kunstwerke unterscheidet sie von Bildgedichten zu Michelangelo, Rembrandt oder Dürer. Das Bildgedicht in der Zeit der Weimarer Republik veranschaulicht ebenso wie andere literarische Formen und bildkünstlerische Strömungen einen allgegenwärtigen Pluralismus in einer schon von Stephen Lamb als „Zeitalter der Paradoxien und Widersprüche“ gekennzeichneten Epoche.299 Ideologische und ästhetische Vielfalt, das Nebeneinander von kultischer Künstler-Verehrung (Kapitel IV., 4) und ironisch-kritischer Distanzierung oder auch gänzliches Ignorieren kanonisierter, bedeutender Kunstwerke stehen in der Literaturgeschichte des Bildgedichts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nebeneinander. Sie verweisen auf unterschiedliche Funktionalisierungs- und Rezeptionsformen von Bildender Kunst. Dabei scheint das Erlebnis vor allem der Massenkultur und Massengesellschaft in den Großstädten Deutschlands einen enormen Einfluss auch auf den literarischen Umgang mit visuellen Kunstformen genommen zu haben.300 Die Publikationen der Herzfelde/Heartfield-Brüder, Kurt Tucholskys, Ringelnatz’, Robert Walsers oder Brechts dokumentieren zwar das weiterhin große Interesse an Synergieeffekten der Wechselwirkung von Bild und Wort. In Bildgedichten der Weimarer Republik schlägt sich das Interesse an der eigenen Gegenwart allerdings nicht in der Beschäftigung mit zeitgenössischen Künstlern nieder. Kurt Tucholsky schreibt zwar Essays und kleine Abhandlungen über George Grosz, Johannes Wüsten und Rudolf Schlichter, aber eben keine

|| 299 Stephen Lamb: Die Weimarer Republik: Im Zeichen des Konflikts. In: Das literarische Leben in der Weimarer Republik. Hg. von Keith Bullivant. Königsstein/Ts 1978 (Monographien Literaturwissenschaft, Bd. 43), S. 3–10, hier S. 10. 300 Die vielfältigen Strömungen und künstlerischen Erscheinungsformen der 1920er Jahre dokumentiert der Band: Berlin. Die Zwanzigerjahre. Kunst und Kultur 1918–1933. Architektur, Malerei, Design, Mode, Literatur, Musik, Tanz, Theater, Fotografie, Funk, Film, Reklame. Text von Rainer Metzger. Bildauswahl Christian Brandstätter. Mit 403 Abbildungen. Wien 2006, bes. S. 315–325; vgl. ferner auch die etwas ältere aber keineswegs überholte Darstellung von John Willet: Explosion der Mitte. Kunst+Politik 1917–1933. Aus dem Englischen von Benjamin Schwarz. München 1978, bes. S. 25ff.; Heidbrink: Antinomien moderner Kulturkritik, 2007, S. 154f.

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Bildgedichte zu Werken seiner malenden Zeitgenossen.301 Auch nicht-deutsche Künstler, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg reüssierten und sowohl in der Kunstwissenschaft als auch auf dem Kunstmarkt dominierten wie Henri Matisse, André Derain, Raoul Dufy und Othon Friesz oder Maurice Utrillo, Marc Chagall, Amedeo Modigliani und Chaim Soutine finden im deutschsprachigen Bildgedicht zwischen 1918 und 1945 keine Beachtung.302 Berührungspunkte des Bildgedichts mit dem für die bildkünstlerische Produktion der 1920er Jahre bedeutenden Bereich der Karikatur, die so kreative Künstler wie Karl Arnold oder Olaf Gulbransson bedienten, gibt es nur insofern, als die Autoren Robert Walser, Tucholsky und Brecht in ihren Gedichten zu Leonardo, van Gogh oder Michelangelo auf ähnliche Strategien der Ironisierung, der satirischen und spöttischen Entlarvung und humoristischen Trivialisierung von Kunst und Kunstwerken zurückgreifen, wie es auch charakteristisch für die Karikatur ist.303 Vertreter radikaler künstlerisch-ästhetischer Neuausrichtungen wie Raoul Hausmanns, Hans Arps und Iwan Punis mit ihrem Aufruf zur elementaren Kunst (1921) und ihrer Proklamation des Dadaismus als einzig organischer Kunstbewegung reflektieren indessen zeitgleich sehr wohl über Fragen des künstlerischen Neuanfangs nach dem Ersten Weltkrieg.304 Wie George Grosz und Wieland Herzfelde in ihrer Aufsatzsammlung Die Kunst ist in Gefahr (1925) kommen sie zu ähnlichen Beschreibungen der gegenwärtigen künstlerischen Situation und begründen Veränderungsforderungen sowohl im bildkünstlerischen Bereich als auch mit Blick auf ein gewandeltes || 301 Vgl. Stadler: Kurt Tucholsky, 2011, S. 760ff. 302 Lesenswert in diesem Zusammenhang ist der Rückblick des Kunsthändlers und Galeristen Wilhelm Uhde, der auf die genannten Künstler verweist und aus der Perspektive des zwischen Maler und Öffentlichkeit vermittelnden Autors zu seinen Befunden über die Bedeutung einzelner Maler-Persönlichkeiten kommt, vgl. Wilhelm Uhde: Von Bismarck bis Picasso. Erinnerungen und Bekenntnisse. Zürich 1938, bes. S. 232–240. 303 Vgl. Dietrich Grünewald: „Die Zeit schreit nach Satire“. Anmerkungen zur visuellen Satire in der Weimarer Republik. In: Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach. Hg. von Bernd Wirkus. Konstanz 2007, S. 91–151, hier bes. S. 121f. 304 Der titelgebende Beitrag wird als „Ein Orientierungsversuch“ vorgestellt und spielt auf eine allgemein bekannte Formel an, die von konservativer Seite immer wieder benutzt wurde, um avantgardistische Ansprüche und Haltungen zu desavouieren. Grosz und Herzfelde betonen, dass der Dadaismus die „einzige wesentliche künstlerische Bewegung in Deutschland seit Jahrzehnten“ gewesen sei. Die anderen „ismen“ seien Atelierangelegenheiten gewesen. „Der Dadaismus“, so die beiden weiter, „war keine ‚gemachte‘ Bewegung, sondern ein organisches Produkt, entstanden als Reaktion auf die Wolkenwandertendenzen der sogenannten heiligen Kunst, deren Anhänger über Kuben und Gotik nachsannen, während die Feldherren mit Blut malten“, George Grosz, Wieland Herzfelde: Die Kunst ist in Gefahr. Ein Orientierungsversuch. In: Dies.: Die Kunst ist in Gefahr. Drei Aufsätze. Berlin 1925, S. 5–32, Zitat S. 22.

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Verhältnis von Wort und Bild mit den politisch-sozialen Rahmenbedingungen für die Kunst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs:305 „In dem ungeheuren Geschehen unserer Zeit, in dem alle alten feststehenden Werte relativ, unsicher wurden, mußte vor allem die Kunst als lebendiger Anschauungsunterricht, den der Mensch sich gibt, um die Welt in sich und sich in der Welt zu erkennen, eine veränderte Stellung einnehmen.“306 Hausmann verteidigt auch seine Forderungen nach einem Neuanfang und die beschriebenen veränderten Rahmenbedingungen gegen Angriffe von kulturkonservativer Seite und betont auch, dass „Kunst nicht ästhetische Harmonisierung bürgerlicher Besitzvorstellungen sein kann“.307 Seine Überlegungen zur Bedeutung der Kunst in der Weimarer Republik und Perspektiven der Erneuerung markieren Gegenpositionen zu den namentlich genannten Vertretern eines kulturell und ästhetischen Konservatismus, den Hausmann durch Oswald Spengler und Wilhelm Worringer vertreten sieht: Diese Kulturhistoriker folgern aus der Tatsache, daß die kapitalistisch-bürgerliche Kultur im Zusammenbruch begriffen ist, ungefähr dies: es gibt keinen anderen Geist als den, der das römische Recht, die griechische Plastik, die gotischen Dome, die Malerei der Renaissance, das bürgerliche Barock, die Naturwissenschaften und die Kapitalwirtschaft wie den Militarismus geschaffen hat; eine Zeit, oder ein Geist, der zu diesen Werten in Widerspruch steht, ist kein Geist, ist nicht lebensberechtigt, und also muß die Kultur sterben, wenn diese alten Werte zerbrechen.308

In seinen eigenen literarischen Arbeiten verwirklicht Hausmann seine Forderungen nach Grenzüberschreitung zwischen Wort und Bild sowie einer radikalen ästhetischen Neuausrichtung mit seiner „Ikonisierung der Sprache“, den Collagen sowie seinen visuellen Gedichten und Plakatgedichten.309

|| 305 Vgl. auch: Berlin. Die Zwanzigerjahre, 2006, S. 125ff.; ferner auch den Artikel zu Hausmann von Michaela Nicole Raß. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 289–294. 306 Raoul Hausmann: Die Kunst und die Zeit. In: Ders.: Sieg Triumph Tabak mit Bohnen. Texte bis 1933, Bd. 2. Hg. von Michael Erlhoff. München 1982 (Frühe Texte der Moderne), S. 7–11, hier S. 7. 307 Raoul Hausmann: Der deutsche Spießer ärgert sich. In: Ders.: Bilanz der Feierlichkeit. Texte bis 1933, Bd. 1. Hg. von Michael Erlhoff. München 1982 (Frühe Texte der Moderne), S. 82–84, hier S. 83. 308 Ebd., S. 7f. 309 Vgl. hierzu Corinna Hübner: Raoul Hausmann: Grenzgänger zwischen Künsten. Eine Untersuchung zur Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Literatur als künstlerisches

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Auch der in der Schweiz geborene Robert Walser, der seine kulturelle und künstlerische Prägung bis zu seiner Rückkehr nach Bern 1921 allerdings vor allem in Berlin erfahren hat, macht sich Gedanken zum Verhältnis von Dichtung und Malerei. Im Nachdenken über (moderne) Kunst sieht Walser, der selbst so gerne Maler geworden wäre, die Möglichkeit, auch das eigene Dichten zu reflektieren.310 Auf Vermittlung von Franz Blei lernte Robert Walser zunächst die Münchner Maler- und Literatenszene um die Insel kennen und bereits kurz nach der Jahrhundertwende entstanden erste literarische Arbeiten, die von Walsers starkem Interesse an der Bildenden Kunst zeugen. Noch bevor ihn sein Bruder Karl Walser, der als erfolgreicher Maler und Bühnenbildner unter anderem bei Max Reinhardt arbeitete und seit 1902 Mitglied der Berliner Sezession gewesen ist, 1905 dauerhaft nach Berlin holte, veröffentliche Robert Walser mit dem zunächst 1902 im Berner Bund erschienenen fingierten Notizbuch Ein Maler, das 1904 in die Publikation Fritz Kocher’s Aufsätze. Mitgeteilt von Robert Walser aufgenommen wurde, einen Text, in dem das enge Zusammenspiel von Dichtung und Bildender Kunst thematisiert werden, die sein gesamtes Werk begleiten.311 Zwischen Künstlerverehrung, ironischem Bruch und humoristischer Distanznahme reflektiert der Text immer wieder auch Paragone-Fragen, ohne allerdings eine klar erkennbare Haltung zu formulieren, welches künstlerische Medium mit welchen Ausdrucksmöglichkeiten wie zu beurteilen sei. Viele von Robert Walsers Originalausgaben seiner Gedicht- und Textsammlungen wurden von seinem Bruder Karl künstlerisch ausgestattet, so auch die mit elf Illustrationen versehene Ausgabe von Fritz Kocher’s Aufsätze.312 Allerdings kam es schon früh zu Spannungen zwischen den beiden Brüdern, da der viel erfolgreichere und bekanntere Maler Karl die gemeinsamen Projekte zu dominieren suchte. Für seine Prosasammlung Seeland (1919) lehnte Robert seinen Bruder als Illustrator ab, wurde aber vom Zürcher Rascher-Verlag übergangen, dessen Wunsch-Kandidat Walsers Bruder war und zahlte diesem als

|| Gestaltungsprinzip in Raoul Hausmanns Werk während der dadaistischen Phase. Bielefeld 2003, bes. S. 87–148. 310 Zusammenfassend Ulf Bleckmann: Thematisierung und Realisierung der bildenden Kunst im Werk Robert Walsers. In: Intermedialität. Vom Bild zum Text. Hg. von Thomas Eicher und Ulf Bleckmann. Bielefeld 1994, S. 29–58; eine Zusammenstellung von Texten Walsers, die sich mit der Bildenden Kunst befassen bietet der Band: Robert Walser: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. München 2006, hier auch das Nachwort S. 103–113. 311 Vgl. Groddeck: Robert Walser, 2011, S. 785–788. 312 Vgl. Robert Walser: Fritz Kocher’s Aufsätze. Mitgeteilt von Robert Walser. [Reprint der Erstausgabe, Insel-Verlag 1904]. In: Ders.: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. von Wolfram Groddeck, hier Bd. I, 1. Basel, Frankfurt am Main 2010, Ein Maler: S. 74–106.

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Illustrator zudem das doppelte Honorar.313 Von besonderer Bedeutung für die hier behandelten Texte Walsers zu Werken Vincent van Goghs und Paul Cézannes ist gleichwohl der über seinen Bruder vermittelte Kontakt zu dem Galeristen und Geschäftsführer der Berliner Sezession und Förderer von van Gogh und Cézanne Paul Cassirer, dessen Sekretär Robert Walser von April bis August 1907 geworden ist.314 An Paul Cézannes Madame Cézanne in rotem Kleid (1888/90) entwickelte Walser in seinem kurzen Essay Cézannegedanken von 1926 eine an der als „Leerstellentechnik“ des Malers interpretierte Ästhetik, die er gleichsam für sein eigenes Dichten im Sinne einer „reinen“ Sprache und Dichtung reklamierte.315 Überblickt man Robert Walsers literarische Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst, so fällt vor allem auf, dass die Auswahl der behandelten Künstler und Kunstwerke von van Gogh (Das van Gogh-Bild, Van Gogh), und Cézanne (Cézannegedanken) über Tizian (Sonett auf eine Venus von Tizian) und Pieter Bruegel (Das Brueghelbild, Entwurf zu Ikarus’ Fall) bis Rembrandt (Der verlorene Sohn), Watteau, Boucher (Sonett auf ein Bild von Boucher), Delacroix und Daumier (Nach Zeichnungen von Daumier) zunächst beliebig scheint. Mit Ausnahme einzelner Werke von Cézanne und van Gogh, die Walser 1909 in einer Ausstellung bei Cassirer in Berlin bzw. später noch einmal im September 1927 in der großen van Gogh-Ausstellung der Berner Kunsthalle gesehen hat, hat er die in seinen Prosatexten und Gedichten behandelten Werke wohl nicht im Original

|| 313 Vgl. hierzu Anna Fattori: Karl und Robert Walser: Bild(er) und Text in Leben eines Malers. In: Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Hg. von Anna Fattori und Margit Gigerl. München 2008, S. 89–105, hier S. 89–95. 314 Vgl. Groddeck: Robert Walser, 2011, S. 785f. 315 Der Text zu Cézanne wird in der Forschung bisweilen als dichterische ‚Poetik‘ interpretiert, etwa von Kerstin Gräfin von Schwerin: „Ich bin mir hier unvollständiger Ausdrucksart bewusst“ – Walsers „Cézannegedanken“. Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Stuttgart am 23. Juni 2007. Stuttgart 2007, nur als pdf unter: http://robertwalser.ch/fileadmin/redaktion/ dokumente/jahrestagungen/vortraege/ Schwerin07.pdf; Robert Walser: Cézannegedanken. In: Ders.: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. München 2006, S. 71–75, hier S. 74: „Man wolle die Sonderbarkeit im Auge behalten, daß er seine Frau so ansah, als wäre sie eine Frucht auf einem Tischtuch gewesen. Für ihn waren die Umrisse, die Konturen seiner Frau genau dasselbe höchst Einfach, mithin wieder Komplizierte, was sie ihm bei den Blumen, Gläsern, Tellern, Messern, Gabeln, Tischtüchern, Früchten und Kaffeetassen und -kannen gewesen sein werden. Ein Stück Butter war für ihn ebenso bedeutungsvoll wie das zarte Sichabheben, das er am Gewand seiner Frau wahrnahm. Ich bin mir hier unvollständiger Ausdrucksweise bewußt, möchte aber der Meinung sein, man verstehe mich trotzdem oder vielleicht, um solcher Unausgearbeitetheit willen, worin Lichteffekte schimmern, sogar noch besser, tiefer, obwohl ich selbstverständlich prinzipiell Flüchtigkeiten beanstande.“

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gesehen.316 Der frühe van Gogh-Essay (Das van Gogh-Bild, 1912/18) fällt aus der Reihe, da er noch von einer nahezu ungebrochenen Verehrung des Künstlers zeugt. Alle anderen genannten Texte verbindet die Ironisierung ihres Gegenstandes und eine parodistische Entlarvung des allgemeinen (bürgerlichen) Kunstgeschmacks, zu dem spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auch van Gogh gezählt werden muss. Walser greift für seine Texte bewusst auf große Namen und Werke zurück. Er tut dies aber nicht aufgrund eines bestimmten biographischen Bezuges oder eines (nur) an diesem oder jenem Kunstwerk festmachbaren Kunstverständnisses. Die teilweise jahrhundertealte, auch literarisch befeuerte Einzigartigkeit der Bildwerke wird – zeitgemäß – zur ‚Massenware‘ deklariert und das Kunsterlebnis zum Massenerlebnis degradiert. Besonders deutlich wird die oben beschriebene Tendenz des distanzierend-parodistischen Umgangs mit Kunstwerken und Künstlern mancher Autoren in der Weimarer Republik, wenn man diesen frühen Prosatext Walsers mit seinem van Gogh-Gedicht von 1927/1933 vergleicht. Wenngleich van Gogh schon seit der Jahrhundertwende auch in bürgerlichen und konservativen Kreisen Anerkennung fand und abseits des offiziellen Kunstgeschmacks der Akademien und bei weiten Teilen der politischen und kulturellen Elite des Reiches mehr als nur ein Geheimtipp unter subversiven Avantgardisten gewesen ist, zehrte die literarische Rezeption des Niederländers noch lange von dem Bild des leidenden Künstlers, der als verkanntes Genie und antibürgerlicher Kunstrevolutionär zur Identifikationsfigur von Künstlern und Dichtern gleichermaßen avancierte.317 An (ältere) DeutungsTraditionen von van Gogh, die letztlich auch auf das von Julius Meier-Graefe kolportierte Bild des verkannten und leidenden Künstlers zurückgehen, knüpft Robert Walser in seinem frühen Prosatext deutlich an und zeichnet das Künstlerideal eines Außenseiters nach, dessen Genie und Größe nicht sofort ersichtlich ist und sich schon gar nicht dem gewöhnlichen Betrachter erschließt. Auf

|| 316 Vgl. Schwerin: Walsers „Cézannegedanken“, 2007, S. 2f.; Margit Gigerl: „Bang vor solchen Pinsels Schwung“ – Robert Walsers Lektüre der Bilder van Goghs. In: Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Hg. von Anna Fattori und Margit Gigerl. München, Paderborn 2008, S. 117–127, bes. S. 117f.; vgl. auch die Liste der in Deutschland ausgestellten Werke van Goghs im zweisprachigen Katalog von Walter Feilchenfeldt: Vincent van Gogh & Paul Cassirer, Berlin. The Reception of van Gogh in Germany from 1901 to 1914. Zwolle 1988, S. 144–154; Ders.: Vincent van Gogh. Die Gemälde 1886–1890. Händler, Sammler, Ausstellungen. Frühe Provenienzen. Wädenswil 2009 (Quellenstudien zur Kunst, Bd. 3), S. 313–320. 317 Vgl. Marina Rauchenbacher: Kanonisierte Blicke. Zur Literarisierung Vincent van Goghs. In: Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Tagung österreichischer und tschechischer Germanistinnen und Germanisten, Olmütz/Olomouc, 20.– 23.9.2007. Hg. von Jürgen Struger. Wien 2008, S. 177–190.

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sozialgeschichtlicher Ebene suggeriert er gleichzeitig einen Zusammenhang von Kunstproduktion und kulturellen, politischen und sozialen Zuständen und formuliert damit auch eine Gegenwartsdiagnose seines „schwere[n], trübe[n] Zeitalters“:318 Gerne gestehe ich, daß ich das Bild, das mir eine freilich starke Arbeit zu sein schien, anfänglich eigentlich nur obenhin betrachtet wissen wollte, um rasch möglich weiterzugehen und andere Gegenstände in Augenschein zu nehmen, daß jedoch ein sonderbares Etwas mich am Arm gehalten hatte. Indem ich mich frage, was es hier Schönes anzuschauen geben könnte, redete ich mir ein, daß man den Künstler zu bedauern habe, der an eine so geringe, zierlose Sache so großen Fleiß verschwendete. […] Ferner legte ich mir die scheinbar einfache Frage vor, ob für Bilder wie diese „Arlesierin“ in unserer Gesellschaft überhaupt ein geeigneter Platz existiere. Niemand konnte derlei Werke je bestellt haben; vielmehr gab sich der Künstler den Auftrag offenbar selber, und hat dann gemalt, was vielleicht kein Mensch abgebildet haben will. Wer sollte Interesse haben, solches Alltagsbild im Zimmer aufzuhängen? […] Obgleich um van Goghs Bild etwas Trauriges oder Bemühendes lebte, alle harten Lebensbedingungen neben oder hinter ihm, wenn auch nicht scharf, so doch deutlich genug hervorzutreten scheinen, hatte ich dennoch Freude, da das Gemälde eine Art Meisterwerk ist. Farbe und Pinselführung sind von außerordentlicher Kraft, und die Gestaltung ist vorzüglich. Das Bild enthält u.a. ein wundervolles Stück Rot in entzückendem Flusse. Das Ganze hat jedoch mehr innere als äußere Schönheit. Gibt es nicht auch gewisse Bücher, die nicht leicht Anklang finden, weil sie spröde sind, d.h. weil es schwierig ist, ihnen einen Wert beizumessen? Schönheiten kommen bisweilen nur ungenügend zum Vorschein. Das Bild von van Gogh wirkte wie eine ernste Erzählung auf mich. Die Frau fing mit einmal von ihrem Leben an zu reden.319

Robert Walsers Gedicht Van Gogh ist erst über ein Jahrzehnt später, 1927, entstanden, aber erst im Mai 1933 in der Prager Freien Presse gedruckt worden und vermittelt ein vollständig anderes Künstlerbild und einen deutlich weniger von Verehrung gekennzeichneten Umgang mit van Gogh als der frühere Prosatext.320

|| 318 Robert Walser: Das van Gogh-Bild. In: Ders.: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. Frankfurt am Main (Insel-Bücherei, 1282), S. 78–81, hier S. 80 319 Ebd., S. 79f. 320 Zur Überlieferung vgl. Gigerl: Robert Walsers Lektüre der Bilder van Goghs, 2008, S. 117– 121. Eine ähnliche Korrektur seines van Gogh-Bildes lässt sich bei Carl Sternheim beobachten, der allerdings kein Gedicht zu van Gogh geschrieben hat. Wie Walser beschäftigte sich der Kunstkenner und Sammler Sternheim ebenfalls vor und während des Ersten Weltkriegs in einigen Publikationen mit van Gogh, bevor 1924 seine Erzählung Gauguin und van Gogh erschienen ist. Die frühen Texte, wie der schon 1910 in seiner Zeitschrift Hyperion gedruckte Aufsatz Van Gogh und das 1916 unter dem Titel Legende. Ein Fragment in Pfemferts Die Aktion erschienene, allerdings erhebliche Unterschiede zur Buchfassung von 1924 aufweisende erste Kapitel der Erzählung Gauguin und van Gogh, sind – wie bei Robert Walser – von ungebrochener Künstler-

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Zumindest ist in Hinblick auf die Beurteilung van Goghs und seines Werks das Gedicht komplexer und vielschichtiger, weil das Sprecher-Ich und seine Haltung gegenüber dem Werk und der Person des Niederländers ambivalent bleiben: Van Gogh Der arme Mann es mir nun mal nicht antun kann. Von seiner gröblichen Palette zerstreut in mir sich jede nette 5 Aussicht ins Leben. Ach, wie kalt hat er sein Lebenswerk gemalt! Er malte, scheint mir, nur zu richtig. Will jemand sich ein wenig wichtig vorkommen in der Ausstellung, 10 so wird ihm bang vor solchen Pinsels Schwung. Schrecklich, wie diese Äcker, Felder, Bäume einem des Nachts wie klob’ge Träume den Schlummer auseinanderreißen. Hochachtung immerhin vor heißen 15 Kunstanstrengungen, beispielsweise vor einem Bild, worin im Irr’nhauskreise Wahnsinnige zu sehen sind. Den Sonnenbrand, Luft, Erde, Wind gab er ohn’ Zweifel prächtig wieder. 20 Doch senkt man bald die Augenlider vor so selbstquälerischer Stärke in doch nur halbbefriedigendem Werke. Zu grausen fängt’s ein’ an, wenn Kunst nichts Schön’res kann, 25 als rücksichtslos ihr Müssen, Sollen, Wollen vor schau’nden Seelen aufzurollen.

|| Verehrung geprägt. Anders allerdings als Walser ironisiert Sternheim in seinem späten van Gogh-Text nicht den Künstler, sondern erweitert sein Künstlerbild um eine kulturkritische Dimension, indem van Gogh gerade in der Begegnung mit Gauguin zum Kulturkritiker inszeniert wird. Vgl. Bernhard Walcher: Künstlerbilder in der Krise. Carl Sternheims Erzählung Gauguin und van Gogh (1916/24) und die literarische van Gogh-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Hg. von Barbara Beßlich, Ekkehard Felder unter Mitarbeit von Anna Mattfeldt und Bernhard Walcher. Bern [u.a.] 2016 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte, Bd. 125), S. 35–57.

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Wunsch, wenn ein Bild ich seh’, liebkost zu werden wie von einer güt’gen Fee, geh, geh, adee!321

Je nachdem, wie man die Ironie-Signale und damit die Sprecher-Instanz wertet, lässt sich das Gedicht auch als „orchestrierte[r] Einspruch gegen den – neudeutsch gesprochen – ‚Hype‘ um den holländischen Maler“ lesen, der damit auch eine „subversive Demontage des hagiografische Züge annehmenden van-GoghMythos“ betreibt.322 Die 29 unterschiedlich langen und verschiedenen Rhythmen folgenden Verse sind bis auf die letzten drei zu Paarreimen zusammengefasst, die im Gestus des lockeren und keineswegs bildungsgesättigten Ausstellungsgeredes vorgetragen werden. Schon das erste Verspaar mit seiner syntaktischen Inversion wirkt umständlich und unbeholfen. Der Sprecher markiert von Beginn an, dass es sich beim Folgenden um die Präsentation seiner vollkommen subjektiven, scheinbar naiven Sicht auf den titelgebenden Künstler van Gogh handelt, was der auffällige Gebrauch des Personalpronomens „mir“ noch einmal unterstreicht (V. 2, 4, 7). In den ersten sieben Versen präsentiert sich der Sprecher als Kunstbetrachter, der sowohl van Goghs Malweise mit dick aufgetragener Farbe und dem Verzicht auf eindeutige Konturen („gröblichen Palette“, V. 3) als auch seinen Sujets („wie kalt / hat er sein Lebenswerk gemalt“, V. 5f.) ablehnend und ratlos gegenübersteht. Gleichzeitig bleibt auf der Grundlage dieser Einschätzungen die darauf folgende Aussage, „Er malte, scheint mir, nur zu richtig“ (V. 7) in ihrer Widersprüchlichkeit zum Vorausgegangen unauflösbar. Die Erwartungshaltung, von Kunst eine „nette Aussicht ins Leben“ (V. 4f.) zu erhalten oder – wie es korrespondierend dazu in den letzten drei Versen heißt – von einem Bild „liebkost zu werden“ (V. 28), wird von den Werken van Goghs offenbar konterkariert, gleichzeitig werden die Gemälde van Goghs aus der Perspektive des Sprechers aber auch als Konsumware deklariert. Auffällig ist, dass in den mittleren Versen 8–26 die vorgetragenen Positionen zur Wirkung von van Goghs Gemälden hypothetischen Betrachtern bzw. ‚Kunstkonsumenten‘ oder Ausstellungsbesuchern zugeschrieben werden. Der Sprecher vermeidet – anders als in den ersten sieben und den letzten drei Versen – Personalpronomina und wählt stattdessen die Indefinitpronomina „jemand“ (V. 8), „einem“ (V. 12) und „man“ (V. 20). In der Forschung hat bisweilen schon darauf hingewiesen, dass gerade die Vielstimmigkeit des Gedichts nicht zuletzt als Reaktion auf einen in den 1920er Jahren schon weit verbreiteten und in unterschiedlichen || 321 Robert Walser: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. Frankfurt am Main (Insel-Bücherei, 1282), S. 83f. 322 Gigerl: Robert Walsers Lektüre der Bilder van Goghs, 2008, S. 127.

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Publikationskontexten kolportierten van Gogh-Mythos zu interpretieren ist.323 Entscheidend für die Interpretation von Robert Walsers Gedicht ist indessen, in welchem Maße man die eingesetzten literarischen Mittel der Ironisierung und Parodie, wie sie in den merkwürdigen Rhythmen der Verse, den in Heine’scher Manier grotesk gestalteten Reimen („Palette/nette“; „Ausstellung/ Schwung“; „beispielsweise/ Irrn’hauskreise“), der teilweise deplazierten Wortwahl („nette Aussicht“; „klob’ge Träume“; „prächtig wieder“) und den zahlreichen Elisionen (V. 12, 16, 19, 23, 26) aufscheinen, als Instrument der parodistischen Entlarvung eben jener mit diesen Stimmen (V. 8–26) vorgetragenen Künstlerrezeption oder aber als Distanzierung von den Gemälden und der Ästhetik van Goghs selbst betrachtet. In jedem Fall wird deutlich, dass Robert Walser eine ungebrochen auf Bewunderung ausgerichtete Sprecherinstanz vermeidet und insofern der in den 1920er Jahren um sich greifenden ‚Verbürgerlichung‘ der van Gogh-Rezeption Rechnung trägt. Problematisch bleibt allerdings, dass es nach dem Ersten Weltkrieg kaum noch kritische Stimmen zu van Gogh gab, die dem Künstler eine „rücksichtslose“ (V. 25) Instrumentalisierung seiner Kunst als psychopathologische Selbsttherapie vorgeworfen hätten.324 Was die parodierten Stimmen und Positionen in den Mittelversen (8–26) anbelangt ist Robert Walsers vielstimmiges van Gogh-Gedicht anachronistisch oder versucht zumindest, eine humoristischparodistisch vorgetragene Synthese des (älteren) van Gogh-Mythos zu präsentieren. Mit der Anspielung („vor einem Bild, worin im Irrn’hauskreise/Wahnsinnige zu sehen sind“, V. 16f.) auf van Goghs weniger bekannte und auch für sein Werk – was die Sujets anbelangt – wenig repräsentative Gemälde Der Krankensaal des Hospitals von Arles (1889) und Irrenhausgarten, Garsten des Hospitals in Arles (1889), die sich heute beide in der Sammlung Oskar Reinhart in Winterthur befinden, wird die beschriebene, insgesamt humoristisch-parodistische Tonart des Gedichts jäh durchbrochen.325 Das Thema des „Wahnsinns“ (V. 16) wird in diesen

|| 323 Vgl. ebd., S. 122–126; ferner auch: Klaus Mönig: Malerei & Grafik in deutscher Lyrik des 20. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau 2002 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 102), hier S. 185–188. 324 Vgl. Rauchenbacher: Kanonisierte Blicke, S. 179ff.; Matthias Arnold: Vincent van Gogh. Werk und Wirkung. München 1995, bes. S. 741–743 und 780–798; Magdalena M. Moeller: Van Gogh und die Rezeption in Deutschland bis 1914. In: Vincent van Gogh und die Moderne. 1890– 1914. Katalog zur Ausstellung Museum Folkwang, Essen (11.8.1990–4.11.1990) und Van Gogh Museum, Amsterdam (16.11.1990–18.2.1991). Hg. von Georg Wilhelm Költzsch und Ronald de Leeuw. Bearb. von Roland Dorn. Freren 1990, S. 312–333. 325 In der Textsammlung von Bernhard Echte (Robert Walser: Vor Bildern, 2006, S. 82) hat der Herausgeber van Goghs Die Runde der Gefangenen von 1890 abgedruckt und damit nahegelegt,

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Gemälden explizit und verweist damit noch einmal auf die durch Meier-Graefe und andere kolportierte und beförderte Inszenierung van Goghs als wahnsinnigen, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehenden Künstlers. Auf einer persönlich-biographischen Ebene wird in der Anspielung auf die genannten Gemälde jenseits der parodistischen Künstler-Rezeption Walsers Vorahnung und Angst scharf gestellt, selbst wahnsinnig zu werden und sich in psychiatrische Behandlung begeben zu müssen – was sich Anfang 1929 auch als berechtigte Furcht herausstellte und den Auftakt zu Angstschüben, Halluzinationen und Aufenthalten in etlichen Heil- und Pflegeanstalten markierte. Unter diesem Gesichtspunkt mag man Walsers vielstimmige Distanzierung gerade von dem älteren van GoghMythos durchaus auch als selbsttherapeutische Maßnahme verstehen, die im Abwehrgestus der letzten drei Verse nicht nur ein bestimmtes Künstler-Bild des wahnsinnigen Genies verabschiedet, sondern sich auch selbst vor dem gefährlichen Identifikationspotential dieses Mythos warnt.326 Deutlich weniger ambivalent und deutungsoffen ist Walsers Sonett auf eine Venus von Tizian (1925/27) gehalten. Formal orientieren sich die Endecasillabi und das Reimschema der Quartette (abba – abba) und Terzette (ccd – ddc) am italienischen Typus der Sonettdichtung und verweisen mit den durchgehend weiblichen Verssschlüssen der Endecasillabi nicht nur auf Italien als Entstehungsland der Bildvorlage, sondern auch auf das Sujet der über die Bilddiagonale gelagerten (nackten) weiblichen Figur. Der strengen Sonettform stehen auf der inhaltlichen Ebene ein flapsiger, umgangssprachlicher Ton („auf n’er Art von Ottomane“, V. 11) sowie schiefe Metaphern und Epitheta („Glanz von Sahne“, V. 2; „schlankgewachsne Fahne“, V. 11) gegenüber. Die beiden Quartette liefern mit ihren „als-ob“-Konstruktionen und ihrer humoristisch-parodistischen Verweisstruktur auf „Sahne“ (V. 2) und „Fahne“ (V. 7) eine hypothetische Beschreibung und markieren somit, dass auch eine anders ausgerichtete Verschriftlichung des Gesehenen möglich wäre. Dagegen wechseln die Terzette in die indikativische grammatische Form (Abb. 85):

|| das Gedicht könne auf dieses Gemälde anspielen. Ich folge hier dem Vorschlag von Gigerl: Robert Walsers Lektüre der Bilder van Goghs, 2008, S. 125f.; auf diese möglichen Anspielungen hat auch schon Mark Harman hingewiesen: Robert Walser and Vincent van Gogh. In: Robert Walser and the Visual Arts. Hg. von Tamara S. Evans. New York 1996, S. 37–51. 326 Vgl. auch Harman: Robert Walser and van Gogh, 1996, S. 49.

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Sonett auf eine Venus von Tizian Ihr schwarzes Haar sieht aus, als ob es sänge, die Glieder schimmern weiß wie Glanz von Sahne, als wenn der holde Körper selber ahne, er sei die zarte Summe holder Klänge. 5

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Sie liegt in ihrer gleichsam flehnden Länge, gelagert auf ’ner Art von Ottomane, als wär’ sie eine schlankgewachsne Fahne, die freundlich zu den Menschen niederhänge. Ein Veilchensträußchen lächelt ihr in Händen, um Düfte dem Beschauer zuzusenden, die Dien’rin kniet devot vor dem Altare. O, einen Blick jetzt nochmals auf die Haare und jetzt noch einen auf die wunderbare Demutsabbildung ihrer lieben Lenden.327

Abb. 85: Tizian: Venus von Urbino (1538)

Schon der Titel mit seinem unbestimmten Artikel unterläuft die mit dem Gemälde Tizians und seiner Rezeption bei Wilhelm Heinse, Goethe, Viktor Hehn und im 20. Jahrhundert bei Carl Sternheim verbundene Bewunderungshaltung.328 Denn zweifellos handelt es sich bei der im Titel lapidar und unbestimmt als „eine“

|| 327 Hier nach der Ausgabe: Robert Walser: Vor Bildern. Geschichten und Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte. Frankfurt am Main (Insel-Bücherei, 1282), S. 15. 328 Zu dieser Rezeptionslinie vgl. die leider nicht immer ganz zuverlässige und überzeugende Studie von Julia Reimann: Venedig ist ein poetisches Wunder. Eine Studie zur Rezeption der Renaissancemaler Tizian, Tintoretto und Veronese in der deutschen Literatur. Marburg 2010, hier S. 135–180.

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Venus von Tizian bezeichneten Gemäldevorlage, auf die das Sonett anspielt, um die berühmteste weibliche Aktdarstellung des Venezianers, nämlich um die für den Herzog von Urbino, Guidobaldo II. della Rovere anlässlich seiner Hochzeit Giulia Verano 1538 fertiggestellte Venus von Urbino, die heute in den Florentiner Uffizien aufbewahrt wird.329 Das Gemälde wurde von der kunsthistorischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert ganz unterschiedlich als Allegorie der tugendhaften Ehe oder der Fruchtbarkeit der (Ehe-)Frau als dynastischer Garantin aber auch als erotisch provokative Kurtisanen-Darstellung und eben Venus-Darstellung interpretiert, was sich im Titel verfestigt hat, wenngleich klassische Attribute der Venus-Ikonographie auf dem Gemälde fehlen. Die widersprüchlichen Auslegungen der Darstellung sind einerseits im Umgang Tizians mit bestimmten Realien und Symbolen – wie der Ehe-Truhe im Hintergrund mit den Bediensteten oder dem, schlafenden, für eheliche Tugend und Treue stehenden Hund – schon angelegt.330 Andererseits ist gerade diese Deutungsoffenheit für die literarische Beschäftigung mit Tizians Gemälde und anderen Werken aus seiner Hand mit ähnlicher Thematik – etwa der Himmlischen und Irdischen Liebe (1514) – vor allem um die Jahrhundertwende die Voraussetzung für eine breite Rezeption des venezianischen Malers. Die Wahrnehmungs- und Deutungspole von Tizians Werken zwischen Sittenbild und erotischer Provokation werden sowohl im späten 19. Jahrhundert noch bei Hofmannsthal in seinem lyrischen Drama Der Tod des Tizian (1892) im Sinne einer Alters- und Spätzeitdarstellung als auch um die Jahrhundertwende zur „Überwindung überkommener Geschlechter- und Liebesvorstellungen“ literarisiert.331 Gerade die Venus von Urbino erlebte auch in der bildkünstlerischen Rezeption im späten 19. Jahrhundert mit der Kopie des Gemäldes durch den Münchner Staatsmaler Franz von Lenbach (1866) und Édouard Manets Olympia (1863, Abb. 86) eine Renaissance. Robert Walser könnte in seiner Münchner Zeit Lenbachs Kopie in der Alten Pinakothek, das Original in Florenz hingegen wird er wohl nicht gesehen haben. Die Farbadjektive „schwarz“ und „weiß“ (V. 1 und 2) verunklaren das im Original eher braune Haar und den bronze-golden schimmernden Körper der Venus und eröffnen einen intermedialen Bezugshorizont. || 329 Keine Studie, die Walsers Tizian-Sonett erwähnt, lässt einen Zweifel daran, dass es sich um ein Gedicht auf die Venus von Urbino handeln muss. Vgl. Wolfram Groddeck: Liebesblick. Robert Walsers ‚Sonett auf eine Venus von Tizian‘. In: Kunst im Text. Hg. von Konstanze Fliedl unter der Mitarbeit von Irene Fußl. Frankfurt am Main, Basel 2005, S. 55–66. 330 Vgl. Nicola Suthor: Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption sensueller Malerei in der Frühen Neuzeit. München 2004, hier S. 77–90. 331 Hierzu neuerdings Constanze Baum: Begierde und Brechung. Tizian und die Literatur der Jahrhundertwende. In: Zeitschrift für Germanistik 27 (2017), S. 510–527.

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Anders als die Walser-Ausgabe, die von einem „Erinnerungsfehler“ ausgeht, weist Wolfram Groddeck in seiner Studie überzeugend darauf hin, dass der „Schwarzweißcharakter“, der das Sonett eröffnet, auch das „Schwarzweiß der Schriftlichkeit als Bedingung eines jeden klingenden Gedicht-Körpers“ indiziere.332 Insofern sei, so Groddeck, „die Entfärbung der Venus von Urbino im Gedicht auch Zeichen einer – im wörtlichen Sinne – Erinnerung, nämlich eines Verinnerlichungsprozesses in das Medium der Schrift“.333

Abb. 86: Édouard Manet: Olympia (1863)

Traditionellen Bewunderungsformeln wird in Walsers Tizian-Sonett hier ebenso eine Absage erteilt wie literarischen Aneignungsversuchen und Funktionalisierungen von Tizians nackter Frauendarstellung im Sinne einer Überhöhung weiblicher Körperlichkeit zur Überwindung bürgerlicher moralischer, insbesondere sexueller Normen. Auf die Wirkung der Venus, die in der literarischen Rezeption, vor allem aber um die Jahrhundertwende als Vorbild erotisierter Männlichkeitsphantasien inszeniert und gedeutet wurde, wird bei Walser zwar mit der Beschreibung „um Düfte dem Beschauer zuzusenden“ (V. 10) angespielt, diese interpretierte Wirkung wird aber gleichzeitig auch entlarvt.334 Der Betrachter des Gemäldes wird nicht mehr als ein bürgerlich-kultivierter Kunstkenner identifiziert, sondern als durch sexuelle Reize angeregter Voyeur und „Beschauer“

|| 332 Groddeck: Robert Walsers ‚Sonett auf eine Venus von Tizian‘, 2005, S. 59f. 333 Ebd., S. 60. 334 Als Gegenmodell zu solchen Bildgedichten ließe sich der Sonett-Zyklus von Emil Ludwig anführen, der gleichzeitig mit Walsers und Tucholskys Gedichten entstanden ist und – auch etwa von Tizians Himmlische und irdische Liebe – einer weihevollen Literarisierung der Bauwerke und Kunstwerke folgt, vgl. Emil Ludwig: Römische Sonette. In: Die Horen. Monatshefte für Kunst und Dichtung 5 (1928/1929), S. 295–307, das Sonett zu Tizian S. 303.

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(V. 11) entlarvt, dessen semantische Nähe zum ‚Fleischbeschauer‘ dezidiert mit der Wortwahl gesucht wird.

Robert Walsers Gedichte zu Künstlern wie van Gogh oder berühmten Gemälden wie Tizians Venus von Urbino dürfen als exemplarisch gelten für die hier behandelte Gruppe von gesellschaftskritischen, politisch links ausgerichteten, anti-nationalistischen und anti-bürgerlichen Autoren. Mit der für sie symptomatischen Tendenz der Trivialisierung von Inkunabeln der Kunstgeschichte und deren parodistische Literarisierung in den 1920er Jahren geht die Relativierung vermeintlich ewiger Schönheitsideale, wie das am Beispiel der Venus von Urbino gezeigt wurde, einher. Drei Jahre vor der Entstehung seines berühmten Gedichts zu Leonardo da Vincis Mona Lisa erschien am 28. April 1926 in der Vossischen Zeitung Kurt Tucholskys kurzer Prosatext Hinter der Venus von Milo. Im Text beobachtet ein namenloser Ich-Erzähler verschiedene Besucher im Louvre, die mit Kunstführern und Handbüchern bewaffnet floskelartig die Schönheit und Unerreichbarkeit des 1820 auf der Insel Melos gefundenen antiken Bildhauerwerkes bewundern. Erst das zurückhaltende, offenbar von der Wirkung der Venus unbeeindruckte Verhalten einer Gruppe von jungen Männern lässt den Beobachter selbst Zweifel über die Verbindlichkeit bürgerlicher, vermeintlich intersubjektiv vermittelbarer Geschmacksideale, die an der Vergangenheit ausgerichtet und orientiert sind, äußern. Wie schon Gottfried Kellers Gedicht Venus von Milo von 1878 (Kapitel II., 4) greift Tucholsky gut ein halbes Jahrhundert später auf eine der berühmtesten antiken Bildhauerwerke zurück, um die Zeitgemäßheit von Idealbildern für eine zeitgenössische künstlerische Ästhetik zu hinterfragen. Ging es Keller aber noch um eine Kritik an der Omnipräsenz antiker Kunstwerke in Form von Reproduktionen aller Art, die als eine Entwertung des Kultur- zum Konsumgut gedeutet wurden, so stellt Tucholsky das mit der Venus von Milo verbundene ästhetische Ideal generell in Frage, da sie mit dem Lebensgefühl und der Vorstellungswelt der jungen Generation seiner eigenen Gegenwart nichts mehr gemein habe: Und es kam die junge Generation, Sportfiguren und glatte Gesichter. Die sahen ganz anders zur Venus auf. „Ewig“, steht in den Kunstbüchern, „ist der Schönheitswert dieses Körpers…“ Ewig? Wirklich: ewig – ? Diese jungen Leute, denen das Saxophon schon einiges erzählt hatte, dachten darüber vielleicht anders. Viele schnupften kurz auf, sahen hinauf,

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wieder hinunter, umstanden den Sockel und gingen wieder fort. Ihre Venus sieht vielleicht anders aus.335

Es geht Tucholsky bei seiner Betrachtung und Auseinandersetzung mit berühmten Kunstwerken um eine Korrektur überlieferter Deutungs- und Wertungsmechanismen, die mit Hilfe der Parodie vorgenommen werden soll – zumindest wird die Frage der Vorbildhaftigkeit älterer und alter Kunstwerke für die Gegenwart problematisiert. Leonardo da Vincis Mona Lisa genanntes Porträt der Lisa del Giocondo (1503/06?) ist zweifellos das berühmteste Kunstwerk der Welt und wer darüber schreibt, ist sich dessen bewusst. Es ist schlichtweg nicht möglich, Gedichte zu Leonardos Gemälde Mona Lisa zu interpretieren, ohne dessen Rezeptionsgeschichte wenigstens schlaglichtartig zu beleuchten. Denn der parodistische Umgang mit dem auf Pappelholz gemalten Porträt – das damit streng genommen ein Tafelbild ist – wird ja gerade von jener Rezeptions- und Deutungsgeschichte bedingt, von der man sich abzusetzen und zu distanzieren versucht.

Abb. 87: Leonardo da Vinci: Mona Lisa/La Gioconda (1503/1506)

Um gleich das am häufigsten bemühte und zitierte Charakteristikum des Porträts, das vermeintlich rätselhafte, unerklärliche und viel diskutierte ‚Lächeln‘ der Mona Lisa vorwegzunehmen, so muss zwar betont werden, dass dieses Lächeln und die davon abgeleitete Aura der Darstellung für die literarische Rezeption von

|| 335 Kurt Tucholsky: Hinter der Venus von Milo. In: Ders. Gesamtausgabe, Bd. 8: Texte 1926. Hg. von Gisela Enzmann-Kraiker und Christa Wetzel (Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe). Reinbek bei Hamburg 2004, S. 239f., hier S. 240.

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eminenter Bedeutung ist (Abb. 87). Doch kann nach heutigem Forschungsstand – ohne dass damit die Qualität und Bedeutung des Porträts geschmälert werden würde – ebenso gut mit Frank Zöllner festgehalten werden, dass die 1479 als Tochter von Antonmaria Gherardini zur Welt gekommene, nur mit einer bescheidenen Mitgift ausgestattete Porträtierte durch ihre 1495 als Fünfzehnjährige eingegangene Ehe mit dem reichen Florentiner Kaufmann Francesco del Giocondo eine stattliche Partie gemacht hat und daher aus gutem Grund zu lächeln vermag.336 Bis heute hält sich auch hartnäckig die Anekdote, die Mona Lisa habe im Schlafzimmer Napoleons gehangen. Auch diese, noch bei Gisbert Kranz in seinem knappen Abriss zur Mona Lisa-Dichtung prominent aufgeführte, offenbar als Nobilitierung verstandene Kolportage sei hier gleich zu Beginn entmystifiziert. Die vorliegenden Quellen belegen mit Sicherheit nur, dass das Tafelbild nach dem Tode da Vincis einem seiner Schüler vermacht worden war und danach in den Besitz der französischen königlichen Sammlungen – da Vinci ist ja in Frankreich auf Schloss Amboise gestorben – übergegangen ist. Im Schlafzimmer Napoleons hat es sich indessen nie befunden.337 Es lässt sich wohl nicht leugnen, dass vor allem der in der Tat ambivalente und nicht leicht deutbare Gesichtsausdruck der Mona Lisa an ihrer enormen Rezeptionsgeschichte einen gewichtigen Anteil hat. Gleichwohl ist das Tafelbild aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie intermediale Wechselwirkungen oft genug historische oder objektive Rezeptionsprozesse verstellen. Denn weder war das Tafelbild noch weit bis ins 19. Jahrhundert als ein besonders herausragendes Werk von Leonardo gefeiert worden, noch ist es unter gattungsgeschichtlichen Aspekten besonders herausragend, sondern profitiert – im Gegenteil – was

|| 336 Die Forschung zu Leonardos Porträt ist unüberschaubar. Systematisch und klar sind die Beiträge von Frank Zöllner, der in seinem 2012 erschienenen Aufsatz auch auf erst kürzlich aufgefundene Dokumente verweist, die Licht bringen in das Dunkel der Entstehung-, Überlieferungs- und Deutungsgeschichte. Vgl. Frank Zöllner: „Mona Lisa“ – Das Porträt der Lisa del Giocondo. In: Europäische Erinnerungsorte 2: Das Haus Europa. Hg. von Pim den Boer u.a. München 2012, S. 113–123, hier bes. S. 121f.; instruktiv ist auch die Rezension von Zöllner zu zwei 2008 erschienen Studien, die von der historischen Quellenlage her das Porträt in den Blick nehmen. Deutlich wird, dass der ‚Mythos‘ Mona Lisa im Grunde die längste Zeit ohne zuverlässige Fakten ausgekommen ist, vgl. Frank Zöllner: Rezension zu Giuseppe Pallanti (Wer war Mona Lisa) und Veit Probst (Zur Entstehungsgeschichte der Mona Lisa). In: Journal für Kunstgeschichte 12 (2008), S. 209–216. Auf weitere Spezialstudien wird noch im Folgenden verwiesen. 337 Vgl. Zöllner: „Mona Lisa“, 2012, S. 115f.; detaillierter dazu Cécile Scailliérez: Léonard de Vinci. La Joconde. Paris 2003 (collection solo, 24; Départment des Peintures), S. 14–20; die genannten Kolportagen erwähnt – wie unzählige andere – Gisbert Kranz: Leonardos Mona Lisa in der Lyrik. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 16 (1981), S. 131–150, hier S. 133.

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Ausschnitt und Handhaltung anbelangt von ikonographischen Traditionen altbekannter Mariendarstellungen etwa eines Hans Memling. Lediglich mit Blick auf die kunsttheoretischen Überlegungen zur Porträtmalerei seit Leon Battista Alberti (De pictura, 1435 – Della pittura, 1436) und Leonardos eigenen bildtheoretischen Ansätzen zur Frage der Abbildhaftigkeit der Porträtmalerei (Trattato della pittura, wohl Anfang 15. Jhdt.) hat die jüngere kunsthistorische Forschung ein ungewöhnliches Innovationspotential für die Mona Lisa geltend gemacht.338 Tatsächlich hat die literarische Rezeption der Mona Lisa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Théophile Gautier und Walter Pater maßgeblich den Blick auf das Werk und wahrscheinlich auch noch unsere Vorstellung des Porträts geprägt und damit einen objektiv-wissenschaftlichen Blick auf die Tafel verunklart. In seiner ausführlichen Bibliographie zählte Gisbert Kranz schon 1981 und 1986 mehr als 100 Gedichte in 17 Sprachen, auf die sich mit der Mona Lisa auseinandersetzen.339 Unüberschaubar dagegen sind die Anspielungen, Motive oder auch nur Reminiszenzen an die Mona Lisa in anderen Textsorten. Für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert sind – um nur die wichtigsten zu erwähnen – neben Theodor Fontanes Altersroman Stechlin (1898), Hugo von Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tor und der Tod (1893) und seinem Essay Über moderne englische Malerei (1894) auch Felix Saltens Erzählung Der Schrei nach Liebe (1905) Thomas Manns Fiorenza (1907), Sigmund Freuds psychologische Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) und natürlich die von Carl Gütschow ins Deutsche übertragene, viel gelesene Popularbiographie Leonardo da Vinci (1903) des russischen Symbolisten Dmitri Sergejewitsch Mereschkowski, die alle mehr oder weniger deutliche Mona Lisa-Referenzen oder Anspielungen

|| 338 Vgl. Frank Zöllner: Leonardo da Vinci Mona Lisa. Das Porträt der Lisa del Giocondo. Legende und Geschichte. Frankfurt am Main 1994 (Fischer Kunststück, 11344), hier S. 31f.; so auch schon Detlef Zinke: Vom Weiterleben der Gioconda. Zur Geschichte der Bildrezeption bis 1800. In: Mona Lisa im 20. Jahrhundert. Wilhelm Lehmbruck-Museum der Stadt Duisburg 24.9.– 3.12.1978. Hg. von Julian Heynen. Duisburg 1978, S. 23–39, bes. S. 28ff.; zu den angesprochenen kunsttheoretischen Kontexten vgl. Gerhard Wolf: Das Mona Lisa-Paradox oder Leonardos „unnachahmbare Wissenschaft der Malerei“. In: Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik. Hg. von Frank Fehrenbach. München 2002, S. 391–411, hier S. 391–405. 339 Vgl. Gisbert Kranz: Das Bildgedicht. Theorie – Lexikon – Bibliographie. 3 Bde., hier Bd. 1. Köln 1981, S. 15; Gisbert Kranz: Leonardos Mona Lisa in der Lyrik. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 16 (1981), S. 131–150, hier S. 7; eine neuere Zusammenstellung völlig unterschiedlicher Mona Lisa-Reminiszenzen vom klassischen Gedicht bis zum YoutubeVideo und Twitter-Account bietet Katharina Serles: „Mona Lisa (Du Luder)“. Bild(de)konstruktionen der Rezeption. In: Gemälderedereien. Zur literarischen Diskursivierung von Bildern. Hg. von Konstanze Fliedl. Berlin 2013, S. 194–229.

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enthalten und zur Popularisierung des Tafelbildes noch einmal erheblich beigetragen haben.340 Gleichzeitig ist die Mona Lisa als Meisterwerk eines titanischen Künstlers auch Teil einer umfangreicheren Leonardo-Rezeption bis weit über 1900 hinaus, die zwischen rinascimentalem Machtbewusstsein und Künstlergenie Vorstellungen des Künstlers, seiner Epoche und Werke anbot, an deren Konstruktion die genannten und auch hier behandelten Autoren freilich keinen Anteil hatten.341 Attribute und Epitheta der literarischen Mona Lisa-Rezeption sind auf Théophile Gautier und vor allem auf den englischen Kunsthistoriker und Publizisten Walter Pater zurückzuführen. Sein Essay zu Leonardo da Vinci wurde zunächst 1869 in The Fortnightly Review gedruckt und 1873 in seine Aufsatz-Sammlung The Renaissance. Studies in History and Poetry aufgenommen, die zahlreiche Neuauflagen erlebte. Für die deutschsprachige Leonardo-Rezeption ist die von Franz Blei besorgte Übersetzung des Leonardo-Essays sowohl für den zweiten Jahrgang und die Mai-Ausgabe von 1901 der Insel als auch die bei Diederichs erschienene Übertragung von The Renaissance. Studies in History and Poetry von Bedeutung.342 Maßgeblich für jegliche Form der versifizierten Mona Lisa-Rezeption

|| 340 Näher auf die einzelnen genannten literarischen Reminiszenzen gehen ein Ursula Renner: Mona Lisa – Das ‚Rätsel Weib’ als ‚Frauenphantom des Mannes’ im Fin de Siècle. In: Lulu, Lilith, Mona Lisa…Frauenbilder der Jahrhundertwende. Hg. von Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1989 (Frauen in Geschichte und Gesellschaft, Bd. 14), S. 139–156, bes. S. 139ff.; Gerd Uekermann: Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der Dramatik der Jahrhundertwende. Berlin 1985 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, N.F. 84), S. 255–259. 341 Vgl. Hans Holländer: Die Legende vom Renaissancemenschen. In: Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach. Hg. von Bernd Wirkus. Konstanz 2007, S. 13–28; die etwas ältere Studie von Hüttinger bietet immer noch wichtiges Material: Eduard Hüttinger: Leonardo- und Giorgione-Kult. Materialien zu einem Thema des Fin de Siècle. In: Fin de Siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hg. von Roger Bauer. Frankfurt am Main 1977 (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 35), S. 143–169; zuletzt auch die Studie von Peter Philipp Riedl: Renaissancemenschen. Literarische Konstruktionen eines Figurentyps um 1900. In: Der Renaissance-Diskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme. Hg. von Thomas Althaus und Markus Fauser. Bielefeld 2017 (Philologie und Kulturgeschichte, Bd. 5), S. 71–98. 342 Vgl. Kranz: Das Bildgedicht, Bd. 1, 1981, S. 134f.; Uekermann: Renaissancismus, 1985, S. 254; Donald Sassoon: Mona Lisa. The history oft he world’s most famous painting. London 2001, S. 138f; auch Hugo von Hofmannsthal übersetzte die Mona Lisa-Beschreibung von Pater, vgl. hierzu Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 180), S. 160–163; ein breites Spektrum an (neuen) Perspektiven auf das Phänomen bietet der Band von Thomas Althaus, Markus

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wurde indessen Paters Gedicht Mona Lisa von 1878. In ihm sind die Epitheta, Attribute und ikonographischen Verweise von Unermesslichkeit und Vieldeutigkeit des Ausdrucks, Zuschreibungen und Deutungen des Blickes und des Gesichtsausdrucks als geheimnisvoll, mysteriös und rätselhaft angelegt, die fortan affirmative oder parodistische Literarisierungen des Tafelbildes begleiten sollten. Was in Paters Gedicht noch ehrfurchtsvolle und ernst gemeinte Huldigung einer als Chiffre für die Synthese mythologischer (Leda, V. 8; Helena, V. 9) und historisch-biblischer (Anna, V. 10) Weiblichkeitsvorstellungen verstandenen Darstellung ist, wird in den satirischen Überzeichnungen von Karl Ettlinger und Tucholsky wieder aufgegriffen. Gleichzeitig präsentiert Pater die Mona Lisa mit dem Verweis auf andere Werke (Anna Selbdritt, 1510/13?; Leda mit dem Schwan, verschollen) auch als (schon vorausweisende) künstlerische Summe von Leonardos Schaffen. Die anaphorische Versgestaltung Paters rekurriert auf formaler Ebene bereits auf das breite Tableau und Motivarsenal von Mona Lisa-Deutungen. Die Motive und Epitheta überführt Pater ins Gedicht und macht aus ihm eine „Symbolgestalt von komplexem Verweischarakter“, indem er das Porträt im „Schnittpunkt uralter und auch moderner Menschheitserfahrungen wahrnimmt“: 343

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Mona Lisa She is older than the rocks among which she sits; Like the Vampire, She has been dead many times, And learned the secrets of the grave; And has been a diver in deep seas, And keeps their fallen day about her; And traffickes for strange webs with Eastern merchants; And, as Leda, Was the mother of Helen of Troy, And, as St Anne, Was the mother of Mary; And all this has been to her but as the sound of lyres and flutes, And lives Only in the delicacy With which it has moulded the changing lineaments, And tinged the eyelids and the hands.344

|| Fauser (Hg.): Der Renaissancismus-Diskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme. Bielefeld 2017. 343 Hüttinger: Leonardo- und Giorgione-Kult, 1978, S. 44. 344 Hier nach dem zweisprachigen Abdruck in der Sammlung von Gisbert Kranz (Hg.): Gedichte auf Bilder. Anthologie und Galerie. München 1975, S. 126f.

