Das Bundesbuch des Göttinger Hains: Edition - Historische Untersuchung - Kommentar 9783110917925, 9783484298026

The Göttinger Hain is generally considered to have been the most close-knit circle of poets in the Sturm und Drang (Stor

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Das Bundesbuch des Göttinger Hains: Edition - Historische Untersuchung - Kommentar
 9783110917925, 9783484298026

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Exempla Critica Historisch-kritische Einzelausgaben zur neueren deutschen Literatur Herausgegeben von Bodo Plachta

Paul Kahl

Das Bundesbuch des Göttinger Hains Edition - Historische Untersuchung - Kommentar

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V C Wort

D7 Göttinger Philosophische Dissertation Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-29802-6

ISBN-10: 3-484-29802-2

ISSN 1613-2149

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2006 h ttp://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Gabriele Herbst, Mössingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhaltsverzeichnis Einleitung I.

1

Bundesbuch und Protokoll - Texte Bundesbuch Protokollbuch Aus Vossens Bundesbuch

9 195 215

II. Dichter und Dichtung im Göttinger Hain 1. Die Geschichte des Göttinger Hains Die Gründung Der Name »Göttinger Hain« Bardennamen Die Sitzungen Dichtung zwischen Klopstock und Wieland Der Göttinger Hain und Herder

281 281 284 285 290 295 300

2. Das Bundesbuch

303

3. Zur Poetik des Göttinger Hains Die Verzeitlichung des Gedichts: Geschichtliches Denken und Gedichtdatierung >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk: Stolberg und Voß Die Bearbeitung von Stolbergs Gedichten »Ihre Veränderungen sind mir allemal ein wahres Studium der Kunst«: Kritik und »Verbesserungsästhetik« bei Karl Wilhelm Ramler Kritik und Verbesserung im Göttinger Hain Die Sitzungen: Kritik und Verbesserung im Gespräch »und der ganze Hain hat accouchiren helfen« Bürgers Lenore und der Göttinger Hain Gedichte auf die Gruppe - Gedichte in der Gruppe Entfernungen: Kritik und Verbesserung im Brief »Freundschaftspflicht« - Bearbeitung des toten Dichters: Vossens Hölty-Ausgaben Höltys Auftrag- Gedicht zweier Autoren Zur gerechten Würdigung Vossens »des Dichters und des Verbeßerers würdig« kollektive »Verbesserungsästhetik« und Autorschaft

315

4. Schluss

368

315 322 325 332 340 340 342 346 349 354 357 360 362

VI

Inhaltsverzeichnis

III. Bundesbuch und Protokoll - Kommentar 1. Vorrede zur Edition Beschreibung der überlieferten Bücher Textwiedergabe und Apparat Der Kommentar Vom Umgang mit der »Verbesserungsästhetik«: Zur Edition des Bundesbuches

375 375 377 380

2. Die Dichter des Bundesbuches Heinrich Christian Boie Ernst Theodor Johann Brückner Karl Friedrich Cramer Johann Friedrich Hahn Ludwig Christoph Heinrich Hölty Gottlob Dietrich Miller Johann Martin Miller Christian Stolberg Friedrich Leopold Stolberg Johann Heinrich Voß

387 387 388 390 391 393 395 395 397 397 399

3. Gedichtgruppen Balladen Antikisierende Oden Übersetzungen (Horaz) Lieder (Miller) Minnesangrezeption Ossianrezeption

400 400 401 403 406 407 409

4. Kommentar Bundesbuch Harfe und Leier, Attribute des Dichters Protokoll Aus Vossens Bundesbuch

413 413 422 493 510

383

Literaturverzeichnis 1. Ausgaben 2. Forschungsliteratur

549 549 554

Abbildungsverzeichnis Nachbemerkung Abbildungen

572 573 574

Einleitung Die Geschichte der Edition des Bundesbuches des Göttinger Hains - einer zweibändigen handschriftlichen Gedichtsammlung - ist so alt wie dieses Buch selbst. Schon 1773/74 wollten die Bundesbrüder selbst eine Ausgabe ihrer Gedichtsammlung veranstalten, die, ebenfalls Bundesbuch genannt, das überlieferte handschriftliche Bundesbuch zum Teil umfasst hätte, außerdem andere Dichtungen, schon vorhandene und geplante, vielleicht auch epische. Klopstock hatte die Vorrede angeboten, und Klopstock selbst widerriet - warum ist nicht im Einzelnen überliefert - diesem Vorhaben wieder, zu dem es immerhin greifbare Vorbereitungen gegeben hatte. Das Bundesbuch ist keine Entwurfsammlung, sondern eine Reinschrift, beinahe eine Prachthandschrift. Einige spätere Verbesserungen und Bearbeitungen, die dem Bundesbuch auf einigen Seiten nachträglich eine Art Manuskriptcharakter geben, zielen auf die geplante Edition und sind offenbar meist Werk der Gruppe. Nur einzelne Korrekturen sind offensichtlich später und allein Vossens Werk. Erst mit der Auflösung der Gruppe ging das Buch - vorübergehend war es einem Dritten ausgeliehen worden und abhanden gekommen - in den Besitz eines Einzelnen, Vossens, über, der es aber, dem Gruppengedanken entsprechend, nicht mehr zu Gedichteinträgen genutzt hat. Der Verzicht auf die Gesamtausgabe entspricht der Entwicklung des Autorgedankens im späten 18. Jahrhundert. An ihre Stelle traten autorenbezogenene Einzelausgaben der wichtigsten Vertreter des Bundes, der Stolbergs (1779), Millers und Höltys (jeweils 1783), schließlich Vossens (1785). Auch die Philologen des 19. Jahrhunderts waren an den einzelnen Autoren interessiert, nicht zunächst an der Gruppe und damit nicht an ihrem Gruppendokument, das nur für Forschungen zu einzelnen Dichtern genutzt wurde. Ernst Klussmann, der damalige Besitzer, übertrug die Gesamtedition um 1870 an Karl Weinhold; 1 warum sie nicht ausgeführt wurde, ist unbekannt. Johannes Crüger kündigte 1884 eine Monografie über den Hainbund auf Grundlage der Bundesbücher an. 2 Sie ist nicht zustande gekommen. Walter Hettches Ansicht, eine kollektive Edition erweise sich »schon aus Umfangsgründen als praktisch undurchführbar«, ist mit der vorliegenden Ausgabe widerlegt. 3 Die Gedichte des Bundesbuches - und im Bundesbuch finden sich ausschließlich Gedichte 4 - sind fast immer namentlich gekennzeichnet, d.h. sie sind von ihrem Verfasser autorisiert. Offenbar hatte aber auch die Gruppe - ohne dass dies aus dem Bundesbuch selbst hervorginge - Anteil an der Autorisation. Voß berichtet kurz nach der Gründung des Bundes, die Gedichte würden eingetragen, wenn sie von der Gruppe »einstweilen durchgehende gebilligt« worden seien (an Brückner, 3.11.1772). Wie weit dies für das gesamte Buch Gültigkeit hat, ist nicht genau ersichtlich. Man hat so1 2 3 4

Das vermerkt Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 286. Crüger 1884, S. 605. Hettche 1998b, S. 471. Die einzige Ausnahme ist eine Prosaidylle, Der Bach von Friedrich Leopold Stolberg, Bd. 2, Nr. 11.

2

Einleitung

gar von kollektiver Autorschaft gesprochen (Walter Hettche); dem steht die Entwicklung einzelner Autorenpersönlichkeiten gegenüber. Das Bundesbuch des Göttinger Hains ist in vielfacher Hinsicht eine einzigartige Urkunde der Literatur- und Kulturgeschichte; Verbindungen ergeben sich zu fast allen geistig-literarischen Strömungen der Umbruchszeit um 1770. Dies im Einzelnen zu entfalten - oder doch anzudeuten - , ist Anliegen dieser gesamten Arbeit, ohne damit zugleich eine Gesamtdarstellung der Geschichte des Göttinger Hains bieten zu wollen. Diese Edition soll nicht nur eine Lücke schließen, sondern ihrerseits weitere Auseinandersetzung ermöglichen. Es ist kaum verstehbar - und wohl nur mit dem Umfang zu erklären - , dass es bisher niemand unternommen hat, diese Ausgabe zu veranstalten. Aus philologischer Sicht ist Hans-Jürgen Schräder zuzustimmen, der 1984 in seiner grundlegenden Studie über den Göttinger Hain und Wieland angemerkt hat, dass sich die Hainbunduntersuchungen der letzten Jahrzehnte »fast durchweg auf einen nur schmalen Bestand geläufiger Zitate« gründeten. 5 Daran hat sich nichts Grundlegendes geändert, obgleich sich mit der Arbeit von Annette Lüchow über den Göttinger Hain und Friedrich Gottlieb Klopstock (1995), die sich überdies hierin ihrerseits auf Schräder bezieht, 6 die Quellenkenntnis verbessert hat. Zu nennen ist auch die Ausgabe der Briefe Klopstocks aus demselben Zeitraum (2001) im Rahmen der Hamburger Klopstock-Ausgabe, wiederum von Annette Lüchow. Der größte Missstand bleibt das Fehlen verlässlicher Briefausgaben der beiden Hauptvertreter des Bundes, Vossens und Boies. Die Ausgabe der Voß-Briefe, 18291833 von Voß' Sohn Abraham veranstaltet, genügte schon damals nicht und genügt erst recht heute nicht wissenschaftlichen Ansprüchen. Sie lässt Wörter und Sätze, ganze Absätze und Briefe fort und vermischt die Briefe, die sie bringt (gerade bei Datierungsfragen verheerend). 7 Im 20. Jahrhundert sind mehrere Versuche gescheitert, eine Gesamtausgabe herzustellen. Vollends eine Ausgabe der Briefe Boies (mehrere tausend sind erhalten) ist gar nicht vorhanden. Wichtige Einzelbriefwechsel sind in über zwanzig verstreut gedruckten Einzeleditionen mehr versteckt als zugänglich. Beide bleiben Herausforderungen für spätere Forschung. - Unzureichend und völlig veraltet, in Textwiedergabe wie Kommentar, ist im Übrigen auch die Ausgabe des »Bundesbuches« Für Klopstock (1957 hrsg. von Anton Lübbering), einer kleinen Sammelhandschrift, die man im Frühjahr 1773 Klopstock geschenkt hatte und die im Klopstock-Nachlass in Hamburg erhalten ist.8

5 6 7

8

Schräder 1984, S. 325. Lüchow 1995, S. 157. Erste Auszüge der Briefe wurden bereits von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus 1827 kurz nach Voß' Tod veröffentlicht. Zu Voß' Briefen vgl. grundlegend Beutin 1995 und bes. von Stosch 1997. Schon Robert Eduard Prutz hat darauf hingewiesen, welche grundlegende Bedeutung Voß' Briefe an Brückner und Ernestine für die Erforschung des Göttinger Hains haben, vgl. Prutz 1841, S. 219, Anm. 1. Es wäre mehr als nur eine philologische Fleißarbeit, diese Ausgabe zu berichtigen, umfassend zu erneuern und in einen weiteren Rahmen zu bringen. - In der vorliegenden Arbeit wird freilich notgedrungen nach Lübbering zitiert.

Einleitung

3

Für die nähere Zukunft zu erwarten sind immerhin vier wichtige Briefausgaben, die aber für diese Arbeit noch nicht genutzt werden konnten: Die Briefwechsel zwischen Voß und Ernestine Boie/Voß (hrsg. von Adrian Hummel), zwischen Voß und Johann Martin Miller (hrsg. von Manfred von Stosch), und die Briefe Stolbergs, die in Jürgen Behrens' Ausgaben (1964/66) nicht enthalten sind (hrsg. von Dirk Hempel), endlich der Briefwechsel zwischen Bürger und Boie (hrsg. von Udo Wargenau). Wie bei der Bundesbuchedition handelt es sich dabei jeweils um die Arbeiten einzelner Forscher, niemals einer Arbeitsstelle oder eines großräumiger vernetzten Vorhabens. Die behandelten Dichter erscheinen in den verkrusteten Gewichtungen herkömmlicher Kanonbildung durchweg - wenn überhaupt - nur als zweitrangig. Die Einbuße an wissenschaftlicher Vielfalt, Genauigkeit, sogar Richtigkeit ist unübersehbar, wie auch im Einzelnen zu zeigen sein wird. Tatsächlich wären durch weitere Erschließung des Überlieferten grundlegend neue Anstöße möglich für die Beschäftigung mit einer nur scheinbar überforschten Epoche, etwa in den Bereichen der ästhetischen Geschmacksbildung, der literarischen Kommunikation, der »Verbesserungsästhetik«, der Lyrikgeschichte usw. Die Lage ist genau das Gegenteil von vielversprechenden Ansätzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Karl Halm im Zusammenhang seiner Hölty-Ausgabe (1869) auch die erste philologische Betrachtung des Bundesbuches vornahm. Carl Redlich billigte - historisch zu Recht, so sehr Halm durch Wilhelm Michael (1914/18) und Walter Hettche (1998) überholt ist - dieser Ausgabe zu, Höltys Gedichte hätten hier »eine so gründliche behandlung erfahren, wie noch keines anderen modernen dichters werke nach dem tode des Verfassers«. 9 In der Nachfolge dieses Anspruchs muss sich jede Edition zum Göttinger Hain verstehen. Einen Erkenntnisfortschritt hat namentlich die Hölty-Philologie erbracht (bei den anderen Bundesdichtern wird man von einer eigenen >Philologie« schwerlich sprechen können). Karl Halm edierte 1869 die Gedichte vornehmlich nach den Drucken als seien diese ein Text letzter Hand - und er kannte auch die meisten Handschriften - , Wilhelm Michael 1914/18 nach den Handschriften, jeweils nach dem Autorwillen suchend (Michael nahm zu Recht an, die Drucke enthielten auch Bearbeitungen anderer). Bezeichnend rühmt Redlich, Halm habe »einen text geliefert, wie der dichter selbst ihn herausgegeben haben würde«. 10 Darüber ist mit guten Gründen zu streiten. Walter Hettche betonte 1998 eine »kollektive Autorschaft« im Göttinger Hain und zugleich Höltys ständiges eigenes Feilen, welches die älteren Fassungen meist nicht erledigt habe: Hettche spricht nicht mehr von verschiedenen »Fassungen«, sondern »von Variationen« 11 und stellt diese nebeneinander. Seine eigene Forderung erfüllt er freilich nicht: »Die logische Konsequenz aus den Befunden hinsichtlich der kollektiven Produktion und Autorisation der Texte im »Göttinger Hain< wäre, von einer herkömmlichen »AutorTitelblattTitelblattannus mirabilis< des Bundes und leitete dessen Zerfall ein.

Der Name »Göttinger Hain« Anfänglich nannte man sich klassizistisch »Parnaß«, so namentlich in Boies und Vossens Briefen, und zwar vor und nach der Bundesgründung. 17 Häufigste Eigenbezeichnung des Dichterkreises war sodann einfach »Bund«. 18 Bundesbuch und Protokoll werden eröffnet durch »Der Bund ist ewig! Klopstock«. Nur selten - nämlich vorwiegend im Sommer 1773 und nicht zur Zeit der Gründung - bezeichnete man sich als »Hain«. 19 »Hain« ist Gegenbegriff zu »Hügel« oder Parnass, der germanisch-deutsche und griechische Ort der >Musen< oder der Dichtung. Die Verbindung »Göttinger Hain« ist nachträglich; sie wird hier gebraucht, gelegentlich abwechselnd mit »Göttinger Dichterbund« oder nur »Bund«, weil sie sich durchgesetzt hat und weil sich eine vielschichtig zu begründende Umbenennung kaum durchsetzen würde. Zutreffend ist sie insofern nicht, als sie einseitig antiklassizistisch ist, was dem Anliegen der Bundesbrüder nicht entspräche (allein wenn man die Bemühungen einiger um Homer und das Griechische bedenkt). »Göttinger Bund« wäre sachlich zutreffend, aber missverständlich, »Göttinger Dichterbund« daher vielleicht am angemessensten. Die Bezeichnung »Hainbund« ist wie die Verbindung »Göttinger Hain« nachträglich; sie taucht erstmals 1804 in Vossens Vorrede zu Höltys Gedichten auf. 20 Gewöhnlich wird für die Gegenüberstellung von >Hügel< und >Hain< Klopstocks Ode Der Hügel und der Hain (1767, Oden 1771, S. 252-260) angeführt. 21 Hier stellt Klopstock griechische und germanische Tradition, einen Poeten und einen Barden, programmatisch gegenüber und räumt der germanischen den Vorrang ein. 22 Der Vorzug

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Voß an Brückner, 26.10.1772, 3.11.1772, 15.11.1772. A m 4.8.1773 heißt es »Hain«. Boie an Knebel, 30.1.1772, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, hier S. 116, 2.3.1772, hier S. 118, 4.6.1772, hier S. 129, 27.8.1772, hier S. 135, 20.9.1772, hier S. 137. Boie an Bürger, 28.6.1773, und Bürger an Gleim, 20.9.1772. - Vgl. grundlegend Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 285. Vgl. schon Weinhold 1868, S. 50, Anm. 2, und Annette Lüchow 1995, S. 153, Anm. 4. Schon Köhler schreibt 1819: »sie selbst nannten sich der Bund«, Konrad Friedrich Köhler 1819, S. 80. Die erste, noch vereinzelte Erwähnung des »Hains« ist, soweit ich sehe, Bürgers Brief an Boie, 15.2.1773; im Sommer 1773 ist die Bezeichnung »Hain« dann bei Bürger und in Bürgers Briefwechsel mit den Göttingern oft zu finden. Nach Hettche 1998b, S. 449. Schaefer meinte noch: »Nomen illud societatis poetarum Gottingensis Hainbund ante annum 1830 scriptum non invenitur; socii hoc nomine non utebantur«, Schaefer 1868, S. 63. So schon Julian Schmidt 1870. Vgl. zuletzt Gerecke 2002, S. 301-305, außerdem Kahl 2002b, grundlegend Wolf Gerhard Schmidt 2003/04, Bd. 1, S. 502-526.

Die Geschichte des Göttinger Hains

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der germanischen Dichtung bestehe darin, dass sie den Vorfahren der Deutschen gehöre, aber auch qualitativ stuft Klopstock sie höher, weil sie mit der Stimme der Natur - statt nur mit der der Kunst - spreche. Von deutschem Dichter und griechischem Poeten herbeigerufen, tritt tatsächlich ein Barde auf, der sich als Vorfahre des Dichters versteht. In der Zusammenstellung von Poeten und Barden wird der Gegensatz von Kunst und Natur verkörpert. Aber auch die programmatische Frage nach der geschichtlichen Abkunft unterstreicht den Vorzug des Barden: »Ist Achäa der Thuiskonen Vaterland?« Die germanische Götterwelt ist der griechischen ebenbürtig. Kelletat hat die Gründung des Bundes als »Option für Klopstock« verstanden und in diesem Sinne den Namen »Göttinger Hain« und den Wahlspruch »Der Bund ist ewig« aus der Ode Der Hügel und der Hain abgeleitet. 23 Annette Lüchow vermutet demgegenüber, dass der Wahlspruch dem 16. oder 17. Gesang des Messias und nicht der Ode entlehnt sei (vgl. Kommentar zu Bd. 1, Bl. Mir). Dies ist aber aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich. Der Wahlspruch entstammt vermutlich der Ode Der Hügel und der Hain und ist also wohl eher einer anderen Gedichtsammlung bzw. einem Klopstock'schen Gedicht entlehnt als dem Messias, zumal der Spruch in dem Gedicht im Zusammenhang von Freundschaft steht. Dies spricht wiederum auch dafür, die Ode als Vorbild für die Selbstbezeichnung »Hain« anzunehmen. Äußerungen der Bundesbrüder sind hierzu nicht überliefert. Der Name »Hain« - dies ist jedenfalls festzuhalten ist nicht von Anfang an in Gebrauch gewesen; wenn er klopstockscher Sprachgebrauch war, dann war dieser nicht von Anfang an verbindlich. »Hain« wird in der Lyrik der Göttinger immer wieder auch in seiner eigentlichen Bedeutung gebraucht (vgl. z.B. Voß: Auf Michaelis Tod, Bd. 1, Nr. 2, Miller: Die Verschwiegenheit, Bd. 1, Nr. 5, Hölty: Minnelied, Bd. 1, Nr. 145 u.ö.).

Bardennamen Bald nach der Gründung hatte man sich im Bund »Bardennamen« gegeben. 24 Diese wurden spielerisch gebraucht, d.h. vor allem im Gedicht. Die Bardennamen sind zeitmodischer Ausdruck von literarischer Selbststilisierung in den ersten Wochen des Bundes. Sie wurden in der Forschungsgeschichte überschätzt; Belege für einen tatsächlichen Gebrauch, also etwa für briefliche Anrede mit Bardennamen, sind Ausnahmen. Das Bundes-Protokoll gebraucht sie niemals, ebenso auch nicht das Bundesbuch. 25

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Kelletat 1967, S. 409. Kelletat meint, der Brief Hahns an Klopstock vom 30.7.1774 enthalte »Momente« der Ode (S. 364). Diese erscheinen mir aber zu unspezifisch, wenn auch die Ode unzweifelhaft im Bunde rezipiert wurde (die Klopstock-Ode, die im Göttinger Hain am häufigsten erwähnt wird, ist Der Rheinwein). Vgl. zu Bardenmode und Bardendichtung Stolpe 1955, S. 335-451, und neuerdings Schmidt 2003/04, Bd. 1, S. 543-587. Die Arbeit von Pott (1976) entspricht nicht allgemeinen wissenschaftlichen Ansprüchen. Bei den Gedichten Bd. 1, Nr. 1 - 8 , 13-15 ist die Namensunterschrift des Dichters auf eine Ausschabung geschrieben; möglicherweise stand vorher dort der Bardenname, er wäre also aus dem Bundesbuch rasch entfernt worden, vgl. ausführlich den Kommentar zu Bd. 1, Nr. 1.

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

Die Namen der Gründungsmitglieder finden sich alle in der überarbeiteten Fassung von Höltys Bundsgesang26 (im Bundesbuch nur die letzten zwei Strophen der frühen Fassung, Bd. 1, Nr. 92): Haining (= Hölty), Gottschalk (= Voß, später stattdessen Sangrich), Teuthard (= Hahn), Minnehold (= Johann Martin Miller), Raimund (= Wehrs), Bardenhold (= Gottlob Dietrich Miller). 27 Neben diesen sechs gibt es noch zwei weitere Bardennamen: Boie wurde Werdomar genannt, Brückner Mannobard. Nur in diesen beiden Fällen ist der Vorgang der Namensgebung überliefert: Boie wird in Voß' Ode An meinen Boie (vorgelesen am 16.12.1772, Bd. 1, Nr. 61a, VB Nr. 64) eichenbekränzt und mit dem Namen ausgestattet: Empfang, ο Boie, deines Verdienstes Preis, Den deutschen Eichenkranz, u n d von nun an sey, In unsrer heiligen V e r s a m m l u n g , W e r d o m a r dir der geweihte N a m e .

Voß und Bürger nennen ihn in den Briefwechseln, soweit gedruckt, je einmal Werdomar und zwar auch nur kurz nach der Bundesgründung. 28 Der auswärtige Brückner wird im November 1772 mit einem feierlichen Sendschreiben, von Hahn geschrieben, zum Beitritt eingeladen, und nur hier werden die Namen (außer in Höltys Gedicht) alle noch einmal zugleich gebraucht: »Segen | Unserm Brückner | von Uns, | Werdomar, | Haining, Minnehold, Gottschalk, | Bardenhold, Reimmund, | Teuthard! [...] Dieweil Du nun erkannt hast den Kern Unsrer Satzungen, und Wir trauen, daß Du beharren werdest, der Du bist, siehe! so sey von nun an Dein Name: Mannobard, und von nun an bis in den Tod Unser Herz Dir ein Herz des Bruders!« 29 Cramer und die Stolbergs haben offenbar keine Bardennamen gehabt; jedenfalls werden solche niemals erwähnt. Boie schreibt am 5. November 1772 an Bürger: »Unser Bardenchor kömmt immer mehr und mehr in die Stille, worin ichs haben wollte. Wenn der Barde Lermhard

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Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1780, S. 137-139, und Hettche 1998b, S. 104f. Vgl. zur Entschlüsselung der Namen Redlich 1870, 236, und dann ausführlicher Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 285f. Voß' Name geht aus einem in der Briefausgabe fehlenden Brief hervor (6.12.1772); dort heißt es: »Statt Gottschalck hat mir der Bund anjetzt den Namen Sangrich gegeben« (nach Herbst). Gottlob Dietrich Millers Name ist aus Hahns Gedicht An Bardenhold (Bd. 1, Nr. 7) zu erschließen; die von Hahn und Johann Martin Miller seien bereits bekannt gewesen (offenbar durch Identifizierung der Gedichte Teuthard an Minnehold und Minnehold an Teuthard im Musenalmanach 1773, S. 177-179). Für die Zuweisung des Namens Haining an Hölty beruft sich Herbst auf Höltys Der Bund von Haining (mit gedachtem Komma hinter »Bund«), bei Halm 1869, S. 210-212, im Anhang gedruckt (d.h. für ihn in der Zuschreibung noch unsicher), das aber schon im Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1780 (offenbar von Halm übersehen) mit Komma und Höltys Namensunterschrift erschienen war. Herbst schließt, der übrigbleibende Name Raimund könne nur für Wehrs passen. - Weinhold meint irrtümlich, Teuthard sei der Bundesname Christian Stolbergs, Weinhold 1868, S. 248, Anm. 5. Voß an Brückner, 26.10.1772; Bürger an Boie, 2.11.1772. Metelmann 1932, S. 364f. Teilabgebildet bei Koettelwesch 1986, Abb. 8. Behrens bezeichnet dieses Sendschreiben zu Recht als »Persiflage des noch allgemein üblich[en] barocken Kanzleistils«, Behrens 1988, S. 7. Redlich weist darauf hin, dass aus Münchner Manuskripten des Brückner-Nachlasses hervorgehe, dass Brückner auch den Namen Cilyn geführt habe, Redlich 1873, S. 123; vgl. auch Herbst 1872/76, Bd. 2.2, S. 233. Die entsprechenden Briefauszüge sind mir nicht bekannt. Brückner hat offenbar ein Gedicht entworfen unter dem Titel Mannobard an sich selbst, das aber nicht veröffentlicht wurde, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 2996.

Die Geschichte des Göttinger Hains

287

und Brüllheim nicht da wäre, so würde kein Unheiliger davon merken.« 30 Diese Namen sind offensichtlich nur scherzhaft gebraucht. Wer gemeint ist, ist unbekannt. Die meisten Bardennamen lassen sich als unmittelbare Rezeption von Klopstocks »germanischer Wende< und als mittelbare Ossianrezeption verstehen. 31 Die Barden der Hermanns Schlacht und ihre die Krieger begleitenden Gesänge sind wahrscheinlich die deutlichste dichterische Anknüpfung Klopstocks an Ossian, obgleich von Barden im 18. Jahrhundert schon vor Ossian geredet wurde. Werdomar ist der Name des Bardenchorführers in der Hermanns Schlacht. Man darf freilich den spielerischen (und wohl auch leise selbstironischen) Ton nicht überhören, wenn aus Kriegsbegleitern einer weltgeschichtlichen Entscheidungsschlacht dichtende Jünglinge werden. 32 Von den germanisch-keltischen Studien Klopstocks findet sich im Göttinger Hain keine Spur. Der Bezug zu Klopstocks Drama reicht auch kaum sehr weit. »Teuthard« klingt deutschtümelnd, »Sangrich« und »Minnehold« sehr auf den Gesang bezogen, »Raimund« stammt aus der Melusinensage. Unmittelbar an Klopstock anknüpfend ist allerdings noch »Haining«, der Name des schnellsten der drei »Barden Wittekinds« in der Eislaufode Die Kunst Tialfs (1767). Auch briefliche Zeugnisse zeigen, dass der Stellenwert der Namen nicht sehr groß ist. Bald nach der Bundesgründung berichtet Boie an Knebel: »Unsere jungen Dichter hatten einen Bund mit einander gemacht, ihre Leiern nicht durch Nachahmung zu entweihen, deutschen Geist und Patriotismus zu singen, aber Barden wollten sie durchaus nicht sein, wie wir jetzt das Wort nehmen, keine Bardenmythologie brauchen, und überhaupt, wie einige neuere, nicht die Bardenpoesie blos zum Rüstzeuge und zur Stickerei unbardischer Gedichte anwenden. [...] Ich munterte den Bund sehr auf, und sie, die sich unter einander zum Spaße alte Namen gegeben hatten, gaben mir den von Werdamar [so]« (20.11.1772). 33 Ist das nur Boies Meinung? Am 6. Dezember 1772 schreibt Voß an Brückner, ihn im gedruckten Briefwechsel das einzige Mal mit dem Bardennamen anredend: »Hat Sie das Bundsschreiben ein wenig überrascht, mein lieber Mannobard? Den Namen haben Sie Hahn zu verdanken. Ueberhaupt ist es mit den Namen aber nur Spaß, und nur Hahn u. Miller, für die die ihrigen recht characteristisch sind, führen sie.« 34 Später tauchen die Namen nur noch vereinzelt auf. In seiner Ode An einen König nennt sich Hahn 1773 noch einmal

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Nach Wargenau 2004, S. 176. Zu Klopstock und Ossian vgl. nochmals Kahl 2002b und Schmidt 2003/04, Bd. 1, S. 502-526. Vgl. besonders Schmidt 2003/04, Bd. 2, S. 595. Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 138f. Sicherlich ist Boies Urteil innerhalb des Bundes zunächst das ausgewogenste. Schon am 1.3.1771 hatte er an Knebel geschrieben: »Nun auf Ihr hartes Urtheil über den Barden Rhingulph [von Kretschmann], Ich fürchte, Sie haben mehr Recht, als mir's um den guten Barden lieb ist, aber ganz beistimmen kann ich Ihnen doch nicht. Warum sollten wir denn nicht solche vaterländische Gedichte, und ganz in unserm eignen Tone, singen können? Sollte der Dichter, der es, selbst nur mit dem Glücke dieses Barden, wagte, ganz für die Vergessenheit singen? Ich glaub' es nicht, ob ich gleich glaube, daß wir diesen Ton, so wie bisher jeden [...], übertreiben werden«, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 94f. Vgl. auch die abgewogenen Urteile am 30.12.1771, hier S. 111, und am 5.6.1773, wo er ausdrücklich Wert darauf legt, Denis und Kretschmann nicht mit Klopstock und Gerstenberg in einem Zuge zu nennen, hier S. 145. In der Briefausgabe unterdrückt, zitiert nach Metelmann 1932, S. 364, Anm. 33.