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Einen deutlichen Popularisierungsschub erfuhr das Tafelbild dann seit dem 22. August 1911, als der italienische Gelegenheitsarbeiter und Hobby-Maler Vincenzo Peruggi in der fälschlichen Annahme, Napoleon habe das Bild gestohlen und es gehöre rechtmäßig nach Italien, die Mona Lisa stahl, was bis zur Auffindung und Rückführung in den Louvre im Dezember 1913 eine regelrechte Mona Lisa-Hysterie auslöste und schließlich auch Georg Heym zu seiner von diesem Diebstahl inspirierten Erzählung Der Dieb (1911) veranlasste.345 Zum „Tempelbild des Louvre“346 ist das Porträt erst mit der fulminant gefeierten Rückführung in den Louvre geworden. Die literarische Rezeption und die allgemeine Wahrnehmung des Tafelbildes sind aufs engste mit diesem Ereignis und seinen Folgen verbunden. Gerhard Wolfs Charakterisierung der Mona Lisa als „Tempelbild des Louvre“ ist insofern hilfreich, als sie bei aller Schlagwortartigkeit auf die Konzeption und Rezeption des Porträts aufmerksam macht, die sowohl in den apologetischen Texten und Überhöhungen des Kunstwerkes als auch in den Parodien darauf oft genug zwar nicht explizit thematisiert werden, aber unbedingte Voraussetzung für die Literarisierung sind: Die Mona Lisa ist spätestens nach ihrem Raub und ihrer Rückführung nicht mehr als gewöhnliches Tafelbild wahrgenommen worden, sondern als Kultbild, was sich in der zeitgenössischen Diskussion niederschlägt, die Gerhard Wolf so zusammenfasst: „in der Absenz, im Verschwinden des Originals intensiviert sich die mediale Präsenz, die mediale Öffentlichkeit des Bildes. Der Diebstahl von 1911 ist ein Schlüsselereignis in der Geschichte der visuellen Kultur des 20. Jahrhunderts und zugleich spektakulärer Abschied von einem Begriff des Bildes, wie ihn die Mona Lisa verkörperte.“ 347 Ebenso häufig wie ehrfurchtsvolle literarische Verklärungen und Inszenierungen eines sinnlichen Mona Lisa-Erlebnisses finden sich Parodien auf das Porträt, die gleichsam immer auch implizite Kontrafakturen des Pater-Gedichtes darstellen. Den Diebstahl 1911 nimmt der als Karlchen firmierende vor allem für die Jugend schreibende Journalist und Autor Karl Ettlinger zum Anlass, den Verlust des Tafelbildes als Liebeskrise eines selbsternannten „Don“ (V. 3) und seiner Geliebten Lisa – die er onomatopoetisch grollend und donnernd als „Donna, Donna an der Wand“ (V. 2) apostrophiert – zu einem völlig alltagsweltlichen Ereignis degradiert. Er nimmt dabei nicht nur die herausgestellte Bedeutung des Kunstwerks aufs Korn, sondern destruiert auch alle der Mona Lisa zugeschriebenen

|| 345 Zu den Hintergründen vgl. Zöllner: Leonardo da Vinci: Mona Lisa, 1994, S. 16; Uekermann: Renaissancismus, 1985, S. 263. 346 Wolf: Das Mona Lisa-Paradox, 2002, S. 409. 347 Ebd.

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erotischen, sinnlichen, ästhetischen und tugendhaften Attribute (V. 10–11; 13– 16; 29–30): An Mona Lisa

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Mona Lisa! O Gioconda! Donna, Donna an der Wand! Trostlos steh’ ich armer Don da, da du jäh mir durchgebrannt! Zwar in Rom, Florenz und Pisa Manche schon das Herz mir brach Doch du warst die einz’ge, Lisa, Die mir niemals widersprach! Ob ein milder Wind gelächelt, Ob gebraust des Sturms Getös, Immer hast du sanft gelächelt, Warst nie zornig und nervös! Von dem Busen auserlesen Träumt’ ich manche Nacht im Bett. Bist du gleich aus Holz gewesen, Gleichst du doch nicht einem Brett. „Auf der Lisa Treue schwör’ ich!“ Rief ich in die Welt hinaus – Und nun, rund vierhunderjährig, Brennst du durch und rückst mir aus! War’s die Schuld des heißen Klimas? War’s ein Dieb? Ein Milliardär? War es ein Zigeunerprimas? Oder – wehe! – ein Chauffeur? Unermeßlich ist mein Jammer! Weh, was hast du mir getan! Schmachtest du in finstrer Kammer? Schwimmst du auf dem Ozean? Schönstes Weib des Erdenballes Hör’ mein Flehn, entschwundnes Glück: „Mona Lisa, Alles, Alles, Ist vergeben – kehr’ zurück!“348

Symptomatisch für jede literarische Verarbeitung der Mona Lisa ist, dass man sie nicht im Original gesehen haben muss, um über sie schreiben zu können. Das trifft schon auf die erste überhaupt überlieferte Beschreibung bei Vasari zu, der

|| 348 Karlchen (d.i. Karl Ettlinger): An Mona Lisa. In: Jugend. Münchner Wochenschrift für Kunst und Leben 16, 36 (1911), S. 973.

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Leonardos Porträt nur vom Hörensagen kannte und für seine Charakterisierung und Beurteilung seine Vorstellungskraft bemühte.349 Vor allem musste die Mona Lisa wie kaum ein anderes Kunstwerk als Projektionsfläche unterschiedlicher Vorstellungen herhalten. Für das frühe 20. Jahrhundert überlagern sich fiktive Weiblichkeitsentwürfe, die von der Femme fatale, weiblichem Dämon, Hure bis zur Apostrophierung der Mona Lisa als Heiliger Jungfrau und tugendhafter Ehefrau reichen. Nicht zufällig überschreibt Donald Sassoon in seiner Studie den für diesen Zusammenhang relevanten Abschnitt mit „Mona Lisa as a Visual Zeitgeist“ und markiert damit die kulturhistorische Konstellation einer im Medium Schrift konstruierten ‚Bildlichkeit‘, die mit dem Original erst einmal nichts zu tun hat.350 Interessant ist, dass die an Gautier und Pater angelehnten Vorstellungen von Weiblichkeit, die Bezüge zu Liebes- und Geschlechtervorstellungen wie schon im Falle von Ringelnatz’ Parodie zu Tizian und den Auslegern seiner Venus- und Liebesdarstellungen von Ettlinger und Tucholsky nicht nur parodiert und revidiert werden, sondern diese Gedichte verzichten ja auch auf alternative Beschreibungen des Porträts und gehen das Wagnis, das berühmteste Kunstwerk der Welt zu beschreiben, gar nicht erst ein. Von dezidierten literarisierten „Männerphantasien“ spricht Ursula Renner in diesem Zusammenhang und mit Blick auf benachbarte Phänomene bzw. ‚Schwestern‘ der Mona Lisa wie Kleopatra, Salome, Medusa, Judith Melusine, Pandora oder Sphinx. Ursula Renner verweist auf den auch hier tonangebenden und wirkungsmächtigen Walter Pater.351 Noch berühmter als sein Mona Lisa-Gedicht ist wohl Paters Charakterisierung des Porträts aus seinem Leonardo-Essay geworden, in dem er davon spricht, dass die „Gestalt, die hier so seltsam neben den Wassern auftaucht“, die „Erfüllung eines tausendjährigen Begehrens des Mannes“ ausdrückt.352 „Ihres ist das Haupt“, schreibt Pater weiter, „worin alle Enden der Welt zusammenkommen und ihre Augenlider sind ein wenig müde. Es ist eine Schönheit, welche auf das Fleisch von innen heraus wirkt, gleichsam die Ansammlung, Zelle an Zelle, der allerseltensten Wünsche und allerfeinsten Leidenschaften.“353 Dass in der deutschsprachigen Lyrik Paters Vorstellungen und Zuschreibungen auch beigepflichtet worden ist, belegt das Gedicht der nicht identifizierbaren Autorin Erna Heinemann. || 349 Vgl. Zöllner: Leonardo da Vinci: Mona Lisa, 1994, S. 15; Zinke: Vom Weiterleben der Gioconda, 1978, S. 23. 350 Vgl. Sassoon: Mona Lisa, 2001, S. 136–179; ferner auch Uekermann: Renaissancismus, 1985, S. 254. 351 Vgl. Renner: Mona Lisa – Das „Rätsel Weib“, 1999, S. 139–141, Zitat S. 141. 352 Hier nach der deutschen Übersetzung, Walter Pater: Die Renaissance. Studien in Kunst und Poesie. Leipzig 1902, S. 172. 353 Ebd.

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Es mag sich entweder um ein Pseudonym eines anderen Autors handeln oder aber die Verfasserin hat ihre Mona Lisa-Apologie als Gelegenheitsdichterin für den zehnten Jahrgang Bühne und Welt (1907/08) eingereicht.354 In jedem Fall fasst das Gedicht die beschriebene, von Pater ausgelöste Mona Lisa-Deutung als Inbegriff und Synthese historischer und gegenwärtiger Frauenbilder (V. 1–2) sowie als Symbol verborgener sinnlicher Erlebnisse und heimlicher Leidenschaften (V. 3–4) präzise zusammen und bündelt die einzelnen Motive und Epitheta im redensartlich gewordenen „Lächeln“ (V. 18) der Mona Lisa:

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Mona Lisa Wer ist uns von den Frauen jener Zeiten, Madonna Lisa, seltsam nah wie du? In dir ruhn unsrer Seelen Seligkeiten Und unsrer Sinne flügelfrohes Streiten, Es flattert leise hinter deiner Ruh’. – Madonna Lisa, – Fremde! Freundin du! Getränkt mit alles Lebens Bitternissen, Erweckt wie wir zu allzu weitem Wissen, Schaust du dem Leben wach und weise zu. – Du tauchest nieder tief in seine Fluten Du fachtest Fackeln an in seinen Gluten Und wurdest wie das Meer und wie ein Brand. Doch was auch deine Tiefe Tiefstes fand An Weisheit, Weh, an Glauben, Glück und Glut – Dir ist es nur zu einem Schmuckstück gut; Du sammelst deine tausend Schätze nur Gleich einer einz’gen, lichten Perlenschnur In deinem Lächeln, das uns alle bannt.355

Gerade mit diesem berühmtesten Erkennungsmerkmal der Mona Lisa, ihrem ‚Lächeln‘, treibt Kurt Tucholsky in seinem Gedicht Das Lächeln der Mona Lisa (1928) sein satirisches Spiel. Die parodistische Struktur und die humoristische Note der drei Strophen sind zum einen in der formalen Struktur, zum anderen in der Technik angelegt, die bereits beschriebenen Mona Lisa-Literarisierungen und -deutungen aufzurufen aber einzelne Aspekte durch neue semantische oder bildliche Kontexte zu substituieren. Wenngleich Tucholsky Gedicht eine Absage an die seit Pater und Gautier betriebene Mystifizierung des Kunstwerks und der

|| 354 Lediglich Uekermann verweist auf den seltsamen Text von Erna Heinemann, vgl. Uekermann: Renaissancismus, 1985, S. 259. 355 Erna Heinemann: Mona Lisa. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik. 10 (1907/08), S. 358.

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dargestellten Lisa del Giocondo ist, so ist es gleichzeitig auch eine Synthese zahlreicher Mona Lisa-Literarisierungen. Das Verfahren, Prätexte oder – in intermedialer Perspektive – Bildvorlagen durch Addition, Detraktion, Substitution oder Transmutation zu parodieren und satirisch zu entlarven wendet Tucholsky auch bei zahlreichen anderen Texten zu Goethe, Hoffmann von Fallersleben oder Theodor Körner an.356 Ebenso wie bei seinen berühmten Parodien von Goethes Osterspaziergang oder Körners Lützows wilde Jagd profitiert Tucholskys parodistisches Verfahren im Falle seines Mona Lisa-Gedichts von der allgemeinen Popularität sowohl des bedichteten Kunstwerkes als auch vergangener literarischer Auseinandersetzungen damit: Das Lächeln der Mona Lisa Ich kann den Blick nicht von dir wenden. denn über deinem Mann vom Dienst hängst du mit sanft verschränkten Händen und grienst. 5

Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa, dein Lächeln gilt für Ironie. Ja…warum lacht die Mona Lisa? Lacht sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen uns – oder wie – ?

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Du lehrst uns still, was zu geschehen hat. Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt: Wer viel von dieser Welt gesehn hat – der lächelt, legt die Hände auf den Bauch und schweigt.357

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Der äußeren Form nach folgt das Gedicht dem paargereimten Vierzeiler mit grundsätzlich jambischer Versregulierung, geht allerdings sowohl mit der Rhythmisierung als auch mit dem Reim- und Strophenstruktur virtuos um. Nicht nur zum inhaltlichen, sondern auch rhythmischen Stolpern des Rezipienten verleiten dabei die Verse aufgrund ihrer unterschiedlichen Länge, die von einhebigen (V. 4) bis zu sechshebigen (V. 12) Lösungen reichen. Geradezu unlesbar wird Vers acht mit seiner völlig aus der jambischen Struktur gelösten, in Prosa verfallenden

|| 356 Vgl. Hans-Werner Dietrich am Zehnhoff: Parodistische Schreibtechniken in den Satiren von Kurt Tucholsky. In: Der Deutschunterricht 37 (1985), S. 39–57, hier bes. S. 41ff. 357 Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe, Bd. 10: Texte 1928. Hg. von Ute Maack (Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe. Texte und Briefe). Reinbek bei Hamburg 2001, S. 571.

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und durch wiederholten Hebungsprall gekennzeichneten Rhythmik. Das von Tucholsky gewählte Schriftbild der Verse und Strophen trägt ebenso wie der humoristisch-spielerische Umgang mit Reimen, deren Unreinheit in derselben Strophe einmal vorgeführt (V. 1 und 3), beim andern Mal (V. 2 und 4) durch die bewusst umgangs- und vulgärsprachliche Schreibweise „grienst“ (V. 4) vermieden wird, zur Auflösung ernsthafter Kunstbetrachtung bei und gibt sich selbst als parodistisch gemeinte ‚Bildlektüre‘ schon auf der formalen Ebene zu erkennen. Die beschwörende Eingangsformel des lyrischen Ichs, vom Anblick der Mona Lisa gebannt zu sein, wird in den folgenden Versen sukzessive destruiert und als kulturelle Chimäre vorgeführt. Die von der älteren Leonardo-Literatur herausstellte Einzigartigkeit des Tafelbildes wird durch den im wörtlichen Sinne ‚schiefen‘ Vergleich mit dem Campanile in Pisa (V. 5) aufgehoben, beliebig und als Wegmarke lediglich touristisch-populären Kulturkonsums entlarvt. Auch ihr Lächeln wird zwar in der Überschrift und dann noch zwei weitere Male im Gedicht selbst (V. 6 und 12) aufgerufen, dann allerdings im holprigsten, achten Vers mit der rhetorischen Frage nach dem Grund für dasselbe durch das weitaus weniger auratische Wort „Lachen“ (V. 8) substituiert und mit der umgangssprachlichflapsigen, abschließenden Frage „oder wie?“ (V. 8) in den Bereich des Nicht-Wissenswerten verbannt. Auch die kultisch-hermetischen, esoterischen, erotischen und psychoanalytischen Deutungsmuster der Mona Lisa werden aufgerufen und gleichzeitig unterlaufen.358 Der weibliche Dämon, die tugendhafte Ehefrau, die Femme fatale ist dem ungefährlichen und alltagstauglichen aber auch uncharismatischen „Lieschen“ (V. 10) gewichen, mit dem sich das lyrische Ich in der letzten Strophe auf einen einseitigen Dialog in vertraulicher Atmosphäre einlässt. Bei aller parodistischen Pointierung und Ausrichtung des Gedichts sollte nicht verkannt werden, dass die letzte Strophe mit ihrer descriptio der Komposition des Tafelbildes (V. 12) den Blick auch wieder frei gibt auf das, was ‚eigentlich‘ und jenseits kulturhistorischer Mythenbildung zu sehen ist. Die letzte Strophe konzentriert sich auf das, was die Mona Lisa nach der neueren, quellenorientierten kunsthistorischen Forschung (auch) ist, nämlich das Porträt einer Ehefrau, die lächelt, weil sie durch ihre Heirat sozial aufgestiegen ist. Tucholskys Mona Lisa-Parodie richtet sich nicht gegen das Tafelbild selbst oder seinen Schöpfer, sondern leistet einen Beitrag zur Revokation männlicher Weiblichkeitsvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts.359 Dem von den Paterschen Epitheta abgeleiteten und auf die Mona Lisa

|| 358 Zur älteren Tradition vgl. Hüttinger: Leonardo- und Giorgione-Kult, 1978, S. 46. 359 Vgl. Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg 2005 (Würzburger Beiträge zur

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projizierten Frauenbild zwischen Dämon und Heiliger, das oft genug nach dem ‚wahren Wesen‘ der Frau suchte, stellt Tucholsky das Alltags-„Lieschen“ gegenüber, das für den Sprecher des Gedichts zudem eine viel einfachere und verständlichere (Glücks-) Botschaft bereithält, die zur Gelassenheit anhält und in Bezug auf Kunstbetrachtung das Sichtbare präferiert (V. 9–12).

Kaum ein schärferer Kontrast hierzu ist denkbar als das von Emil Ludwig stammende Gedicht Mona Lisa, das wohl um 1935 entstanden ist, also zeitlich noch vor seiner Verteidigung des jüdischen Studenten David Frankfurter liegt, der im Februar 1936 den Leiter der nationalsozialistischen Partei der Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschossen hat.360 Mit seinen Biographien größer Persönlichkeiten wie Napoleon, Wilhelm II., Bismarck oder Goethe war Ludwig schon seit der Jahrhundertwende ausgesprochen erfolgreich und gehörte zu den am meisten gelesenen Autoren der Weimarer Republik. Ludwigs Gedicht ist aus zweierlei Gründen von Interesse: Zum einen dokumentiert seine Auseinandersetzung mit dem Tafelbild die Langlebigkeit einmal etablierter Deutungsmuster, gegen die sich gerade Autoren wie Tucholsky wenden. Zum anderen ist der Vergleich mit Tucholskys Parodie lohnend, da durchaus auch Parallelen sichtbar werden, die Konstanten im literarischen Umgang mit der Mona Lisa markieren und ablesbar machen. So ist auch für die Kommunikationssituation von Emil Ludwigs Gedicht die einseitig bleibende Zwiesprache von lyrischem Ich und Kunstwerk konstitutiv. Die Bedeutung und Rezeptionsgeschichte des Porträts wird implizit als eine gedacht, nach der das Tafelbild dem Betrachter etwas zu sagen habe. Im Falle von Tucholsky wird diese Form der Verlebendigung eines Kunstobjekts als Trivialisierung und Parodie vorgeführt. Die Mona Lisa hat eben nichts Bedeutendes (mehr) zu sagen. Dagegen imaginiert der kunstliebende Sprecher in Ludwigs Gedicht ausführlich die ‚Botschaften‘ der Mona Lisa (V. 1: „Was sagst du“; V. 17: „Was redest du“), die inhaltlich nahtlos an die Bedeutungsgehalte der Mona Lisa-Bilder um 1900 anschließen:

|| deutschen Philologie, Bd. 28), hier S. 19f.; Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. Übers. aus d. Ital. von Lisa Rüdiger. 3. Auflage. München 1988 (dtv; 4375), bes. S. 216f. 360 Zu den Hintergründen und Ludwigs Einordnung in die Literatur der Weimarer Republik vgl. den Band von Thomas F. Schneider (Hg.): Emil Ludwig. Hannover 2016 (Non-Fiktion, 11), besonders auch die Beiträge von Thomas F. Schneider (Erfolg ohne Einfluss? Emil Ludwig: Politisierender Schriftsteller oder schriftstellernder Politiker. Eine Annäherung, S. 11–34) und Benjamin Ziemann (Der elitäre Republikaner. Emil Ludwig als politischer Publizist der Weimarer Republik, S. 97–118.

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Mona Lisa Was sagst du Süßes mir, oh holdes Bild? Ist denn die Anmut, die mit weicher Wärme aus deinen Augen träumt, um deinen Mund sein-schalkig zuckt und doch von höflicher und edler Ruh, – die Anmut, die jungfräulich, nein, mädchenhaft, vom weißen Hals und von der schönen Brust herspielt mit stillem Zauber, – die Anmut, die das fließende Gewand, die wunderzarten, schlanken Damenhände in Fülle spenden – ist die Anmut nur, daß sie in mir mit allen ihren Reizen ein wirr, ein hold, ein tief Geheimnis schafft, tausende Träume lockt und Stimmen aufweckt, die mir die Sinne nehmen und zugleich doch so ein unsagbares Glück bewirken? Oh meine Dame, Mona Lisa, Weib! Was redest du zu mir durch späte Nacht? Weißt du denn nicht, daß jetzt die Nächte sind, wo der Jasminduft träumerisch sich ausstreckt, die schwüle Hand uns auf die Stirne legt und leis zu locken scheint: komm, komm, die Sünde ist süß, und Lied und Sehnen bringen Glück!? – Was ists mit mir, daß ich des nachts so oft auffahren möchte, zum Wanderstock irr tastend in dunkle Wälder meine Straße schwanken möchte, fieberheiß vor zitterndem Verlangen?... Mir weckt ein Weib mit ihren kleinsten Reizen krankende Sehnsucht: – fest möchte ich den Fuß aufsetzen, über sie ein Sieger sein, ein Sturm-Eroberer, – – ach, doch mein Fuß, der auf die Sinne hören will, ist schwank, weil meine Seele ganz, ganz anders will, die sich in Ehrfurcht vor dem reinen Weib beugt und nichts verlangt als ihrer Seele Grüßen. Oh Mona Lisa! Leise geht ein Ton von deinem Bild zu mir durch späte Nacht: ein Ton, der mir von Seelenreinheit kündet, von Heimweh spricht, das auf zum Himmel führt, der von Entsagen redet und von Glück des Friedens, der die rohe Welt nicht kennt. Oh Mona Lisa! Schütze meine Jugend mit deiner Anmut, die vom Himmel ist. Leg deine Hand auf meine Fieberstirn, die sanfte, gute, feine Frauenhand,

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kühl all mein Brennen, das nicht edel flammt, stimm Du mein Lied, stimm Du mein Leben zu gottsuchendem, tiefreinem Seelenklang.361

Unterstützt wird der salbungsvolle Ton und affirmative Gestus durch die ungereimten Blankverse, die ihrem Gegenstand genau das verleihen sollen, was ihm allein in der ersten Versgruppe vier Mal attestiert wird, nämlich „Anmut“ (V. 2, 5, 8, 10). Die zweite und dritte Versgruppe werden durch exclamationes eingeleitet (V. 16 und 35), in deren amplificatio (V. 16: „Dame, Mona Lisa, Weib“) noch einmal die Modelle von Weiblichkeitsvorstellungen aufgerufen werden, die die Mona Lisa-Rezeption seit Pater und Gautier ausmachen. 362 Ludwigs Literarisierung von Leonardos Porträt beschränkt sich allerdings nicht allein auf das Sichtbare, auch wenn das lyrische Ich fast in petrarkistischer Manier die Mona Lisa vom „Mund“ (V. 3) an über den „Hals“ (V. 6) und die „Brust“ (V. 7) abwärts bis zu den „Damenhänden“ (V. 9) beschreibt. Das Akustische, also das, was berühmte und große Kunstwerke zu sagen haben, steht ebenfalls im Zentrum des Gedichts. Deutlich lehnt sich Ludwig bei seiner Verlebendigung der Porträtierten an den Pygmalion-Mythos an und inszeniert die Kunstbetrachtung seines lyrischen Ichs als nächtliche (V. 17, 36), intime Ausnahmesituation, die das Werk und seine Betrachtung noch einmal nobilitieren und seine Einzigartigkeit herausstellen sollen. Den Kult um titanische Größe, den Ludwig seinen porträtierten historischen Personen in seinen Biographien angedeihen lässt, überträgt er im Gedicht auf die verlebendigte Figur des Tafelbildes, die von der Größe ihres Schöpfers profitiert. Gleichwohl lässt sich aber auch ein kategorialer Unterschied in der vom lyrischen Ich vorgenommenen Beurteilung der erotischen und sinnlichen Reize des Porträts im Vergleich zu den vor allem von Pater und in der Rezeption dann um 1900 tradierten Zuschreibungen ausmachen. Auch bei Ludwig wird die Mona Lisa zur Projektionsfigur männlicher Phantasie, doch sind diese eher von unterdrückten bzw. durch Kulturgewinn kanalisierten erotischen und sexuellen Phantasien dominiert. Das „Geheimnis“ (V. 12) und geheime Verlangen, zu dem die Betrachtung des Porträts offenbar verleitet, bleibt unausgesprochen und wird nur angedeutet. Das Kunstobjekt wird kurzzeitig zum erotischen Objekt (V. 21–26), dann aber entsexualisiert und enterotisiert nur noch als „reines Weib“ gedacht (V. 32–34), das sinnliche Triebe gerade zu zügeln vermag und damit dem Kunstwerk moralisierende Qualitäten zuschreibt. Dieses Frauenbild, || 361 Hans Brandenburg: Gedichte. Gesamtausgabe der sieben Bücher. Stuttgart, Berlin 1935, S. 17–19. 362 Vgl. Renner: Mona Lisa – Das „Rätsel Weib“, 1999, S. 139–142; Uekermann: Renaissancismus, 1985, S. 254f.; Hüttinger: Leonardo- und Giorgione-Kult, 1978.

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projiziert auf das berühmteste Kunstwerk der Welt, profitiert sowohl von den Diskursen der Femme fatale um 1900 als auch von der Aura der Größe um ihren Schöpfer. Die Anschauung gerät zur offensiven Verteidigung kunstgeschichtlicher Höhepunkte und Höchstleistungen, flankiert von einer sublimierten Triebkontrolle, die im Grunde gegen den erotisch aufgeladenen Mona Lisa-Kult der Jahrhundertwende anschreibt aber – anders als Tucholsky – die lyrische KunstRezeption nicht zur Parodie und Satire hin öffnet.

Kaum weniger berühmt als Leonardos Mona Lisa sind Michelangelos Skulpturen (David, Moses, Sterbender Sklave, Nacht) und seine Freskenmalerei in der Sixtinischen Kapelle (Erschaffung Adams, Jüngstes Gericht). Ähnlich wie bei der Mona Lisa und ihren Literarisierungen lässt sich auch hier ein Nebeneinander unterschiedlicher literarischer Rezeptionslinien und Deutungsangeboten in der Zeit von 1918 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten. Wenn auch die vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von nationalistischer Seite aus betriebene publizistische ‚Eindeutschung‘ Michelangelos durch Autoren wie Herman Grimm, Albert E. Brinckmann und Henry Thode in den 1920er Jahren sowohl in Gedichten als auch in Prosatexten kaum mehr zu finden ist, so bleiben Vorstellungen von übermenschlicher Größe und titanischer Schaffenskraft bei manchen Autoren präsent. Tatsächlich verlagert sich der Schwerpunkt der MichelangeloBetrachtung einerseits auf die Werke selbst und stellt das noch im späten 19. Jahrhundert dominierende Interesse an der Persönlichkeit des Künstlers zurück. Andererseits interessieren sich Dichter-Künstler wie Ernst Penzoldt in seinen drei Sonetten Michelangelo an Tommaso Cavalieri (1929) und seiner Erzählung Tommaso Cavalieri (1925) 363 oder Emil Ludwig in seiner 1930 erschienenen Lebensdarstellung Michelangelo364 ebenfalls für Charakteristika wie Michelangelos Einsamkeit, Zerrissenheit und seinen Drang zur (nie erreichbaren) Vollkommenheit, wie sie von den oben genannten Autoren des späten 19. Jahrhunderts popularisiert wurden, und verlagern den Schwerpunkt ihrer Michelangelo-Texte um Fragen

|| 363 Ernst Penzoldt: Michelangelo Buonarotti an Tommaso Cavalieri. In: Das Münchner Dichterbuch. Hg. von Arthur Hübscher. München 1929, S. 118–120; Ernst Penzoldt: Tommaso Cavalieri. In: Ders.: Die Erzählungen. Hg. von Ulla Penzoldt und Volker Michels. Frankfurt am Main 1992 (Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag von Ernst Penzoldt, Bd. 5), S. 9–26; zu Penzoldt als Dichter und Künstler vgl. zusammenfassend den Artikel sub verbo von Marina Rauchenbacher. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin, Boston 2011, S. 606–611. 364 Emil Ludwig: Michelangelo. Berlin 1930.

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nach künstlerischen Idealen (Penzoldt) oder künstlerischer Sendung (Ludwig).365 Sie orientieren sich damit dezidiert nicht an der deutsch-nationalistischen Projektion eines Künstlerheroen mit „faustischer Natur“ und „deutscher Seele,366 sondern schließen eher an Conrad Ferdinand Meyer und seine Michelangelo-Gedichte vor allem der 1880er Jahre an (Michelangelo und seine Statuen, 1880/82; Il Pensieroso, 1890), für die bereits in Kapitel II., 5 ein gewandeltes MichelangeloBild nachgewiesen werden konnte. Autoren, die wie Josef Weinheber (Von der Kunst und vom Künstler, 1936; Sonette an die Nacht, 1936) oder Hans Friedrich Blunck (Michelangelo und Vittoria Colonna, 1941) den Blick vom Werk auf den Renaissance-Künstler mit seinem literarisches Schaffen richten und unter anderen ideologisch-weltanschaulichen und ästhetischen Vorzeichen fast gleichzeitig mit Brecht Michelangelo wieder zum (deutschen) Künstlertitanen erheben oder sich in verehrungsvoller Haltung den Werken Michelangelos widmen wie Hans Riehl, Hans Joachim Haecker (Werke Michelangelos, 1945), Hans Riehl (Bildwerke von Michelangelo Buonarotti gedeutet von Hans Riehl, 1946) oder Gustinus Ambrosi (Sonette an Michelangelo, 1948) sind vom parodistischen, kritischen Zugriff auf den Renaissance-Künstler abzugrenzen und werden im folgenden Kapitel (IV., 4) noch behandelt. Trotz seiner Freundschaft mit dem politisch und sozial engagierten Maler Hans Tombruck, der Illustrationen und Zeichnungen zum Leben des Galilei (1943) und zur Mutter Courage (1941) entworfen, und George Grosz, der unter anderem Brechts Kinderbuch Die drei Soldaten (1932) illustriert hat, ist Brecht vor allem als Vermittler chinesischer Kunst in Erinnerung geblieben.367 Impulse aus der europäischen Bildenden Kunst sind von der Forschung bisher für Bertolt Brechts literarische Werke vor allem für seinen 1934 fertig gestellten Dreigroschenroman und

|| 365 Vgl. Niklaus Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur. Beitrag zur Geschichte der Künstlerdichtung. Freiburg/Schweiz 1969 (Seges, Bd. 12), hier S. 115ff. bzw. 151ff.; Oberholzer geht auch knapp auf das 1938 erschienene Drama Michelangelo. Ein Schauspiel des Bildhauers und Dichters Gustav Eberlein ein (S. 86–89), das die Popularität des Künstlers in der Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal unterstreicht. 366 Imorde: Michelangelo Deutsch! 2009, S. 9. 367 Zum Überblick Joanna Wolf: Bertolt Brecht. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 113–117; Helmut Gier: Brecht und die Buchgestaltung. In: Brecht in der Buchkunst und Graphik. Ausstellung aus den Beständen der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg und der Sammlung Volkmar Häußler Jena. Augsburg 8. Juli bis 3. September 2006. Begleitband mit einem Katalog von Volkmar Häußler. Hg. von Helmut Gier. Augsburg 2005 (Showbook der Verlagsgemeinschaft Augsbuch, 1), S. 9–16.

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mit Blick auf die Entwicklung einer marxistischen Ästhetik untersucht worden.368 Gerade für Brechts politische Haltung und seine Vorstellung des Zusammenwirkens von Literatur und Bildender Kunst gewinnt das Werk Pieter Bruegels d.Ä. in den 1930er Jahren an Bedeutung. Bei der Konzeption des Dreigroschenromans und der Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten von Literatur und Kunst im Sinne einer Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und einer Verbesserung der Produktionsbedingungen spielt für ihn der an Bruegel entwickelte und geschulte „Verfremdungseffekt“ eine zentrale Rolle. Brecht bewunderte Bruegels Umgang mit Bildtraditionen in seiner Kreuztragung Christi (1564, Abb. 88) und im Zug der Blinden (1568, Abb. 89) und deutete die Werke als avancierte, subversive Stellungnahmen und Symbolbilder einer verkehrten Welt. Für seinen Dreigroschenroman, vor allem für die Konfrontation der Dockarbeiter mit den Demonstranten erinnerte er sich an seine Bruegel-Studien und sah in der Konstellation das „Totalbild menschlicher Verblendung“.369

Abb. 88: Pieter Brueg(h)el d.Ä.: Kreuztragung Christi (1564)

In seinen kurzen Studien zu Bruegel attestiert Brecht dem niederländischen Maler, einer der „größten Erzähler“370 zu sein, der in seine „Gemälde Meinungen

|| 368 Vgl. Walter E. Schäfer: Pieter Brueghel der Ältere und Bertolt Brecht. In: Arcadia (1972), S. 260–271. 369 Ebd., S. 271. 370 Bertolt Brecht: Eine Verfremdungstechnik in der Malerei des Älteren Breughel. In: Ders.: Schriften 2, Teil 1. Hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main 1993 (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22), S. 271.

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hineinzumalen“ pflege und seine Gemälde durch „Widersprüche“371 komponiere, und damit das „Treiben der Menschen als so verkehrt“ darstelle.372

Abb. 89: Pieter Brueg(h)el d.Ä.: Der Blindensturz (1568)

Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und der politischen Ordnung prägen ebenso wie der für das Medium der Kunst in Anspruch genommene Kampfgeist Brechts Positionen zu intermedialen Fragestellungen. Für sein gemeinsam mit seinem Freund Hans Tombruck initiiertes Projekt Lyrik und Malerei für Volkshäuser (1939/40) formulierte Brecht Leitlinien eine Annäherung von Literatur und Malerei, deren Autonomiebestrebungen im zurückliegenden 19. Jahrhundert er kritisiert. Beide Medien sollten gemeinsam auftreten, „und ihre Allianz soll von einer neuen Art sein“.373 Mithin sind die in seinem kurzen Aufsatz zum Zusammenwirken von Literatur und Bildender Kunst auch für Brechts MichelangeloAuseinandersetzung fruchtbar zu machen, die gleichzeitig entstanden sind. In der literarischen Deutung von gleichzeitig entstandenen oder älteren Kunstwerken macht Brecht Synergieeffekte aus, die dem politischen Künstler erlauben, stärker in die Gesellschaft hinein wirken zu können:

|| 371 Brecht: Verfremdungstechnik in den erzählenden Bildern des älteren Breughel, 1993, S. 270. 372 Bertolt Brecht: Über den V-Effekt beim älteren Breughel. In: Ders.: Schriften 2, Teil 1. Hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22), S. 271. 373 Bertolt Brecht: Lyrik und Malerei für Volkshäuser. In: Ders.: Schriften 2, Teil 1. Hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22), S. 575–579, hier S. 575; zur Zusammenarbeit mit Tombrock vgl. auch Eva Meyer: Bertolt Brecht und Hans Tombrock. Eine Künstlerfreundschaft. In: Bertolt Brecht und Hans Tombrock. Eine Künstlerfreundschaft im skandinavischen Exil. Hg. von Rainer Noltenius. Essen 2004 (Schriften des Fritz Hüser Instituts, Reihe 1: Ausstellungskataloge, Bd. 11), S. 37–124.

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Jedoch entlastet auch die Vereinigung der beiden Künste jede von ihnen. Jeder Künstler, der heute seine Kunst zur Sache des Volkes und die Sache des Volkes zu der seinen machen will, kennt die Schwierigkeiten, seiner Kunst eine große gesellschaftliche Funktion zu verleihen. Die Unruhe der Massen, welche von der Existenzunsicherheit jedes Individuums in den gewaltigen Kämpfen unserer Zeit herrührt, ist ein zu wertvolles Element der Entwicklung und des Fortschritts, als daß sie von der Kunst nur als störender Faktor abgetan werden dürfte. Es fällt dem Künstler aber sehr schwer, alle die Fragen, welche das Volk wie jedem Produzierenden und jedem Mitkämpfer auch ihm stellt, im Rahmen seiner besonderen Kunst zu beantworten.374

Im Falle seiner wohl Fragment gebliebenen Michelangelo-Gedichte Kritik an Michelangelos „Weltschöpfung“ und (Vermutliche) Antwort des Malers (1938) ist Dichtung für die „Sache des Volkes“ als programmatische Korrektur heilsgeschichtlicher, religiöser Vertröstungen zu werten, für die Michelangelos Schöpfungsdarstellung als Symbolbild interpretiert wird: Kritik an Michelangelos „Weltschöpfung“ 1 Dies Bildnis, das er von der Schöpfung machte Versteh ich nicht. Wie konnt er so was glauben?! Das heißt: der Menschen Wahn ins Schwarze schrauben! Ich werf ihm vor, daß er es nicht bedachte.

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2 Ich gönne jedem, daß er tot ist, und verachte Nicht den, der Sorge trüg zurückzukehren Um nunmehr vor der Welt sich zu erklären Warum er auf ihr machte, was er machte. 3 So machte er ein Bild, wo ihr Gott seht Wie er den Menschen auf Granit stellt und vergeht Statt den vergehn zu sehn und selber zu verweilen? 4 Welch ein Betrug! Wie konnt er sowas glauben? Das heißt: der Menschen Wahn ins Schwarze schrauben! Und das – um ein Papier gut einzuteilen!

|| 374 Ebd., S. 578.

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(Vermutliche) Antwort des Malers 1 Was ihr von mir Totem bekommt, ist das Was er dem Irrtum abpreßte, um es Dem Irrtum zu hinterlassen. Den zehnten Teil von dem, was ich wollte Habe ich gemalt, zehnmal soviel, als ich sah Ihr Seht den hundersten davon. 2 Da er sich auf einem Felsen vorfand, dachte er, Zeit seines Lebens, Felsen seien sicher. Denn er dachte nur, um sicher zu sein.

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Doch ist in Wahrheit sicher nur, was ohne Halt ist. Was lebt, ist nur nicht fertig. Gott Allein ist vergänglich. Darum malte ich ihn so, daß er entkommt. Wenn er im Flug geschaffen hat. Und ihn so malend Glaube ich nichts Schlimmeres getan zu haben als er Als er mich schuf. 375

Nicht der Künstler Michelangelo und auch nicht sein Werk stehen im Mittelpunkt der beiden Gedichte, sondern der bildlichen Darstellung selbst, die biblische Schöpfungsgeschichte und damit die Allianz von Bildender Kunst und christlicher Religion (Abb. 90). Diese Tendenz, Kunstwerke vor allem von ihrem Thema und Gegenstand her zu betrachten und lyrisch zu deuten, konnte schon bei Konrad Weiß und Rudolf Alexander Schröder beobachtet werden (Kapitel IV., 2). Der ikonographische Gegenstand wird von Brecht hier aber nicht im Sinne einer poetisch-emphatischen Reflexion oder religiösen Meditation funktionalisiert, sondern gibt sich als Parodie gerade jener Bilddeutungen zu erkennen, die den kritisierten Schulterschluss von Kunst und Religion poetisch ausformuliert haben, und richtet sich damit – wie schon bei Tucholskys Mona Lisa-Parodie – auch gegen die Rezeptions- und Deutungsgeschichte des Schöpfungsfreskos. Gestaltet ist Brechts Michelangelo-Kritik als Dialog, dessen Michelangelo-Part allerdings in der Überschrift die Verbindlichkeit der Antwort durch das vorangestellte

|| 375 Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 14: Gedichte 4. Gedichte und Gedichtfragmente 1928–1939. Bearbeitet von Jan Knopf und Brigitte Bergheim. Frankfurt am Main 1993, S. 420f.

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„vermutlich“ schon wieder zurücknimmt und einer vom Künstler aus gesehenen Intentions-Forschung damit eine Absage erteilt wird. Die Verurteilung der in den Augen des Kritikers unverzeihlichen Zustimmung des Künstlers, sich für die religiöse Sache instrumentalisieren zu lassen, wird dadurch gleichzeitig auch relativiert, da dem Rezipienten selbst überlassen bleibt, die Position des Kritikers und des Künstlers zu bewerten. Vollendet ist die Sonettform, die Brecht wählte, nur in der Kritik an Michelangelos „Weltschöpfung“, wobei das Reimschema abba/acca/dde/bbe keiner tradierten italienischen oder französischen Tradition folgt. Ansätze, auch die (Vermutliche) Antwort des Malers in Sonettform zu bringen, sind erkennbar, aber offenbar Fragment geblieben.376 Die gewählte Form wird kontrastiert durch den bewusst anti-intellektuellen Ton und die umgangssprachliche Wortwahl sowie unbeholfen wirkende Syntax. Als Betrachter ohne Fachkenntnisse wählt der Sprecher mehrfach zur Beschreibung den Begriff des Bildes (V. 1 und 9) und unterschlägt die tatsächliche Technik der Freskomalerei, in der Michelangelos Schöpfungsszene gemalt ist. Der Sprecher richtet sich auch dezidiert an ein kollektives Gegenüber (V. 9), in dem unschwer das schon oben genannte „Volk“ zu erkennen ist, das es gelte, von heilsgeschichtlichen Versprechungen und Trostangeboten eines vielversprechenden Jenseits zu Lasten einer am Diesseits orientieren Lebenseinstellung zu heilen (V. 10–14). Ein weihevoller Ton oder eine Haltung der Verehrung gegenüber dem gewaltigen Kunstwerk Michelangelos fehlen hier ebenso wie der Anspruch, poetisch mit dem Künstler zu wetteifern.377 Im Gegenteil wird die eigene Sonett-Produktion in der wortgleichen Wiederholung des dritten Verses im zweiten Terzett (V. 13) als Notwendigkeit der ‚Papiereinteilung‘, also der Sonettform ausgewiesen (V. 14). Nichtsdestoweniger ist der zwei Mal wörtlich wiederholte Vers das gedankliche Zentrum des gesamten Dialogs. Er bildet den Kern der Kritik an Michelangelos religiöser Kunst und bewertet gleichzeitig die Religion als menschlichen „Wahn“. Doch ist die (Vermutliche) Antwort des Malers selbst wieder von parodistischen Elementen durchzogen. Zum einen, da der Male eine eindeutige Antwort gegenüber dem erhobenen Vorwurf schuldig bleibt und zum anderen seine Antwort insgesamt als unauflösbares Paradoxon formuliert.

|| 376 Vgl. den Stellenkommentar in Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 14: Gedichte 4. Gedichte und Gedichtfragmente 1928–1939. Bearbeitet von Jan Knopf und Brigitte Bergheim. Frankfurt am Main 1993, S. 670. 377 Vgl. hierzu auch die knappen Ausführungen in einem größeren Kontext von Gisbert Kranz: Michelangelo gedeutet von Dichtern. In: Neue deutsche Hefte 22 (1975), S. 55–66, bes. S. 65.

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Im ersten Teil (V. 15–20) umreißt der Maler das Schaffensspektrum und bewertet das tatsächlich ausgeführte Fresko in einer komplizierten Rechenaufgabe (V. 17–20) nur als einen Bruchteil dessen, was er in der Lage gewesen wäre, zu sehen und zu schaffen. Wenn er sich auf den ersten Blick auch der Meinung des Kritikers im ersten Sonett anzuschließen scheint, indem er Gott als denjenigen bezeichnet, der allein „vergänglich“ ist (V. 25f.), so treibt er doch ein humoristisches Gedankenspiel mit dem Rezipienten, indem er sein Werk nicht als etwas „Schlimmeres“ (V. 29) charakterisiert als den göttlichen Schöpfungsvorgang des Menschen (V. 30). Parodistische ‚Entweihung‘ einer kunstgeschichtlichen Inkunabel wird in Brechts Michelangelo-Gedichten einerseits durch die schnodderige und kritische Haltung des Sprechers im ersten Sonett und seinen Seitenhieb auf die eigene Kunstproduktion erzeugt. Andererseits ist auch die Antwort des Malers nicht als befriedigende Replik auf die Kritik konzipiert, sondern als Selbstdeutung eines Malers, der die Bewertung seines Werkes hinter seiner spielerisch-humorvollen Entgegnung im Grunde schuldig bleibt.

Quantitativ stellen solche Künstler- und Kunstwerk-Parodien mit ihren humorvollen Distanzierungen auch von der langen Rezeptionsgeschichte ihrer Gegenstände nicht die Mehrheit von Bildgedichten für die Zeit von 1918 bis 1945 dar. Sie sind aber für die lyrische Künstler- und Kunstwerkrezeption bedeutsam, weil sie einen neuen Weg in der Auseinandersetzung mit denen als Höhepunkte der Kunstgeschichte geltenden Werken beschreiten und den Bruch mit traditionellen Epitheta und einer überkommenen Künstlerverehrung bewusst suchen. Im Falle von Robert Walser und seiner van Gogh-Rezeption haben sich daneben auch biographische Bezüge gezeigt. Das seit dem späten 19. Jahrhundert kolportierte Bild des wahnsinnigen Künstlers wird unter andere Vorzeichen gestellt und die Auseinandersetzung mit dem niederländischen Maler und seinem Werk auch als Selbsttherapeutikum und Warnung aufgegriffen und literarisiert. Daher rührt auch – neben anderen Gründen – die Distanzierung von van Gogh. Ikonen der Kunstgeschichte wie Leonardos Mona Lisa oder Michelangelos Schöpfungsfresko in der Sixtinischen Kapelle eignen sich aufgrund ihrer überwiegend apologetischen, durch existentiell aufgeladene Zuschreibungen auf Verehrung ausgerichteten bisherigen Deutungsgeschichte und ihrer umfangreichen ästhetischen wie weltanschaulichen literarischen und kunstgeschichtlichen Würdigungen bei den behandelten Autoren besonders dazu, mit den Mitteln der Parodie und satirischen Überzeichnung jene Anschauungs-Muster zu desavouieren und die Kunstwerke – aber auch die Künstler – gleichzeitig zu entheroisieren. Damit wird der Blick (wieder) frei gemacht auf das eigentlich Sichtbare. Die zunehmende Beschäftigung mit dem Medium Fotografie nach dem Ersten Weltkrieg und die

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Dominanz auch visueller Medien insgesamt in der Weimarer Republik führten nicht zu einer signifikanten Zunahme von Gedichten auf Fotografien. Als Dichtungsgegenstände gewählt und literarisiert wurden vornehmlich und vor allem Kunstwerke, deren lange Rezeptions- und Deutungsgeschichte Steilvorlagen für die parodistische Auseinandersetzung mit ihnen lieferten. Synergieeffekte von montierter Fotografie und dazugehörigem Text bzw. Gedicht konnten zwar bei Tucholsky in seinem Deutschland-Buch konstatiert werden. Dies bleibt aber in der Weimarer Republik die Ausnahme.

4 Die Rückkehr der Heroen und künstlerischer Führer-Dienst? Michelangelo und Rembrandt im Dienste der Ideologie (Josef Weinheber, Hans Friedrich Blunck, Agnes Miegel) Auch Dichter, die der nationalsozialistischen Ideologie und den Kunstvorstellungen der neuen Machthaber nach 1933 in Deutschland nahestanden, greifen auf Künstler der Vergangenheit und deren Werke zurück, um an ihnen eigene ästhetische, ideologische, biographische und kulturhistorische Überzeugungen oder Positionen zu erproben und zu reflektieren. Solche Autoren stehen im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Der österreichische Dichter Josef Weinheber feierte Hitler in zahlreichen Gelegenheitsgedichten mehrfach als „Deutschlands Genius“ oder „Ritter und Erlöser“, begrüßte mit seinem Hymnus auf die Heimkehr (1938) Österreichs Anschluss an Hitler-Deutschland und wurde bereits am 18. Dezember 1931 Mitglied der (damals noch verbotenen) österreichischen NSDAP.378 Als Berufsschriftsteller, der seine Texte und Verse nicht als Nebenprodukte privater Kontemplation verstand, sondern sie vielmehr mit einem gewaltigen ästhetischen Anspruch versah, profitierte er, der noch in den frühen 1930er Jahren bis zu seinem Durchbruch mit dem Gedichtband Adel und Untergang (1934) recht erfolglos und wenig beachtet worden war, wie kaum ein zweiter von der nationalsozialistischen Kulturpolitik.379 Weinhebers Rolle im und seine Funktion für den

|| 378 Einen zuverlässigen, weit gefassten Einblick in die Verstrickungen deutscher Autoren mit dem NS-Regime bietet immer noch Günter Scholdt. Auf die relevanten Passagen bei ihm sei hier zunächst verwiesen: Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919– 1945 und ihr Bild vom „Führer“. Bonn 1993, S. 52; überblickshaft zu Weinheber als ‚politischem‘ Dichter vgl. auch Albert Berger: Dienende Kunst. Lyrik im öffentlichen Raum 1938–1945 am Beispiel Josef Weinhebers. In: Die „österreichische“ nationalsozialistische Ästhetik. Hg. von Ilija Dürhammer und Pia Janke. Wien, Köln, Weimar 2003, S. 145–158; Albert Berger: Dichterzwiespalt unter dem NS-Regime: „Ende gibt sich als Vollendung“. Josef Weinhebers Lyrik der vierziger Jahre. In: Konstrukt und Dekonstruktionen. Aufsätze zur österreichischen Literatur. Hg. von Edward Białek, Arletta Szmorhun und Iwan Zymomrya. Dresden 2013, S. 151–167. 379 Vgl. Albert Berger: Josef Weinheber und der Nationalsozialismus. Zur politischen Biographie des Dichters. In: Macht Literatur Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus. Hg. von Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher und Sabine Fuchs unter Mitarbeit von Helga Mitterbauer. Wien, Köln, Weimar 1998 (Fazit, Bd. 2), S. 185–201, bes. S. 185–190; Jeanette Lee Atkinson: Josef Weinheber: Sänger des Austrofaschismus? In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. von Jörg Thunecke. Bonn 1987 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft), S. 403–419, hier S. 403. https://doi.org/10.1515/9783110700732-015

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nationalsozialistischen Machtstaat wurde lange Zeit nicht weiter hinterfragt und erregt bis in die Gegenwart noch die Gemüter in der Forschung. Eine breite Forschung zu einzelnen Werken gibt es bislang nicht und die überschaubare Anzahl von Studien ist meist überschattet von ideologisch grundierten Vorwürfen, wie sie namentlich zwischen dem Klagenfurter Germanisten Albert Berger und dem Wiener Literaturwissenschaftler Christoph Fackelmann jeweils gegen den anderen gerichtet vorgetragen wurden. Dabei muss gesagt werden, dass Bergers 1999 erschienene und zurecht gelobte Monographie380 sowie seine zahlreichen Einzelbeiträge zu Weinheber beileibe nicht, wie der Vorwurf von Fackelmann lautet, von einem „aufklärerischen Impetus und polemischen Nachdruck“381 gegenüber Weinhebers Leben und Werk dominiert werden, sondern Berger im Gegenteil mehr zur historischen Erschließung von Weinhebers Werken und Wirken beigetragen hat als Fackelmanns 2005 erschienene Dissertation.382 Fackelmanns Vorwürfe, Berger blende etwa die Bedeutung von Karl Kraus’ Sprachvorstellung für Weinheber aus und sei nur an einer einseitigen Darstellung Weinhebers interessiert, läuft insofern ins Leere, als Berger sehr wohl und differenziert etwa auch Weinhebers kritischen Blick auf Deutschland und die Deutschen als „Eroberer“ nach seiner Deutschland-Reise 1938 thematisiert und Fackelmann selbst Weinhebers Verstrickungen in den NS-Staat ausblendet und als unbedeutend für das Werk-Verständnis hinstellt, was Berger wiederum in seiner Rezension zu Fackelmanns Arbeit zurecht moniert.383 Zuzustimmen ist Fackelmann jedoch, wenn er || 380 Vgl. die Würdigungen von Ralf Georg Bogner: Rez. zu Albert Berger: Josef Weinheber. In: Sichtungen 3 (2000), S. 130–136; Konstanze Fliedl: Rez. zu Albert Berger: Josef Weinheber. In: Arbitrium 19 (2001), S. 230–233. 381 Christoph Fackelmann: Was kann und was muß Forschung zum Werk Josef Weinhebers leisten? Zur Situation nach dem Erscheinen von Albert Bergers Monographie Josef Weinheber 1892–1945. Leben und Werk – Leben im Werk, im 110. Jahr nach der Geburt des österreichischen Lyrikers. In: Jahrbuch der Österreichischen Goethe-Gesellschaft 106/107 (2002/2003), S. 218– 232, hier S. 218; Fackelmann wirft Berger auch vor, zu sehr an den Studien von Uwe-Karsten Ketelsen und Klaus Amann orientiert zu sein, vgl. S. 219 und 223. 382 Vgl. Albert Berger: Josef Weinheber 1892–1945. Leben und Werk – Leben im Werk. Salzburg 1999; Christoph Fackelmann: Die Sprachkunst Josef Weinhebers und ihre Leser. Annäherungen an die Werkgestalt in wirkungsgeschichtlicher Perspektive. Wien 2005 (Literarhistorische Studien XI/1 und XI/2); auf die relevanten Studien von Berger wurde bereits hingewiesen, vgl. Berger: Josef Weinheber und der Nationalsozialismus, 1998; Ders.: Dienende Kunst, 2003; Ders.: Dichterzwiespalt unter dem NS-Regime, 2013. 383 Vgl. Albert Berger: Wien, Österreich und das Reich. Das Scheitern des Dichters Josef Weinheber im Spannungsfeld von Nationalsozialismus, Patriotismus und ‚innerer Emigration‘. In: Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis. Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Hanni Mittelmann und Armin A. Wallas. Tübingen 2001, S. 195– 207; Albert Berger: Rez. zu Christoph Fackelmann: Die Sprachkunst Josef Weinhebers. In:

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konstatiert, dass es an literarturwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Weinheber fehle und nur wenige interpretatorische Einzelstudien trotz der Bedeutung des Autors vorliegen.384 Dieser Mangel kann in der vorliegenden Arbeit natürlich nur ansatzweise behoben werden, wenn es um Weinhebers Literarisierungen von Bildenden Künstlern geht. Weinhebers lyrische Michelangelo-Anverwandlungen in den beiden Sonettkränzen Von der Kunst und vom Künstler (1935) und An die Nacht (1936), die zur Gedicht-Sammlung Späte Krone (1936) gehören, lassen sich indessen nicht auf eine plumpe, an Bewertungskriterien und ästhetischen Vorgaben nationalsozialistischer Kunst- und Kulturpolitik orientierte Künstler-Rezeption reduzieren. Dafür sind das dort präsentierte Künstlerbild vor dem Hintergrund der Michelangelo-Rezeption und die Wahl des Sonettkranzes, mit der auch ein formbewusstes, anspruchsvolles Dichtungsverständnis propagiert wird, zu komplex. Anders dagegen sieht es bei Hans Friedrich Blunck und Agnes Miegel aus. Ihre Dichtungen zu Michelangelo und Rembrandt sind sowohl von der Form als auch vom Inhaltlichen her bewusst einfach angelegt und zeigen eine deutlichere Nähe zu der von ihnen vertretenen politischen Ideologie. Beide, Blunck und Miegel, haben im Oktober 1933 das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Hitler unterschrieben und gehören damit zu jenen Dichtern, die sich gleich nach der Machtübernahme zur Partei und der neuen Staatsführung bekannten. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 bedachte Blunck, der noch im selben Jahr bis zum Oktober 1935 zum ersten Präsidenten der Reichsschrifttumskammer ernannt wurde, mit hymnischen Versen, stilisierte Hitlers Kanzleramt zur Rolle eines Mittlers zwischen Volk und Gott und bewertete die nationalsozialistische Bewegung als erste echte „germanische Demokratie“.385 Auch die als ‚Dichterin Ostpreußens‘ bekannt gewordene Agnes Miegel, die sich noch im Ersten Weltkrieg mit

|| Sprachkunst 27 (2006), S. 185–190; auch in Fackelmanns jüngst erschienener Auswahlausgabe scheint es mehr um eine generelle Apologie zu gehen als um differenzierte Forschung, vgl. Josef Weinheber: Ich werde wieder sein, wenn Menschen sind. Eine Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk. Mit einem Nachtwort und einer Lebenschronik hg. von Christoph Fackelmann. Innsbruck, Wien 2017 (Literaturwissenschaftliche Jahresgabe der Josef-Weinheber-Gesellschaft, 2016/17/18). 384 Vgl. Fackelmann: Was kann und was muß Forschung zum Werk Josef Weinhebers leisten? 2002/2003, S. 219; verwiesen sei auf einen kurzen Beitrag von Wilhelm Kühlmann, der wie Berger für eine unaufgeregte Auseinandersetzung mit Weinhebers Werk plädiert, vgl. Wilhelm Kühlmann: „Schuldig sein und auch – gerichtet“. Ein Versuch zum ‚Fall‘ Josef Weinheber. In: Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit. Hg. von Carsten Dutt. Heidelberg 2010, S. 191–197. 385 Vgl. Scholdt: Autoren über Hitler, 1993, S. 120 und 312.

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dem Vorwurf des Pazifismus konfrontiert sah und zeitweilig die Geliebte des von germanischen Rassenträumen und Judenhass getriebenen Dichters und ParteiFunktionärs Börries von Münchhausens gewesen ist, beteiligte sich schon früh mit Gedichten an der Idealisierung Hitlers zum Retter Deutschlands und der Verklärung des neuen Staates als ‚Morgenrot einer neuen Zeit‘, was in ihrer lyrischen Bewertung des Rheinland-Einmarsches im Herbst 1936 als Revision der Pariser Vorortverträge gipfelte.386 Auch institutionell machte sich insbesondere Bluncks und Miegels literarisches Engagement bezahlt: Sie wurden im Mai 1933 in die Sektion für Dichtung in der Preußischen Akademie der Künste aufgenommen und rückten auf Plätze nach, die zuvor aufgrund politischer ‚Säuberungen‘ – namentlich durch den Ausschluss von Autoren wie Thomas Mann, Alfred Döblin, Ricarda Huch, Rudolf Pannwitz, René Schickele und anderer – frei geworden waren.387 Die dezidierte ideologische Nähe von Josef Weinheber, Hans Friedrich Blunck und Agnes Miegel zum nationalsozialistischen Regime bedeutet implizit nicht zwangsläufig, dass ihre Gedichte und Texte, die sich mit Bildenden Künstlern auseinandersetzen, von diesem Geist geprägt sind oder sich zentrale Aspekte nationalsozialistischer Weltanschauung neben kunstpolitischen und ästhetischen Vorstellungen in ihnen wiederfinden lassen. Gerade mit Blick auf die für Hitler und seine Führungsriege zentrale Rassenideologie und ihren Judenhass trifft das für die ausgewählten Dichter und Texte sicherlich nicht zu. Klaus Vondung hat bereits in einer Studie von 1976 auf die Problematik des Begriffs „nationalsozialistische Literatur“ aufgrund der Unschärfe schon der nazistischen Bewegung selbst hingewiesen.388 Diese Diskussion hat die spätere Forschung bis heute immer wieder aufgegriffen. Nicht alle, die mit ihrem Namen unter dem Gelöbnis treuester Gefolgschaft firmierten oder in die Preußische Akademie aufgenommen wurden, haben miteinander vergleichbare oder ‚gleichgeschaltete‘ nationalsozialistische Literatur produziert. Der Einfachheit halber werden die

|| 386 Vgl. Scholdt: Autoren über Hitler, 1993, S. 49, 58–61 und 84; zu Miegels Dichtungen vor 1919 vgl. auch Georg Milzner: Agnes Miegel erdichtet den Führer. In: Ders: Zwischen Wartburg und Wewelsburg. Deutscher Geist und Nationalsozialismus. Zehn Porträts. Neustadt an der Orla, 2011, S. 369–426, hier S. 407f und 425f. 387 Vgl. die grundlegende Studie von Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Frankfurt am Main 2010 (Fischer, 16306; Die Zeit des Nationalsozialismus), S. 29–31. 388 Vgl. Klaus Vondung: Der literarische Nationalsozialismus. Ideologische, politische und sozialhistorische Wirkungszusammenhänge. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Hg. von Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 44–65, hier S. 44.

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Autoren und ihre Texte aber im Folgenden dennoch als Repräsentanten einer an das NS-Regime gekoppelten Literaturauffassung und Ästhetik bezeichnet. Gleichwohl machen die hier behandelten Autoren mit ihren Gedichten zu Bildenden Künstlern deutlich, dass auch nach 1933 Literatur produziert und publiziert wurde, die nicht in erster Linie oder nur der Beförderung und Stabilisierung des neuen Machtstaates dienen sollte.389 Das Bildgedicht stellt hier keine Ausnahme von der generellen Situation der literarischen Öffentlichkeit und des literarischen Marktes dar. Gerade mit der Übernahme der Regierung und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler – wenn auch nur für kurze Zeit und mit anderen Mitteln daneben – gezwungen, ihre „militante Agitationspropaganda“ gegen die Politik und Kultur der Weimarer Republik zumindest vordergründig „staatstragender“ erscheinen zu lassen.390 Trotz der grundsätzlichen Zuordnung der Autoren zur nationalsozialistischen Literatur sollte also grundsätzlich unterschieden werden, ob die ausgewählten Texte ihre Künstler- und Kunstbetrachtung unter völkische, antisemitische, national-konservative, sozialrevolutionäre, anti-liberale oder anti-demokratische Vorzeichen stellen.391 Auf den ersten Blick scheinen die lyrischen Künstler- und Kunstbetrachtungen der drei genannten Autoren zu Michelangelo und Rembrandt tatsächlich auch eher ästhetisch anspruchsvoll konzipierte (Weinheber) oder volkstümlich erzählende Künstlerbilder zu vermitteln (Blunck, Miegel). Betrachtet man aber die Gedichte vor dem Hintergrund der bereits vorgestellten Rezeptionslinien von Michelangelo und Rembrandt, so lassen sich die Berührungspunkte mit einzelnen Aspekten nationalsozialistischer Kunst- und Künstlervorstellungen im

|| 389 Hier nur die wichtigsten Studien, die die genannte Problematik verfolgen: Ralf Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘? In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. von Jörg Thunecke. Bonn 1987 (Abhandlungen zur Kunst, Musik- und Literaturwissenschaft), S. 28–45; Uwe-Karsten Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld 1992, bes. S. 241–257 und 286–304; Joachim Schoeps: Literatur im Dritten Reich (1933–1945). 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. Berlin 2000 (11991), bes. S. 51ff. 390 Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat, 2010, S. 15; Barbian verweist auch auf die seit Hans Dieter Schäfer gängige Formel vom „gespaltenen Bewußtsein“ und Schäfers Relativierung der von der älteren Forschung favorisierten „Bruchthese“ nach 1933, vgl. Hans Peter Schäfer: Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930. In: Ders.: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München 1981, S. 55–71, bes. S. 55ff. 391 Ich knüpfe hier an Schoeps an, der Klaus Vondungs Hinweis der Uneinheitlichkeit von NSLiteratur systematisch weiterdenkt, vgl. Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 2000, S. 25; Schoeps betont auch, dass die Nazis keine ‚normative‘ Ästhetik entwickelt hätten und die historische Forschung sich daher an Schlagworten wie Blut, Volk, Rasse, Heroismus, Kampf, Gefolgschaft und Mythos orientieren müsse sowie an geförderten Themen und Motiven wie Kampf, Gefolgschaft, Opfer und Führer, Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 2000, S. 51f.

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Dienste der politischen Ideologie aufdecken, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die Gedichte aller drei Autoren – das gilt, bei allem ausgeprägtem Formbewusstsein, auch für Weinheber – verbinden in ihrer Kunst- und Künstlerbetrachtung „Volkstum und Heroismus“ und wählen dafür nicht zufällig Künstler, die schon im späten 19. Jahrhundert schon einmal und trotz ihrer nicht-deutschen Herkunft als germanische Gehaltskünstler kurzerhand eingedeutscht worden waren.392

Josef Weinhebers lyrische Kunst- und Künstlerrezeption wird dominiert von dem Namen Michelangelo. In seiner späten Gedicht-Sammlung O Mensch gib Acht. Ein erbauliches Kalenderbuch für Stadt- und Landleut (1937) kommen noch Albrecht Dürer, Pieter Bruegel d.Ä. und der Tiroler Maler Albin Egger-Lienz, der von der kunsthistorischen Forschung später als Vorläufer faschistisch-nationalsozialistischer Ästhetik eingeordnet wurde, zur Sprache.393 Weinhebers Umgang mit großen Künstlern der Vergangenheit, allen voran Michelangelo, ist eigenwillig. Das betrifft einerseits die gewählte, gleichermaßen anspruchsvolle wie ‚anti-moderne‘ Form des Sonettkranzes und die Herausstellung von Michelangelos Bedeutung als Sonett-Dichter im Gegensatz zu seiner omnipräsenten Wahrnehmung als Bildhauer, Architekt und Freskenmaler.394 Andererseits ist die Funktionalisierung Michelangelos vor dem Hintergrund von Weinhebers eigener Werk-Biographie wiederum symptomatisch: Er bindet seine Auseinandersetzung mit dem großen künstlerischen Universalgenie der Renaissance an seine eigenen

|| 392 Die Hervorhebung von „Volkstum und Heroismus“ ist vor allem in der älteren Forschung vorgenommen worden. Vgl. Vondung: Der literarische Nationalsozialismus, 1976, S. 49f.; dieser Formel hat Wulf Köpke schon früh widersprochen und die „Abgedroschenheit des Volkhaften“ schon für die Zeit um 1937 betont. Für die hier behandelten Gedichte bietet sich diese Verbindung von „Volkstum und Heroismus“ als Deutungsperspektive aber an. Vgl. Wulf Köpke: Volk und Dichtung. In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus. Hg. von Jörg Thunecke. Bonn 1987 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft), S. 153– 176, hier S. 171. 393 Vgl. Josef Weinheber: O Mensch, gib Acht. Ein erbauliches Kalenderbuch für Stadt- und Landleut. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach Josef Nadler und Hedwig Weinheber neu herausgegeben von Friedrich Jenaczek. II. Band: Die Hauptwerke. Salzburg 1954, S. 325–403, bes. S. 348f. (Albrecht Dürer. Selbstbildnis in der Alten Pinakothek in München), S. 338f. (Die Blinden. Nach dem gleichnamigen Bilde von Pieter Brueghel d.Ä.) und S. 363 (Tischgebet. Nach dem gleichnamigen Bild von Albin Egger-Lienz). 394 Zur Einordnung von Weinhebers Sonett-Dichtung vgl. Schoeps: Literatur im Dritten Reich, 2000, S. 189; Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘?, 1987, S. 38f.; ferner auch Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 2017, S. 1050ff.

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Vorstellungen von Künstlertum und konterkariert gleichzeitig – wenn auch nur teilweise – die literarische Michelangelo-Rezeption, wie sie in Kapitel I dieser Arbeit vor allem über die Rezeptionslinie Jakob Burckhardt und Herman Grimm bei Conrad Ferdinand Meyer oder Julius Hübner aufgezeigt werden konnte. Originalwerke von Michelangelo dürfte Weinheber während seiner Italienreise 1925/26 gesehen haben. Doch spielen einzelne Werke für beide Sonettkränze, Von der Kunst und vom Künstler und An die Nacht, eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme ist die in der Florentiner Medici-Kapelle befindliche Skulptur La Notte am Grabmal von Giuliano di Lorenzo de’ Medici (Abb. 27a und 27b). Sie wird im Sonettkranz Von der Kunst und vom Künstler allerdings nicht als aus dem Stein gehauenes Kunstwerk zur Geltung gebracht, sondern fungiert in Anknüpfung an romantische Denktraditionen als Sinnbild und Zeitpunkt der Erkenntnis, womit auch der thematische Horizont von künstlerischer Isolation, Verkennung und Einzelgängertum als leitende Ideen von Weinhebers Künstlerkonzeption konturiert sind (Sonett III, V. 1–4: „Dem Bildwerk vor dem Bildenden gegeben/ward eine Würde aus der andern Welt./Der Künstler doch, in diese hier gestellt,/muß immer wieder ihre Schmach erleben.“). Nach Albert Berger gehören zu Weinhebers „poetischer Tonlage“ der späten Werke vor allem auch „Selbstwertwille, heroische Haltung, Einsamkeits- und Sendungsbewusstsein, Selbstvergessenheit, Rührung, Rückzug des Ich“ auf der einen Seite sowie Heimat und Gemeinschaft auf der anderen Seite.395 Darauf wird noch zurückzukommen sein. Auch im etwas später entstandenen Sonettkranz An die Nacht (1936) wird die titelgebende Skulptur Michelangelos, La Notte, lediglich in kulturkritischer Absicht als Augenblick und Zeitraum von Erkenntnismöglichkeit in Opposition gesetzt zum „Gehirn“ und „Ergrübelt[em]“ (II, V. 11), was mit seiner dezidiert intellekt-feindlichen Stoßrichtung an Gottfried Benns frühe Essays und Gedichte bis zur Mitte der 1920er Jahre gemahnt, die aber neben der Kritik des von Rationalismus, naturwissenschaftlichem Fortschrittsoptimismus und Metaphysikverlust geprägten „modernen Ich“ noch durch Regressionswünsche geprägt waren.396

|| 395 Albert Berger: Josef Weinheber, 1999, S. 171. 396 Weinheber steht hier meines Erachtens in der Tradition einer Moderne-Kritik, die allerdings zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Michelangelo-Gedichte ihren Zenit schon überschritten hatte. Zumindest ist der schärfste Kritiker am naturwissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus und am modernen Individualitätskult konservativ-kulturkritischer Ausrichtung, Gottfried Benn, in seinen Essays der 1930er Jahre von diesen früheren Positionen abgewichen (Züchtung I, 1933; Dorische Welt, 1934; Kunst und Drittes Reich, 1941). Einige der maßgeblichen Texte zum Thema von Gottfried Benn (Unter der Großhirnrinde, 1911; Morgue-Gedichte, 1912; Gesänge, 1913; Das moderne Ich, 1920) waren etliche Jahre vorher erschienen. Alexander von Bormann deutet

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I O Nacht, du holde, wenn auch finstre Zeit! Mich drängt mein nächtiges Herz, von dir zu sprechen. Du schreckliche, die in sein Dunkel schreit! Du Milde, es mit leichtem Griff zu brechen! 5

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Du schwarzer See aus Angst, Gebirg aus Leid, Landschaft mit Seufzerwald und Tränenbächen! Gestrüpp aus Laster, Sumpf der Trunkenheit, Keim, dem verhängt ist, jede Lust zu rächen: Wenn du der Tod nicht bist, wer bist du, Schoß, der mich gebar in diese Flucht von Tagen, darin ich blind und taub und irrend bin? Hier steh ich: nackt: ein bittres Menschenlos. Hilf mir dies Los, hilf mir dich selbst ertragen: Du gibst den Frieden, treibst das Werk dahin. II Du gibst den Frieden, treibst das Werk dahin, wo es beruht: Da tobt kein Zweifel mehr, da steht das Wort in seinem Wortbeginn, da ist ein Garten früh, und nichts ist schwer.

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Es wogt vom untern Sein herauf wie Meer, und in der Purpurflut hangt ein Gespinn von großen Tönen, schönem Ungefähr mit längst verlorner Vielgestalt darin. Das Blut, o hör! Wie rauscht es doch! Das sind die alten Klagen, ist die alte Lust: Gehirn, vergeh! Ergrübeltes, zerrinn!

|| diese Rezeptionslinie an, sein Beitrag konzentriert sich allerdings auf ein anderes Thema, vgl. Alexander von Bormann: Widerruf der Moderne. In: Gottfried Benn (1886–1956). Referate des Essener Colloquiums. Hg. von Horst Albert Glaser. Frankfurt am Main u.a. 1989 (Akten internationaler Kongresse auf den Gebieten der Ästhetik und Literaturwissenschaft, Bd. 7), S. 29–46, hier S. 32f.

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O letzte Weisheit, Wein und Laubgewind, du brausend wilder Sang durch diese Brust! Wer dich in sich fühlt, preist dich, Königin.397

Von zentraler Bedeutung für die literarische Michelangelo-Rezeption bei Weinheber ist der Sonettkranz Von der Kunst und vom Künstler, der im Herbst 1935 entstanden ist. Die Form suggeriert Klassizität und sucht formal und inhaltlich auch den Anschluss an romantische Dichtungstraditionen, womit schon Berührungspunkte mit zeitgenössischen Kunst- und Literaturvorstellungen genannt sind.398 Gleichzeitig wird Michelangelo nicht zur Gallionsfigur einer germanischen Gehaltskunst und politischen Bewegung instrumentalisiert. Die literarische und kunsthistorische Rezeptionsgeschichte des Künstlers wird damit nicht bruchlos fortgeschrieben, sondern nur aufgerufen und variiert. Das vorangestellte Motiv des Sonettkranzes stammt wiederum von Michelangelo selbst. Sein Sonett Nummer 239 nach der Zählung bei Michael Engelhard, Com’esser, donna (1544/45), thematisiert das Verhältnis von Bildendem Künstler und seinem Werk. Gefragt wird nach der Bedeutung des Kunstwerks für seine Entstehungszeit und damit implizit nach dem überzeitlichen Wert von Kunst. Aufgebaut ist der Sonettkranz so, dass durch die Übernahme des ersten Verses von Michelangelos Com’esser, donna („Dies sehn wir, Herrin, zeit- und leiderfahren“, I, V. 1) in das erste eigene Sonett und die von der Kranzstruktur vorgegebene Systematik, die mit fortschreitender Sonettnummer gleichlautende Schluss- und Anfangsverse vorsieht, das

|| 397 Josef Weinheber: An die Nacht (Späte Krone). In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach Josef Nadler und Hedwig Weinheber neu herausgegeben von Friedrich Jenaczek. II. Band: Die Hauptwerke. Salzburg 1954, S. 315–324, hier S. 316f.; auf diesen Sonettkranz wird nur am Rande eingegangen, weil sich bereits im früher entstandenen Sonettkranz Von der Kunst und vom Künstler die wesentlichen Charakteristika von Weinhebers Michelangelo-Bild zeigen lassen. Die Anlage der beiden Kränze ist aber identisch. Auch im Falle von An die Nacht greift Weinheber auf ein Sonett von Michelangelo selbst zurück. Als Motiv ist sein berühmtes Sonett 102 O notte, dolce tempo, benché nero (1535/41) dem Kranz vorangestellt. In den ersten vierzehn Sonetten wird dann jeweils der Reihe nach ein Vers von Michelangelos Sonett als Eröffnungs- bzw. ab dem zweiten Sonett dann auch als Schlussvers benutzt. Nach dem Aufbau des Sonettkranzes ist dann das fünfzehnte Sonett, das Meistersonett, eine (teilweise recht freie) Übersetzung von Michelangelos vorangestelltem Sonett 102. Vgl. Michelangelo: Gedichte. Italienisch und deutsch. Hg. und übersetzt von Michael Engelhard. Frankfurt am Main, Leipzig 1999 (insel-taschenbuch 2299), S. 150. 398 Vgl. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, 1992, S. 308f.; Hanisch: Die regressive Modernisierung des Nationalsozialismus in Österreich und die Funktion der Kunst, 1998, S. 22–26; Schoeps: Literatur und Drittes Reich, 2000, S. 69f. und 189ff.; ferner auch Bernd Peschken: Klassizistische und ästhetizistische Tendenzen in der Literatur der faschistischen Periode. In: Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Themen – Traditionen – Wirkungen. Hg. von Horst Denkler und Karl Prümm. Stuttgart 1976, S. 207–223.

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fünfzehnte, Meistersonett genannte Schlussgedicht wiederum zum Motiv zurückführt und eine recht freie Übersetzung von Michelangelos Sonett präsentiert.399 I Dies sehn wir, Herrin, zeit- und leiderfahren: Dein Recht ist furchtbar, dir zu dienen hart. Du nimmst das Herz, du formst es, seiner Art den Schmerz in hohen Bildern zu bewahren. 5

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Ja, Künstler sein, heißt seine Gegenwart in eine ungekannte Ferne sparen und lernen, daß von allem Wunderbaren nur Eins ihm zukommt: Die Gefahr der Fahrt. Erhabne! Kein Erbarmen, keine Schonung! Freiheit erahnt sich erst an Gitterstäben, und erst zerstörtes Herz wird deine Wohnung. Die Schwachen stehn. Uns Stärkere wirft das Leben in einen Abgrund stündlicher Entthronung. Es ist ein dauernderes Dasein eben. II Es ist ein dauernderes Dasein eben gezahlt mit Blut. Mit bittrer Niederlage der seltne Sieg, und Triumph mit Klage; Angst macht uns stark, vom Staube aufzuschweben.

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Der Tag verhöhnt die Nacht mit ihrer Frage: Was bleibt? Was stirbt? Was reicht? Was fällt daneben? Und nur ein Narr sagt: Dies mein Werk und Weben sei ewig, wie es meinen Namen trage. Was sind denn Namen? Schall. Und wenn sie alle vergingen: Lebten nicht die großen Werke ihr eigen Leben über unserm Leben?

|| 399 Vgl. das Original-Sonett mit Übersetzung bei Michelangelo: Gedichte, 1999, S. 282–285; zur Form des Sonettkranzes vgl. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln, Weimar, Wien 2002, bes. S. 468–474, 577–583 und 620–624.

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Durch uns hindurch, wirkt Gott in dem Krystalle, und alle Ehre sei, aller Ehrfurcht Stärke, dem Bildwerk vor dem Bildenden gegeben! III Dem Bildwerk vor dem Bildenden gegeben ward eine Würde aus der andern Welt. Der Künstler doch, in diese hier gestellt, muss immer wieder ihre Schmach erleben. 5

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Was flach ist, bricht in sein Bereich, ihn prellt zuletzt das Nichts, mit seinem frechen Streben Gott gleich zu sein. Zuchtlose Hände heben die Wände ab von seinem Dunkelzelt. Ihn rettet nur, verzweifelt auszubrechen, in seine Nacht zurück; mit Stolz und Trauer zu heilen sich vom Zugriff der Barbaren – allein zu sein, wenn sie ihn schuldig sprechen: Mann mit dem Dolch und kalter Weltbeschauer, der hingehn muß in seinen weißen Haaren. IV Der hingehn muß in seinen weißen Haaren, von deinem Dienste, Herrin, aufgezehrt, sieht spät: Nicht Raub der ewig Anfechtbaren: Sein eigner Überfluß hat ihn zerstört.

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O Glück, o Jammer! Zwischen Engelscharen und Teufelsspuk gemartert und betört! Zerrissne Brust, von Genien und Mahren benutzt zum Schlachtfeld, wild und unerhört. In Schreien letzter Lust und stumm vor Qualen, begierig nach dem reinen Gotteston, trieb er sich selbst, sein Gut und Bös zu Paaren. Und also schwand sein Herz. Zu hundert Malen Entzweit: versöhnt in jenen Sieg, davon der Schöpfer stirbt, Geschaffnes kommt zu Jahren. V Der Schöpfer stirbt…Geschaffnes kommt zu Jahren und löst sich ab vom Tag, dem es entstiegen. Und anders als die ruhmreichen Fanfaren Geschlagner Schlachten wird dies Geheimnis siegen.

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Das Dunkel Pindars, die erhaben klaren Gebärden Dantes, Platons Tiefe: wiegen sie nicht die Zeiten auf, die ihre waren, und reden uns, wenn selbst die Steine schwiegen? Altar den späten, heilig, fern und hoh, wie mir der Schmerz des Michelangelo, dem er die Herbheit seines Worts gegeben. Und da ich es, das bittre, abermal Erfülle, stark von meiner eignen Qual, so siegt die Kunst – so unterliegt das Leben. VI So siegt die Kunst, so unterliegt das Leben: Der tiefen Angst, daß dieser Leib verweht, wehrt, Auferstehung hoffend, nur Gebet. Doch alle sterben, die am Diesseits kleben.

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Daß aber Gott der Geist nicht untergeht, ist uns das Sinnbild der Gestalt gegeben. Dies Zeichen schauend, dürfen wir erbeben und heilig ahnen: Er, der Traum, besteht. Nicht ewiges Leben (das des Leibes wäre) verbürgt die Kunst. Ihr ist gesetzt, die Flamme des Leids in die Unsterblichkeit zu heben. Da ich mir hier nichts Gültiges begehre, bin ich, zu dauern dort, woher ich stamme, mit ganzer Seele meinem Werk ergeben. 400

Die ersten sechs Sonette rücken weder ein einzelnes Werk Michelangelos in den Mittelpunkt noch wird von einer spezifischen Kunstform gesprochen. Vielmehr wird die Frage nach dem Verhältnis von Künstler und Kunst mit allgemeinen Begriffen wie „Werk“, „Bildwerk“ oder „Geschaffnes“ problematisiert. Die Position, die das lyrische Ich bezieht, ist eindeutig: Das durch das Ingenium und Genie des Künstlers geschaffene Werk überdauert die Zeit und bedarf weder des Kontextes seiner Entstehungszeit noch der Aura seines Schöpfers (Sonett III). Weinhebers literarisches Porträt des Renaissance-Künstlers ist also das Gegenmodell zur

|| 400 Josef Weinheber: Von der Kunst und vom Künstler (Späte Krone). In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach Josef Nadler und Hedwig Weinheber neu herausgegeben von Friedrich Jenaczek. II. Band: Die Hauptwerke. Salzburg 1954, S. 263–272, hier S. 264–267.

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lyrischen Michelangelo-Rezeption seit dem späten 19. Jahrhundert, die den titanischen Künstler-Heros nicht von seinem Werk, sondern das Werk von seiner Persönlichkeit her fasste.401 Diese Apologie des Werks zielt gleichzeitig auf eine Relativierung eines gerade mit Michelangelo auf breiter publizistischer Front etablierten und tradierten Heroen-Kultes. Weinheber macht Michelangelo nicht zum gottgleichen Schöpfer, dessen Kraft und Ingenium menschliches Fassungsvermögen übersteigt, wie das noch durch den Personenkult der Gründerzeit und des späten 19. Jahrhunderts von kunsthistorischer und literarischer Seite befördert worden ist, sondern bringt ihn gewissermaßen auf Augenhöhe und stellt die Kunst und das Werk in den Vordergrund. Merkwürdig ist dabei, dass es bei einem abstrakten Werkbegriff bleibt, die vertretene Position also nicht am Beispiel einzelner Werke Michelangelos untermauert wird. Zumindest trifft das auf Michelangelos Malerei und Bildhauerei zu. Denn im fünften Sonett stellt das lyrische Ich dezidiert den Zusammenhang mit Michelangelos Sonett-Dichtung her und positioniert sich selbst in der Tradition dieser Verse. An dieser Stelle inszeniert der Sprecher sich und seine Dichtung als Wiedergänger Michelangelos (V, V. 9–14):

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Altar den späten, heilig, fern und hoh, wie mir der Schmerz des Michelangelo, dem er die Herbheit seines Worts gegeben. Und da ich es, das bittre, abermal Erfülle, stark von meiner eignen Qual, so siegt die Kunst – so unterliegt das Leben.

Das Sprecher-Ich, das wie hier an zahlreichen anderen Stellen des Sonettkranzes auftaucht und das sich von der Kommunikationssituation her grundsätzlich an die im ersten Sonett apostrophierte „Herrin Kunst“ richtet, ist indessen bewusst mehrdeutig angelegt und deutbar, weshalb auch das semantische Feld des Kunstwerks nicht eindeutig auf eine bestimmte Kunstform, sei es (Sonett-)Dichtung, Malerei oder Bildhauerei, bezogen wird. Schon im ersten Quartett des ersten Sonetts wird von der „Herrin Kunst“ dem Künstler seine Aufgabe zugewiesen, nämlich „den Schmerz in hohen Bildern zu bewahren“ (I, V. 4), wobei bewusst

|| 401 Vgl. Niklaus Oberholzer: Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur. Beitrag zur Geschichte der Künstlerdichtung. Freiburg/Schweiz 1969 (Seges, Bd. 12), bes. S. 46–124. Im Falle Weinhebers verfährt Oberholzer – anders als in den übrigen Kapiteln seiner grundlegenden Studie – wertend und kritisiert Weinhebers Sonettkranz als formalistisches Werk. Vgl. ferner auch Imorde: Michelangelo Deutsch! 2009, hier S. 30–77.

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nicht näher bestimmt wird, ob die „hohen Bilder“ sprachlicher (Gedichte) oder materieller Natur (Skulpturen, Malerei) sind. Einerseits sind in den Ich-Reflexionen und Selbstcharakterisierungen der ersten sechs Sonette deutlich Weinhebers eigene, „leiderfahrene“ (I, V. 1) Biographie und die als „Entthronungen“ (I, V. 13) empfundenen erfolglosen Jahre bis zu seinem Durchbruch mit Adel und Untergang (1934) erkennbar. Andererseits kann das lyrische Ich an anderen Stellen auch als Rollen-Ich Michelangelos gedeutet werden (Sonette IX–XI). Diese bewusste Vermischung von Rollen-Ich und erkennbar auf die eigene Biographie Weinhebers hinweisendem alternativen Sprecher ist ein strukturelles Charakteristikum dieses Sonettkranzes: Dem Zyklus ist ein Sonett von Michelangelo vorangestellt, das durch die vorgegeben Form in der Übersetzung Weinhebers als Meistersonett am Ende des Kranzes steht. Die Sonette Weinhebers (I–XIV) verschmelzen mit dem Michelangelo-Sonett wie die beiden Ichs der einzelnen Sonette miteinander verwechselt und aufeinander bezogen werden können. Das liegt in erster Linie auch daran, dass ja in jedem der Sonette I bis XIV zwei Verse in mehr oder weniger freier Übersetzung auf Michelangelos eigenes Sonett Com’esser, donna zurückgehen. Weinhebers Sonettkranz ist also vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Dichter Michelangelo und betreibt sowohl imitatio als auch aemulatio mit dem Prätext. VII Mit ganzer Seele meinem Werk ergeben, kein Zufall fängt mich mehr in lockrer Schlinge. Du strenge Bahn, mit Wort der ewigen Dinge befiehlst du mir – Und kurz ist dieses Leben. 5

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Gottebenbürtige Stirne du, durchdringe mir diese Nacht! Werkhände ihr, im Streben erprobt, dem Ungewillten Form zu geben, jetzt bleibt mir treu, daß ich die Welt bezwinge! Ich preise euch, von Schöpferdrang besessen, als Werkzeug mein, wie ich mich Werkzeug sehe in Händen jenes Unenträtselbaren. Wer bin ich? – Ich? – Dies habe ich vergessen. Weckt mich, Gewalten, daß – o Sturz und Wehe – ich weiß, wie Zeit und Tod mit mir verfahren. VIII Ich weiß, wie Zeit und Tod mit mir verfahren Verlassen war ich, jetzt bin ich verkannt.

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In trägen, lauen, lahmen Kommentaren Zerbröseln sie den Sturm, den Kampf, den Brand. 5

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Erschütternd kann ein Volk sich offenbaren, das seinem Schicksal letzte Worte fand. Ich wollte meinem Land die Sprache wahren und bin ein düstrer Niemand diesem Land. Nicht ich ging fort, ich wurde fortgestoßen. Nicht Trotz mehr, Gram ist meine Einsamkeit. Und bin ich schuldig, bin ich es im Leiden. Ich sterbe an der Zeit! An meinem großen Zugrundegehen hinwieder stirbt die Zeit. Doch könnt ich Ewigkeit verleihn uns beiden! IX Doch könnt ich Ewigkeit verleihn uns beiden: Mir und dem Volke, dem ich mich verdanke. Wer darf den Früchtetrieb vom Baume schneiden Wie krankes Blattwerk oder dürre Ranke?

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Nie werd ich Kind die Näh der Mutter meiden, ob auch die Mutter mich zu lieben schwanke. Leicht wie im Traum gelingts, mich zu entscheiden. Denn zwischen ihr und mir ist keine Schranke. Ich, Künstler, beuge mich dem weitern Kreise: All, was mir wurde, Gnade, Maß und Kraft, es wurde mir im vorbestimmten Gleise. Dein Antlitz, Volk, dies immer wieder meine formt ich nach deiner Macht und Leidenschaft; fügt ich nach deinem Wink. In Farb . . Im Steine . . X Fügt ich nach deinem Wink, in Farb, im Steine, in Wort und Tönen heilig die Gestalt, so war der Rausch mein Lohn und Licht. Die Eine benommene Stille machte mich bezahlt.

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Was bliebe sonst mein Mühen? Nacht und kleine Hinüberschau in Fremde mannigfalt. Und noch die letzte Liebe wäre keine. Das kleinste Du erwiese mir Gewalt.

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Dort aber, im Geheimnis, bin ich Alle, und in den Tausenden vertausendfacht, erst ganz bei mir, im Guten wie im Bösen; und gebe, ob ich schwebe oder falle, traumwandelnd sicher in der größern Nacht, ein Bild von uns, getreu und formerlesen. XI Ein Bild von uns, getreu und formerlesen, ist mehr als Spiegel, sich darin zu deuten. Es ist das Wort, das wir zu sagen scheuten: Im Kreis die Mitte, in der Flucht das Wesen.

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Stein! Starrer Stein! Durch Mächte nicht noch Thesen Erschütterbar; beredt und stumm den Zeiten. Nach ihrer Art; ein Ding mit zweien Seiten: Daran zu kranken oder zu genesen. Beruhend in sich selbst, gelöst von Leiden, entrückt der Schuld, nicht mehr erreicht vom Spotte: So steht es da. So bleib es aufgerichtet! Stein! Starrer Stein! Dem Einen Sinn verpflichtet: Von ihm in uns, dem ewig gleichen Gotte Zu zeugen. Tausend Jahr nach unserm Scheiden. XII Zu zeugen tausend Jahr nach unserm Scheiden, gib, Herrin, dem gefährdeten Gedicht bei jenen Guten in der Zeit Gewicht, die mir des Lorbeers dunkle Last nicht neiden.

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Den Rauch des Ruhms, ihn will ich gerne meiden. Doch die Bewahrenden entzieh mir nicht! Damit der Nachfahr, wenn der Blick mir bricht, berufen sei, mein Ewiges zu beeiden. Wer spricht von Ruhm? Und was ist seine Gunst, wenn er den Starken flieht, den Schwächling krönt – entgottend Gott, vergötzend das Gemeine? Ihn nicht! Gib mir die Demut, hohe Kunst, daß meine Seele sich daran gewöhnt, wie deine Züge schön, wie elend meine.

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XIII Wie deine Züge schön! Wie elend meine! Ich finstre Erde, und du Flamme ganz! Mein war die Träne um die Gräbersteine, dein ist der Freudentag mit Rausch und Tanz. 5

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Mein war die Sünde, dein ist Herzensreine. Mein war die Schande, dein ist Ruhm und Kranz. Mein war die Schlackenglut mit irrem Scheine, dein ist der adelig vollkommne Glanz. Nur meine brennende und bittre Liebe ist schön wie du. Mag einmal noch an ihr die Menschennacht hinan zur Kunst genesen! Wenn sie ermißt in ihrer Leidenstrübe, was du gewährtest, da ich mit dir rang, und wie dich lieben mir Gesetz gewesen. XIV Und wie dich lieben mir Gesetz gewesen, warst du Gesetz. Und im Gesetz sein heißt ermächtigt sein, den Fesselgurt zu lösen des Schicksals, das uns an die Erde schweißt.

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Freiheit ist innen! Freiheit im Geist! Am nächsten aber steht dem Götterwesen, wer sich gebändigt hat. Kein Frevel reißt ihn aus dem Ring, in den er sie erlesen. Und eine große Heimat wird ihm dort, wenn ihn kein Ort mehr nimmt, kein Vaterwort Mehr bindet an das Haus, an Herd und Laren. Der Tod ist stark. Und beugt sich doch zuletzt. Denn auch dem Tod ist sein Gesetz gesetzt. Die sehn wir, Herrin, zeit- und leiderfahren. 402

Gleichwohl bedient sich Weinhebers Sonettkranz auch kolportierter Michelangelo-Bilder des leidenden, nachdenklichen und zerrissenen Künstlers, dessen Leben und Werk von Kampf und dem Ringen nach Tugend geprägt gewesen sein soll (Sonette VIII–X). Weinheber übernimmt damit, was die Michelangelo-

|| 402 Weinheber: Von der Kunst und vom Künstler (Späte Krone), 1954, S. 266–271.

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Publizistik der späten 1920er und 1930er Jahre von Ferdinand Avenarius, Paul Schultze-Naumburg oder Alfred Rosenberg wiederum ihrerseits von Herman Grimm oder Jakob Burckhardt rezipiert hat.403 Es geht Weinheber allerdings nicht darum, diese Heroen-Geschichte fortzuschreiben. Sie wird lediglich aufgegriffen und integriert in seine Apologie des Werkes und seiner künstlerisch-überzeitlichen Bedeutung, was ja nicht zuletzt durch den Sonettkranz selbst performativ unterstrichen werden soll: „Was flach ist, bricht in sein Bereich, ihn prellt/zuletzt das Nichts, mit seinem frechen Streben/Gott gleich zu sein. Zuchtlose Hände heben/die Wände ab von seinem Dunkelzelt.“ (III, V. 5–8). Erstaunlich sind die in den Sonetten nahegelegten Parallelen von Michelangelo und dem doch weitgehend als Weinheber erkennbaren lyrischen Ich insofern, als es sich bei Michelangelo zwar – nach dem Bild des späten 19. Jahrhunderts – um einen leidenden und nachdenklichen Künstler gehandelt haben mag, aber keineswegs um einen verkannten oder erst spät zu Ruhm gekommenen. Eine (erst) „späte Krone“ schafft sich allerdings Weinheber mit seinen Sonettkränzen und rekapituliert dabei die eigene Biographie mit Blick auf Michelangelo als vita parallela, ohne freilich auf dessen Erfolg in seiner eigenen Zeit einzugehen und damit die Unterschiede zwischen sich und dem Renaissance-Künstler zu markieren. Was Albert Berger für Weinhebers Essay Im Namen der Kunst (1936) für den Künstler als „außergewöhnlichen Menschen“ konstatierte, trifft ebenso und grundsätzlich auf Weinhebers Künstlerbild zu, das er in seinem Sonettkranz zu Michelangelo entwirft: Seine Absicht ist es, „die persönliche, lebensgeschichtlich bedingte heroische Haltung zu einem statisch-normativen Menschenbild umzuformen und zugleich die eigene Sendung zu behaupten“.404 Lehrsatzartig wird das im sechsten Sonett deutlich, in dem auch implizit Weinhebers Vorstellung des eigenen Dichtertums als „Amt“ und seine Dichtung als „Weihe“ zur Geltung kommt (VI, V. 9–14):405

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Nicht ewiges Leben (das des Leibes wäre) verbürgt die Kunst. Ihr ist gesetzt, die Flamme des Leids in die Unsterblichkeit zu heben. Da ich mir hier nichts Gültiges begehre, bin ich, zu dauern dort, woher ich stamme, mit ganzer Seele meinem Werk ergeben.

|| 403 Vgl. Imorde: Michelangelo Deutsch, 2009, S. 90–117. 404 Berger: Josef Weinheber, 1999, S. 198. 405 Diese Aspekte hat die ältere Forschung bereits herausgearbeitet, vgl. Vondung: Der literarische Nationalsozialismus, 1976, S. 49; Johannes Pfeiffer: Die dichterische Wirklichkeit. Versuche über Wesen und Wahrheit der Dichtung. Hamburg 1962, S. 51.

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Wurden in den ersten sechs Sonetten vor allem Weinhebers leidvolle Erfahrung mit dem Ruhm und sein um Geltung und Anerkennung ringendes Dichter- und Kunstverständnis bis zu seinem Erfolg mit Adel und Untergang (1934) in der Bespiegelung mit Michelangelo sichtbar, so rücken die letzten acht Sonette (VII– XIV) doch stärker die Rolle des Künstlers in seiner Zeit und die Bedeutung seiner Herkunft in den Mittelpunkt und öffnen so den Blickwinkel auf die schon angedeutete Nähe von Weinhebers Michelangelo-Rezeption zur nationalsozialistischen Sicht auf den Renaissance-Künstler in den 1930er Jahren. Sowohl im achten als auch im neunten Sonett wird Kunstschöpfung in „Sprache“ (VIII, V. 7) sowie „Farb“ und „Stein“ (IX, V. 14) von ihrer Bedeutung für das Volk her perspektiviert Mit dem Volksbegriff, der in den beiden Sonetten drei Mal vorkommt (VIII, V. 5; IX, V. 2 und 12), greift Weinheber nicht nur auf eine für die nationalsozialistische Politik- und Kunstvorstellung zentrale Kategorie zurück, sondern konturiert diese auch mit der Idee eines reziproken Verhältnisses von Künstler und Volk als kulturelles, weniger als staatlich-territoriales Volkstum: Der Künstler verdankt sein Können und sein Ingenium dem Volk (IX, V. 1–4) und seine Kunst ist in dieser Logik Volkskunst, Kunst aus dem Volk und für das Volk. Gesteigert wird dieser Gedanke in der direkten Anrede des Volkes im letzten Terzett (IX, V. 12–14), in dem die Identität von „Volksantlitz“ und Künstlerpersönlichkeit suggeriert wird.406 Der Gedanke ist nicht neu: Ernst Bertram machte 1920 den erst seit dem späten 19. Jahrhundert identifizierten Isenheimer Altar von Grünewald in seinem gleichnamigen Gedicht (1920) zum Werk des deutschen Volkes und Paul Alverdes erhob in seinem mehrteiligen Gedicht Matthias Grünewald. Fragmente einer Sonate (1922) zum Inbegriff der deutschen Volksseele. Wie schon in den genannten, in Kapitel III., 2.2. dieser Arbeit behandelten Dichtern und Rezeptionszeugnissen geht es auch im Falle Weinheber augenscheinlich um Gemeinschaftsstiftung über Kunstwerke.407 In seinem Albrecht Dürers berühmtem Selbstbildnis im Pelzrock (1500) gewidmetem Gedicht aus dem Zyklus O Mensch, gib Acht (1937) greift Weinheber auf das selbe Denk-Modell zurück, nachdem in reziproker Weise Künstler, Kunstwerk und Volk als Beteiligte für die Entstehung großer Kunstwerke verantwortlich zu machen sind:

|| 406 Vgl. zu Volkstum, Volksgemeinschaft Köpke: Volk und Dichtung, 1987, S. 153f.; Schnell: Was ist ‚nationalsozialistische Dichtung‘?, 1987, S. 33f. 407 Gerade für Österreich und die österreichische Literatur wurde dies besonders herausgestellt von Hanisch: Die regressive Modernisierung des Nationalsozialismus in Österreich und die Funktion der Kunst, 1998, S. 27f.: „Kunst sollte dabei mitwirken, die Modernisierungsschäden zu kompensieren […] Die Ästhetisierung der Politik entwarf Staat und Volksgemeinschaft als totales Kunstwerk.“

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Albrecht Dürer. Selbstbildnis in der Alten Pinakothek in München Von meiner Stirne geht das deutsche Licht. Die Schläfenfurche Traum und Grübeln spricht. Durchsichtig fast, der Braue ferner Schwung nennt heilig unsre Überlieferung. Das treue Aug erfasst die reiche Welt, nichts ist so klein, es werde wohlbestellt. Von meinen Locken geht ein Leuchten still, sie sind des Christus, wo er deutsch sein will. Die Nase, südlich schmal und streng geführt, gibt Maß und läßt der Form, was ihr gebührt. Im Schnurrbart lebt das Volk nach seiner Art: Es ist ein heller, dünner Frankenbart, wie jener, dunkler um das Kinn herum von harter Kraft sagt, Stand und Herrentum. Der Mund, keusch, fest und voller Innigkeit, hat in den Winkeln schon den Schwank bereit, indes die Wange, trauerschön genug, aufzeigt den ewigen deutschen Leidenszug. Es ruht die Hand, Einfalt und Stolz zugleich, dem Mantel auf, als hielte sie das Reich. In diesen Finger, weg- und hergebracht , hab ich gedeutet, was den Künstler macht. In ihnen webt der bildsam hohe Geist, der euch das Rätsel und die Lösung weist. Wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur: Reißt sie heraus, ihr habt sie, klar und pur. Als meines Volkes gültige Gestalt, für alle da, so hab ich mich gemalt. Euch völlig zugewandt ist mein Gesicht. Wend’t ihr euch ab von ihm, so seid ihr nicht.408

Das künstlerische Wirken in „Farb“ und „Stein“ (IX, V. 14), das das Aussagesubjekt selbst für sich in Anspruch nimmt, lässt annehmen, dass im neunten Sonett wieder das Rollen-Ich Michelangelos zu vermuten ist, zumal die beiden maßgeblichen Verse eins und vierzehn ja auch aus Michelangelos eigenem Sonett stammen. Wie im gesamten Sonettkranz wird auch hier keine nähere Angabe über Nationalitäten gemacht, weder in Bezug auf das „Land“ (VIII, V. 8) noch auf das „Volk“ (VIII, V. 5; IX, V. 2 und 12). Das scheint kein Zufall zu sein. Denn so bleibt

|| 408 Josef Weinheber: O Mensch, gib Acht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach Josef Nadler und Hedwig Weinheber neu herausgegeben von Friedrich Jenaczek. II. Band: Die Hauptwerke. Salzburg 1954, S. 325–403, hier S. 348f.

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hinter dem sich der Sprachkunst zuordnenden Ich der Dichter Weinheber (VIII, X) und der als Bildender Künstler markierten Sprecherinstanz Michelangelo erkennbar (IX). In beiden Fällen aber wird künstlerischer Dienst am Volk geschildert und zur Maxime schöpferischer Leistungen erhoben. Dass Weinheber keinen Unterschied in der Zuordnung des italienischen Künstlers und des österreichischen Dichters zum deutschen Volk macht, überrascht wenig. Mit Herman Grimm und seinen Michelangelo-Publikationen hat der Gedanke vom germanisch-deutschen Künstler in der Kunstpublizistik und Literatur breiten Anklang gefunden. Auch der für die Richtlinien einer nationalsozialistischen Kunsterziehung wortführende Robert Böttcher verdeutscht Michelangelo in seiner Propagandaschrift Kunst und Kunsterziehung im neuen Reich von 1933: In Italien war durch Michelangelo eine neue Kunstform geboren worden, eine Kunst, die sich zum nordischen Geiste bekannte, eine Kunst, deren letzte Schönheit nicht in der griechischen Ausgeglichenheit lag, sondern in dem Kampfverhältnis der einzelnen Glieder zum Ganzen, in der Kraft, mit der die Idee der Ganzheit triumphierte über das Wollen der Teile, in der Spannung, die einem zum Bersten groß überall da brüsk entgegentrat, wo es sich um ernste Werke dieser Kunstepoche handelte. Der Deutsche fühlte die Verwandtschaft dieses Geistes mit dem seinigen, er fühlte, daß es eine Brücke gab von der Gotik zu diesem Barock und ging mit gewohnter Leidenschaftlichkeit ans Werk, um auch in diesem Reiche eine neue Kunstepoche einzuleiten.409

Letztlich sind die beiden im Sonettkranz präsentierten Künstlerrollen des Dichters und des Bildenden Künstlers in der Konstellation von Dichter/Künstler, Volk und Machtstaat konzipiert. Am deutlichsten wird das im zwölften Sonett, in dem sich offensichtlich der Dichter an die „Herrin Kunst“ wendet und diese darum bittet, dem „gefährdeten Gedicht“ (XII, V. 2) Gewicht zu verleihen in der Gegenwart und für die Nachwelt. Diese Bitte an die „Herrin Kunst“ gerichtet liest sich gleichermaßen als Appell an die ‚Herren der Kunst‘ im neuen nationalsozialistischen Machtstaat, in dem der Dichter seine Rolle als Genius aus dem Volk definiert und einfordert. Vor dem Horizont der Rezeptionsgeschichte des ‚eingedeutschten‘ Michelangelos wäre wohl kein anderer Künstler besser geeignet gewesen, das eigene ästhetische Selbstverständnis und den dichterischen Anspruch historisch zu bespiegeln.

Weitaus weniger komplex ist der Umgang Hans Friedrich Bluncks mit Michelangelo. Wie Weinheber – dessen Motiv-Sonett von Michelangelo (Com’esser, donna, 1544/45) ebenfalls mit „Michelangelo an Vitoria Colonna“ unterschrieben ist und

|| 409 Robert Böttcher: Kunst und Kunsterziehung im neuen Reich. Breslau 1933, S. 42.

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historisch korrekt der Widmung entspricht – bringt auch Blunck in seinem balladesken, in reimlosen Blankversen verfassten Gedicht den Künstler schon in der Überschrift mit der Dichterin und Adeligen Vittoria Colonna in Zusammenhang, mit der Michelangelo ein auf Bewunderung und Verehrung gründendes intimes Verhältnis gehabt haben soll:

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Michelangelo und Vittoria Colonna Und während durch die engen Gassen Roms Des Frundbergs Knechte kämpfend näher steigen, Der Flamberg glitzt, – liegt der Colonna Haus, Der heiligen Colonna Haus, in Schweigen. Kein Kampf berührt’s. Nur einer, ungegürtet, Versucht dem Tod der Gasse zu entkommen – Trennt sich aus fliehndem Hauf, er kennt das Tor Marmorn das Treppenwerk – er hat’s erklommen! Und Michelangelo, ein sündiger Maler, Den Gottes Wind gestreift gleich glühnden Pfeilen, Stand vor der Fürstin. – Sie wies still zur Bank, Lippengeöffnet: „Bleibet bei mir weilen!“ ER seufzt. Der Mann, der seine Brunst in Rom, Ein Knecht, der seine Lust ausschrie im Bilde, Erschrickt vor ihrer Schönheit erster Nähe. „Herrin, wie kam ich her?“ „ Aus Gottes Milde. Schriebt ihr mir, Michelangelo?“ Sie winkt Nach Briefen, die ihr einer ihrer Leute Im schmalen Kästchen bringt. „Erbrecht sie selbst, Lest sie mir vor und seid mein Gast für heute.“ Des Malers Antlitz glüht in Scham: „Gebt her!“ Die Hand erhebt, als wenn sie’s öffnen werde, Zum Kästchen sich – und schleudert’s jäh ins Feuer. „Verruchte Lieder meiner Ungebärde.“ „So sagt’s mir lieber‘!“ Doch er wiegt das Haupt, Das ohne Ehrfurcht vor den edlen Frauen Wie vor den tiefsten war. Und schweigt und grübelt. Der Finger springt, als zeichnet er im Schauen. „So sprecht, braucht eure Kunst!“ Der hob die Hände Und sah die Fürstin an und fiel in Sinnen. „Ich weiß, ihr, Michelangelo, schriet aus, Ihr zwängt mich noch zum Bild – so wollt beginnen. Ihr saht mich oftmals schon?“ „Sah euch von fern, Ich wartete vor Kirchen, auf den Straßen! So liebt’ ich euch, Colonna!“ „Prahlet’s aus!“ „Und dünkt mich doch, kein Bild gleicht diesen Maßen.“ Der Maler neigt’ sich. Fäuste auf den Knien. „O Narrenkunst, nun ist’s wie all vergebens. Viel Heilige schuf Michelangelo;

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Erst euer Auge ist die Kraft des Lebens. Der hat kein Licht gesehen, Weib, der nicht Auf euch geschaut, er stirbt wie ungeboren. Oh, gebt mich nie mehr an mich selbst zurück! Stürb’ ich für euch, ich hätt’ mich nicht verloren.“ „Ihr sündigt, Maler.“ Und sie hob ihn auf Verzeihend, da sie seine Hände führte Und noch gebeugt ihn segnet’. – „Sagt, was soll’s, Welch eine Kraft ist dein, Du Unberührte?“ Da lächelt’ sie. „Kraft meiner ganzen Liebe!“ Geh, Michelangelo, zu deinem Werke Und stürz den Tag ins ewige Licht hinein. Jenseits des Lebens wart ich deiner Stärke. Knecht römischer Straßen – heut versprech ich mich, Gewaltiger, jenseitig dir zum Gatten. Geh, Michelangelo!“ Der nickt entrückt. – Ein deutscher Hauptmann kommt mit Frundbergs Grüßen An die Colonna, Roms erhabne Fürstin, Er findet einen Riesen ihr zu Füßen – Und sieht, wie dieser, Bartknecht oder Mönch, Sich aufhebt und mit Beten oder Lallen Zum Tore strebt. „Wer war’s?“ Die Fürstin sinnt: „Mir nah, euch nah – und Gott ein Wohlgefallen.“410

Entstanden ist das Langgedicht Michelangelo und Vittoria Colonna 1941. Der Dichter und erste Präsident der Reichsschrifttumskammer Blunck wurde selbst von den Zeitgenossen mit seinen Dichtungen und Romanen als „Beitrag zur nordischen Renaissance“ gefeiert.411 Bruchloser und klarer als Weinheber knüpft Blunck an die Idee eines deutschen Michelangelos an, konterkariert aber ähnlich wie sein österreichischer Kollege die Rezeptionslinie des Künstlerheroen. Wichtiger scheint Blunck die Herausstellung eines volkstümlichen und nahbaren Künstlers. Die historische Szenerie legt er ohne Anspruch auf historische Genauigkeit in das Jahr des Sacco di Roma (1527) und schildert ein privates Stelldichein

|| 410 Nach der Ausgabe Hans Friedrich Blunck: Ausgewählte Werke, hier Bd. III: Hein Hoyer. Balladen und Gedichte. Hamburg 1942, S. 298–300. 411 Vgl. Otto E. Hesse: Hans Friedrich Blunck. Ein Beitrag zur nordischen Renaissance. Jena 1929; zu Blunck ferner: Lawrence D. Stokes: Der Eutiner Dichterkreis und der Nationalsozialismus 1936–1945. Eine Dokumentation. Mit einer Einführung von Kay Dohnke. Neumünster 2001 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 111), zu Blunck S. 239–268; W. Scott Hoerle: Hans Friedrich Blunck. Poet and Nazi Collaborator, 1888–1961. Oxford [u.a.] 2003 (Studies in Modern German Literature, Vol. 97), bes. S. 119–145.

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Michelangelos mit der Fürstin Vittoria Colonna. Die Sonette Michelangelos, vor allem die der Vittoria Colonna gewidmeten, waren ausgesprochen populär und Blunck fasst die aus den Sonetten abgeleitete Beziehung zwischen den beiden in volkstümlicher Manier zusammen.412 Imaginiert und auf einen historischen Moment der Gefährdung während der Kämpfe in Rom hin zugespitzten Höhepunkt wird eine auf gegenseitiger Verehrung, aber auch durch Verzicht auf Leidenschaft und Erotik geprägtes Verhältnis der beiden Künstler Colonna und Michelangelo. Bluncks Michelangelo-Gedicht ist zugleich sowohl ein Rezeptionszeugnis für die seit dem späten 19. Jahrhundert bestehende Kontinuität einer deutschen Michelangelo-Vereinnahmung als auch eine Verarbeitung des aus den Sonetten des Künstlers selbst ablesbaren Verhältnisses zu Vittoria Colonna. Affektgeladene direkte Reden Michelangelos machen den Großteil des Gedichts aus, die wiederum auf die schon oben erwähnten, seit Grimm und Burckhardt kolportierten Charakteristika des von Leidenschaften und Launen dominierten Künstlers anspielen und sich in Bezeichnungen des Erzählers wie „ein sündiger Maler“ (V. 9), der seine „Brunst in Rom […], der seine Lust ausschrie im Bild“ (V. 13f.) und Selbstaussagen wie „verruchte Lieder meiner Ungebärde“ (V. 23) konkretisieren.413 Entscheidend für die Konzeption der Dichtung ist die Einbettung der privaten Handlung in einen politischen Kontext. Zweimal wird im Text der am Sacco di Roma (1527) beteiligte, auf der kaiserlich-habsburgischen Seite Kaiser Karls V. kämpfende deutsche Landsknechtführer Georg von Frundsberg (1473–1528) erwähnt (V. 2 und 56). Vor dem Hintergrund eines zwar nicht deutsch-italienischen politisch-territorialen Konflikts um die Herrschaft in Oberitalien, aber eben doch von Soldaten und Landsknechten mit diesen Nationalitäten ausgetragenen Kampfhandlungen gerät die zur friedlichen, von keinem „Kampf berührten“ (V. 5) Idylle des Stelldicheins von Vittoria Colonna und Michelangelo zur Apologie jener deutschen Vereinnahmung Michelangelos, die seit Herman Grimm betrieben worden ist. Literarisch in Szene gesetzt wird die germanisch-deutsche Sicht auf Michelangelo, wie sie einige Jahre früher noch von Robert Böttcher propagiert wurde, indem Blunck der Vittoria Colonna ausgerechnet durch einen

|| 412 Relevant sind die Sonette 234–241 nach der Ausgabe von Engelhard, vgl. Michelangelo: Gedichte, 1999, S. 278–286; bekannt war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Ausgabe der Gedichte von Carl Frey, die auch Weinheber und Blunck für ihre Michelangelo-Gedichte benutzt haben dürften, vgl. Carl Frey: Die Dichtungen des Michelangelo Buonarotti. Hg. und mit kritischem Apparat versehen von C.F. Berlin 1897. 413 Vgl. Imorde: Michelangelo Deutsch, 2009, S. 90–117.

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nicht weiter mit einer Handlung in Erscheinung tretenden „deutschen Hauptmann“ (V. 56) einen Gruß Frundbergs ausrichten und diese wiederum ihrerseits auf die Frage des Hauptmanns, wer denn der zu ihren Füßen Liegende sei, vielsagend antworten lässt „Mir nah, euch nah“ (V. 61) und damit freilich auf die deutschen Bemühungen um Michelangelo als germanischen Gehaltskünstler anspielt, der (historisch) für die italienische Fürstin und (gegenwärtig) einer deutschen Publizistik nahegestanden hat und nahesteht.

Der ‚unklassische‘ Michelangelo, der schon im späten 19. Jahrhundert in Opposition zu Raffael gestellt worden ist und der das harmonische Griechen-Ideal verkörperte, wurde im frühen 20. Jahrhundert schon von Ferdinand Avenarius und später vom Chefideologen der Nationalsozialisten in Sachen Kunst, Alfred Rosenberg, gerade von dieser Perspektive her noch einmal deutlicher gefasst und damit als Verkörperung germanischer Gehaltskunst für eine völkische, nationale und kulturkritische Einbindung brauchbar gemacht.414 Das verbindet ihn mit einem um die Jahrhundertwende durch das Buch Rembrandt als Erzieher (1890) des „Rembrandt-Deutschen“ Julius Langbehn popularisierten niederländischen Künstler Rembrandt. Langbehns in der kulturkritischen Tradition weltanschaulicher Bücher des späten 19. Jahrhunderts stehende Publikation erlebte eine sagenhafte Verbreitung und in unterschiedlichen Fassungen in den ersten drei Jahren bereits 43 Auflagen.415 Zwar hat das Buch die kunsthistorische Forschung zu Rembrandt nicht wesentlich beeinflusst, doch ist seine Bedeutung für das literarisch und publizistisch vermittelte Rembrandt-Bild einer breiten Öffentlichkeit dafür desto größer. Weder die historische Figur Rembrandt noch einzelne seiner Werke sind in Langbehns Buch zu greifen. Von seiner Diagnose eines im ethischen und kulturellen Verfall befindlichen Deutschlands entwirft der Niederdeutsche Langbehn den niederländischen Künstler Rembrandt als „diffuse

|| 414 Vgl. ebd. 415 Vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München u.a. 1996, S. 94–113, hier S. 95. Eine präzise Darstellung der Auflagengeschichte des Buches liegt, soweit ich sehe, nicht vor. Ausgeblendet bleiben muss hier die Frage nach den antisemitischen Tendenzen in den unterschiedlichen Auflagen, knapp hierzu Behrendt: Langbehn, 1996, S. 102f.; Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, 1992, S. 143; eine Neubewertung und Kontextualisierung der vielfach pauschal abgeurteilten Schrift versucht Stefan Breuer: Konservatismus oder Existentialismus? Anmerkungen zu Rembrandt als Erzieher. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Frankfurt am Main 2007, S. 127–147.