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

Teuthard, 35 und ein Jahr später räumt er im Brief an Klopstock ein: »Wir bitten um Ihre Entscheidung. Teuthard klingt wohl zu Rhingulphisch. Ueberhaupt bedarf noch Manches der Feile« (Hahn an Klopstock, 21.7.1774). So weit reicht der Quellenbefund. Bardennamen und deren dichterischer Gebrauch finden sich namentlich bei den »Barden« außerhalb Göttingens, oft freilich auch etwas flach. Michael Denis gab sich den (einfallsreichen) Namen Sined (als Sined veröffentlichte er seine Gedichte), Karl Friedrich Kretschmann nannte sich Rhingulph, Gerstenberg Thorlaug, Johann Benjamin Michaelis Minnehold. Der Name Werdomar wurde auch für Klopstock gebraucht. 36 Bardennamen und -dichtung haben zeitgenössisch und in der Forschung Irritationen hervorgerufen, die nicht mit den Sachbefunden übereinstimmen. Am 17. November 1774 berichtet Voß an Brückner, »daß wir hier von den Professoren außerordentlich gehaßt werden, weil wir Klopstocks Freunde sind, und niemand die verlangte Cour machen. Man erzählt die lächerlichsten Geschichten von uns, von Eichenkränzen, die wir beständig trügen, von einem Ochsenberge, (ich kenn' ihn nicht), wo wir nach Art der Hexen nächtliche Zusammenkünfte halten sollen, 400 an der Zahl, alle in Ziegenfellen gekleidet, und mit großen Krügen versehn, woraus wir Bier trinken, und solche Alfanzereien mehr, die dem Professorenwize Ehre machen«. 37 1775 heißt es im Teutschen Merkur unter Auszüge aus einer Vorlesung über die Schwärmerey (4. Vierteljahr, S. 134-155, hier S. 142), geschrieben von Leonhard Meister: »Auch noch heut zu Tage befindet sich« - hier steht die Anmerkung: »Oder soll sich da befinden, oder befunden haben. - Denn was eigentlich an der Sache ist, ist, mir wenigstens, unbekannt« - »in G*** ein Haufen getaufter Poeten, welche voll bardischer Begeisterung sich mit heiligem Eichlaub krönen und im Dunkel des Haynes mit Hymnen und Tänzen den Wodan oder die Freya verehren.«

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Metelmann 1932, S. 394-396. Vgl. z.B. Muncker 1900, S. 407, und Hamel 1884, S. IV und Vlllf. Im Musenalmanach auf 1773 veröffentlichte Kretschmann ein Gedicht Rhingulph an Telynhard, den jungen Würtenbergischen Barden (S. 44-46). Ähnlich noch 1804 in Voß' Vorrede über Höltys Leben: »Einmal war Voß im Begrif, aufzustehn, und den gemishandelten Hölty zu vertheidigen [...]. Andere, die um einen gastfreien Bruder sich versammelten, Lehrer und Lernende, erfanden beim Wein eine Bardengesellschaft, die mit den Bardenschülern, an die Hunderte stark, auf die benachbarten Berge auszöge, in Thierhäute vermummt um Mitternacht opferte, Wodan und Klopstock anriefe, Bildnisse verbrennte, und keinen Wein, aber gewaltig viel Bier tränke. Dies Mährchen schwazte sich herum, und ward vielfältig ausgeschmückt. [Der italienische Literaturgeschichtler] Denina in der Literatur der Preußischen Monarchie verlegt die Feierlichkeit in die Nähe des Blocksbergs; auf dem Stolbergischen Schlosse zu Wernigerode, meldet er, sei ein großer Saal, wo die Barden Deutschlands unter dem Ältesten Gleim, um einen Tisch, dessen Ehrensiz für Klopstocks Geist ledig gelassen werde, bei Bier und Toback ein jähriges Fest begehn«, nach Hettche 1998b, S. 449f. Ein weiteres wichtiges Zeugnis ist Karl August Wilhelm von Closens Brief an Esmarch über Klopstocks Besuch, 21.9.1774, Langguth 1903, S. 4 0 - 4 2 . Vgl. auch Langguth 1903, S. 4 2 - 4 4 , über den Nachhall dieser Gerüchte in dem Roman Hölty von Friedrich Voigts, Göttingen 1840. Vgl. außerdem Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 106f. und 289, sowie Kelletat 1967, S. 415f. Zutreffend ist eigentlich nur Grantzows Urteil über die Bardennamen: »Wenn man sich im Scherze auch altdeutsche Namen gab, mit den Barden, deren Art man verlachte, wollte man nicht verglichen werden«, Grantzow 1909, S. 41; außerdem Behrens: »So hat man die Bardennamen [...] ebenfalls zumeist viel zu ernst genommen«, Behrens 1988, S. 7.

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Zerrbilder dieser Art tauchen im Schrifttum über den Göttinger Hain häufiger auf, und vermutlich haben sie das Bild des Göttinger Hains mitgeprägt: Hans Julius Potts Arbeit über die deutsche Bardendichtung des 18. Jahrhunderts (1976) behauptet, die bardischen Gedichte machten »einen großen Teil der Werke der Bundesbrüder« aus; 38 dies trifft freilich nicht zu. Pott spricht von der »konsequenten Anrede mit den jeweiligen Bardennamen« in den wöchentlichen Versammlungen, das »bardische Zeremoniell« sei »wesentlicher Bestandteil des Bundeslebens« von der Gründung an bis zur Klopstockfeier. Seit der Bundesgründung sei das »Bardentum« vollends zur »Weltanschauung« geworden: »Unter der lächerlichen Bardenmaske bleiben ihre wahren, zum Teil durchaus aufklärerischen Absichten verborgen«. 39 Aussagen dieser Art sind nur möglich bei Weglassung der Quellen. - Kaum weniger ungenaue Beurteilungen finden sich immer wieder: Schlägt man einen kunstgeschichtlichen, also fachfremden Beitrag auf (gleichsam um durch die Außensicht das Wichtigste ausgewählt zu finden), so kann man in einer kurzen Überschau lesen (1995): »Der 1772 gegründete >Göttinger Hainbund< trieb den Bardenkult, von >Ossian< und der >Edda< inspiriert, auf die Spitze.« 40 In einer Untersuchung zur literarischen Selbstdarstellung (1982) liest man: »Einen kaum geringeren Einfluß als Klopstock übte Heinrich Wilhelm von Gerstenberg auf den Göttinger Hain aus. Dies gilt zum einen für den Komplex der >Bardendichtung< und die Figur des >SkaldenDer Bund< (1772) das lyrische Denkmal gesetzt«. 43 Vollends Horst Joachim Frank (1998) behauptet: »Die für würdig befundenen [...] Gedichte wurden in ein Bundesbuch eingetragen, jeweils gezeichnet mit dem Bundesnamen der [so] Dichters«. 44 Und noch 2002 spricht Anne-Bitt Gerecke ohne Quellenangabe von der »gegenseitige[n] Anrede mit Bardennamen« in den Sitzungen »nach einem genau geregelten Ritus«. 45 Sie bezieht, wiederum ohne Belege zu nennen, die Rede vom »Bardengebrüll« auf den Göttinger Hain. 46 In all diesen Forschungsirrtümern wirken die zeitgenössischen Zerrbilder eigentümlich hartnäckig nach. Im Bundesbuch, dem wichtigsten Dokument des Bundes, werden die Bardennamen nicht verwendet.

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Eben dies behauptet auch Schmidt 2003/04, Bd. 2, S. 596. Pott 1976, S. 231 f., das letzte Zitat S. 237. Völlig unkritisch versteht Pott die Gerüchte offenbar einfach als Antwort auf die tatsächlichen Gegebenheiten des Bundes: »Es dauert nicht lange, dann sind sie stolz darauf, daß die wildesten Gerüchte über ihr verdächtiges Treiben in Umlauf kommen« (S. 229). Auch andere Äußerungen über den Göttinger Hain sind vergröbert, verfälscht oder erfunden. Roters 1995, S. 11. Peters 1982, S. 125. Ohne Prüfung wiederholt bei Blitz 2000, S. 376. Eine gute neuere Überblicksdarstellung ist noch zu nennen: Der >Barden-Diskurs< im 18. Jahrhundert bei Niefanger 1998, S. 364-369. Niefanger nennt als Vertreter (zu Recht nur) Gerstenberg, Kretschmann, Klopstock und Denis, aber nicht die Göttinger. - Zu den Bardennamen Niefanger 1998, S. 356. Vgl. zu Gerstenberg neuerdings: Gerecke 2002, zu Gerstenberg und dem Göttinger Hain bes. S. 305f. Hinck 1994, S . 5 2 . Frank 1998, S. 218. Gerecke 2002, S. 305. Gerecke 2002, S. 306, vgl. auch S. 19.

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Die Sitzungen Das Protokollbuch - Ablauf der Sitzungen Regelmäßige ritualisierte Sitzungen verzeichnet das Protokoll vom 13. September 1772 bis zum 27. Dezember 1773. Sie fanden meist samstags um 16 Uhr statt, vielleicht in Anlehnung an den Brauch der Deutschen Gesellschaft (vgl. Kommentar zur ersten Sitzung). Auch vor und nach der Zeit, die das Protokoll festhält, gab es regelmäßige Zusammenkünfte, zunächst jeweils sonntags. Boie berichtet schon am 4. Juni 1772 an Knebel: »Unser Parnaß kommt immer weiter. Ich hab' eine Menge von recht glücklichen Versuchen von allerlei Verfassern vor mir liegen. Meisterstücke müssen Sie nicht gleich erwarten. Wir haben unsre wöchentlichen Zusammenkünfte, wo wenigstens nicht geschmeichelt wird.« 47 Und Voß: »Wir versammeln uns nach der Reihe bei einem, gemeiniglich Sonntags Nachmittags. Die Producte eines jeden werden vorgezeigt und beurtheilt, und Boie [...] verbessert« (an Brückner, 17.6.1772). Die vollzogene und dokumentierte Ritualisierung seit der Bundesgründung knüpft also an einen schon geübten Brauch an. Das Protokoll gibt die Orte der Versammlung an - jeweils einen der Wohnräume 48 und die vorgelesenen Gedichte mit Verfasser. Die Teilnehmer der jeweiligen Versammlungen werden dagegen nicht genannt; wie viele »stumme« Teilnehmer jeweils anwesend waren, ist unbekannt. Eine Reihenfolge oder Gründe für die Ortswahl sind nicht erkennbar (einmal schreibt Voß: »Gleich nach Mittag kamen wir auf Hahns Stube, die die größte ist [...] zusammen«, an Brückner, 4.8.1773). Man traf sich zunächst nur bei den Gründungsmitgliedern und Boie, ab März 1773 auch bei Cramer, aber niemals bei den Brüdern Stolberg und auch nicht bei den anderen, nicht-dichtenden Mitgliedern (Clauswitz, von Closen, Esmarch). 49 Die Gastgeber der meisten Versammlungen waren Miller (wohl beide Millers), nämlich 19, gefolgt von Boie, Hahn und Voß (je 10), Hölty (9), Cramer (6) und Wehrs (4). Johann Martin Miller las auch die meisten Gedichte vor (entsprechend seiner Vertretung im Bundesbuch), nämlich 99, gefolgt von Hölty (64), Voß (46), Boie (20), Gottlob Dietrich Miller (16), Friedrich Leopold Stolberg (14), Hahn (9), Christian Stolberg (7) und Cramer (5). Der Aufbau der Eintragungen ist ritualisiert: Nummer der Versammlung, Ort und Datum, dann die vorgelesenen Gedichte. Nur gelegentlich gibt es einen zusätzlichen Vermerk (»Die beiden Grafen zu Stolberg, und Clausewitz besuchten das erstemal die Bundesversammlung«, 12. Versammlung; »Boie erklärte sich, die Messiade ins Engli-

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Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 129. Boie und Voß wohnten nebeneinander in der Barfüßerstraße 16, Hölty in der Nikolaistraße 17, vgl. dazu Müller 1986, S. 36; Miller in der Oberen Maschstraße 8, Cramer in der Roten Straße 21. Die Brüder Stolberg wohnten in der Gotmarstraße 1; Hahn wohnte beim Bäcker Cramer in der Weender Straße (offenbar das Eckhaus zur Prinzenstraße). Esmarch wohnte im SoSe 1771 in der Paulinerstraße 3, dann bis Herbst 1772 in der Gronerstraße, danach wieder in der Paulinerstraße, vgl. Langguth 1903, S . 2 1 . Vgl. insgesamt Göttinger Logier Verzeichniß 1771-73, Universitätsarchiv (ohne Signatur), auch Mejer 1889, S. 137-151, und Schöne 1985. Eine außerplanmäßige Sitzung fand am 3.10.1772 bei Ewald statt, vgl. Kommentar zur 3. Versammlung.

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sehe zu übersezzen«, 27. Versammlung). Wie die Sitzungen im Einzelnen abliefen, lässt sich nur aus einigen Briefen Vossens erahnen; der wichtigste Bericht wurde kurz vor der 6. Versammlung verfasst: »Doch ich mag Ihnen von unserer Versammlung noch gar nichts rechtes gesagt haben. Alle Sonnabend um vier Uhr kommen wir [...] bei einem zusammen. Klopstocks Oden und Ramlers lyrische Gedichte, und ein in schwarz-vergoldetes Leder gebundenes Buch mit weißem Papier in Briefformat, liegen auf dem Tisch. Sobald wir alle da sind, liest einer eine Ode aus Klopstock oder Ramler her, und man urtheilt alsdann über die Schönheiten und Wendungen derselben, und über die Declamation des Vorlesers. Dann wird Kaffe getrunken, und dabei, was man die Woche etwa gemacht, hergelesen und darüber gesprochen. Dann nimmt es einer, dem's aufgetragen wird, mit nach Hause, und schreibt eine Kritik darüber, die des anderen Sonnabends vorgelesen wird. Das obige schwarze Buch heißt das Bundesbuch, und soll eine Sammlung von den Gedichten unsers Bundes werden, die einstweilen durchgehende gebilligt sind. Noch steht nichts darin, weil die Gesänge, die jeder auf das Bündnis unter der Eiche gemacht, anfangen sollen, aber nach meinem Gefühl noch nicht eingeschrieben werden können« (an Brückner, 3.11.1772). Die Wendung »sobald wir alle da sind« und das Kaffeetrinken sprechen zwar für einen lockeren Verlauf; allerdings gibt es Anzeichen von Ritualisierung: Die Eröffnung der jeweiligen Seite im Protokollbuch mit größerer Schrift (Abb. 2a/b) und ihr wiederkehrender Aufbau, ebenso der von Voß geschilderte zweigliedrige Ablauf der Sitzungen, die aus der Rezeption fremder und der Produktion bzw. Kritik eigener Dichtung bestehen. 50 Man stellt sich mit der Vorlesung von Klopstocks und Ramlers Oden in eine Tradition, und man bespricht zunächst deren Vorzüge, sodann - und darin die Wendung zur Gruppe - auch die »Declamation des Vorlesers«. Die folgende Vorlesung und Kritik der eigenen Gedichte während des Kaffeetrinkens scheint zwangloser, wenngleich mit dem Auftrag schriftlicher Beurteilung nicht weniger ernsthaft gewesen zu sein. Wie weit dieser Ablauf über die Monate beibehalten wurde (namentlich Ramler ist rasch in den Hintergrund getreten), 51 ist nicht belegt. Im Frühjahr 1773 wurden die meisten Gedichte vorgelesen; in dieser Zeit ist die Anzahl der Minnesang-Nachbildungen am größten (6.2.1773: 23 vorgelesene Gedichte, darunter 13 »Minnelieder« oder Lieder mit entsprechenden Anklängen). Rasch kommen Übersetzungen hinzu, namentlich bei Voß (Horaz und Pindar). Im Sommer und Herbst 1773 nimmt die Zahl der vorgelesenen Gedichte ab. Der Häufung im Frühjahr entspricht ein inhaltlicher Schwerpunktwechsel. Während im Februar vor allem Minnelieder vorgelesen wurden, namentlich von Hölty und Miller, treten nach der Rückkehr der Brüder Stolberg aus Hamburg im Juni kämpferische Oden in den Vordergrund, namentlich von Voß, Hahn und Friedrich Leopold Stolberg. 52 Miller und Hölty dichteten kaum etwas; mehrfach wird gar nichts vorgelesen (am 22.7.1773 heißt es ausdrücklich: »nichts!«). »[D]ie eigentliche produktive Phase des Hains beschränkt sich auf den 50

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Zum lauten Vorlesen von Dichtung, besonders Klopstocks Dichtung, vgl. neuerdings Hurlebusch 2001, S. 14ff. und 75ff. Vgl. zu Ramler unten II/3, Kritik und » Verbesserungsästhetik« bei K. W. Ramler. So schon Annette Lüchow 1995, S. 169t.

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Winter und das Frühjahr 1773. [...] Hatte im Herbst 1772 [...] die zunehmende Begeisterung für Klopstock einen wahren Schaffensrausch ausgelöst, so bewirkte das Bemühen, seinem hohen Anspruch gerecht zu werden, im Sommer 1773 das Gegenteil. Trotz aller Versuche, sich gegenseitig zu beflügeln, fanden die Hainbündler als Gruppe nicht wieder zu ihrer einstigen Produktivität zurück.« 53

Abschied der Stolbergs Der Abschied der Grafen Stolberg aus Göttingen - am 12. September 1773, ein Jahr nach der Gründung - eröffnet den Zerfall des Bundes. Vossens vielzitierter Brief an Ernestine Boie über diesen Abschied ist Zeugnis für den Übergang von Empfindsamkeit zu Empfindelei und zugleich für eine wichtige Etappe in der Geschichte des Bundes: »Des jüngsten Grafen Gesicht war fürchterlich. Er wollte heiter sein, und jede Miene, jeder Ausdruck war Melancholie. Wir sprachen indeß noch vieles von unserm künftigen Briefwechsel, von jedes vermutlicher Bestimmung, von Mitteln, wie wir einmal wieder zusammen kommen könnten, und dergleichen bittersüße Gespräche mehr. [...] Es war schon Mitternacht, als die Stolberge kamen. Aber die schrecklichen 3 Stunden, die wir noch [...] zusammen waren, wer kann die beschreiben? Jeder wollte den andern aufheitern, und daraus entstand eine solche Mischung von Trauer und verstellter Freude, die dem Unsinn nahe kam. [...] Nun wollten wir den Schmerz nicht länger verhalten, wir suchten uns wehmütiger zu machen, und sangen von neuem das Abschiedslied, und sangen's mit Mühe zu Ende. Es ward ein lautes Weinen - . Nach einer fürchterlichen Stille stand Clauswitz auf: Nun, meine Kinder, es ist Zeit! - Ich flog auf ihn zu, und weiß nicht mehr, was ich that. Miller riß den Grafen ans Fenster, und zeigte ihm einen Stern. - Ich kann nicht mehr, liebes Ernestinchen; die Thränen kommen von neuem. [...] Es war die schrecklichste Nacht, die ich erlebt habe« (18.9.1773). 54 Einen Wiederhall dieses Abschieds im Protokollbuch gibt es nicht. Auf den späteren Bruch zwischen Voß und Stolberg ist hier nicht weiter einzugehen. 55 Er zerbricht die »ewige Freundschaft«, den »ewigen Bund«, den das Bundesbuch beschwört, nicht ohne geschichtliche Ironie und Tragik.

Klopstocks Besuch - Neue Mitglieder? Klopstocks Geburtstag am 2. Juli 1773 - die Sitzung wurde eigens auf diesen Tag verlegt (vgl. Protokoll, 2.7.1773) - und Klopstocks Beitritt und Besuch 1774 lassen sich als Höhepunkte der Bundesgeschichte ansehen. Am 4. Februar 1774 erklärt Klopstock schriftlich seinen Beitritt: »Sonst nur noch Ein Wort von dem, was ich in Absicht auf den Bund wünsche. Ich bitte Sie mich in denselben aufzunehmen. Ich werde Ihnen hierauf Vorschläge thun zur Vergrößerung des Bundes, zur genauen Festsetzung 53 54

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Lüchow 1995, S. 172. Im Ganzen wiedergegeben im Kommentar zur 55. Versammlung. Vgl. auch Vossens Brief an die Grafen Stolberg vom 19.9.1773, Bobe 1917, Bd. 8, S. 119-121, und Miller an Brückner, 7.10.1773, nach Kahl 2001a, S. 112-117. Vgl. Kahl 2001a, S. 95-100.

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seines Zweckes [...] und wie wir ihn unaussterblich machen können« (Klopstock an den Bund). Der Bund jubelt: »Gott hat uns gesegnet! Unter uns Klopstock!« (der Bund an Klopstock, 24.3.1774). Gerstenberg, Schönborn, Goethe und Claudius schlägt er als neue Mitglieder vor. 56 Aus einem Brief Vossens an Brückner geht zusätzlich hervor: »Boie hat einen Brief von Klopstock an den Bund mitgebracht. [...] Der größte Dichter, der erste Deutsche, von denen die leben, der frömmste Mann, will Antheil haben an dem Bunde der Jünglinge. [...] [M]it vereinten Kräften wollen wir den Strom des Lasters und der Sklaverei aufzuhalten suchen. Zwölf sollen den inneren Bund ausmachen. Jeder nimmt einen Sohn an, der ihm nach seinem Tode folgt; sonst wählen die Elfe. Mehr wissen wir selbst noch nicht. Der vierzehnte Morgen in der Republik klärt wol das übrige auf« (an Brückner, 6.3.1774). 57 In den folgenden Wochen werden die Möglichkeiten des Bundes lebhaft erörtert, obwohl Klopstocks Überlegungen unklar bleiben. Miller betont die Unterscheidung von schreibendem und handelndem Bund: »Was Klopstoks eigentliche Absichten mit dem Bunde sind, weiss ich nicht, da uns Voss zwar vieles von der Freundschaft Klopstoks gegen ihn und uns, aber nichts von Bundessachen schrieb; denn vermutlich will er sich die Freude machen, uns mündlich alles vorzutragen. [...] Der schreibende Bund ist nach meiner Meinung das Häuflein derer, die durch ihre Schriften unsre Landsleute deutsch und männlich und ihrer Freyheit eingedenk zu machen suchen. Wer dies schriftlich thut, der thut es auch gewiss im Umgang. Wessen Genie den fernen deutschen Bruder, selbst den Enkel befeuren kann, wie sollte nicht seine Feder den erwärmen, der ihm nahe ist? Wer vor der gantzen Welt, vor allen Deutschen Fürsten Freyheit! ruft, der wirds gewiss auch vor dem Fürsten thun, der nicht nur seine fernem Brüder, sondern auch ihn und seine Kinder unterdrükken will. Also kanns keinen blos schreibenden Bund geben. Das Schreiben ist nur ein Vorzug vor dem blos Handelnden, der nicht zugleich auch schreiben kann. Kurtz: Schreiben hebt das Handeln nicht auf. Wir handeln auch [...] als Schriftsteller. Wenn wir im Grabe schlummern, und der Enkel sucht, befeurt von unsern Liedern, unser Grab und huldigt auf demselben der Freyheit, so handeln wir. Auch ich will, wie Sie, mein Bester, lieber handeln als schreiben«. 58 Im September 1774 ist Klopstock auf der Durchreise von Hamburg nach Karlsruhe für zwei Tage beim Göttinger Hain zu Gast und trifft sich mit den Mitgliedern ohne weitere Öffentlichkeit zuerst in Bovenden und am nächsten Tag, da sich die Weiterfahrt wegen Pferdemangels um einen Tag verzögert, in Boies Zimmer in der Barfüßer Straße: »Mit dem Bunde hat er große Dinge im Sinn, sein Plan ist aber noch nicht völlig bestimmt. Von seinen Freunden schlägt er Resewiz und Schönborn vor. Alles was wir schreiben, muß strenge nach diesem Zweck, nach Geschmack und Moral geprüft werden, eh' es erscheinen darf. Er selbst unterwirft sich dem Urtheil des Bundes. Zwei Drittheile von den Stimmen entscheiden. Er will durchaus nicht mehr als Eine Stimme haben, und zwar, auf unser Bitten, die lezte. Nebenabsichten sind - die Vertilgung des verzärtelten 56

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Zum Bundesbeitritt Klopstocks vgl. grundlegend Lüchow 1995, S. 185ff. Vgl. auch Kahl 1999a, S. 194-196. Dieselbe Mitteilung machtauch Boie an Schönborn, 24.2.1774, nach Lüchow 1995, S. 186f. Miller an Stolberg, 18.4.1774, nach Bobe 1917, Bd. 8, S. 95f.