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Leitfigur“416, der im Sinne einer zeitgleich um sich greifenden Kunsterziehungsbewegung, die sich pädagogische Anleitungen aus Künstler-Betrachtungen erhoffte, zum Erzieher und zur Führerpersönlichkeit erhoben und zum antiklassischen Ideal einer völkischen und national-konservativen Ethik und Weltanschauung gemacht wird.417 Die schon für Kapitel II., 2.1. skizzierte, von Langbehns Buch ausgelöste Rembrandt-Renaissance um 1900 hat in Gedichten dieser Zeit kaum Anklang gefunden und auch das Interesse an Rembrandt – mit Ausnahme vielleicht der bildkünstlerischen Avantgarde-Strömungen und Künstlergruppen der frühen Dezennien des 20. Jahrhunderts – hat bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sukzessive abgenommen. Fünfzehn Jahre nach dem Tod Langbehns (1907) nahm sich 1922 dessen Adept und Schüler Benedikt Momme Nissen, der mittlerweile zum Katholizismus konvertiert war, eine Neuausgabe des Buches vor und brachte eine nach seinen Worten „autorisierte“ Volksausgabe des Rembrandt-Buches heraus, die – wie schon die Ausgabe von 1890 – breit rezipiert wurde und großen Absatz fand.418 In der ideologischen Gemengelage von Demokratie- und Republikfeindlichkeit auf der einen und der an Rückhalt in der Bevölkerung, vor allem aber bei einer gebildeten Bürgerschicht gewinnenden nationalsozialistischen Bewegung auf der anderen Seite, fielen die kulturkritischen, völkischen und konservativ-restaurativen Ideen Langbehns, die er mit dem Namen des holländischen Künstlers entwickelte, auf fruchtbaren Boden. Auch Agnes Miegel, die in den frühen 1920er Jahren Leiterin der Ostpreußischen Zeitung gewesen und schon als Dichterin Ostpreußens publizistisch in Erscheinung getreten ist, dürfte die Neuauflage von Langbehns Buch gekannt haben – zumindest deuten einige konzeptionelle Aspekte in ihrem lyrischen Künstler-Porträt auf die Kenntnis der von Langbehn tradierten Rembrandt-Vorstellungen hin. Anlass für ihr lediglich mit Rembrandt überschriebenes, kreuzgereimtes und erzählendes Gedicht, das 1929 in den Gesammelten Gedichten gedruckt worden ist, war ein zu diesem Zeitpunkt schon über dreißig Jahre zurückliegendes Erlebnis. Agnes Miegel hatte während ihres dreimonatigen Aufenthaltes in Paris im

|| 416 Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. München 1996, S. 50. 417 Sehr instruktiv die Ausführungen zu Langbehn bei Johannes G. Pankau: Wege zurück. Zur Entwicklungsgeschichte restaurativen Denkens im Kaiserreich. Eine Untersuchung kulturkritischer und deutschkundlicher Ideologiebildung. Frankfurt am Main, Bern, New York 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 717), hier S. 106–194, zu den angedeuteten Kontexten bes. S. 114f., 121f.; ferner auch Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, 1992, S. 128–146. 418 Vgl. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Autorisierte Ausgabe von Benedikt Momme Nissen. Leipzig 1922.

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Jahre 1898 den Louvre besucht und sah dort zum ersten Mal Rembrandts Spätwerk Engel mit dem heiligen Matthäus (1661, Abb. 91), was sie offenbar auch nach dieser langen Zeit in Erinnerung behalten hatte.419 Wie Hans Friedrich Blunck sein Michelangelo-Gedicht, so exponiert auch Agnes Miegel in ihrem Gedicht die lyrische Vergegenwärtigung von Rembrandts Arbeit an einem seiner letzte Werke, Engel mit dem heiligen Matthäus (1661), als private Alltagsszene, um in den folgenden Versen den Künstler im Spannungsfeld von künstlerischem Anspruch und familiären Verhältnissen zu schildern:

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Rembrandt Am schiefen kleinen Fenster eines schmalen Engbrüstgen Hauses in der Prinzengracht Malt Rembrandt bei des Winterabends Strahlen, Der draußen Mast und Segel rot entfacht, Mit welker Hand, die leise von des Weines Verrat bebt, im zerfetzten Pelz bestaubt Und grau wie sein verwirrtes Haar, an eines Weißblonden Engels zartem Kinderhaupt. Und prüfend blickt im letzten Abendlicht Er auf das Bild und lehnt sich an die Wand. Ein Lächeln im verwitterten Gesicht Ruft er zum dunklen Zimmer halb gewandt: „Titus! Hendrike!“ Eine Türe klappt, ein Lichtschein kommt der Schrank und Krüge streift, Die Scheuerbürste reibt, ein Lappen flappt Klatschend und wuchtig auf die feuchten roten Ziegel im Flur, und eine Stimme keift: „Du Narr, was schreist du wieder nach den Toten!“

|| 419 Studien zu Agnes Miegel sind nicht eben zahlreich und teilweise überdies auch problematisch, da es immer wieder auch um die „Erinnerungspflege“ geht. Das betrifft vor allem – wie bei Weinheber und Blunck auch – Gesellschaften, die sich dem Andenken der Dichterin widmen. Untersuchungen zu Miegels Kunstrezeption liegen nicht vor. Harold Jensen hat in seiner schmalen Arbeit die Zusammenhänge teilweise aufgezeigt und erste Ansätze formuliert, allerdings auch hier mit bisweilen fehlender Distanz, wenn etwa von der „jungen Agnes“ (S. 9) gesprochen wird. Vgl. Harold Jensen: Agnes Miegel und die bildende Kunst. Leer 1982 (Jahresgabe der AgnesMiegel-Gesellschaft), zu den referierten biographischen Stationen bes. S. 11–13; die beschriebenen Probleme behandelt Jan-Henning Brinkmann: „Literarische Seniorenzirkel“? Gesellschaften zur Förderung des Werkes von Schriftstellen des „Dritten Reichs“ (Miegel, Kolbenheyer, Blunck). In: Dichter für das „Dritte Reich“. Bd. 2: Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 9 Autorenporträts und ein Essay über literarische Gesellschaften zur Förderung des Werkes völkischer Dichter. Hg. von Rolf Düsterberg. Bielefeld 2011, S. 301–354, zu Miegel vor allem S. 320–309 und S. 313–319.

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Und laut und frech, wie man ein Schimpfwort gellt Am Hafen, wird die Türe zugeschlagen. Ganz reglos steht der Greis. Die Dämmerung fällt. Er senkt das Haupt. In plötzlichem Verzagen Schiebt kindisch er die Unterlippe vor. Ein Zittern geht durch die erschlafften Wangen – – Doch jählings richtet er sich rasch empor Und starrt hinaus zum Fenster. Von dem langen geteerten Vorbau an dem Nachbarhaus, Wo Wochentags Lewy Aschkenas Hängt Bilder und verschlißnen Trödel aus, Dort schimmert durch die Dämmrung, klar und blaß, Der Sabbatkerzen feierliches Licht. Wie eine goldene Brücke geht ihr Leuchten Bis zu dem Bollwerk wo der Glanz sich bricht; Er spiegelt sich wie Gold auf einem feuchten Vermorschten Pfahl, und einer Rogge Bug Glüht wie ein Kupferschild. Weit vorgebückt sieht Rembrandt auf des Lichtes Märchentrug. Sein Antlitz leuchtet kindlich, jäh entzückt, Er fühlt verjüngt die greisen Adern klopfen. Er atmet auf, dehnt die erschlafften Glieder Und pfeift. Aus den verschwollnen Augen tropfen Langsam und heiß zwei große Tränen nieder.420

Zu fragen ist, wie viel von Langbehns Buch und Rembrandtbild in Agnes Miegels Gedicht noch greifbar ist oder sich der Text (nur) als Verschriftlichung eines lange zurückliegenden Kunsterlebnisses charakterisieren lässt. Die Details von Miegels Künstler-Darstellung zeigen einen in die Jahre gekommenen, „mit welker Hand“ (V. 5) malenden und etwas despektierlich mit „erschlafften Wangen“ (V. 25) und einer „kindisch“ (V. 24) vorgeschobenen Unterlippe porträtierten Rembrandt. Auch tragen die Andeutungen auf Rembrandts (historisch nicht nachweisbaren übermäßigen Alkoholkonsum (V. 5), der ebenso wie seine Verarmung in späten Jahren („im zerfetzten Pelz“, V. 6) nur durch die Kunstliteratur und deren volkstümliche Rezeption tradiert und als Mythos am Leben gehalten wurde, nicht gerade dazu bei, Langbehns ethische und ideologische Führer- und Erzieherfigur, geschweige denn seine in der Rezeption als „Geburtshelfer“ biologisch-rassischer Vorstellungen bezeichneten Ideen eines Ariertums zu

|| 420 Agnes Miegel: Gesammelte Gedichte. Jena 1929, S. 35f.

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erkennen.421 Die akustische Szenerie nach Rembrandts vergeblichem Rufen nach seiner zur Entstehungszeit des Gemäldes Engel mit dem heiligen Matthäus bereits verstorbenen Frau Hendrikje und seinem Sohn Titus liest sich von seinem flapsigen, wenig weihevollen Wortbestand („in Lappen flappt klatschend und wuchtig“, V. 16f; „eine Stimme keift“, V. 18) eher wie eine Parodie auf den Haushalt und Schaffensprozess des Künstlers.

Abb. 91: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Evangelist Matthäus mit Engel (1661)

Doch bedienen diese Details – wie schon bei Bluncks Michelangelo-Gedicht – in der Gesamtanlage des Textes das Bild eines nahbaren, privaten Künstlers, dessen Werke ohnehin nicht mehr eigens als Höhepunkte ‚deutscher‘ Malerei gepriesen werden müssen. Vielmehr wird gerade die spätestens mit Carl Neumanns Rembrandt-Buch von 1902, das in den 1920er Jahre zahlreiche Neuauflagen erlebte, diskutierte „Subjektivität“ Rembrandts durch die exemplarische Rückbindung der Entstehung eines Gemäldes an private Kontexte bzw. Schicksalsschläge des Künstlers von Miegels Gedicht aufgegriffen und bedient.422 In den Dichtungen von Blunck und Miegel bleiben demnach die großen Rezeptionslinien des ‚deutschen‘ Michelangelo und des zur Führergestalt erhobenen Rembrandt erkennbar, gleichwohl werden die ohnehin schon von den für die Künstler-Bilder

|| 421 Ketelsen: Literatur und Drittes Reich, 1992, S. 128–147, Zitat S. 128; vgl. auch Berndt: August Julius Langbehn, 1996, S. 107f. 422 Vgl. Carl Neumann: Rembrandt. Berlin 1902; zur Rezeption vgl. auch Stückelberger: Rembrandt und die Moderne, 1992, S. 51–61; Robert W. Rogers: Nationalismus in der deutschen Kunst. Die Forderung nach einer deutsch-nationalen Kunst im Wilhelminischen Deutschland – Eine Analyse anhand der Kunstzeitschrift „Die Kunst für Alle“ unter der Herausgabe Friedrich Prechts 1885–1903. Freiburg im Breisgau 1998, S. 77–90.

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relevanten Schriften des späten 19. Jahrhunderts popularisierten Epitheta und Zuschreibungen volkstümlicher literarisiert und damit natürlich auch entheroisiert und weiter enthistorisiert. Trotz der biographischen Verstrickungen der drei behandelten Autoren mit dem nationalsozialistischen Regime, sind ihre Gedichte auf Bildende Künstler alles andere als ideologische Agitationslyrik. Gleichwohl konnte nachgewiesen werden, dass tradierte Michelangelo- oder Rembrandtbilder zwar aufgegriffen, aber auch im Sinne von durchaus nationalsozialistisch beeinflussten Kunst- und Künstlervorstellungen volkstümlicher und volkhafter Art vor allem bei Blunck und Miegel variiert wurden. Eine bloße Fortschreibung älterer Deutungsmuster wie dem Künstler-Titanen (Michelangelo) und ethisch-ideologischem Erziehungsführer (Rembrandt) wird von den Autoren nicht betrieben, wenn auch diese Zuschreibungen den Gedichten inhärent bleiben. An die Stelle der (nur) anbetungswürdigen Künstlerpersönlichkeit tritt die Herausstellung des geschaffenen Werkes als Gemeinschaftsprodukt von Künstler und Volk sowie die Vorliebe für private Alltagsszenen als Kontext großer Kunst-Schöpfungen. Gerade im Falle Michelangelos und Rembrandt werden alle genannten, bis dahin von den Dichtern aufgegriffenen Rezeptionslinien in Gedichten nach 1945 von Hans Joachim Haecker, Hans Riehl und Gustinus Ambrosi sowie Gottfried Benn und Johannes Bobrowski einer gründlichen Revision unterzogen.

| Teil V:

Das geteilte Bewusstsein: Geistige Neuorientierung, humanistisches Erbe und politische Aktualisierung. Bildgedichte nach 1945 in Ost und West

1 Alte Künstler, neue Republiken und vergessene Avantgarde: Tendenzen in Gedichten zu Künstlern und Kunstwerken nach 1945 In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nehmen für die Dichtung zu Werken der Bildenden Kunst und Künstlern zwei Gruppen von Autoren eine bedeutende Rolle ein. Einerseits werden unmittelbar nach dem Krieg zahlreiche Gedichte und Gedicht-Zyklen von heute weniger bekannten österreichischen Dichtern und Künstlern publiziert, die wie Johann Gunert (1903–1982), Franz Theodor Csokor (1885–1969) oder der vor allem als Maler und Zeichner bekannte Otto Riedel (1906–1991) in den 1930er Jahren bereits aufgrund ihrer konfrontativen, ablehnenden Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime Schreibverbot hatten, ausgewandert waren oder sich aufgrund ihrer zeitweiligen Anbiederung an das Nazi-Regime wie im Falle von Hans Riehl (1891–1965) oder dem von Albert Speer bewunderten Bildhauer und Lyriker Gustinus Ambrosi (1893–1975) nach 1945 rasch rehabilitieren konnten. Sie greifen bei ihren oftmals groß angelegten Gedicht-sammlungen und Gedicht-Zyklen zwar auf Künstler unterschiedlicher Epochen wie Michelangelo, Dürer, van Gogh, Piero della Francesca oder Caravaggio zurück, verbinden ihre lyrischen Kunstreflexionen aber in ähnlicher Weise mit von den Bildgegenständen ausgehenden religiösen Überlegungen, die wiederum nicht selten angesichts der verheerenden Nachkriegszustände in kompensatorisch-consolatorischer Absicht eine geistige NeuOrientierung durch Kunstbetrachtung bieten sollten.1 Andererseits – als zweite Gruppe von Dichtern – suchen bereits vor dem Krieg etablierte deutschsprachige Autoren wie Gottfried Benn und Marie Luise Kaschnitz oder Vertreter einer neuen, aufstrebenden Lyriker-Generation wie – die noch im österreich-ungarischen Czernowitz geborenen – Rose Ausländer und Paul Celan oder Uwe Berger, Johannes Bobrowski, Elisabeth Borchers und Sarah Kirsch durch die Wahl ihrer bedichteten Gegenstände und Künstler einen ideologischen und künstlerischen Neuanfang, indem sie Maler wie Rembrandt, der einige Jahre zuvor noch von

|| 1 Vgl. Albert Berger: Schwieriges Erwachen. Zur Lyrik der jungen Generation in den ersten Nachkriegsjahren (1945–1948). In: Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich. Hg. von Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei und Hubert Lengauer. Wien 1984, S. 191–206; Wolfgang Wiesmüller: Formen religiöser ‚Intertextualität‘ in der österreichischen Nachkriegslyrik (1945–1955). In: Numinoses und Heiliges in der österreichischen Literatur. Hg. von Karlheinz F. Auckenthaler. Bern [u.a.] 1995 (New Yorker Beiträge zur österreichischen Literaturgeschichte, 3), S. 245–268. https://doi.org/10.1515/9783110700732-016

622 | V Bildgedichte nach 1945

nationalkonservativer und völkischer Seite vereinnahmt worden war, neu interpretieren (Kapitel V., 2) oder die von den Nazis als ‚entartet‘ diskreditierten und verfolgten Künstler der Avantgarde-Strömungen um 1900 und der Weimarer Republik wie Ernst Barlach, Marc Chagall, George Grosz, Hans Grundig, Karl Hofer, Wilhelm Lehmbruck oder Karl Schmitt-Rothluff im Gedicht wieder eine Würdigung erfahren lassen und mit ihren Gedichten einen Beitrag zur Rehabilitation dieser Künstler leisten. Allerdings fallen diese Gedichte mit Ausnahme von Rudolf Gahlbecks Sonett-Zyklus zu Ernst Barlach (Ernst Barlach. Sonette um sein Werk, 1951) und Franz Fühmanns drei Gedichten zu Gemälden des antifaschistischen Malers Karl Hofer (Die schwarzen Zimmer, Der Übersetzer, David, 1957) erst in die 1960er Jahre. Ein herausragendes Merkmal dieser Texte ist ein programmatisch auf Rehabilitation der Künstler, Erinnerung an erlebtes Unrecht und Warnung vor Geschichtsvergessenheit ausgerichtetes Konzept von Dichtung, für das biographisch grundiert und beglaubigt repräsentativ die Sonett-Sammlung Gestalt und Zeit. Begegnungen eines Lebens (1966) von Edwin Redslob gelten kann. Der promovierte Kunsthistoriker und spätere Mitbegründer des Tagesspiegels und der Freien Universität Berlin war bis zu seiner Entlassung 1933 durch die Nazis Reichskunstwart der Weimarer Republik. Durch seine Herkunft und Ausbildung bis zur Machtübernahme der Nazis in Kunst- und Intellektuellenkreisen bestens vernetzt, bietet die Sammlung seiner Sonette ein breites Spektrum von Kunstimpressionen, Werkbewertungen und -einordnungen sowie persönlichen Momentaufnahmen der Begegnungen mit Dichtern, Architekten, Komponisten und Künstlern wie Ludwig Thoma, Gustav Mahler, Wilhelm Trübner, Rainer Maria Rilke, Henry van der Velde, Wassily Kandinsky und zahlreichen anderen, die im Anhang jeweils zu jedem Sonett in drei bis zehn Zeilen noch einmal aufgeschlüsselt und erläutert werden.2 Gewidmet ist die Ausgabe „Den Kommenden mit dem Sinnspruch: Dein Woher ist dein Wohin“,3 was das Buch sowohl als Künstler-Retrospektive ausweist als auch die programmatische, erzieherische Zielsetzung markiert. Für unseren Zusammenhang von Interesse sind vor allem die Sonette zu Lovis Corinth, Wilhelm Lehmbruck, Rohlfs – Nolde – Barlach, Wassily Kandinsky und George Grosz. 4 Christian Rohlfs, Emil Nolde und Ernst Barlach werden von ihrer expressionistischen Werkphase als Verkünder magischer Visionen und Apologeten einer Ausdruckskunst konzipiert und Wassily Kandinskys Abstraktionsgebot als Voraussetzung für ein authentisches Kunsterlebnis gedeutet. In beiden Fällen hebt Redslob den avantgardistischen und innovativ gegen

|| 2 Edwin Redslob: Gestalt und Zeit. Begegnungen eines Lebens. München, Wien 1966, S. 95–109. 3 Ebd., S. 5. 4 Ebd., S. 32, 53, 56, 60, 62.

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überkommene Kunstvorstellungen eines „Gestern“ (V. 6) gerichteten Anspruch und die Bedeutung der Maler für die Kunstgeschichte hervor und revidiert damit das in den 1930er Jahren über diese Künstler verhängte Verdikt der ‚entarteten Kunst‘:5 Rohlfs – Nolde – Barlach Drei Magier kamen aus der Nacht gezogen, Im Kind das Heil des Himmels zu erkennen, Es Gottes Sohn, den Herrn der Welt zu nennen, Drei Weise, unter hohem Sternenbogen. 5

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Vom Abglanz ihrer Vision umhüllt, Von Gott gesandt, das Gestern zu vernichten, Das Heute in ein Morgen umzudichten, Drin der Verheißung Segen sich erfüllt. – Und soll ich unsrer Zeit das Gleichnis deuten, So nenne ich drei werkumglühte Namen, Die durch den Frost der Nacht zum Lichte kamen, Das Wunder hoher Prophetie erneuten: Rohlfs, Nolde, Barlach! Und sie sind dem Norden Die Magier eines Morgenlands geworden.

Wassily Kandinsky Wohl jedesmal, wenn ich ein Bildwerk sehe, Das Du gemalt, dem alles, was er schaut, In seiner Rhythmik sich vertraut, Ist mir, als klänge auf in meiner Nähe 5

Dein russisches Schnarren unsrer deutschen Laute. Ich höre Dich, und, wie es Deine Art, Ist Ernst dabei mit Schmerzen bunt gepaart. –

Einmal, als Weimars Himmel drückend graute, Bat ich Dich, uns zum Trost das Wort zu sprechen, 10 Das wie mit Korkenknall aufruft zum Zeichen:

|| 5 Einen Überblick zum Umgang mit Künstlern der Avantgarde im Nationalsozialismus bietet Katrin Engelhardt: Die Ausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin 1938. Rekonstruktion und Analyse. In: Angriff auf die Avantgarde. Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus. Hg. von Uwe Fleckner. Berlin 2007 (Schriften der Forschungsstelle Entartete Kunst, Bd. 1), S. 89–188.

624 | V Bildgedichte nach 1945

„Champagner!“ Und es klang so sprühend, schäumend, Als würd’ ein Bild von Dir perlende Lust. Da ward mir Deine Kunst so recht bewußt, Und was ich kaum geahnt, begriff ich träumend.6

Worum Redslob offenbar bemüht ist, kann nicht als ex cathedra gesprochene Analyse und historische Bestandsaufnahme des Kunsthistorikers Redslob aufgefasst werden. Vielmehr beziehen die Sonette ihre Überzeugungskraft und Stoßrichtung gegen kunstpolitische Maßnahmen, die einen Pluralismus der Kunstrichtungen unterbinden wollten und wollen, gerade aus den im Anhang dokumentierten persönlichen Erlebnissen, was besonders im Sonett zu George Grosz deutlich wird, den Redslob als malenden Sozialkritiker und scharfen Beobachter der politischen Verhältnisse sowie als malenden und warnenden Propheten einer aufdämmernden Diktatur feiert. Als Gutachter im Prozess um Grosz’ Anklage wegen Gotteslästerung nach der Publikation von Szenenbildern aus der Piscator-Bühne zur Uraufführung des Braven Soldtaten Schwejk in einer von Wieland Herzfelde publizierten Ausgabe, die auch die skandalöse Zeichnung Christus am Kreuz mit Gasmaske (1927/28, Abb. 92) enthielt, verteidigte Redslob den Künstler vehement. Historische Einordung, späte Rehabilitation und persönliche Anteilnahme kommen in seinem Sonett zur Deckung: George Grosz Eifernd und unbarmherzig hat er mutig Den Herrschenden den Spiegel vorgehalten. Wer kennt sie nicht, die geifernden Gestalten Mit niedrer Stirn, im Hintergrunde, blutig 5

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Fallbeil, Handschelle und Revolver. – Nichts Als Hohn sah man in dem, was Warnung war, Mahnende Ahnung kommender Gefahr, Ein Weckruf vor der Stunde des Gerichts. Umsonst der Kampf. Noch schlimmre Typen kamen, Von Haß und Größenwahn bös ausgeprägt, Zertreten wurde seines Schaffens Samen. Und doch: Was er der Welt ans Herz gelegt,

|| 6 Redslob: Gestalt und Zeit, 1966, S. 56 und 60.

1 Tendenzen nach 1945 | 625

Läßt uns noch heute fragen: Was habt ihr Aus euch gemacht? – Statt Mensch nichts als das Tier!7

Allerdings bleibt in den ersten Nachkriegs- und in den Fünfzigerjahren die Beschäftigung mit der unter den Nazis verfemten bildkünstlerischen Avantgarde oder gar mit der zeitgenössischen Malerei im Gedicht eine Randerscheinung und gewinnt vermehrt erst mit den 1960er Jahren an Profil.

Abb. 92: George Grosz: Christus am Kreuz mit Gasmaske (1927/1928)

In den vorherigen Kapiteln konnte an exemplarischen Gedichten und Rezeptionsphänomenen immer wieder eine Wechselwirkung von akademischer Kunstwissenschaft und Bildgedichtproduktion nachgewiesen werden. Dass es nach dem Zweiten Weltkrieg und noch in den 1950er Jahren nicht mehr in gleichem Maße zu derartigen wechselseitigen ‚Erhellungen‘ gekommen ist, hängt zum einen mit der nach dem Krieg in der Bildenden Kunst dominierenden Strömung des Informel, also einer gegenstandlosen – nicht abstrakten – Malerei zusammen, die sich mit der Gründung der heute noch bestehenden documenta 1954 als ihre „kulturelle und geschichtsphilosophische Berechtigung“ institutionalisierte.8 Andererseits öffnete sich zumindest ein Teil der akademisch-universitären Kunstgeschichtsforschung dieser Gegenwartskunst und beschäftigte sich mit einer Kunstrichtung, der die Autoren von Bildgedichten aufgrund eben jener

|| 7 Redslob: Gestalt und Zeit, 1966, S. 62. 8 Gregor Wedekind: Abstraktion und Abendland: Die Erfindung der documenta als Antwort auf „unsere deutsche Lage“. In: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland. Hg. von Nikola Doll u.a. Köln, Weimar, Wien 2006, S. 165–181.

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gegenstandlosen Ästhetik (zunächst) nicht folgen wollten.9 Gedichte auf informelle Malerei, also lyrische Reaktionen von Autoren auf Werke von Künstlern der eigenen Gegenwart wie Karl Bartel, Karl Otto Götz, Otto Greis, Heinz Kreutz, Bernard Schultze oder Emil Schumacher, sind nicht entstanden. Den Diskurs um die Frage, in welcher Weise ein radikaler Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg notwendig sei und wie dieser aussehen könnte, haben sowohl die Bildenden Künstler als auch in weiten Teilen die akademische Kunstwissenschaft – auch und gegen den Widerstand einer von Hans Sedlmayer und seinem wirkungsmächtigen Buch Verlust der Mitte (1948)10 angeführten Fraktion von Kunstwissenschaftlern, die der modernen Gegenwartskunst ablehnend gegenüberstanden – früher und deutlicher als das in der Lyrik-Diskussion und Literaturwissenschaft nach 1945 der Fall gewesen ist mit einer klaren Positionierung im Sinne eines radikalen Bruchs mit älteren Kunsttraditionen beantwortet.11 Gedichte österreichischer und deutscher Autoren auf Kunstwerke und Künstler in den frühen Nachkriegsjahren und den Fünfzigerjahren sind zum großen Teil durch formale Traditionsbindung etwa in der Wahl der Sonettform zu charakterisieren und – was die rezipierten Künstler anbelangt – auf Kontinuität ausgerichtet.12 Gleichwohl soll nicht unterschlagen werden, dass zumindest mit der maßgeblich von Eugen Gomringers Manifest vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung (1954) ausgehenden Konkreten bzw. Visuellen Poesie in der Nachkriegslyrik zumindest eine Strömung durchaus einen radikalen

|| 9 Vgl. Christian Fuhrmeister: Kontinuität und Blockade. In: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland. Hg. von Nikola Doll u.a. Köln, Weimar, Wien 2006, S. 21– 38; wichtig ist immer noch der Katalog mit zahlreichen Abbildungen von Christoph Zuschlag, hierzu auch: Christoph Zuschlag: Undeutbar – und doch bedeutsam. Überlegungen zur informellen Malerei. In: Brennpunkt Informel. Quellen, Strömungen, Reaktionen. Hg. von Christoph Zuschlag u.a. Köln 1998, S. 38–136. 10 Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit. Salzburg 1948. 11 Die zentralen Diskussionen und Auseinandersetzungen sind gut zusammengefasst bei Zuschlag: Undeutbar – und doch bedeutsam, 1998; Karl-Ludwig Hofmann: „Als ob es so etwas wie eine Kunst gäbe!“ Anmerkungen zur Kontroverse um die abstrakte Kunst. In: Brennpunkt Informel. Quellen, Strömungen, Reaktionen. Hg. von Christoph Zuschlag, Hans Gercke und Annette Frese. Köln 1998, S. 158–166; zur Diskussion in der Nachkriegslyrik und Literaturwissenschaft vgl. Lampart: Nachkriegsmoderne, 2013, S. 31–73. 12 Neben der Naturlyrik wird die Sonettdichtung in den frühen Nachkriegsjahren immer wieder hervorgehoben, vgl. Alexander von Bormann: Gedichte zwischen Hermetik und Öffentlichkeit. In: Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Wilfried Barner. München 2006 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 12), S. 194–243, hier S. 201ff.

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Bruch mit überkommenen ästhetischen Vorstellungen wagte und gleichzeitig den Anschluss zwar nicht an die Gegenwartskunst suchte, sich aber in ihren Ausdrucksformen und Verfahrensweisen an bildkünstlerische Methoden anlehnte. Ihren Höhepunkt allerdings erlebte die neben Gomringer vor allem durch Gerhard Rühm, H.C. Artmann und Kurt Schwitters vertretene Lyrik auch erst in den 1960er Jahren bis zur Mitte der 1970er Jahre.13 Da es sich im Falle der Konkreten bzw. Visuellen Poesie nicht um die Rezeption eines spezifischen Kunstwerkes oder eines Künstlers handelt, sondern um die Imitation von Verfahren, bleiben solche Gedichte hier unberücksichtigt. Deutlich stärker am gesellschaftskritischen Aktualisierungs-Potential von Kunstwerken sind Dichter der DDR nach dem Krieg und vor allem in den 1960er Jahren interessiert. Sowohl Vertreter der älteren Autoren-Generation wie Stephan Hermlin (1915–1997) und Erich Arendt (1903–1984) als auch die junge, durch ihre Publikationen in Konflikt mit der Staatsmacht DDR geratende Dichter wie Günter Kunert (1929–2019) und Wolf Biermann (geb. 1936) problematisieren in ihrer sozialkritischen und politisch konnotierten Auseinandersetzung mit Francisco de Goya und Pieter Bruegel d.Ä. auch Themen wie falsche Macht, Unterdrückung des Individuums, revolutionäre Aufbruchstimmung und ernüchternden Absturz, die aktualisierend von den Bildgegenständen her auf die Verhältnisse in der DDR bezogen werden (Kapitel V., 3).14 Eine ‚Stunde Null‘ 1945 hat es in der Literatur und im Besonderen auch im Bildgedicht ebenso wenig gegeben wie in den gesellschaftlichen Verhältnissen und Strukturen der späteren Bundesrepublik und auch Österreichs.15 Im Gegenteil verweisen die noch in den ersten Nachkriegsjahren oder kurz nach der Gründung der Bundesrepublik (1949) und Zweiten Republik Österreichs (1945) erschienenen Gedichte zu Michelangelo, Vincent van Gogh und Albrecht Dürer von Hans Joachim Haecker (1910–1994), Hans Riehl (1891–1965), Gustinus Ambrosi,

|| 13 Vgl. Hermann Korte: Geschichte der deutschen Lyrik seit 1945. Stuttgart 1989 (Sammlung Metzler, Bd. 250), bes. S. 71–80; Lamping: Moderne Lyrik, 2008, S. 81ff.; Oliver Herwig: An der Grenze. Eugen Gomringers Dialog mit der bildenden Kunst. In: Visuelle Poesie. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1997 (Text + Kritik, Sonderband), S. 57–66. 14 Vgl. zur Situation in der DDR-Lyrik in den ersten Dezennien nach dem Krieg überblickshaft Anneli Hartmann: Der Generationenwechsel – ein ästhetischer Wechsel? Schreibweisen und Traditionsbezüge in der jüngsten DDR-Lyrik. In: Literatur und bildende Kunst. Lyrikdiskussion Schillerpreis für Christa Wolf. Hg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn 1985 (Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Bd. 4), S. 109–134. 15 Vgl. mit weiterem Ausblick in die Diskussionen um Form und Inhalt ‚moderner‘ Lyrik Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960. Berlin, Boston 2013 (linguae & litterae, Bd. 19), hier S. 14ff.

628 | V Bildgedichte nach 1945

Johann Gunert (1903–1982), Otto Riedel (1906–1991) und Rudolf Otto Wiemer (1905–1998) auf das von Waltraud Wende konstatierte Bewusstsein eines „geistig-kulturellen Vakuums“ und die daraus resultierende Rückbesinnung auf eine „abendländische, (christlich-)humanistische Kulturtradition“, der sich die Dichter als „Bußprediger, Mahner und Seelenführer“ verpflichtet sahen.16 Tatsächlich zeichnet die Bildgedichte nach 1945 ein Anspruch der moralischgeistigen Erziehung durch Kunst aus. Sollte noch nach dem Willen des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem von politisch rechts stehenden Autoren zum Stichwortgeber aufgestiegenen Julius Langbehn ein niederländischer Maler wie Rembrandt kurzerhand eingedeutscht und zum „Führer“ eines national-konservativen, völkischen und später auch rassischen Kunstideals erhoben werden, so wird dieser Zusammenhang in den Gedichten von Gottfried Benn, Johannes Bobrowski, Rose Ausländer und Uwe Berger aus den 1950er Jahren gerade ins Gegenteil verkehrt. Von diesem ‚deutschen‘ Rembrandt wird deutlich Abstand genommen (Kapitel V., 2). Zu fragen ist also danach, mit welchen Künstlern und Kunstwerken sich die Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Ein erster systematisierender Ansatz könnte so aussehen: Literarisiert werden, erstens, nach wie vor und bis in die 1960er Jahre ältere, nicht-deutsche Künstler des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit wie Piero della Francesca, Michelangelo, Rembrandt oder Caravaggio (Hans Joachim Haecker, Hans Riehl, Gustinus Ambrosi, Franz Theodor Csokor, Bernt von Heiseler, Alexander Giese, Helmut Preißler, Gottfred Benn, Johannes Bobrowski, Rose Ausländer, Uwe Berger). Zweitens finden ehedem ‚große‘ deutsche Künstler der Vergangenheit wie Albrecht Dürer, Matthias Grünewald und Tilman Riemenschneider Beachtung, wobei gerade ältere Epitheta und Funktionalisierungen dezidiert unterlaufen werden und schon die Titel der Werke von Otto Riedel (Kleiner Reigen, 1952), Rudolf Otto Wiemer (Kleines Rasenstück. Aquarelle und Handzeichnungen Albrecht Dürers, 1959) oder Rudolf Felmayer (Kleine Passion. Nach Dürer, 1963) den Abstand vom ‚großen Künstler‘ signalisieren. Drittens werden solche Künstler im Gedicht rehabilitiert, die als Vertreter der ambitionierten künstlerischen Avantgarde-Strömungen um 1900 und der 1920er Jahre von den Nazis in den vergangenen 12 Jahren systematisch verunglimpft, verfolgt und mit Ausstellungs- und Arbeitsverboten belegt worden waren (Edwin Redslob, Rudolf Gahlbeck, Elisabeth Borchers, Erich Fried). Im

|| 16 Waltraud Wende: Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang und Restauration – oder: Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittelbaren Nachkriegsära. In: Die janusköpfigen 50er Jahre. Hg. von Georg Bollenbeck und Gerhard Kaiser. Wiesbaden 2000, S. 17–29, hier S. 20.

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folgenden Kapitel sollen daher ausblickhaft Kontinuitäten und Neuordnungsversuche von lyrischer Kunst- und Künstlerrezeption an exemplarischen Texten österreichischer und deutscher Autoren herausgearbeitet werden. Damit werden gleichzeitig die in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Rezeptions- und Traditionslinien rekapituliert, da zahlreiche Künstler auch nach 1945 im Zentrum von Bildgedicht-Publikationen stehen. Vorab kann schon festgehalten werden, dass gerade die in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Gedichte und Gedicht-Zyklen deutlich geringere Wechselwirkungen mit der kunsthistorischen Publizistik oder kunstwissenschaftlichen Forschung aufweisen als das noch für die Texte nach 1870 oder um 1900 der Fall gewesen ist. Die Gattung wird sich gewissermaßen ‚selbst bewusst‘, was sich schon daran zeigt, dass viele Autoren der Nachkriegszeit – vermehrt dann noch in den 1960er und 1970er Jahren mit Beat Brechbühl (Die Bilder und ich, 1968; Gesunde Predigt eines Dorfbewohners, 1966) oder Monika Meyer-Holzapfel (Welt der Maler, Maler der Welt, 1974) – ihre Bildgedichte gesammelt und in großer Zahl als ‚Bildgedichte‘ publizieren. Aufgrund der weithin bekannten antiken Ekphrasis und den rinascimentalen Sammlungen von Gedichten zu Werken der Bildenden Kunst wie der von Giambattista Marino (La Galeria, 1619) scheint die Frage nach dem Grund für diese Entwicklung gerade nach dem Zweiten Weltkrieg müßig zu sein: An Anregungen und Vorbildern von nicht nur einzeln vorgelegten, sondern in Gruppen und Zyklen publizierten Bildgedichten hat es in der abendländischen Literaturgeschichte nicht gefehlt – schon in den 1920er Jahren konnte das bei Konrad Weiß und Rudolf Alexander Schröder erörtert werden (Kapitel IV., 2). Mir scheint aber, dass ein nicht unerheblicher Grund für die (fast schon inflationäre) Popularität großer Bildgedicht-Sammlungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die bis in die 1980er sukzessive zunimmt, die Publikation der ersten einschlägigen Studie zu diesem Thema von Hellmut Rosenfeld aus dem Jahre 1935 gewesen sein könnte.17 Trotz aller Abgrenzungsansprüche gegenüber älteren Rezeptionslinien von Künstlern und Kunstwerken bleiben die frühen Bildgedichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Erziehungs-Idee durch Kunstwerke und Künstler unter geänderten ideologischen und politischen Vorzeichen treu. Die meisten dieser Gedichte und Gedicht-Zyklen nehmen einzelne Werke nicht (mehr) beschreibend in den Blick, sondern entwickeln in einer werkbiographischen evokativen Doppelperspektive, die allerdings nur am Rande den noch in den vergangenen

|| 17 Vgl. Hellmut Rosenfeld: Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung. Leipzig 1935 (Palaestra, Bd. 199).

630 | V Bildgedichte nach 1945

Jahrzehnten immer wieder beschworenen ‚Lebensmythos‘ des Künstlers berücksichtigt, religiöse und ethische Überlegungen. Zu dieser Gruppe gehören: Franz Theodor Csokor: Die Berufung des Matthäus; Thomas der Zweifler, 1951 – zu Caravaggios Gemälden; Otto Riedel: Kleiner Reigen, 1952 – zu Riemenschneider und Grünewald; Rudolf Otto Wiemer: Das kleine Rasenstück. Aquarelle und Handzeichnungen Albrecht Dürers betrachtet und in Versen erläutert, 1959; Alexander Giese: Die Sonette vom Tode Adams. Zu Piero della Francescas Fresko in Arezzo, 1963; Rudolf Felmayr: Kleine Passion. Nach Dürer, 1963). In anderen Gedichten und Zyklen dominieren angesichts der geistig-kulturellen Orientierungslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg kompensatorisch-consolatorisch grundierte Kunstbetrachtungen, zu denen folgende Werke zu zählen sind: Hans Joachim Haecker: Werke Michelangelos, 1945; Hans Riehl: Michelangelo Buonarotti gedeutet von H.R., 1946; Johann Gunert: Das Leben des Malers Vincent van Gogh. Eine Dichtung in siebzig Ereignissen, 1949.18 Besonders deutlich wird der Erziehungsgedanke bei Johann Gunert und Rudolf Gahlbeck. Der 1903 im mährischen Brünn geborene und 1982 in Wien gestorbene Johann Gunert veröffentlichte aus Opposition zum NS-Regime seit 1938 keine Texte mehr und wurde nach dem Krieg mit zahlreichen Preisen für seine Lyrik bedacht. Seine siebzig Sonette sind mit Werktiteln von van-Gogh-Gemälden überschrieben oder spielen auf diese an und rekapitulieren in chronologischer Reihenfolge das Leben des Künstlers als versifizierte Chronik, die den Titel trägt Das Leben des Malers Vincent van Gogh. Eine Dichtung in siebzig Ereignissen (1949).19 Die vorangestellte Widmung datiert auf den Februar 1949 und macht den potentiellen Adressaten als auch die Schreibmotivation kenntlich: „Geschrieben für Viele im menschenbrüderlichen Geiste Vincent van Goghs.“20 Das nun schon mehrfach und in verschiedenen Kontexten behandelte Bild van Goghs als leidendem Künstler, Außenseiter und verkanntem Genie steht implizit auch Pate in der

|| 18 Einige der genannten Autoren behandelt Annette Pieczonka in ihre Kölner Dissertation von 1988, in der sie sich allerdings ausschließlich auf Sonett-Dichtungen konzentriert. Die Arbeit ist vor allem von Gisbert Kranz vorgeschlagenen Beschreibungskriterien des Verhältnisses von Dichtung und bildkünstlerischer Vorlage verpflichtet und lässt bisweilen sehr stark kulturhistorische Konstellationen oder auch sozialgeschichtliche Aspekte außer Acht. Vgl. Annette Pieczonka: Sprachkunst und Bildende Kunst. Studien zum Bildsonett nach 1945. Köln, Wien 1988 (Kölner Germanistische Studien, Bd. 25). 19 Johann Gunert: Das Leben des Malers Vincent van Gogh. Eine Dichtung in siebzig Ereignissen. Innsbruck 1949. 20 Ebd., S. 6.

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biographischen Kontur, die Gunert dem niederländischen Künstler verleiht.21 Allerdings wird der Künstler nicht in autopoetischer oder sebstreflexiver biographischer Perspektive zum Gewährsmann und Spiegelbild, sondern die leidende Künstlerfigur wird transformiert zu einem aufgrund seiner Leidenserfahrung gemeinschaftsstiftenden, brüderlichen Künstlerfreund, der kurzerhand auch zum Menschenfreund stilisiert wird. Wie in dem – nicht in Sonettform gebrachten – Eröffnungsgedicht der Chronik evozieren zahlreiche der folgenden Sonette die rauschhafte Wirkung von van Goghs Malerei (Kornfelder auf der Ebene von Arles; Selbstbildnis mit Palette),22 ohne diese aber in ihrem ästhetischen Eigenwert zu thematisieren. Vielmehr stehen auch sie unter den Vorzeichen einer ethisch-moralischer Indienstnahme eines Künstlers und seines Werks, in der immer wieder und aufs Neue der erzieherische Anspruch durch Kunstvermittlung greifbar wird: Er träumt von menschlicher Gemeinschaft, weil er an den Menschen glaubt. Es ist, so sehr er Ewiges im Irdischen auch lobt, die Sehnsucht, die ihn um ein bessres Menschenbild durchtobt; doch muß er sehen, daß er die Erwartungen zu hoch geschraubt.23

Noch deutlicher ist dieser Erziehungsgedanke bei dem 1895 im mecklenburgischen Malchow geborenen Maler, Kunstpädagogen und Dichter Rudolf Gahlbeck. Seinen zwölf Sonetten zu Werken von Ernst Barlach ist jeweils eine Abbildung des bedichteten Werkes vorangestellt.24 Zwei nach dem kulturpolitischen Selbstverständnis der neu gegründeten DDR verpflichteten programmatischen Zielen leistet Gahlbecks Dichtung Vorschub: Zum einen stellen seine Sonette eine frühe literarische Rehabilitierung des unter den Nazis verfemten Bildhauers und Dichters Barlach dar. Zum anderen literarisieren sie dessen Werke nicht nur, sondern visualisieren diese auch gleichzeitig durch die Abbildungen und sind damit auch Teil einer ‚Ausstellung‘ im Medium Buch, die gleichzeitig eine Kompensation der vergangenen Ausstellungsverbote sein soll. In institutioneller Hinsicht

|| 21 Vgl. Marina Rauchenbacher: Kanonisierte Blicke. Zur Literarisierung Vincent van Goghs. In: Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Tagung österreichischer und tschechischer Germanistinnen und Germanisten, Olmütz/Olomouc, 20.– 23.9.2007. Hg. von Jürgen Struger. Wien 2008, S. 177–190; Magdalena M. Moeller: Van Gogh und die Rezeption in Deutschland bis 1914. In: Vincent van Gogh und die Moderne. 1890–1914. Katalog zur Ausstellung Museum Folkwang, Essen (11.8.1990–4.11.1990) und Van Gogh Museum, Amsterdam (16.11.1990– 18.2.1991). Hg. von Georg Wilhelm Költzsch und Ronald de Leeuw. Bearb. von Roland Dorn. Freren 1990, S. 312–333. 22 Vgl. Gunert: Das Leben des Malers Vincent van Gogh, 1949, S. 33 bzw. 60. 23 Ebd., S. 12. 24 Rudolf Gahlbeck: Ernst Barlach. Sonette um sein Werk. Hinstorff 1988 (zuerst 1951).

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sind Gahlbecks Sonette sicherlich auch im Kontext der von der Deutschen Akademie der Künste in Berlin veranstalteten, umstrittenen und kontrovers diskutierten Ausstellung von Werken Barlachs zu denken, die vom Dezember 1951 bis Februar 1952 zu sehen gewesen ist und zu der auch Bertolt Brecht seine berühmten Notizen verfasst hat.25 Ausstellung und Gedichtzyklus sind Teil jener programmatisch vorangetriebenen politisch-kulturellen Erneuerung und ‚Entnazifizierung‘ in der DDR, der sich Gahlbeck als Mitglied seit 1945 in der Sektion für Bildende Kunst des von Johannes R. Becher gegründeten Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands verpflichtet sah.26

Abb. 93: Ernst Barlach: Frau im Wind (1931)

Die Gesamtanlage der Sonettsammlung ist im Kontext der von Gahlbeck selbst mitgetragenen kulturpolitischen Ambitionen der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1950er Jahren noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Wie

|| 25 Vgl. den Katalog zur Ausstellung: Ernst Barlach. Ausstellung Dezember 1951 bis Februar 1952. Hg. von der Deutschen Akademie der Künste. Berlin 1951; zur programmatischen Ausrichtung der Akademie und dem Erziehungsgedanken durch Kunst lohnt ein Blick in die Gründungsrede von Otto Grotewohl: Die Regierung ruft die Künstler. Rede zur Eröffnung der Deutschen Akademie der Künste in Berlin am 24. März 1950. In: Deutsche Kulturpolitik. Reden von Otto Grotewohl. Mit einer Einleitung von Nationalpreisträger Johannes R. Becher. Dresden 1952, S. 121–137; Bertolt Brecht geht gleich zu Beginn seiner Notizen auf die heftig geführte Diskussion um die Bedeutung und Qualität von Barlachs Werk (für die Moderne) ein, will darin aber vor allem ein positives Zeichen erkennen, dass der Kunst in der DDR große Bedeutung zuerkannt werde, vgl. Bertolt Brecht: Notizen zur Barlach-Ausstellung. In: Ders.: Schriften 3. 1942–1956. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main 1993 (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Werke, Bd. 23), S. 198–202. 26 Vgl. Gerd Dietrich: Kulturbund. In: Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch. Hg. von Gerd-Rüdiger Stephan und Leonore Ansorg. Berlin 2002, S. 530–559.

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bereits erwähnt verzichtet Gahlbeck auf ausführliche Beschreibungen der HolzSkulpturen und Bronze- bzw. Gips-Plastiken.

Abb. 94: Ernst Barlach: Russisches Liebespaar (1906)

Die Überschriften der Sonette sind meist mit den Werktiteln identisch, doch bilden Der Flötenbläser (1936), Frau im Wind (1931; Abb. 93), Russisches Liebespaar (1906; Abb. 94), Tanzende Alte (1920), Singender Klosterschüler (1931; Abb. 95) oder Der Sterndeuter (1909; Abb. 96) lediglich den Ausgangspunkt für die Entwicklung von mit den Titeln in Zusammenhang zu bringenden assoziativen Gedanken des Aussagesubjekts, das allerdings in keiner Weise als Ich-Instanz zu erkennen oder zu charakterisieren ist. Künstlerische oder formale Aspekte der Werke kommen nicht zur Sprache. Wichtiger scheint Gahlbeck indessen bei der Auswahl von Barlachs Werken für seinen Sonettband deren intermediales Potential gewesen zu sein, was sich auch von seiner Idee eines „Gesamtkunstwerks“ erklären lässt, in dem Geschriebenes, Visuelles und Akustisches im Sinne seines künstlerischen Erziehungsideals zur Geltung kommen können.27 Trotz der prinzipiellen formalen Traditionsverbundenheit aufgrund der strengen Sonettform, die Gahlbeck für seine Barlach-Literarisierungen wählte, ist diese Vorstellung einer Synthese der Künste Literatur, Bildende Kunst und Musik durchaus anschlussfähig an moderne Lyrik-Konzepte nach 1945 und in den 1950er Jahren.28 So evozieren fast alle Sonette Situationen oder Konstellationen, in denen immer wieder Akustisches thematisiert wird wie etwa in Frau im Wind („Und doch ahnt unser Aug den Weltensaum,/hört unser Ohr die Wogen und den Schaum“),29 Russisches Liebespaar („Verklungen ist das Lied. – Zwei Menschen lauschen/ihm schweigend nach, wie

|| 27 Vgl. die Ausführungen in der Neuauflage von Detlef Hamer: Nachwort. In: Gahlbeck: Ernst Barlach, 1988, S. 52–54, hier S. 53. 28 Vgl. Dieter Lamping: Moderne Lyrik. Göttingen 2008, S. 79–106. 29 Gahlbeck: Ernst Barlach, 1988, S. 19.

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es entschwebt im Raum“),30 Singender Klosterschüler („‘Tu solus sanctus‘, klingt’s im Klosterchor/‘Tu solus Dominus‘, so hallt wider.“)31 oder Der Sterndeuter („Die Seele lauscht der himmlischen Gebärde“).32 [Abbildungen 93–96] Zudem ist die Sonettfolge auch wohl von Anfang an von Gahlbeck als Vorlage für eine Vertonung konzipiert worden, die später der zeitweise in Schwerin als Kapellmeister wirkende österreichische Komponist und Dirigent Karl Etti (1912–1996) als Barlach-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel vertonte und dafür bereits zwei Jahre vor der Uraufführung 1954 an der Wiener Staatsoper mit dem (österreichischen) Staatspreis für Musik ausgezeichnet worden war.33

Abb. 95: Ernst Barlach: Singender Klosterschüler, links (1931/1932)

Abb. 96: Ernst Barlach: Der Sterndeuter (1909)

|| 30 Ebd., S. 23. 31 Ebd., S. 31. 32 Ebd., S. 39. 33 Vgl. Erwin Rieger: Karl Etti. In: Österreichische Musikzeitschrift 12 (1957), S. 397–398; Hamer: Nachwort, 1988, S. 53f.; Gahlbeck hatte schon vor seinen Barlach-Sonetten zwei Opern-Libretti zu Leonardo da Vinci und Goya verfasst, deren Partituren von Max Richard Albrecht und Hellmut von Ulmann allerdings durch Kriegsverlust nicht mehr erhalten sind.

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Wie bereits erwähnt sind solche in Gedichtform gebrachten frühen Rehabilitierungen von verfolgten Künstlern in den Nachkriegsjahren die Ausnahme. Deutlich breiter und wirkungsmächtiger ist die literarische Formation kompensatorisch-consolatorischer Dichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die über die Kunstbetrachtung religiöse Rückbesinnung und moralisch-ethische Neu-Orientierung verordnen oder aber auch in der Zurschaustellung von literarischer Artistik und „Künstlichkeit“ die ‚dunklen Jahre‘ von 1933 bis 1945 vergessen machen wollen.34 In letztere Rubrik gehört Paul Celans Vierzeiler Unter ein Bild (1955/56) zu Vincent van Goghs vielleicht berühmtestem Gemälde Kornfeld mit Krähen (1890), das zu den – international – am häufigsten bedichteten Werken des Niederländers überhaupt gehört und bereits in zahlreichen Studien behandelt worden ist.35 Der Mythos des durch zwei aneinandergefügte Leinwände zu einem extremen Querformat von 50,5 auf 103 Zentimeter angewachsenen Gemäldes entstand vor allem aus der kolportierten, heute aber von der neuen Forschung relativierten Annahme, dass es sich um das letzte Bild des Künstlers handele und man es mit einem ‚gemalten Abschiedsbrief‘ kurz vor van Goghs Selbstmord im Juli 1890 zu tun habe.36 Ähnlich enigmatisch und dunkel wie die düstere

|| 34 Ich folge hier einer Überlegung, die Roland Reuß zu einem anderen Bildgedicht Celans vorgeschlagen hat, zu seinem Gedicht Einkanter: Rembrandt, vgl. Roland Reuß: Rembrandts Celan. Paul Celans Gedicht ‚Einkanter: Rembrandt‘. Von der utopischen Möglichkeit eines Gesprächs durch die Zeit hindurch. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989), S. 47–98, bes. S. 52f. 35 Joachim Ringleben: ‚Unter ein Bild‘. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987), S. 57–63; Karl Pestalozzi: Das Bildgedicht. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995 (Bild und Text), S. 568–591, hier S. 587ff.; Theo Buck: „Rabenüberschwärmt“. Lyrische Fortschreibungen eines Bildmotivs von Millet und van Gogh bei Paul Celan und Wulf Kirsten. In: Celan-Jahrbuch 8 (2001/2002), S. 279–315; Klaus Mönig: Malerei & Grafik in deutscher Lyrik des 20. Jahrhunderts. Freiburg im Breisgau 2002 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae, Bd. 102), S. 204–217; Monika Kasper: Welchen Himmels Blau? Gedanken zur Übertragung von Malerei in Literatur am Beispiel von Paul Celans Gedicht „Unter ein Bild“. In: Entwürfe 12 (2006), S. 79–90; Thorsten Valk: Lyrische Ekphrasis. Intermediale Referenzen in Bildgedichten von Paul Celan und Gottfried Benn. In: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Hg. von Wolf Gerhard Schmidt und Thorsten Valk. Berlin, New York 2009 (spectrum Literaturwissenschaft/Komparatistische Studien, Bd. 19), S. 295–313, hier S. 297ff. 36 Das Format ist typisch für gut ein Dutzend Gemälde, die in Auvers entstanden sind, vgl. den Katalog mit Abbildungen von Walter Feilchenfeldt: Vincent van Gogh. Die Gemälde 1886–1890. Händler, Sammler, Ausstellungen. Frühe Provenienzen. Wädenswil 2009 (Quellenstudien zur Kunst, Bd. 3), S. 261–271; die letzten Lebenswochen von van Gogh in Auvers hat vor allem Matthias Arnold anhand neuer oder nun richtig datierter Briefe und Dokumente rekonstruiert und vor allem das harmonische Verhältnis zum Bruder dadurch in Frage stellen bzw. korrigieren können. Im Grunde hielten sich die bereits in Kapitel III dieser Arbeit vorgestellten Mythen um

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Stimmung des Gemäldes, dessen aufziehende, schwarz durchzogene Wolken und die wild durch den Bildraum fliegenden, nur schemenhaft gemalten Krähen, sind auch Celans vom Titel her sich als subscriptio zu erkennen gebenden vier Verse (Abb. 97): Unter ein Bild Rabenüberschwärmte Weizenwoge. Welchen Himmels Blau? Des untern? Obern? Später Pfeil, der von der Seele schnellte. Stärkres Schwirren. Näh’res Glühen. Beide Welten.37

Die Deutungen zu Celans van Gogh-Dichtung konzentrieren sich auf das von der Überschrift her angedeutete Verhältnis von Dichtung und Malerei, von Sichtbarem und schriftlichem Kommentar. So formuliert Joachim Ringleben thesenhaft, dass Celans Gedicht vor allem durch die im Mittelpunkt stehende Frage nach der Verortung des Himmelsblau (V. 2) in intermedialer Perspektive ein HierarchieVerständnis von Literatur und Kunst nahelege, nach dem sich „erst in der subscriptio“, also der schriftlichen Erläuterung des Bildlichen, „die pictura“ erfülle: „Das Bild alteriert die Identität des in ihm zu Sehenden: sichtbar.

Abb. 97: Vincent van Gogh: Kornfeld mit Krähen/Weizenfeld mit Raben (1890)

|| van Goghs Leben und Schaffen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg und werden teilweise bis heute in populären Darstellungen weiter kolportiert, vgl. Matthias Arnold: Vincent van Gogh. Biographie. München 1993, bes. S. 923–1000; zur Entstehungs- und Deutungsgeschichte von Kornfeld mit Krähen vgl. Matthias Arnold: Vincent van Gogh. Werk und Wirkung. München 1995, S. 545–554. 37 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 94; vgl. auch den Kommentar zur Entstehung (Juli 1955 bis November 1958) Überlieferung (Abdruck August 1956 in Akzente) S. 646f.

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Die Frage des Verses spricht aus, was nur im Bild sichtbar da ist; sie benennt Uneindeutigkeit. Gibt es Uneindeutigkeit vielleicht erst als sprachliche, wenn auch im Bilde sichtbar veranlaßte?“38 Konkret könnte man die rhetorische Frage auch in der Gesamtanlage des Gedichts verorten, das auf der syntaktischen und lexikalischen Ebene deutlich die Raumkonzeption des Gemäldes und seiner Malweise nachahmt bzw. konzipiert: Die Frage entsteht ja überhaupt nur deshalb, weil die spezifische Malweise van Goghs in groben, dick aufgetragenen Pinselstrichen räumliche Unterschiede einebnet und daher viel stärker Übergänge geltend macht, die dann wiederum nur durch die Farbwahl noch voneinander zu trennen sind.39 Statt einer zwar möglichen, aber auch wieder komplexen Lesart des dritten Verses zu folgen, nach der der „Pfeil“ auf das Sternbild des Schützen anspiele, unter dem Celan geboren sei, liegt es doch viel näher, diesen dritten Vers als erläuternde subscriptio ernst zu nehmen und darin eine interpretierende Beschreibung des Gemäldes entsprechend dem sicherlich auch Celan bekannten Mythos vom letzten Gemälde kurz vor dem Selbstmord zu sehen: Das Kornfeld mit Krähen als „später Pfeil“ des Seelenmalers van Gogh.40 Seine Sonderstellung im Spektrum der hier behandelten Bildgedichte nach 1945 hat das Gedicht auch insofern, als es in einer anderen Perspektive paradoxerweise auch wiederum exemplarisch ist. Was schon bei Edwin Redslob und Rudolf Gahlbeck zu beobachten war und bei anderen Autoren noch zu zeigen sein wird, macht Celans Vierzeiler besonders deutlich: Das völlige Zurücktreten der Betrachterinstanz und damit auch beschreibender Elemente zugunsten einer von der Struktur der Vorlage inspirierte formale Anlehnungen, was Thorsten Valk bereits als zentrale Tendenz von Bildgedichtkonzeptionen im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert insgesamt bezeichnet hat. Celans Gedicht vergegenwärtigt nach seiner Deutung „geradezu exemplarisch die Integration bildästhetischer Parameter in lyrische Sprachgebilde, da sie das Bildgeschehen des zugrundeliegenden Gemäldes in keine Handlungsabfolge übersetzen, sondern in seiner piktoralen Statik belassen“.41 Die im Bildgedicht in den frühen Nachkriegsjahren dominierende Tendenz ist ein kompensatorisch-consolatorischer Dichtungsansatz, der vielfach die Betrachtung von Kunst über deren ikonographischen Gehalt in religiöse Meditation überführt. Mit dieser programmatischen Ausrichtung treten sowohl die gerade

|| 38 Ringleben: ‚Unter ein Bild‘, 1987, S. 60. 39 Vgl. zur Raumkonzeption auch Mönig: Malerei & Grafik, 2002, S. 206ff. 40 Die Verbindung zu Celans Sternzeichen schlägt der Kommentar der Ausgabe vor, vgl. Celan: Die Gedichte, 2003, S. 647 41 Valk: Lyrische Ekphrasis, 2009, S. 20.

638 | V Bildgedichte nach 1945

mit Michelangelo und seiner lyrischen Deutungstraditionen verbundene Überhöhungen des Künstlers als auch auf die Kunstwerke bezogene beschreibende Elemente weiter in den Hintergrund. In Hans Riehls Gedicht-Sammlung zu Werken Michelangelos sind außer der Überschrift kaum mehr Bezugspunkte zum bedichteten Kunstwerk zu beobachten und Hans-Joachim Haeckers Werke Michelangelos (1945/1975) konzentrieren sich zum größten Teil auch auf Rollensprechen und blenden bildkünstlerisch-visuelle Aspekte aus. An die Stelle von im Gedicht aufgegriffenen gestalterischen oder wirkungsästhetischen Aspekten der Vorlage treten die neben jedem Gedichte beigegebenen Abbildungen.42 Die Rückkehr zur christlichen Religion als Orientierungshilfe einer mit den materiellen, vor allem aber seelischen und geistigen Verwerfungen und Abgründen des vorangegangenen Krieges und der Gewaltherrschaft wirkt wie eine Reprise der Erneuerung christlicher Dichtung auf Kunstwerke, wie sie schon im Falle von Konrad Weiß und Rudolf Alexander Schröder mit ihren Sonett-Zyklen zu Raffael und Grünewald nach dem Ersten Weltkrieg dargestellt wurde (Kapitel IV., 2).43 Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang der Sonettzyklus Werke Michelangelos des 1910 in Königsberg geborenen und 1994 gestorbenen GerhartHautpmann-Preisträgers Hans Joachim Haecker dar. Die achtzehn Sonette sind als Sammlung 1975 zu Michelangelos 500. Geburtstag erschienen, aber bereits während Haeckers Kriegsgefangenschaft am Großen Bittersee in Ägypten 1945 entstanden und zwischen 1947 und 1951 in verschiedenen Tageszeitungen und Zeitschriften gedruckt worden.44 Ähnlich wie bei Albrecht Haushofers Grünewald-Meditationen (Kapitel IV., 2.2.) ist Haeckers Konzentration auf den heilsgeschichtlichen Gehalt der von Michelangelo geschaffenen Werke nicht in erster Linie als kompensatorische Strategie für eine moralisch labile und verunsicherte Nachkriegszeit ex post angelegt, sondern seine Gedicht sind von ihrem Produktionskontext und Schreibanlass her Selbstaussprachen auch angesichts von Gefangenschaft, einer ungewissen Zukunft – und schließlich auch eines möglichen Todes zu lesen. Intertextuell profitieren sie von der Tradition barocker

|| 42 Hans Joachim Haecker: Werke Michelangelos. Sonette. München 1975 (¹1945); Hans Riehl: Bildwerke von Michelangelo Buonarotti gedeutet von Hans Riehl. Graz 1946. 43 Gleichzeitig wird in der zeitgenössischen Diskussion um den Stellenwert der modernen Kunst diese oft als einzige Orientierungshilfe einer entgötterten und entmenschlichten Welt gesehen, die damit gewissermaßen an die Stelle der Religion getreten sei, vgl. hierzu: Karl-Ludwig Hofmann: „Als ob es so etwas wie eine Kunst gäbe!“ Anmerkungen zur Kontroverse um die abstrakte Kunst. In: Brennpunkt Informel. Quellen, Strömungen, Reaktionen. Hg. von Christoph Zuschlag, Hans Gercke und Annette Frese. Köln 1998, S. 158–166. 44 Vgl. die Nachweise über frühere Publikationsorte in der Ausgabe: Haecker: Werke Michelangelos, 1975, o.S. [S. 20] und auch das Geleitwort von Adolf Georg Bartels.

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Tageszeiten-Sonette, in die sie sich einordnen, intermedial von der Popularität der bedichteten Werke.45 Sie wiederholen allerdings nicht jene seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder aufgerufenen, meist ideologisch rechts-national ausgerichtete Huldigungen des großen Titanen, übermenschlichen Genies oder ‚germanischen‘ Geist. Exemplarisch wird dies im Sonett Der Abend der MediciGräber anschaulich, in dem erinnerte bzw. gesehene Bildeindrücke mit dem Tageszeit-Gedicht verschmelzen und gleichsam auch zum Nachdenken nicht nur über die Summe des Tages, sondern auch über die Bilanz des Lebens (in einem konkret biographischen, aber auch überzeitlichen Sinne) geraten:46 Der Abend der Medici-Gräber Der Tagstrom ist verrauscht und ausgelotet. Was dir zu Gast war, ließ dich nun allein. Der Leidenschaften Türme werden klein, und aller Stimmen Wirrnis ist entknotet. 5

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Was du gewollt hast, überdenkst du still. Was hast du heut erreicht? – Du suchst gelassen dein Tagewerk in einen Sinn zu fassen und läßt nun gleiten, was entgleiten will. Bist klug geworden wie an jedem Tage und immer nur in einem Dinge klug: Ins Ganze webt sich, was der Tag geschieden. Bliebst du getröstet, oder blieb dir Klage? Ich bin dir nah, und das ist ganz genug: Um meine Stirne dämmert schon der Frieden.47

Wie dieses sind auch alle anderen Sonette Rollendichtungen, die aus der Sicht jener von Michelangelo als Allegorien des Morgens und des Tages oder des Abends und der Nacht personifizierten Skulpturen etwa der Medici-Gräber in Florenz oder namentlich bekannter Mitglieder der Medici-Familie wie Giuliano und Lorenzo de’ Medici oder eben auch aus der Sicht des Adams, Gottvaters oder Evas aus dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle jeweils thematisch nach ihrer

|| 45 Vgl. zu Haeckers Zyklus auch Pieczonka: Sprachkunst und Bildende Kunst, 1988, S. 194–258, bes. 194ff. 46 Haecker soll nach eigenen Angaben, die Bartels in seinem Geleitwort referiert, in der Gefangenschaft einen Band mit Werken Michelangelos besessen haben, vgl. Haecker: Werke Michelangelos, 1975 (Geleitwort). 47 Haecker: Werke Michelangelos, 1975, S. 4.

640 | V Bildgedichte nach 1945

Ikonographie – oder im Falle des ‚Nachdenklichen‘ Pensieroso vom Grabmal Lorenzo de’ Medicis in der Sakristei San Lorenzos in Florenz nach der überlieferten Zuschreibungs- und Deutungsgeschichte der Skulptur – Reflexionen anstellen über ihre dargestellte bzw. mit ihnen in das Medium der Skulptur oder des Freskos gebrachte biblisch-heilsgeschichtliche Bedeutung. Dass sie ihrer Funktion nach als Trostgedichte in Gefangenschaft und Todesahnung auch nach 1945 offenbar noch für publikationswürdig erachtet wurden, zeigt, dass Haeckers Konzept des Bildgedichts, bei dem – wie schon bei Celan und anderen dargelegt – sowohl der Künstler als Schöpfer in den Hintergrund tritt als auch im Aussagesubjekt aufgrund der eingenommenen Rolle zumindest kein ‚klassischer‘ Betrachter mehr im Gedicht anwesend ist. Das führt zu einer denkbar großen, bewusst gewählten Ferne zwischen Dichtung und bildkünstlerischer Vorlage, obwohl die Kunstwerke ja selbst sprechen, aber gerade daher auch nach Annette Pieczonka als „bildferne Weiterentwicklung“ des Kunstwerks gedeutet werden müssen. Den religiösen Gehalt von Michelangelos Werken in der Dichtung zu thematisieren ist auch das Anliegen von Hans Riehl. Der österreichische Kunsthistoriker, Nationalökonom, Soziologe und Schüler Othmar Spanns war anders als Johann Gunert, Franz Theodor Csokor oder Edwin Redslob im Mai 1938 in die NSDAP eingetreten und auch schon 1929/30 Propagandaleiter des Bundesverbandes österreichischer Heimwehren. An literarischer Propaganda für das Regime hat sich Riehl allerdings nicht beteiligt. So sind seine Michelangelo-Dichtungen wie schon der Titel nahelegt ihrem Selbstverständnis nach keine Beschreibungen, sondern Deutungen der Werke, die ihre christliche Ikonographie fernab von biographischer Künstler-Verherrlichung in den Mittelpunkt stellen. Michelangelos berühmtem Frühwerk, der Pietà zu St. Peter in Rom (1498/1500, Abb. 98), begegnet das lyrische Ich als zerknirschter, um Fürbitte flehender Gläubiger. Nicht das geschaffene Werk oder die historischen Umstände seiner Entstehung, noch dessen ästhetischer Gehalt oder der dahinter stehende Schöpfer Michelangelo interessieren das Aussagesubjekt, sondern die Funktion der Skulptur als Objekt bzw. Ort der Meditation und des Gebets:

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[…]

Pietà zu St. Peter in Rom Von Qualen, Sorgen, Zweifeln tief durchwühlt Komm ich zu dir, du Mutter aller Schmerzen, Zu schaun den Tod, der alle Wunden kühlt., Zu kühlen, was der höchste Jammer fühlt Und auszuruhn an deinem wehen Herzen.

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So ist diese schwere Erdenlos vollbbracht! Drum, Mutter, banne auch die letzten Schmerzen! Der Tag liegt vor uns, hier ist trübe Nacht Und nur die Schönheit senkt mit Zaubermacht Den Strahl des Göttlichen in unsre Herzen.48

Abb. 98: Michelangelo Buonarotti: (Römische) Pietà (1498/1500)

In ähnlicher Weise inszeniert auch das Eingangsgedicht zu Michelangelos Reliefskulptur Madonna an der Treppe (um 1491) eine Gebetssituation, die deutlich auf keine historische Kommunikationssituation anspielt, sondern sich dezidiert mit rhetorischen Fragen („Oder wirst du leid-erhaben/Diese wirre Welt erneun?“)49 an das „Kindlein“ (V. 1) wendet, die gleichsam Auskunft über das eigene Bewusstsein und eine Diagnose der gegenwärtigen gesellschaftlichen und moralischen Zustände liefern. Selbst Michelangelos letztes, wohl unvollendet gebliebenes Werk, seine in Marmor ausgeführte Pietà Rondanini (1552/1564, Abb. 99), die aufgrund ihres fragmentarischen Charakters in der Vergangenheit in Kunstpublizistik und Dichtung zu ästhetischen Überlegungen angeregt hat, wird auf ihren religiösen Gehalt reduziert und ihre Betrachtung zur Reflexion über die eigene Gegenwart funktionalisiert, wie das auch der nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls sich zum Katholizismus hinwendende Bernt von Heiseler in seinem Gedicht zu der Skultpur getan hat. 50

|| 48 Ebd., o.S. [S. 4]. 49 Ebd., o.S. [S. 2]. 50 Vgl. Bernt von Heiseler: Pietà. Michelangelo. Palazzo Rondanini. In: Ders.: Gedichte. Gütersloh 1952, S. 64.

642 | V Bildgedichte nach 1945

Pietà Rondanini. An ihr arbeitete Michelangelo bis zu seinem Tode

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Hier Wandrer, schließt sich deine Welt! Hier ragt ein Mal der Lebensqual, das auch den kühnsten Traum vernichtet: Starr steht der Leichnam aufgerichtet, Gigantenhaft gebrochne Kraft, die nur geheime Macht noch hält. Die Mutter ists! Sie stieg empor wie sinnberaubt – um Haupt an Haupt Noch einmal diesen wunden Rücken Ans todeswunde Herz zu drücken. Sie steht gebeugt und zärtlich neigt Und tastet ihre Hand sich vor. Das tief umhüllte Antlitz schweigt. Kein Laut erklingt, kein Seufzer dringt Aus der erstarrten Brust herauf – Begann nicht hier sein zarter Lauf, Als noch der Quell der Freuden hell Und wundermächtig sich gezeigt? Nun ist dies alles Abgemühte Todschwere Last! O Erdengast, Was ist auf dieser Welt noch dein? Nichts andres als der Schmerz allein, Der Liebe Not und das Gebot Des Gottes, der uns tief durchglühte.51

Lyrische Bildbetrachtung gerät nicht mehr ausschließlich zur Bildevokation, sondern der religiöse Gehalt gewinnt appellativen Charakter im Sinne der nach geistig-moralischer Erneuerung durch Kunst konzipierten intermedialen Konzepte dieser Gedichte. Anschaulich wird dies in dem Gedicht zur Berufung des Matthäus von Caravaggio in San Luigi dei Francesi in Rom (1599/1600) des Kunsthistorikers und späteren Präsidenten des österreichischen PEN-Clubs (1947) Franz Theodor Csokor, der 1938 aufgrund er Verfolgung durch die Nazis emigrieren musste. Seine Dichtung auf die Berufung des Jüngers nimmt den von Caravaggio ins Bild gesetzten überraschten Gesichtsausdruck des Matthäus auf, die Botschaft und der Appell „Du da, – steh auf!/Du hast mitzugehen!/Man braucht dich“52 ist aber || 51 Hans Riehl: Bildwerke von Michelangelo Buonarotti gedeutet von Hans Riehl. Graz 1946, o.S. [ S. 43]. 52 Franz Theodor Csokor: Immer ist Anfang. Gedichte 1912 bis 1952. Innsbruck 1952, S. 116.

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gerade im Horizont von Csokors eigener Biographie und Haltung eines geistigmoralischen Neubeginns in Österreich auch übertragbar auf die Nachkriegszeit (Abb. 100). Auch die Schlussverse des auch als Maler und Grafiker bekannten Österreichers Otto Riedel zu Grünewalds Isenheimer Altar markieren ihren Gegenwartsbezug deutlich: „Ach, daß Geduld auch in unseren Tagen/freudig sich mehre, statt Mißtraun und Haßart!/Wahrlich, wir wollten bezeugen die Botschaft:/Sanftmütige Herzen besitzen das Reich.“53

Abb. 99: Michelangelo Buonarotti: Pietà Rondanini (1552/1564)

Abb. 100: Caravaggio (Michelangelo Merisi da Caravaggio): Die Berufung des Hl. Matthäus (1599–1600)

|| 53 Otto Riedel: Kleiner Reigen. Ausgewählte Gedichte. Berlin 1952, S. 49.

644 | V Bildgedichte nach 1945

Knapp zwei Jahrzehnte später fasst Hans Riehl in seiner kunstphilosophischen Schrift Der innere Gehalt des Kunstwerkes (1972) seine in den 1950er Jahren produktiv umgesetzte Vorstellung einer christlich geprägten und ausgerichteten Kunst noch einmal zusammen, in der er von jenen „tiefen Grunderlebnissen“ spricht, „die als unvergänglicher Gehalt hinter allen echten Kunstwerken stehen“ und das „Göttliche“ als die „Quellen der Kunst“ und „ihre innerste Kraft“ beschreibt.54 Rückblickend können Riehls Überlegungen auch als programmatische Ausrichtung der eben behandelten Gedichte von Hans Riehl selbst aber auch von Franz Theodor Csokor, Hans Joachim Haecker und Otto Riedel gelesen werden. Ein erster bilanzierender Querschnitt der Bildgedichtproduktion nach 1945 und in den 1950er Jahren hat ergeben, dass in besonderem Maße österreichische Dichter und im Besonderen solche, die schon während der 1930er Jahre auf Abstand zum NS-Regime gegangen und später auch mit Schreib- oder Berufsverboten belegt wurden, einen großen Anteil an der dichterischen Rezeption von Kunstwerken und Künstlern hatten. Ob unter religiösen Vorzeichen oder in Distanznahme gegenüber Rezeptionslinien bestimmter Künstler wie Michelangelo oder van Gogh seit dem späten 19. Jahrhundert verbindet die meisten Gedichte der Anspruch, mit ihnen eine Kunstbetrachtung und Kunsterziehung zu forcieren, die gleichzeitig auch eine geistig-moralische Neuorientierung nach dem Krieg befördern sollte. Dabei werden beschreibende, auf die Kunstwerke direkt beziehbare Zugriffe zugunsten von Gesamtentwürfen, die vornehmlich einer consolatorisch-kompensatorischen, religiös-besinnlichen oder einer rehabilitierenden Funktion unterstellt sind. Auffällig viele der publizierten Gedichte zu Kunstwerken oder Künstlern nach dem Zweiten Weltkrieg sind nicht als einzelne Texte, sondern gleich als großangelegte Sammlungen oder Zyklen zu einzelnen Künstlern oder Werken vorgelegt worden, was sich in den 1960 und 1970er Jahren noch steigern sollte. Die dabei behandelten Künstler (Michelangelo, Rembrandt, van Gogh, Dürer) spiegeln wie auch die häufig gewählte Sonettform den Willen zu einer gewissen humanistischen, vor-diktatorischen Kontinuität angesichts eines geistig-kulturellen Vakuums wider, die allerdings auf der inhaltlichen Seite durchweg auf eine (ideologische) Neu-Orientierung setzt.

|| 54 Hans Riehl: Der innere Gehalt des Kunstwerkes. Salzburg 1972, S. 6 und 21.

2 (Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski) Wer sich nach 1945 literarisch mit Rembrandt auseinandersetzte oder Gedichte über den Künstler schrieb, ging in gewisser Hinsicht ein Wagnis ein. Denn Rembrandt war nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch belastet. Das lag natürlich nicht am Künstler, seinem Leben oder Werk selbst, sondern an der vor allem mit dem Namen Julius Langbehn verbundenen völkisch-nationalistischen, in späteren Auflagen seines Bestsellers Rembrandt als Erzieher (1890) auch von rassischen Tönen geprägten Vereinnahmung des Niederländers auf breiter Front. Dabei erfuhr der Leser über Rembrandt in Langbehns Buch nur relativ wenig und fast gar nichts über einzelne Werke, sondern sah sich mit einem massenhaft gelesenen und rezipierten Buch konfrontiert, das wilhelminisch-nationalistischen Genie- und Personenkult, ästhetisches Sendungsbewusstsein und germanischrassisches Künstlerideal an dem niederländischen Künstler durchexerzierte.55 Es scheint kein Zufall zu sein, dass gleich mehrere Autoren wie Gottfried Benn und Johannes Bobrowski sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit dem alten Rembrandt und seinem Werk ab 1650 auseinandersetzten: War doch gerade das Spätwerk des niederländischen Künstlers von der bildkünstlerischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert oft genug als Vorreiter und prophetischer Stichwortgeber einer neuen Ästhetik gedeutet worden, das aufgrund der pastosen, der Farbe ihr Eigenrecht einräumenden Malweise und experimentellen, unkonventionellen Maltechniken Identifikationsmöglichkeiten sowohl mit der expressionistischen Malerei als auch den Abstraktionstendenzen bot, wie sie die Bildende

|| 55 Vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München u.a. 1996, S. 94–113, hier S. 102–110; Stefan Breuer: Konservatismus oder Existentialismus? Anmerkungen zu Rembrandt als Erzieher. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann Frankfurt am Main 2007, S. 127–147; Johannes G. Pankau: Wege zurück. Zur Entwicklungsgeschichte restaurativen Denkens im Kaiserreich. Eine Untersuchung kulturkritischer und deutschkundlicher Ideologiebildung. Frankfurt am Main, Bern, New York 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 717), hier S. 106–194; Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. München 1996, S. 47–53. https://doi.org/10.1515/9783110700732-017

646 | V Bildgedichte nach 1945

Kunst des frühen 20. Jahrhunderts ebenfalls kennt.56 Der so gesehene und interpretierte Rembrandt war auch trotz seiner völkisch-nationalistischen Vereinnahmung der vorangegangenen Jahrzehnte öffentlichkeitswirksam für eine ‚neue‘ Kunsterziehung zu gebrauchen. Denn Rembrandt war nach 1945 auch Teil der Kunstpolitik der alliierten Siegermächte, die ganz pragmatisch den Umgang mit den in Deutschland verbliebenen, beschlagnahmten, geraubten oder an geheime Orte verbrachten Kunstwerken regeln mussten und damit auch den geistig-kulturellen Wiederaufbau im Sinne einer Neuausrichtung auch auf institutioneller Ebene von Museen und Ausstellungen befördern wollten. Ein frühes Zeugnis dieser Kunstpolitik ist die Rembrandt-Ausstellung im Wiesbadener Landesmuseum, das nach dem Krieg als Central Collecting Point für Kunstwerke diente. Vom 9. Mai bis zum 4. September 1948 waren über 200 Werke (Gemälde, Zeichnungen, Radierungen) von Rembrandt und ‚Rembrandt-Schülern‘ zu sehen, darunter auch zahlreiche Selbstbildnisse.57 Der von den Organisatoren verzeichnete Besucherrekord spiegelt das Interesse an Rembrandt nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wider wie Marie-Luise Kaschnitz’ noch im selben Jahr entstandene Zusammenfassung und Bewertung der Ausstellung. Kaschnitz greift einzelne Werke wie den Kasseler Rembrandt mit Helm und Mantel (Selbstbildnis mit Sturmhaube, 1634) oder die Saskia aus Kassel (Saskia van Uylenburgh im Profil, in reichem Kostüm, 1642) und natürlich das späte Selbstbildnis, lachend im Alter (Selbstbildnis als || 56 Am Beispiel von Max Slevogt, Lovis Corinth und Emil Nolde konturiert Stückelberger die Rembrandt-Affinität der bildkünstlerischen Avantgarde um 1900, vgl. Stückelberger: Rembrandt und die Moderne, 1996; materialreich zum Überblick, wenn auch interpretatorisch wenig ergiebig Martin Hellmold: Rembrandts Einsamkeit. Diskursanalytische Studien zur Konzeption des Künstlersubjekts in der Moderne. Diss. online. Bochum 2001, bes. S. 73–230; sehr informativ dagegen und mit genauem Blick auf die Charakteristika des Rembrandtschen Spätwerks die Beiträge von Jonathan Bikker und Anna Krekeler (Experimentelle Technik. Die Gemälde, S. 132–151) und Erik Hinterding: Experimentelle Technik. Die Radierungen, S. 152–163) in folgendem Ausstellungskatalog: Der späte Rembrandt. Hg. von Jonathan Bikker und Gregor J.M. Weber. Katalog anlässlich der Ausstellung Rembrandt: The Late Works (National Gallery, London) und Late Rembrandt (Rijksmuseum, Amsterdam). München 2014. 57 Ein Katalog zu dieser Ausstellung ist leider nicht entstanden, so dass man bei der Ermittlung der ausgestellten Werke auf zeitgenössische Rezensionen oder Artikel angewiesen ist, die einzelne Werke nennen. Zur Bedeutung des Wiesbadener „Collecting Point“ vgl. Tanja Bernsau: Die Besatzer als Kuratoren? Der Central Collecting Point Wiesbaden als Drehscheibe für einen Wiederaufbau der Museumslandschaft nach 1945. Berlin 2013 (Kunstgeschichte, 96), bes. S. 51–145 und 385–436, eine Übersicht der Ausstellungen in Wiesbaden S. 537ff.; zur Besucherzahl gibt es widersprüchliche Zahlen. Der Spiegel-Artikel zur Ausstellung zitiert „Mr. Heinrich“ mit der Zahl 200 000, die als Besucher gezählt wurden seit der ersten Ausstellung, was sich aber wohl auf alle Ausstellungen zu beziehen scheint, vgl. o.V.: Kunst hinter Wachen. 260mal Rembrandt. In: Der Spiegel 20 (1948), S. 19f.

2 Rembrandt im Gedicht nach 1945 | 647

Zeuxis, wohl um 1662) sowie zahlreiche andere Werke der Ausstellung heraus und beschreibt diese vor allem mit Blick auf den historischen Hintergrund und vor allem unter Berücksichtigung der Wirkung von Rembrandts Malerei. Bedeutsam ist, dass Kaschnitz die Begegnung mit Rembrandt einerseits als wichtiges Bildungserlebnis für die junge Generation charakterisiert, andererseits aber auch ihren Beitrag als Wiederbegegnung mit dem Künstler („Wir haben die Bilder des großen Rembrandt wiedergesehen“)58 einleitet und damit auf die Rezeptionsgeschichte des Holländers anspielt: Es scheint mir, daß der große Eindruck, den sie auf die Beschauer des Jahres 1948 machen, nicht mehr wie im neunzehnten Jahrhundert mit „der Liebe für alles Tragische, Leidenschaftliche und Lebensvolle“ (Uhde-Bernays) zu erklären ist. Was uns heute an Rembrandts Werk berührt, ist das Umfassen der Gesamtheit des Lebens und die Gleichwertigkeit aller Erscheinungen dieser vielfältigen Welt.59

Ihr ist vor allem an einer Entmythisierung und Entideologisierung des Malers gelegen, was sich bei ihren Bildbeschreibungen vor allem in der Betonung der Rembrandt von ihr attestierten widersprüchlichen und unheroischen Persönlichkeit sowie der Verankerung seiner Werke in der (Alltags-)Biographie niederschlägt und somit den Künstler und sein Leben zu einem „Kaleidoskop menschlicher Daseinsformen“ stilisiert.60 Ob Gottfried Benn oder Johannes Bobrowski die Ausstellung in Wiesbaden gesehen haben, darf als fraglich gelten – sie dürften die Ausstellung aufgrund der umfangreichen Berichterstattung aber auf jeden Fall wahrgenommen haben. Was die Gedichte Gottfried Benns und Johannes Bobrowskis mit jenem von Kaschnitz skizzierten Rembrandt-Bild verbindet ist die von ideologischer und politischer Vereinnahmung befreite Verschiebung der Wahrnehmungsperspektive des holländischen Künstlers im Spannungsfeld von Kunst und Wirklichkeit, Künstlertum und Alltagsleben, Malerei und Subjektivität. Der ‚private‘ Rembrandt, der noch Dichtern, die dem Nationalsozialismus nahestehenden, zum germanischen Blutsbruder erhoben und dem Volk gewissermaßen auf Augenhöhe präsentiert wurde (Kapitel III., 4), wird nun gerade in der Herausstellung seiner mit dem Schlagwort der „Verinnerlichung“ charakterisierten Malweise und Kunstauffassung nicht vom Künstlertitanen zur biogra|| 58 Marie Luise Kaschnitz: Rembrandt 1948. In: Dies.: Gesammelte Werke. Hg. von Christian Büttrich und Norbert Miller. Bd. 7: Die essayistische Prosa. Frankfurt am Main 1989, S. 489–496, hier S. 489. 59 Ebd., S. 495. 60 Heidi Hahn: Ästhetische Erfahrung als Vergewisserung menschlicher Existenz. Kunstbetrachtung im Werk von Marie Luise Kaschnitz. Würzburg 2001 (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 353), S. 143.

648 | V Bildgedichte nach 1945

phischen Folie, auf der sich Themen wie Altern und Schaffenskraft, Kunst und Gesellschaft abbilden lassen.61 Bei Benn und Bobrowski steht daneben mit dem dort implizit oder explizit berücksichtigten Spätwerk Rembrandts auch noch die Frage nach der künstlerischen Bilanz des Kunstschaffenden im Mittelpunkt, was sich im Falle Benns auch zur autobiographischen Positionierung gegenüber der eigenen Werkbiographie verdichtet.

Dass es in dem zweigeteilten Gedicht – Gewisse Lebensabende (1946) im ersten Teil um den alten und alternden und nicht um den jungen Rembrandt geht, legt der Titel nahe und verrät auch die vom Rollen-Ich Rembrandt angesprochene „Hendrickje“ Stoffels (V. 2), die zunächst als Haushälterin bei dem Maler arbeitete, von 1649 bis zu ihrem Tod 1663 aber auch seine Geliebte und Lebensgefährtin gewesen ist.62 Der alte Rembrandt soll auch als Alter Ego des alten Benn gelesen werden. Die am Beispiel Rembrandts aufgeworfene Thematik des alternden Künstlers, seines Spätwerks und der Beurteilung seiner früheren Werke lässt sich sowohl mit Benns Stellung in der Nachkriegsliteratur als auch mit seiner Bedeutung für den Lyrik-Diskurs nach 1945 in Zusammenhang bringen. Insofern ist Benns Rembrandt-Gedicht keine lyrische Auseinandersetzung mit einzelnen Werken des Holländers, noch weniger eine Beschreibung charakteristischer Merkmale von Rembrandts Malerei insgesamt, sondern vielmehr eine an der Person Rembrandts gespiegelte autobiographische Reflexion des eigenen künstlerischen Werdegangs im Angesicht des Alters und in der Konfrontation mit eigenen (politischen) Verfehlungen. Aufgrund des Themas wurde das Gedicht – das im zweiten Teil auch noch die Werkgeschichte Shakespeares, dessen historische Bedeutung und die Frage nach künstlerischer Größe in den Blick nimmt – von der älteren Forschung zurecht auch immer wieder zusammen mit dem fast zehn Jahre später entstandenen Vortrag Altern als Problem für Künstler von 1954 behandelt.63

|| 61 Vgl. zu der älteren Rezeptionstradition Stückelberger: Rembrandt und die Moderne, 1996, S. 60. 62 Eine gute Zusammenfassung der letzten Lebensjahre bietet Jonathan Bikker: Die späten Lebens- und Schaffensjahre. In: Der späte Rembrandt. Hg. von Jonathan Bikker und Gregor J.M. Weber. Katalog anlässlich der Ausstellung Rembrandt: The Late Works (National Gallery, London) und Late Rembrandt (Rijksmuseum, Amsterdam). München 2014, S. 20–35, hier S. 22. 63 Das Gedicht ist nicht so häufig interpretiert worden, findet aber in der Forschung zum Spätwerk Benns immer wieder Beachtung. Hingewiesen sei zunächst auf den Beitrag von Emmy Hannöver, der als Unterrichtsmodell angelegt ist, aber doch einige Beobachtungen und Erkenntnisse enthält: Gottfried Benn „ – Gewisse Lebensabende“. In: Wirkendes Wort 10 (1960), S. 105–112; ferner Anton Reininger: „Die Leere und das gezeichnete Ich“. Gottfried Benns Lyrik. Florenz 1989 (Università degli Studi di Torino, Fondi di Studi Parini-Chirio, Letterature, 2), S. 367–381.

2 Rembrandt im Gedicht nach 1945 | 649

Das Gedicht entstand allerdings bereits im September und Oktober 1946 zu einer Zeit, als Benn durch den Tod seiner Frau Herta, die sich im November 1945 aus Angst vor den heranrückenden Russen das Leben genommen hatte, noch immer unter Depressionen litt und die literarische Arbeit auch aufgrund seiner – teilweise verordneten und unbezahlten Tätigkeit als Gefängnisarzt – weitgehend zum Erliegen gekommen war.64 Im Mittelpunkt des Gedichts stehen Themen wie das Verhältnis von Künstlertum und Wirklichkeit, die Beurteilung künstlerischen Ruhms und die Bedeutung von Kunstwerken für die Nachwelt – die natürlich allesamt auch eine Parallele zu Benns eigener Situation nach 1945 bis zum seinem ‚Comeback‘ am Ende der vierziger Jahre bilden.65 Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und dem eigenen Werk spiegelt Benn in der lyrisch eingefangenen Situation des alten, desillusioniert bilanzierenden Rembrandt, der vielleicht gerade aufgrund seiner ideologischen – unfreiwilligen – früheren Vereinnahmung dem Dichter als sinnfällige Identifikationsfigur erschienen sein mag. Es geht Benn nicht um die Literarisierung eines Bildes von Rembrandt, sondern um ein Künstlerbild, das Anknüpfungspunkte mit früheren Schaffensperioden nicht negiert, aber doch auch bestimmend die eigene ästhetische (Neu-)Ausrichtung propagiert:

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– Gewisse Lebensabende Du brauchst nicht immer die Kacheln zu scheuern, Hendrickje, mein Auge trinkt sich selbst, trinkt sich zu Ende – aber an anderen Getränken mangelt es – dort die Buddhastatue, chinesischen Haingott, gegen eine Kelle Hulstkamp, bitte! Nie etwas gemalt in Frostweiß oder Schlittschluhläuferblau oder dem irischen Grün, aus dem der Purpur schimmert – immer nur meine Eintönigkeit, mein Schattenzwang – nicht angenehm, diesen Weg so deutlich zu verfolgen.

|| 64 Vgl. Joachim Dyck: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929–1949. Göttingen 2006, S. 336–355. 65 Vgl. Klaus-Dieter Hähnel: Das Comeback des Dr. Gottfried Benn nach 1945 (1949) – Wirkung wider Willen? In: Zeitschrift für Germanistik NF 6 (1996), S. 100–113.

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Größe – wo? Ich nehme Griffel und gewisse Dinge stehn dann da auf Papier, Leinwand oder ähnlichem Zunder – Resultat: Buddhabronze gegen Sprit – aber Huldigungen unter Blattpflanzen, Bankett der Pinselgilde –: was fürs Genre – ! …Knarren, Schäfchen, die quietschen, Abziehbilder flämisch, rubenisch für die Enkelchen – ! (ebensolche Idioten – !) Ah – Hulstkamp – Wärmezentrum, Farbenmittelpunkt, mein Schattenbraun – Bartstoppelfluidum um Herz und Auge –

II Der Kamin raucht – schneuzt sich der Schwan vom Avon –, die Stubben sind naß, klamme Nacht, Leere vermählt mit Zugluft – Schluß mit den Gestalten, übervölkert die Erde reichlicher Pfirsichfall, vier Rosenblüten pro anno – ausgestreut, auf die Bretter geschoben von dieser Hand, faltig geworden und mit erschlafften Adern! Alle die Ohpelias, Julias bekränzt, silbern auch mörderisch – alle die weichen Münder, die Seufzer, die ich aus ihnen herausmanipulierte –

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die ersten Aktricen längst Qualm, Rost, ausgelaugt, Rattenpudding – auch Herzens-Ariel bei den Elementen.

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Die Epoche zieht sich den Bratenrock aus. Diese Lord- und Läuseschädel, ihre Gedankengänge, die ich ins Extrem trieb – meine Herren Geschichtsproduzenten alles Kronen- und Szepteranalphabeten, Großmächte des Weltraums wie Fledermaus oder Papierdrachen! Sir Goon schrieb neulich an mich: „der Rest ist Schweigen“: – ich glaube, das ist von mir, kann nur von mir sein, Dante tot – eine große Leere zwischen den Jahrhunderten bis zu meinen Wortschatzzitaten – aber wenn sie fehlten, der Plunder, nie aufgeschlagen, die Buden, die Schafotte, die Schellen nie geklungen hätten – : Lücken – ?? Vielleicht Zahnlücken, aber das große Affengebiß mahlte weiter seine Leere, vermählt mit Zugluft – die Stubben sind naß und der Butler schnarcht in Porterträumen.66

Der Titel „– Gewisse Lebensabende“ setzt mit einer Pause ein und nimmt sich damit, bevor zur Sprache gebracht wird, was der Titel überschreiben will, gewissermaßen erst einmal selbst zurück. Das polysemantische Adjektiv „gewisse“ bildet bereits die thematische Anlage des Gedichts ab: einerseits sind die ganz bestimmten Lebensabende von Rembrandt und Shakespeare, deren späte Lebensjahre Benn zu einem Außenseiter-Dasein macht und ihre Werke als „monomanische Zwangshandlungen“ herausstellt,67gemeint, andererseits stehen die beiden Lebensabende auch für „gewisse“, also allgemeine und unbestimmte, für überindividuell gemeinte Künstlerleben. Die Folgen eines genialen Künstlerdaseins für den Ruhm und die Anerkennung schlagen sich indessen nicht in einem gesicherten oder von Zweifeln befreiten Lebensstil nieder. Den alternden

|| 66 Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 1. Hg. von Gerhard Schuster. Stuttgart 1986, S. 229–231. 67 Dyck: Der Zeitzeuge, 2006, S. 350.

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Künstler porträtiert Benn – im Gegenteil – als desillusionierten, mit sich selbst abrechnenden gesellschaftlichen Außenseiter.68 Das wird vor allem in der Selbstcharakterisierung Shakespeares im zweiten Teil des Gedichts deutlich. Seinen historischen Zugriff auf Personen und Zeitläufte bezeichnet das Rollen-Ich Shakespeare des zweiten Teils rückblickend nur noch als „Plunder“ (V. 73) und Lückenfüller der ‚eigentlichen‘ Geschichte von Herrschern, seinen Umgang mit Charakteren und deren tiefenpsychologische Ausleuchtung als „herausmanipulierte“ (V. 53) Seufzer und seine Wortgewalt als bloße Zusammenstellung von „Wortschatzzitaten“ (V. 71). Nicht um die „Physiologie des Alterns“69 ist es Benn zu tun, sondern es geht ihm um die Frage nach der gesellschaftlicher Relevanz des künstlerischen Schaffens und nach ‚Abnutzungserscheinungen‘ des Künstlers, die im Kern aber auch das Postulat einer Kunstautonomie und „Artistik“70 sowie die für Benn nicht erst nach 1945 wichtige „Frage nach dem Ich“71 bergen. Das Gedicht ist daher auch in der Fluchtperspektive von Benns eigenen ‚Rechtfertigungsschriften‘ Doppelleben (1949), seinem Vortrag Altern als Problem für

|| 68 In einem vielzitierten Brief an Oelze vom 31. August 1946 geht Benn bei der Beurteilung seiner eigenen Situation auch auf Rembrandt ein: „Ihre freundlichen Worte über meine hiesige Existenz tun mir wohl, aber ich bleibe hier. Vielen Dank für Ihr gütiges Nachdenken hierüber. Anspruch – sagen Sie. Bestimmt nur Ihr großes Wohlwollen spricht daraus. Ich glaube nicht, dass selbst Rembrandt Anspruch auf einen anderen Lebensabend hatte als mit Hendrikke unter Alcohol u. gepfändet. Es ist doch gut so! Es ist doch herrlich! Alles andere wäre doch verkehrt u. ehrpusselig.“ Gottfried Benn. Briefe. Zweiter Band, erster Teil: Briefe an F.W. Oelze 1945–1949. Hg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden, München 1979, S. 46. 69 Gottfried Benn: Altern als Problem für Künstler. In: Ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand (Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke in vier Bänden, Bd. 3). Frankfurt am Main 1989, S. 565–588, hier S. 569; zum Diskurs des Alterns als „gesellschaftliches Massenphänomen“ (S. 14) 1945 vgl. die Studie von Thomas Homscheid, der am Beispiel von Benn, Simone de Beauvoir und Jean Améry das Thema untersucht: Altern als Problem für Künstler. Zur Poetologie und Essayistik des Altersdiskurses der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Alter und Altern. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (VI). Hg. von Martin Hellström und Edgar Platen. Bamberg 2010 (Perspektiven. Nordeuropäische Studien zur deutschsprachigen Literatur und Kultur, B. 7), S. 12–37, zu Benn S. 12–19. 70 Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand (Gottfried Benn: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke in vier Bänden, Bd. 3). Frankfurt am Main 1989, S. 505–535, hier S. 510: „Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz der schöpferischen Lust.“ 71 Ebd., S. 511.

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Künstler (1954) und seinen ästhetischen Positionierungen in der Nachkriegslyrik (Probleme der Lyrik, 1951), zu deuten. Vor allem in seinem Vortrag Probleme der Lyrik bekennt sich Benn als Apologet des Geistes und der reinen Form jenseits aller tagespolitischen oder ideologischen Vereinnahmungen von Literatur, die die Kunstautonomie in ihrer Eigenrechtlichkeit und Eigengesetzlichkeit gefährden.72 Benn beschreibt nicht ein spätes Selbstporträt von Rembrandt oder deutet ein solches, sondern schafft mit dem als Rollengedicht angelegten Text ein literarisches Selbstporträt, das sich in auffälliger Weise aber an den Tendenzen der späten Malerei Rembrandts und dessen zeitgenössischer kunsthistorischer Beschreibung und Charakterisierung orientiert, was Benn in seinem späteren Vortrag Altern als Problem für Künstler (1954) in Anspielung auf sein eigenes Gedicht noch einmal aufgreift: Lebensabende, diese Lebensabende! Die meisten mit Armut, Husten, krummen Rücken, Süchtige, Trinker, auch einige Kriminelle, fast alle ehelos, fast alle kinderlos, dies ganze bionegative Olympiade, eine europäische Olympiade, die den Glanz und die Trauer des nachantiken Menschen durch vier Jahrhunderte trug. […] Sehr viel Liebe zu den Menschen kommt nicht mit herauf. Erinnern Sie sich an ein Selbstporträt von Tintoretto, Alterswerk, ich weiß nicht, wo es hängt, ich sah es nur auf einer Abbildung, aber die kann man nicht vergessen, dafür gibt es nur eine Vokabel: ranzig. Oder Rembrandts Spätwerk: verschlossen, vorsichtig, ein kaltes: ohne mich.73

Verschlossen und desillusioniert konzipiert Benn seinen Rembrandt als alternden Künstler und macht damit jenen Rembrandt der späten Selbstbildnisse sprachlich sichtbar. Die wenigen vollständigen Sätze und die für das Gedicht charakteristischen Substantivreihungen sind nicht nur Ausdruck von Benns Dichtungsverständnis nach 1945 und seinen „Rückzug in die Ausdruckswelt“, sondern greifen auch Rembrandts Malstil auf, insofern das schon von kunsthistorischer Seite konstatierte „Summarischwerden“74 in den späten (Selbst-)Bildnissen und die damit einhergehende, später von Richard Hamann || 72 Vgl. hierzu auch Lampart: Nachkriegsmoderne, 2013, S. 106ff.; Dyck: Der Zeitzeuge, 2006, S. 383–404; Jürgen Schröder: „Die jungen Dichter: keiner primär“. Gottfried Benn und die Nachkriegsliteratur. Ein Bericht. In: Benn-Forum. Beiträge zur literarischen Moderne 1 (2008/2009), S. 77–91; Alexander von Bormann: Widerruf der Moderne. Das Beispiel Gottfried Benn. In: Gottfried Benn 1886 bis 1956. Referate des Essener Colloquiums. Hg. von Horst Albert Glaser. 2., korrigierte Auflage. Frankfurt am Main [u.a.] 1991, S. 29–46. 73 Benn: Altern als Problem für Künstler, 1989, S. 579 bzw. 580. 74 Ludwig Münz: Rembrandts Altersstil und die Barockklassik. Ein Beitrag zum Verstehen des Altersstiles Rembrandts. In: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien. Neue Folge 9 (1935), S. 183–222, hier S. 198.

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postulierte „Verinnerlichung“75 gerade in der Substantiv-Häufung und der monologischen Struktur zur Geltung gebracht werden.76 Die neuere Rembrandt-Forschung hat diese älteren kunsthistorischen Positionen und Zuschreibungen mit Blick auf zeitgenössische Identitätskonzepte zwar relativiert, da derartige malerische Instrospektionen gegenüber den Vorgaben einer marktorientierten Malerei auch bei Rembrandt abzuwägen seien. Doch ist die für Benn relevante Rezeptionslinie über Simmel, Münz und Hamann gerade auf die Herausstellung der Innenschau Rembrandtscher Selbstbildnisse konzentriert.77 Autopoetologische Bezüge zum „monologischen Gedicht“ und zur „Entwicklungsfremdheit“ aus der Sammlung Statische Gedichte, in deren Ausgabe von 1949 das Gedicht zum ersten Mal abgedruckt worden ist,78 werden auf Rembrandt übertragen, der sich als Widerpart einer ‚gefälligen‘ niederländischen Landschaftsmalerei (V. 9–12) und sein eigenes Werk von „Eintönigkeit“ (V. 13) und seinem „Schattenzwang“ (V. 14) dominiert sieht.79 Der dem Rollen-Ich Rembrandt in den Mund gelegte Eingangsvers spielt darüber hinaus offenbar auf eine ähnliche Szene in Hans Steinhoffs Film Rembrandt

|| 75 Richard Hamann: Rembrandt. Berlin 1948, S. 362. 76 Vgl. auch Hannöver: Gottfried Benn, 1960, S. 110; zu den ästhetischen und poetologischen Positionen und Kontexten der Statischen Gedichte mit Blick auf Kontinuitäten seit den 1930er Jahren vgl. Harald Steinhagen: Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens. Gottfried Benns Rückzug in die Ausdruckswelt. In: Gottfried Benn 1886 bis 1956. Referate des Essener Colloquiums. Hg. von Horst Albert Glaser. 2., korrigierte Auflage. Frankfurt am Main [u.a.] 1991, S. 71–94; Horst Albert Glaser: Stillgestellte Zeit. Nachtrag zu den ‚Statischen Gedichten‘. In: Gottfried Benn 1886 bis 1956. Referate des Essener Colloquiums. Hg. von Horst Albert Glaser. 2., korrigierte Auflage. Frankfurt am Main [u.a.] 1991, S. 157–170; ferner auch Christian Schärf: Der Unberührbare. Gottfried Benn – Dichter im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2006, S. 319–409; Dyck: Der Zeitzeuge, 2006, S. 350–365; neuerdings auch Manfred Koch: Schattenspiele am Ende der Geschichte. Zu Gottfried Benns Statischen Gedichten. In: Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur. Hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob. München 2012, S. 305–322. 77 Vgl. Marjorie E. Wieseman: Die späten Selbstbildnisse. In: Der späte Rembrandt. Hg. von Jonathan Bikker und Gregor J.M. Weber. Katalog anlässlich der Ausstellung Rembrandt: The Late Works (National Gallery, London) und Late Rembrandt (Rijksmuseum, Amsterdam). München 2014, S. 36–55, bes. S. 39f. 78 Vgl. Gottfried Benn: Statische Gedichte. Wiesbaden 1949, S. 59–62; „Entwicklungsfremdheit“ ist der Eingangsvers von Benns (programmatischem) Gedicht Statische Gedichte, vgl. Benn: Gedichte, 1986, S. 224. 79 Zum Zusammenhang von „absoluten Gedicht“ und „monologischer Struktur“ vgl. Jens Dechert: Probleme der Lyrik. Die Neubestimmung der Lyrik nach 1945. In: Gottfried Benn (1886– 1956). Studien zum Werk. Hg. von Walter Delabar und Ursula Kocher. Bielefeld 2007, S. 211–230, bes. S. 222–224.

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an, der wiederum auf Valerian Tornius’ Zwischen Hell und Dunkel – Ein Rembrandt-Roman (1934) basiert und 1942 in die Kinos kam.80 Gelegentlich wurde der Film in Berlin wohl noch nach 1945 gezeigt und könnte tatsächlich neben Georg Simmels Rembrandt-Buch (1916) und der allgemeinen Rembrandt-Begeisterung eine Anregung für Benn gewesen sein. Neben den von Benn suggerierten Parallelisierungsmöglichkeiten der beiden Künstlerbiographien mit seiner eigenen Vita, dem Altersdiskurs und dem Spannungsverhältnis von Kunst und Wirklichkeit, Künstler und Gesellschaft scheint mir die Profilbildung Rembrandts auch eine lyrische Adaption von Georg Simmels Rembrandt-Porträt zu sein. Simmels Charakterisierung von Rembrandts Spätstil mit dem Schlagwort des Subjektivismus und die These der Identität von Künstler und Person, macht Benn in seinem Gedicht fruchtbar, um die eigene biographische Situation als alternder Künstler zu konturieren. In Simmels 1916 zum ersten Mal erschienenem Buch heißt es zum späten Rembrandt: Dieser bedeutet vielmehr innerhalb der Alterskunst der großen Genies, daß die Beziehung zu den äußeren Objekten als solchen ihnen gleichgültig geworden ist, daß sie zwar nur noch sich selbst aussprechen, aber sich selbst als Künstler. […] Entscheidend ist vielmehr die organische Synthese, die man gleichzeitig von zwei Seiten her aussprechen kann: daß sein ganzes und letztes Wesen völlig in sein Mark aufgegangen ist oder daß sein Künstlertum sich völlig in die Subjektivität seines Lebens transformiert hat. Diese Einheit spüren wir an den Spätwerken von Donatello wie von Tizian, von Frans Hals wie von Rembrandt, von Goethe wie von Beethoven.81

Die Frage nach der künstlerischen „Größe – wo?“ (V. 17–25) wird ebenfalls dezidiert gestellt. In der Rembrandt zugeschriebenen Sichtweise auf sein Werk wird dabei auch deutlich auf die Vergänglichkeit nicht nur der Bildträger, sondern mit dem pejorativen Epitheton „Zunder“ (V. 21) auch dessen Wertigkeit in Frage gestellt. Die Abrechnung des Rollen-Ichs Rembrandt mit seiner künstlerischen Biographie lässt sich nicht nur auf Benn selbst übertragen, sondern auch als Abrechnung mit dem Rembrandt-Kult Langbehnscher Prägung verstehen. Benns || 80 Zu Entstehung des Gedichts und den relevanten Quellen für die Datierung vgl. den Kommentar in der Ausgabe Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte 1. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster. Stuttgart 1986, S. 480–484; die Anspielung auf den SteinhoffFilm erwähnt knapp Simon Karcher: Sachlichkeit und elegischer Ton. Die späte Lyrik von Gottfried Benn und Bertolt Brecht – ein Vergleich. Würzburg 2006 (Der neue Brecht, Bd. 2), S. 46ff. 81 Georg Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch. Leipzig 1916, S. 124; als nicht zweifelsfrei gesichert muss gelten, ob Benn Simmels Rembrandt-Buch kannte. Ein anderes Werk von Simmel, seine Michelangelo-Studie (Ein Beitrag zur Metaphysik der Kultur) von 1910, erwähnt Benn ausführlich in seinem Alters-Vortrag, vgl. Benn: Altern als Problem für Künstler, 1989, S. 575.

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Gedicht über Rembrandt stellt damit ein hybrides Textgebilde unterschiedlichster Diskurse dar: Es präludiert mit dem Künstler im Alter ein Thema, das den Dichter noch bis zu seinem Tod in unterschiedlichen Texten beschäftigen wird, funktionalisiert die Literarisierung eines Bildenden Künstlers zur Spiegelung der eigenen Werk-Biographie und revidiert mit der Entheroisierung Rembrandts auch ältere Deutungs- und Rezeptionsmuster des holländischen Malers. In diese Traditionslinie, Rembrandt in Opposition zu älteren Deutungstraditionen, vor allem aber im Zusammenhang mit der autopoetologischen Frage der Möglichkeit, wie nach 1945 Gedichte geschrieben werden sollen, zu literarisieren, stellt sich noch fast ein Vierteljahrhundert später Paul Celan mit seinem 1968 entstandenen, nur zehn Verse umfassenden Gedicht Einkanter: Rembrandt,82 das Roland Reuß in seiner minutiösen Interpretation sowohl als poetologisches Gedicht als auch als literarische Auseinandersetzung mit Rembrandt gedeutet hat, die performativ Rembrandts Malstil in Sprache um- und übersetze.83 Einen ganz konkreten Bezug zu drei Gemälden Rembrandts markieren von ihren Überschriften her die 1951 entstandenen Sonette Rembrandt (Drei Selbstbildnisse) von Johannes Bobrowski, die in gewisser Weise wie eine Fortführung der in Benns Gedicht in den Mittelpunkt gestellten Themen wirken: Den Künstler im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Wahrnehmung, ökonomischer Abhängigkeit und ästhetischem Selbstverständnis ‚porträtiert‘ Bobrowski allerdings nicht allein an einem „Lebensabend“, sondern lässt sein Rollen-Ich Rembrandt diese Verhältnisse prozessual entlang der Auseinandersetzung mit seinen Selbstbildnissen und als Sprecher jeweils aus der Perspektive der den Selbstbildnissen zuzuordnenden Jahre 1635, 1648 und 1668 (eigentlich 1662) nachvollziehen. Was

|| 82 Vgl. Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 336. 83 Vgl. Roland Reuß: Rembrandts Celan. Paul Celans Gedicht ‚Einkanter: Rembrandt‘. Von der utopischen Möglichkeit eines Gesprächs durch die Zeit hindurch. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989), S. 47–98, bes. S. 56: „Dieser Widerstand drückt sich vor allem dadurch aus, daß an den Versgrenzen verschiedenste, zum Teil sich ausschließende, weil entgegengesetzte Anschlußmöglichkeiten gegeben sind. Das Resultat dieser Interferenzen ist eine Art, wenn man so sagen kann, Polyfacettierung, die als solche wahrgenommen werden will. Je nachdem, wie das Licht der Reflexion auf sie fällt, läßt sich, um nur ein Beispiel zu geben, V. 3 auf die Worte ‚Einkanter‘, auf ‚Rembrandt‘, auf ‚Lichtschiff‘ oder auf alle diese Worte zugleich beziehen – womit sich zugleich rückwirkend immer auch die Semantik des zuvor Ausgesprochenen verändert. Diese Besonderheit des Rückbezugs im Fortschreiten der Rede ähnelt in manchem der Rembrandtschen Behandlung des Malgrundes in den späten Bildern. Zu deren auffälligsten Merkmalen zählt, daß Rembrandt bei der Modellierung eines Bildes auch tieferliegende Schichten des Malmaterials durch Kratzen mit dem Pinsel oder einem spachtelartigen Malgerät in die Bearbeitung der Maloberfläche mit einbezieht und zur Erscheinung bringt.“

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Benn gewissermaßen augenblickhaft, und zwar von Rembrandts Lebensabend her einfängt, entfaltet Bobrowski entlang von drei Selbstbildnissen. Diese sind nicht nach ihren Titeln benannt, sondern nur nach ihren Aufstellungsorten, die allerdings eine eindeutige Zuordnung möglich machen: Bei 1635, Wien Liechtenstein-Galerie handelt es sich um das (heute nicht mehr in Wien befindliche) Selbstbildnis mit Federhut (Abb. 101), bei 1648, Radierung um das Selbtsbildnis am Fenster, auf einer Radierplatte zeichnend (Abb. 102) und schließlich bei 1668, Köln Wallraf-Richartz-Museum um das berühmte, allerdings anders als von Bobrowski und der älteren Forschung noch angenommen bereits um 1662 entstandene Selbstbildnis, lachend im Alter (Selbstbildnis als Zeuxis, Abb. 103).84 Der mehr als eine Generation jüngere, 1917 im damals ostpreußischen Tilsit geborene Johannes Bobrowski ist als studierter Kunsthistoriker ein Kenner der Materie und hat neben den Sonetten zu Rembrandt auch zahlreiche Gedichte zu ganz verschiedenen Künstlern wie Giotto (1950), Marc Chagall (Die Heimat des Malers Chagall, 1955) und Ernst Barlach (Barlach in Güstrow, 1963) vorgelegt.85 Berühmt geworden ist Bobrowski mit seiner 1961 erschienenen Sammlung Sarmatische Gedichte, in denen er in teils magisch anmutender Sprache und mythisch gestalteten Räumen seine osteuropäischen (Heimat-)Landschaften einfängt.86

|| 84 Das Gemälde wurde lange Zeit immer wieder aufs Neue für ein ‚Abschieds-Bild‘ und eines der letzten Selbstbildnisse Rembrandts gehalten, in dem er seine wie unfertig, Konturen und Formen nur mit wenigen Pinselstrichen teilweise nur angedeutete Malweise radikalisierte und das meist als malerisches Argument gegen in den späten Jahren lauter werdende Kritik aus dem Lager der Klassizisten gesehen wurde. Wahrscheinlich ist das Gemälde aber um 1662 entstanden, vgl. Wiesemann: Die späten Selbstbildnisse, 2014, S. 48; Gregor J.M. Weber: Beobachtung des täglichen Lebens. In: Der späte Rembrandt. Hg. von Jonathan Bikker und Gregor J.M. Weber. Katalog anlässlich der Ausstellung Rembrandt: The Late Works (National Gallery, London) und Late Rembrandt (Rijksmuseum, Amsterdam). München 2014, S. 56–73, hier S. 72f. 85 Vgl. Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke, Bd. 2: Gedichte aus dem Nachlass. Hg. von Eberhard Haufe. Stuttgart 1987, S. 167f. (Giotto), S. 188 (Barlach in Güstrow); Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedicht. Hg. von Eberhard Haufe. Stuttgart 1987, S. 56 (Die Heimat des Malers Chagall); zusammenfassend die Bedeutung der Bildenden Kunst für Bobrowski Marina Rauchenbacher: Johannes Bobrowski. In: Handbuch der Kunstzitate. Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne. Hg. von Konstanze Fliedl, Marina Rauchenbacher und Joanna Wolf. 2 Bde., hier Bd. 1. Berlin, Boston 2011, S. 90–92. 86 Erste Veröffentlichungen des Dichters datieren bereits in das Jahr 1955. Begonnen hat Bobrowski mit dem Schreiben aber offenbar schon während des Zweiten Weltkriegs, an dem er als Nachrichtensoldat teilgenommen hat. In Kriegsgefangenschaft (1945–1948) sind einige Heimatlieder entstanden. Der später teilweise in der DDR beheimatete und sozialistisch engagierte Bobrowski wurde aber auch mit einem Vierzeiler aus seinen Oden auf Vermittlung Ina Seidels in einen Band von Paul Alverdes Zeitschrift Das Innere Reich (1943/44) aufgenommen. Vgl. hierzu

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Unter seinen Gedichten zu Kunstwerken und Künstlern nehmen die drei 1951 entstandenen Sonette zu den genannten Selbstbildnissen Rembrandts eine Sonderstellung ein, was Andreas Degen in seiner Studie zum Bildverständnis und zur Kunstwahrnehmung in Bobrowskis Prosatexten herausgestellt hat. Bobrowskis Texte in den Jahren und im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg sind durchzogen von historischer Erinnerungsarbeit, die sich oftmals an schriftlichen oder bildlichen Zeugnissen abarbeite, aber vor allem in den Prosatexten meist als „ortsunabhängiges“ literarisches Material präsentiert werden. In Bobrowskis Sonetten nun sieht Degen erstmals konsequent „die lyrische evozierte Wechselwirkung zwischen Betrachter und Bild zu einem Wechselverhältnis von Gegenwart und Vergangenheit“ erweitert.87 Die Selbstbildnisse Rembrandts werden einerseits nicht mit ihren Titeln und damit von ihrer historischen Seite her, sondern museal nach ihren gegenwärtigen Standorten präsentiert. Gleichzeitig wird in allen drei Sonetten Rembrandt als Rollen-Ich in einer fingierten Kommunikationsszenerie inszeniert, dessen angesprochenes Gegenüber sowohl Deutungen als historisches, aber auch als gegenwärtiges Kollektiv zulässt:

1635, Wien Liechtenstein-Galerie Gesticktes Tuch um meine Schultern, steile Federn, Agraffen am Barett und Ketten die Brust hinab – wie sollt’ ich’s nicht! ich teile euch die Bewundrung zu, die eure fetten 5

Mäuler mir schulden. Ist’s zu eurem Heile denn nicht, daß kräftig (wie in euren Betten die Kinder fremder Kavaliere) Zeile für Zeile Rembrandts Rühmung, in Sonetten

und Arien gesunden, lebt! Ihr sollt, unsicher lächelnd vor Entschuldigungen, die Rechnung mir begleichen. Gold ist Gold 10

|| Hans Christian Kosler: Johannes Bobrowski. In: Lyrik der DDR. Hg. von Nadine J. Schmidt. München 2017 (KLG Extrakt), S. 40–49, bes. S. 40f.; ferner Bernd Leistner: Erinnernde Sprachmagie. Zu Bobrowskis Gedichten. In: Text + Kritik 165 (2005), S. 53–66, bes. S. 53f.; Untersuchungen zu Bobrowskis gesamten lyrischen Werk sind spärlich, verwiesen sei auf die Orientierung verschaffende Studie von Stefan Reichert: Das verschneite Wort. Untersuchungen zur Lyrik Johannes Bobrowskis. Bonn 1989 (Literatur und Reflexion, NF, Bd. 2). 87 Andreas Degen: Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin 2004 (Philologische Studien und Quellen, H. 187), S. 349.