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Geschmacks, ferner der Dichtkunst mehr Würde gegen andre Wissenschaften zu verschaffen, manches Gözenbild, das der Pöbel anbetet, z.B. einen Heyne, Weiße, Ringulf u.s.w. zu zertrümmern, die Schemel der Ausrufer, wenn sie zu sehr und zu unverschämt schreien, umzustürzen u . s . w . - « (Voß an Brückner, 17.11.1774). 59 Allen Plänen mit dem Bund - wie allein nur seiner Vergrößerung - kam dessen Zerfall zuvor. Klopstocks Pläne blieben unbestimmt und wurden später nicht mehr angesprochen, zuletzt, schon zögerlicher, bei Klopstocks Besuch im Herbst 1774 in Göttingen. 60

Zerfall Von dem Wunsch, Gerstenberg aufzunehmen, nimmt Klopstock Abstand, »weil er zu kalt ist«, Claudius soll doch nicht aufgenommen werden »wegen seiner zu großen Sorglosigkeit«. »Von Göthen wollt' er uns schreiben, wenn er ihn bundesfähig fände, er hat aber noch nicht geschrieben« (Voß an Brückner, 17.-24.11.1774). 61 Ein späterer Hinweis auf die Angelegenheit findet sich nicht mehr. 62 Mit dem Jahr 1773 und der Beendigung der Aufzeichnungen im Protokoll ist die Geschichte der regelmäßigen Zusammenkünfte aber noch nicht zu Ende. Regelmäßige Sitzungen werden im Juli 1774 zuletzt genannt, 63 vermutlich dauerten sie bis gegen Ende des Jahres; warum diese Sitzungen nicht mehr protokolliert wurden, ist unbekannt. Das letzte Bundesjahr führte noch zu einigen wichtigen Ereignissen. Am 8. Februar 1774 brachte Boie aus Hamburg Klopstocks Aufnahmegesuch mit; am 2. Juli, Klopstocks 50. Geburtstag, trat Leisewitz bei; das >Aufnahmeverfahren< wurde formal vollzogen. 64 Am 18.-20. September war Klopstock in Göttingen zu Gast (bei dieser Gelegenheit trug er sich in Voß' Bundesbuch ein, vgl. VB Nr. 114). Bald danach verließen beide Miller, Leisewitz und Hahn Göttingen. Schon im Sommer 1774 gibt es den Plan einer formalen Bundeskorrespondenz, die die persönliche Trennung ausgleicht: Es »soll noch eine regelmäßige Correspondenz des Bundes, verschieden von der freundschaftlichen, festgesezt werden« (Voß an Brückner, 15.8.1774). Zu der formalen Korrespondenz ist es freilich nicht gekommen, es stehen sich Zerfall und Stilisierung gegenüber; Stolberg schreibt an Millen »O Bund! Bund! Bund wer ist dir gleich! Kein Staat des ehrenvollen Alterthums ist grösser als Du!« (12.3.1774). Am 1. September 1776, weniger als vier Jahre nach der Gründung, stirbt mit Hölty der wichtigste Lyriker des Bundes. 59 60

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Vgl. auch von Closen an Esmarch, 21.9.1774, Langguth 1903, S. 4 0 - 4 2 , hier S. 40. Vgl. Voß an Brückner, 17.-24.11.1774: »Wir saßen den ganzen Tag um ihn herum, und er erzählte. Mit dem Bunde hat er große Dinge im Sinn, sein Plan ist aber noch nicht völlig bestimmt«, nach Lüchow 1995, S. 218. A m 20.4.1775 berichtet Voß an Ernestine Boie von seinem Besuch in Hamburg immerhin, Klopstock habe »sich laut für einen Bundesgenossen [erklärt]«. Nach Lüchow 1995, S. 218t. Vgl. Lüchow 1995, S. 191. Vgl. Kommentar zur 69. Versammlung. Vgl. Voß an Brückner, 13.6.1774: »Miller hat mich um meine Stimme gefragt, ob Leisewiz soll in den Bund aufgenommen werden. Er glaubt, ich könne auch für dich stimmen. Wenn du aber selbst deine Stimme giebst, so ist's doch besser. [...] Auf unser Wort hat Klopstock seine Stimme für die Aufnahme gegeben, und ich hoffe, du wirst es auch.« 4.7.1774: »Leisewiz ist aufgenommen. Alle Stimmen waren für ihn, und so glaubten wir deine voraussezen zu können.«

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In späteren Jahren gibt es mehrmals Anklänge an die Bundessitzungen, und zwar in der Begegnung Vossens mit Stolberg und auch mit Miller. Am 28. April 1779 schreibt Voß an Miller: »Nun, mein lieber Miller, wie lange ist's her, daß wir einander nicht geschrieben? [...] Und daß unter Miller und Voß, den beiden Bundesbrüdern, die noch fest halten an der alten Treue, da außer uns und Stolbergs alle dieser Welt oder sich selbst anhangen.« 65 Die Überlegung, gemeinsam die llias herauszugeben, und die gemeinsame Ausgabe von Höltys Gedichten 1783 (vgl. unten II/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk und »Freundschaftspflicht« - Vossens Hölty-Ausgaben) sind ein Anlass zur Erinnerung an die Kritik im Bund. Herbst meinte, offenbar aufgrund ungedruckter Briefe: »Der Rückweg in die Tage der Jugend wurde um so lieber betreten, als die gemeinsame Feilung und Herausgabe von Höltys Gedichten Anlass gab, Bundestage im kleinen zu erneuern, bei denen auch die Frauen, beide Verehrerinnen des früh vollendeten Sängers, Sitz und Stimme erhielten.« 66 Am 12. Juni 1788 schreibt Voß aus Eutin an Miller: »Die schönen Tage des Bundes! [...] Könntest du doch nächstens, da Stolberg hieher kommt, auch unter uns sein, und einen Bundesabend mit feiern! [...] Vorigen Sommer war etwas ähnliches, als Stolberg mit Klopstock und Cramer hier waren.« 1804 trafen Voß und Miller in Ulm zusammen, erstmals seit den Bundestagen, und nahmen auch Bundesbuch und Protokoll hervor, die durch Vossens Sorgfalt überliefert wurden (vgl. unten II/2). Ernestine Voß schreibt dazu rückschauend: »Sie wurden sogar so jugendlich, daß sie die beiden Samstage ihres Zusammenseins Bundestag hielten, und manches seitdem Geschriebene strenge kritisirten, auch Plane machten zu künftigen Arbeiten, ehe jeder diese schöne Welt [...] mit einer schöneren vertauschte. [...] Es ward nun beschlossen, daß wir uns wo möglich jedes Jahr besuchen wollten. Die erste Zusammenkunft sollte bei uns sein, in Würzburg oder in Jena. Wenig ahndeten wir, daß diese die lezte sein würde«. 67 Die Begegnung 1804 ist so der letzte Nachhall der Göttinger Bundeszeit, bevor Voß ihr Andenken in seinen Streitschriften gegen Stolberg 1819/20 öffentlich preisgab.

Dichtung zwischen Klopstock und Wieland 68 Die Generation, die Strömung, die Klopstock »Vater« nannte - so sagten Voß, Hahn und Stolberg, aber auch Goethe und Lenz 69 - und für die Klopstock mit schwärmerischer Selbstverständlichkeit der größte lebende deutsche Dichter war, 70 fand im Göt65 66 67 68

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Vgl. auch Ernestines Bericht in Voß-Briefe 1829/33, Bd. 2, S. 61. Herbst 1872/76, Bd. 2.1, S. 23. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.2, S. 35f. Vgl. grundlegend: Sengle 1949, S. 295-319, hier bes. S. 305f., Annelen Kranefuss 1978, Schräder 1984 und Annette Lüchow 1995, letztere jeweils mit der gesamten Literatur. Zur Forschungsgeschichte, besonders der Bücherverbrennung, Schräder 1984, S. 348, Anm.77. Zur Bücherverbrennung auch Schöne 1983 und Rafetseder 1988. Unter den älteren vgl. schon Gruber 1827/28, Bd. 3, S. 61, 86f., 93-96, 107f. Voß an Brückner, 18.4.1773. Hahn an Klopstock, 30.7.1774. Stolberg an den Bund, 19.9.1773, nach Lüchow 1995, S. 199; Goethe an Klopstock, 15.4.1775; Lenz an Boie, 5.4.1780, nach Lüchow 1995, S. 152. Weitere Stellen bei Lüchow 1995, S. 188, Anm. 203. Vgl. Voß an Brückner, 7.3.1773 und sein An Boie, VB Nr. 64 (»alle Sänger aller Jahrhunderte | Weit

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tinger Hain ihre wichtigsten Vertreter. Die Grafen Stolberg waren mit Klopstock seit ihren Kindertagen bekannt, und für sie blieb Klopstock lebenslang der größte deutsche Dichter und auch das eigene dichterische Vorbild; 71 durch Vermittlung der Brüder machten 1773/74 fast alle Bundesmitglieder persönliche Bekanntschaft mit ihm, wenngleich eine »Wallfahrt« des gesamten Bundes zu Klopstock nicht zustande kam.72 Christoph Martin Wieland, seit August 1772 Prinzenerzieher in Weimar und vermutlich meistgelesener Dichter der Zeit, kannte nur Boie persönlich. Klopstocks Urteil wird höchstes Gewicht eingeräumt, Wieland ist immer Gegenbild: »Wenn uns Klopstock liebt, und unsre Arbeiten billigt, so mag sich Wieland mit seiner ganzen Rotte gegen uns verschwören, wir achten des luftigen Gesindels nicht. Weßen Arbeiten Klopstock gefallen, der ist schon in den Vorhof des Tempels der Unsterbligkeit eingegangen, und wird gewiß ins Allerheiligste kommen. Die Stimme der Nachwelt wird mit Klopstocks einerley seyn« (Hölty an Voß, 2.4.1774). Voß nennt in seiner Begeisterung Klopstock »den unsterblichen Mann«, »der unsere Anbetung verdiente, wenn wir nicht Christen wären« (an Ernestine Boie, 16.6.1773). In der ersten Fassung der Ode Mein Vaterland (Bd. 1, Nr. 32) nennt er ihn »Heyland«, und im Brief an Brückner heißt es: »Ein Profet, ein Engel Gottes kann nicht mehr die Seelen durchboren, als unser Klopstock!« (7.3.1773). Miller erklärt kurzerhand: »Klopstok ist ein Gott auf Erden« (an Stolberg, 24.5.1774). 73 Dies sind zwar auch im Göttinger Hain Spitzensätze, aber solche, die die Art seiner Klopstockverehrung erfassen: »Es ist eine Erscheinung von geistesgeschichtlicher Bedeutung, daß gerade hier in diesem bürgerlichen Kreis von Theologen und Theologensöhnen einem Menschen ein Kult gewidmet wird, wie er bislang nur dem höchsten Wesen gegenüber denkbar und wie er in der Geschichte der deutschen Dichtung erstmalig war.« 74 Klopstock nimmt seinerseits an den Göttingern Anteil. Freilich sind es weniger ihre Dichtungen, die ihn dazu bewegen, als die Vorstellung, dass es in Göttingen eine vaterländisch bewegte Gruppe junger Männer gibt, die ihm zujubelt. Innerer Grund ist seine Arbeit an der Deutschen Gelehrtenrepublik, mit der Klopstock die Verbindung der Gebildeten zur Einigung der deutschen Kulturnation anregen will. In den »zwölf edle[n] und vaterländische[n] Jünglinge[n]« 75 - offensichtlich auf die Göttinger bezogen - glaubt Klopstock offenbar, eine »heilige Cohorte« 76 als Vorkämpfer seines Planes verwirklichen zu können. 77 Der engen Verbindung mit Klopstock steht die aggressive Abwehr Wielands gegenüber und »französischer« Einflüsse, die man in Wieland und seinen

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überragend, Deutschlands Klopstock«), Annette Lüchow weist darauf hin, dass von den über 500 erhaltenen Briefen aus dem Göttinger Hain, die sich heute in der Hamburger Klopstock-Arbeitsstelle befinden, kaum einer Klopstock nicht zumindest erwähne, Lüchow 1995, S. 157. Noch 25 Jahre später bezeichnet Stolberg Klopstock gegenüber seine Gedichte, seine »Geisteskinder«, als Klopstocks »Enkel«, 10.3.1799. Vgl. Voß an Brückner, 7.3.1773, und Stolberg an den Bund, 19.9.1773, nach Lüchow 1995, hier S. 199; und Lüchow 1995, S. 175. Die Briefwechsel in HKA B, Bd. 6.1. Zu Voß' Aufenthalt in Hamburg und der Begegnung mit der Person Klopstock vgl. Lüchow 1993 und außerdem Bäte 1927. Bobe 1917, Bd. 8, S. 99. Bäsken 1937, S. 12. HKA W, Bd. 7.1, S. 232. HKA W, Bd. 7.1, S. 233. Vgl. Lüchow 1995, bes. S. 176ff. und 186.

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freizügig-ironischen Romanen verkörpert sah: »Ihr eigener jugendlicher Enthusiasmus schien doch konterfeit in den von ihm gestalteten unreifen Idealschwärmern wie dem Don Sylvio, dem jungen Agathon, Phanias oder Amadis. Schlimmer noch schien er karikiert durch Wielands tugendschwätzende Bleumurants oder kraftmeiernde Boreasse, wenn nicht gar verhöhnt in seinen sich selbst und andere betrügenden Pythagoreern oder Gymnosophisten.« 78 Man müsste dies im Einzelnen auch psychologisch erklären: Warum fühlt man sich von der Wieland'schen Freizügigkeit und Weitläufigkeit so angegriffen? Warum bedarf es der Verehrung eines menschlichen Vorbildes mit religiösen Zügen und des entsprechenden Feindbilds? Die sich offenbarende tiefe persönliche Verunsicherung der Hainbündler - und vieler im Sturm und Drang - ist zugleich Ausdruck allgemeiner Verunsicherung einer Zeit grundlegender Umbrüche und erwachenden nationalen Selbstgefühls. Höhepunkt beider Tendenzen, für Klopstock und gegen Wieland, war die Klopstockfeier 1773: »Seinen [Klopstocks] Geburtstag feierten wir herlich. Gleich nach Mittag kamen wir auf Hahns Stube, die die größte ist (es regnete den Tag) zusammen. Eine lange Tafel war gedeckt, und mit Blumen geschmückt. Oben stand ein Lehnstuhl ledig, für Klopstock, mit Rosen und Levkojen bestreut, und auf ihm Klopstocks sämtliche Werke. Unter dem Stuhl lag Wielands Idris zerrissen. Jezt las Cramer aus den Triumfgesängen, und Hahn etliche sich auf Deutschland beziehende Oden von Klopstock vor. Und darauf tranken wir Kaffe; die Fidibus waren aus Wielands Schriften gemacht. Boie, der nicht raucht, mußte doch auch einen anzünden, und auf den zerrissenen Idris stampfen. [...] Dann aßen wir, punschten, und zulezt verbrannten wir Wielands Idris und Bildnis. Klopstock, er mag's gehört oder vermutet haben, hat geschrieben, wir sollten ihm eine Beschreibung des Tags schicken«. 79 Schräder führt aus, wie dieser Verbrennungsvorgang »die sorgfältige Nachgestaltung eines im 18. Jahrhundert im gesamten Reichsgebiet noch häufig geübten Hoheitsakts [gewesen sei], die Usurpation nämlich des Scharfrichteramtes zur rechtsgültig-symbolischen Hinrichtung eines frevlerischen Schriftstellers. 80 An der Wielandfeindseligkeit haben in der Tat alle Hainbündler teilgenommen, auch Hölty (vgl. sein Gedicht Der Wollustsänger. An Vol381 und den Brief an Voß vom 78 79

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Schräder 1984, S. 330f. Voß an Brückner, 4.8.1773. Zur Klopstockfeier 1774 vgl. den Brief des erkrankten Voß an Ernestine Boie, 3.7.1774, SHL Kiel Cb.10:16: »Ich saß den ganzen Tag auf dem Bette; doch bestreute mich Miller mit Rosenblättern und Eichenlaub. Ihren Diogenes warf ich zuerst auf die Erde, herauf die andern bis er aus einander fiel. Verbrannt ist nur noch Wielands Bildniß, beym übrigen Verbrennen soll ich zugegen seyn.« - Sehr viel später hat sich auch Wieland selbst eine Beschreibung der Feier von 1773 erbeten; Voß berichtet an Ernestine von seinem Besuch bei Wieland, 4.6.1794: »Er verlangte die Geschichte der Verbrennung seines Bildes. Ich erzählte sie in lustigem Tone, und W. lachte herzlich über die sonderbaren Vergrößerungen des Gerüchts.« Schräder 1984, S. 353f. Vgl. insgesamt Schräder 1984, S. 353-355. »[D]as von den Göttingern Zug um Zug nachexekutierte Zerreißen, Bestampfen und Verbrennen einer inkriminierten Schrift hat als Bestimmung etwa des Preußischen Landrechts von 1794 sogar die Rechtsreformen der Aufklärung überdauert. [...] Wenn also der offenkundig aktionsunwillige Boie bei der ersten Klopstock-Feier auch einen Buchfetzen anzünden und auf den zerrissenen Idris stampfen mußte, wurde er unter dem unduldsam gleichschaltenden Gruppenzwang in die Mitverantwortung und Mittäterschaft am gemeinsamen Büttel- und Henkersakt genötigt« (S. 354f.). Nicht im Bundesbuch, GMA 1775, S. 230f., und neuerdings Hettche 1998b, S. 108.

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2.4.1774, s.o.) und vorübergehend auch Brückner (zu seiner bald wieder abgewogenen Haltung vgl. Kommentar zu VB Nr. 74) und auch Klopstock selbst, der die Ausfälle kannte und gern sah.82 Der Kampf gegen Wieland war wie eine heilige Pflicht. Der deutlichste und scheußlichste Ausfall ist die vermutlich von Hahn stammende Künftige Grabinschrift (»Hier modert | - gebein | das beseelt | schon dörte; | er sang | religion | und | buhlerei; | als | volksverführer | Franzennachäffer...«). 83 Boie, selbst bekennender Wielandleser, hat eine durchdachtere Haltung beibehalten (den Neuen Amadis, besondere Zielscheibe der anderen, bezeichnete er sogar einmal als sein Lieblingsgedicht). 84 Boie kannte Wieland seit 1770 persönlich; er warb um ihn als Beiträger zum Musenalmanach und diente ihm als Subskribentensammler. Bis Februar 1773 stand man im brieflichen Verkehr. 85 1774 knüpfte Boie daran durch einen Besuch in Weimar wieder an. Die Reise erregte den Widerwillen des Bundes; Miller schrieb an Voß: »Du bist über ihn entrüstet, weil er Wielanden Cour machte, und wir sind es mit dir; daß er den Hurendichter für einen ehrlichen Mann hält, wirst du nun auch wissen« (1.6.1774). 86 Voß setzte sich mit dem Almanach auf 1775 (erschienen im Herbst 1774) in Boies Abwesenheit über dessen Haltung hinweg. Voß hat ungehinderter seinen wielandfeindlichen Kurs fortgesponnen und Wieland mit seiner Ode Michaelis so sehr getroffen, dass Boie sich gezwungen sah, die Herausgabe des Almanachs ganz niederzulegen (Bd. 2, Nr. 33, vgl. Kommentar zur Stelle).87 Unterstützung bekam Boie von Bürger: »Wieland geht mir zwar wenig an, aber doch wollen mir die wüthigen Bisse nicht gefallen, die nach ihm geschehn. Unsere BundsGenossen verlieren dadurch in der That etwas von der Würde, die sie behaupten sollten« (12.5.1774). Ähnlich auch Brückners Haltung. An Klamer Schmidt hatte Boie am 25. April 1774 berichtet: Das Zusammentreffen mit Wieland sei ihm »auch um deßwegen lieb, weil's gedient, einige Klätschereyen und herumgetragene Anekdoten unschädlich zu machen. [...] Ich, der so sorgfältig suche, mein Herz für jedes Schöne offen zu erhalten, und gewiß jeden liebe, der zur Ehre Deutschlands beyträgt, habe doch auch das Unglück mit unter die Partheygänger gezählt zu werden, die einen nicht lieben können ohne den andern zu hassen.« 88 Bezeichnend ist die in Boies Brief angesprochene Schwarz-Weiß-Zeichnung. Sie ist Anzeichen von polemischer Überhitzung. Es finden sich in der Auseinandersetzung die typischen Gattungsmerkmale von Polemik: eben dieses schablonenartige FreundFeind-Denken, Verzicht auf Selbstkritik, dabei ein Sendungsbewusstsein, das den Gegner verletzend beschimpft und sich selbst zum Richter (Bücherverbrennung) macht; außerdem Unsicherheit über den eigenen Ort in der Gesellschaft angesichts 82 83

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Vgl. Schräder 1984, S.361, und Lüchow 1995, S. 181-184. Nach Redlich 1880, 264. Vgl. dazu Herbst 1872/76, Bd. 1, S.295f., Schräder 1984, S. 360 (mit weiterer Literatur), zu Hahns Haltung auch Kahl 2001c. An Knebel, 4.11.1771, nach Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 107. Vgl. Schräder 1984, S.334, A n m . 2 3 . Briefe Wieland an Boie erstmals in Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin Bd. 3 1904/05, S. 369—379, dann später in der Ausgabe Wieicinds BriefWechsel (1963ff.). Nach Breitenbruch 2000, S. 38. Vgl. Mix 1987, S. 4 9 - 5 4 ; 5 9 - 6 4 . Vgl. Kahl 2001a, S. 48, den ganzen Text mit Kommentar dann in Kahl 2003b, hier S. 157.

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eines Umbruchs in der Gesellschaft selbst. Zu den Merkmalen der Wirkungsgeschichte solcher Polemik gehört oft, so auch hier, dass die Situation, in die sie hineinspricht, ihrerseits polarisiert ist - man vergleiche nur Goethes Götter, Helden und Wieland (1773/74) - , und eine gerechte Unterscheidung erst später möglich wird. 89 Die Angriffe der Göttinger bescherten Wieland die stärkste Wirkungskrise, die er bis dahin erlebte. 90 Die meisten Hainbündler haben sich später mit Wieland ausgesöhnt. 91 Die gesamte Debatte kann hier nicht aufgerollt werden; grundlegend sind Annette Lüchows Studie »Die heilige Cohorte«. Klopstock und der Göttinger Hainbund und Schräders Mit Feuer, Schwert und schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland, die durch Quellenkenntnis und Genauigkeit die bedeutendsten Beiträge der Hainbundforschung sind. Schräder hat zu Recht darauf hingewiesen, die Flammen im Hain, der »Kreuzzug« der Göttinger, hätten »bleibenden Schäden« angerichtet und »die geistige Kultur einer weltoffenen, humanitären Toleranz« beschädigt. 92 Schräder: »Die Geschichte des Kreuzzugs, den der Göttinger Hain, heiligen Ernstes, aber auch heiliger Ruchlosigkeit voll, gegen Wieland ausgekämpft hat, durch all ihre Stationen zu erkunden, dient nicht allein literarhistorisch differenzierterer Einsicht. Sie scheint mir, gerade auch im Lichte der jüngeren deutschen Geschichte, exemplarische Aufschlüsse von allgemeinerer Dimension zu ermöglichen. Denn die Impulse, die Aufladung des Konflikts und die Formen seiner aggressiven Abreaktion erscheinen paradigmatisch für die Abläufe zahlloser kurzlebiger, revolutionär sich gebender, ideologisch fundierter oder auch nur kaschierter Gruppenprozesse.« 93 Dem ist nur zuzustimmen, und auf Lüchows und namentlich Schräders Ausführungen sei hier mit Nachdruck verwiesen. Der Gleichsetzung von Wieland und »französischen« Einflüssen und ihrer polemischen Ablehnung steht nicht eine ebenso einheitliche Gleichsetzung von Klopstock und »deutschen« Einflüssen und deren polemischer Bejahung gegenüber. Die Ablehnung des »Französischen« ist insofern einheitlicher als die ständige Betonung des »Deutschen«, da vor allem die ausgiebigen Sprachstudien, durchaus zeitgleich, die Offenheit für andere Kulturen, besonders Literaturen anlegen; das Bundesbuch ist auch ein Dokument der Übersetzungsgeschichte (vgl. unten III/2, Übersetzungen).94 95 Die Fixierung auf Klopstock tritt schon bald zurück.

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All diese Züge finden sich in der Voß'schen Polemik auch im Alter. Vgl. dazu Kahl 2001a, S. 9 8 - 1 0 0 und bes. Anm. 66f. Vor allem Voß blieb tragisch ein »lebenslang in Schablonen des Freund-FeindDenkens Befangene[r]«, Schräder 1984, S. 363. Schräder 1984, S. 326. Vgl. nochmals Schräder 1984, S. 361ff. »Bis auf Hölty, der schon 1776 und Hahn, der 1779 gestorben ist, haben somit alle bedeutenderen Hainbündler, empfänglich für die Vorteile, die ihnen ein Ausgleich bot, ihre Waffen gestreckt«, Schräder 1984, S. 364. Eine Ausnahme bleibt für längere Zeit allein Cramer. Schräder 1984, S. 325. Schräder 1984, S. 326. Dies ist natürlich bei den einzelnen Mitgliedern unterschiedlich; besonders Hölty hat sich um das Erlernen von Fremdsprachen, auch außereuropäischen, bemüht (Syrisch und Arabisch); vgl. seine Briefe an Christian Stolberg, 2.3.1774, und an seinen Vater, 6.2.1775. Über die altphilologischen Bemühungen Vossens und beider Stolberg ist hier nichts Neues zu sagen. Vgl. schon Miller an Stolberg, 13.3.1774: »Nein, die Welt soll nicht sagen, dass wir Klopstoks Zöglinge sind, wir schlossen ohne ihn den Bund«, nach Bobe 1917, Bd. 8, hier S. 94.

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Die Dichtung des Bundesbuches knüpft vielfach an Klopstock an. Allein in der Formenvielfalt (Lieder) geht sie weit über ihn hinaus, so wenig man ihn im Einzelnen qualitativ erreicht. Namentlich die Odendichtung ist eng in seinem Fahrwasser, selbst Miller schließt sich ihm an (vgl. Millers An meinen Hahn, Bd. 1, Nr. 60). Ausdrücklich an Klopstock richtet sich nur Vossens An Klopstock (Bd. 2, Nr. 25). - Auch die Wielandfeindschaft findet sich im Bundesbuch, namentlich durch Vossens Michaelis (Bd. 2, Nr. 33) und Brückners Wieland (VB Nr. 74; vgl. jeweils den Kommentar zur Stelle), außerdem durch zahlreiche Anspielungen, so in Millers Deutsches Trinklied (Bd. 1, Nr. 38, Str. 2), Vossens An den 1773ger Musenalmanach (Bd. 1, Nr. 69, Str. 4), Höltys An eine Tobackspfeife (Bd. 1, Nr. 91a) u.s.w.

Der Göttinger Hain und Herder 96 Wenn von dem Verhältnis des Hains zu Klopstock und Wieland gesprochen wird: Was ist zu Johann Gottfried Herder und den Göttingern zu sagen? Klopstock und Wieland gehörten zur Generation der Väter, Herder (1744-1803) war 28 Jahre alt, als der Bund gegründet wurde (während die Bundesbrüder und Goethe gleich alt waren). 97 Herder gehörte gleichwohl schon zu den im Bunde bekannten und verehrten Großen, aber nur Boie hatte ein eigenständiges Verhältnis zu ihm, und auch nur Boie nennt ihn häufiger in Briefen. Herders Wirkung ist, wie oftmals, mehr untergründig und meistens daher auch nicht so leicht nachzuweisen wie etwa im Falle von Bürgers Herzensausguß über Volks-Poesie, der an Herders Briefwechsel über Oßian angelehnt ist. Vermittler zwischen Herder und dem Bund war Boie, der in brieflicher Verbindung mit Herder stand. Allerdings ist der Briefwechsel, so durchaus freundschaftlich er in allen Teilen ist, doch mehr auf praktische Abwicklung ausgerichtet. Herder übersendet Gedichte für den Musenalmanach, bittet um Hilfe bei Bücherbeschaffungen und sogar um ein Zimmer in Göttingen. Die wirklich inhaltlichen Mitteilungen sind wenige, trotz Herders Bitte: »Theilen Sie mir mit, was Sie in Ihrem Zusammenflusse der Musen und NichtMusen« - und damit ist auch der Kreis gemeint, der später zum Bund wurde »hören« (vor 14.3.1772). Gelegentlich äußert sich Herder beiläufig über andere Dichter, und nur einmal im Brief ein allerdings deutlicher Ausspruch für Klopstock und seine Oden, bei denen er auch die Veränderungen der germanischen Wende< ausdrücklich hervorhebt: »Ueber Klopstock bin ich völlig einig. Ich habe schon vor Wochen vier ein Exemplar seiner Oden bekommen, und nur wenige Tage genoßen, weil ichs gleich weiter schickte, aber was für ein lyrischer Reichthum! was für vortrefliche Verbeßerungen seiner alten Oden! was in seiner Nordischen Mythologie für wahre Schöpfung! Man sieht seine Ideen haben Welt und Umkreis, statt daß die meisten andern Barden noch in Oede flattern und wißen nicht, was sie damit sollen« (vor 23.11.1771). Herder sah die zwei Richtungen, Volksdichtung und Klopstocks Lyrik, zusammen als den neuen lyri96

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Zu Herder und dem Göttinger Hain vgl. Wicke 1929, S. 60-62, Kranefuss 1978, S. 151. Vgl. auch Schöne 1985, S. 31-33, und Kahl 2000b, S. 154f. Vgl. außerdem Lohmeier 1966/67. Zum Verhältnis zu Goethe vgl. den Kommentar zur 57. Versammlung, 25.9.1773.

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sehen Ausdruck und war hierin, vermittelt durch Boie, Vorbild und Ratgeber der Göttinger. - 1 7 7 3 schickt Boie Voß' Pindarübersetzungen zur Beurteilung an Herder. 98 Welche persönlichen Begegnungen gab es? Im Sommer 1770 war Herder kurz auf der Durchreise von Hamburg nach Darmstadt in Göttingen g e w e s e n " und hatte Boie erstmals getroffen, 100 welcher ihn fortan als einen der Großen verehrte. 101 Im November 1771 plante er von Bückeburg aus - wo er sich seit Ende April aufhielt - einen Besuch in Göttingen für Bibliotheksstudien für seine Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, der aber erst im Februar 1772 zustande kam: »Ich habe acht der schönsten Tage gehabt. Herr Herder ist hier gewesen, und jeden Abend sind Herr Heyne, er und ich bei einander gewesen. Er ist mein Freund geworden, und diese Verbindung ist mir für Geist und Herz gleich angenehm. Sie wissen noch nicht halb, welch ein tiefdenkender Kopf er ist. Und Gelehrsamkeit mit so viel Gefühl und Genie vereinigt kannt' ich noch nie. Wir haben noch wichtige Sachen von ihm zu erwarten. [...] Er hat sehr viele Untersuchungen über unsere ältere Sprache und Poesie angestellt.« 102 Vorbereitend hatte er an Boie geschrieben, er wolle arbeiten und außer Kästner niemanden kennen lernen (vor 9.11.1771): Ist von seiner Bekanntschaft mit Boies »Freunden«, wie er sie selbst kurz darauf nannte, 103 auszugehen? Bürger, Hahn, Hölty, Miller und Wehrs waren bereits in Göttingen anwesend. In Wehrs' Stammbuch, dem einzigen erhaltenen aus diesem Kreise, belegt ein Eintrag Herders vom 20. Februar 1772 offenbar zumindest eine kurze Begegnung. 104 Herder zitiert hier einige Verse aus Klopstocks Ode Der Rheinwein, die Klopstock 1753 machte, als er sehr alten Rheinwein (Johannisberger, 1670 oder 1676) als Geschenk erhalten hatte. Die Ode kam der späteren Göttinger Befindlichkeit sehr nahe, man bedenke nur die Gegenüberstellung von deutschem Rheinwein und »leichtem Schaum«, d.h. französischem Champagner, und sie ist später diejenige Klopstock-Ode, die in den Briefen des Göttinger Hains am häufigsten genannt wird. Die Verlockung ist groß, den Stammbucheintrag im Sinne einer persönlichen Begegnung zwischen Herder und den Dichtern des (späteren) Göttinger Hains zu deuten, und im strengen Sinne auszuschließen ist dies auch nicht. Allerdings spricht außer diesem Eintrag nichts für eine solche Annahme, ja, Herders Ruhebedürfnis und die Nichterwähnung in den in Frage kommen-

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Vgl. Voß an Brückner, 24.2.1773: »Findet er meine Übersezungsart gut, so denk' ich mit Gottes Hülfe den ganzen Pindar wenigstens in zehn Jahren zu übersezen.« Vgl. den Brief an Caroline Flachsland, 22.2.1772, wo er rückblickend von einer ersten flüchtigen Bekanntschaft mit Heyne in Göttingen spricht. Vgl. Boies Brief an Knebel, 29.10.1770, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, hier S. 85. Vgl. z.B. Boies Brief an Knebel vom 8.1.1771, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, hier S. 88f.: »Ein vortrefflicher Mann! [...] Ganz heimlich kann ich Ihnen noch sagen, daß H. an einem Werke über die Künste arbeitet. Kenner, die es gesehen, sagen, daß es das einzige seiner Art ist. Er leitet aus den einfachsten Grundsätzen Wirkungen her, die bisher noch gar nicht zu erklären gewesen sind. Friste nur der Himmel sein Leben!«; vgl. auch Boie an Knebel, 1.3.1771, S. 94. Und: Boie an Merck, 26.1.1773 (berichtigt aus 1775), nach Wagner 1835, hier S. 48. Boies Brief an Knebel, 2.3.1772, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 118f. Siehe auch Boie an Voß, 4.3.1772, nur nach Weinhold 1868, S. 181. Vgl. zu Boies Verhältnis zu Herder insgesamt S. 181-184. Dort auch über Boies praktisches Mitwirken an Herders Volksliedersammlung. So im Brief an Boie vor 14.3.1772. Vgl. zu diesem Stammbuch und den folgenden Ausführungen Kahl 2000b und unten II/2.

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den Briefen sprechen sogar dagegen. 105 Es ist zu überlegen, ob nicht Boie möglicherweise Herder das Stammbuch vorgelegt hat? Jede weiterführende Vermutung hätte zumindest keine belegbare Grundlage. Festeren Grund betritt man demgegenüber in der (wichtigeren) Frage der Fliegenden Blätter. Am 4. August 1773 schrieb Voß an Brückner: »Die paar fliegenden Blätter von deutscher Art und Kunst schaffe dir ja an; es steht manches güldene Sprüchlein darin.« Wie schwer ein Einflussnachweis im Einzelnen ist, wie sehr manche Vorstellungen gleichsam in der Luft lagen, zeigt sich allein dadurch, dass Voß' Aufmerksamkeit für das Volkslied, offenbar durch Percy angeregt, Herders Aufruf zur Sammlung von Volksliedern zeitlich gerade vorausgeht; im Mai erschien Herders Aufsatz, und im Februar hatte Voß Brückner aufgefordert, alte Balladen und Sprichwörter in Mecklenburg zu sammeln (Voß an Brückner, 24.2.1773). Bezeichnend ist Bürgers Äußerung, einige Wochen zuvor: »Der, den Herder auferweckt hat, der schon lang auch in meiner Seele auftönte, hat nun dieselbe ganz erfüllt [...]. Ο Boie, Boie, welche Wonne! als ich fand, daß ein Mann wie Herder, eben das von der Lyric des Volks und mithin der Natur deütlicher und bestimmter lehrte, was ich dunkel davon schon längst gedacht und empfunden hatte« (an Boie, auf dessen Veranlassung hin Bürger die Fliegenden Blättert, 18.6.1773).

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Vgl. besonders den Brief Herders an Caroline Flachsland, 22.2.1772, einen Tag nach der Abreise.

2. Das Bundesbuch Der überlieferte Bestand heute Die Mitglieder des Göttinger Hains haben zweimal eine handschriftliche Sammlung ihrer Gedichte angelegt: die Auswahl Für Klopstock, die dem verehrten Meister durch die Brüder Stolberg im April 1773 überreicht wurde, 106 und das allmählich gefüllte zweibändige Bundesbuch, das ursprünglich 224 Gedichte enthielt (einige Seiten wurden später herausgerissen, vgl. jeweils Kommentar zur Stelle). Jeder Bundesbruder besaß ein solches Buch, nur Vossens ist erhalten (vgl. III/4, Aus Vossens Bundesbuch). Der Band Für Klopstock wurde 1957 von Anton Lübbering herausgegeben, das zweibändige Bundesbuch wird erst mit dieser Arbeit veröffentlicht, zugleich auch Vossens Bundesbuch. - Eine Art gedrucktes Bundesbuch wurde freilich der Göttinger Musenalmanach, namentlich der auf 1774, der derselben Kritik wie das Bundesbuch unterworfen war: »Der 74ger soll gleich nach Weihnachten angefangen werden, und der Bund soll eine sorgfältige Kritik über jedes Stück machen« (Voß an Brückner, 6.12.1772). In ihm erschienen etwa 50 Gedichte des Bundesbuches (oder deren Bearbeitungen) zum ersten Mal gedruckt; 107 fast eben so viele wurden in den Göttinger und Hamburger Nachfolgeausgaben (erst-)veröffentlicht. Die Eintragungen im Bundesbuch sind immer eigenhändig, im ersten Band auch mit Unterschrift. Vertreten sind fast nur Mitglieder des Bundes: 108 Johann Martin Miller (mit 71 Gedichten im ersten Band, 11 im zweiten), Hölty (35/3), Voß (28/4), 109 Boie (22/0), Friedrich Leopold Stolberg (10/9), Gottlob Dietrich Miller (10/0), Cramer (5/0), Christian Stolberg (4/5), Hahn (6/0). Cramer hat ein Gedicht von Bürger eingetragen, da er sich selbst in einem Gedicht darauf bezieht. Im zweiten Band steht ein Gedicht von Schönborn, den man während seines Besuches als einen der Seinen empfand (vgl. Kommentar zur Stelle). Bürger wurde mehr als Gegenüber angesehen. Die »stummen« Mitglieder Clauswitz, von Closen, Esmarch und Wehrs sind nicht vertreten, auch nicht Leisewitz, der nur 1774 dem Bund angehörte, und nicht der auswärtige Brückner. 110 Der Plan einer stellvertretenden Eintragung wurde nicht verwirklicht. 111 Anders verhält es sich mit den Eintragungen in Vossens Bundesbuch. Voß bat schon während der Zeit des Göttinger Hains Gäste um einen Eintrag: 1773 John Andre, 1774 Klopstock. Später kamen Claudius und beide Brückner dazu, außerdem einige Gedichte, die von 106

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Ein Jahr später wurde offenbar eine weitere Auswahl für Klopstock geplant, die weniger umfangreich sein sollte; über ihr Zustandekommen und ihren Verbleib ist nichts bekannt; vgl. nur die Bemerkung im Brief von Voß an Stolberg, 2.3.1774, nach Behrens 1965, hier S. 64. Außerdem Voß an den Hain, 30.3.1774, nach Lüchow 1995, hier S. 211, und an den Hain, 4.4.1774, nach von Moisy 1988, hier S. 273; Behrens 1988, S. 18. Vgl. zum Almanach auf 1774 Grantzow 1909, S. 4 6 - 5 9 , und Schöne 1962. Gezählt sind auch die heute fehlenden, aber erschließbaren Gedichte. Nr. 34 und Nr. 35 waren ursprünglich ein Gedicht. Vgl. zu ihnen Kelletat 1967, S. 376-379, 385f., 396. Zu Brückner vgl. auch III/2. Am 20.2.1773 schreibt Miller an Brückner: »Wir lasen gestern Abend noch Ihre Verklärung. [...] Voß soll in Ihrem Nahmen dieses Stük mit andern ins Bundesbuch schreiben«, nach Metelmann 1932, S. 377f.

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fremder Hand eingetragen wurden, mehrmals von Ernestine, der späteren Besitzerin. Im Einzelnen ist die Aufteilung der Gedichte wie folgt: Miller (40), Voß (33, darunter drei von Ernestines Hand), Hölty (14), Stolberg (12, darunter 4 von Ernestine oder von anderen eingetragen), Boie (12), Hahn (5), Brückner (4), Christian Stolberg (3, darunter eines von Closen eingetragen), Gottlob Dietrich Miller (3), und John Andre, Adolf Friedrich Brückner, Matthias Claudius und Klopstock (je 1). Im »Protokoll« sind von der Hand des Bundesschreibers Gottlob Dietrich Miller Kurzberichte über die wöchentlichen Zusammenkünfte der Dichter eingetragen, vom 13. September 1772 bis zum 27. Dezember 1773. 112 Festgehalten sind die Verfasser und Titel der vorgelesenen und besprochenen Gedichte, leider aber nicht die Namen der Teilnehmer. Neben diesen Bundesbüchern besaß jeder Bundesbruder, wie es allgemein üblich war, auch ein Stammbuch. Erhalten oder bekannt sind: 1.) Das Stammbuch von Johann Thomas Ludwig Wehrs 1770-1809. Stadtarchiv Göttingen Stabu.-Nr. 17 und 32 (Stammbuch und dazu gehörige Lose-Blatt-Sammlung). 113 2.) Heinrich Christian Boie. Bd. 1, 1764-1766, Stadtarchiv Göttingen, Stabu.-Nr. 42. Bd. 2, 1766-1773, heute Goethes Autographensammlung Goethe-Schiller-Archiv Weimar; GSA 33/1175 (Dauerleihgabe der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen). 114 3.) Carl Friedrich Cramer 1772-1774. Universitätsbibliothek Kiel. Cod. ms. SH 405F. 115 4.) Christian Hieronymus Esmarch, offenbar in Privatbesitz verschollen. 116 5.) Johann Anton Leisewitz. Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel. VI Hs 13 Nr. 65. 117 Neben Bundesbuch und Stammbuch gibt es noch eine dritte Gruppe handschriftlicher Bücher aus dem Kreis der Bundesbrüder, die zumindest zu erwähnen ist, handschriftliche Sammelbücher, in denen Abschriften von Gedichten anderer zusammengetragen wurden, aber auch von Auszügen aus Zeitschriften und von Prosadichtung. Namentlich Boie, vielleicht sein Bruder Rudolf und seine Gemahlin Luise Mejer führten solche Bücher; sie haben, obgleich nur Abschriften, einen gewissen Wert für die Lyrik-Überlieferung, besonders die Klopstocks, und wurden von Ernst Consentius unter dieser Fragestellung ausgewertet. 118 Aus Esmarchs Bestand ist ebenfalls ein entsprechendes 112

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Die einzige z e i t g e n ö s s i s c h e E r w ä h n u n g ist Millers Brief a n V o ß , 13.10.1803, s.u. Miller spricht v o m »Protokoll«; d e s h a l b ü b e r n e h m e ich d i e s e n Begriff hier. Die B e z e i c h n u n g B u n d e s j o u r n a l , die sich in der Sekundärliteratur d u r c h g e s e t z t hat, k o m m t in d e n Quellen nicht vor. Vgl. d a z u Kahl 2 0 0 0 b . Vgl. hierzu: Verlassenschatten. Der Nachlaß Vulpius, 1995, S. 106f., und Schulz 1982. Vgl. K r ä h e 1907, S. 35ff. Vgl. L a n g g u t h 1903, S. 4 9 - 6 8 , 187ff., 234f. und passim. Der N a c h l a s s E s m a r c h s , der L a n g g u t h n o c h z u g ä n g l i c h w a r , ist verschollen, schriftliche A u s k u n f t v o n Dieter L o h m e i e r , S H L Kiel, v o m 22.8.2000. Vgl. K u t s c h e r a v o n A i c h b e r g e n 1876, S. 1 1 - 1 4 . A u ß e r d e m C. S t e i n m a n n in Braunschweigische Anzeigen, 14.4.1892, Nr. 8 9 (Mitteilung der H a i n b u n d e i n t r ä g e ) , und Z i m m e r m a n n 1905. Vgl. C o n s e n t i u s 1919/1923, zur B e s c h r e i b u n g der B ü c h e r bes. 1919, S. 3 9 0 - 3 9 2 und 419f. Sie befinden sich n o c h heute in der H a n d s c h r i f t e n a b t e i l u n g der Staatsbibliothek in Berlin.

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Sammelbuch bekannt. 119 Auch Schack Hermann Ewald besaß ein »Album«, 120 in das ein Schreiber 121 Gedichte eintrug. Berbig bezeichnet dieses Album als »außer den im Besitze des Herrn Professor Klußmann in Hamburg befindlichen Bundesbüchern vielleicht die wichtigste Handschrift aus dem Hainbunde«, eine ziemliche Überschätzung. 122 Er teilt das Inhaltsverzeichnis mit, nach welchem es Gedichte von Bürger, Kretschmann, Kästner, Schönborn und Thomsen umfasst, aus dem Bunde sodann von Miller, Hölty und Voß. 123 Die Überschneidungen mit dem Bundesbuch sind gering, nur Bd. 1, Nr. 79 (Miller: Der Traum) befindet sich in dem Album, es handelt sich nicht um ein »Bundesbuch«.

Plan einer Ausgabe 1773/74 Die Bundesbrüder planten selbst die Herausgabe eines »Bundesbuches« mit Klopstocks Vorwort, 124 das allerdings noch einmal eine Auswahl und Erweiterung der beiden vorliegenden Bände sein sollte.125 Voß: »Ich denke, wir werden in 5 Jahren wohl einen Quartband in den Tempel der Ewigkeit tragen können. [...] Wir müssen auch daran denken, dass uns ja die Vorrede nicht verloren geht, und wie leicht könnte Klopstock um 10 Jahr - nein, lassen Sie mich das traurige Wort nicht aussprechen. [Absatz] Wir haben ungefähr den Überschlag gemacht: Miller hat alsdann über 100 gute Lieder. Hahn hat etliche Gesänge seines Hermann fertig. Brückner seine Verklärung Adams und ein 50 Idyllen. Von uns andern liefert jeder jährlich wenigstens 8 gute Oden, das macht mit denen, die schon da sind, ungefähr 50 von jedem. Dies 4 mal (ich meyne Sie, Ihren Bruder, Hölty und mich) sind 200 Oden. Und Hahn wird ja auch noch welche singen. Nun ausser den Oden macht jeder von uns noch andere Gedichte. Sie sind ja der erste Elegieendichter im Bunde, 10 Elegieen müssen Sie wenigstens schaffen. Ihr Bruder Idyllen und Lieder und Freyheitsgesänge und was Braga eingiebt! Und so weiter! Vielleicht mach ich noch einmal musikalische Gedichte. Wenn Bürger dann noch zu uns trit, sollten wir nicht einen schönen Band liefern können?« (an Christian Stolberg, 28.11.1773). 126 Freilich kommt es auf Güte, nicht auf Masse an: »Cramer, der kommt

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Vgl. Langguth 1903, hier S. 150. Vgl. grundlegend Berbig 1903 und Hock 1914. Zumeist offenbar nicht Ewald selbst, Hock 1914, S. 1f. Berbig 1903, S. 93. Vgl. Berbig 1903, S. 9 3 - 9 5 . Vgl. auch Michael 1909b, S. 168f. V.a. Voß legt Wert auf Klopstocks Vorrede: »Und Sie, mein liebster Graf Christian? Haben Sie noch nichts wieder gesungen? Sie müssen uns jedesmal Gedichte mitschicken, so oft Sie schreiben. [...] Selbst Hahn hat sich schon dreymal bedeutungsvoll in seinem Lehnstuhl umgekehrt und gefragt: Will Klopstock die Vorrede machen? So oft er wieder einschläft, will ich ihm zurufen: Klopstock will die Vorrede machen!«, an beide Stolberg, 24.10.1773, Bobe 1917, Bd. 8, S. 124. Demgegenüber heißt es bei Miller etwas später: »Nein, die Welt soll nicht sagen, dass wir Klopstoks Zöglinge sind, wir schlossen ohne ihn den Bund; dies soll in der Vorrede stehen und auch dies: dass eines unsrer Grundgesetze ist, keinen Menschen, auch keinen Engel in der Dichtkunst nachzuahmen«, an Friedrich Leopold Stolberg, 13.3.1774, Bobe 1917, Bd. 8, S. 94. Vorübergehend, im Frühjahr 1773, plante man auch, eine Auswahl Minnelieder gesondert herauszubringen, vgl. Kraeger 1893, S. 95. Bobe 1917, Bd. 8, S. 127f.

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nicht in das grosse Quartbuch! Das ist lauter Feuer von nassem Stroh, mit vielem Blasen angefacht, und dann Rauch und - Gestank«. 127 Voß verband große Absichten mit der Herausgabe: »Seit Klopstock die Vorrede machen will, bin ich erschrecklich stolz geworden. Ich zweifle gar nicht mehr daran, dass ich mich unter des Bundes Flügeln unsterblich singen werde. [...] Die Grafen sind sehr hitzig mit der Herausgabe, ihr höchster Termin ist zwei Jahr; Hahn und ich sind für zehn Jahre; Hölty für fünf, Miliern gilts gleich. Damit uns aber Klopstock nicht wegstirbt, ginge ich wohl von zehn ab. In fünf Jahren müssen wir schon genug gute Gedichte haben, um den ersten Band zu einer grossen Quart-Ausgabe voll zu machen. Ο wir haben schon vortreffliche Projecte. Klopstock kündigt das Buch in den Zeitungen an und lässt subscribiren. Kommt mehr Geld heraus, als die Druckkosten betragen, so wenden wir dieses an, um ein junges Genie zu erziehen. Unser Buch reformirt den Geschmack von ganz Deutschland. Der französische Geist wird weggebannt. Wir bahnen allmählich den Weg zu dem Ein Jahrhundert nur noch. Denn Du musst wissen, dass Schönborn von Klopstock Boien erzählt hat, dass er eine grosse Hoffnung von uns hätte. Klopstock sähe gern, wenn wir durch ganz Deutschland uns zerstreuten.« 128 Das gemeinsame gedruckte Bundesbuch kam nicht zustande. Es war ein »utopischer Anachronismus«. 129 Klopstock war selbst derjenige, der von einer raschen Gedichtveröffentlichung abriet und der schließlich empfahl, das gemeinsame Buch ganz aufzugeben: »Er will, dass wir vor der Zeit keine Gedichte drucken lassen sollen« (Miller an Stolberg, 8.2.1774). 130 Am 4. Juli 1774 teilte Voß noch Brückner mit: »Klopstock fragte mich: Wollen wir unser Bundesbuch nicht bald herausgeben? Er will die Subscription besorgen.« Aber nur wenige Monate später heißt es im Brief an Ernestine Boie über Klopstocks Besuch in Göttingen: »Es ward sehr vieles von künftigen Entwürfen und Absichten ausgemacht. Wir waren sonst Willens, unsre Gedichte dereinst in Einer Sammlung drucken zu laßen; jezt haben wir bedacht, daß es für die Ausbreitung des guten Geschmacks und guter Sitten beßer sey, wenn jeder allein hervortrit, und Tugend predigt« (14.-22.9.1774). 131 Auch Millers Plan, zumindest die Gedichte beider Stolbergs und seine eigenen gemeinsam herauszubringen, wurde verworfen. 132 Am 31. Januar 1775 bedauerte Stolberg gegenüber Voß: »Von dem was Sie mit Klopstock von der Bundes Absicht gesprochen hat uns Miller viel, vielleicht alles geschrieben. Ungern lasse ich die Idee des Zusammendru-

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Voß an Brückner, November 1773, nach Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 94. Herbst bezieht das »Quartbuch« auf das Bundesbuch, also offenbar auf das vorliegende, handschriftliche Buch (in dem sich durchaus Cramers Einträge finden); gemeint ist ganz offenbar der geplante spätere Druck; so schon Redlich 1873, S. 123. Voß an Brückner, November 1773, nach Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 109. Behrens 1988, S. 19. Bobe 1917, Bd. 8, S. 86; vgl. auch Miller an Stolberg, 24.5.1774, S. 107. Nach Lüchow 1995, S. 217. Vgl. Stolberg an Miller, 3.-7.1.1775; Stolberg führt persönliche und buchhändlerische Gründe an: »Würde es nicht scheinen als wenn wir entweder uns als einen Kern des Bundes besonders ansähen, oder vielleicht im Gegentheil, als wenn wir nicht groß genug jeder von seinen Gedichten dächten um sie allein der Welt u: der Nachwelt zu überliefern? [...] Viele Menschen kaufen gern zu verschiednen Zeiten zwey Bücher für einen mässigen Preis, als auf einmal eins welches doppelt so theuer ist.«

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ckens fahren«. 133 In rascher Folge erschienen dann Einzelausgaben, 1779 die Gedichte der Stolbergs, 1783 Miller und Hölty, 1785 Voß. 134 Gerade in Anbetracht des Scheiterns des ursprünglichen Planes sind die beiden erhaltenen Bände ein einzigartiges Dokument der Dichtergruppe, als literaturgeschichtliches Zeugnis ebenso wie als kaum ermessbar wertvolle Autographensammlung. Der Begriff »Bundesbuch« wird, schon zeitgenössisch, in zweierlei Sinne gebraucht: für die vorliegenden beiden handschriftlichen Bände und für das geplante spätere gedruckte, programmatische Werk, das auch idyllische und epische Werke hätte enthalten können und nicht nur (wie die beiden Bände) ausschließlich Lyrik. 135 Ende 1773 ist mit Blick auf die zwei Bände von dem »alten Bundesbuche« die Rede; Voß berichtet dem inzwischen abwesenden Grafen Stolberg: »Wir nehmen jetzt an jedem Sonnabend etliche Stüke aus dem alten Bundesbuche wieder vor, und prüfen sie« (28.11.1773). 136 An Brückner schreibt er: »Das weißt du nicht, daß Klopstock sich aus eigener Bewegung erboten hat, eine Vorrede zu dem künftigen Bundesbuche, wenn wir zusammen drucken lassen, zu machen« (17.10.1773). Die Bücher zu Vossens Lebzeiten 1 3 7 Über das Entstehen des vorliegenden Doppelbandes sind wir genau unterrichtet. Die erste und entscheidende Beschreibung wiederum bei Voß: »Alle Sonnabend um vier Uhr kommen wir [...] bei einem zusammen. Klopstocks Oden und Ramlers lyrische Gedichte, und ein in schwarz-vergoldetes Leder gebundenes Buch mit weißem Papier in Briefformat, liegen auf dem Tisch. Sobald wir alle da sind, liest einer eine Ode aus Klopstock oder Ramler her, und man urtheilt alsdann über die Schönheiten und Wendungen derselben, und über die Declamation des Vorlesers. Dann wird Kaffe getrunken, und dabei, was man die Woche etwa gemacht, hergelesen und darüber gesprochen. Dann nimmt es einer, dem's aufgetragen wird, mit nach Hause, und schreibt eine Kritik darüber, die des anderen Sonnabends vorgelesen wird. Das obige schwarze Buch heißt das Bundesbuch, und soll eine Sammlung von den Gedichten unsers Bundes werden, die einstweilen durchgehende gebilligt sind« (an Brückner, 3.11.1772). 138 Das Protokollbuch wird zeitgenössisch nicht erwähnt. Alle Bundesbrüder besaßen ein solches Bundesbuch, das dieselben handschriftlichen Gedichte enthielt. 139 Miller macht - dies ist der wichtigste ausdrückliche Beleg 133 134

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Nach Hellinghaus 1891, S. 29. Boie plante ebenfalls eine Ausgabe; sie kam nicht zustande, vgl. Weinhold 1868, S. 134. Jahrzehnte später plante Voß eine Ausgabe von Boies Gedichten, die auch nicht ausgeführt wurde, vgl. an Miller, 1.10.1809. Cramer plante eine Cäsariade oder ein Heldengedicht auf Brutus, vgl. Cramer an Bürger, Ende Februar 1773 und 8.3.1773; und Voß an Brückner, November 1773; Hahn eine Hermanniade, vgl. Kahl 2001c, bes. S. 176 und Anm. 1. Nach Behrens 1965, S. 58. Vgl. zu Handschriftenschicksalen neuerdings Hurlebusch 2001, S. 5 - 9 . Vgl. auch Voß' Vorrede zu Höltys Gedichten 1804, nach Hettche 1998b, S. 448. Kemper behauptet ganz verkehrt, in diese »Stammbücher« (so meistens die irrtümliche Bezeichnung) seien nur die eigenen Gedichte eingetragen worden, Hans-Georg Kemper 2002, S. 142.

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zu seinem Gedicht An Friedrich Leopold, Graf zu Stolberg, in dem es heißt: »Schreibe den Gesang voll Feuer | Mir, ο bester Stolberg, ein!«, die Anmerkung: »In ein Buch, dergleichen jeder von uns in Göttingen besaß, und in welches jeder seine Gedichte eigenhändig einschrieb«. 140 Deshalb muss die Auswertung der vorhandenen Bundesbuch-Bände eingeordnet werden in einen Kranz von weiteren »Bundesbüchern«, von denen Vossens als einziges erhalten ist.141 Das Voß'sche Buch hat sich durch zusätzliche Einträge rasch von einer Parallelanlage entfernt, Voß hat es seiner Verlobten Ernestine Boie geschenkt, die es bis 1776 weiterführte. 142 Dies geht aus Erwähnungen in Briefen und aus dem Buch selbst hervor. Voß an Ernestine: »Miller schreibt jezt in dem Buche, was für Dich bestimmt ist« (3./4.7.1774). 143 Wenig später kündigt er Ernestine an, er werde Brückner das Buch schicken, »und dann soll er Ihnen alle seine neuen Idyllen einschreiben« (6.7.1774). »Gestern Nachmittag hat Hölty fleißig in Ihr Buch geschrieben; das heißt schon viel gewonnen. [...] Des Grafen Gedichte schreibt Rudolph; und Miller wird mit seinen bald fertig seyn, denn er ist ein fleißiger Schreiber, ohnedem wenn er weiß, daß es für Sie ist« (6.7.1774). 144 An Brückner: »Ich werde dir nächstens ein Buch schicken, worinn die übrigen Bundesbrüder alle ihre ungedruckten guten Stücke geschrieben haben, u worinn du auch deine schreiben wirst. Es ist für Ernestinen bestimmt« (11.7.1774). 145 Brückner hat seine Gedichte offenbar erst bei Vossens Reise nach Mecklenburg 1775 eingetragen (vgl. Kommentar zur Stelle), wohl gezielt auf freigebliebene Seiten. Für eine Verschickung gibt es sonst keinen Anhalt. Im August und September 1774 ist das Buch 140

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Gedichte 1783, S. 227. 1819 schreibt Köhler mit Bezug auf diese Stelle: »Jeder ließ sich ein großes Buch, das Bundesbuch genannt, einbinden, worin jeder Dichter und Bundesbruder seine Gedichte eigenhändig einschrieb. Der Verfasser dieses Aufsatzes sah dieses interessante Buch oft, durch einen unordentlichen Menschen kam Miller darum«, Konrad Friedrich Köhler 1819, S. 80. - Michael bezweifelte gar das Vorhandensein solcher Bücher, Michael 1909b, S. 126f. - Ein weiterer Beleg ist Millers Brief an Voß, 26.6.1776: »Von Hölty hattest du verworfne Gedichte in den Alm. aufgenommen. z.E. das an einen Kanarienvogel u. andre, unter die er wenigstens in meinem Buch selbst geschrieben hat, verworfen - doch bekümmr ich mich nicht drum«, BSB München, Vossiana 50; den Briefauszug verdanke ich Manfred von Stosch; außerdem schon bei Halm 1869, VII. Die Bundesbücher beider Miller waren schon zu Lebzeiten verschollen, s.u. Adolf Langguth zitiert Gedichte aus einem »Bundesstammbuch« Christian Hieronymus Esmarchs, vgl. Langguth 1903, S. 176 und 339ff. Vielleicht handelt es sich um Esmarchs Bundesbuch. Der Nachlass Esmarchs ist freilich verschollen. Ob Boie ein Bundesbuch besaß, weiß ich nicht; eine Bemerkung in einem Brief an Ebert vom 16.12.1772 könnte man so verstehen: »Wenn ich das Glück wieder habe, Sie zu sehen, will ich Ihnen ein ganzes Buch von Versuchen mitbringen, wo Ihnen sicher Geist und Absicht gefallen wird, wo auch noch die Ausführung zu sehr die Hand des Jünglings verräth«, nach Mix 1992, S. 206. Crüger erhob die Forderung, »so viel wie möglich von den Kopiebüchern zusammenzubringen«, Crüger 1884, S. 602. »Ich bitte die Fachgenossen herzlich, was sie von solchen Büchern oder von Nachrichten darüber wissen, zu meiner Kenntnis gelangen zu lassen«, Crüger 1884, S. 605. - Alle entsprechenden Nachforschungen haben sich als ergebnislos erwiesen. Vgl. zu Vossens Bundesbuch insgesamt Kahl 1999b. Vgl. zu Ernestine Boie/Voß die Literaturangaben zu VB Nr. 47. S H L K i e l , Cb 4.10:16. SHL Kiel, Cb 4.10:17. Um welche Gedichte Höltys und Millers es sich handelte, lässt sich nicht bestimmt sagen, möglich sind alle, die nicht auch im Bundesbuch stehen. Rudolph ist Rudolph Boie, Heinrich Christian Boies jüngerer Bruder. Von ihm ist offenbar VB Nr. 46 eingetragen, vgl. Kommentar. SHL Kiel, Cb 4.55:7. Vgl. außerdem Voß an Ernestine Boie, 3.7.1774, SHL Kiel, Cb 4.10:16.