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und ziemt euch nicht. Spart an den Huldigungen und zahlt. Hier mal ich mich (doch nicht für euch) und prüf der Welt Gewicht und bin ihm gleich.

Abb. 101: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Selbstbildnis mit Federhut und Barett (1635)

1648, Radierung Kein Engel trat zu mir und sagte: Schreib! – Ich bin es selbst. Ich messe dieser Jahre brandiges Rund, den wüst zerschundnen Leib der Völker und die Erde, ihre Bahre.

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an meinem eignen Menschenbild: ich fahre zur Stirn auf mit den Händen, presse, reib’ die Schläfe, weil Haß mir in die Haare tagtäglich springt, den Hut vom Kopf stößt – treib’ die Ernte meiner Zeit (Gestalten, Zahlen, Angstschrei und Rüstung, Lachen) in die leere stäubende Scheuer ein und schreib’s im fahlen Licht eines späten Tages auf. Es wäre mein Bildnis dies, wer wollt das einmal sagen! Unmaß der Zeit – in mir hab ichs ertragen.

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Abb. 102: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Selbstbildnis am Fenster, auf einer Radierplatte zeichnend (1648)

1688, Köln Wallfraf-Richartz-Museum Ihr braucht nicht zu erschrecken. Meiner Tage endlos verwandelte Gestalt ist hier in eines aschenleichten Abends Frage versunken, eingeschlossen, wie Papier 5

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fortknisternd. Und das Gold, das ich noch trage an dieser Schulter, ach – als ein Geschwür hängt’s faul daran. Ich trags, im Aderschlage ist Blut nicht mehr, es auszutreiben, Gier und Unrast. Doch will ich hin mit Augen wie diesen eingekniffnen, mit dem schlechter von Jahr zu Jahr gewordnen Mund? Euch taugen die letzten Bilder nicht. Sucht euch Betrug! Laßt dies nur noch, daß endlich mein Gelächter euch heulen machte, – diese nur! Genug.88

|| 88 Bobrowski: Gedichte aus dem Nachlass, S. 190–192.

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Abb. 103: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Selbstbildnis als Zeuxis (1662)

Die Vers- und Strophenenjambements müssen in den Sonetten nicht gezählt werden, da sie als strukturelles Mittel zur Durchbrechung der strengen Sonettform beinahe an jeder möglichen Stelle zum Einsatz kommen. Im dritten Sonett, das eines der späten Selbstbildnisse Rembrandts zum Gegenstand hat, wird diese Auflösung der Form bzw. Vers- und Stropheneinheiten bis auf Vers 12 mit jedem Vers und jedem Strophenübergang vollzogen. Es ist naheliegend, hinter diesem exzessiv benutzen Mittel der Versgestaltung nicht nur einen ästhetischen Kunstgriff zu vermuten, der auch Aussagewert für Bobrowskis eigene ästhetische Positionen zwischen Tradition und Moderne, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen engagierter Literatur und formbewusster Artistik besitzt, sondern dass dies auch den bildnerischen Vorlagen Rechnung trägt:89 So wie Rembrandt in seinen Selbstbildnissen die äußere Form und Bildaufgabe des (Künstler-)Selbstporträts (noch) erfüllt aber dann vor allem in den späten Gemälden diese Gattung durch seine Malweise und Themenauffassung immer mehr sprengt, dynamisiert auch Bobrowski die äußere Form des Sonetts nicht zuletzt durch den exzessiven Einsatz von Enjambements. Bei der bildkünstlerischen Vorlage, Rembrandts Selbstbildnis als Zeuxis, sind die in der linken Bildhälfte schemenhaft sich abzeichnende, Modell stehende (ältere) Frau und das in solchen Darstellungen

|| 89 Zur Einordnung Bobrowskis in die Nachkriegsliteratur vgl. Reichert: Das verschneite Wort, 1989, S. 218ff.; Fritz Minde: Johannes Bobrowskis Lyrik und die Tradition. Frankfurt am Main, Bern 1981 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 420).

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eigentlich immer gezeigte Attribut des Malstocks kaum zu erkennen. Die zentralen Bildinhalte und Darstellungsmotive der Zeuxis-Anekdote fehlen also.90 Auffälliger noch ist indessen, wie die Kommunikationssituationen der Sonette und das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft gestaltet sind. Im ersten Sonett, das sich auf Rembrandts Selbstbildnis im Alter von knapp 30 Jahren bezieht, tritt ein selbstbewusster, herausfordernder Künstler einem von ihm angesprochenen, geradezu beschimpften Kollektiv gegenüber, hinter dem sich unschwer Auftraggeber, Lobhudler und allgemein eine gesellschaftliche Öffentlichkeit erkennen lassen, was wiederum – anders als beim zweiten Sonett – noch deutlich eine historische Kommunikationssituation fingiert: Der historische Rembrandt von 1635 spricht mit einem Gegenüber seiner eigenen Gegenwart. Gerade in den Selbstbildnissen wird ja die Frage nach dem eigenen Beruf und er Bedeutung des künstlerischen Schaffens für den Künstler selbst zum zentralen Thema. Nach einer recht genauen Beschreibung des Gemäldes (V. 1–4) spricht Rembrandt seine Situation in derben Worten aus: Die „Huldigungen“ (V. 12) sind nicht in erster Linie das angestrebte Ziel, das er mit seiner Malerei erreichen möchte, sondern die Erfüllung seiner Honorarforderungen beschäftigen den jungen Maler. Nicht also der Künstler Rembrandt spricht sich hier als junger Mann aus, sondern der ‚Unternehmer‘, der im Spannungsfeld von ästhetisch-künstlerischer Schaffenskraft und materiell-ökonomischer Bedürfnislage seine Kunstwerke als Aufträge auszuführen hat. Wie schon in Benns Gedicht geht es auch hier um die Freiheit des Künstlers, die Autonomie der Kunst und auch um die Bedeutung der gesellschaftlichen, öffentlichen Anerkennung. Was bei Benn und seinem alternden, desillusionierten Rembrandt allerdings als Verzagen angesichts dieses nicht aufzulösenden Spannungsverhältnisses gestaltet wurde, wird bei Bobrowskis erstem Sonett zum jungen Rembrandt zu einem Aufbegehren gegenüber den Verhältnissen, in denen der Künstler sich zurechtfinden muss. Darauf rekurriert auch die Sprache, die Rembrandt in den Mund gelegt wird. Herablassende Beschimpfungen des angesprochenen Gegenüber („ich teile/euch die Bewundrung zu, die eure fetten/Mäuler mir schulden“, V. 4f.) werden mit selbstbewusst vorgetragenen Forderungen nach ordentlicher und

|| 90 Von Zeuxis wird einerseits überliefert, er habe sich beim Auftrag, die schöne Helena zu malen, sich fünf der schönsten Frauen kommen lassen und dann von jeder jeweils nur das Schönste für sein Porträt übernommen, andererseits wird bei Karel van Mander unter Berufung auf Marcus Verrius Flaccus das Lächeln bzw. das Lachen des Zeuxis als Todesursache kolportiert, als dieser eine alte Frau „nach dem Leben“ malen sollte. Vgl. Weber: Beobachtung des täglichen Lebens, 2014, S. 71f.

2 Rembrandt im Gedicht nach 1945 | 663

angemessener Bezahlung („Ihr sollt,/unsicher lächelnd vor Entschuldigungen,/die Rechnung mir begleichen“, V. 9–11) verbunden. Dieses Selbstbewusstsein wird im zweiten Sonett deutlich zurückgenommen und durch eine eigentümliche Selbst-Entheroisierung und Entmystifizierung des künstlerischen Ingeniums ersetzt. Der erste Vers des Quartetts spielt auf Rembrandts Darstellung des Evangelisten Matthäus (1661, Abb. 91) im Moment der Inspiration bzw. Einflüsterung durch den Engel bei der Abfassung des Evangeliums an. Der Kontrast des Gemäldes (96x81cm) mit religiösem Sujet mit dem als Kaltnadelradierung ausgeführten Selbstbildnis am Fenster (1648) in winzigem Format von gerade einmal 16 auf 13 Zentimetern könnte größer nicht sein:91 Der von der Ikonographie des Evangelisten-Porträts vorgegebenen Darstellung der Entstehung von Kunst als göttlicher Eingebung wird die Ikonographie des Selbstbildnis als Künstler auch sprachlich rekapituliert, indem das, was zu sehen ist, auch nur als etwas aus dem Künstler als Menschen erwachsenes von Rembrandt proklamiert wird (V. 2 und 14). Gleichzeitig erscheint der Künstler auch als Diagnostiker und Seismograph seiner eigenen Zeit, die in das Kunstwerk Eingang finden (V. 2– 5). Gerade an dieser Stelle scheint mir aber Rembrandt gewissermaßen in einer Metalepse seine Rollenrede und -situation historisch hinter sich zu lassen und doch eher zu einer Aussage über die Gegenwart Bobrowskis in den Nachkriegsjahren zu treffen, wenn vom „brandigen Rund“ (V. 3) der Jahre, dem „wüst zerschundenen Leib/der Völker“ (V. 3f.) und der Erde als „Bahre“ (V. 4) die Rede ist. Das entspricht auch Bobrowskis Verfahren, im Vergangenen und Historischen die eigene Gegenwart zu betrachten.92 Der Bruch des Künstlers mit den potentiellen Rezipienten und Auftraggebern wird anschließend im dritten Sonett vollzogen, in dem Rembrandt in eben solcher Weise wie bei Benn als desillusionierter, missverstandener Maler ernüchtert auf sein Leben zurückblickt. Die zeitgenössische, teilweise sehr scharf ausgefallene Kritik an Rembrandts Spätstil hatte viele Ansatzpunkte. Sie kulminieren in seinem Selbstbildnis als Zeuxis (1662, Abb. 103), dem einerseits das Fehlen jenes zur Bildtradition der Künstler-Selbstbildnisse gehörende Moment der Darstellung des Malvorgangs selbst, andererseits technisch der dick aufgetragene, fast schon skulptural wirkende, die Figur und den Hintergrund nur schemenhaft voneinander trennende Farbauftrag vorgeworfen wurde.93 Gerade diese Wirkung seiner eigenen Malerei am Beispiel des Selbstbildnisses als Zeuxis wird von

|| 91 Vgl. Wiesemann: Die späten Selbstbildnisse, 2014, S. 42f. 92 Vgl. Rauchenbacher: Johannes Bobrowski, 2011, S. 90f. 93 Vgl. zusammenfassend Wiesemann: Die späten Selbstbildnisse, 2014, S. 42ff.; Weber: Beobachtung des täglichen Lebens, 2014, S. 73.

664 | V Bildgedichte nach 1945

Rembrandt in den beiden Quartetten kolportiert (V. 1-8), gleichzeitig wird diese Darstellungsweise aber auch als authentischer Ausdruck des alten, sich selbst zuwider werdenden Rembrandt („als ein Geschwür/hängt’s faul daran“, V. 6f.) verteidigt, hinter der die von Rembrandt gerade in diesem, auf eine antike Anekdote rekurrierendem Gemälde vertretene Auffassung sichtbar wird, „antikisch auch mit hässlicher Physiognomie und unherorischem Lachen sein zu können“.94 Das Selbstbildnisses als Zeuxis steht pars pro toto für das gesamte Spätwerk, vor allem aber für die späten Selbstbildnisse wie das im Londoner (Kenwoodhouse) Selbstbildnis mit zwei Kreisen (1665–1669) und das Selbstbildnis im Alter von 63 Jahren (1669, Abb. 104) aus der National Gallery (London). „Euch taugen/die letzten Bilder nicht“ (V. 11f.) resümiert der Künstler und markiert damit gleichzeitig die Distanz zum Kunstgeschmack der eigenen Zeitgenossen sowie das Beharren auf den eigenen Kunstvorstellungen und die Selbstbestimmtheit des Künstlers.

Abb. 104: Rembrandt Harmenszoon van Rijn: Selbstbildnis im Alter von 63 Jahren (1669)

|| 94 Weber: Beobachtung des täglichen Lebens, 2014, S. 73.

3 Antifaschismus, Neubeginn und Gesellschaftskritik in der DDR 3.1 Die Widerwärtigkeiten des Krieges und der Unterdrückung: Francisco de Goya in der DDR zwischen Kontinuität und Aufbruch (Erich Arendt und Günter Kunert) Debatten um die Lyrik wie in der Bundesrepublik, um die Ausrichtung der Literatur insgesamt und ihre Funktion im gesellschaftlichen Gefüge als Kommunikations- und Erziehungsmedium hat es in der gleichzeitig gegründeten DDR erst im Laufe der 1960er Jahre gegeben, als eine jüngere, aufstrebende Dichter-Generation um Günter Kunert und Wolf Biermann deutlicher hörbar das Wort ergriffen.95 Im Unterschied zu den auch für das Verständnis von Gedichten auf Künstler und Kunstwerke im vorangegangenen Kapitel geltend gemachten Diskussionen um die vor allem von Gottfried Benn proklamierte Möglichkeit ‚artistischer‘ und ‚monologischer‘ Dichtung ist die Lyrik-Produktion der 1950er Jahre in der DDR durch die ideologisch-politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen der Staatsführung bestimmt, die Jens Dechert als „kollektivistische politische“ Kunst charakterisiert hat.96 Tonangebend sind in den ersten Nachkriegsjahren in der DDR noch Dichter, die wie Johannes R. Becher, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Georg Maurer oder Erich Arendt als Oppositionelle des Nazi-Regimes verfolgt und angefeindet worden waren und nicht selten durch Vertreibung und Exil ihre Rückkehr nach Deutschland und im Speziellen ihre neue Heimat unter sozialistischen Vorzeichen in der DDR als ‚wahrhaftigen‘ Neubeginn verstanden.97 Durch die

|| 95 Verwiesen sei hier auf die wahrscheinlich wichtigste, Initial-Bedeutung einnehmende LyrikDebatte in der Zeitschrift Forum, die sich nicht zufällig an den Gedichten Günter Kunerts als Vertreter einer neuen, um die 1930er Jahre geborenen Generation, entzündete und eine Grundsatzdiskussion auslöste um die Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten und den Grenzen der ideologischen Indienstnahme von Lyrik, worauf noch zurückzukommen ist. Vgl. Elke Kasper: Zwischen Utopie und Apokalypse. Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1950 bis 1987. Tübingen 1995 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 80), S. 57ff, zur älteren Forschung auch S. 6–22. 96 Jens Dechert: Probleme der Lyrik. Die Neubestimmung der Lyrik nach 1945. In: Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk. Hg. von Walter Delabar und Ursula Kocher. Bielefeld 2007, S. 211–230, hier S. 227. 97 Zur Diskussion und in Ergänzung zu Fabian Lamparts auf die BRD konzentrierte Studie (Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960. Berlin, Boston https://doi.org/10.1515/9783110700732-018

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Flucht und die Teilnahme am antifaschistischen Kampf als prägende Erlebnisse sind Autoren wie der 1903 in Neuruppin geborene Erich Arendt, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg literarische Texte publiziert hatten, nicht zufällig zu Repräsentanten einer politischen, von der Staatsideologie der DDR getragenen Literatur vor allem der 1950er Jahre geworden, die von der Forschung unter der Perspektive der Allianz von „sozialistischen Humanismus“ und „bürgerlichem Antifaschismus“98 und mit den Schlagworten einer auf Pathos abzielenden, „deklamatorisch-abstrakten“ Lyrik versehen worden ist. 99 Gerade am Beispiel von Dichtern aus unterschiedlichen Generationen wie Erich Arendt und Günter Kunert, die im Abstand von fast 20 Jahren Werke desselben Künstlers, Francisco de Goya, bedichten (Kapitel IV., 3.1.) oder wie Stephan Hermlin, Wolf Biermann und ebenfalls Günter Kunert, die den Mythos vom gefallenen Ikarus in Bezugnahme auf Pieter Bruegels d.Ä. berühmtes Gemälde Landschaft mit Sturz des Ikarus (1550/60; 1590/95) literarisieren (Kapitel IV., 3.2.), lassen sich solche von der Forschung vorgeschlagenen Demarkationslinien aber auch Kontinuitäten für den Bereich des Bildgedichts thematisieren und konkretisieren. Nicht nur für die Literatur und die Dichter, sondern auch für die Bildende Kunst und die Künstler sind die von staatlicher Seite durch die Kulturkonferenzen der SED zur Herstellung ideologischer Klarheit (1957) oder einer mit dem Bitterfelder Weg beschrittenen Hebung des Bildungsniveaus der Arbeiter (1959/1960) vorgegebenen ästhetischen Richtlinien bindend gewesen, sofern nicht die Ausübung der eigenen Kunst durch ein Berufsverbot riskiert werden sollte. Letztlich mussten sich auch nach den 1950er und 1960er Jahren jene enttäuscht sehen, die nach dem Machtwechsel an der Spitze der Partei von Walter Ulbricht zu Erich Honecker dessen im Rahmen des VII. Parteitages der SED im Jahre 1971 versprochene ‚Weite und Vielfalt‘ in der Kunst als Signal einer

|| 2013 [linguae & litterae, 19]) vgl. Anneli Hartmann: Der Generationenwechsel – ein ästhetischer Wechsel? Schreibweisen und Traditionsbezüge in der jüngsten DDR-Lyrik. In: Literatur und Bildende Kunst. Lyrikdiskussion. Schillerpreis für Christa Wolf. Hg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn 1985 (Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Bd. 4), S. 109–134, bes. S. 110– 114. 98 Wilfried Barner: Aufbau, Tauwetter, „Kulturrevolution“: Literarisches Leben in der DDR der Fünfziger Jahre. In: Ders.: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hg. von Wilfried Barner. München 2006 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 12), S. 274–306, hier S. 276. 99 Hartmann: Der Generationswechsel, 1985, S. 112; zu Erich Arendt als exemplarischen Autor vgl. Rüdiger Reinecke: „Das Schreiben beginnt lange vor dem Schreiben“. Zu Erich Arendts Spanienkriegs-Texten. In: Gedächtnis- und Textprozesse im poetischen Werk Erich Arendts. Hg. von Nadia Lapchine u.a. Bern u.a. 2012, S. 51–83 hier S. 53ff.

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Aufbruchstimmung und Verbesserung der repressiven Zustände im künstlerischen Bereich deuteten.100 Die im Folgenden behandelten Gedichte zu Werken von Francisco de Goya (Erich Arendt, Günter Kunert) und die auf Bruegel anspielenden Ikarus-Gedichte (Stephan Hermlin, Günter Kunert, Wolf Biermann) sind von vornherein als politisch-didaktische Gedichte anzusprechen, die allerdings gerade im vergleichenden Blick unterschiedliche – ideologisch affirmative einerseits und gesellschaftskritische andererseits – Aktualisierungs-Perspektiven ihren Bildgedichten unterlegen. Für das Bildgedicht in der DDR gilt indessen gleichermaßen, was schon für den Großteil der behandelten Gedichte um 1900 und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festgestellt wurde: Gedichte auf Künstler der eigenen, unmittelbaren Gegenwart bleiben literarhistorisch gesehen die Ausnahme. Das ist auch in der DDR-Lyrik nicht anders. Auch wenn hier zu vermuten wäre, dass der parteipolitisch verordnete Schulterschluss und Gleichschritt der Künste größere Auswirkungen gehabt haben dürfte als im Westen. Aber es gibt erst ab den 1970er Jahren mit einem gewissen historischen Abstand Gedichte etwa von Rainer Kirsch (Zeichnung, 1980), Klaus-Dieter Schönewerk (Worte am Weg, 1975) oder Hans Brinkmann (Sisyphos, 1980) auf Werke bekannter DDR-Maler wie Willi Sitte, Wolfgang Mattheuer oder Werner Tübke.101

|| 100 Einen knappen Überblick bietet Frank Trommler: Kulturpolitik der Deutschen Demokratischen Republik. In: Kulturpolitisches Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik im Vergleich. Hg. von Wolfgang R. Langenbucher, Ralf Rytlewski und Bernd Weyergraf. Stuttgart 1983, S. 390–397; ferner und ausführlicher für die frühen Jahre der DDR vgl. den Band von Jochen Staadt (Hg.): „Die Eroberung der Kultur beginnt!“ Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten der DDR (1951–1953) und die Kulturpolitik der SED. Frankfurt am Main [u.a.] 2011; mit Blick besonders auf den bildkünstlerischen Bereich vgl. Ulrike Ziegler: Kulturpolitik im geteilten Deutschland: Kunstausstellungen und Kunstvermittlung von 1945 bis zum Anfang der 60er Jahre. Frankfurt am Main [u.a.] 2006. 101 Die Malerei in der DDR war in den 1950er Jahren nicht sofort und nicht ausschließlich auf einen sozialistischen Realismus sowjetischen Vorbilds ausgerichtet, sondern vielfach auch von der Orientierung an Strömungen der Weimarer Republik geprägt. Am Beispiel der Landschaftsmalerei und der Dichtung hat Günter Renner das Verhältnis von Malerei und Literatur in der DDR grundsätzlich als ein asymmetrisches, nicht aufeinander bezogenes charakterisiert, was neben der in der DDR wie in der BRD geführten Debatte um die Abstraktion in der Bildenden Kunst nach 1945 ein weiterer Grund für die verweigerten ‚wechselseitigen Erhellungen‘ sein dürfte. Vgl. überblickshaft Karin Thomas: Die ‚andere‘ deutsche Kunst: Malerei und Grafik in der DDR. Entwicklung und Gegenwart. In: Literatur und bildende Kunst. Lyrikdiskussion. Schillerpreis für Christa Wolf. Hg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn 1985 (Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Bd. 4), S. 1–22; im selben Sammelband: Rolf Günter Renner: Gemalte und geschriebene Landschaften. Zu einer Beziehung zwischen Malerei und Literatur in der DDR, S. 69–108; mit Blick auf ein Gemälde von Lutz Brandt (Landschaft mit Baum) und

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Auch die lyrische Rezeption von Malern, die im Dritten Reich verfemt und als ‚entartet‘ ausgestellt worden waren findet in der DDR nicht früher statt als in der Bundesrepublik. Eine Ausnahme bildet hier nur – wie schon Rudolf Gahlbecks Sonett-Zyklus zu Ernst Barlach (Ernst Barlach. Sonette um sein Werk, 1951) im vorangegangenen Kapitel – Franz Fühmanns Gedichte (Der Übersetzer, 1937; David, 1937) zu dem antifaschistischen Maler Carl (Karl) Hofer, dessen erstes zu dem in zwei Fassungen von 1928 und 1943 ausgeführten Gemälde Die schwarzen Zimmer hier wiedergegeben sei. Es veranschaulicht exemplarisch einerseits die oben genannte didaktisch-ideologische Ausrichtung der Dichtung eines hauptamtlichen Parteifunktionärs der SED. Andererseits wird durch den Rückgriff auf das schon zu seiner Entstehungszeit als antifaschistisches Kampfbild gedeutete Werk von Carl Hofer die Kontinuität und Relevanz des fortgeführten Kampfes gegen Despotismus, Einschüchterungspolitik, Willkür- und Gewaltherrschaft deutlich, wie sie in der bedrückenden Szenerie von Hofer zum Ausdruck gebracht worden waren (Abb. 105).

Abb. 105: Carl (Karl) Hofer: Die schwarzen Zimmer, zweite Fassung (1943)

Die von Hofer durch die Enge des Bildraums und irrational erscheinende Atmosphäre in bedrückender Weise anschaulich gemachten Themen werden vom || Landschaftsdichtung konstatiert Renner allgemein, „daß die Literatur anders als die Malerei schon früh und deutlich jene Traditionen aufgreift und nacherzählt, die in der Malerei zunächst ausgespart bleiben. So stehen Malerei und Literatur in der DDR über weite Strecken ihrer Entwicklung nicht in einem symmetrischen Verhältnis, sondern sie reagieren zeitverschoben auf die ihnen voranschreitende Tradition und aufeinander. Es scheint, daß sich am ehesten in der Literatur das Vermögen zur Bewahrung des Erbes und das Bewußtsein einer künstlerisch schlüssigen Kontinuität erhält, während in der Malerei dieser ideologische Anspruch zunächst zu einem radikalen Bruch führt; die Bilder der 60er Jahre belegen dies.“ (S. 76)

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staatsnahen Dichter Fühmann freilich nicht aktualisierend auf die DDR-Verhältnisse bezogen, sondern der historische Gehalt wird verbunden mit einer auf die Zukunft bezogenen Warnung vor der Bedrohung durch den Faschismus.102 Das ursprünglich auch Der Trommler betitelte Gemälde spielt mit der ‚Hauptfigur‘ des Trommlers natürlich auch auf die verbreitete und bekannte Selbstbezeichnung Hitlers aus den 1920er Jahren an und warnt insofern vor der Verharmlosung von eigentlich als Despotismus und Nazismus erkennbaren Hinweisen und Signalen, die Fühmann von der Bildvorlage ausgehend entwickelt: Die schwarzen Zimmer (1928)

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Kahle Kammern, schwarz, unterm Dach. Ein nackter Mann trommelt; ein nackter Schlächter eilt durch die Tür nach einem Mann im Hemd, der weggehen will, ein junger Schläger, mit Sphinxgesicht, mustert uns, und ein violetter Körper steht vor den leeren Fenstern, vor der gräßlichen Grelle des Himmels, und ein Großer, Unsichtbarer hockt hinter der Tür auf der Lauer im Dunkeln. Mein Gott, wer trommelt denn da? Angestrengt trommelt der Trommler, wüst eilt der Schlächter, grausam schaut der Sphinxhafte, stumpf der Violette und der Mann, der wegeilt, zeigt sein Gesicht nicht, die Räume sind dunkel, der Himmel ist grell. Trommelgegroll rollt. Der Große, Unsichtbare, der hinter der Tür im Dunkel hockt, hat sich erhoben. Er wird jetzt kommen. Mein Gott, wer trommelt denn da, sind denn keine Ohren, die hören, was da getrommelt wird, wer da trommelt? O daß doch Augen wären, dies Trommeln zu sehen, wenn das Ohr den Ton nicht erkennt: So seht: Der Unsichtbare ist schon an der Tür, der Unsichtbare tritt ein; er

|| 102 Zu Fühmann informativ und anschaulich vgl. den Band von Barbara Heinze (Hg.): Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten, Briefen. Rostock 1998.

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ist, der Unsichtbare, schon eingetreten, ist da, unsichtbar – stumpf stampfend im Dunkeln, vor der Grelle des Himmels, der nah in Gewittern zerbirst.103

Zwischen der Entstehung von Erich Arendts drei Sonetten (Goya, 1940/43) und Günter Kunerts Gedichten zu Goya (Zu Radierungen von Goya, 1956/1961) liegen fast zwanzig Jahre. Während Kunerts Gedichte im selben Jahr ihrer Entstehung, 1956, zu ersten Mal publiziert wurden, sind Erich Arendts Sonette zunächst 1952 in dem Band Bergwindballade. Gedichte des spanischen Freiheitskampfes gedruckt und auch in die breit rezipierte Sammlung Aus fünf Jahrzehnten (1968) aufgenommen worden. Publikationsgeschichtlich und kulturhistorisch sind sie – bei allen Unterschieden – Teil der für die 1950er und 1960er Jahre in der DDR bedeutenden Goya-Rezeption und der Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg.104 Beide Dichter greifen, erstens, unterschiedliche Themenbereiche wie soziale Ungerechtigkeit, Snobismus, Missbrauch politischer und religiöser Macht, Gier, Betrug und Falschheit aus Goyas berühmten druckgraphischen Serien Los Caprichos (1796–1797), Desastres de la Guerra (1810–1814) und Los Proverbios (1815) auf, von denen nur die zuerst genannte zu Goyas Lebzeiten veröffentlich worden ist. Beide Autoren transformieren, zweitens, die sozialkritischen Aussagegehalte der Druckserien in Sprache, wobei dabei nicht nur die bildliche Vorlage eine Rolle spielt, sondern die Dichter auch auf die emblematische Anlage der Blätter selbst mit ihrer Kombination von bildkünstlerischer Darstellung und sentenzhaftem titulus zurückgreifen können. Die Blätter von Goyas Druckserien sind selbst schon intermediale Kunstwerke, die sich den Synergieeffekt von Bild und Sprache für ihre Gesellschafts- und Machtkritik zunutze machen.105 Arendt und Kunert

|| 103 Franz Fühmann: Aber die Schöpfung soll dauern. Gedichte. Berlin (Ost) 1957, S. 26f. 104 Am bekanntesten ist wohl noch die Verfilmung von Lion Feuchtwangers Roman Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis (1948/51) durch Konrad Wolf 1971. Zum Spanischen Bürgerkrieg berücksichtigt die Rezeption in unterschiedlichen Disziplinen der Band von Wolfgang Asholt, Rüdiger Reinecke und Susanne Schlünder (Hg.): Der Spanische Bürgerkrieg in der DDR. Strategien intermedialer Erinnerungsbildung. Frankfurt am Main 2009 (Bibliotheca Ibero-Americana, Bd. 126); Kurzdeutungen, Dokumentation und Präsentation internationaler Gedichte auf Goya versammelt der voluminöse Band von Helmut C. Jacobs: Die Rezeption und Deutung von Goyas Werk in der Lyrik. Edition der internationalen Bildgedichte. Würzburg 2015 (Meisterwerke der spanischen Kunst im Kontext ihrer Zeit, Bd. 2). 105 Am Beispiel der Caprichos erläutert das Susanne Schlünder: Karnevaleske Körperwelten Francisco Goyas – Zur Intermedialität der ‚Caprichos‘. Tübingen 2002; am Beispiel des

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inszenieren schließlich, drittens, auch den Schöpfer der Blätter explizit (Arendt) oder implizit (Kunert) als Prototypen des engagierten Künstlers und Sinnbild des Intellektuellen, der mit seiner Kunst den Missständen seiner Gegenwart den Spiegel vorhält und stellen sich damit als Dichter in dieselbe Tradition.106 In den Aussageabsichten und der Ausrichtung der jeweils vorgenommenen Aktualisierung von Goyas Druckgrafiken macht sich dann allerdings der oben schon erwähnte Generationenunterschied der Autoren bemerkbar: Überführt Erich Arendt den Aussagegehalt seiner im Zweiten Weltkrieg entstandenen, auf den Spanischen Bürgerkrieg anspielenden Gedichte mit ihrer Warnung vor Dummheit, Krieg, Despotismus und Faschismus ungebrochen als politische Maxime in die DDR-Gegenwart, so nutzt der jüngere Günter Kunert das bei Goya angelegte Potential zur Gesellschafts- und Machtkritik und entfernt sich damit vom den historischen Bedingungen, die für die Bildvorlage kennzeichnend waren. Schon auf der lexikalischen Ebene werden bei Kunert Aktualisierungssignale gesetzt, die deutlich Bezug auf die Verhältnisse in der DDR nehmen und nicht mehr wie bei Arendt (nur) die Kontinuität antifaschistischer Appelle vor und nach dem Zweiten Weltkrieg betonen. Für den Spanien-Kämpfer Erich Arendt waren der Krieg, die Flucht und der antifaschistische Kampf nicht nur biographisch prägende Erlebnisse, sondern die daraus resultierende Furcht vor einem Wiedererstarken faschistischer Kräfte in Europa war gleichsam auch wesentlich für sein poetologisch-ästhetisches Credo einer politisch engagierten Literatur.107 Wohl auch als „Rettung vor dem Chaos“108 sind nicht nur seine Gedichte zu Goya in der Sonettform gehalten, sondern auch die meisten übrigen Gedichte aus der Zeit folgen einer strengen und

|| berühmtesten Blattes Nr. 43 (El sueño de la razon produce monstruos – Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer) geht darauf auch ein Helmut C. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft. Goyas Capricho 43 in Bildkunst, Literatur und Musik. Basel 2006, bes. S. 29ff. 106 Vgl. Ursula Henningfeld: Mythos Goya – Überlegungen zu einer transkulturellen und transmedialen Identifikationsfigur. In: Goya im Dialog der Medien, Kulturen und Disziplinen. Hg. von Ursula Henningfeld. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2013 (Freiburger Romanistische Arbeiten, Bd. 3), S. 7–13. 107 Reinecke: Zu Erich Arendts Spanienkriegs-Texten, 2012, S. 52ff.; Wolfgang Emmerich: Welt, gesehen mit dem rebellischen Auge des Dichters. Die Exillyrik Erich Arendts. In: Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche 1930 bis 1960. Hg. von Wulf Koepke und Michael Winkler. Bonn 1984 (Studien zur Literatur der Moderne, Bd. 12), S. 144–165, hier S. 159–164. 108 Wolfgang Emmerich: Mit rebellischem Auge. Die Exillyrik Erich Arendts. In: Text+Kritik, 82/83 (1984), S. 27–44, hier S. 35.

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konsequenten Vers-Regulierung.109 So wie die Entstehung der Sonette im Zusammenhang mit Arendts Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg zu sehen ist, so fällt ihre Publikation gerade in die bis zum Beginn der 1960er Jahre reichende erste Phase der Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg in der DDR, die hauptsächlich von Nachdrucken schon zuvor entstandener oder auch schon publizierter Texte wie Eduard Claudius’ Grüne Oliven und nackte Berge (1944/45), Bodo Uhses Leutnant Bertram (1943) oder auch Anna Seghers Das siebte Kreuz (1947) und eben Erich Arendts Bergwindballade. Gedichte des spanischen Freiheitskämpfers gekennzeichnet ist.110 Institutionell zeigt sich die Bedeutung des Spanien-Themas als Identifikationsmoment eines antifaschistischen Staats-und Gesellschaftsverständnisses in der zum und seit dem 20. Jahrestag des Krieges 1956 verliehenen Hans-Beimler-Medaille für verdiente deutsche Antifaschisten, die nach dem 1936 schon gefallenen deutschen Spanien-Kämpfer benannt worden ist.111 Erich Arendt wählt für seine Goya-Gedichte die Form des englischen (Shakespeare-)Sonetts mit drei Quartetten und einem Zweizeiler, der sentenzhaft am Ende das Sonett zusammenfasst. Damit imitiert er die Struktur der Bild-Vorlagen, die auch mit erläuternden und pointierten tituli versehen sind, die gleichzeitig Bildthema und Bildtitel sind. Es handelt sich um kumulative Bildsonette, die

|| 109 Auf die Sonderstellung von Arendts (Exil-)Lyrik – obwohl er nicht der einzige in der DDR reüssierende Dichter war, dessen Wurzeln im Expressionismus lagen – hat schon Wolfang Emmerich (Welt, gesehen mit dem rebellischen Auge des Dichters, 1984, S. 145) hingewiesen. Obwohl politisch auf einer Linie, musste sich Arendt von Johannes R. Becher in den 50er Jahren den Vorwurf des Formalismus, der Subjektivität und der Gesellschafts- und Praxisferne gefallen lassen, vgl. Gregor Laschen: Lyrik in der DDR. Anmerkungen zur Sprachverfassung des modernen Gedichts. Frankfurt am Main 1971 (Literatur und Reflexion, Bd. 4), zu Arendt S. 19ff. 110 Die Gedichte sind abgedruckt in unverändertem Wortlaut (und Überschrift) in Erich Arendt: Kritische Werkausgabe, Bd. I: Gedichte 1925–1959. Hg. von Manfred Schlösser. Berlin 2003, S. 139–221, die Goya-Sonette S. 140–142; zum Kontext vgl. Silvia Schlenstedt: Spanienkrieg in der Literatur der DDR. Überblick und Beispiele. In: Der Spanische Bürgerkrieg in der DDR. Strategien intermedialer Erinnerungsbildung. Hg. von Wolfgang Asholt, Rüdiger Reinecke und Susanne Schlünder. Frankfurt am Main 2009 (Bibliotheca Ibero-Americana, Bd. 126), S. 57–73, hier S. 58ff. und zu Arendt S. 62ff.; auf die Rezeption des Spanischen Bürgerkriegs im Gedicht konzentriert sich Edgar Bazing: Internationale Lyrik zum Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939). Ästhetische und politische Tendenzen in Gedichten von Rafael Alberti, Erich Arendt, Paul Eluard, Stephen Spender und anderen. St. Ingbert 2001, zu Arendt S. 193–223. 111 Vgl. Rüdiger Reinecke: Mythos oder Licht der Erinnerung? (Literarische) Spurensuche zur Rezeption des Spanienkriegs in der DDR am Beispiel von Hans Beimler und anderen. In: Der Spanische Bürgerkrieg in der DDR. Strategien intermedialer Erinnerungsbildung. Hg. von Wolfgang Asholt, Rüdiger Reinecke und Susanne Schlünder. Frankfurt am Main 2009 (Bibliotheca Ibero-Americana, Bd. 126), S. 153–183.

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nicht einzelne Blätter der unterschiedlichen Druckserien beschreiben und deuten. Vielmehr konzentrieren sich die Sonette auf den sozial- und herrschaftskritischen Aussagegehalt der genannten druckgrafischen Serien und spielen bisweilen auf einzelne – aber auch nur auf die berühmtesten – Blätter an. Nur das dritte Sonett lässt eine präzise Zuordnung einzelner Anspielungen auf bestimmte Blätter aus dem Zyklus Desastres de la Guerra (1810–1814) zu. Von den ersten beiden Sonetten führt auch nur das zweite einen Titel aus Goyas druckgrafischem Werk in der Überschrift (Die Sprichwörter – Los Proverbios), doch scheinen die beiden ersten Sonette zumindest was die Bild-Assoziationen durch die genannten „Fledermäuse“ (II, V. 1), den „Esel“ (II, V. 14) und „Priester“ (II, V. 3 und 12) sowie die von Goya übernommene irrationale Atmosphäre einer aus den Fugen geratenen Welt einen deutlicheren Bezug zu Blättern aus den Caprichos zu markieren: Goya I Vom Glanz der Herren Denn so allein in dieser Kriecherei am Hof, von Königen, die feiles Pack umschmeichelt! Zum Munde rinnt die Galle ihm, entzwei, entzwei zu schlagen ihre Welt: Frech lügt die Hand, die streichelt! 5

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Wie kann man diese Wand aus Lug und Trug zerbrechen, die einen nicht mehr atmen, nicht mehr leben läßt? – Er spitzt den Rötelstift. Er stellt ins Licht der Flächen die stolze große Welt, hält sie für immer fest. Die Könige, den Hof, die Knie hinabgebogen, er läßt die glatten Herren nicht mehr los, bis er die Haut, die falsch, allen abgezogen. Da stehen sie und ihre Laster, häßlich, bloß. Er zeigt die Große Welt, der Hohlheit kalt Prunkgebärde; mit Härte, Bosheit, Gier und Trug beugen sie dich zur Erde!

II Von der Dummheit (Die Sprichwörter) Der Spuk der Fledermäuse flatternd niederfällt. Ihr kniet vor aufgeblähten schwarzen Vogelscheuchen, mit denen Priester euch erschrecken ohnegleichen. Ihr betet an! Durch eure Dummheit halten sie die Welt

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in Diebesfingern. Wie sie morderfahren das Glück aus euren Herzen reißen! Seht den Schwall von Unflat, Fratzen, Knollenleibern in Talaren, die sich die Mäuler füll’n! – Ihr kniet im Büßerfall; großmächtige Esel sitzen breit auf euren Nacken; ihr bückt euch, eure Torheit duckt euch tief. Schon will das Unheil auf euch niedersacken; ihr aber fliehet nicht, das des Verbrechens Priester rief. Ein Nachtmahr saugt an eurem Blut; ihr duldet ohne Wehren und lauscht: Großmächtige Esel schreien ihr IA in Chören. III Von Volkes Leid (Die Schrecken des Krieges) O Volk, noch stets verkauft, getreten und zerstückt; im Staub zu Staub geschleift; heillos geschändet. Welch Grauen quillt aus allen Himmeln! Niemals endet dies Sterben: Dich zu hängen, Baum an Baum sich bückt

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beim Todesspruch der Henker, die zum Zeitvertreib sich deine abgerißnen Glieder lang betrachten: Saat nur und Dung für ihre bluterfüllten Schlachten! Der scharfgeskeilte Stamm Weg, der deinen Leib gepfählt, verrät der Nachwelt nicht dein Todesweinen. Du Überlebender, Narr himmlischen Gerichts, ich zeig den Toten dir, der zwischen den Gebeinen mit Knochenfingern aus dem Jenseits schrieb sein: Nichts! Doch daß du Kraft gewinnst aus künftiger Zeiten Glanz, stell ich zur Erde dich zum Alltagswerk, zum Tanz.112

Das erste Sonett entwirft einerseits aus der produktionsästhetischen Perspektive des Künstlers selbst das Bild eines Malers, der gesellschaftliche Missstände, Konventionen und Ordnungen entlarvt und dessen historische Situation zwischen Artistentum und höfischer Abhängigkeit präzise erfasst wird. Andererseits wird

|| 112 Arendt: Kritische Werkausgabe, Bd. I, 2003, S. 140–142; in der von Pieczonka (Sprachkunst und Bildende Kunst, 1988) benutzten Ausgabe (Erich Arendt: Aus fünf Jahrzehnten. Gedichte. Rostock 1968, S. 38f.) fehlen die Zusatztitel Sonett II und III, dort sind sie nur mit Die Sprichwörter und Die Schrecken des Krieges überschrieben.

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in der zusammenfassenden Sentenz (V. 13–14) der ganze Zyklus der Caprichos und deren satirisch-subversiver Gehalt herausgestellt. Die dem historischen Goya attestierte Begabung, mit seiner Kunst Äußerlichkeiten und Konventionen als Deckmantel für Laster und Unterdrückung (V. 9–12) zu entlarven, lässt sich gleichsam auch als Aufgabe für den Künstler der Gegenwart auffassen.113 Dieses Mitleiden und Mitgefühl mit Ausgebeuteten und Unterdrückten zeichnet nicht nur die Goya-Sonette von Erich Arendt aus, sondern durchzieht sein gesamtes Werk.114 Wohl zugunsten einer griffigeren Bildlichkeit lässt Arendt Goya den „Rötelstift“ (V. 7) spitzen, der bei dem für die Caprichos, den Desastres und Proverbios angewandten druckgrafischen Aquatinta-Verfahren allerdings nicht zum Einsatz kommt. Die im Eingangsvers genannte „Kriecherei“ (I, V. 1) eröffnet im Grunde einen in den folgenden Sonetten fortgeführten Diskurs um den vom historischen Einzelfall abstrahierenden, ins Anthropologische gesteigerten Missbrauch, den der Mensch mit dem Menschen treibt (Sonett III). Die Unterdrückung einzelner oder ganzer Schichten durch die Herrschenden sowie das sinnlose Abschlachten für politische oder territoriale Ziele werden ebenfalls als übergeordnetes Thema perspektiviert und zugleich als falsche Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und politischen Handelns verurteilt (Sonett II). Die Verse rufen dabei im ersten Sonett mit der großen, stolzen Welt (I, V. 8), ihrem „Lug und Trug“ (I, V. 5) und ihrer „Hohlheit und Prunkgebärde“ (I, V. 13) Bildassoziationen vor allem zu jenen Blättern der Caprichos auf, die die höfische und (groß-)bürgerliche Welt ins Visier nehmen wie Nr. 2 (El si pronuncian y la mano alargan al primero pue llega – Sie geben ihr Jawort und reichen dem Erstbesten, der kommt, die Hand, Abb. 106), Nr. 6 (Nadie se conoce – Niemand kennt sich, Abb. 107) oder Nr. 27 (Quien mas rendido? – Wer ist dem anderen ergebener?, Abb. 108), in denen jene im Gedicht von den Bildvorlagen übernommene Oberflächlichkeit entlarvt wird und die bizarren Konstellationen vorgegebene sind.115

|| 113 Vgl. hierzu auch Pieczonka: Sprachkunst und Bildende Kunst, 1988, S. 97–108; irrtümlicherweise nimmt Pieczonka an, die Goya-Sonette von Arendt seien erst 1968 in dem schon mehrfach genannten Band Aus fünf Jahrzehnten erschienen (S. 94). 114 Vgl. Volker Riedel: Tragik und Bewußtheit. Ästhetisch-poetologische Konzeptionen Erich Arendts. In: Ders.: Literarische Antikerezeption zwischen Kritik und Idealisierung. Aufsätze und Vorträge. Bd. III. Jena 2009 (Jenaer Studien, Bd. 7), S. 343–358, hier S. 343. 115 Die wichtigsten Blätter werden thematisiert und abgebildet bei Fred Licht: Goya. Die Geburt der Moderne. München 2001, zu den Caprichos S. 130–149; ferner Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch die Hölle zur Welt. München 2003, S. 73–147; kompakt und mit Abbildungen aller Blätter Hans-Martin Kaulbach: Francisco de Goya. Caprichos. Stuttgart 2003.

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Abb. 106: Francisco de Goya: Caprichos, Nr. 2: l si pronuncian y la mano alargan al primero pue llega – Sie geben ihr Jawort und reichen dem Erstbesten, der kommt, die Hand (1799)

Abb. 107: Francisco de Goya: Caprichos, Nr. 6: Nadie se conoce – Niemand kennt sich (1799),

Die Perspektive des Sprechers ändert sich ab dem zweiten Sonett. Nahm das Aussagesubjekt im ersten Sonett noch – narratologisch gesprochen – als personaler Erzähler die Sicht Goyas ein, so richtet sich die Sprechinstanz im zweiten Sonett durchweg an ein angesprochenes Gegenüber und Publikum, das mit teils herben Beschimpfungen überzogen wird, um so das Verhältnis von Täterschaft und Opferwilligkeit deutlich zu machen.116 Die eigene „Dummheit“ (II, V. 4), „Torheit“ (II, V. 10) und indoktrinierte Bußfertigkeit (II, V. 8) werden für das „Unheil“ (II, V. 11) der Angesprochenen verantwortlich gemacht. Die lakonischen Titel bei Goya und die Darstellungen selbst lassen indessen keine explizite Handlungsanweisung aus der Betrachtung zu.117 Das leistet allerdings Arendts dichterische Erweiterung der Bildszenen: Gerade weil der Sprecher mit dem apostrophierten || 116 Vgl. auch Pieczonka: Sprachkunst und Bildende Kunst, 1988, S. 115ff. 117 Vgl. auch Licht: Goya, 2001, S. 133ff; Hofmann: Goya, 2003, S. 74–85.

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gesellschaftlichen Kollektiv so hart ins Gericht geht, lassen sich die Beschimpfungen auch als Diagnosen und Aufruf zum Umsturz und Umdenken verstehen. Der in Klammern gesetzte, mit Goyas Druckserie Los Proverbios identische Titel des zweiten Sonetts (Die Sprichwörter) führt allerdings – sucht man nach den bildkünstlerischen Bezugspunkten im Zyklus von Goya – in die Irre. Vielmehr scheint der Haupttitel Von der Dummheit der entscheidende Bezugspunkt zu den Caprichos und ihrer verkehrten Welt zu sein.

Abb. 108: Francisco de Goya: Caprichos, Nr. 27: Quien mas rendido? – Wer ist dem anderen ergebener? (1799)

Abb. 109: Francisco de Goya: Caprichos, Nr. 43: El sueño de la razon produce monstruos – Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer (1799)

Unheil verkündende, Ungeheuer gebärende, düster umherschwirrende „Fledermäuse“ (II, V. 1), unterrichtende, medizinisch praktizierende oder musizierende Affen und Esel sowie den schwachen Menschen malträtierende Esel (II, V. 9–12) sind die Bildspender des zweiten Sonetts, womit Arendt wiederum einige der berühmtesten Blätter aus den Caprichos literarisiert (Nr. 43: El sueño de la razon

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produce monstruos – Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer [Abb. 109]; Nr. 42: Tu que nos puedes – Der, der du nicht kannst; Nr. 37–40: Si sabrá mas el dicipulo? – Ob der Schüler mehr weiß?; Brabisimo! – Bravissimo!; Asta su Abuelo – Bis zu seinem Urahn; De que mal morira? – An welchem Übel wird er sterben?) Kaum zu überbieten ist die Drastik der Darstellung dessen, was der Mensch dem anderen Menschen anzutun in der Lage ist, in den Desastres de la Guerra (1810–1814). Aus den Desastres-Blättern mit ihren vielfältigen Varianten von Gewalt, Massengräbern und apokalyptisch anmutenden Totenlandschaften greift Arendt wieder drei heraus, die exemplarisch für den ganzen Zyklus und als Warnung vor Krieg und Gewalt literarisiert werden. Die bei Goya bewusst herbeigeführte Entindividualisierung der Toten und Zerstückelten hebt Arendt auf: Zwar gibt der Sprecher den Zerstückelten (III, V. 4–6) von Blatt Nr. 39 (Grande hazaña! Con muertos! – Große Heldentat! Mit Toten, Abb. 110), dem Aufgespießten und Massakrierten (III, V. 8–9) von Blatt Nr. 37 (Esto es peor – Das ist schlimmer, Abb. 111) oder dem zum Skelett schon verfaulten Toten (III, V. 10–14) aus Blatt Nr. 69 (Nada. Ello dirá – Nichts. Es wird sich zeigen) keine Namen. Doch folgt Arendt dem auch bei Goya zum Ausdruck gebrachten Verlust von Humanität und das gleichzeitige Bedauern über diesen, indem er die Toten wieder einzeln als Individuen wahrnimmt und gerade über ihre Entmenschlichung und die Sinnlosigkeit ihres Todes sinniert (III, V. 9).

Abb. 110: Francisco de Goya: Los desastres de la guerra, Nr. 39: Grande hazaña! Con muertos! – Große Heldentat! Mit Toten (1810/1814)

Abb. 111: Francisco de Goya: Los desastres de la guerra, Nr. 37: Esto es peor – Das ist schlimmer) (1810/1814)

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Dem von Erich Arendt nur andeutungsweise gemeinsam mit anderen Blättern aus den Caprichos rezipierten, sicherlich berühmtesten Blatt aus der Serie, Nr. 43: El sueño de la razon produce monstruos – Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer (Abb. 109), widmet Günter Kunert sein längeres und reimloses Gedicht Wenn die Vernunft schläft, kommen die Ungeheuer. Der Text erschien zuerst am 17. Juni 1956 in Sonntag. Wochenzeitung für Kultur, Politik und Unterhaltung und wurde dort zusammen mit einem weiteren Gedicht (Du, der Du’s nicht kannst, Trag mich und meinen Wanst), abgedruckt, das sich ebenfalls mit einem Blatt aus den Caprichos (Nr. 42: Tu que nos puedes – Du, der du nicht kannst, Abb. 112) beschäftigt.118

Abb. 112: Francisco de Goya: Caprichos, Nr. 42: Tu que nos puedes – Der, der du nicht kannst (1799)

Kunert war anders als Arendt ein ausgesprochener Kunstkenner und bevor er sich mehr der Literatur widmete zunächst auch bildkünstlerisch aktiv. Fünf Semester war Kunert ab 1946 an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin Weißensee eingeschrieben und publizierte schon 1948 einige seiner graphischen Werke in der angesehenen Zeitschrift Ulenspiegel, die von 1945 bis 1950 ein wichtiges Periodikum für Wort-Bild-Themen gewesen ist. Auch seinen 1978 erschienenen Band mit Reisegedichten Verlangen nach Bomarzo publizierte Kunert mit 12 von ihm selbst stammenden Federzeichnungen.119 Nicht nur die Popularität und

|| 118 Vgl. Günter Kunert: „Wenn die Vernunft schläft, kommen die Ungeheuer“/Da sitzt der Mensch, den/Oberkörpfer übern Tisch gesunken…In: Sonntag. Wochenzeitung für Kultur, Politik und Unterhaltung 11, Nr. 25 (17.6.1956), S. 9. 119 Einen kleinen Einblick in das Thema Kunert als Künstler bietet der Eintrag sub verbo von Kurt Böttcher, Johannes Mittenzwei: Dichter als Maler. Stuttgart u.a. 1980, S. 352f.; Marieluise de Waijer-Wilke: „Denken in Bildern“. Zur Relation von Wort und Bild in der Lyrik Günter Kunerts.

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das sozialkritische Potential von Goyas berühmten druckgraphischen Blättern dürften für Kunert der Ausgangspunkt seiner Gedichtproduktion gewesen sein, sondern auch die aus eigener künstlerischer Praxis stammende Vertrautheit mit gerade den von Goya präferierten bildkünstlerischen Verfahren. Vor diesem Hintergrund hat die Forschung sich immer wieder mit Aspekten der Wort-Bild-Beziehungen in Kunerts Werk beschäftigt und dafür meistens den Blick auf spätere Werke wie Leben in Bildern. Notat zu C.D. Friedrich aus dem Prosa-Band Camera obscura (1978) und seine Piranesi- und Hogart-Rezeption gerichtet.120 Weniger Beachtung fanden seine Goya-Gedichte, deren Deutung im Kontext von Goya-Dichtungen der DDR nicht untersucht worden ist.121 Ideologisch ist das Frühwerk des jungen Kunert sicherlich bis zu den 1960er Jahren in der Nähe von Arendt und Fühmann zu situieren. Seine Überzeugung, literarisch und künstlerisch am Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschafsordnung nach dem Ende des Faschismus und Nationalsozialismus mitzuarbeiten ist ernst zu nehmen und sollte nicht von den 1960er Jahren her beurteilt werden, als ihm von offizieller kulturpolitischer Seite und manchen Dichter-Kollegen im Zusammenhang mit seinem 1963 erschienenen Gedicht Interfragmentarium (Zu Franz K.s Werk) der Vorwurf gemacht wurde, mit solcher Literatur den sozialistischen Realismus und den politischen Auftrag zu unterlaufen.122 Kunerts Goya-Gedichte zeigen nun, dass die Wurzeln von seiner DDR-kritischen Dichtung der 1960er und 1970er Jahre schon im Frühwerk liegen und zu finden sind. Denn anders als der ältere Erich Arendt aktualisiert Kunert Goyas

|| In: DDR-Lyrik im Kontext. Hg. von Christine Cosentino, Wolfgang Ertl und Gerd Labroise. Amsterdam 1988 (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, Bd. 26), S. 335–361, hier S. 355ff; A. Leslie Willson: Die andere Kunst: Kunerts grafische Werke. In: Günter Kunert. Beiträge zu seinem Werk. Hg. von Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. München, Wien 1992, S. 295–305. 120 Vgl. Bernhard Greiner: Texte des Erstarrens, Bilder des Buchstabierens: Grenzüberschreitungen in Poesie und Malerei der DDR (am Beispiel von Günter Kunert und Bernhard Heisig). In: Literatur und bildende Kunst. Lyrikdiskussion. Schillerpreis für Christa Wolf. Hg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn 1985 (Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Bd. 4), S. 23–68, bes. S. 29ff. und 53ff.; Thomas Schmidt: Engagierte Artistik. Satire, Parodie und neoemblematische Verfahren im Werk Günter Kunerts. Würzburg 1998 (Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte, Bd. 9), bes. S. 141–156 und 175–191. 121 Aufgrund des größeren Untersuchungszeitraums die Gedichte zu Goya nur relativ kurz zur Sprache, vgl. Elke Kasper: „wie ein Gedicht also/das nicht mehr ist als ein Gedicht“. Zur frühen Lyrik Günter Kunerts. In: Deutsche Lyrik nach 1945. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt am Main 1988 (suhrkamp taschenbuch materialien, 2088), S. 306–320, hier S. 310f.; Kasper: Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1950 bis 1987, 1995, S. 43f.; Waijer-Wilke: Zur Relation von Wort und Bild in der Lyrik Günter Kunerts, 1988, S. 340–344. 122 Vgl. hierzu Kasper: Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1950 bis 1987, 1995, S. 45ff.

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Gesellschaftskritik nicht nur im Sinne einer Warnung vor Despotismus und Unterdrückung, die deutlich auf die Erfahrungen mit Faschismus und Nationalsozialismus verweist, sondern nimmt für die eigene politische und gesellschaftliche Gegenwart in Anspruch, mit Goyas Blättern vor der Bedrohung der Vernunft und einer aufgeklärten Lebensführung zu warnen. Es scheint auch kein Zufall zu sein, dass Kunert die beiden Gedichte ausgerechnet am 17. Juni 1956, dem dritten Jahrestag des gewaltsam niedergeschlagenen Volksaufstands in der DDR (17. Juni 1953) zum Druck brachte.123 Indem Kunert in beiden Gedichten jeweils in den ersten beiden (I) bzw. in der ersten (II) Versgruppe der reimlos und ohne durchgehende fußmetrische Struktur organisierten Texte zunächst die Bildvorlage und ihre Details genau beschreibt, in den folgenden Versgruppen aber die damit verbundenen Themen wie die Bedrohung der Vernunft (I) und die verkehrte Welt frei weiter dichtet, macht er zum einen das subversive, zeitlose Potential von Goyas Druckserie deutlich. Zum anderen führt er, ähnlich wie Arendt aber unter gewandelten Vorzeichen, die politische und sozialkritische Aufgabe des Dichters am Beispiel von Kunst-Literarisierungen vor (Abb. 109): Zu Radierungen von Goya I Wenn die Vernunft schläft, kommen die Ungeheuer hervor. Da sitzt der Mensch, den Oberkörper übern Tisch gesunken, der Kopf Ruht auf dem Bette seiner Arme, Und schläft. 5

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Aus dem finstren Hintergrund dringen die Lemuren, Bataillone schattenhafter Fledermäuse, Eulen, greisenhaft und tückisch Die Gesichter, flattern um den Schläfer. Böse Augen, scharfe Krallen, harte Schnäbel. Wehe es schläft die Vernunft! Aus dem Ämtern kriechen Spinnen, blind und Blasig weiß die Augen, weben ihre Netze Um die Häuser, Türen, Fenster. In den Wasserröhren Hausen Quallen, strecken ihre weichen Fühler durch die Zimmer in die Töpfe und Die Kannen, voll von Neugier, eiseskalter. Auf der Straße fällt wer um. Wird der

|| 123 Vgl. zur Überlieferung ausführlich die Angaben bei Nicolai Riedel: Internationale GünterKunert-Bibliographie 1947–2011. Berlin, Boston 2012, S. 14, 959.