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in Göttingen. Voß an Ernestine, 3. August 1774: »Jezt schreibt Leisewiz in Ihr Buch. Dann bekommen Sie alle Bundeshandschriften, außer Cramers Adlerklauengekrizel.« 146 (Von Leisewitz befindet sich kein Gedicht in dem Buch, »jezt schreibt« ist offenbar als Ankündigung zu verstehen.) 147 Sodann Klopstock: »Klopstock hat eben in dein Buch geschrieben. Er lächelte, als ich ihn darum bat, foderte seine Oden, und schlug die kleine: Selmar und Selma auf [= VB Nr. 114]. Ich will Ihnen diese schreiben, sagte er, nicht weil sie klein ist, sondern weil ich sie gerne schreiben möchte. Du lieber Klopstock!« 148 Und ähnlich an Brückner, 17. November 1774: »Als Klopstock die Ode Selmar und Selma in Ernestinens Buch schrieb, sagte er dabey: Ich wählte diese, nicht weil sie die kleinste ist, sondern weil ich sie wählen wollte. Das ist gar ein vortrefflicher Mann!« 149 Über Claudius' Eintrag (VB Nr. 124) - Ende September 1775 in W a n d s b e k gibt es kein entsprechendes Zeugnis. Noch 1829 vermerkte Ernestine Voß in ihren Testamentarischen Bestimmungen: »Ein Bundes Buch schenkte er mir als Braut, in dem habe ich fortgefahren zu schreiben.« 150 Ernestine hat in der Tat auch selbst Gedichte eingetragen. 151 Die Eintragungen von Klopstock und von Claudius entsprechen inhaltlich dem Bezug zu Ernestine die Gedichte lassen sich inhaltlich locker auf Voß und Ernestine beziehen (vgl. Kommentar zur Stelle) - , und geben dem Buch auch einen Zug von einem Stammbuch. Die in der Literatur geläufige Bezeichnung Stammbuch ist aber irreführend. Das zweibändige allgemeine Bundesbuch (das hier immer gemeint ist, wenn es nur »Bundesbuch« heißt) war 1774 vorübergehend einem Kommilitonen namens Gildemeister ausgeliehen worden: »Leisewitz hat noch nicht geschrieben, u das alte Bundsb. liegt noch immer bey Gildemeister. Keiner will hin, u ich kenn ihn nicht. Ich habe Leisewizen desfalls geschrieben« (Voß an Miller, 10.11.1774). »Der [Leisewitz] schreibt auch nicht! und das Bundesb. liegt noch bey Gildemeister!« (Voß an Miller, 27.11.1774). 152 Und noch am 12. Dezember 1774 stellt Hölty gegenüber Miller fest: »Leisewiz hat noch an keinen von uns geschrieben, und das Bundesbuch Gildemeistern gelaßen.« Wann das Bundesbuch zurückkehrte, ist unbekannt. Es blieb mit dem Voß'schen Bundesbuch und offenbar dem Protokollbuch in Vossens Besitz. 1776 und 1779 fragte Boie nach dem Verbleib des Bundesbuches, da er die Herausgabe von Höltys Gedichten vorbereiten wollte. 153 Von ca. Oktober 1779 bis April 1780 war es dann bei Boie. Zu Vossens Lebzeiten zuletzt erwähnt wird es im Zusammenhang des Besuches bei Miller 1804 in Ulm. Im Brief kündigte Voß an: »Um einen Bundestag feiern zu können,

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S H L K i e l , Cb 4.10:20. Johann Anton Leisewitz wurde erst am 2.7.1774 in den Bund aufgenommen; er galt als unzuverlässig, vgl. z.B. die Briefe Höltys an Miller, 24.11.1774 und 12.12.1774. An Ernestine Boie, 19.9.1774. SHL Kiel, Cb 4.10:25. SHL Kiel, Cb 4.55:9. S H L K i e l , Cb 4.128.05. Von Ernestines Hand eingetragen sind: Voß: Die Elbfahrt (Nr. 125), Voß: Elegie (Nr. 126), Voß: Die Bleicherin (Nr. 127), Stolberg: Der Felsenstrom (Nr. 128), Stolberg: Hellebeck (Nr. 129). Beide Briefe BSB München, Vossiana 49. Den Hinweis auf diese Erwähnungen und die Abschrift verdanke ich Manfred von Stosch. Johann Friedrich Gildemeister (1750-1812), Bremer Jurist und Schriftsteller, damals als Student in Göttingen (vgl. schon Hettche 1998b, S. 580). 6.10.1776 und 9.10.1779, nach Weinhold 1868, S. 88.

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werde ich auch die alten Bundsbücher nebst dem Protokoll deines Vetters mitbringen« (13.10.1803). 154 Miller antwortete: »Auf das Bundesbuch und Protokoll freue ich mich um so mehr, da ein ärgerlicher Zufall mich des ersten beraubt hat. Auch H. Oberjustitzrath von Miller kam um das seinige«. 155 (Die Bücher beider Miller waren schon zu Lebzeiten verschollen.) 156 In ihren Testamentarischen Bestimmungen 1829 legt Ernestine Boie fest: »Die Bundes Bücher bleiben auch beisamen, so wie Ramlers Oden, von seiner Handschrift, und mehrere kleine Bücher, die im kleinen Pult liegen.« 157

Überlieferung Ein Freund Karl Halms sah das Bundesbuch noch einmal 1844 in Vossens Nachlass.158 1851 erwähnt Hermann Voß in seinem Bericht Die Feier des hundertjährigen Geburtstages von Johann Heinrich Voß »die Stammbücher des Hainbundes« als in seinem Besitz befindlich (offenbar als Erbe seines Vaters Abraham Voß). 159 Halm meint nun, das Bundesbuch sei dann »durch den Buchdrucker Hermann Voss zu Grunde gegangen und die einzelnen Blätter vertrödelt worden«. 160 Halm schließt dies offenbar daraus, dass Karl Baedeker zwei aus dem Bundesbuch heraus gerissene Seiten besaß.161 Vossens Enkel Hermann hat im völligen Gegensatz zu Ernestines und Voß' eigener Sorgfalt Papiere verschleudert und versteigert. Zu Grunde gegangen ist das Bundesbuch zum Glück aber nicht. 1865 verpfändete Hermann Voß, zahlungsunfähig geworden, die Bücher dem Gymnasialprofessor Ernst Klußmann in Rudolstadt und wanderte bald danach mit dem so

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BSB München, Vossiana 49. Den Hinweis auf diese Erwähnung und die Abschrift verdanke ich Manfred von Stosch (Teildruck: Voß-Briefe 1829/33, Bd. 2, S. 143). Herbst berichtet: »Bei einer Flasche Steinwein wurde das alte du mit ihm [G. D. Miller] aufgefrischt, und unter grossem Jubel zog Voss das mitgebrachte Bundesbuch hervor«, Herbst 1872/76, Bd. 2.2, S. 33; vgl. auch Bd. 1, S. 97. Miller an Voß, 13.12.1803, BSB München, Vossiana 50; den Hinweis auf diese Erwähnung und die Abschrift verdanke ich Manfred von Stosch. Vgl. schon Konrad Friedrich Köhler 1819, S. 80. SHL Kiel, Cb 4.128.05. Zu Voß' Bibliothek vgl. auch von Stosch 1980 und Johann Heinrich Voß 1997. Voß' Bücher wurden zum größeren Teil versteigert, vgl. Katalog der Bibliothek von Johann Heinrich Voß, welche vom 9ten November 1835 an, in Heidelberg öffentlich versteigert werden soll. Heidelberg 1835. Vgl. dazu auch Mix 1981. Halm 1868, S. 6f. Hermann Voß 1851, S. 6. Halm 1868, 6f. Halm schreibt »Stammbuch des Hainbundes«. Vgl. zum Voß-Nachlass von Moisy 1997. Vgl. Bädeker 1866, S. 70f. und 75. Es handelt sich um Bl. XVI, mit Boies Die Freundschaft (Bd. 1, Nr. 21) und Höltys Gedichten An ein Veilchen (Bd. 1, Nr. 22) und An Laurens Kanarienvogel (Bd. 1, Nr. 23) sowie um Bl. XXXVIII, mit Vossens Trinklied, in einer Sommernacht (Bd. 1, Nr. 59), Millers An meinen Hahn (Bd. 1, Nr. 60) und Stolbergs Der Irrwisch (Bd. 1, Nr. 61). - Bis heute fehlen Bl. XVIII, XXXIIIf., XXXIX, XLVIlf., LXIIIf., LXXVI, LXXXIV, Cl. Einige weitere Blätter wurden v o r d e r Seitenzählung entfernt. Michael vermutet, dass sie schon von einem Bundesbruder entnommen wurden, Michael 1909b, 127; Schräder: »Es ist nicht auszumachen, ob das Herausschneiden mehrerer gegen Wieland gerichteter Texte auf eine Erinnerungsbereinigung durch Voß oder erst 1865 auf seines Enkels Hermann Voß Plünderung dieses Bands für Autographenverkäufe zurückgeht, der jedenfalls eine Reihe diesbezüglich ganz unverdächtiger Gedichte zum Opfer gefallen ist«, Schräder 1984, S. 342, Anm. 55.

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erworbenen Geld nach Amerika aus. 162 Bis 1926 waren alle vier Bücher im Besitz der Familie Klußmann. Halm (1869), 163 Weinhold (nach Abschluss des Boie-Buches von 1868), Herbst (1872/76), 164 Redlich (1873), 165 Strodtmann (1874), 166 Crüger (1882/84/ 89) sowie Kraeger (1893), Keiper (1893), 167 Krähe (1907) 168 und Michael (1909) 169 haben die Bücher dort einsehen können oder sogar als Leihgabe erhalten (nicht dagegen Mühlenpfordt und Sauer). 170 Der Besitzer Heinrich Klußmann beabsichtigte, selbst eine Ausgabe zu veranstalten. Warum er dies nicht getan hat, ist unbekannt. 1926 erwarb die Göttinger Universitätsbibliothek die Bücher, wodurch diese an den einzig sinnvollen Ort zurückgekehrt sind. 171 Die einmal herausgeschnittenen Blätter XVI und XXXVIII wurden 1926 von den Erben des 1925 verstorbenen Verlagsbuchhändlers Fritz Baedeker der Bibliothek geschenkt und wieder eingefügt. 172 In jüngerer Zeit haben u.a. Lampe (1929), Kelletat (1949 und 1967), Schräder (1984), Annette Lüchow (1995) und Hettche (1998) die Bücher eingesehen. Die Öffentlichkeit hatte vielfach Gelegenheit, alle vier Bücher zu sehen, zuletzt anlässlich großer Ausstellungen zu Goethe, Voß und Stolberg.

Echtheit - Forschungsgeschichte Während der Weg der Überlieferung somit klar zu Tage liegt, war die Echtheit des Bundesbuches nicht immer unbestritten. 173 1873 erwog Redlich, ob die Eintragungen von »B.« und »Bb. S.« nicht darauf hindeuteten, dass es ein anderes Bundesbuch (zu finden) gäbe: »Ich will nicht leugnen, dass ich hierdurch eine zeitlang zu der annahme gedrängt war, das eigentliche bundesbuch, über dessen zeitweiliges verschwinden durch Leisewitz schuld Hölty und Voss im winter 1774 in briefen an Miller klagen, sei verloren gegangen, und das quartbuch sei, wie das octavbuch, nur das Stammbuch eines bündischen, und zwar G. D. Millers, von dessen hand nicht nur das motto und das register, sondern auch verschiedene correcturen in den gedichten herrühren. [...] Aber diese Vermutung hat sich mir schliesslich doch als unhaltbar herausgestellt. Wenn schon das auffallende format des buchs und die feierliche bezeichnung des 162

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Vgl. hierzu und zu der gesamten weiteren Geschichte des Bundesbuches einschließlich der Erwerbung durch die Universitätsbibliothek Göttingen Kahl 2006. Halm 1869, Vif., hat die erste Beschreibung der Bücher gegeben. Vgl. zu Halm später Crueger 1889. Vgl. Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 286f. Vgl. Redlich 1873, S. 121-123, und 1880. Strodtmann 1873, Bd. 1, S. 83. Vgl. Keiper 1893, S. 2 und 69-72. Krähe 1907, S. IV. Michael 1909b, S. 3. Mühlenpfordt 1899, S. 54, Sauer 1885/87-1895, Bd. 3, S. 358. Die Signaturen aller vier Bücher in der SUB Göttingen lauten: 8° Philol. 204k_n. Zum Erwerb vgl. den Briefwechsel mit Walther Klußmann, SUB Göttingen, Bibl.-Arch. C 16.4. Vgl. den im ersten Band des Bundesbuches eingelegten Brief von Hans Baedeker vom 22.11.1926, wiedergegeben im Kommentar zu Bl. Hr. Die Forschungsgeschichte des Voß'schen Bundesbuches - damals noch mit der irreführenden Bezeichnung Stammbuch - habe ich schon 1999 dargelegt, vgl. Kahl 1999b, bes. S. 34-37. Sie entspricht in etwa der des allgemeinen Bundesbuches.

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

beginnenden zweiten jahrgangs darauf hinweist, dass wir hier die officielle gedichtsamlung des bundes vor uns haben, so wird die richtigkeit dieser ansieht dadurch entscheidend bestätigt, dass die im bundesjournal von G. D. Miller vielen gedichten beigeschriebenen Seitenzahlen alle mit diesem grossen quartbuch stimmen, und diese Verweisungen können sich der natur der sache nach nur auf das eigentliche bundesbuch beziehen. [...] Was bedeuten dann aber die rätselhaften Verweisungen mit B. und BB.? Ich denke, der von Herbst s. 109 besprochene plan, das bundesbuch mit einer vorrede Klopstocks drucken zu lassen, gibt die lösung. Jene chiffern zeichnen die für den druck bestirnten gedichte aus, wie das einzelnen gedichten von ihren Verfassern beigefügte todesurteil >verworfen< ebenfalls auf eine solche nachträgliche Sichtung des angesammelten liederschatzes für den geplanten druck hinweist.« 174 Diese Einsicht Redlichs ist grundlegend für die Gesamtdeutung des Buches und kaum widerlegbar. Sie wird durch Vossens Brief an Stolberg vom 28. November 1773 bestätigt: »Wir nehmen jetzt an jedem Sonnabend etliche Stüke aus dem alten Bundesbuche wieder vor, und prüfen sie. Die wir jetzt für gut halten, bezeichnen wir mit B. das heißt, auf diese soll der Verfasser alle Sorgfalt wenden, damit sie in 5 Jahren des Bundes würdig seyn«. 175 1884 legte Johannes Crüger dar, dass das Voß'sche Bundesbuch als Kopie des größeren Bundesbuch angelegt wurde. 176 Dies entspricht dem, was nach dem oben Gesagten anzunehmen ist und lässt sich ebenfalls als gesichert ansehen. Demgegenüber begründete Crüger auch (wie auch Redlich zwischenzeitlich vermutete), inwiefern das größere Buch nicht das eigentliche Bundesbuch sein könne; von den 72 laut Protokoll vorgetragenen Gedichten fänden sich 66 in diesem Buch, das weise nicht auf strenge Auswahl. 177 Dem ist nur entgegenzuhalten, dass gerade die gemeinsam bearbeiteten Gedichte eingeschrieben wurden (zwischen der im Protokoll verzeichneten ersten Vorlesung und der Einschreibung im Bundesbuch liegt meist eine Woche und jedenfalls die Kritik durch die Runde und ggf. durch den jeweils bestellten Rezensenten; es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass dann so viele Gedichte übernommen wurden). Außerdem, so Crüger, seien die Vermerke »B.«, »Bb.« und »Bb. S.«, also Verweise auf das Bundesbuch, innerhalb des Bundesbuches unmöglich 178 - eine Argumentation, die aber schon widerlegt ist179 (den Plan, später ein gedrucktes anderes Bundesbuch herauszubringen, kennt Crüger offenbar nicht, auch nicht Redlichs Ausführungen). 1885 wurde diese Überlegung nochmals von Sauer wiederholt; er hielt das Buch

174 175

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Redlich 1873, S. 122f. Zu den Seitenverweisen im Protokollbuch vgl. Kommentar zu Bl. Mir. Nach Behrens 1965, S. 58. Ähnlich in einem Briefe Gottlob Dietrich Millers an Brückner: »Unsere Beschäftigung ist jezt, in unsern Versammlungen, das Bundesbuch durchzugehen, scharf zu critisiren, u. einige der besten Gedichte auszuzeichnen, die vielleicht einmal in den gedruckten Bund kommen dürften«, 22.11.1773, Metelmann 1932, S. 407. - Auch Michael stimmt Redlich schon zu, Michael 1909b, S. 127. Crüger 1884, S. 600f. Crüger 1884, S. 603. Crüger 1884, S. 603. So auch schon Michael 1914/18, Bd. 2, S. 13.

Das Bundesbuch

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für »eine vorläufige kritiklose Sammlung aller entstandenen Gedichte«,180 brachte aber keine neue Begründung. Wilhelm Michael erklärte 1909 das Voß'sche Bundesbuch für ein bzw. das ursprüngliche Bundesbuch.181 Michaels Meinung nach hat das Voß'sche Bundesbuch in der Zeit der anfänglich großen Übereinstimmungen zeitlichen Vorrang vor dem zweibändigen (im Format größeren) Bundesbuch, es sei »eine Art Koncept«182 gewesen für die größeren Bücher in Reinschrift. Michael führt zwei Gründe dafür an: 1.) die briefliche Erwähnung Vossens und 2.) Befunde aus den Büchern selbst. 1.) In dem Brief Vossens an Brückner vom 3. November 1772, also kurz nach der Gründung des Göttinger Hains am 12. September 1772 und dem Beginn des Protokollbuchs am 13. September 1772, heißt es: »Klopstocks Oden und Ramlers lyrische Gedichte, und ein in schwarzvergoldetes Leder gebundenes Buch mit weißem Papier in Briefformat, liegen auf dem Tisch. [...] Das obige schwarze Buch heißt das Bundesbuch, und soll eine Sammlung von den Gedichten unsers Bundes werden, die einstweilen durchgehende gebilligt sind. Noch steht nichts darin« (s.o.). Das schwarze Leder und das Briefformat deuteten auf eine Unterscheidung von dem größeren - schon damals als braun beschriebenen - Doppelband hin.183 Beide Gründe haben keine Beweiskraft: a.) Die Farbe. Heute sind alle drei Bücher in gleicher Weise braun, es handelt sich um dasselbe Kalbsleder. Herbst 1872184 und Michael 1909b und 1918185 haben das Voß'sche Bundesbuch als schwarz bezeichnet, Redlich 1873186 und Michael 1909b187 das zweibändige große Bundesbuch als braun. Aber schon 1966 hat Irmgard Fischer das Voß'sche Buch dem zweibändigen allgemeinen Bundesbuch farblich völlig gleichstellt.188 Dies lässt sich aufklären: Der Kalbsledereinband aller drei Bücher war ursprünglich schwarz gefärbt; das Naturbraun ist wieder sichtbar geworden, bei den häufiger benutzten großen Bänden schneller als bei dem - auch heute noch sehr geringfügig dunkleren - Voß'schen Buch. Der Farbe nach können beide Bücher gemeint sein, b.) Eindeutigkeit ergibt sich durch das »Briefformat«, das nur auf das größere Buch bezogen werden kann; das Voß'sche Buch wäre »Billetformat«.189 Damit ist Michaels Überlegung schon widerlegt. 2.) Anders als Crüger nimmt Michael an, dass in der Anfangszeit des Göttinger Hains nicht das kleine nach dem großen, sondern das große nach dem kleinen Buch geschrieben worden sei: Die Korrekturen von Voß und Miller an ihren Gedichten im 180 181 182 183

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Sauer 1885/87-1895, Bd. 1, S. XIV. Michael 1909b, S. 124f. Michael 1909b, S. 125. Michael 1909b, S. 124. Michael: »Wenn natürlich auch mit der Zeit die Farbe der Decken gelitten hat, so ist doch noch deutlich zu sehen, daß nur das Oktavbuch [das Voß'sche Buch] schwarz genannt werden konnte, während die Großquartbücher [der allgemeine Doppelband] in regelrecht braunes Leder eingebunden sind« (S. 124). Das Voß'sche Buch war also schon damals nicht mehr ganz schwarz. Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 287. Michael 1909b, S. 123, und 1918, S. 13. Redlich 1873, S. 122. Michael 1909b, S. 123. Irmgard Fischer 1966, 20; auch der sehr dürftige Restaurierungsbericht der SUB von 1986 gibt hierüber keine Auskunft. Diese Auskunft verdanke ich Ulrich Joost (Darmstadt).

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

großen Bundesbuch hätten nicht auf die Fassungen im kleineren Voß'schen Buch nachgewirkt. 190 Auch dies ist nicht überzeugend. Es sind in der Tat zahlreiche Gedichte in beiden Büchern in gleicher Fassung von Dichterhand eingetragen, aber nur im großen Bundesbuch korrigiert bzw. bearbeitet. Die Abschrift ist vor der Korrektur gemacht worden, denn die Korrektur gehört in die Zeit der geplanten Herausgabe (s.o.), nicht in die Zeit von Niederschrift und Abschrift (oder eher einer gleichzeitigen zweioder mehrfachen Niederschrift). Die späteren Vermerke und Bearbeitungen, die im Bundesbuch auf die geplante Edition hinweisen, hat Voß in seinem privaten Bundesbuch nicht übernommen. 191 Mit Michaels Arbeiten endet die Forschungsgeschichte zum Bundesbuch.

190 191

Michael 1909b, S. 125. Das Voß'sche Bundesbuch enthält nur wenige einzelne Berichtigungen und durchaus gelegentlich die spätere Ergänzung »verworfen«, aber keinesfalls längere Randkorrekturen, Durchstreichungen einzelner Strophen oder ganzer Seiten, wie es im allgemeinen Bundesbuch zu finden ist.

3. Zur Poetik des Göttinger Hain Die Verzeitlichung des Gedichts: Geschichtliches Denken und Gedichtdatierung 192 K l o p s t o c k : Die A u f w e r t u n g d e s A u t o r s Klopstocks Werk und Person bezeichnen eine Zeitenwende in der Geschichte der Lyrik wie in der Geschichte des Autors. Mit Klopstocks Oden (Hamburg 1771) beginnt in Deutschland eine neue Stufe neuzeitlicher Lyrikgeschichte, und mit Klopstock als Autorpersönlichkeit beginnt eine neue Zeit in der Auffassung v o m Dichter. 193 Klopstock tritt mit einem neuen Selbstbewusstsein und einer umfassenden, fast priesterlichen W ü r d e als Dichter auf; d e m entspricht die unerhörte Verehrung der jungen Generation, die in dieser Weise niemals zuvor einem Dichter zuteil wurde (vgl. oben 11/1, zwischen

Klopstock

und Wieland).

Dichtung

Klopstock verwirklicht, seinem Anspruch nach, ein

Leben nur von und mit d e m Dichterdasein. In Cramers Worten: »Der Mensch ist nur Mensch und die Eingeschränktheit ist sein Erbe. W e n n er ein Dichter seyn soll, so kann er nichts weiter seyn. [...] Seiner Kunst opfert er sein Leben, seine Ruhe, seinen Schlaf, sein Brodt.« 1 9 4 Die »Berufung« des Dichters ist religiös, d.h. christlich, und religiös-christlich ist auch sein Gegenstand, namentlich in seinem Hauptwerk, d e m Messias,

das den Anspruch hatte, auch Hauptwerk der deutschen Literatur zu sein.

Klopstock versteht sich als ein christlicher poeta poeta

doctus,

vates, Gegentyp des aufklärerischen

mit d e m er freilich vieles gemein hat. Das Missverhältnis von »reicher

Kunst« und »armem Leben« gibt es bei Klopstock nicht. Klopstock bekommt v o m dänischen König für den Messias

ein Gehalt. Er ist wirtschaftlich unabhängig, ohne einen

Brotberuf auszuüben. Er ist aber kein »Hofpoet«. An seinem Gönner, Friedrich V. von Dänemark, preist er in der großen W i d m u n g s o d e Friedrich,

der Fünfte (1750) gerade,

dass er ohne das Fürstenlob eines Dichters bestehe: »Denn er wandelt allein, ohne der Muse Lied, | Sichern Wegs, zur Unsterblichkeit«. Klopstock gibt seinen Dank selbstbewusst und frei, nicht gedrungen. Die Unsterblichkeit des Verdienstes des Dichters steht neben der des Fürsten. 1 9 5 Die lakonisch-selbstbewusste W i d m u n g der Oden »An Bernstorff« lässt den Grafentitel des Ministers kurzerhand fort und unterstreicht so wiederum die Ebenbürtigkeit des Dichters gegenüber d e m Adel. Cramer: »Denn w e n n ein Mann an sich so groß ist, wie Bernstorf war, wie könnte den noch ein Rang, oder ein Titel, oder ein Orden erhöhen? Oder w e n n ein Mann so groß ist, wie Klopstock, wie schwindet vor d e m alle blos menschliche W ü r d e dahin!« 1 9 6

192 193

194 195

196

Ich danke Steffen Marius (Berlin) für grundlegende Anregungen. Vgl. z.B. Basken 1937, S. 9 - 4 8 ; Jochen Schmidt 1985, S. 6 1 - 6 8 ; außerdem: Hurlebusch 2001, bes. S. 12ff., und Hurlebusch in HKA W, Bd. 7.2 (2003). Cramer 1777, S. 47. Die Ode an Ihre [so] Majestät Friedrich den Fünften, König in Dännemark und Norwegen (so der Langtitel) ist dem ersten Band des Messias vorangestellt, erstmals Halle 1751 (danach das Zitat). Cramer 1777, S. 25.

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

Die vorgeniezeitliche Auffassung, Dichtung sei eine »Beschäftigung in Nebenstunden«, ist im Göttinger Hain nur noch bei Ernst Theodor Johann Brückner zu finden. 197 Brückner vertritt auch, gegen Voß und gegen Klopstock, die vorgeniezeitliche Ansicht, der Dichter solle möglichst vielen und nicht nur den »wenigen größern Seelen« verständlich und nützlich sein.198 Dennoch steht er, wie die anderen, unter dem Eindruck von Klopstocks Persönlichkeit, ebenso sehr wie unter dem Eindruck seiner Dichtung. 199 Die Auseinandersetzung mit Klopstocks Dichtung und die Wahrnehmung Klopstocks als Dichterpersönlichkeit: Beides schlägt sich im Bundesbuch ebenso nieder (vgl. im Einzelnen den Kommentar) wie in der Überreichung der Bundesbuchauswahl Für Klopstock (1773). Miller thematisiert in mehreren Liedern die Würde des Dichters. Er sieht verklärend eine goldene Zeit des Dichters im Mittelalter Walthers von der Vogelweide, während nun »Verachtung« »des Dichters Loos entehrt« {An meinen Boie, Bd. 1, Nr. 166). Dies zieht sich leitmotivartig durch einige seiner Lieder (vgl. Kommentar zu An Hölty, Bd. 1, Nr. 155). Hölty klagt: »Mein Vater liebt zwar die Poesie, betrachtet sie aber doch, wie alle Väter, nur als Nebensache.« Dem möglichen Vorwurf seines Vaters, »daß ich die Theologie über der Dichtkunst versäumt hätte«,200 entgeht er, indem er auf den theologischen Brotberuf verzichtet: »Die edle Schriftstellerey hängt ihren Jüngern den Brodkorb sehr hoch. Es ist fast unmöglich bloß vom Schreiben zu leben«.201 Trotzdem drückt sich das Selbstbewusstsein des Dichters, namentlich bei Hölty, mit neuartiger Stärke aus, in die offenbar Klopstocks Vorbild eingeht: Im April 1774 schreibt Hölty an Voß: »Ich will kein Dichter sein, wenn ich kein grosser Dichter werden kann. Wenn ich nichts hervorbringen kann, was die Unsterblichkeit an der Stirne trägt [...], so soll keine Silbe von mir gedruckt werden. Ein mittelmässiger Dichter ist ein Unding!« 202

Gedicht und Lebenszeit Die Betonung der Autorpersönlichkeit geht einher mit einem einsetzenden historischen Denken, das in Kunst und Literatur rückschauend (aber zu engführend) v.a. mit den Namen Winckelmann und Herder verbunden wird. Die Dichtung verliert mit der Geniezeit weithin ihre Regelbindung und löst sich in bewusster Abwendung vom französi197

198 199

200 201 202

Vgl. Lampe 1929, S. 99 (nach einem Brief an Boie vom 10.6.1772). Brückner sagt, ein mittelmäßiger Prediger sei ihm eben so viel wert als ein guter Poet. Zu Brückners Dichtungsauffassung vgl. Lampe 1929 und Basken 1937, S. 20f. Vgl. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 183. Die persönliche Bekanntschaft fast aller Bundesmitglieder mit Klopstock - wir haben es schon gesehen - geht über eine einfache Personenverehrung hinaus. Brückners Bruder Adolf Friedrich schreibt bezeichnend: »Sagen Sie diesem vortreflichen Manne, daß ich ihn hochschätze und daß ich es nicht ausstehen kann, daß ich ihn nicht von Person kenne«, an Voß, Oktober 1775, SHL Kiel, Cb 4.59:10a; im Ganzen bei Kahl 2005a. Hölty an Voß, 2.4.1774. Hölty an Voß, 9.2.1776. Ähnliches natürlich auch bei Voß, vgl. Voß an Brückner, 2.9.1772, und an Brückner, November 1773: »Ich zweifle gar nicht mehr daran, dass ich mich unter des Bundes Flügeln unsterblich singen werde. Noch denk' ich immer an Ramler, den will ich übersingen; ist das geschehn, dann denk' ich an keinen, dann denk' ich nur an mich«, Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 109.

Zur Poetik des Göttinger Hain

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sehen Klassizismus aus der Abhängigkeit von Vorbildern. Die historische und individualisierende Betrachtung betont zugleich die geschichtliche Einmaligkeit der Erscheinungen und die Andersartigkeit (Alterität) des Vergangenen, weil sie weiß, dass »in der Welt keine zwei Augenblicke dieselbe sind« (Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit 1774). 203 Herder entzieht der Allgemeingültigkeit der aristotelischen Regeln im Drama den Boden, indem er Shakespeares geniale Eigenständigkeit unterstreicht. Er kann so die griechische und die shakespearesche Tragödie gerade in ihrer Unabhängigkeit würdigen (Shakespear-Aufsatz 1773). Die französische Tragödie verliert an geschichtlichem Eigenrecht. Herder betrachtet Shakespeare historisch-genetisch, im Gegensatz zu Strömungen normativer Betrachtung. Die Geschichte ist für ihn eine dynamische Entwicklung; die Nationen haben Grundfigur in Herders Geschichtsphilosophie - klar auf einander aufbauende, aber von einander unterschiedene Lebensalter wie ein Mensch (>WiegeJugendblüteGeschichte seines Geistes und Herzens und in gewissem Sinne seines ganzen Lebenslaufs< zu verstehen zu geben [...], vielleicht auch mit dem Nebengedanken, ihre Unvollkommenheiten dadurch zu relativieren«, in H K A W , Bd. 7.2, S. 718. Ähnlich auch die 1766 in Berlin von Ramler anonym herausgebrachte Sammlung Lieder der Deutschen, welche die Namen der Dichter nur im Vorbericht nennt; doch weder im alfabetischen Register noch bei den Texten selbst werden diese den Gedichten zugeordnet. Die Ausgabe ist textbezogen; an den Dichtern ist nichts gelegen. Der Übergang zu historischer Ordnung in der Kunstbetrachtung betrifft alle Bereiche. Es ist dieselbe Historisierung, wenn Goethe die Blätter seiner grafischen Sammlung in Weimar - damals neuartig, späteren selbstverständlich - geschichtlich nach Jahrhunderten und Ländern sortierte, nicht nach Sachgebieten. Vgl. Wagenknecht 1977. Vgl. Krasser 1996, bes. S. 17.

Zur Poetik des Göttinger Hain

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fassers abgeben. Aus diesem Grunde verwundert sich der Herr des Maizeaux in dem Leben des Herrn Saint Evremond mit Recht, daß nicht schon vorlängst alle Gelehrten auf eine solche Ordnung, sonderlich in sinnreichen Werken, gefallen sind.« 212 Besonderer Wert gelegt auf eine lebensgeschichtliche Situierung von Gedichten wird vollends auch in der Opitz-Ausgabe von Bodmer und Breitinger mit ihren ausführlich erklärenden Anmerkungen und vorgeschalteten »historischen Nachrichten^ 213 Sie berücksichtigen die »Umstände des Lebens«, »in welcher ein Poet zu der Zeit stehet, da er schreibet«, denn sie trügen nicht wenig dazu bei, »einem Gedichte eine besondere Art zu geben«: »[S]o haben wir uns ferner um den Ort, wo der Poet bey der Verfertigung eines Gedichtes gewesen, um die Zeit und das Alter, da er es geschrieben [...] so viel als uns möglich war, erkundiget« (Vorrede der Herausgeber, ohne Seitenangabe). Die Angabe von Varianten belegt eine lebensgeschichtliche Entwicklung, Opitz' »Wachsthum«. Hieraus ergibt sich die Verknüpfung von Werk und Lebensgeschichte: »Es wird uns nicht schwer fallen, wenn wir auf diese Art mit den sämmtlichen Schriften des Dichters werden verfahren haben, am Ende unsers Werckes das Leben desselben in einer genauen und chronologischen Verknüpfung zu verfassen«. - Die Chronologie in Klopstocks Oden - die eben dieser Verknüpfung von Werk und Leben entspricht - ist nicht völlig neuartig. Das sollen diese Beispiele unterstreichen. Sie ist aber für den Göttinger Hain, mit »Klopstocks Oden und Ramlers lyrischen Gedichten auf dem Tisch< bei der Gestaltung der chronologisch-genetischen Anlage des Bundesbuches das entscheidende Vorbild. Das Protokollbuch des Göttinger Hains schreibt, so auch sein eigener Titel, fortlaufend die »Geschichte des Bundes«. Auch das Bundesbuch ist fortlaufend nach Jahren geordnet (wie die Folgen des Musenalmanachs), wenn es auch nur zwei Jahre umfasst; der Jahreswechsel auf 1773 wird ganzseitig vermerkt (Abb. 3), wenn auch die Reihenfolge der Gedichte im Buch im Einzelnen nicht chronologisch ist. Die Gedichte werden datiert, auf Monat und Tag genau; sie gehören als authentisches Lebenszeugnis dem Augenblick an, der durch die Datierung in seiner geschichtlichen Einmaligkeit betont wird; er wird zu einem Untertitel (Paratext), er kann sogar mit dem Gedichttitel verschmelzen, gelegentlich sogar mit Angabe des Ortes: »Die Freiheit, im Sommer 1770 in Dännemarck« (Bd. 1, Nr. 29) oder »Der Harz, auf dem Harze gemacht d:3ten Jan: 1773« (Bd. 1, Nr. 105). 214 Zunächst überwiegt die einfache Anführung des Monats (vielleicht um erste Niederschrift und Bearbeitung zusammenzufassen, Hölty gibt oft aber auch nur das Jahr an), 1773 setzt sich weitgehend die tagesgenaue Angabe durch. 215 212

213

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Nach Gottsched 1968, S.482. Vgl. Marius 1999, S. 143, und 2002, S. 52f. Schwabe hat sich vermutlich an Johann Ulrich Königs Canitz-Ausgabe (1727) orientiert, der ebenfalls schon einige Jahresangaben beifügt und die biografische Autorentwicklung betont, vgl. Martus 1999, S. 147f., und 2002, S. 53, Anm. 65. Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte. Von J.[ohann] J.[acob] B.[odmer] und J.[ohann] J.[acob] B.[reitinger] besorget. Erster Theil. Zürich 1745. Vgl. Martus 1999, S. 139f. Vgl. zu Gedichttiteln Burdorf 1997, S. 130-134, und neuerdings grundlegend Moennighoff 2000. Die Daten beziehen sich meistens auf die Gedichtentstehung. Besonders deutlich ist dies bei Gedichten, die nicht im Göttinger Hain, sondern vorher entstanden sind (Bd. 1, Nr. 29, 38, 43, 47, 94 u.ö.; ein Sonderfall sind zahlreiche Gedichte in Voß' Bundesbuch, die unabhängig von einer Vörie-

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

Die chronologisch-lebensgeschichtliche Gedichtausgabe, wie sie Klopstock vorprägt, gibt es dann bei den Brüdern Stolberg (1779), bei Hölty (von Voß bearbeitet), Miller (beide 1783) und bei Voß (1785).216 Namentlich Klopstocks Odenausgabe von 1798 und die Gesammelten Werke der Brüder Stolberg von 1820/25 bringen datierte Gedichte über einen Zeitraum von fünfzig Jahren. Der Leser kann, wenn er will, die Entwicklung oder »Geschichte« des Autors beim Lesen mitvollziehen; Werk und Autorbiografie sind auf einander bezogen. Schon im Bundesbuch macht die Datierung eine Temporalisierung sichtbar, die sich gemeinsam mit dem Kritikgedanken - Marius spricht von »Verbesserungsästhetik« 217 (vgl. unten II/3) - »von einer Dichtung der Unvernunft und der Unnatürlichkeit absetzte, indem sie Zeitbedarf für den ästhetischen Prozeß reklamierte, Zeit, die auf Seiten des Poeten vor allem als Lebenszeit und auf Seiten des Lesers oder Kritikers als (hermeneutische) Aufmerksamkeit verbucht werden konnte: Die Temporalisierung der Poesie, die Einschreibung einer zeitlichen Dimension in den Text, verleiht ihm Bedeutungstiefe«. 218 Dies ist zumindest der Anspruch, der auch hinter der Ernsthaftigkeit des Vorgehens der Hainbrüder steht. Eine zeitliche Entwicklung gibt es im Bundesbuch selbst kaum. Fragen nach biografischer Stilentwicklung (oder gar > Altersstil·) stellen sich für das Bundesbuch noch nicht; es umfasst etwa ein Jahr (von den wenigen älteren, nachträglich eingeschriebenen Gedichten abgesehen). 219 Die Bundesbuchgedichte ließen sich am ehesten nach Dichtern, nach Gattungen und Themenkreisen ordnen. 220 Auch die Überlegungen für den Druck eines Bundesbuches mit Klopstocks Vorrede (vgl. oben II/2) betonen die Gedichtgattungen, die an diese Stelle getretenen Einzelausgaben dann die Dichterperson. Mi-

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sung in der Gruppe nachträglich und ohne Datum eingetragen wurden, vgl. VB Nr. 74, 114, 122, 124 u.ö.). Sie wurden, wie das Protokoll vermerkt, im Bunde vorgelesen und dann eingetragen, datiert auf eine irgendwann vorher stattgehabte Entstehung. Auch bei anderen Gedichten geht die Datierung des Gedichtes der Vorlesung voraus (Bd. 1, Nr. 26, 30, 31, 33, 34, 42, 44, 45 u.ö.). Das Gedicht wurde offenbar in der Sitzung nicht wesentlich verändert und mit dem Datum der (ersten) Entstehung eingetragen. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich: Gedichte sind früher entstanden oder werden zunächst vorgelesen und dann im Bundesbuch unter einem späteren Datum eingetragen (Bd. 1, Nr. 16, 32, 37, 39, 145, Bd. 2, Nr. 7 u.ö.), so schon Michael 1909b, S. 119f. und 130, Anm. 1; möglicherweise war eine Kritik so grundlegend, dass das spätere Datum als das wichtigere erschien. - Die Reihenfolge der Eintragungen richtet sich entsprechend mehr nach der Chronologie der Vorlesungen als der tatsächlichen Entstehung, ist aber auch nicht ganz einheitlich. Ganz einheitlich ist es freilich nicht; Voß datiert die Gedichte der Hölty-Ausgabe (alle im Inhaltsverzeichnis, einige auch im Titel), aber bringt sie in einer anderen Reihenfolge, deren Ordnung nicht erkennbar ist; Lennert: »Es ist niemandem bisher gelungen, das Prinzip zu finden, nach dem Voß in dieser Ausgabe angeordnet hat«, Lennert 1965, S. 83. In seiner eigenen Ausgabe (1785) sind die Gedichte in Gruppen geteilt (»Idillen«, »Elegien«, »Oden und Lieder«, die in sich chronologisch geordnet sind, außerdem »Sinngedichte«). Vgl. grundlegend Marius 1999, bes. S. 143, und 2000, hier S. 28: »Diese Verbesserungsästhetik, wie ich sie nennen möchte, ist eine poetologische Position, bei der die Korrektur der eigenen Werke einen besonderen Stellenwert einnimmt. Sie ist eines jener Konzepte, mit denen die Aufklärung sich selbst von einer vorangegangenen Epoche vor allem zeitsemantisch unterscheidet.« - Im Zusammenhang des Göttinger Hains wäre vielleicht nur von »Verbesserungspoetik« zu sprechen. Martus 2000, S. 28. Nur Voß' Sonderband umfasst mehrere Jahre, vgl. jeweils den Kommentar. Sauer hat eben dies, gleichsam enttäuscht, für Miller festgehalten: »Als Lyriker machte Miller keine bemerkenswerte Entwicklung durch; seine Produktion drängt sich in die Jahre 1772-1776 im wesentlichen zusammen und wird am besten nach den Gattungen betrachtet, die er gepflegt hat«, Sauer 1885/87-1895, Bd. 2, S. 122.

Zur Poetik des Göttinger Hain chaels Versuch, Höltys Gedichte chronologisch zu ordnen (Überlieferung und

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folge der Gedichte Höltys 1909) steht offenbar unter dem Einfluss der Goetheforschung. Zeitlicher Abstand, verbunden mit ästhetischer Relativierung, wurde den Dichtern in der Rückschau rasch bewusst; zugleich behalten die Gedichte eine gleichsam dokumentarische Bedeutung; sie, »die Juvenilia von einer defizienten Episode«, müssen nicht »unter dem Primat perfekter Poesie aus dem literarischen Gedächtnis gestrichen werden«. 2 2 1 Ein typisches Beispiel ist Wieland, der dies Verfahren ausdrücklich begründet, indem er die Wiederveröffentlichung seines Jugendwerks Die Natur der Dinge (1751) historisch erklärt als »gewisser Massen zur Geschichte unsrer Litteratur« gehörig. »Überdiess würde ein nicht unbeträchtlicher Theil der Geschichte seines Geistes und seiner Schriften, die er zu geben versprochen hat, unverständlich und ohne allen Nutzen seyn, wenn er, von einer falschen Schaam verleitet, die Erstlinge seines Geistes und seines ihm selbst damahls noch wenig bewussten Dichtertalents hätte unterdrücken wollen«. 222 Die Stolbergs übernehmen viele Gedichte fast unverändert in ihre Ausgaben (in der von 1820 stehen Gedichte, die mit dem Bundesbuch wörtlich übereinstimmen, vgl. unten). Miller erklärte schon bald nach der Bundeszeit im Vorbericht zur Ausgabe seiner Gedichte (1783): »Ich könnte auch noch sagen, daß alle diese Gedichte Geschöpfe und Gespielen meiner Jugend sind. Man siehts aber schon aus der drüber gesetzten Jahrszahl. [...] Wer mir sagt, daß meine Gedichte viele Fehler und Schwachheiten an sich haben, der sagt mir eine alte Wahrheit, von der ich gewiß besser überzeugt bin, als er selbst. Ich schäme mich der Fehler, zumal meiner ersten Versuche, eben so wenig, als ich mich schäme, ehmals Kinderschuhe getragen und gelallt zu haben« (unpag.). Voß dagegen hat von dem Jugendwerk stärker Abstand genommen: Er meint schon am 2. März 1774: »Wir haben wohl eine Sünde der Uebereilung begangen, daß wir unsere Namen schon jetzt genannt haben. Wenn ich meinen zurücknehmen könnte, wollte ich gern alles was ich bisher gemacht verbrennen.« 2 2 3 Voß bearbeitet später die Jugendgedichte mit »unerhörte[r] Härte«. 224 Gleichwohl beginnen seine Ausgaben immer mit Gedichten der Göttinger Zeit. Die Gedichte sind Zeugnisse autorschaftlicher Entwicklung. Als ein ebensolches Zeugnis hat Voß auch das Bundesbuch wertgeachtet und bis zu seinem Tod in Heidelberg sorgfältig aufbewahrt. Im Folgenden soll die Situation der Gruppe zwischen Aufwertung der Dichterpersönlichkeit und Gruppenkritik bzw. -Verbesserung soweit möglich rekonstruiert und untersucht werden. Dabei wird der Blick zunächst auf zwei Hauptvertreter des Bundes gerichtet, Stolberg und Voß, und außerdem auf ein entscheidendes Vorbild außerhalb des Bundes, Karl Wilhelm Ramler, danach auf die Gruppe selbst und ihre kollektive »Verbesserungsästhetik«.

221 222 223 224

Martus 2000, S. 29. Wieland 1797, S. 10. An Stolberg, nach Behrens 1965, S. 63. Ernestine an Boie, 14.12.1799, Bäte 1925, S. 57. Zur Alterskritik am Jugendwerk vgl. Martus 1999, S. 152ff.

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

>lnspiration< und (kollektives) Handwerk: Stolberg und Voß225 Stolberg und Voß Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg und Johann Heinrich Voß' Freundschaft hielt lange, und dies, ja, dass sie überhaupt bestand, ist, wie Goethe feststellte, 226 bemerkenswert, mehr als ihr späterer Bruch. 227 Die Gegensätzlichkeit reicht vor die Göttinger Zeit zurück: Stolberg ist Enkel eines regierenden Grafen, Voß eines freigelassenen Leibeigenen. Stolberg vertritt eine adlige Lebens- und Genusskultur des 18. Jahrhunderts, schon früh vermischt mit Zügen der Reaktion des 19. Jahrhunderts. Voß, bürgerlicher Gelehrter und Arbeitsmensch, wie ihn das 19. Jahrhundert kannte, war zugleich einer der späteren Vertreter der Aufklärung wiederum vor allem des 18. Jahrhunderts. 228 Beide waren, v.a. im Alter, nicht frei von Unzeitgemäßem, und beide standen in späten Jahren ihrer Zeit nicht ohne Unverständnis gegenüber. Die Gegensätzlichkeit beider Naturen prägt bereits, teilweise verdeckt, die Zeit des Göttinger Hains, denn sie ist auch poetologisch greifbar. Friedrich Leopold Stolberg ist ein nachdrücklicher Vertreter einer >BegeisterungslnspirationspoetikHandwerksGenieBegeisterung< empor. Und diese ist nur wenigen gegeben (GW Bd. 10, S. 399), an erster Stelle Homer und Ossian, in der Neuzeit Klopstock, der für Stolberg immer der bedeutendste deutsche Dichter bleibt (Klopstocks ständiges >Feilen< ist dabei nicht im Blick). >Arbeit< hat der Dichter, als Dichter, nicht: »Es scheint, daß er von der allgemeinen Strafe: >Du sollt im Schweiße deines Angesichts dein Brod essen!< eine Ausnahme seyn soll. Er hat kein Tagewerk. Was er hervorbringt, das bringt er hervor in den süßesten Stunden seines Lebens, und die Fluth des Gesangs, die ihm entströmt, scheinet ihm aus der Urne einer Muse zu fließen, um ihn zu beglücken« (GW Bd. 10, S. 388). Die gelehrte >Feile< dagegen, die Überarbeitung, hat Stolberg, glaubt man brieflichen und dichterischen Selbstaussagen, ebenso gescheut wie verachtet; Gegenbild ist, wie vielfach im Sturm und Drang, die nicht »inspirierte« Gelehrsamkeit: 232 Die Leiter. Auf der Erde stehet die Leiter der Weisheit, u n d reichet A n den H i m m e l ; w i r sehn wenige Sprossen von ihr. M ü h s a m k l i m m t der Gelehrte hinan, u n d purzelt u n d k l i m m e t W i e d e r hinan; u n d w a s hat der Gelehrte gesehn? U n t e n schlummert der Dichter auf M o o s , w i e der H i r t e von Kanan, U n d es steigen zu i h m Söhne des H i m m e l s herab. (1784, GW Bd. 1, S. 408)

Die Vorstellung, dass Dichtung göttlich inspirierte Rede sei, führt von den Anfängen abendländischer Dichtung bis zu den Musenanrufen Rudolf Borchardts. 233 Dabei sind

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233

samen, regel- und beobachterfreien Schöpfungsprozesses zu einer Produktionsgemeinschaft zusammentaten, die auf gegenseitige Belehrung und Beobachtung Wert legte« (S. 152). Man habe sich im Bund sogar »durch das Axiom der Lehr- und Lernbarkeit literarischer Kreativität« definiert (S. 153). Blasberg will den Dädalus- und Ikarus-Mythos zur »Entschlüsselung des Hainbund-Experimentes« nutzen, da er »sowohl zugunsten der Genie-Ästhetik interpretierbar, aber auch für den WerkstattGedanken fruchtbar zu machen ist« (S. 155). Ikarus entspreche dem Ekstatiker, Dädalus dem Werkschöpfer. Das ist zutreffend, aber von außen herangetragen, ohne Rückbindung an die Texte. Die hier vorliegende kurze Untersuchung soll dagegen textnah(er) und auf die Personen bezogen sein, die das Bundesbuch prägten: Stolberg und Voß sowie Boie, Hölty und Miller (wobei zur Dichtungsauffassung des letzteren am wenigsten zu sagen ist). Nützlich - und ausreichend - scheinen mir die Begriffe Genieästhetik und »Verbesserungsästhetik« (letzterer nach Steffen Martus); die Gefahr einer Untersuchung wie der Blasbergs ist, dass sie sich um ihrer Stimmigkeit willen von den Texten entfernt. Sehr nützlich jüngst auch Bohnenkamp 2002, hier S. 62-64. Der Gedanke der Begeisterungspoetik ist auch in einigen Bundesbuchgedichten schon sichtbar, wenig später dann ausdrücklich in den Prosaaufsätzen; vgl. hier, jeweils mit Kommentar, An die Natur, Bd. 1, Nr. 120; Die Natur, Bd. 2, Nr. 12; Der Abend, VB Nr. 46; und besonders Der Felsenstrom, VB Nr. 128, und Hellebeck, VB Nr. 129. Unwissenschaftlichkeit gibt es auch manchmal im Alter. In Ueber das Buch Hiob oder Job heißt es einmal: »wie Sokrates so schön irgendwo bei Piaton sagt« (GW Bd. 20, S. 300). Vgl. grundlegend Curtius 1961, Exkurs 8 (»Der göttliche Wahnsinn der Dichter«), und nochmals Wiegmann 1977.

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Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

zwei Traditionslinien grundlegend, die Stolberg beide kennt und beide aufnimmt: zum einen die religiösem Kultus entstammende griechisch-römische poeta vafes-Vorstellung (einmal nennt Stolberg den Dichter ausdrücklich »Seher«, GW Bd. 10, S.410) - ihre wichtigste, wenngleich negative Entfaltung findet sich bei Piaton, und schon in der Odyssee beruft sich der Sänger Phemios auf göttliche Eingebung (Odyssee 22, 347f.); und andererseits die alttestamentlich-jüdische Prophetie und ihr Nachhall in der Verbalinspirationsvorstellung, die Stolberg aus dem Pietismus kannte. 234 In den jüngeren Jahren überwiegen Anklänge an die griechische Tradition, aber die biblische ist immer gegenwärtig. Ueber die Begeisterung (1782) beginnt mit Worten Jesu über Wind und Geist (GW Bd. 10, S. 397, Joh 3,8). Was Stolberg später über biblische Texte und ihre Eingebung sagt, ist in Grundzug und Wendung fast gleich; die Psalmen »sind die reinsten Ergüsse göttlich begeisterter Liebe« (GW Bd. 20, S. 339, Ueber die heiligen Lobgesänge so wirPsalme nennen, postum). Nur die Bedeutung des >lnspirierten< selbst tritt etwas zurück: Wer immer das Buch Hiob verfasst habe (Stolberg meint: Mose), »so ist ausgemacht, daß es auf Eingebung des Heiligen Geistes verfaßt worden: vor diesem Hauptumstande schwindet die Wichtigkeit der Untersuchung über das Werkzeug, dessen Er Sich dazu bediente« (GW Bd. 20, S. 295). Im Alter nimmt Stolberg sogar die alte moralistische Roman- und Theaterkritik wieder auf (GW Bd. 20, S. 113, Ein Büchlein von der Liebe 1820). 235 Der Grundzug ist in allen Lebensabschnitten: Dichtung soll sich zu Gott erheben. Sie ist göttlich gegeben und sie ist der göttlichen Wahrheit unterworfen. Dichtung unterliegt einem religiösen Zweck, sie ist nicht autonom. Diese Stoßrichtung wurde am folgenreichsten in der Auseinandersetzung um Schillers Götter Griechenlandes,236 Stolbergs >Begeisterungspoetik< ist am deutlichsten durch Klopstock vermittelt. Aber Stolbergs »Absolutismus des Gefühls« 237 geht über Klopstock hinaus. Klopstock hat >gefeiltFeile< ein Geschenk der >MuseFeile< fehle. Aber »die Idee der Dichtkunst (welche einen Dichtkünstler implicirt)« will Stolberg schlechterdings nicht »ertragen« (an Voß, 17.4.1787): »Ein Dichter, den in kühnem Flug | Der Pegasus gen Himmel trug, | Erhub sich mit des Adlers Eile. | Da schrie mit ungestümen Ruf, | In seiner Rechten eine Feile, | Ein Kritikaster: Weile! weile! | Daß ich am linken Hinterhuf | Dir noch den letzten Nagel feile!« (GW Bd. 2, S. 54). 238 234

235 236

237 238

Vgl. Frick 1996, bes. S. 125-129. Zu Piaton vgl. zusammenfassend Fuhrmann 1992, S. 70-76, und Flashar 1988, S. 54-71 (Nachwort zu Piatons /on); außerdem Fuhrmann 1982/94, bes. den Abschnitt »Die aristotelische Poetik und Piaton«, S. 155-161 (Nachwort zu Aristoteles' Poetik). Zu Stolberg und Piatons Ion vgl. auch Kahl 2001a, S. 80t. Vgl. Janssen 1877, Bd. 2, S. 146-155. Vgl. kurz in Kahl 2001a Kap. 4, »Die >interpretatio christiana< der Heiden: Stolberg und die Antike«, S. 77-82, bes. S. 77-79, auch mit weiterführender Literatur, darunter grundlegend: Frühwald 1969. Behrens 1964, S. 65. Stolberg glaubte sich, geschichtlich zu Unrecht, dabei den Griechen verbunden, wie Esmarch am 5.4.1775 im Tagebuch festhält: »Die Griechen feilten gar nicht. Daher das eigenthümliche, charakteristische ihrer Werke. So bliebs wie's in der Stunde der Begeisterung aus ihren trun[k]enen Seelen strömte. Klopstock habe eine gewisse Idee von Correktheit, die seine neuern Stücke minder anziehend mache«, nach Langguth 1903, S. 106.

Zur Poetik des Göttinger Hain

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Aber der »Kritikaster« ist ein Zerrbild der Kritik. Tatsächlich hat Stolberg an der Gruppenkritik im Hain teilgenommen wie alle anderen auch, und namentlich Voß räumt er Vollmachten ein: »Bedienen Sie sich ja des Rechtes, welches Sie über alle meine Geburten haben« (an Voß, 29.3.1774). 239 Und: »Bedienen Sie sich bey der Freiheit Ihres Rechtes über meine Stücke. Wenn Sie oder Hahn einige Aenderungen machen wolten! Ich habe es oft u: vergeblich versucht« (17.9.1774). 240 Vossens Änderungen stimmt er ganz zu: »Dank für die Freiheit! Sie haben mir dieses verlorne Kind so schön wieder gebracht daß es nun eins meiner besten Kinder worden ist. Will es auch herzlich lieb haben« (3.12.1774). 241 Einige Gedichte des Bundesbuches, die in die Ausgabe von 1779 und in die Gesammelten Werke (1820) eingegangen sind, blieben wörtlich erhalten, einige sind in ihrer Gestalt verändert, zum Teil in einzelnen Worten, zum Teil sehr weitreichend. 242

Die Bearbeitung von Stolbergs Gedichten Am meisten verändert sind Die Freiheit (Bd. 1, Nr. 29) und Der Harz (Bd. 1, Nr. 105), eben jene Gedichte, von denen Voß noch 1820 rühmte: »Im Harz und im Genius sind viele Aenderungen von mir, in der Freiheit [...] von Hahn und mir« (Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe).243 Die anderen Bearbeitungen in der Ausgabe von 1779 stammen offenbar von Stolberg selbst, die von 1820 vielleicht auch von seinem Bruder.

Die Freiheit (Bd. 1, Nr. 29) Stolberg hat hier ausdrücklich Voß und Hahn Befugnisse zur Bearbeitung eingeräumt. Bemerkenswert ist aber auch, dass zuvor seine eigenen Versuche »vergeblich« geblieben sind. Auf wen die Änderungen im Druck des Musenalmanachs von 1775 im Einzelnen zurückgehen, ist nicht erkennbar: Stolberg hat zu Fremdeingriffen aufgefordert und er hat sie durch den Abdruck bestätigt (vgl. den Text des Musenalmanachs im Kommentar zu Bd. 1, Nr. 29). Einige Änderungen sind sprachlicher Art (»die Kette rasselt«, wird zu »Ketten rasseln«, Str. 1, V. 2, u.ä.), der Ich-Sprecher wird zum Wir, eine Strophe wird hinzugefügt, einige Begriffe werden zugespitzt (»den feigen Nacken« zu »den erschlafften Nacken«, Str. 1, V. 4). Daneben inhaltliche Änderungen, 239 240 241 242

243

Nach Hellinghaus 1891, S. 14. Hellinghaus 1891, S. 21. Hellinghaus 1891, S. 24. Bd. 1, Nr. 29: 1820 stark bearbeitet und um eine Str. erweitert; Bd. 1, Nr. 61: leicht abweichend 1779, in derselben Fassung 1820; Bd. 1, Nr. 62: abweichend 1779, in der ersten Strophe nochmals abweichend 1820; Bd. 1, Nr. 105: abweichend 1779, in derselben Fassung 1820; Bd. 1, Nr. 107: leicht abweichend, in derselben Fassung 1820; Bd. 2, Nr. 12: sehr leicht abweichend 1779, in fast derselben Fassung 1820; Bd. 2, Nr. 16: unverändert 1779 und 1820; Bd. 2, Nr. 17: die Grundschrift sehr leicht abweichend 1779, diese Fassung mit zwei weiteren Abweichungen (16 »neidischer« statt »neidender«, 28 »erblassenden« statt »verwelkenden«) auch 1820; Bd. 2, Nr. 18: leicht abweichend 1779, in derselben Fassung 1820; Bd. 2, Nr. 19: unverändert 1779 und 1820; Bd. 2, Nr. 20: unverändert 1779 und 1820. Voß 1820b, S. 136.

Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

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die das Kämpferische herausstellen: Die Freiheit wird als göttlich verklärt (Str. 2, V. 3), Freiheit und Vaterland werden noch deutlicher verbunden (»Nur Freiheits-Harf' ist Harfe des Vaterlands!«, Str. 4, V. 1), die Gewittermetaphorik verstärkt (Musenalmanach Str. 4-5), die Aufforderung »Stürzt, Paläste!« (Str. 5, V. 3) hinzugefügt. In der letzten Strophe werden die deutschen Freiheitshelden vor den römischen genannt, Klopstock, literarischer Freiheitsheld, wird in die Reihe politischer Kämpfer eingefügt: »Teil! Hermann! Klopstock! Brutus! Timoleon!« »Stürzt, Paläste!« wird später in den Gesammelten Werken getilgt; es heißt nun »Stürz' von deinem | Throne, Tyrann, dem Verderber Gottes!« Ansonsten bleibt die Fassung dort aber gleich.

Der Harz (Bd. 1, Nr. 105) Was von Voß und was möglicherweise doch von Stolberg stammt, lässt sich nicht feststellen; offenbar gehört die Bearbeitung noch ins Entstehungsjahr. Selbst wenn die Änderungen größtenteils von Voß stammen: Stolberg hat sie aufgenommen (und damit die »Verbesserungsästhetik« bestätigt). Einige Änderungen betreffen nur Wortformen: »Cheruscien« wird zu »Cheruskaland« (1,1), »nervigten« zu »nervigen« (Str. 1, V. 2, vgl. auch Str. 4, V. 4; Str. 7, V. 2 u.a.), oder Grammatisches (»freyeren Geistes«, wird zu »freieres Geistes«, Str. 1, V. 3); ein Strophentausch (4/5) erleichtert den Zusammenhang (die beiden Wild betreffenden Strophen stehen nun hintereinander). In der dritten Strophe wird ein Bild inhaltlich zugespitzt: Der Segen des Tals wird mit Wasser - Stolbergs poetischem Grundelement - in Verbindung gebracht; wallen, Flut, strömen deuten auf die Begeisterung, Strophe 8, voraus: Bundesbuch: Im antwortendem Thal lächelt dir goldener Seegen, schüttet sich aus in der Genügsamkeit Frohgeöfnetem Schooße, Die nicht kärglich die Garben zählt. Gedichte 1779: Im antwortenden Thal wallet die goldene Flut des Segens, und strömt in den genügsamen Schooß des lächelnden Fleisses, Der nicht kärglich die Garben zählt.

Ebenso wird in Strophe 8 der Bardengesang durch »ergießen« locker mit diesem Bildfeld verknüpft. - Auch andere Bilder werden zugespitzt: Statt »Felsen hallten umher« heißt es klarer auf das gemeinte Echo bezogen: »Felsen jauchzten zurück« (Str. 8, V. 2). Der Schlussgedanke lautet in der ersten Fassung: Hermann ist dein, d.h. des Harzes, Sohn; Klopstock, des Harzes noch größerer Sohn, ist es, der Hermann durch seinen Gesang - gemeint ist das erste der Hermannsdramen Hermanns Schlacht 1769 - der Vergessenheit entriss: Das Gedicht mündet in einen Jubelruf auf Klopstock. Die Bearbeitung - und hier greift sie am vergleichsweise stärksten inhaltlich ein - mildert ab. Der Komparativ verschwindet: Klopstock ist auch, aber nicht größerer Sohn des Harzes; die »Aeonen«, die Klopstock tönen, auch.

Zur Poetik des Göttinger Hain

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Bundesbuch:

Klopstock! ewigen Ruhm werden Aeonen ihm Tönen, Klopstock ist dein! jauchze Cheruscia! Groß in Schlachten der Freiheit! Groß in ewiger Lieder Ton! Gedichte

1779:

Heil, Cheruskia, dir! furchtbar und ewig steht, Gleich dem Brocken, dein Ruhm! Donnernd verkünden dich Freiheitsschlachten! und donnernd Dich unsterblicher Lieder Klang! »Ich m u s s t e ihm [Klopstock] d e n Harz [berichtigt aus: Horaz] n a c h der n e u e n Lesart l a n g s a m v o r s a g e n , er las im s c h w a r z e n B u c h die alte. D a wir zu der Stelle k a m e n w o er s o n s t über H e r m a n n e r h o b e n w a r d , s a g t e ich ihm g a n z naiv, es s c h i e n e mir nicht erlaubt, und der S p r a c h e d i e s e s S t ü c k e s z u w i e d e r zu seyn, j e m a n d e n , selbst ihn, über H e r r m a n n zu setzen. Er g a b mir g a n z recht« (Stolberg an V o ß , 19.9.1773). 2 4 4 Die Ged a n k e n f ü h r u n g selbst bleibt ähnlich: Der Harz (bzw. » C h e r u s k i a « ) w i r d b e s u n g e n , weil v o n ihm Freiheit ( H e r m a n n ) u n d e w i g e r G e s a n g (Klopstock) a u s g e h e n . Die z w e i t e F a s s u n g ist eine Bearbeitung, kein z w e i t e s Gedicht.

Die Ruhe

( B d . 1, Nr. 6 2 )

Die » M i t w i s s e n s c h a f t « v o n Ereignissen politischer U n t e r d r ü c k u n g , die gegeißelt werden, so der G e d a n k e n g a n g , soll d e n Dichter nicht k ü m m e r n : » R u h e « soll ihn stattdess e n leiten. Einige Ä n d e r u n g e n zielen w i e d e r u m auf die sprachliche V e r b e s s e r u n g , w i e »stille T h ä l e r « ( B u n d e s b u c h , M u s e n a l m a n a c h , Str. 8, V. 1) in »stille T h a l e « melte

Werke

1820) o d e r

»Festliches S c h w e i g e n «

(Bundesbuch,

Str. 9, V. 4) in » L a u s c h e n d e s S c h w e i g e n « ( G e s a m m e l t e Werke

(Gesam-

Musenalmanach,

1820). A b e r die Ä n d e -

rung v o n »der hierarchische | D e s p o t « ( B u n d e s b u c h , Str. 1, V. 2f.) in »der Bischof R o m s « ( M u s e n a l m a n a c h ; in d e n Gesammelten

Werken

1820 gemildert) ist offenbar

eine inhaltliche Z u s p i t z u n g , e b e n s o v o n »kalte Z u f r i e d e n h e i t « ( B u n d e s b u c h , Str. 7, V. 2) in »Ekel u n d S c h l u m m e r « ( M u s e n a l m a n a c h , ähnlich Gesammelte

Werke

Die Ruhe gehört zu j e n e n G e d i c h t e n , die in der S a m m l u n g Für Klopstock

1820). Klopstock

ü b e r g e b e n w u r d e n und zu j e n e n w e n i g e n , die Klopstock mit nicht e r h a l t e n e n A n m e r k u n g e n v e r s e h e n u n d so gebilligt hat: O f f e n b a r g e h e n die Ä n d e r u n g e n im M u s e n a l m a n a c h auf ihn zurück. Hat a u c h V o ß eingegriffen (wie in Der

Harz)?245

V e r m u t l i c h ist eine a n d e r e , w i e d e r u m m i l d e r n d e Ä n d e r u n g d a g e g e n Boies W e r k : » G u s t a v - O c t a v i u s « ( B u n d e s b u c h , Str. 2, V. 1) w u r d e a l l g e m e i n e r zu » C a e s a r Octavius« ( M u s e n a l m a n a c h ; in d e n Gesammelten

Werken

1820 zurückgenommen).

Der

offenbar g e m e i n t e Staatsstreich d e s s c h w e d i s c h e n K ö n i g s G u s t a v s III. ist so nicht m e h r deutlich erkennbar. 2 4 6 Ä h n l i c h klingt » H a b e d e s a n d e r n theilen«

(Musenalma-

n a c h u n d 1820, Str. 2, V. 4) w e n i g e r f a s s b a r als » f r e m d e P r o v i n z e n theilen« ( B u n d e s 244 245 246

Nach Herbst 1872/76, Bd. 2.1, S. 259. So Lüchow 1995, S. 167, Anm. 82. Vgl. Lüchow 1995, S. 174.

Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

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buch). Klopstock bestätigt den kämpferischen Ton, Boie mildert ab. Und der Autor, Stolberg selbst? - Es gibt auch Beispiele eigener Änderungen.

Der Irrwisch (Bd. 1, Nr. 61) Stolberg ändert drei Wörter: »leichten« (1,2) zu »losen« (Gedichte 1779), »Locket« zu »Reizet« (2,2) und »Treulose Doris« (2,4) zu »Flatternde Nais«. Dies ist freilich kaum eine >Bearbeitungstendenzlnspirierte< Dichtung ist Vossens Wesen fremd. 247 Er schreibt an Ernestine: »Ich habe noch ein verliebtes Gedicht gemacht, nicht weil ich verliebt bin, sondern um mich im ionischen Sylbenmaße [...] zu üben« (12.10.1773). Hierin waren, auch ihrer eigenen Wahrnehmung nach, beide Freunde, Stolberg und Voß, getrennt: »Darinnen bin ich glücklicher wie Sie daß Ihnen die Muse so mancher die wie ich singen und sangen, Mißton tönt, mich aber auch Ihre Gedichte u: derer die wie Sie dencken glücklich machen. Aber sonderbar ist's doch daß meine ungelehrte Empfindung immer sich ähnlich bleibt u: immer alles was allgemein schön gefunden wird, gleich empfand. Ihre Empfindung hat manchesmal geschwanckt. Ich erinnere mich daß Sie Pindar u: Horaz gering schäzten« (Stolberg an Voß, 17.4.1787). Gegenüber Voß nimmt Stolberg für sich die ungelehrte Empfindung in Anspruch. Glücklich zu sein ist für Voß, anders als für Stolberg, keine poetologische Größe. Bezeichnend fremd ist ihm die Stolberg'sche Begrifflichkeit: >Arbeit< hat der Dichter, als Dichter, sehr wohl. Die dichterische Vervollkommnung ist im Gegenteil nichts anderes als Arbeit. Von der »allgemeinen Strafe: >Du sollt im Schweiße deines Angesichts...die süßesten Stunden des LebensRuhe nach dem Genuß< ist Voß fremd. Voß war Schulmann und Philologe.

247

Zu Vossens Dichtungsauffassung vgl. Basken 1937, S. 25-28.

Zur Poetik des Göttinger Hain

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Schaut man gezielt auf die Zeit des Göttinger Hains, dann findet man bei Voß zwar auch Selbstaussagen über >begeisterte< Dichtung: »Da wird es sich in heitern Sommernächten schöne Oden singen lassen. Mir besonders ist die Nacht vorzüglich günstig. Es kommt kein Schlaf in meine Augen, bis ich vollends fertig bin, und auch dann schlummr' ich nur, und arbeite [!] träumend an meiner Ode fort« (an Brückner, 7.3.1773). Doch solche Aussagen sind selten. Die Begeisterung geht in der Gruppe auf, sie kann einem »Entschluss«, sogar einem Wettbewerb gehorchen kann: »Ich ging nach meiner Stube, fühlte aber Begeisterung, und wollte anfangen zu schreiben, als Hahn hereintrat. Kurz, er fühlte auch so was, und wir entschlossen uns, Hölty abzufedern, und wieder zu Dorf zu gehen, um die Nacht hindurch Verse zu machen. Ich sagt' es Boie; der nahm mich lächelnd beim Arm, und schob mich zur Thür hinaus, und gab mir seinen Segen. Und so wanderten wir drei bei Mondschein nach Wehnde, und da dichteten wir um die Wette. Sagen Sie mir, gefällt Ihnen die Methode?« (Voß an Brückner, 8.11.1772). Die Rede von der >Begeisterung< ist bei Voß Stilisierung, manchmal auch nur beiläufige Floskel (»Idyllen und Lieder und Freyheitsgesänge und was Braga eingiebt«). 248 Schon in der Göttinger Zeit die Einsicht: »Ein großer Dichter muß mehr außerordentliches an sich haben, als ich von mir weiß. Ich finde mich, außer in den sehr seltnen Stunden der Begeisterung, gerade wie einen andern Menschen. Von allen Sachen, die ich geschmiedet habe, möchten nur 4 - 5 der Erhaltung werth sein. Klopstock war achtzehn Jahr alt, wie er die Messiade anfing; da ist der große Dichter« (an Brückner, 17.10.1773). Als Schulmann macht er manchmal regelmäßig ein bis zwei Gedichte am Tag. 249 Aber im Ganzen stand das Amt der Dichtung entgegen. 250 Das Handwerkliche später berühmt in Gestalt der Voß'schen Metrik - merkt man schon den Göttinger Gedichten an. Voß ist der einzige, der im Bunde Übersetzungen vorliest (vgl. Protokoll). Schon damals hätte er Stolbergs Zuruf kaum verstanden: »Wie sie die Muse mir giebt, so geb' ich die Gaben der Muse; | Darum nimm sie, ο Freund, wie ich sie gebe, nur hin. | Nimm der Empfindungen Strauß, von schlichten Worten umwunden, | Nicht mit flatterndem Band rauschender Schleifen geschmückt« (An Voß 1785, GW Bd. 1, S. 423f.). Der Gedanke der »handwerklichem Dichtung - die >Feile< ist ein Gerät aus der Werkstatt - zieht sich durch Vossens Leben; noch 1809 schreibt er: »Ein Kenner wird nicht ohne Vergnügen wahrnehmen, wie mühsam manches der schönsten Kunstwerke aus dem Rohen geschmiedet, wie oft wieder auf den Amboß gelegt, und mit leiserem Hammer geformt wurde; bevor es, unter thätigem Freundesrath, die ausbildende Feile und die blanke Glätte der Vollendung empfing« (Ueber Götz und Ramler. Kritische Briefe).25'1 248 249

250 251

Aus einem Brief an Christian Stolberg, 28.11.1773, Bobe 1917, Bd. 8, S. 127. »Nachdem er die erste Ausgabe der Luise vollendet, und den zweiten Theil seiner Gedichte zum Druck gefertigt hatte, machte er jeden Tag ein Gedicht, oft zwei«, Ernestines Bericht in Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.1, S. 74. Bezeichnend für seine Haltung ist auch eine Bemerkung an Boie, September 1787: »Für meine Muse ist es sogar heilsam, diesen Antrieb mehr zu haben. Sehr vieles entsteht bloß durch den Almanach. [...] Ich soll mehr Volkslieder machen? Gerne, wenn ich nur kann. Schicke mir gelegentlich englische und französische Liedersammlungen, um mich lebhafter in die singende Welt zu versezen.« Vgl. Ernestines Bericht in Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.2, S. 79f. Voß 1809, S.3f.

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Gemeinsame Übersetzung? 1778 brachte Stolberg seine llias in Hexametern heraus, Voß 1781 seine Odyssee.252 Selbst Klopstock hatte Stolberg eine Bearbeitung der Übersetzung empfohlen. 253 Stolberg: »Im Ernste fühl ich daß viele Nachlässigkeiten in meiner Uebersetzung sind, aber ich hab warlich nicht die Gabe zu feilen, Foibos Apollon gab mir keine Feile, das ist warlich mein Fall. Meine Muse ist noch jung, u: kriegt dann u: wann recht schöne H. ChristGeschenke von Foibos Apollon, ich will ihn bitten daß er ihr endlich auch eine Feile geben soll« (an Klopstock, 20.1.1778). Voß bot Stolberg in der Eutiner Zeit größter Zusammenarbeit an - er empfand durchaus das Ungenügen seiner Übersetzung - , eine Neuübersetzung der lliade gemeinsam vorzunehmen. Einen Wettstreit mit Stolberg wollte er eigentlich vermeiden. Stolberg schlug dies hellsichtig aus, im Bewusstsein der Unterschiedlichkeit zwischen >lnspirationspoesie< (selbst bei Übersetzungen) und philologischer Übersetzungstreue: »Ich gesteh Ihnen bester Voß daß ich ein wenig bang vor Ihrer Feile gewesen bin. Ich sehe sehr wohl ein, daß viele Unvollkommenheiten in meinen Gesängen übrig sind; aber ich fürchtete, sie stäcken so tief, daß man selten daran ändern könnte, ohne meinen Hauptton zu ändern u: also der Originalität zu schaden.« 254 Die Ansichten waren unvereinbar.

Die anderen - Boie und Hölty Die Poetik der anderen Bundesmitglieder soll nicht mehr im Einzelnen betrachtet werden. Vossens Verhältnis zu Miller war dem zu Stolberg hier ähnlich. Auf die Frage aus Vossens An Miller. »Mein allerliebster Miller, | Wer hat dich Ton und Triller | So silberrein gelehrt«? (Bd. 1, Nr. 17,1) antwortet Millers Gedicht kurzerhand: »Mama Natur« (Bd. 1, Nr. 18): »Drum, wenn der Obotrite | Sich noch so sehr bemühte | Zu singen ohne sie; | So kann ichs doch nicht hehlen, | Er wird umsonst sich quälen | Und Mädchen fängt er nie.« Offensichtlich hat Miller aber auch reichlich verbessert. 255 - Auch für Cramer spielt die »Begeisterung« eine wichtige Rolle (vgl. Bd. 1, Nr. 172). Eine Verbindung beider Auffassungen deutet sich bei Boie und bei Hölty an. Boie preist die geniale Einzigartigkeit Klopstocks gegenüber dem nachahmend-handwerklichen Ramler: »Ramler ist ein sehr correcter, feuriger, harmonischer - Nachahmer des Horaz und der Alten. Wo ist bei ihm aber eine Spur von dem großen, ungestümen Feuer, das uns bei Klopstock hinreißt, in die Wolken erhebt und das ganze 252 253

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Vgl. Häntzschel 1977 und in Kahl 2001a Kat.-Nr. 63 und 65. Vgl. zu dem Vorgang Cramer 1777, S. 92: »Aufs Feilen hält er [Klopstock] sehr viel; ich habe Stollbergen geschrieben, sagte er jüngst, wegen seines Homers, ich liebte das Feuer der ersten Ausarbeitung sehr, aber das Feuer der zweyten Ausarbeitung müsse auch hinzukommen.« 3.5.1777, nach Hellinghaus 1891, S. 51. »Bei eigenen Arbeiten fügte Voß sich gerne« - heißt es in Ernestine Voß' Erinnerungen - »in Stolbergs Ansicht, obgleich er sie bei sich selbst nicht anerkennen wollte, daß der erste Erguß, wie ihn das Genie gebe, der bessere sei; aber auf Übersezungen wollte er sie nicht ausgedehnt wissen«, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.1, S. 37, vgl. insgesamt S. 3 7 - 3 9 . - Stolberg hat sich später von Voß übertroffen gesehen. Köhler berichtet, er habe ein Exemplar der Gedichte von 1783 besessen, »in welches der sei. Miller mit Bleistift sehr viele, freilich oft kaum leserliche, Aenderungen eingeschrieben hat«, Konrad Friedrich Köhler 1819, S. 93.

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Herz erschüttert? Das thut nur der wahre Poet. Und von solchen hat nicht einmal jedes Jahrhundert einen. Ramler macht mich glühen, wenn ich ihn lese; Klopstock macht mir das Herz schlagen, der Athem wird mir zu enge - ich muß aufhören zu lesen.« 256 Dennoch behält Boie dem Geniegedanken gegenüber Bedenken; das »Genie« bedarf der Korrektur, wie er sie Voß angeboten hatte, bevor er in Göttingen war: »Bei dem besten Genie hält man so leicht im Anfange tönende Worte, Kühnheiten und dergleichen für die einzigen Schönheiten; sie sind es nie, wenn sie nicht an der rechten Stelle stehen. Das Einfache und Natürliche ist das wahre Schöne; zu diesem führt aber erst Übung und viel Geschmack. Ich würde einem jungen Manne, dessen erste Stücke gleich den kalten und correkten Geschmack befriedigten, nicht viel Genie zutrauen. Lassen Sie sich nicht abschrecken, wenn auch ein Kenner Sie noch schärfer tadeln sollte, als ich gethan habe. Das junge Genie ist glücklich, das früh einen nicht unterdrückenden Tadlerfindet.«257 Es folgt das Angebot weiterer Korrektur. Bei Hölty scheinen beide Seiten eigentümlich gleichberechtigt zu sein. Hans-Georg Kemper sieht die historische Leistung Höltys darin, »vor allem in seinen Natur- und Liebesgedichten die noch der >poeta doctuslnspiration< geboren und in Kritik vollendet wurde, hat ihren klassischen Ausdruck schon bei dem von Voß ins Bundesbuch eingeführten Horaz gefunden: »Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen ohne fündige Ader oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des

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An Ramler, 30.12.1771, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 112. Boie an Voß, 10.10.1771, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 63. Hans-Georg Kemper 2002, S. 168. Hettche 1998b, S. 471 Miller an Voß, 26.6.1776: »Von Hölty hattest du verworfne Gedichte in den Alm. aufgenommen. z.E. das an einen Kanarienvogel u. andre, unter die er wenigstens in meinem Buch selbst geschrieben hat, verworfen«, BSB München, Vossiana 50; den Briefauszug verdanke ich Manfred von Stosch. Vgl. schon Michael 1909b, S. 83.

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andren und verschwört sich mit ihm in Freundschaft« {An die Pisonen. Über die Dichtkunst, 409-411). 262

»Ihre Veränderungen sind mir allemal ein wahres Studium der Kunst«: Kritik und »Verbesserungsästhetik« bei Karl Wilhelm Ramler 263 »Den Dichtern, die an dieser Bluhmenlese Antheil haben, sage ich den aufrichtigsten Dank für die gütige Aufnahme einiger vorgeschlagenen Lesearten zu ihren vortrefflichen lyrischen Gedichten. Sie haben diese Vorschläge [...] gebilliget, und zum Theil ihren Beyfall dadurch [...] bezeugt, dass sie solche in die neuesten Ausgaben ihrer eigenen Werke aufgenommen haben.« 264 Karl Wilhelm Ramler (1725-1798) bearbeitet in seiner Lyrischen Bluhmenlese (1774/78), einer groß angelegten Gesamtschau deutscher Gedichte, ungefragt, und die Autorisation der Dichter - darauf legt er Wert - folgt nach. Ramler war einer der angesehensten und einflussreichsten Kritiker und Bearbeiter seiner Zeit.265 Ramler war neben Klopstock lyrisches Vorbild der Göttinger, zumindest in der Anfangszeit des Bundes; Klopstocks und Ramlers Oden gehörten ritualisiert zu den Sitzungen (vgl. oben 11/1, Die Sitzungen; vgl. auch die gleichartige Nennung von Klopstock und Ramler in Voß' An Andre (Bd. 1, Nr. 16), die einzige namentliche Erwähnung Ramlers im Bundesbuch). Boie kannte ihn persönlich - er hatte ihn im Winter 1769/70 in Berlin kennen gelernt - und verehrte ihn als »größesten Dichter unsrer Nation«, 266 und auch Voß schätzte ihn von Jugend auf.267 Hölty zählte ihn mit Klopstock und Kleist zu den »Schöpfern der deutschen Sprache« (an Brückner, Herbst 1772). Boie schickte Gedichte der anderen an Ramler mit der Bitte um Beurteilung (so wie er auch Vossens Übersetzungen Herder vorlegte). 268 Gegenüber Knebel bemerkte Boie: »Voß also gefällt auch Ramlern. Wie wird das den jungen Mann aufmuntern, wenn er's hört! [...] 262

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Horaz, poeta doctus, hat sich bei aller Polemik gegen den Geniegedanken der Vorstellungswelt alter Inspirationspoesie breit zu bedienen gewusst; vgl. zu Horaz Fuhrmann 1992, 111-144. Es ist hier nicht der Ort, dies weiter zu verfolgen. Einschlägige Äußerungen selbstverständlich bei Goethe, der in seinem letzten Brief, gerichtet an Wilhelm von Humboldt, mit Blick auf die Tätigkeit des Künstlers, schreibt: »Bewußtseyn und Bewußtlosigkeit werden sich verhalten wie Zettel und Einschlag« (17.3.1832). Textgenetische Untersuchungen haben eben die tatsächliche Verbindung von beidem bestätigen können, bei Goethe und anderen, vgl. Bohnenkamp 2002, bes. S. 78f. Aus Boies Brief an Ramler vom 19.3.1779 über den zweiten Band von Ramlers Bluhmenlese, ungedruckt, GSA 75/1,2,24. Der Begriff »Verbesserungsästhetik« in Anlehnung an Steffen Martus. Vorbericht zw Lyrischen Bluhmenlese, Ramler 1774/78, Bd. 1, S. Ulf. Vgl. zu Ramler Ramlers Leben, in Ramler 1800/01, Bd. 2, S. 307-325. Unter den älteren: Freydank 1928. Und neuerdings: Gudrun Busch 2003 und Kertscher 2003; zu seiner zeitgenössischen Rezeption Kosenina 2003. Vgl. zu Ramlers Gesamtwerk Anett Lüttekens Verzeichnis der zeitgenössischen Drucke Karl Wilhelm Ramlers 2003. Außerdem Gerlinde Wappler 1998, S. 152-165. Boie an Ramler, 16.1.1771, ungedruckt, GSA 75/1,2,24. Erhalten sind sechs Briefe aus den Jahren 1770 bis 1779, GSA 75/1,2,24; nur zwei Briefe Ramlers an Boie sind bekannt, vor 18.7.1772 und 10.5.1774, in Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin Bd. 3, 1904/05, S. 294-298. Von weiteren Gegenbriefen Ramlers weiß ich nichts. Vgl. Weinhold 1868, S. 29f. und 159-163. Vgl. Voß' Erinnerungen aus meinem Jugendleben, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 42f.; außerdem Katalog 2001, S. 42f. Vgl. Boie an Voß, 28.10.1771, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 64. Auch über Knebel gelangten Voß' Gedichte an Ramler, vgl. Voß an Brückner, 17.6.1772, und Boie an Knebel, 30.12.1771, KnebelNachlass 1835/36, Bd. 2, S. 111.

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Ich wünschte, daß R. seine bessernde Hand an die Winterode legte, und dem V. in einem Beispiele zeigte, welche Fehler er zu vermeiden, welche Vollkommenheiten zu erreichen hat.« 269 Boie teilte Voß, noch in Ankershagen, mit: »Die Freude nur kann ich Ihnen nicht vorenthalten, daß sowohl Herr Ramler als Herr Gleim, denen ich von Ihren Versuchen gezeigt habe, sich die größesten Hofnungen von Ihnen machen, und daß sogar der erste mir über verschiedene derselben seine Anmerkungen mitzutheilen versprochen hat.« 270 Entsprechende »Anmerkungen« sind nicht überliefert. Ramlers Bedeutung trat bald zurück. Voß stellte am 18. Oktober 1774 gegenüber Ernestine fest: »Ramlers lyrische Blumenlese ist da: fast lauter französische und englische Uebersezungen mit wizigen zugespizten Ausgängen, ohn Empfindung, ohne Gesang, gar ein Gedicht von Ewald! - ich weiß nicht, was ich von Ramler denken soll.« 271 Klopstock war »mit Ramlers Feilmuth unzufrieden«. 272 Schon vor der Bundesgründung hatte Boie geäußert: »Ich kann es unmöglich billigen, daß Ramler in die Werke eines schon verstorbenen Dichters seine Änderungen hineinbringt.« 273 Später hat Boie auch seine formale Überlegenheit in Zweifel gezogen: »Was Ramler wol zu Voßens Urtheil über seinen den Alten nachgebildeten Vers sagen wird. Das ist doch wol Grundgesetz der Prosodie, daß keine Stammsilbe kurz gebraucht werden darf, und wider dieses verstößt der Mann, der nach einigen das non plus ultra deutscher Kunst sein soll, unter fünf Versen gewiß in dreien« (Boie an Bürger, 14.1.1790). 274 Der Autor interessiert Ramler nicht. Wer ein Gedicht geschrieben oder bearbeitet hat, ist für Ramler - so heißt es unbekümmert im Vorbericht zur Lyrischen Bluhmenlese - »eigentlich eine sehr gleichgültige Sache«. 275 Mit Selbstverständlichkeit geht Ramler davon aus, dass es in der Dichtung ein Richtig und Falsch gibt und dass »Fehler« verbessert werden können. Manche der anderen Dichter hätten wegen bürgerlicher Geschäfte keine Zeit für das Ausfeilen: 276 Dichtung sei ein Nebengeschäft; ein anderer, wie er, könne die Bearbeitung übernehmen. Die Frage nach einem originalen Kunstwerk< stellt sich nicht, v.a. nicht die nach dem Autor. Ramler weiß freilich von Einwänden, und er ist auffällig bemüht, diese Einwände zu entkräften: »Mancher ist sehr geneigt, die meisten Veränderungen, die von einer fremden Hand herkommen, den eigenen, alten Lesearten der Verfasser nachzusetzen.« 277 Im Vorbericht zum zweiten Band der Lyrischen Bluhmenlese 1778 gibt er außerdem wie in einem Rückzugsgefecht zu bedenken: »Wer in einem alten Gemähide vieles auslöscht, und etwas neues hinzuthut, der vertilgt gewisser massen das vorige Gemählde und setzt ein anderes an dessen Stelle. Die alten Lesearten unsrer gesammel269 270 271 272 273

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2.3.1772, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 117f. Boie an Voß, 4.3.1772, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 72. Nach Häntzschel/Lösener 1988, S. 161. So Voß an den Bund, 30.3.1774, nach Lüchow 1995, S. 211. 4.11.1771, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 107. - In den Briefen behält er eine verehrungsvollunterwürfige Haltung bei. Stolberg urteilte bald nach 1800: »[D]ie Berliner halten ihn für den größten deutschen Dichter, wir andern finden ihn kalt, er hat viel Kunst«, nach Behrens 1968a, S. 151. Ramler 1774/78, Bd. 1, S . V . Ramler 1774/78, Bd. 1, S. IXf. Ramler 1774/78, Bd. 1, S . V .