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Brustkorb aufgeschnitten, findet man das Herz vertrocknet, nußgroß nur noch, Hart wie Holz. An den Ecken Hunde, deren Fell von rosa Farbe, zwischen stumpfen Zähnen Zigaretten, Und sie wedeln. Geht die Sonne auf und Unter, wedeln sie. Wolken, Wind und Hagelschauer grüßt ein immer gleiches Wedeln. Unter Bäumen steht der Maler, auf Den Schultern schwarze Raben. Krächzen hört Man sie, und ihre messerspitzen Schnäbel Zielen nach dem Aug’ des Armen. Über des Musikers Hände auf den Schwarz und weißen Tasten laufen eilig Tausendfüßler. In der Weise, die da Aufklingt, stören Musikers Töne wenig nur, Und im Takt wiegen sich Kinder, Deren Beine braun und rindig, festgewachsen In der Erde mit den langen Wurzelzehen. Wehe, die Vernunft erwacht!

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Der Mensch wacht auf und streckt Den Leib und reckt die Arme, erhebt Den Kopf. Zu End der Schlaf. Mit einer Feder bannt der Erwachte die Ungeheuer auf’s Papier. Da sinken sie zurück ins Wesenlose, Die Fledermäuse schrumpfen ein, die Eulen, Weinerlich und kahl, fallen zu Boden, rollen In die dunklen Ecken, wo sie der Schatten schluckt. Die bösen Augen schließen Sich, und die drohenden Schnäbel zerfallen wie verbranntes Papier, Das noch die Form bewahrt bis es ein Hauch trifft. 124

|| 124 Günter Kunert: Tagwerke. Gedichte, Lieder, Balladen. Halle (Saale) 1961, S. 85f.; die GoyaGedichte hat Kunert auch in eine spätere Sammlung noch einmal aufgenommen, dort (Günter

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Das Gedicht ist in zwei Bereiche aufgeteilt. Der Titel von Goyas Blatt Nr. 43 wird als Überschrift aus dem Spanischen als konditionale Fügung übersetzt und zwei Mal im Gedicht variiert wieder aufgegriffen (V. 10 und 38), wobei im ersten Teil (V. 10–37) die Folgen einer eingeschläferten Vernunft, im zweiten Teil (V. 38–52) die Konsequenzen aus einer erwachenden Vernunft vorgestellt werden. Der titulus von Goyas Blatt Nr. 43 ist vor allem durch Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten gekennzeichnet. Sowohl die Bedeutung von sueño (somnus/somnium) als Schlaf oder Traum als auch eine aus der Sentenz und Darstellung abzuleitende Handlungsmaxime bleiben dem Rezipienten überlassen.125 Diese Ambivalenz der bildkünstlerischen Vorlage löst Kunert zugunsten von dezidierten Aussagen und Positionen der Sprecherinstanz auf: Konkret werden anklagend die Auswirkungen der schlafenden Vernunft und beinahe schon drohend die Folgen einer erwachenden Vernunft thematisiert. Die in den ersten beiden Versgruppen genannten Fledermäuse, Eulen und Lemuren (V. 6–7) werden entsprechend der von Goya verwendeten Ikonographie als „greisenhaft und tückisch“ (V. 7) apostrophiert, die eine unheimliche und für den schlafenden Menschen bedrohliche Szenerie bilden.126 Die Zeitperspektive und das Tier-Repertoire werden ab der dritten Versgruppe erweitert. Was auf Goyas Druck nicht zu sehen ist, gehört zwar demselben Bereich von Ekel-Semantik an wie die „Spinnen“ (V. 11), „Quallen“ (V. 14) und „Tausenfüßler“ (V. 33), doch werden diese nun mit einer zeitgenössischen sozialen und städtischen Topographie in Zusammenhang gebracht: Die genannten Tiere finden sich in „Ämtern“ (V. 11), „Häusern“ (V. 13) und „Wasserröhren“ (V. 13) und verweisen in ihrer Bildlichkeit auf eine Situation des Menschen, der nicht mehr nur im Schlaf seiner Vernunft von ‚phantastischen‘, unheimlichen „Bataillone[n]“ (V. 6) verschiedener Tiere bedroht wird, wie es Goyas zum Ausdruck gebracht hat, sondern diese Gefahr wird gewissermaßen konkretisiert. Hinter der unterschwelligen, sukzessiven und konkreten Überwachung („Netze“, V. 12; „Neugier“, V. 16) lassen sich unschwer die Methoden der Stasi und ihre Bedrohungsszenarien erkennen. Besonders deutlich wird dieser Zeitbezug in der fünften Versgruppe, in denen der Sprecher wiederum mit Tieren als Bildspender deren spezifisches Verhalten gegenüber Malern und Musikern in den Blick nimmt. Der gesamte künstlerische Bereich (V. 27–37) ist demnach von Restriktionen und Repressionen gegenüber den Künstlern geprägt. Nach dem drohenden

|| Kunert: Notizen in Kreide. Auswahl von Hubert Witt. Leipzig 1970, S. 65–68) unter der Rubrik Verkehrte Welt. 125 Vgl. hierzu Jacobs: Der Schlaf der Vernunft, 2006, S. 327. 126 Zur Ikonographie und Deutung der Tiere vgl. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft, 2006, S. 92– 114;

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„Wehe, die Vernunft erwacht!“ (V. 38) eröffnet der zweite Teil eine Perspektive, wie diese Verhältnisse zu ändern sind. Der auf Goyas Radierung schlafende Mensch wird verlebendigt und zum Künstler erhoben, der mit seiner Arbeit die zuvor in den ersten beiden Versgruppen genannten bedrohlichen Tiere zu bekämpfen in der Lage ist, indem er sie aufs Papier bannt (V. 42f.). Hinter dieser produktionsästhetischen Maxime scheint die Beurteilung Goyas als zeichnender und malender Sozialkritiker ebenso durch wie sich dahinter auch Kunerts eigenes, autopoetisches Programm erkennen lässt, das den Dichter und Künstler als Korrektiv öffentlicher und politischer Missstände sieht.127 In ähnlicher Weise, nur noch deutlicher was die Anspielungen auf die zeitgenössischen Verhältnisse – auch für den Dichter und Künstler – in der DDR anbelangt, verfährt Kunert im zweiten Gedicht, das sich Goyas Blatt Nr. 42 aus den Caprichos, Tu que nos puedes – Du, der du nicht kannst (Abb. 112), widmet: II Du, der Du’s nicht kannst, Trag mich und meinen Wanst

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Hier sind zwei Männer, geschlossnen Auges stehen sie tiefgebeugt, und keuchend Trägt jeder auf seinem Rücken Einen fetten Esel, Der stößt den Sporn tief in seines Trägers Seite. Ein Schnappschuß aus der verkehrten Welt. Das ist die Welt, Wo auch der Mörder frei ausgeht und mit der Schuld beladen wird sein Opfer; die Welt, Darinnen werden Kinder nur geboren Als Rohstoff starker Muskeln, geschickter Finger, williger Hände, die arbeitend Verarbeitet werden müssen, damit Sich’s für einen auszahlt. Auf seinem kahlen, harten Schädel wandelt einher Der Philosoph, mit weiser Miene spricht er seine Weisheit: Hier unter unsern Füßen ist das Nichts, Doch uns zu Häupten ist das große Etwas.

|| 127 Vgl. auch Kasper: Zur frühen Lyrik Günter Kunerts, 1988, S. 310; Kasper: Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1950 bis 1987, 1995, S. 43f.

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In finstrer Kathedrale die Mädchen verachten Ihr warmes Fleisch um des bemalten Holzes willen, Gestern noch Baum und heut Gott. 25

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In rollenden Eisentürmen junge Männer Umarmen die Granaten und Torpedos, der Horizont Verdeckt den Stahlhelm. Fort werfen Sie ihr Leben, das ihnen teuer ist und doch Zu teuer, um es zu erleben; fallen für die Macht, die schon ihren Vätern abgeluchst ward Beizeiten. In der verkehrten Welt kommt nur der vorwärts, Wer rückwärts geht. Um aufzusteigen, muß man Sich erniedrigen.

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Den Lorbeer und den Orden erhält der blinde Maler, Damit jedweder sieht, was Blindheit wert ist. Die Schwungräder kreisen, weil sie in Gang hält, Dem sie nicht gehören; dem sie gehören, kann sie Nicht bewegen.

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Die beiden tragen ihre Esel, geschlossnen Auges Stoßen sie gegeneinander, der Sporn schmerzt, Und brauchten allein die Lider zu heben, um die Bürde abzuwerfen und selbst zu reiten ihren Weg, Fröhlich, Schneller voranzukommen als bevor Auf einer Erde, Aus der sie kamen und die doch erst aus Ihnen kommen soll.128

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Die von Goya ins Bild gebrachte mundus perversus beschreibt der Sprecher als „Schnappschuss“ (V. 7) und eröffnet damit für die folgenden Versgruppen die Fortdichtung dieses Motivs, wobei erst wieder mit der letzten Versgruppe die Bildlichkeit der beiden Esel, deren Last zu schwer für die Menschen-Träger ist, aufgegriffen wird (V. 38–46). Aber nicht nur das Bild der verkehrten Welt ist es, was Kunert von Goya übernimmt. Vor allem ist ihm an der Deutung von Goyas Darstellung als Sinnbild für die Entmenschlichung des Individuums zugunsten einer Stabilisierung des Systems gelegen. Als regelrechte Kontrafaktur des Selbstverständnisses vom Arbeiter- und Bauernstaat DDR werden in diesem Sinne ökonomische mit sozialpolitischen Vorstellungen zusammengebracht und || 128 Kunert: Tagwerke, 1961, S. 87f.

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als materialistische („Kinder nur geboren/Als Rohstoff starker Muskeln“, V. 11f.), inhumane Konzepte kritisiert (V. 8–15). Mit der verkehrten Welt ist vor allem die Gesellschaftsordnung und die politischen Vorgaben auch gegenüber den Künstlern gemeint. Staatsfördernde Kunst wird gleichsam als „blinde“ (V. 33) Kunst diskreditiert, die eben nicht im Sinne der von Kunert vertretenen engagierten, kritischen Kunstauffassung Missständen und Fehlentwicklungen der Politik und Gesellschaft nachspürt, sondern nur affirmativ dem System gegenüber ihr eigenes kritisches Potential unterschlägt.129

Abb. 113: Fritz Cremer: Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor / frei nach Goya I, (1961)

Mit seinen Goya-Gedichten steht und stellt sich Günter Kunert zum einen in die Tradition der Goya-Literarisierungen, die von Arendt und der Rezeption des Spanischen Bürgerkriegs in der DDR der 1950er Jahre aus gesehen ihre Wurzeln in der Beurteilung von Goyas Druckserien als zeitlos gültige Dokumente einer kritischen Darstellung von gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit hat. Erich Arendt nutzte dieses kritische Potential der Bildvorlagen, um mit der Publikation seiner Gedichte in den 1950er Jahren vor den ‚alten Feinden‘ und Gefährdungen, dem Faschismus und Nationalsozialismus zu warnen. Dem jüngeren Günter Kunert steht ein ‚neuerer Feind‘, der eigene DDR-Staat mit seinen

|| 129 Vgl. auch mit Blick auf die spätere Entwicklung Kunerts in den 1960er und 1970er Jahren Kasper: Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1950 bis 1987, 1995, S. 43ff. und 57–64.

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Machtstrukturen und repressiven Institutionen vor Augen, durch die er vor allem die eigene künstlerische Praxis bedroht sieht. In seinen Goya-Gedichten aktualisiert Kunert literarisch den Aussagegehalt von Goyas Blättern und präsentiert seine Goya-Deutung als kritische Bestandsaufnahme der eigenen Gegenwart. Sprachlich realisiert Kunert damit etwas, was in der DDR-Malerei erst einige Jahre später – vielleicht durch Kunert angeregt – von Fritz Cremer mit seinen beiden Lithographien Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor I und II (1961 und 1962; Abb. 113) umgesetzt wird.130

3.2 Jenseits der Bildbetrachtung? Sühnefigur, gefallener Heros und Freiheitskämpfer: Ikarus-Gedichte und die Bruegel-Rezeption in der DDR (Erich Arendt, Stephan Hermlin, Günter Kunert, Wolf Biermann) Eine ähnliche Kontinuität in der Fortdichtung eines Gegenstandes über unterschiedliche Generationen von Dichtern der DDR hinweg und von verschiedenen politisch-sozialen Positionen geprägt lässt sich bei der lyrischen Rezeption des Ikarus-Mythos beobachten. Und ebenso wie im Falle Goyas ist es erst die junge Lyriker-Generation um Günter Kunert, Wolf Biermann und Manfred Streubel, die gegenüber den älteren Dichtungen zum Ikarus-Stoff von Erich Arendt und Stephan Hermlin das mit dem Mythos verbundene breite Deutungsspektrum zugunsten einer deutlich herausgehobenen Gewichtung des Symbolgehalts der Figur für das Freiheits- und Fortschrittsverlangen des Menschen verengen und ihre – meist auch mit autobiographisch grundierten Ikarus-Figuren versehenen – Gedichte danach ausrichten. Die Schuldfrage im Kontext der Vorgeschichte von Ikarus’ Vater Dädalus und der Ermordung seines Neffen Perdix sowie der Autoritätsund Sühne-Komplex spielen bei Kunert und Biermann keine Rolle mehr.131 Bis auf Stephan Hermlins noch im Krieg 1944 entstandenes Sonett Landschaft mit Sturz des Ikarus, das den Titel des Gemäldes von Pieter Bruegel d.Ä. (1550/60 bzw. 1590/95) übernimmt, und Erich Arendts Sonette zu Pieter Breughel (1943) scheinen die anderen Gedichte von Stephan Hermlin, Günter Kunert und Wolf Biermann auf den ersten Blick wenig mit dem berühmten mythologischen

|| 130 Vgl. Jacobs: Der Schlaf der Vernunft, 2006, S. 503–508. 131 Zur Überlieferung, den zentralen Themen und Diskursen sowie den wichtigsten Rezeptionszeugnissen des Ikarus-Mythos vgl. Achim Aurnhammer: Nachwort. In: Mythos Ikarus. Texte von Ovid bis Wolf Biermann. Hg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Leipzig 1998 (Reclams Bibliothek, 1646), S. 244–269.

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Landschaftsbild des Niederländers zu tun zu haben. Auch die Forschung hat sich auf die intertextuellen Bezüge zu den antiken Quellen und den Deutungstraditionen des Stoffes seit der Frühen Neuzeit konzentriert. Davon ausgehend wurden die literarischen Aktualisierungen des Mythos in Gedichten von DDR-Autoren als autobiographisch gefärbte ‚produktive Anverwandlungen‘ im Horizont von Technik, Fortschritt und Tod (Stephan Hermlin), als sozialistische Apologie der Arbeit (Erich Arendt) und als gesellschaftskritische Bestandsaufnahme eines gescheiterten Aufbruchs verstanden (Günter Kunert, Wolf Biermann).132 Es überrascht, dass gerade in den Jahren nach der Gründung der DDR die bildkünstlerische und literarische Rezeption des Ikarus-Mythos sich auf den durch seinen selbst verschuldeten Absturz letztlich scheiternden Sohn des Dädalus konzentrierte und offenbar kein Problem darin gesehen wurde, dass es sich (auch) um die Geschichte eines Untergangs und eben nicht eines Aufbruchs handelt.133 Literarische Mythos-Rezeption mehr noch als bildkünstlerische erweist sich hier als Verfahren, das durch selektive Übernahme bzw. Eliminierung einzelner Themen und Diskurse zu charakterisieren und als „System von aufeinander bezogener poetischer Texte“ zu verstehen ist.134 Herausgestellt wird noch in den 1950er Jahren in der DDR der mit Ikarus verbundene Fortschritts- und Technikoptimismus, ungeachtet des Ausgangs der Geschichte und auch ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass Ikarus’ Vater Dädalus das ‚eigentliche‘ Genie ist, was dann seit 1960er Jahren einem Wandel unterworfen ist. || 132 Die Gedichte wurden immer wieder im Kontext der Mythen-Rezeption behandelt. Gisbert Kranz zählt alleine 33 Autoren, die sich mit dem Gemälde Bruegels auseinandersetzen, vgl. Gisbert Kranz: Das Bildgedicht. Theorie – Lexikon – Bibliographie. 3 Bde., hier Bd. 1 Köln 1981, S. 447; die wichtigsten Studien zu der Rezeption des Ikarus-Stoffes in der (DDR-)Lyrik und Kunst vgl. Gisbert Kranz: Bruegels „Icarus“ gedeutet von Dichtern. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 14 (1981), S. 91–102; Bernhard Greiner: Der Ikarus-Mythos in Literatur und Bildender Kunst. In: Michigan Studies 8 (1985), S. 52–126; Silvia Schlenstedt: Umgang mit einer mythischen Figur. Das Ikarus-Motiv in der neueren DDR-Lyrik. In: Neue deutsche Literatur 35 (1987), S. 94–109; Volker Riedel: „Er flog zu hoch hinaus. Er sah die Welt wie nie“. Aspekte der IkarosRezeption in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Ost-Westlicher Ikarus. Ein Mythos im geteilten Deutschland. Hg. von Max Kunze. Stendal 2004, S. 45–68; Anne Detken: „Fliegen ist schwer“. Ikarus in lyrischen Texten nach 1945. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 340–366; Felix Philipp Ingold: Ikarus novus. Zum Selbstverständnis des Autors in der Moderne. In: Technik in der Literatur. Ein Forschungsüberblick und zwölf Aufsätze. Hg. von Harro Segeberg. Frankfurt am Main 1987 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 655), S. 269–350; Iona Crăciun: Die Politisierung des antiken Mythos in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 102), hier S. 81–122. 133 Vgl. Greiner: Der Ikarus-Mythos, 1985, S. 82f. 134 Crăciun: Die Politisierung des antiken Mythos, 2000, S. 7.

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Spätestens seit Goethe wird Ikarus auch als Personifikation der Poesie und des dichterischen Selbstverständnisses literarisiert und in unterschiedlichen Deutungen als Verkörperung künstlerisch-kreativer Erneuerung oder Bewahrung tradierter Muster perspektiviert.135 Die Ikarus-Gedichte von Stephan Hermlin und Erich Arendt auf der einen, jene von Günter Kunert und Wolf Biermann auf der anderen Seite lassen sich genau in diesem Spannungsfeld verorten. Mit Kunert und Biermanns Gedichten scheint die direkte Auseinandersetzung mit Bruegels Gemälde zu verblassen. Vor allem in Biermanns Ballade vom preußischen Ikarus (1976) wird deutlich, dass Elemente des literarischen und bildkünstlerisch tradierten Mythos in neue, eigene Bildzusammenhänge überführt werden, worauf noch zurückzukommen ist. Bezeichnenderweise stehen gerade Kunerts und Biermanns gesellschafts- und staatskritische Aktualisierungen des Irakus-Stoffes wiederum am Beginn einer Ende der 1960er Jahre im bildkünstlerischen Bereich geradezu explodierenden Zahl von Werken, die sich mit dem Gegenstand in der kritischen Linie von Kunert und vor allem Biermann auseinandersetzen.136 Der wegen seiner kritischen Haltung zur Grenzsicherung in Haft gesetzte Roger Loewig reflektiert in seiner Lithographie Brennend Stürzende (1968) ebenso das „Fluchtland“ DDR wie Philip Oeser später in seinem Gemälde Ikarus im Schussfeld (1980) die menschenverachtenden Todesschüsse an der Grenze ‚ins Visier‘ nimmt (Abb. 114 und 115).

|| 135 Vgl. auch Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2007, S. 298 und Ingold: Ikarus novus, 1987, S. 276. 136 In der Übersicht von Peter Arlt zu antiken Themen und Stoffen in der DDR-Malerei rangiert Ikarus an erster Stelle, vor Prometheus, Kassandra oder Odysseus. Der Höhepunkt der IkarusRezeption fällt nicht zufällig in die 1970er Jahre – nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns – für die Arlt 133 Werke und 70 Künstler nachweisen konnte (1978), wogegen noch Mitte der 1960er Jahre nur 25 Werke und 16 Künstler nachzuweisen sind, die sich mit dem Ikarus-Stoff beschäftigten, vgl. Peter Arlt: Ikarus’ Abschied und Willkommen. Zum mythologischen Hauptthema in der bildenden Kunst der DDR. In: In: Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Begleitband zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar 19. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Wolfgang Holler, Paul Kaiser. Köln 2012, S. 75–85, Tabelle S. 85; zu nennen wären neben den erwähnten Werken noch Willi Sittes Ikarus (1958), Robert Rehfelds Großer Ikarus und vor allem Bernhard Heisigs Der Tod des Ikarus (1968), vgl. auch Greiner: Der Ikarus-Mythos, 1985, S. 82f.

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Abb. 114: Roger Loewig: Brennend Stürzende (1968)

Abb. 115: Philip Oeser: Ikarus im Schussfeld II (1982)

Natürlich sind solche bildkünstlerischen Arbeiten in erster Linie dem bei Ovid überlieferten Mythos verpflichtet. Sie scheinen mir aber auch eine bildnerische Reaktion auf die von der neuen Lyriker-Generation der DDR Mitte der 1960er Jahre ausgelösten gesellschaftskritischen Literarisierungen und Neuausrichtungen des Mythos zu sein, was Volker Riedel bereits in Abgrenzung der Texte von Kunert und Biermann gegenüber den Dichtungen von Stephan Hermlin und Erich Arendt konstatiert und davon gesprochen hat, dass „Wandlungen und Umkehrungen von einer mehr oder weniger revolutionär-enthusiastischen Aufbruchstimmung zu einer nüchternen, nachdenklichen, oftmals kritischen Sicht auf die postrevolutionäre Gegenwart“137 nicht nur für die Ikarus-Rezeption seit Mitte der 1960er Jahre prägend sind, sondern insgesamt auch das Verhältnis zur Antike bestimmen. An die im Folgenden behandelten vier Ikarus-Gedichte ist also die Frage zu richten, welche Verkörperungen der Ikarus-Figur mit den Texten evoziert werden

|| 137 Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 308.

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sollen und was diese eigentlich noch mit Bruegels Gemälde zu tun haben.138 Tatsächlich lässt sich nur bei den Sonetten von Erich Arendt und Stephan Hermlin eine explizite Bezugnahme auf Bruegels Gemälde erkennen. Die anderen Gedichte zitieren ja mit der Überschrift lediglich den Namen des Mythenträgers Ikarus, ohne dabei kenntlich zu machen, ob es sich um eine rein literarische Bezugnahme handelt oder um eine auch malerisch – über Bruegel – vermittelte. Die Ikarus-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg ist insofern ein Sonderfall bildkünstlerisch-literarischer Beziehungen und Bezugnahmen, als seit dem Auftauchen von Bruegels Gemäldes in London und dann noch einmal befördert durch eine zweite, 1935 von der in Brüssel beheimateten Privatsammlung im Museum Alice und David Van Buuren (Abb. 65) erworbenen Fassung des Werks der IkarusStoff (erst) wieder populär geworden war. Anders gesagt: Die seit der Wiederentdeckung des Bruegelschen Werkes 1912 bzw. 1935 geradezu sagenhafte, von einer Aura des Geheimnisvollen und Rätselhaften umgebene literarische und bildkünstlerische Rezeption des Ikarus-Stoffes war im 20. Jahrhundert maßgeblich und deutlich stärker von Bruegels Neuinterpretation des Stoffes geprägt als von der literarischen Überlieferung.139 Wie schon im Falle des Ikarus-Gedichts von Gottfried Benn, der jene Fassung in der königlichen Sammlung in Brüssel vor oder während des Ersten Weltkriegs gesehen haben dürfte (Kapitel II., 2.4.), ist das ‚Verschwinden‘ der Hauptfigur Ikarus in den Gedichten immer auch eine – explizite oder implizite – Referenz an Bruegels geniale Bildfindung eines ebenfalls ‚verschwundenen‘, regelrecht zur Randfigur degradierten Namensgeber des Stoffes.140 Die Sonette von Erich Arendt und Stephan Hermlin machen durch Bildbezüge oder die Überschrift ihre Kenntnis des Bruegelschen Gemäldes explizit:

|| 138 Ähnlich auch der Fragekatalog bei Greiner: Der Ikarus-Mythos, 1985, S. 82–104. 139 Zusammenfassend mit Dokumentation der umfangreichen zeitgenössischen Diskussionsbeiträge Beat Wyss: Pieter Bruegel. Landschaft mit Ikarussturz. Ein Vexierbild des humanistischen Pessimismus. Frankfurt am Main 1994 (Fischer kunststück, 3962), S. 7; zu Bruegels Gemälde als Neuinterpretation des literarischen Stoffes vgl. Schlenstedt: Umgang mit einer mythischen Figur, 1987, S. 95. 140 Monika Schmitz-Emans nimmt die an Bruegel orientierte Ikarus-Dichtung des 20. Jahrhunderts als repräsentatives Beispiel für ihre grundsätzlichen Überlegungen zur Intermedialität und überschreibt ihre Ausführungen mit der schon zuvor thesenhaft formulierten Feststellung „Inwiefern man Bilder kennen muss, um Texte zu verstehen“, vgl. Monika Schmitz-Emans: Die Intertextualität der Bilder als Gegenstand der Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär. Hg. von Herbert Foltinek und Christoph Leitgeb. Wien 2002 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 697), S. 193–230, hier S. 211–217.

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[Pieter Breughel] III Der Blinde wird nicht sehend. – Da die Welt kein Wunder wirkt, darf auch das Bild nicht lügen. So malt er Ikarus, der ungesehen fällt. Wichtig bleibt nur der Bauer, bleibt sein Pflügen. 5

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Der zieht die Furchen auf. In deren Spur vollendet mühend sich ein ganzes Leben. Wald, Schnee und Sonne, Ackergrund, die Flur besät mit viel Getier: sie alle geben sich ihm nur beim Tagwerk seiner Hände. Dies ist der Einklang, den die Leinwand preist. Am Gelb des Korns, am Grün ist zu ermessen, wie groß das Glück ist. Doch das Glück verschwände mit unserm Schweiß auf Stirn und Leib. Die Erde kreist – o ernst gemaltes Lob! – wenn deine Menschen essen.141

Landschaft mit Sturz des Ikarus Augen denen immer die äußere Welt Fern und kühl mit dem Gestirn so fahl Über der sanften See mannigfach und fatal in sich ewig genügender Weite gefällt: 5

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Gruß euch! Eurem unendlichen Aufschlag geneigt Stellt auch der sinnende Bauer den Fuß zum Pflug Und der vergessene Leichnam im Busch ist vom Flug Unsichtbarer Tauben beschattet Verschweigt Uns der bereitete Tag denn gar nichts vom Meer Und fernwogender Stadt? Auch das Segel stimmt Heftig-schön sich zur Welle. Ist niemand der Ikarus dich bejammert? Dädalus klimmt Irgendwo im Azur wo er uns leer Leuchtend-gleichgültig in die Umarmung nimmt.142

Arendt versteht Bruegels Bildstruktur ‚wörtlich‘ und legt den Schwerpunkt seines Sonetts auf das, was tatsächlich im Vordergrund auf den ersten Blick das

|| 141 Erich Arendt: Kritische Werkausgabe, Bd. I: Gedichte 1925–1959. Hg. von Manfred Schlösser. Berlin 2003, S. 72. 142 Stephan Hermlin: Straßen der Furcht. Singen 1947, S. 45.

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Hauptthema des Gemäldes auszumachen scheint, den pflügenden Bauer (V. 3– 4; Abb. 65). Er nutzt Bruegels rätselhafte Ikonographie, um eine gar nicht rätselhafte, sondern deutliche Apologie der Arbeit und des Bauernstandes zu formulieren und den niederländischen Künstler im gleichen Zuge zum Maler der „Härte und Ehrlichkeit“143 zu stilisieren. Das wohl 1943 entstandene und dann in der DDR publizierte Sonett lässt sich gerade vor dem Hintergrund seines Publikationskontextes als systemtreue, sozialistische Kunstdeutung lesen, die sich bewusst auch in die Tradition von Bertolt Brechts Bruegel-Interpretation stellt (Kapitel IV., 3.). Für Brecht und seine Kritik an der kapitalistischen Weltordnung sowie für seine Überlegungen zur Verbesserung von Produktionsbedingungen spielte der an Bruegel entwickelte und geschulte „Verfremdungseffekt“ eine zentrale Rolle. Die Werke des Niederländers deutete er als avancierte, subversive Stellungnahmen und Symbolbilder einer verkehrten Welt und attestierte Bruegel, einer der „größten Erzähler“144 zu sein, der in seine „Gemälde Meinungen hineinzumalen“ pflege und seine Gemälde durch „Widersprüche“145 komponiere, und damit das „Treiben der Menschen als so verkehrt“ darstelle.146 Für Arendts Ikarus-Dichtung und seine Konzeption des Mythos mit dem ‚verschwundenen‘ Ikarus ist aus intermedialer Perspektive Bruegels Gemälde maßgeblich, für die inhaltlich Deutung und Auslegung dagegen die von Brecht an Bruegel erprobte Funktionalisierung des Malers als ‚Bauern-Bruegel‘. Dagegen greift Stephan Hermlin in seinem ebenfalls kurz vor Kriegsende entstandenen Sonett Landschaft mit Sturz des Ikarus die Rätselstruktur von Bruegels Gemälde dadurch auf, indem die Sprechinstanz dem apostrophierten Sehorgan (V. 1 und 5) die von Bruegel versteckt angeordneten Details wie die kaum zu erkennende Leiche im Gebüsch (V. 7–8) gewissermaßen ‚vor Augen‘ stellt, sonst aber auch keine Überlegungen zur Interpretation des Gemäldes und seiner vielen || 143 Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 305; knapp zu Arendt nur die Kommentare bei Schlenstedt: Umgang mit einer mythischen Figur, 1987, S. 96, Detken: Ikarus in literarischen Texten, 2007, S. 342f. 144 Bertolt Brecht: Eine Verfremdungstechnik in der Malerei des Älteren Breughel. In: Ders.: Schriften 2, Teil 1. Hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22), S. 271. 145 Bertolt Brecht: Verfremdungstechnik in den erzählenden Bildern des älteren Breughel. In: Ders.: Schriften 2, Teil 1. Hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22), S. 270f., hier S. 270. 146 Bertolt Brecht: Über den V-Effekt beim älteren Breughel. In: Ders.: Schriften 2, Teil 1. Hg. von Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main (Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22), S. 271; vgl. auch Vgl. Walter E. Schäfer: Pieter Brueghel der Ältere und Bertolt Brecht. In: Arcadia 7 (1972), S. 260–271.

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Leerstellen bereithält. Anders als bei Arendt bleibt der pflügende Bauer in Hermlins Sonett auch nur eine Nebenfigur (V. 6). Das Scheitern des Helden, sein Absturz und vor allem die von Bruegel so ingeniös ins Bild gesetzte „Gleichgültigkeit der Umwelt“147 angesichts des zu Tode Gekommenen lassen das Aussagesubjekt in Hermlins Sonett am Ende eine bittere Klage und Anklage formulieren, in der sicherlich auch Kriegs- und Verlusterfahrung des Autors selbst zum Ausdruck kommen.148 Diese ihrer Tendenz nach schon ins Autobiographische gewendete Mythos-Verarbeitung wird noch einmal gesteigert in Hermlins Ballade vom Gefährten Ikarus von 1944. Fortschrittsdrang, Flugbegeisterung und Zukunftshoffnungen werden zwar in den ersten vier Strophen rekapituliert und auch Elemente des Ikarus-Mythos wie etwa die ‚Seebestattung‘ (V. 10) erwähnt, doch wird das Gedicht dominiert vom elegischen Ton der Trauer, der in der sehnsüchtigen, viermaligen Apostrophierung des Gefährten Ikarus anhebt (V. 17, 24, 28, 32) und schmerzhafte Erinnerungen an den Toten beschwört. Aufgrund der Widmung In memoriam A.L. lässt sich der „Gefährte Ikarus“ unschwer als Stephan Hermlins (d.i. Rudolf Leder) Bruder Alfred Leder identifizieren, der im Zweiten Weltkrieg als Flieger den Tod fand.149 Sowohl der literarische Bestand der Ikarus-Deutungen als auch das im Gemälde von Bruegel angelegte dichterische Potential kommen in der Ballade nur noch bedingt zur Geltung, die den Stoff nur als äußerliche Folie einer persönlichen Trauma-Verarbeitung nutzt: Ballade vom Gefährten Ikarus. In memoriam A.L. Rosen versteinerten grün im Schreien der Pfauen. Durch die schwierigen Türen taute Musik. Aus dem Zwielicht grüßte beginnendes Grauen Vogelflüge darin ich fahl mich verstieg. 5

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Maß schon da deiner Wimper Unschuld Maschine, Hebel, Gestänge im äschernen Hause der Nacht? Zärtliches schmales Gespenst auf verdunkelter Bühne Unsrer Verzweiflung, das süß die Ängste bewacht. Süß unsre Ängste, süß unsre letzte Verwaisung. Hold war die See dir. Hold noch entblätterter Baum. In deinen Brauen schmolz eine Sonne Vereisung, Ruhte die Rache und schlief der bezauberte Raum.

|| 147 Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 306. 148 Vgl. Detken: Ikarus in literarischen Texten, 2007, S. 344. 149Vgl. Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004; Greiner: Der Ikarus-Mythos, 1985, S. 98– 105.

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Dämmer vor Nacht. O geruhsam tönende Flöte. In der Gewitter farbig entflammtem Gesträuch Wie schlief ich sanft in die unaussagbare Röte Heidnischen Morgens, in der Stille Geräusch. Ikarus! Wohin ist deine Stimme gegangen? Wandert sie klagend in meines Bluts Labyrinth? Als wir, von falschem Träume lügend umfangen Endlich erwachten, weinte ferne ein Kind. Strauchelnder Fuß stand bestürzt auf sterbenden Blüten, Die gleich Niobes Tränen versehrte das Wachs. Wir der Archipelagus dein Sterben behüten? Küßt dich im klirrenden Fjord der weißzahnige Lachs?

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Weißt du noch Ikarus…Aus dem verbrannten Getriebe Ging unsre Scham, unser Schweigen in donnernde Flut. Warum sagtest du mir nicht, daß ich die liebe? Wo verlangt nach mir nun dein beruhigtes Blut? Ikarus! Warte auf uns! In entflammender Schwinge Trugst du den Wind des Erinnerns in unser Gebiet! Grüße uns, Stürzender, aus dem entferntesten Ringe, Hold unserm Auge, das aus den Ebenen flieht! Ikarus! Warte auf uns! Im Gestirne zu heilen Hebt uns die steuernde Hand, wo die Höhe befreit. Feuriger Regen, in dem wir, lächelnd verweilen Auf dem erfüllten Gelände Unendlichkeit.150

In die eigene Gegenwart transformiert auch Günter Kunert den Ikarus-Stoff, was schon die mit der Jahreszahl der Entstehung des Gedichts versehene Überschrift Ikarus 64 signalisiert. Gedruckt wurde das Gedicht 1966 in Kunerts Band Verkündigung des Wetters, der zum Auslöser der sogenannten Formalismus-Debatte wurde, bei der ihm Resignation, Geschichtspessimismus und mangelnde sozialistische Begeisterung vorgeworfen wurden, was schließlich zu Kunerts weiterer Entfremdung vom real existierenden Sozialismus und seinen restriktiven Vorgaben gegenüber seinen Künstlern führte.151 Kunerts Ikarus zeichnen die Schwierigkeit des Fliegens noch vor dem Absturz (V. 1), seine Immobilität und Unfreiheit || 150 Hermlin: Straßen der Furcht, 1947, S. 45f. 151 Ein erster, geringfügige Unterschiede aufweisender Druck erfolgte 1965 in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur (13. Jg., S. 99–100); vgl. auch Greiner: Der Ikarus-Mythos, 1985, S. 85– 94.

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(V. 2–8) und das ständige Anlaufnehmen aus (V. 21–29), was zusammengenommen freilich als Allegorie politischer Verhältnisse und fehlender Denkfreiheit in der DDR gedeutet werden muss: Ikarus 64

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1 Fliegen ist schwer: Jede Hand lebt am Gehebel von Maschinen: geldesbedürftig. Geheftet die Füße an Gaspedal und Tanzparkett. Fest eingenietet der Kopf im stolzen im fortschrittlichen im vourteilsharten Sturzhelm. 2 Ballast: Das mundwarme Eisbein in der Familiengruft des Magens. Ballast: Das finstere Blut gestaut an hervorragender Stelle gürtelabwärts. Töne erster zweiter neunter dreißigster Symphonien ohrhoch gestapelt zu kulturellem Übergewicht. Verpulverte Vergangenheit in handlichen Urnen verpackt. Tankweis Tränen im Vorrat unabwerfbare: Fliegen ist schwer. 3 Dennoch breite die Arme aus und nimm einen Anlauf für das Unmögliche. Nimm einen langen Anlauf damit du hinfliegst zu deinem Himmel daran alle Sterne verlöschen.

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Denn Tag wird. Ein Horizont zeigt sich immer. Nimm einen Anlauf.152

Der Wagemut des Helden wird gebremst von den widrigen Umständen und dem moralischen (V. 9–13) und kulturellen Ballast (V. 14-20) einer von oben verordneten Ideologie. Gerade diese Faktoren werden als Hindernisse deklariert, die einer Verwirklichung der Utopie (wieder) im Wege stehen. Dass Kunert seinen gelähmten Ikarus programmatisch mit der Gegenwart des Jahres 1964 in Zusammenhang bringt, in dem nicht nur das fünfzehnjährige Bestehen der DDR und die zehnjährige Souveränitätserklärung gegenüber Moskau gefeiert wurden, sondern auch die Zweite Bitterfelder Konferenz für Kultur und Politik stattfand, die eben jene künstlerisch-ästhetischen Vorgaben auf den Weg bringen sollte, denen Kunerts Band sprachlich und inhaltlich diametral gegenübersteht, mag die Reaktion der Staatsführung und die anschließende Lyrik-Debatte erklären.153 Die negativ ausfallenden Gegenwartsdiagnosen der ersten beiden Versgruppen, die sich sprachlich in den dominierenden, statischen Partizipialkonstruktionen manifestieren, sollten indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kunert mit den – gegensätzlich zu den ersten beiden Versgruppen gestalteten – Imperativkonstruktionen der letzten beiden Versgruppen durchaus Zukunftsperspektiven und -hoffnungen nahelegt für die Verwirklichung einer echten politischen Erneuerung, was der Tatsache Rechnung tragen würde, dass Kunert den endgültigen Bruch mit der Staatsführung und Ideologie der DDR erst in den 1970er Jahren vollzogen hat.

In Wolf Biermanns Ballade vom preußischen Ikarus (1976) verdichten sich die schon dargelegten Sinndimensionen und Deutungstraditionen des Ikarus-Stoffes, aber auch die Bruegel-Rezeption in komplexer Weise. Der in Bruegels Gemälde verloren gegangene, scheiternde und gestürzte Ikarus, der kaum mehr erkennbar in der Bildkonzeption Bruegels verschwindet, wird in Biermanns Ballade wieder prominent in Szene gesetzt. Dafür benötigt der Dichter natürlich eine neue Bildvorlage, die von ihm auch zusammen mit dem Gedicht veröffentlicht wurde. In Allen Ginsbergs Fotografie Biermann vor der Weidendammer Brücke (Abb. 120) verschmelzen Gegenwart in der DDR, bildnerische Mythen-

|| 152 Hier nach dem Abdruck in der Ausgabe Günter Kunert: Notizen in Kreide. Gedichte. Leipzig 1970, S. 112f. 153 Vgl. Crăciun: Die Politisierung des antiken Mythos, 2000, S. 86–95; Schlenstedt: Umgang mit einer mythischen Figur, 1987, S. 100; Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 310–312.

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Verarbeitung und Aktualisierung von (preußischer) Geschichten, was Biermann in seiner Ballade wiederum literarisiert.

Abb. 116a: Allen Ginsberg: Wolf Biermann an der Weidenhammer Brücke (1976)

Nicht nur im Gedicht, auch in der dazu gehörigen bildlichen Darstellung wird eine vom Mythos und von der Bildtradition Bruegels sich emanzipierende Erneuerung und Aktualisierung vollzogen, die vielleicht aufgrund der Identifikation des empirischen Autors Biermann mit der Figur des Scheiternden besonders radikal ausgefallen ist. Volker Riedel bezeichnet das Gedicht als „tragisch-ironische Ballade“, die wohl zu einem für den Autor „autobiographisch wie historisch“ zentralen Text geworden sei.154 Biermanns Ballade ist ein gesungener Text, der in den Ausgaben auch mit Noten abgedruckt und von Biermann als letztes Lied seines folgenreichen Auftritts am 13. November 1976 in Köln gesungen worden ist, in dessen Folge seine Ausbürgerung veranlasst bzw. seine Rückkehr in die DDR verboten wurde.155 Der subversive, staatskritische Gehalt der Ballade wurde offenbar und nicht zuletzt auch aufgrund der ‚Vergegenwärtigung‘ des Stoffes durch die Fotografie Allan Ginsbergs von offizieller Seite früh erkannt:

|| 154 Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 313; vgl. auch Detken: Ikarus in lyrischen Texten, 2007, S. 357–360. 155 Vgl. Detken: Ikarus in lyrischen Texten, 2007, S. 360; Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 313.

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Ballade vom preußischen Ikarus Da, wo die Friedrichsstraße sacht Den Schritt über das Wasser macht da hängt über der Spree Die Weidendammerbrücke. Schön Kannst du da Preußens Adler sehn wenn ich am Geländer steh dann steht da der preußische Ikarus mit grauen Flügeln aus Eisenguß dem tun seine Arme so weh er fliegt nicht weg – er stürzt nicht ab macht keinen Wind – und macht nicht schlapp am Geländer über der Spree. Der Stacheldraht wächst langsam ein Tief in die Haut, in Brust und Bein ins Hirn, in graue Zelln Umgürtet mit dem Drahtverband Ist unser Land ein Inselland umbrandet von bleiernen Welln. dann steht da der preußische Ikarus mit grauen Flügeln aus Eisenguß dem tun seine Arme so weh er fliegt nicht weg – er stürzt nicht ab macht keinen Wind – und macht nicht schlapp am Geländer über der Spree. Und wenn du wegwillst, mußt du gehn Ich hab schon viele abhaun sehn aus unserm halben Land Ich halt mich fest hier, bis mich kalt Dieser verhaßte Vogel krallt und zerrt mich übern Rand. dann bin ich der preußische Ikarus mit grauen Flügeln aus Eisenguß dann tun mir die Arme so weh dann flieg ich hoch – dann stürz ich ab macht bißchen Wind – dann mach ich schlapp am Geländer über der Spree.156

|| 156 Wolf Biermann: Preußischer Ikarus. Lieder, Balladen, Gedicht, Prosa. Köln 1978, S. 103f.

700 | V Bildgedichte nach 1945

Abb. 116b: Allen Ginsberg: Wolf Biermann an der Weidenhammer Brücke, Detail (1976)

Die Bedrohung des lyrischen Ichs, das sich erst im variierten Refrain nach der dritten Strophe mit dem preußischen Ikarus in einer Angstvision des Absturzes identifiziert (V. 31–36) rührt in den ersten Strophen nicht von dem mit dem Mythos überkommenen Fliegen her, sondern ist die Konsequenz aus der Statik und Unbeweglichkeit, die sich erst einmal wörtlich verstanden aus der literarisch beschriebenen Schwere und Starrheit des realen Preußen-Adlers an der Weidendammer-Brücke mit seinen „Flügeln aus Eisenguss“ ergibt (V. 7–9). Symbolisch wird der Adler als Instrument der Unterdrückung gedeutet, der aufgrund seiner Materialität („Eisenguss“, V. 8) mit einem allumfassenden „Stacheldraht“ (V. 13) und den wohl auf die Schießbefehle an der Grenze anspielenden „bleiernen Wellen“ (V. 18) das semantische Feld einer isolierten DDR als „Inselland“ (V. 17) in der zweiten Strophe eröffnet. Intertextuell greift Biermann mit dem Adler als Sinnbild für preußisches, restriktives Ordnungsdenken und staatliche Gängelung auch den in Heinrich Heines Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen im III. Caput in gleicher Weise schon literarisierten „hässliche[n] Vogel“157 auf und stellt sich damit in die Tradition politisch-literarischer Preußenkritik, die hier freilich auf die DDR-Zustände übertragen wird und implizit auch nach der Rolle, Identität und Funktion des Dichter-Sängers fragt.158 In der Reihe der Ikarus-Dichtungen von DDR-Lyrikern nimmt Biermanns Ballade eine Sonderstellung ein: Die für die anderen Gedichte relevanten Diskurse

|| 157 Hier nach der Ausgabe Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart 2001 (RUB 2253), S. 15; 158 Vgl. Greiner: Der Ikarus-Mythos, 1985, S. 95ff.; zu den Heine-Bezügen von Biermann auch Riedel: Aspekte der Ikaros-Rezeption, 2004, S. 313; D.P. Meier-Lenz: Heinrich Heine – Wolf Biermann. Deutschland. ZWEI Wintermärchen – ein Werkvergleich. Bonn 1977 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 246), S. 60–79.

3 Antifaschismus, Neubeginn und Gesellschaftskritik in der DDR | 701

vom Freiheitsdrang und Scheitern der Figur greift Biermann zwar ebenfalls aktualisierend mit Blick auf die Verhältnisse in der DDR auf, richtet seine Dichtung aber auch durch den Bezug zur Fotografie Allen Ginsbergs neu aus, in der schon der aktuelle Gehalt des Textes auch in seiner bildlichen Vorlage anschaulich wird. Der Abschied von Bruegel, dessen Gemälde über viele Jahrzehnte hinweg im 20. Jahrhundert auch die literarische Ikarus-Rezeption prägte, ist damit auch vollzogen. Zudem wird die im Gedicht lediglich literarisierte Identität des Dichter-Sängers Biermann im Horizont der Stoff- und Bildgeschichte des Ikarus gewissermaßen von der Realität eingeholt und unterscheidet damit die Ballade Biermanns von den anderen Texten, die in diesem Kapitel behandelt wurden. Was noch als Gedicht in der DDR von dem überzeugten Sozialisten Biermann geschrieben wurde und nur als versierte Kritik am Umgang mit Andersdenkenden gemeint gewesen war, konnte schließlich erst zwei Jahre später, 1978, im westdeutschen Kölner Kiepenhauer&Witsch-Verlag publiziert werden.159 Biermanns Ausbürgerung war zu diesem Zeitpunkt trotz der Proteste zahlreicher prominenter Schriftsteller-Kollegen aus der DDR schon längst Wirklichkeit geworden.

|| 159 Zu Biermanns sozialistischen, politischen Positionen trotz seiner Kritik an der DDR-Führung und Ideologie vgl. John Shreve: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Wolf Biermann im Westen. Frankfurt am Main u.a. 1989 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd,. 1137), hier S. 73–83; im gleichen Jahr, 1978, publizierte auch Manfred Streubel ein Ikarus-Gedicht, das ähnlich autobiographisch gefärbt ist wie das von Biermann. Mit dem Unterschied, dass Streubel bereits als Künstler zur Zeit der Abfassung des Gedichts schon künstlerisch isoliert war, weil er mit seinem ersten Gedichtband von der SED-Führung als konterrevolutionäre eingestuft worden war und fortan resignierte und schließlich 1990 sein Leben durch Suizid beendete, vgl. Manfred Streubel: Inventur. Halle, Leipzig 1978, S. 116: „Der ist vom Himmel gefallen./Dem ist ein Unglück geschehn./Dem Muntersten von allen./Und keine hats gesehn.//Der ist zur Ruh gekommen/Der ging am Felsen entzwei./Und niemand hat vernommen/den Schrei.//Im Schledorn eine Feder,/die leuchtet rot wie Blut./Die steckt sich morgen jeder:/juchheißa: an den Hut.“

| Teil VI:

Ausblick

Intermediale Allianzen nach 1968 Literarhistorische Zäsuren sind Teil von Epochenbildern, die wie die Zäsuren selbst Konstrukte sind. Die Literaturgeschichte benötigt sie aber, um künstlerische Tendenzen und Schwerpunkte, Oppositionen und Allianzen, Abgrenzungen und Kontinuitäten zu erfassen und zu beschreiben. Dass sich die literarhistorische Wirklichkeit aus Sicht der (zeitgenössischen) Produzenten, Rezipienten und Distribuenten im Einzelfall nachweisbar als eine ganz andere erweist, ist eine Binsenweisheit. Das sollte aber auch nicht über die Bedeutung von solchen Zäsuren und Epochenkonstruktionen hinwegtäuschen. Für die Geschichte des Bildgedichts gilt ebenso wie für die Literaturgeschichte nach 1945 insgesamt, dass eine 1968 angesetzte ‚Epochenschwelle‘ mit einigem Recht Umbruchsphänomene in Gesellschaft und Kunst geltend machen kann, die eine Zäsur von 1968 rechtfertigen. Tatsächlich bestimmten nach 1968 (zunehmend) Aufarbeitungen der Protestbewegung und damit einhergehend auch ästhetische und politische Abgrenzungsversuche gegenüber den Nachkriegsjahrzehnten – im Zeichen auch der Postmoderne-Diskussionen – das literarische Feld und die literarische Öffentlichkeit.1 Mit der durch Leslie A. Fiedler und seinem Freiburger Vortrag Cross the border close the gap (1968) ausgelösten Debatte um eine Neudefinition der Kunst als popular culture, die die Kluft zwischen Unterhaltungsliteratur und hoher Literatur schließt, eine Subkunst und „Klassengesellschaft“ ablehnt, mit der Tradition bricht, schockiert und ein in der Tradition der Klassischen Moderne stehendes zeitgemäßes Lyrikverständnis nach 1945 für beendet erklärt und die Postmoderne einleiten will, fällt freilich nicht abrupt das Ende traditioneller (künstlerischer) Formen oder Gestaltungsweisen zusammen.2 Auch das Bildgedicht, wie es

|| 1 Vgl. Wilfried Barner: Tendenzwende und Stagnation: Literatur in den siebziger Jahren. In: Ders.: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. München 2006 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 12), S. 583–599; Roman Luckscheiter: Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung. Berlin 2001 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 16). 2 Der Vortrag von Fiedler ist einer der einflussreichsten Texte für die Literatur- und Kulturdiskussion um und nach 1968. Der Original-Titel The Case for Postmodernism verrät seine ästhetische Positionierung noch deutlicher und wurde am 1. Juli 1968 im Rahmen eines Symposions zum Thema Tod der Moderne, wie sie Thomas Mann und T.S. Eliot verkörperten gehalten. Vgl. hier die deutsche Übersetzung: Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! (Cross the border, close the gap). In: Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. von Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 57–74; grundlegend auch zur Bewertung und Einordnung von Fiedler: Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, 2001, S. 9–12; einen auch https://doi.org/10.1515/9783110700732-019

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in den vorangegangenen Kapiteln erfasst und interpretiert worden ist, wird nicht als altertümliche poetische Subgattung verdammt, sondern erlebt sogar eine Renaissance, im Zuge derer es aber vor allem bei Rolf Dieter Brinkmann eine völlig neue Faktur und Funktionszuweisung erhält. Für das Bildgedicht als Textform, deren Analyse immer auch die Doppelperspektive auf die Bildkünste voraussetzt, erweist sich eine 1968 angesetzte Zäsur umso sinnvoller, als ein „fundamentaler Wandel des Mediensystems, der Wahrnehmungsmuster und Repräsentationsweisen“ die späten 1960er und die 1970er Jahre charakterisiert.3 Neben Fiedlers Forderungen nach einer Annäherung der deutschen Kultur an Amerika und einer Öffnung der (hohen) Literatur zu trivialen Formen und Themen (Western, Pornographie, Sciene-Fiction, Neuer Mystizismus) findet auch eine von der Berliner Gruppe Kultur und Revolution des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) in der Zeit initiierte und maßgeblich getragene Diskussion um Kunst und Konsum statt, die im Kern eine Debatte um das Verhältnis der gegenwärtigen Kunst und Literatur zur Tradition und damit auch ein ‚Kampf‘ um die Deutungshoheit und Paradigmenbildung von ästhetischen Leitbildern ist, an der sich auch Martin Walser mit seinem programmatischen Essay Über die neueste Stimmung im Westen (1970) beteiligt und eine kritische Bewertung von Fiedler, dem SDS und Rolf Dieter Brinkmann vorgenommen hat.4 Das Bildgedicht der frühen Nachkriegsjahre und mit Ausläufern bis in die 1950er und Teile der 1960er Jahre ist noch geprägt von einem Ringen um Kontinuität und/oder Neuanfang. Insofern markieren die Gedichte aus dieser Zeit für die vorliegende Arbeit auch einen sinnvollen Schlusspunkt, in dem die zuvor seit 1870 gezeigten Tendenzen, Strömungen und Allianzen noch einmal eine dezidierte Absage oder Reprise erhalten, in jedem Falle aber greifbar sind, bevor ein neues Kunstverständnis wie es bei Rolf Dieter Brinkmann exemplarisch zum Ausdruck kommt auch das Erscheinungsbild des Bildgedichts verändert. Natürlich gibt es kein Gedicht aus dem Jahr 1968, das selbstreflektierend in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk oder einem Künstler die

|| visuellen Eindruck von der Kultur einer ‚Umbruchszeit‘ erhält man in der Quellensammlung von Helmuth Kiesel (Hg.): Protest! Literatur um 1968. Marbach am Neckar 1998. 3 Petra Gropp: Rolf Dieter Brinkmann: „…und tarnen das Ganze als Kunst!“ Intermedialität als Strategie der Schrift im Prozess kultureller Rekonfiguration. In: Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte. Hg. von Christian Schärf und Mitarbeit von Petra Gropp. Tübingen 2002, S. 175–193, Zitat S. 175. 4 Vgl. Berliner SDS-Gruppe Kultur und Revolution: Kunst als Ware der Bewußtseinsindustrie. In: Die Zeit. 3.12.1968, S. 12; Martin Walser Über die neueste Stimmung im Westen. In: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Hg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt am Main 1997 (Martin Walser. Werke in zwölf Bänden, Bd. 11), S. 284–315.

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Texttradition dieser lyrischen Subgattung für beendet erklärt oder einen programmatischen Neuanfang propagiert. Es lassen sich sogar auffällige Kontinuitäten beobachten, was die Publikationsform von Bildgedichten anbelangt. Schon für die Zeit der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf die Popularität von Bildgedicht-Zyklen und -Sammlungen hingewiesen (Hans Joachim Haecker, Hans Riehl, Rudolf Gahlbeck, Rudolf Otto Wiemer, Rudolf Felmayer, Johann Gunert, Franz Theodor Csokor, Otto Riedel), die mit den späten 1960er Jahren noch einen deutlichen Zuwachs erlebte. Bildgedichte erscheinen auch seit den 1970er Jahren in großer Zahl und breit angelegten Sammlungen.5 Kontinuierlich bis zur Jahrtausendwende werden auch Bildgedicht-Zyklen, die sich auf formaler Ebene (Sonett) oder was den rezipierten Künstler- und Kunstwerkkosmos deutlich in ältere Traditionslinien des Bildgedichts stellen, publiziert, was die Beispiele von Monika Meyer-Holzapfel oder August Kirchfeld zeigen.6 Solche Bildgedicht-Sammlungen sind aber nicht repräsentativ für die Entwicklung der Gattung, die nach 1968 vor allem von Autoren geprägt ist, die wie Jürgen Becker, Hans Magnus Enzensberger, Rolf Dieter Brinkmann, W.G. Sebald, Anne Duden und Thomas Kling in ihren Texten einen experimentellen Umgang von Text-Bild-Beziehungen erproben. Der eigentlich bis in die frühen 1960er Jahre hinein noch relativ und überraschend stabile Kanon von in Bildgedichten rezipierter Künstler findet mit dem Ende der 1960er Jahre keine vergleichbare Fortsetzung mehr. Aus lyrikgeschichtlicher Perspektive lässt sich dieser Befund nicht nur vom Jahr 1968, dem Ende der Gruppe 47 (1967) und dem sogenannten Zürcher Literaturstreit als den ‚Bruchlinien‘ in der Nachkriegsliteraturgeschichte her problematisieren, sondern auch von den ersten zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.7 In der Lyrik-Diskussion nach 1945 um Stellenwert und Ausprägung des modernen Gedichts verlieren nach Ludwig Völker die von Hugo Friedrich vertretenen und postulierten Paradigmen für die Dichtung, wie sie nach 1945 den LyrikDiskurs bestimmten, an Bedeutung. An deren Stelle rückt ein ‚neuer‘ ModerneBegriff für die Lyrik, wie ihn Michael Hamburger als Gegenentwurf zu Hugo Friedrich formuliert habe. Dass in diese Zeit auch die experimentellen Texte von

|| 5 Vgl. Beat Brechbühl: Gesunde Predigt eines Dorfbewohners. Zürich 1966; Ders.: Die Bilder und ich. Zürich 1968. 6 Vgl. Monika Meyer-Holzapfel: Welt der Maler. Maler der Welt. Bern 1974; August Kirchfeld: Kein Lächeln auf den Lippen. Gedichte – Bildgedichte – Nachdichtungen. Augsburg 1992; Ders.: Der Sündenfall. Bildgedichte. Augsburg 2001. 7 Vgl. Luckscheiter: Der postmoderne Impuls, 2001, S. 21ff.

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Jürgen Becker und Rolf Dieter Brinkmann fallen, die Text-Bild-Beziehungen neu konzipieren, scheint kein Zufall zu sein.8

In vielen Fällen beziehen sich Bildgedichte nach 1968 nicht auf konkrete bildkünstlerische Vorlagen. Selbst wenn sich wie im Falle von Hans Magnus Enzensbergers Untergang der Titanic (1978)9 und W.G. Sebalds Nach der Natur (1988)10 konkrete Gemälde-Vorlagen benennen lassen, so werden nicht etwa kunstwissenschaftliche Diskussionen oder Fragen literarisiert oder überkommene Deutungs- und Bewertungsmuster thematisiert, sondern vom Künstler oder dem Kunstwerk so weit wie möglich Distanz nehmende, theoretische Überlegungen zum Bildbegriff und Medienreflexionen angestellt. Das Verhältnis von Kunstwerk, Künstler und Bildgedicht wurde in den behandelten Beispielen in unterschiedlicher Weise funktionalisiert und literarisiert, sei es zu eigenen ästhetischen, ideologischen und politischen Standortbestimmung oder zur Wissensvermittlung über Künstlerbilder und Kunstwissen. Besonders bei Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Becker, Hans Magnus Enzensberger und W.G. Sebald reduziert sich dieses breite Spektrum an Erscheinungsformen des Bildgedichts auf die in den Mittelpunkt gestellte ‚Bilderfrage‘. Das ‚Bild‘, also das Kunstwerk, nimmt daher meist nur noch eine metaphorische, sprachliche Funktion ein, um die Mediendifferenz aber auch Medienpräferenz zu verdeutlichen.11

|| 8 Vgl. Ludwig Völker: Gattungsdenken im Umbruch. Zum Lyrik-Diskurs in der deutschen Literaturwissenschaft nach 1945. In: Von Celan bis Grünbein. Zur Situation der deutschen Lyrik im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Hg. von Ludwig Völker. Lille 1997 (Germanica, 21), S. 163–177. 9 Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt am Main 1978. 10 W.G. Sebald: Nach der Natur. Ein Elementargedicht. 5. Al. Frankfurt am Main 1995. 11 Die vier in Der Untergang der Titanic eingeflochtenen ‚Nebenhandlungen‘ sind von der Forschung als „kleine Bildergalerie“ bezeichnet worden (Apokalypse. Umbrisch, etwa 1490, Der Raub der Suleika. Niederländisch, Ende 19. Jahrhundert, Die Ruhe auf der Flucht. Flämisch 1521, Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert). Als Verarbeitung von Veroneses 1573 entstandenem Skandalbild Letztes Abendmahl (Diner bei Herrn Levi) wurden die Verse „Abendmahl. Venezianisch, 16. Jahrhundert“ identifiziert und auch am häufigsten in der Forschung behandelt. Auch hier stehen mehr allgemeine Fragen der Kunst-Rezeption und Problemhorizonte des ‚Bildbegriffs‘ im Mittelpunkt als die eigentliche bildkünstlerische Vorlage. Vgl. Michael Haase: „Ich vergleiche, also bin ich“ – Zur Funktion der Metapher in Hans Magnus Enzensbergers Der Untergang der Titanic. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 15 (2007), S. 163–183; Manon Delisle: Weltuntergang ohne Ende. Ikonographie und Inszenierung der Katastrophe bei Christ Wolf, Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. Würzburg 2001 (Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 346), S. 191–240; Maria Helena Simões: Hans

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Besonders markant für diese Entwicklung sind die Gedicht-Bände und FotoTexte von Rolf Dieter Brinkmann.12 Die Beschäftigung mit Kunstwerken, in diesem Falle mit Fotografien, ist in erster Linie eine Literarisierung des medialen Konflikts. Brinkmanns Text-Bild-Konzepte sind daher nicht so sehr vom Grundsatzgedanken einer ‚wechselseitigen Erhellung‘ der Künste geleitet. Das hängt bei Brinkmann vor allem mit seiner Sprachskepsis und Sprachkritik zusammen. Mit dem Wort assoziiert er negative Eigenschaften wie Abstraktion und Vergangenheit wohingegen das Visuelle, das Bild, als Medium einer konkreten sinnlichen Erfahrung charakterisiert wird, die Alltag und Gegenwart erfahrbar macht.13 Begleitet wird diese Tendenz in Bildgedichten seit den späten 1960er Jahren von einem deutlichen Interesse an Bild-Text-Kombination und deren Wirkungsmöglichkeiten, die prominent Jürgen Becker in seinen mit Collagen seiner Ehefrau Rango Bohne ausgestatteten Text- und Gedichtbänden Fenster und Stimmen (1982) und Frauen mit dem Rücken zum Betrachter (1989) erprobt.14 Er stellt sich damit in die Tradition Rolf Dieter Brinkmanns und dessen schon erwähnten zweiten Lyrikband Le Chant du Monde (1963/64) und vor allem der 1969 publizierten Sammlung Standphotos, in der sich Gedichte und Bilder wechselseitig nicht erhellen, sondern durchdringen. Die Gedichte Brinkmanns wurden auf transparente PVC-Folie gedruckt, die luzide vier zweiteilige Farbätzungen von Karolus Lodenkämper über den gesamten Band verteilt durchscheinen lassen.15 Kunstrezeption geschieht bei Jürgen Beckers Gedichtband Das Ende der Landschaftsmalerei (1978), der sich schon vom Titel her durchaus als Endpunkt einer

|| Magnus Enzensberger – Veronese. In: Kunst im Text. Hg. von Konstanze Fliedl unter der Mitarbeit von Irene Fußl. Frankfurt am Main, Basel 2005, S. 163–177. 12 Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Le Chant du Monde. Gedichte. Mit Radierungen von Emil Schumacher. Olef/Eifel 1964; Ders.: Godzilla. Mit einer Handzeichnung von Karl Heinz Krüll. Köln 1968; Ders.: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1970. 13 Vgl. Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld 2007, S. 93–167. 14 Jürgen Becker: Fenster und Stimmen. Gedichte. Bilder von Rango Bohne. Frankfurt am Main 1982; Ders.: Frauen mit dem Rücken zum Betrachter. Stimmen von Jürgen Becker. Bilder von Rango Bohne. Frankfurt am Main 1989. 15 Vgl. vor allem die Gedichte Photographie und Godzilla-Baby, in: Rolf Dieter Brinkmann: Standphotos. Gedichte 1962–1970. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 52 bzw. S. 166f.; zum technischen Verfahren und Bewertung vgl. Steinaecker: Literarische Foto-Texte, 2006, S. 108–123; grundlegend zu Brinkmanns Text-Bild-Verfahren ist die Studie von Michael Strauch: Rolf Dieter Brinkmann. Studien zur Text-Bild-Montagetechnik. Tübingen 1998 (Stauffenberg Colloquium, Bd. 48), bes. S. 53–77; Jan Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder. Lyrik im Zeitalter der Kinematographie. Blaise Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann. Göttingen 2007, S. 47–50.

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überkommenen Vorstellung und Praxis von lyrischer Bildbetrachtung zu erkennen gibt, nur noch in Form von Namensnennungen und theoretischer Medienund Bildreflexion.

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Bildbeschreibung Das Bild einer Bucht, und die Bucht ist gewesen, leer, und sanft, an den Rändern. Der Name sagt nichts mehr; es gibt keinen Namen, und das Bild ist erfunden, unbeschreibbar, wie all das hier herum.16

Gedichte wie Bildbeschreibung aus der genannten Sammlung oder Zwei Collagen von Rango Bohne aus dem ein Jahr später erschienenen Band In der verbleibenden Zeit (1979)17 von Jürgen Becker entziehen sich und unterlaufen gerade, was sie im Titel formulieren und zeichnen sich durch einen bewussten Verzicht auf eine bildkünstlerische Vorlage aus. Sie konterkarieren damit ein Text-Bild-Verständnis, das grundsätzlich von einer – direkten oder über Sprache vermittelten – Anschauung geprägt und für die Geschichte des Bildgedichts bis 1968 zumindest in weiten Teil verbindlich gewesen ist. Erst Thomas Kling, der sich seit den 1990er Jahren intensiv in Bildgedichten und Prosatexten mit Bildender Kunst auseinandergesetzt hat, formulierte dreißig Jahre nach Brinkmann eine Poetik des Bildgedichts, die sowohl medientheoretisch die Differenzen von Wort und Bild ernst nimmt, gleichzeitig aber auch Hierarchie- und Präferenzfragen einzuebnen versucht.18 Sein programmatisch-poetologischer Entwurf greift auf den von Wilhelm Waetzoldt geprägten Begriff des „Gemäldegedichts“ zurück und bewertet die „Kollaboration von Schrift und Bild“19 als etwas Drittes, das nicht nur ein „lineare[s] Illustrieren“20 des Gemäldes bzw. des Kunstwerks sei. Kling orientiert sich dabei an den barocken Autoren Kaspar von Stieler und vor allem Georg Philipp Harsdörffer. In Rekurs auf dessen Vorstellung des (Bild-)Gedichts als „verborgenem Sendschreiben“21 entwirft Kling nach der Jahrtausendwende ein poetologisches Konzept des Bildgedichts, das frühneuzeitliche Überlegungen zum

|| 16 Jürgen Becker: Das Ende der Landschaftsmalerei. Frankfurt am Main 1978, S. 90. 17 Jürgen Becker: In der verbleibenden Zeit. Gedichte. Frankfurt am Main 1979, S. 19f. 18 Vgl. Thomas Kling: Zum Gemäldegedicht. Düsseldorfer Vortrag. In: Ders.: Auswertung der Flugdaten. Köln 2005, S. 107–122. 19 Charlotte Kurbjuhn: Hans Baldung Grien mit Tonspur: Thomas Klings „animierter farbholzschnitt von 1510“. In: Zeitschrift für Germanistik, NF 27 (2017), S. 557–578, hier S. 560. 20 Kling: Zum Gemäldegedicht, 2005, S. 114. 21 Ebd., S. 115.

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Bildgedicht mit zeitgenössischer Medienreflexion zusammenführt und das Verhältnis von Literatur und Bildender Kunst, von Poesie und Malerei in ein positivproduktives Licht rückt.

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Bildquellennachweis Abb. 1: Magritte, La trahison des images (1929); aus: Didier Ottinger (Hg): Magritte. La trahison des images. Paris 2016. Abb. 2: von Max, Christuskopf (1874); aus: Karin Althaus und Helmut Friedel (Hg.): Malerstar, Darwinist, Spiritist. Ausstellung Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München. München 2010. Abb. 3: von Defregger, Das letzte Aufgebot (1874); private Fotoaufnahme. Abb. 4: von Werner, Proklamation Kaiserreich (1885); aus: Jan-Arne Sohns: Jan-Arne: An der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexionen im deutschsprachigen historischen Roman 1870–1880. Berlin 2004 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 32). Abb. 5: Dürer, Die vier Apostel (1526); aus: Karl Arndt und Bernd Moeller: Albrecht Dürers „Vier Apostel“. Eine kirchen- und kunsthistorische Untersuchung. Heidelberg 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, Bd. 202). Abb. 6: Dürer, Triumphwagen, Holzschnitt (1520/1522); aus: Metzger, Christof (Hg.): Albrecht Dürer. Begleitbuch zur großen Dürer-Ausstellung in der Albertina Wien. München 2019. Abb. 7: Dürer, Triumphwagen, Federzeichnung (1518); aus: Metzger, Christof (Hg.): Albrecht Dürer. Begleitbuch zur großen Dürer-Ausstellung in der Albertina Wien. München 2019. Abb. 8: Rauch, Reiterstandbild Friedrichs des Großen (1851); aus: Hubertus Kohle: Franz Kugler und Adolph Menzel. In: Franz Theodor Kugler. Deutscher Kunsthistoriker und Berliner Dichter. Hg. von Michel Espagne, Bénédicte Savoy und Céline Trautmann-Waller. Berlin 2010, S. 31–44. Abb. 9: von Menzel, Krönung Wilhelms I. (1861/1865); aus: Michael Busch u.a. (Hg.): Die Zeit bis 1914. Vom Kriegshaufen zum Massenheer. Zweite, durchgesehene und überarbeitete Auflage. München 2009 (Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Bd. 1). Abb. 10: von Menzel, Tafelrunde von Sanssouci (1850); aus: Sandra Richter: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München 2017. Abb. 11: von Menzel, Flötenkonzert (1852); aus: Reiner Ruffing: Deutsche Literaturgeschichte. Zweite, überarbeitete und aktualisierte Auflage. Leiden u.a. 2019 (utb, Bd. 3981). Abb. 12: von Menzel, Ansprache Friedrichs des Großen (1858); aus: Hubertus Kohle: Franz Kugler und Adolph Menzel. In: Franz Theodor Kugler. Deutscher Kunsthistoriker und Berliner Dichter. Hg. von Michel Espagne, Bénédicte Savoy und Céline Trautmann-Waller. Berlin 2010, S. 31–44. Abb. 13: von Menzel, Eisenwalzwerk (1872/1875); aus: Klaus Türk: Bilder der Arbeit. Eine ikonografische Anthologie. Wiesbaden 2000. Abb. 14: Nike des Paionios (ca. 420 V. Chr.); aus: Tonio Hölscher: Die Nike der Messenier und Naupaktier in Olympia. Kunst und Geschichte im späten 5. Jahrhundert v. Chr. In: Jahrbuch des deutschen Archäologischen Instituts 89 (1974), S. 70–111. Abb. 15a: Drake, Viktoria (1864/1873); aus: Volkmar Essers: Johann Friedrich Drake. 1808–1882. München 1976 (Materialien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 20). https://doi.org/10.1515/9783110700732-021

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Abb. 15b: Drake, Viktoria, Detail (1864/1873); aus: Volkmar Essers: Johann Friedrich Drake. 1808–1882. München 1976 (Materialien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 20). Abb. 16a: Hermes aus Olympia (ca. 340 v.Chr.); aus: Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst. München 2004. Abb. 16b: Hermes aus Olympia, unrest. Zustand (ca. 340 v.Chr.); aus: Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst. München 2004. Abb. 17: Karyatiden am Erechtheion-Tempel (ca. 420–406 v. Chr.); aus: Klaus Bötig: Athen. Ostfildern 122012. Abb. 18: Venus von Milo (Ende 2. Jhdt. v. Chr.); aus: Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900. London/Tübingen 2009 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 73). Abb. 19: Venus Medici (1. Jhdt. v. Chr.); aus: Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900. London/Tübingen 2009 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 73). Abb. 20: Venus Colonna (350/340 v. Chr.); aus: Francis Haskell und Nicholas Penny: Taste and the antique. The lure of classical sculpture 1500–1900. New Haven u.a. 1981. Abb. 21: Herkules Farnese (1. Jhdt. v. Chr.); aus: Rolf Michael Schneider: Der Hercules Farnese. In: Luca Giuliani (Hrsg.): Meisterwerke der antiken Kunst. Verlag C. H. Beck, München 2005. Abb. 22: Sterbender Gallier (3. Jhdt. v. Chr.); aus: Gisbert Kranz: Gedichte auf Bilder. Anthologie und Galerie. Nördlingen 1975. Abb. 23: Juno Ludovisi (1. Jhdt. v. Chr.); aus: Arne Zerbst: Schelling und die bildende Kunst. Zum Verhältnis von kunstphilosophischem System und konkreter Werkkenntnis. München 2011. Abb. 24: Medusa Ludovisi (2. Jhdt. n. Chr.); aus: Nicola Ettlin: Die Konkretisierung lyrischer Subjektivität im deutschsprachigen Bildgedicht des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2010 (Epistemata, Bd. 214). Abb. 25: Eros von Centocelle (Mitte 4. Jhdt. v. Chr.); aus: Adolf Furtwängler: Meisterwerke der griechischen Plastik. Leipzig, Berlin 1893. Abb. 26: Cellini, Perseus (1545/1554); aus: Rolf Tomann: Die Kunst der italienischen Renaissance. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung. Köln 2007. Abb. 27a: Michelangelo, Grabmal (1524/1533); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 27b: Michelangelo, Nacht (1524/1533); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 28: Michelangelo, Erschaffung der Gestirne (1508/1512); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 29: Michelangelo, Erschaffung Adams (1508/1512); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 30a: Michelangelo, Sklave (1513/1516); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005.

Bildquellennachweis | 775

Abb. 30b: Michelangelo, Pensieroso (1524/1533); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 31: Michelangelo, Moses (1513/1515); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 32: Michelangelo, Pietà (1498/1500); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 33: Böcklin, Pan im Schilf (1858); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 34: Böcklin, Kentaurenkampf (1873); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 35: Böcklin, Pietà (1873/1885); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 36: Böcklin, Spiel der Najaden (1886); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 37: Böcklin, Kentaur in der Dorfschmiede (1888); aus: Arnold Böcklin. Anläßlich der Ausstellung „Arnold Böcklin – eine Retrospektive“. Öffentliche Kunstsammlung Basel/Kunstmuseum, 19. Mai bis 26. August 2001; Réunion des Musées Nationaux/Musée d'Orsay, Paris, 1. Oktober 2001 bis 15. Januar 2002; Bayerische Staatsgemäldesammlungen/Neue Pinakothek, München, 14. Februar bis 26. Mai 2002. Heidelberg 2001. Abb. 38: Böcklin, Altrömische Weinschenke (1867/1868); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 39: Böcklin, Triton und Nereide (1874); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 40: Böcklin, Faun einer Amsel zupfeifend (1863); aus: Guido Magnaguagno und Juri: Arnold Böcklin, Giorgio de Chirico, Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse. Zweite, veränderte und überarb. Aufl. Bern 1997. Abb. 41: Böcklin, Eremit (1884); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 42: Böcklin, Schweigen im Walde (1885); aus: Arnold Böcklin 1827–1901. Gemälde, Zeichnungen, Plastiken. Ausstellung zum 150. Geburtstag veranstaltet vom Kunstmuseum Basel und vom Basler Kunstverein 11. Juni–11. September 1977. Basel, Stuttgart 1977. Abb. 43: Böcklin, Selbstbildnis (1872); aus: Guido Magnaguagno und Juri: Arnold Böcklin, Giorgio de Chirico, Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse. Zweite, veränderte und überarb. Aufl. Bern 1997. Abb. 44: Böcklin, Toteninsel (1880); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 45: Böcklin, Vita somnium breve (1888); aus: Arnold Böcklin. Anläßlich der Ausstellung „Arnold Böcklin – eine Retrospektive“. Öffentliche Kunstsammlung Basel/Kunstmuseum, 19. Mai bis 26. August 2001; Réunion des Musées Nationaux/Musée d'Orsay, Paris, 1. Oktober 2001 bis 15. Januar 2002; Bayerische Staatsgemäldesammlungen/Neue Pinakothek, München, 14. Februar bis 26. Mai 2002. Heidelberg 2001.

776 | Bildquellennachweis

Abb. 46: Böcklin, Gefilde der Seligen (1877); aus: Rolf Andree: Arnold Böcklin. Die Gemälde. Zweite ergänzte und überarb. Aufl. Basel, München 1998. Abb. 47: Böcklin, Waldrand mit Faun (1855/1856); aus: Arnold Böcklin. Anläßlich der Ausstellung „Arnold Böcklin – eine Retrospektive“. Öffentliche Kunstsammlung Basel/Kunstmuseum, 19. Mai bis 26. August 2001; Réunion des Musées Nationaux/Musée d'Orsay, Paris, 1. Oktober 2001 bis 15. Januar 2002; Bayerische Staatsgemäldesammlungen/Neue Pinakothek, München, 14. Februar bis 26. Mai 2002. Heidelberg 2001. Abb. 48: Böcklin, Sieh es lacht die Au (1887); aus: Arnold Böcklin. Anläßlich der Ausstellung „Arnold Böcklin – eine Retrospektive“. Öffentliche Kunstsammlung Basel/Kunstmuseum, 19. Mai bis 26. August 2001; Réunion des Musées Nationaux/Musée d'Orsay, Paris, 1. Oktober 2001 bis 15. Januar 2002; Bayerische Staatsgemäldesammlungen/Neue Pinakothek, München, 14. Februar bis 26. Mai 2002. Heidelberg 2001. Abb. 49: Schindler, Pax (1891); aus: Agnes Husslein-Arco und Alexander

Klee (Hg.): Emil

Jakob Schindler. Poetischer Realismus. München 2012. Abb. 50: Munch, Vision (1892); aus: Gerd Woll: Edvard Munch. Complete Paintings. Catalogue raisonné 1: 1880–1897. New York, London 2009. Abb. 51: Fra Angelico, Incoronazione (1440); aus: Guido Cornini: Beato Angelico. Florenz 2000. Abb. 52: Rembrandt, David (1650/1655); aus: Kurt Bauch: Rembrandt. Gemälde. Berlin 1966. Abb. 53: Kuros-Kopf (ca. 530 v. Chr.); aus: Horst Nawelski (Hg.): Leben, Werk und Zeit in Texten und Bildern. Frankfurt am Main, Leipzig 1992. Abb. 54: Torso von Milet (6. Jhdt. v. Chr.); aus: Frauke Berndt: Literarische Bildlichkeit und Rhetorik, in: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hg. von Claudia Benthien, Claudia und Brigitte Weingart. Berlin, Boston 2014 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Bd. 1). Abb. 55: Hodler, Holzfäller (1910); aus: Hans Mühlestein und Georg Schmidt: Ferdinand Hodler. Sein Leben und sein Werk. Zürich 1983. Abb. 56: Hodler, Das mutige Weib (1886); aus: Hans Mühlestein und Georg Schmidt: Ferdinand Hodler. Sein Leben und sein Werk. Zürich 1983. Abb. 57: Klinger, Christus im Olymp (1886); aus: Manfred Boetzkes (Hg.): Max Klinger. Wege zum Gesamtkunstwerk. Main 1984. Abb. 58: Schnackenberg, Vergnügtes Mädchen (1912); aus: Simplicissimus vom 31. Dezember 1912. Abb. 59: Gaddi, Kreuzigung (1330); aus: Andrea De Marchi und Luca Giorgi (Hg.): Santa Croce. Oltre le apparenze. Pistoia 2011. Abb. 60: Cimabue, Madonna (um 1271/1274); aus: Winfried Nerdinger: Perspektiven der Kunst. Oldenbourg 2006. Abb. 61: Monet, Fischerboote (1883/1884); aus: Hans W. Schmidt: Museum der bildenden Künste Leipzig: Führer durch die Sammlungen. Leipzig 2006. Abb. 62: van Gogh, Runde der Gefangenen (1890); aus: Ingo F. Walter: Vincent van Gogh 1853– 1890. Vision und Wirklichkeit. Köln 1983.

Bildquellennachweis | 777

Abb. 63: Ecclesia und Synagoge (um 1220/1230); aus: Hans Gerhard Hannesen: Otto von Simson, Repräsentant einer jüdisch-protestantisch-preußischen Gesellschaft, beheimatet in der katholischen Kirche. In: Otto von Simson 1912–1933. Zwischen Kunstwissenschaft und Kulturpolitik. Hg. von Ingeborg Becker und Ingo Herklotz. Köln 2019 (Studien zur Kunst, Bd. 43). Abb. 64: Brueg(h)el, Ikarus (1550/1560); aus: Christian Vöhringer: Pieter Bruegel 1525/1530– 1569. Meister der niederländischen Kunst. Köln 1999. Abb. 65: Brueg(h)el, Ikarus (1590/1595); aus: Achim Aurnhammer: Zum Deutungsspielraum der Ikarus-Figur in der Frühen Neuzeit. In: Mytenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hg. von Martin Vöhler und Bernd Seidensticker. Berlin 2005 (spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature). Abb. 66: Lederer, Bismarck (1901–1906); aus: Jörg Schilling: Distanz halten. Das Hamburger Bismarck-Denkmal und die Monumentalität der Moderne. Göttingen 2006. Abb. 67: Schmitz, Völkerschlachtdenkmal (1898/1913); aus: Steffen Poser: Völkerschlachtdenkmal. Kurzführer. Leipzig 2008. Abb. 68: Schmitz, Völkerschlachtdenkmal, Innenansicht (1898/1913); aus:

Steffen Poser:

Völkerschlachtdenkmal. Kurzführer. Leipzig 2008. Abb. 69: Fra Angelico, Grablegung (1438/1440); aus: Cornelia Syre: Fra Angelico. Die Münchner Tafeln und der Hochaltar von San Marco in Florenz. Mit einem Beitrag zur Maltechnik von Veronika Poll-Frommel. München 1996. Abb. 70: Lanzinger, Bannerträger (1934/1935); aus: Carl Kraus: Hubert Lanzinger. Bozen 2000 (Monographien Südtiroler Künstler, Bd. 27). Abb. 71: Dürer, Ritter (1513); aus: Heinrich Theissing: Dürers Ritter, Tod und Teufel. Sinnbild und Bildsinn. Berlin 1978. Abb. 71a: Rudolf Herzog: Ritter, Tod und Teufel. Kriegsgedichte. Leipzig 1915. Abb. 72: Raffael, Sixtina (1512/1513); aus: Andreas Henning und Arnold Nesselrath: Himmlischer Glanz. Raffael, Dürer und Grünewald malen die Madonna. München, London, New York 2011. Abb. 73: Raffael, Madonna Foligno (1512); aus: Andreas Henning und Arnold Nesselrath: Himmlischer Glanz. Raffael, Dürer und Grünewald malen die Madonna. München, London, New York 2011. Abb. 74: Grünewald, Isenheimer Altar (1512/1516); aus: Pantxika Béguerie-De Paepe und Magali Haas: Der Isenheimer Altar. Das Meisterwerk im Musée Unterlinden. Paris 2015. Abb. 75: Grünewald, Karlsruher Kreuzigung (1512/1525); aus: Jan Lauts: Grünewald. Kreuztragungen und Kreuzigung. Karlsruhe 1968 (Bildhefte der staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Bd. 4). Abb. 76: Dix, Krieg (1929/1932); aus: Rebekka Marpert: Künstlerische Strategien zur Repräsentation des Ersten Weltkrieges. Otto Dix’ Kriegstriptychon als Synthese und Ausnahmefall. Kromsdorf, Weimar 2018 (Jenaer Schriften zur Kunstgeschichte und Filmwissenschaft, Bd. 5). Abb. 77a: Grünewald, Isenheimer Altar, zweites Wandelbild (1512/1516); aus: Pantxika BéguerieDe Paepe und Magali Haas: Der Isenheimer Altar. Das Meisterwerk im Musée Unterlinden. Paris 2015.

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Abb. 77b: Grünewald, Isenheimer Altar, drittes Wandelbild (1512/1516); aus: Pantxika BéguerieDe Paepe und Magali Haas: Der Isenheimer Altar. Das Meisterwerk im Musée Unterlinden. Paris 2015. Abb. 78: Grünewald (1679); aus: Joachim von Sandrart: Der Teutschen Academie Zweyter und letzter Haupt-Theil. Von Der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1679. Abb. 79: Grünewald, Isenheimer Altar, Hl. Johannes (1512/1516); aus: Pantxika Béguerie-De Paepe und Magali Haas: Der Isenheimer Altar. Das Meisterwerk im Musée Unterlinden. Paris 2015. Abb. 80: Grünewald, Isenheimer Altar, Predella (1512/1516); aus: Pantxika Béguerie-De Paepe und Magali Haas: Der Isenheimer Altar. Das Meisterwerk im Musée Unterlinden. Paris 2015. Abb. 81: Grünewald, Isenheimer Altar, Auferstehung (1512/1516); aus: Pantxika Béguerie-De Paepe und Magali Haas: Der Isenheimer Altar. Das Meisterwerk im Musée Unterlinden. Paris 2015. Abb. 82: Ringelnatz, Flucht (1933); aus: Frank Möbus u.a. (Hg.): Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt. Göttingen 2000. Abb. 83: Ringelnatz, An der harten Kante (1933); aus: Frank Möbus u.a. (Hg.): Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt. Göttingen 2000. Abb. 84: Tucholsky/Heartfield, Parlament (1929); aus: Kurt Tucholsky. Gesamtausgabe. Texte und Briefe. 18 Bde., hier: Bd. 12: Deutschland, Deutschland über alles. Hg. von Antje Bonitz und Sarah Hans. Reinbek bei Hamburg 2004. Abb. 85: Tizian, Venus (1538); aus: Titian’s Venus of Urbino. Hg. von Rona Goffen. Cambridge 1997. Abb. 86: Manet, Olympia (1863); aus: Giustozzi Nunzio: Manet 1863. Olympia. Mailand 2007. Abb. 87: da Vinci, Mona Lisa (1503/1506); aus: Friedrich Bach: „Mona Lisa“. Leonardo da Vincis Sapientia-Ikone. Aachen 2005. Abb. 88: Breug(h)el, Kreuztragung (1564); aus: Christian Vöhringer: Pieter Bruegel 1525/1530– 1569. Meister der niederländischen Kunst. Köln 1999. Abb. 89: Breug(h)el, Blindensturz (1568); aus: Christian Vöhringer: Pieter Bruegel 1525/1530– 1569. Meister der niederländischen Kunst. Köln 1999. Abb. 90: Michelangelo, Sixtinische Kapelle (1508/1512); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 91: Rembrandt, Matthäus (1661); aus: Kurt Bauch: Rembrandt. Gemälde. Berlin 1966. Abb. 92: Grosz, Christus am Kreuz (1927/1928); aus: Ralph Melcher (Hg.): George Grosz. Kunst als Sozialkritik. Zeichnungen, Aquarelle und Druckgrafiken. Anlässlich der Ausstellung im Saarlandmuseum Saarbrücken, Studiogalerie, 24. November 2007 bis 17. Februar 2008. Saarbrücken 2007. Abb. 93: Barlach, Frau im Wind (1931); aus: Rudolf Gahlbeck (und Ernst Barlach): Sonette um sein Werk. Rostock 1959.

Bildquellennachweis | 779

Abb. 94: Barlach, Liebespaar (1908); aus: Rudolf Gahlbeck (und Ernst Barlach): Sonette um sein Werk. Rostock 1959. Abb. 95: Barlach, Klosterschüler (1931/1932); aus: Rudolf Gahlbeck (und Ernst Barlach): Sonette um sein Werk. Rostock 1959. Abb. 96: Barlach, Sterndeuter (1909); aus: Rudolf Gahlbeck (und Ernst Barlach): Sonette um sein Werk. Rostock 1959. Abb. 97: van Gogh, Kornfeld (1890); aus: Dieter Beaujean: Vincent van Gogh. Leben und Werk. Königswinter 2005. Abb. 98: Michelangelo, Pietà (1498/1500); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 99: Michelangelo, Pietà Rondanini (1552/1564); aus: Eugène Müntz: Michelangelo. New York 2005. Abb. 100: Caravaggio, Matthäus (1599–1600); aus: Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. The Artist and His Work. Los Angeles 2012. Abb. 101: Rembrandt, Selbstbildnis Federhut (1635); aus: Rembrandts Selbstbildnisse. Hg. von Christopher White Stuttgart 1999. Abb. 102: Rembrandt, Selbstbildnis (1648); aus: Rembrandts Selbstbildnisse. Hg. von Christopher White Stuttgart 1999. Abb. 103: Rembrandt, Zeuxis (1669); aus: Rembrandts Selbstbildnisse. Hg. von Christopher White Stuttgart 1999. Abb. 104: Rembrandt, Selbstbildnis mit 63 (1662); aus: Rembrandts Selbstbildnisse. Hg. von Christopher White Stuttgart 1999. Abb. 105: Hofer, Zimmer (1943); aus: Adolf Jannasch: Galerie des 20. Jahrhunderts. Berlin 1963. Abb. 106: Goya, Caprichos Nr. 2 (1799); aus: Nathalie Bondil und Tulliola Spa-ragni (Hg.): Francisco Goya. Los Capichos, Los Desastres de la Guerra, Los Disprates. Montreal, Mailand 2001. Abb. 107: Goya, Caprichos Nr. 6 (1799); aus: Nathalie Bondil und Tulliola Spa-ragni (Hg.): Francisco Goya. Los Capichos, Los Desastres de la Guerra, Los Disprates. Montreal, Mailand 2001. Abb. 108: Goya, Caprichos Nr. 27 (1799); aus: Nathalie Bondil und Tulliola Spa-ragni (Hg.): Francisco Goya. Los Capichos, Los Desastres de la Guerra, Los Disprates. Montreal, Mailand 2001. Abb. 109: Goya, Caprichos Nr. 43 (1799); aus: Nathalie Bondil und Tulliola Spa-ragni (Hg.): Francisco Goya. Los Capichos, Los Desastres de la Guerra, Los Disprates. Montreal, Mailand 2001. Abb. 110: Goya, Desastres Nr. 39 (1810/1814); aus: Luis José Corral: Los desastres de la guerra de Francisco de Goya. Barcelona 2005. Abb. 111: Goya, Desastres Nr. 37 (1810/1814); aus: Luis José Corral: Los desastres de la guerra de Francisco de Goya. Barcelona 2005. Abb. 112: Goya, Caprichos Nr. 42 (1799); aus: Nathalie Bondil und Tulliola Spa-ragni (Hg.): Francisco Goya. Los Capichos, Los Desastres de la Guerra, Los Disprates. Montreal, Mailand 2001. Abb. 113: Cremer, Schlaf der Vernunft (1961); aus: Karlheinz Barck: Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne. Stuttgart, Weimar 1993.

780 | Bildquellennachweis

Abb. 114: Loewig, Brennende Stürzende (1968); aus: Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Begleitband zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar 19. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Wolfgang Holler und Paul Kaiser. Köln 2012. Abb. 115: Oeser, Ikarus (1982); aus: Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Begleitband zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar 19. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Wolfgang Holler und Paul Kaiser. Köln 2012 Abb. 116a: Ginsberg, Wolf Biermann an der Weidendammer Brücke (1976); aus: Oliver Schwarzkopf und Roger Melis (Hg.): Wolf Biermann. Ausgebürgert. Berlin 1996. Abb. 116b: Ginsberg, Wolf Biermann an der Weidendammer Brücke, Detail (1976); aus: Oliver Schwarzkopf und Roger Melis (Hg.): Wolf Biermann. Ausgebürgert. Berlin 1996.

Personenregister Ahrendt, Erich 627 Alberti, Leon Batista 567 Altdorfer, Albrecht 396 Alverdes, Paul 28, 33, 488, 490–492, 500– 505, 527, 529, 537, 607 Ambrosi, Gustinus 580, 618 Ammanati, Bartolomeo 369 Anacker, Heinrich 28, 404, 438, 440, 445– 452, 454 Arendt, Erich 627, 665–681, 686–694 Arnold, Karl 539, 551 Arp, Hans 551 Artmann, H.C. 627 August III., König von Sachsen 468 Auriers, Albert 377 Ausländer, Rose 621, 628 Avenarius, Ferdinand 88, 165, 214, 217f., 239, 605, 612 Bab, Julius 432 Bahr, Hermann 235 Barlach, Ernst 367, 622f., 631–634, 669 Bartel, Karl 626 Bartsch, Kurt 399 Bäte, Ludwig 455 Baudelaire, Charles 267 Baumeister, Willi 540 Bayersdorfer, Adolf 128 Becher, Johannes R. 28, 399, 405f., 490f., 493, 506, 526–533, 537, 632, 665, 672 Becker, Jürgen 42, 707–709 Beckmann, Max 357, 373, 395, 398f., 496 Beethoven, Ludwig van 347, 355 Begas, Reinhold 100, 216 Behrens, Christian 420 Behrens, Peter 337, 339 Belwe, Georg 443 Benjamin, Walter 147 Benn, Gottfried 356, 358, 362, 378, 382, 387–392, 594f., 618, 621, 628, 635, 645, 647–657, 662f. Berger, Uwe 399, 621, 628 Berna-Christ, Marie 273

https://doi.org/10.1515/9783110700732-022

Bernus, Alexander von 404, 438, 440, 452, 454, 463 Bertram, Ernst 28, 33, 40, 405, 435, 490f., 496–505, 505, 527, 537, 606 Bethge, Hans 455 Bie, Oscar 49 Bierbaum, Otto Julius 39, 50, 213, 233, 237, 262, 279f., 289–299 Biermann, Wolf 41, 627, 665–667, 687–690, 698–702 Bismarck, Otto von 63, 179, 342, 407f., 410– 420, 551, 576 Blechen, Carl 299 Blei, Franz 553 Bleibtreu, Georg 101 Bleibtreu, Karl 237 Blumenthal, Oscar 47, 60 Blunck, Friedrich 588, 590–592, 609–612, 614, 617 Blunck, Hans Friedrich 400, 406f., 580 Bluntschli, Alfred Friedrich 224 Bobrowski, Johannes 33, 618, 621, 628, 645– 647, 657–664 Bock, Franz 496 Böcklin, Arnold 23, 38, 44, 53, 57f., 79, 209– 297, 304, 309, 311f., 315f., 319, 340,347, 361 Bode, Wilhelm von 409 Böhme, Herbert 449 Bohne, Rango 709f. Bölsche, Wilhelm 306 Borchardt, Rudolf 470, 487 Borchers, Elisabeth 621, 629 Bosch, Hieronymus 396 Böttcher, Robert 397, 608, 612 Botticelli, Sandro 370, 373 Brahms, Johannes 467 Brechbühl, Beat 41, 629 Brecht, Bertolt 40, 398, 406, 538f., 544f., 550f., 580–586, 693f. Breuer, Robert 432 Brinckmann, Albert E. 178f., 581 Brinkmann, Hans 669 Brinkmann, Rolf Dieter 42, 706–710

782 | Personenregister

Brod, Max 358 Bruckmann, Friedrich 59 Brueg(h)el, Pieter d.Ä. 18, 31, 387, 391, 396, 402, 554, 581, 627, 666, 688f., 691, 693f., 698 Brunelleschi, Filippo 369 Bulcke, Carl 261, 268f., 279 Burckhardt, Jakob 174, 594, 605, 611 Camphausen, Wilhelm 49, 94, 102 Caravaggio 621, 628, 642f. Carossa, Hans 528 Carus, Carl Gustav 440, 468 Caspar, Karl 464, 508 Cassirer, Paul 554 Castagno, Andrea del 369 Cavour, Camillo Benso Graf von 189 Celan, Paul 621, 635–637, 640, 656 Cellini, Benvenuto 169 Cézanne, Paul 299, 367, 508, 554 Chagall, Marc 367, 551, 622 Chardin, Jean Siméon 299 Cimabue 371 Claudius, Eduard 672 Conrad, Michael Georg 235, 237 Corinth, Lovis 496, 508 Corot, Camille 304 Correggio 478 Cremer, Fritz 686f. Csokor, Franz Theodor 621, 628, 630, 640, 642, 644, 707 Curtius, Ernst 120–122, 127 Czeschka, Carl Otto 339 d’Alton, Eduard 8 Dante 258, 529 Daubigny, Charles-François 304 Däubler, Theodor 356, 362, 366–372, 378, 392 Daumier, Honoré 554 Dauthendey, Max 298, 300, 304–308 de la Motte Fouqué ,Friedrich 12 Defregger, Franz von 49, 56 Dehmel, Richard 24, 33, 39, 50, 210, 234, 249, 306, 308, 336–356 Delacroix, Eugène 299 Derain, André 551

Dix, Otto 398f., 493f., 496, 540 Döblin, Alfred 358, 432 Dörmann, Felix 298, 300–304 Dostojewski, Fjodor 469 Drake, Friedrich 132 Dreber, Heinrich 220 Dufy, Raoul 551 Dürer, Albrecht 18, 22, 26–29, 37, 39, 42, 48f., 53f., 57, 62, 65, 70–89, 105, 115, 128, 212, 312, 396, 398, 400–407, 436– 462, 463, 478, 496, 607, 621, 628, 630, 644 Eberlein, Gustav 47 Eberlein, Kurt Karl 397 Edschmid, Kasimir 357, 362, 372–375, 392 Egger-Lienz, Albin 593 Eichendorff, Joseph von 223 Einstein, Carl 359, 545 Eisenreich, Herbert 399 Elisabethsvon Bourbon, Königin von Spanien 309 Endell, August 323 Engelbrecht, Louis 47 Enzensberger, Hans Magnus 707–709 Erler, Fritz 249 Ernst, Max 357 Erwin von Steinbach 383 Essenwein, August Ottmar Ritter von 70 Etti, Karl 634 Ettlinger, Karl 569ff. Eucken, Rudolf 407 Eulenberg, Herbert 493 Feininger, Lionel 358 Feldbauer, Max 249 Felmayer, Rudolf 41, 628, 707 Feuerbach, Anselm 58, 228, 265 Fiedler, Leslie A. 705f. Fiorillo, Johann Dominicus 8 Firles, Walter 464 Flechtheim, Alfred 540 Flex, Walter 40, 399, 403, 407f., 418, 421, 423f., 435 Floerke, Gustav 233 Fontane, Theodor 33, 39, 47, 87, 93–116, 567 Fra Angelico 252, 298, 313, 404, 425–431

Personenregister | 783

François, Louise von 159 Frank, Bruno 436 Franz von Assisi 390 Freiligrath, Ferdinand 62f. Freud, Sigmund 567 Friedrich II., König von Preußen 96, 99–101, 105, 109–115 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 100f. Friedrich, Paul 178 Friesz, Othon 551 Frundsberg, Georg von 612 Fühmann, Franz 622, 665, 668–670, 680 Furtwängler, Adolf 120, 147, 166 Füssli, Wilhelm 492 Gaddi, Taddeo 368f., 371 Gahlbeck, Rudolf 41, 622, 629–631, 637, 668, 707 Gauguin, Paul 387 Gautier, Théophile 313 Gebhardt, Eduard von 464 Geibel, Emanuel 47, 59, 63, 121f., 127, 237, 330 Geibel, Emmanuel 117, 122f., 125, 127f., 141, 143 George, Stefan 33, 39, 57, 197, 210, 212, 214, 220, 252–262, 267f., 295, 298, 300, 306, 309–320, 325, 328, 337, 339, 357, 361, 386, 430, 448, 453 Gérardy, Paul 253 Giese, Alexander 628, 630 Ginsberg, Allen 698f., 701 Giorgione 181 Giotto 369 Giuliano di Lorenzo de’ Medici 204 Giuliano di Lorenzo de’ Medici 186 Goethe, Johann Wolfgang 561 Goethe, Johann Wolfgang von 69, 123, 181, 258, 561, 574, 576, 689 Gomringer, Eugen 626f. Götz, Karl Otto 626 Goya, Franciso de 627, 634, 665–687. Greif, Martin 39, 47, 54, 62, 88f., 93, 121, 128, 130f., 132, 137, 162f., 330 Greis, Otto 626 Griepenkerl, Wolfgang Robert 468

Griewank, Karl 121 Grillparzer, Franz 275 Grimm, Herman 27, 174, 176–182, 185, 190, 196, 204, 206, 440, 470, 579, 594, 605, 608, 611f. Große, Julius 236 Grosse, Julius 47, 59 Grosz, George 358, 396f., 493f., 496, 540, 547, 550f., 580, 622, 624f. Grundig, Hans 622 Grünewald, Matthias 26–28, 40, 395–f., 396, 399f., 402–404, 461f, 463, 464, 472, 488–537, 606f., 628, 630, 638 Gryphius, Andreas 528 Guidobaldo II. della Rovere, Herzog von Urbino 562 Gulbransson, Olaf 540, 551 Gundolf, Friedrich 317, 432 Gunert, Johann 621, 628, 630f., 640, 707 Gurlitt, Cornelius 217, 224 Gurlitt, Cornelius (Gustav) 265 Gustloff, Wilhelm 576 Gütschow, Carl 567 Haack, Friedrich 82, 217, 224 Hadrian, Römischer Kaiser 125, 143 Haeckel, Ernst 342 Haecker, Hans Joachim 41, 580, 618, 638– 640, 707 Hagen, Oskar 495 Hamann, Richard 654 Hamel, Richard 179 Hamerling, Robert 237 Hart, Heinrich 47, 234 Hart, Julius 234 Hauptmann, Gerhart 342 Hausenberg, Margarethe 494 Hausenstein, Wilhelm 68, 498 Haushofer, Albrecht 399, 406, 490f., 506, 526, 533ff. Hausmann, Raoul 551 Hebbel, Friedrich 179, 468, 473 Heckel, Erich 339 Hegar, Friedrich 225 Hehn, Viktor 561 Heilbut, Iven 398 Heine, Heinrich 106, 341–343, 700

784 | Personenregister

Heinrich, Karl Borromäus 363–365 Heinse, Wilhelm 561 Heiseler, Bernt von 628, 641 Henckell, Karl 39, 50, 57, 212, 214, 220, 223, 232–236, 249–253, 263–269, 270, 275– 285, 294 Herder, Johann Gottfried 12 Hermlin, Stephan 33, 665–667, 687–690, 693f., 696 Herwegh, Georg 63 Herzfelde, Wieland 551 Herzog, Rudolf 40, 399, 404, 438, 440f., 444f., 450 Herzogs, Rudolf 454 Heym, Georg 356, 359, 362, 376, 378–381, 392, 570 Heyse, Paul 47, 58f., 63, 121, 149, 140, 154f., 158, 171, 173, 212, 215, 220–224, 226, 228, 234f., 287, 468 Hildebrandt, Theodor 94 Hille, Peter 57, 79, 212, 214, 220, 223, 232, 234–244, 248f., 253, 256f., 263, 279f., 285, 287–289, 294 Hillebrand, Karl 87 Hitler, Adolf 89, 406, 436, 438, 440, 445f., 450, 588, 590–592 Hodler, Ferdinand 42, 336, 340, 343f., 346f. Hofer, Karl 622, 668f. Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 87, 135, 229, 574 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 468 Hofmann, Albert 416 Hofmann, Ludwig 210, 321 Hofmann, Ludwig von 373 Hofmannsthal, Hugo von 57, 154, 210, 214, 253, 255, 257, 301, 378, 470, 487, 567 Holbein, Hans 396, 405, 478 Honecker, Erich 667 Horaz 5 Hübner, Julius 33, 47, 174, 176, 180–190, 205, 594 Hügin, Karl 540 Hüsgen, Heinrich Sebastian 438 Huysmans, Joris-Karl 406, 495f., 499, 533, 536 Jünger, Ernst 432

Justi, Carl 174, 177 Justi, Ludwig 59, 212 Kafka, Eduard Michael 235 Kandinsky, Wasily 361, 367 Kandinsky, Wassily 540, 622f. Kandinsky. Wasily 622 Kaschnitz, Marie Luise 621, 646f. Kaulbach, Wilhelm von 49, 102 Keller, Ferdinand 58 Keller, Gottfried 33, 39, 47, 121, 141, 145, 148f., 154, 212, 220, 225–227, 233–235, 296, 564 Kellermann, Hermann 407 Kerr, Alfred 342 Kessler, Harry Graf 305 Kinkel, Gottfried 62f. Kirchner, Ernst Ludwig 339, 357, 376 Kirsch, Rainer 667 Kirsch, Sarah 621 Kissling, Richard 224 Klages, Ludwig 253 Klee, Paul 357, 361, 367, 398, 540 Klein, Carl August 307 Klenze, Leo 121 Klenze, Leo von 228 Klimt, Gustav 373 Kling, Thomas 707, 710f. Klinger, Max 24, 42, 99, 210, 217, 254, 336– 338, 340–342, 347–356 Klopstock, Friedrich Gottlieb 179 Köberle, Georg 67 Koch, Maidy 240, 257, 263f., 271–272, 279 Kokoschka, Oskar 357, 359, 361, 496 Koller, Rudolf 224, 226 Koner, Max 57 König, Eberhard 33, 399, 403, 407f., 410f., 414, 416f., 421, 424 König, Erberhard 435 Körner, Theodor 12, 468, 574 Kraus, Karl 589 Kreutz, Heinz 626 Kubin, Alfred 357, 453 Kugler, Franz 11, 114, 175, 404 Kunert, Günter 33, 627, 665–367, 670f., 679–690, 696f. Kürnberger, Ferdinand 62

Personenregister | 785

Laban, Ferdinand 265, 267 Lamprecht, Karl 121 Landseer, Sir Edwin 94 Langbehn, Julius 316, 612–614, 616, 628, 645 Lange, Konrad Wilhelm von 48 Lanzinger, Hubert 437f. Lasker-Schüler, Else 234 Lechter, Melchior 210, 254 Lederer, Hugo 411 Lehmbruck, Wilhelm 622 Leibl, Wilhelm 128 Lenbach, Franz 216 Lenbach, Franz von 53, 58 Leo XIII., Papst 258 Leonardo da Vinci 18, 32, 49, 398, 545, 551, 564ff., 572, 578f., 586 Lepke, Rudolf 265 Lessing, Gotthold Ephraim 4, 6f., 9, 11, 13, 360 Lessing, Theodor 4757 Lichtenstein, Alfred 356, 362–365, 392 Lichtwark, Alfred 215 Liebel, Willi 436 Liebermann, Adolph von 264 Liebermann, Max 342 Liliencron, Detlev von 49, 79, 214, 234, 237, 264, 280 Lingg, Hermann 27, 33, 39, 47, 53, 62f., 74, 77, 79f., 82, 88f., 93, 105, 116, 121, 126, 141f., 144, 236 Lingg, Lingg 75 Lodenkämper, Karolus 709 Lorck, Carl B. 94, 103 Lübke, Wilhelm 27, 119, 177 Ludwig, Emil 563, 576, 578–580 Luksch, Richard 339 Mackay, John 235 Macke, August 398, 496 Magritte, René 3f. Mahler, Gustav 622 Makart, Hans 53, 57, 60 Malewitsch, Kasimir 540 Manet, Édouard 298 Manet,Édouard 373 Mann, Thomas 210, 407, 432, 436, 461, 567

Marc, Franz 367, 398 Marées, Hans von 228, 233, 265, 373 Masaccio 369 Matisse, Henri 358, 367, 387, 551 Maurer, Georg 665 Max, Gabriel von 26, 49, 52f., 60 Mechow, Karl Benno von 455 Meidner, Ludwig 359, 527 Meidner,Ludwig 357 Meier-Graefe, Julius 38, 68, 213–215, 233, 246, 291, 377f., 555, 560 Meinecke, Friedrich 432 Meissner, Franz Hermann 274 Menzel, Adolph von 22, 27, 39, 48, 54, 58, 94–116, 214 Mereschkowski, Dmitri Sergejewitsch 567 Metzner, Franz 420 Meyer, Conrad Ferdinand 19, 33, 39, 47, 117, 122, 125, 145, 155–173, 180, 190–206, 328, 330, 580, 582, 594 Meyer, Theodor A. 11 Meyer-Holzapfel, Monika 41, 629 Michelangelo Buonarotti 18, 22, 27, 29, 37, 39f., 42, 49, 53, 79, 125, 156, 159, 161, 164, 174–206, 212, 321, 329, 340, 398, 402, 406, 426, 469, 478, 538, 550f., 579f., 582–587, 590–617, 621, 628, 630, 638–644 Miegel, Agnes 400, 407, 588, 590–593, 614, 616–618 Modigliani, Amadeo 551 Momme Nissen, Benedikt 68, 613f. Mommsen, Theodor 121 Monet, Claude 373, 375 Moritz, Karl Philipp 11, 13 Motte Fouqué, Friedrich de la 439 Mühsam, Erich 234 Multscher, Hans 396 Munch, Edvard 26, 42, 298f., 304–308, 339f., 361, 367, 508 Münchhausen, Börries Freiherr von 591 Murillo, Bartholomé Esteban 478 Musil, Robert 409 Muth, Carl 491 Muther, Richard 49, 265, 274, 280, 323 Napoleon 408, 570, 576

786 | Personenregister

Neumann, Carl 48, 217, 224 Nietzsche, Friedrich 256, 258, 332 Nöthig, Theobald 49, 51, 53 Nöthigs, Theobald 50 Novalis 468 Oeser, Philip 690 Oppenheimer, Max 527 Ortner, Heinz 505 Osborn, Max 48, 68 Ostini, Fritz von 212, 220, 245f., 248f. Otto von Griechenland 128 Otto, Rudolf 486 Overbeck, Friedrich 178 Overbeck, Johannes 119 Ovid 170, 389, 690 Paionis von Mende 129 Pascin, Jules 540 Pater, Walter 567–570, 572f., 575, 578 Pechstein, Max 357, 540 Pecht, Friedrich 67 Peruggi, Vincenzo 570 Perugino, Pietro 373 Pfemfert, Franz 358 Philipp IV., König von Spanien 309 Picasso, Pablo 367 Pichler, Adolf 39, 47, 121, 149–151 Piero della Francesca 367, 621, 628 Piloty, Carl Theodor von 49, 52 Piloty, Carl von 216 Piloty, Karl von 400 Pindar 275 Pinder, Wilhelm 432 Pinturicchio, Bernardino 373 Piscator, Erwin 624 Platen, August Graf von 140 Plenge, Johannes 407 Polgar, Alfred 466, 468 Praxiteles 135 Prell, Hermann 57 Preradović, Paul von 455 Preradović, Paula von 28, 400, 404, 438, 440, 452, 456, 460, 462f. Preradović, Petar von 456 Pritzel, Lotte 540 Punis, Iwan 551

Rachmaninov, Sergei 263 Raffael 12, 22, 29, 37, 40, 42, 53, 174–206, 398, 401f., 404, 463f., 466–489, 508, 538, 638 Ranke, Leopold von 174f. Rathenow, Lutz 399 Rauch, Christian Daniel 97–101, 103 Redslob, Edwin 622ff., 629, 637, 640 Reger, Max 263 Rembrandt 22, 29, 37, 40, 298–300, 315– 321, 319f., 325, 329, 339f., 379, 398, 406f., 478, 588, 590, 592, 612–614, 628, 645–664. Renoir, Auguste 373 Reusch, Friedrich 342f. Reuter, Fritz 425 Riedel, Otto 621, 628, 630, 643f., 707 Riehl, Hans 41, 580, 618, 621, 628, 630, 638, 640, 642, 644, 707 Riemenschneider, Tilman 628, 630 Riemerschmid, Richard 469 Rilke, Rainer Maria 19, 33, 39, 50, 163, 187, 271, 298–300, 315–336, 378, 622 Ringelnatz, Joachim 33, 40, 53, 541f., 544 Rittmeyer, Emil 226 Rodenberg, Julius 157 Rolfs, Wilhelm 494 Rosenberg, Adolf 49, 68, 397 Rosenberg, Alfred 605, 612 Rousseau, Théodore 304 Rubens, Peter Paul 299, 478 Rückert, Friedrich 106 Rumohr, Carl Friedrich von 175 Rumohr, Carl Friedrich von 9 Ruskin, John 337 Sachs, Hans 83 Sallet, Friedrich von 179 Sandrart, Joachim 439, 492 Sandrart, Joachim von 504 Schack, Adolf Graf von 24, 53, 55, 57f., 63f., 69, 74, 212, 215, 220, 223, 228f., 231– 234, 290, 295 Schadow, Johann Gottfried 98 Schadow, Wilhelm von 180 Schaller, Johannes 67 Scharpenberg, Margot 41

Personenregister | 787

Schaudt, Johann Emil 411 Scheffler, Karl 40 Scherer, Bruno Stephan 41, 399 Schick, Rudolf 233 Schindler, Emil Jakob 42, 298f., 301–305, 361 Schlegel, August Wilhelm 11–13, 30, 468 Schlemmer, Oskar 398 Schmid, Heinrich Alfred 494, 498 Schmidt, Julian 87 Schmidt-Rottluff, Karl 398 Schmitt, Carl 369 Schmitt-Rothluff, Karl 622 Schmitt-Rottluff, Karl 339 Schmitz, Bruno 419 Schnaase, Karl 11, 175 Schnackenberg, Walter 362f. Schnackenberg,Walter 366 Schnackenberger, Walter 364 Schneckenburger, Max 76 Schoenaich-Carolath, Emil von 212 Schönaich-Carolath, Emil von 47 Schönewerk, Klaus-Dieter 667 Schröder, Rudolf Alexander 14, 24, 33, 40, 254, 399, 401, 404, 455, 466–488, 506, 508, 538f., 544, 584, 629, 638 Schulte, Eduard 305 Schultze, Bernard 626 Schultze-Naumburg, Paul 396f. Schumacher, Emil 626 Schwarzkopf, Nikolaus 493 Schwind, Moritz von 57, 228 Schwitters, Kurt 627 Sebald, W.G. 42, 707f. Sedlmayer, Hans 626 Seidel, Heinrich 47 Seidenfaden, Theodor 455 Servaes, Franz 217 Sewald, Richard 540 Shakespeare, William 159, 181, 651f. Signorelli, Luca 373 Simmel, Gerog 654f. Sitte, Willi 667 Sixtus II., Papst 471 Skarbina, Franz 60 Soutine, Chaim 551 Spengler, Oswald 552

Springer, Anton 8, 27, 174, 268 Stadler, Ernst 362, 382–387, 392, 431 Stauffer-Bern, Karl 47 Steinmüller, Paul 28, 404, 438, 440, 446, 448, 452, 454 Sternheim, Carl 337, 378, 398, 561 Strauss, Richard 255 Strindberg, August 306 Strozzi Il Vecchio, Giovanni Battista 187 Stuck, Franz von 254 Stückelberg, Ernst 226 Suchodolki, Sigismund von 411 Thausing, Moritz 78, 440 Theodosios II., Oströmischer Kaiser 127 Thieme, Clemens 418 Thode, Henry 27, 48, 176, 214f., 291, 579 Thoma, Hans 49, 57, 214, 254 Thoma, Ludwig 622 Tieck,Ludwig 12 Tizian 299, 406, 478, 538, 545, 554, 560– 562, 572 Tombruck, Hans 580, 582 Tooby, Charles 249 Toorop, Jan 317 Tornius, Valerian 655 Trakl, Georg 356, 358f., 363 Troeltsch, Ernst 407 Trübner, Wilhelm 128, 622 Tschudi, Hugo von 112, 212, 215 Tübke, Werner 667 Tucholsky, Kurt 40, 398, 538f., 544–551, 563–565, 569, 572–576, 579, 584, 587 Uccello, Paolo 369, 372 Uddgren, Gustav 306 Uhde, Fritz von 49, 464 Uhland, Ludwig 468 Ulbricht, Walter 667 Unold, Max 540 Utrillo, Maurice 551 Valentin, Veit 147 Valloton, Felix 292 van der Velde, Henry 323, 337, 622 van Gogh, Vincent 18, 37f., 42, 154, 217, 299, 375–381, 387, 392, 398, 406, 508, 538,

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546, 551, 554–557, 564, 586, 621, 627, 630f., 635–637, 642 Vasari, Giorgio 32, 428, 571 Velazquez, Diego 311 Velázquez, Diego 254, 298, 309–311, 321 Vernet, Horace 96 Vierordt, Heinrich 39f., 47f., 62, 89, 92, 117, 121f., 128, 133, 136–138 148, 150f., 164f., 225, 330, 432, 435 Vogeler, Heinrich 321 Voltaire 109, 115 Waagen, Gustav Friedrich 11, 175 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 5, 12 Waetzold, Wilhelm 22 Waetzoldt, Wilhelm 450 Wagner, Richard 83, 295 Walser, Karl 210, 553 Walser, Robert 40, 210, 378, 398, 406, 538f., 544f., 550f., 553–560, 586 Walzel, Oskar 2, 4, 9, 12, 358 Warburg, Aby 416 Watteau, Antoine 18, 554 Weber, Max 508 Webster, Thomas 94 Weinheber, Josef 400, 406, 455, 588–612, 614 Weismantel, Leo 492 Weiß, Emil Rudolf 292 Weiß, Konrad 14, 24, 33, 40, 395, 399, 401, 403, 405, 463–465, 472, 488–496, 499f., 506–537, 544, 584, 629, 638

Werner, Anton von 60f., 67, 102, 304, 400 Werner, Zacharias 468 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 12 Weyrauch, Wolfgang 399 Wibbelt, Augustin 425, 428f., 435 Wiemer, Rudolf Otto 41, 628, 630, 707 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 119, 407 Wildenbruch, Ernst von 47 Wilhelm I., Deutscher Kaiser 342 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 57, 341, 409, 418f., 576 Wille, Bruno 306 Willrich, Wolfgang 405, 505, 537 Winckelmann, Johann Joachim 11, 117, 119f., 137, 466, 472 Winckler, Joseph 346 Windholz, Jakob Leopold 301 Woermann, Karl 48, 88, 217f., 224 Wölfflin, Heinrich 6, 174, 233 Wolfskehl, Karl 57, 253f., 263, 267–270, 279, 317, 453 Wolfsohn, John 378 Woltmann, Alfred 492, 499 Worringer, Wilhelm 382, 432, 552 Woyrsch, Felix 263 Wurzelbauer, Benedikt 89 Zündwohl, Robert 226 Zweig, Stefan 50, 432