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ten Lieder hingegen werden durch diese Bluhmenlese nicht im geringsten vertilgt«. 278 Die Namen der Dichter nennt Ramler folgerichtig nicht. Neben den Gedichten der Lyrischen Bluhmenlese und der vorangegangenen Lieder der Deutschen 1766 hat Ramler auch größere Werke bearbeitet, namentlich Ewald Christian von Kleists Frühling (erstmals 1760) und Gessners Auserlesene Idyllen 1787 u.a. In Lessings Nathan und Minna von Barnhelm hat er »eingegriffen«, und Lessing hat ihn um die Mitwirkung bei seiner Werkausgabe gebeten. 279 Es kam gelegentlich vor, dass ein Dichter von sich aus Ramlers Kritik erbat. 280 Ebenso bat er selbst andere um Beurteilung. 281 Auch den Bruch mit dem Dichter nahm Ramler in Kauf;282 die Freundschaft mit Gleim zerbrach letztlich an Ramlers Eingriffen in seine Fabeln.263 Meist bearbeitete er ungefragt. Ein wichtiger Anstoß für die Bearbeitungen war, wie es in Goeckingks verblüffendem Bericht heißt, Ramlers Batteux-Übersetzung: 284 »Beym Aufsuchen der in diese Übersetzung aufgenommenen Beyspiele, las Ramler alle Deutschen Dichter mit b e u r t e i lendem Nachdenken durch. Diess brachte ihn auf ein Unternehmen, das einzig in seiner Art ist. Er wollte, dass die anzuführenden Beyspiele in einem Lehrbuche, das zur richtigen Bildung des Geschmacks besonders bestimmt war, ganz vollkommen seyn sollten. Wenn er also, selbst bey den besten Dichtern, zuweilen Nachlässigkeiten im Ausdrucke oder in den Gedanken fand, so verbesserte er sie mit derselben Treue, die er seinen eigenen Werken widmete, und rückte sie so seinem Batteux ein. Er gewann nach und nach immer mehr Geschmack am Verbessern fremder Arbeit, und gab nicht nur (1761) Lichtwer's Fabeln, sondern auch ganze Sammlungen der besten Lieder, Fabeln und Sinngedichte, von denen auch nicht Ein Stück ganz unverändert geblieben ist, nach und nach heraus.« 285 Ramlers Ansichten werden außer in den Vorreden der Lyrischen Bluhmenlese besonders im Briefgespräch mit Gleim deutlich, das immer schon - auch zehn bis fünfzehn Jahre vor Gerstenbergs und Herders geniezeitlichen Einwänden - die Begründungsbedürftigkeit der Fremdbearbeitungen offenbart. Durchgängig ist die unbewusst rechtferti278 279

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Ramler 1774/78, Bd. 2, S. V. Vgl. Lessing an Ramler, 16.12.1770: »Mit heutiger Post schicke ich bereits die ersten vier Bogen von diesen erneuerten und vermehrten Sinngedichten, und sie sollen schlechterdings nicht eher in die Druckerei, als bis sie Ihre Censur passieret sind«, nach Lessing 1988, S. 124. Vgl. auch Lessing an Karl Lessing, 8.1.1771, Lessing 1988, S. 142t. Uz bittet z.B. um Kritik seiner Oden, vgl. Gleim an Ramler, 26.11.1755, vgl. auch Ramler an Gleim, 2.12.1755. Ramler bittet Uz seinerseits um Kritik. Gleim übersandte er seinen >Batteux< mit den Worten: »Thun sie meiner Liebe zur Symmetrie doch diesen Gefallen und streichen die Wörter, die Gedancken, die Criticken an, die Ihnen Verbeßerung nöthig zu haben scheinen: solte das Buch auch gantz voll Striche werden«, 26.5.1756. Gleim an Ramler, 11.10.1754: »Ob Herr Lichtwehr ihre Veränderungen billigt? - Gewiß nicht. Und warum nicht? Weil er glaubt, daß er nicht zu verbeßern ist. Er hat noch den Groll im Herzen, weil er erfahren hat, daß Sie und ich, seine Fabeln ehe sie gedruckt sind, zu corrigiren uns haben einfallen laßen!« Vgl. Kosenina 2003, S. 142. Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret von Karl Wilhelm Ramler. Zweyte und verbesserte Auflage. 4 Bde. Leipzig 1762/63. Goeckingk, nach Ramler 1800/01, Bd. 2, S. 312f. Vgl. zu seinen Sammlungsvorhaben außerdem an Gleim, 22.7.1753 und 20.9.1754.

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gende Vorstellung, dass die »Verbesserung« eine Auszeichnung sei, die nur guten Stücken zukommen dürfe: »Man thut dis nur mit Liedern, die der Vollkommenheit so nahe sind, daß sie keine andre Fehler haben, als quae humana parum cavit natura; Fehler die ein anderer ehe sieht als der Autor« (Ramler an Gleim, 2.12.1755). Der Begriff des Autors spielt im Briefwechsel mit Gleim insofern immer eine Rolle. Schon am 13. Januar 1753 empfiehlt Gleim: »Denn wollen sie den Verfaßern, wenn es gleich Uze und Hagedorns sind, nicht anstößig werden, so müßen sie doch wohl einen Grund angeben, der der väterlichen Zärtlichkeit eines Autors für seine Wercke, verdaulich ist, als z.E. daß der Componist solche verlanget p.« Später meinte Ramler windig: »Ich werde alles auf die Componisten schieben, die diese Lieder, ohne diese Veränderungen, nicht componirt hätten. Ich werde dreist sagen, daß die Verfaßer diese Veränderungen mehrentheils selber gemacht hätten, daß die wenigen übrigen nicht würden übel genommen werden, weil deren Verfaßer viel zu philosophisch dächten, als daß sie sich um ein Paar verrückte Zeilen bekümmern solten & cetera« (an Gleim, 4.7.1753). Dass eine unbefugte Änderung die Autorschaft beeinträchtigen könne, wusste Ramler durchaus: »Die Verfaßer von den Stücken die aus den Bremischen Beyträgen genommen sind können sie von Cramern erfahren und sie uns nennen. Vielleicht nennt man sie beym Schluße des Wercks dem Publico. Doch dieses möchte wol darum nicht angehen können, weil ich verwegener Weise einige Aenderungen darinn gemacht habe. Die Verfaßer könten sagen: das ist mein Lied nicht, ihr bürdet mir eines fremden Arbeit auf. Beßer ist es wol also, daß man keine Nahmen specificirt, man menagirt sich immer noch eine Ausflucht. Man kan sagen: >es sind auch nicht eure Lieder, sondern man hat eure Lieder nur brav ausgeschrieben, weil man selber kein gantzes Lied zu erfinden taugteSatzungen< des Bundes fest: »Sintemalen aber die Kunst des Sanges schwer, und mancherley sind die Irren desselben, siehe! so ist ieglicher gehalten unter Uns, daß er alle und iede befrage, welches Gewichtes sein Werk sey; [...] | Und dann ieglicher gehalten, nach sattsamem Forschen, es sey Lobes oder Tadels, was er gedenket, zu offenbahren; [...] | Und hinwiederum gehalten iener, daß er wäge die Gründe des Urtheils und bessere sein Werk nach seiner Erkenntniß, auf daß es aufbewahret werde im Buche des Bundes« (14.11.1772). 314 Eben das, nicht die einfache Beteiligung aller Dichter, macht das Bundesbuch zu einem Gruppendokument. Mit dem Protokollbuch des Bundes liegt ein Dokument über den Verlauf der Sitzungen vor; über die gemeinschaftliche Kritik wird aber nichts ausgesagt. Die schriftlichen Rezensionen (von denen wir nur aus Vossens Brief an Brückner vom 3.11.1772 wissen) sind nicht überliefert. Es ist unbekannt, ob sie tatsächlich regelmäßig angefertigt wurden. Das Gruppengespräch ist nur über den Spiegel der brieflichen Berichte greifbar (vgl. bes. unten II/3, Bürgers Lenore und der Göttinger Hain und Kritik und Verbesserung im Brief). Wie weitgehend die allgemeine Kritik akzeptiert wird, zeigt sich daran, dass selbst Stolberg, erklärter Inspirationsdichter, sich diesem Brauch unterwirft, ja freudig teilnimmt (vgl. oben II/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk). Abweichungen davon, meist Missbilligungen von Boies Verhalten, sind erkennbar als Ausnahmen, in denen sich aber das Selbstbewusstsein der Einzelnen regt. Cramer schreibt an Bürger: »Das Schnällchen [abfällig für: Boie] hat sich nun auch endlich durch seinen critschen Übermuth bey den Stolbergs stinkend gemacht. Das Gedicht wovon der jüngste uns lezt den Anfang sagte, wo Du mit Recht das Gleichniß so bewundertest und das er noch gefeilt und herrlich verbessert hat, hat es für schlecht erklärt« (15.2.1773). Ähnlich klagt Hölty: »Es sind gute Stellen darin, ist das gewöhnliche Urtheil, das er [Boie] fället, wenn Stücke von uns gebracht werden, es ist ein Almanachsstück, denn das hält er für den Maaßstab der Vortrefligkeit, läßt er sehr selten hören. Boje ist ein sehr guter Mann, der alle Liebe verdient, nur eine Aristarchusmine kleidet ihn nicht. Meine Stücke scheinen gar nicht nach seinem Geschmacke zu seyn« (an Christian Stolberg, 2.12.1773). Am 1. Juli 1775 schreibt Stolberg an Voß aus Zürich: »[l]ch raune Ihnen ins Ohr mein liebster Voß daß man überall unzufrieden ist, daß Boje so viel geändert hat.« Mit der Infragestellung Boies als Kritiker wird aber nicht die Freundeskritik als künstlerisch-geistige Lebensform in Frage gestellt. Im Gegenteil, es gibt, wo Stolberg und Voß später zusammentreffen - und auch in Vossens Ehe - immer wieder Anklänge an die Bundessitzungen (»in der Laube einen Bundestag feiern«) 315 und Rückbezüge auf die Gruppenkritik. Ernestine Voß schreibt in ihren Erinnerungen: »Nach dem Frühstück ging ich mit Voß auf sein Zimmer. Da fing unser schönes Leben zuerst an, wo ich Theil 313 314 315

Vgl. Weinhold 1868, S. 278f., und III/2. Metelmann 1932, S.365. Vgl. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 2, S. 140.

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nehmen durfte an seiner Arbeit, und wo ich Siz und Stimme erhielt, indem er meinte, es würde ihm leichter bei einer Schwierigkeit, wenn er sich aussprechen könne.« 316 In den Eutiner Jahren, besonders in der Zeit, als Voß Höltys Gedichte zur Edition vorbereitete, gibt es zahlreiche solche Anklänge. Wiederum Ernestine berichtet über Stolberg: »Bei eigenen Arbeiten, die er noch feucht von der Dinte mittheilte, war er nach Bundessitte sehr empfänglich für Tadel, und konnte nach des Freundes Rath ohne Empfindlichkeit streichen und hinzufügen. Eben so fügsam war Voß, wo ihn Stolberg überzeugte, daß sein Tadel ungerecht sei.« 317 Auch beide Brüder Stolberg verbessern wie selbstverständlich gegenseitig ihre Arbeiten. 318 Die letzte Begegnung mit Miller 1804 in Ulm brachte dann auch die letzten »Bundestage«. Voß und Miller wurden, wie Ernestine Voß - allerdings aus stilisierender Rückschau, nicht zeitgleich - berichtet, »sogar so jugendlich, daß sie die beiden Samstage ihres Zusammenseins Bundestag hielten, und manches seitdem Geschriebene strenge kritisirten, auch Plane machten zu künftigen Arbeiten, ehe jeder diese schöne Welt [...] mit einer schöneren vertauschte. Voß hob sich in solchen Stunden einmal so weit, daß er zu Miller sagte: >Wenn Stolberg einige Tage unter uns lebte, er würde sich und seine jezigen Ansichten so weit in den Hintergrund stellen, daß er ein Bundesbruder sein würde wie in alter Zeit«. 319 Der Plan regelmäßiger jährlicher Zusammenkunft wurde nicht verwirklicht. Die Ulmer Bundestage waren die letzten. Voß führt noch kurz vor seinem Tod Korrekturgespräche mit Paulus in Heidelberg. 320 Fortsetzung der Gruppenkritik im Gespräch ist vollends die Dichtungskritik im Brief (vgl. unten II/3, Kritik und Verbesserung im Brief).

»und der ganze Hain hat accouchiren helfen« Bürgers Lenore und der Göttinger Hain Das am besten belegte Beispiel für einen Kritikvorgang liegt am Rande des Bundes: Bürgers Lenore. Wegen der räumlichen Trennung - Bürger war Amtmann in Gelliehausen; er gehörte dem Bund nicht an 321 - fand die Unterhaltung brieflich statt.322 Sie 316 317 318 319

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Nach Voß-Briefe 1829/33, Bd. 2, S. 12f., vgl. dazu Meise 1994, bes. S. 44-49. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.1, S. 21. Vgl. z.B. Friedrich Leopold an Christian, 20.2.1787. Nach Voß-Briefe 1829/33, 3.2, S. 35f. Zur Einschätzung des Zusammentreffens 1804 vgl. von Stosch 1997, S. 35-37. Im Folgejahr 1805 schreibt Voß verklärend: »Siehe, wie wunderbar: die lezten Treuen des Bundes am Abende ihres Lebens an Südströmen benachbart! Wer das in Göttingen uns geweissagt hätte!«, an Miller, 14.8.1805. Später hat er gegenüber Miller den Bund nicht mehr erwähnt. Vgl. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.2, S. 218. Vermutlich wäre Bürger dem Bund beigetreten, wenn man ihn gebeten hätte; vermutlich hat man ihn nicht gebeten, weil man, besonders Voß, seine Überlegenheit fürchtete. Vgl. Stolberg an Voß, 16.11.1773: »Von Bürgern wünsche ich daß er möge Lust bekommen, daß er ansuchen möge, daß er mit ganzer Empfindung der Grösse unsers Bundes bitten möge aufgenommen zu werden, und daß er aufgenommen werde. Der Grund seines Herzens ist warlich sehr gut. [...] Als Dichter ist er des Bundes werth«, nach Hellinghaus 1891, S. 5. Voß schreibt an Stolberg, 28.11.1773: »Bürger muß hereinkommen und bitten. Ich habe nichts wider ihn. Auf Seiten des Poetischen würd' er den Bund gewiß nicht schänden, und sein Herz, soweit ichs kenne, ist auch sehr gut. Nur muß es auch in seinen Gedichten sprechen. Das hat's bisher noch nicht«, nach Behrens 1965, S. 57. Zu Bürgers Lenore vgl. schon Prutz 1841, S. 252-272 (mit einer ersten Auswertung des Briefwechsels mit dem Hain), sodann u.a. Kayser 1936, S. 89-100; Schöne 1954; Staiger 1963, S. 75-119

Zur Poetik des Göttinger Hain

343

lässt Rückschlüsse auf die Gruppenkritik der Göttinger zu. Auffällig ist: An Bürgers Lenore, der wirkungsgeschichtlich wichtigsten Ballade der Geniezeit - Staiger pries sie als »deutsche Urballade« 323 - , haben andere Dichter Anteil, durch Anregung und durch Einzelkritik. Die Lenore ist im Laufe einer längeren Schaffenszeit im Sommer 1 7 7 3 e n t s t a n d e n . H e r d e r s Briefwechsel

über Oßian

und die Lieder

alter

Völker fließt in

die Ballade ein (»Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einiger Maßen entsprechen«, an Boie, 18.6.1773). Goethes Götz von Berlichingen habe ihn, schreibt Bürger, »wieder zu 3 neüen Strophen zur Lenore begeistert!« (an Boie, 8.7.1773). 324 Am 9. September 1773 schickt er Boie den Text für den Musenalmanach und bittet ausdrücklich: »Fragen Sie auch die andern um Rath. Ich wollte Sie convocirten

ein Concilium·,

und

nähmen das Stück recht fleißig und collegialiter in Untersuchung. Aber die Untersuchung muß nicht allgemein seyn, sondern ins Detail gehn. Auch hab' ich die liebe Zeit von aller eürer Weißheit, wenn ihr mir nicht, bey aufstoßendem Fehler, oder Mangel, das Fleckchen zeigt, wo ich, eürer Meinung nach, hätte hintippen sollen. Einige Stellen, wo ich Ausdruck und Versification verbessert wissen möchte, hab' ich mit diesem Zeichen θ bemerkt.« Und er fügt gar hinzu: »Wenn Ihnen und Consorten der Dialog zwischen Mutter und Tochter nicht gefallen sollte, so geb' ich anheim, ob man ihn nicht gar weglaßen könnte?« Die Göttinger maßen der Ballade sofort überragende Bedeutung zu; den Korrekturwunsch haben sie ausgiebig beantwortet. Am 12. September 1773 schickt Cramer großes Lob und - eine genaue Kritik: »Indessen, weil Du den Bund doch invitirt hast dran zu feilen; so will ich hier auch mein Schärflein von Anmerkungen geben«. Bei seinen Hinweisen - sie beziehen sich auf zahlreiche einzelne Wörter und Wendungen und werden ausführlich begründet - gibt er auch Äußerungen einzelner und des ganzen Bundes wieder. Beispiele: »Die folgenden Strophen sind superior! Nur bet ein Unser

Vater

geht durchaus nicht an. Kein Mensch im gemeinen Leben spricht anders als Vaterunser. Auf meinen Vater wurde einmal in ganz Lübeck gelästert da er Unser Vater und nicht Vater unser auf der Canzel gebetet hatte. Stolberg hat eine Veränderung gesagt, die, ob mir gleich der wiederholte Reim nicht gefällt, ohnstreitig doch besser ist.

323 324

(zur Mitwirkung des Hains bes. S. 91-94); Weißert 1993, S. 61-74 (mit neuer Literatur), Kemper 2002, bes. S. 233-238. Zum Vorgang der Gruppenkritik einschlägig sind die Briefe Bürger an Boie, 6.5.1773, 10.5.1773, 27.5.1773, 18.6.1773, 14.8.1773; sodann Cramer an Bürger, 18.8.1773; der Hain an Bürger, 18.8.1773 (wiedergegeben im Kommentar zum 13.8.1773), Bürger an den Hain, 19.8.1773, Bürger an Boie, 9.9.1773; beide Stolbergs an Bürger, 11.9.1773; Cramer an Bürger, 12.9.1773; Bürger an Boie, 13.9.1773; Boie an Bürger, 13.9.1773; Bürger an Boie, 16.9.1773; Boie an Bürger, 17.9.1773; Cramer an Bürger, 17.9.1773; Boie an Bürger, 18.9.1773; Bürger an Boie, 18./19.9.1773; Bürger an Boie, 20.9.1773; Bürger an Boie, 27.9.1773; Bürger an beide Stolbergs, Ende September 1773; u.a. Schon ein Jahr zuvor hat Boie Bürgers Dichtung beurteilt, vgl. z.B. Boie an Bürger, 6.8.1772 und 12.9.1772. Am 27.1.1773 räumt Bürger ihm gegenüber ein: »Sollten noch kleine Nachläßigkeiten seyn, die ich so geschwind nicht entdeckt haben möchte, so feilen Sie solche gütigst weg.« Zu Cramers Anteil vgl. auch Krähe 1907, S. 62-64, 66f. Staiger 1963, S. 76. Des Weiteren gibt es Einflüsse und Anregungen vom Volkslied, Kirchenlied, von Shakespeare u.a. (kaum dagegen, entgegen früherer Annahmen, von Percy). All dies ist in unserem Zusammenhang nicht entscheidend.

344

Dichter und Dichtung im Göttinger Hain Vater unser Denn Gott erbarmt sich unser.

[•••]

Mit dem: Wie ritten die Todten will noch niemand im Hayne eins werden. Miller sagte: Wenn man beym ersten Augenblick warnimmt daß der Dichter künsteln will, so thut er wenig Effect. Dazu meint Hahn, die Dactylen drückten nicht einmal das Reiten recht aus, sonst müßte ein jeder Hexameter einen Ritt vorstellen. - Und dann noch eine Hauptanmerkung des Hains, der ich sehr beytrete: Von da wo L[enore] aufs Pferd steigt, bis ans Ende verliert man sie ganz aus dem Gesichte, und doch ist sie die Heldinn des Stücks.« Am folgenden Tag schreibt auch Boie an Bürger und geht die Ballade »Strophe für Strophe« durch, wiederum mit Anmerkungen zu einzelnen Worten (»Gattinn ist zu modern; vielleicht Weib und Mutter«), Stilebene, Klang usw.: »Str. 19. Über das Haho\ haho\ ist großer Streit unter unsern Freunden gewesen. Haho! ist der Fuhrmannsruf, sagen sie, der hier nichts thut, und den man ohne Lachen doch nicht hört. Ich weiß nicht. In der alten Ballade fragt der Reiter ein paarmal: Schön Liebchen graut dich nicht? Das und ihre Antwort: ich bin ja bey diή hätte vielleicht genutzt werden sollen und an diesen Stellen vortreflich werden können. Den hüpfenden Ausgang: Wie ritten die Todten - wollen sie und kann ich doch immer auch noch nicht recht billigen. Str. 21. Das gurgle kann und mag ich nicht. Warum nicht das einfache: singe? [...] Im Hain wünscht man die Länge der Reise mehr angedeutet, und etwan durch Bestimmung der Oerter anschaulich gemacht. Z.E. sie ritten über den Fluß, Berg u.s.w.« Kurz danach Bürgers sehr ausführliche Antwort an Boie (16.9.1773), in der Bürger kurzerhand erklärt: »Einige Verändrungen zur Lenore hab' ich gemacht. Die übrigen mögt Ihr selbst machen. Ihr Herrn, das ist keine Kunst, daß Ihr bloß sagt, das und das taugt nicht. Das seh ich oft leider Gottes! selbst wohl. Aber anders machen sollt Ihr! Und das wird einem Fremden oft leichter, als dem Verfasser selbst. Bey einigen ist es geschehn, wir wollen also pünctchen für pünctchen durchgehen.« In ein und demselben Atemzuge mit bildreicher Rede zur Inspirationspoesie bittet er dringlich um Kritik: »Über Nacht, Freünd, bin ich des heiligen Condorgeistes vollgewesen, und habe drey so herrliche Strophen zu gemacht, daß Ihr für Freüde mit den Flügeln klappen werdet. Es kam kein Friede in meine Gebeine die ganze Nacht, und selbst im Traume dichtete ich. Eüre Idee, die weite Reise anzudeüten, konnte schwehrlich besser hineingewebt werden. Aber, Leütchen, nun bitt' ich eüch auch, helft mir noch zu einigen kleinen Verändrungen, die mir schlechterdings nicht glücken wollen. Wohlan! laßt uns eüre Kritiken durchgehn.« Nun äußert er sich zu den Strophen und stimmt den meisten Göttinger Anregungen zu. »Leütlein! was sagt ihr zu diesen Einschiebseln? Sind sie nicht überköstlich? Und konnte eüre Idee vollkommener ausgedrückt werden? Ich muß für eüren mir gegebenen Wink von Herzen danken. Im übrigen bin ich mit Ihren Vorschlägen zufrieden [...]. Aber statt gurgle, ist singe zu schwach. Der Geist muß eine eigne gräßliche Sprache führen. Und das gurgeln klingt mir gräßlich. Eben weil kein anderer lebendiger Mensch so spricht, so muß ein Gespenst so sprechen. Auch muß der Küster, der ein Gespenst ist, nicht singen, sondern gurgeln. Beherzigen Sie dies; und dann machen Sie's wie Sie wollen. Ich bin ganz und gar auf meine Meinung nicht erpicht.« Die Grenzen der Gruppenkorrektur werden auch bald sichtbar. Im Rahmen erneuter Einzelkritik schreibt Boie an Bürger: »Str. 19. Da ist nun das schlimmste. Wie sollen die

Zur Poetik des Göttinger Hain

345

Verse voll werden? Wir haben alle versucht. Keiner kann. Nur der Dichter der L. selbst kann sie recht machen. Ich kann nicht helfen. In einem Liedchen flickt wol noch ein Fremder ein glückliches Zeilchen herein; in einem so originalen Stücke schwerlich« (18.9.1773). Boie, der Kritiker, spricht durchaus geniezeitlich von Originalität. Erteilt ein »Resultat unsrer Beratschlagungen« mit, aber: »Ich geb Ihnen nur die rohe Idee. Sie werden schon was draus machen, wenn sie gut ist.« So kann Bürger endlich mitteilen: »Ich liege noch in den Sechswochen mit meiner Lenore, und bin noch zu schwach um schon wieder zu concipiren. Diese Geburt ist mir noch zuletzt sehr schwehr geworden, und der ganze Hain hat accouchiren helfen. Ein Wink des Hains hat mir noch zu einigen neüen Strophen Anlaß gegeben auf die ich nicht wenig stolzire. Ich kann nicht bergen, daß ich sie selbst für vortrefflich und eine sogar für Shakespear\scb erhaben halte« (an die Brüder Stolberg, Ende September 1773). Und unmittelbar anschließend Stilisierung reinster Inspirationspoesie, Bürger würdigt die Strophe »Wie flog, was rund der Mond beschien...« als seine beste: »Ist ein Ritt, wo einem deücht, daß das ganze Firmament mit allen Sternen oben überhin fliegt, nicht eine Shakespearscbe Idee? - Das merkwürdigste ist, daß ich diese Strophe im eigentlichsten WortVerstande getraümt habe.« Gruppenkritik und Inspirationsvorstellung gehen eine nicht zu entflechtende Mischung ein. 325 Mit Adler- und Kondormetaphorik weist Bürger sich als Geniedichter aus. Er preist sich selbst als »Condor«, »[d]enn der Titul eines Adlers scheint uns itzt zu klein zu seyn, daher wir uns denn den eines Condors des Hayns beygeleget« (an Boie, 14.8.1773). Die Göttinger gehen auf diese Metaphorik ein, indem sie Bürger zu einem »Sperber« zurückstufen und selbst Adler zu sein beanspruchen. 326 Gleichwohl gibt es, bei sprachlichen Feinheiten, Wörtern, Metrischem eine gründlich eingreifende Gruppenkritik, die bis zu Gestalterischem reicht (Lenores Ritt). Die Gesamtanlage wird freilich nicht berührt. Der Dichter >gebiertGeburt< hätte - das ist allein bemerkenswert - Monate gedauert. 327 Das ungefestigte Ich des Dichters schwankt zwischen scherzhaft stilisierter Selbstüberhebung (»Condor«) und Zweifeln (»Ich bin ganz und gar auf meine Meinung nicht erpicht«). Ähnliches gilt auch für die Göttinger selbst. Beide Richtungen entsprechen zwei zur Epo325

326

327

Vgl. Staiger: »Es ist ein wunderlich großes Schauspiel: auf der einen Seite die zwar begeisterten, aber doch ihres Richteramtes besonnen und mit gehörigem Selbstbewußtsein waltenden Freunde, auf der andern Seite Bürger, der sich noch immer ob seiner eigenen Leistung nicht zu beruhigen weiß, am liebsten jeden Einwand mit dem >Götzlnspiration< oder (kollektives) Handwerk. In einem Bericht über Overbecks Bekanntschaft mit dem Hainbund heißt es: »In Göttingen pflegten die Freunde poetische Wettkämpfe anzustellen, und mein Vater erzählte es nicht ungern, daß er auch einmal die Palme davon getragen habe«, Overbeck 1830, S. 49. »Jezt kam Hölty, in seinem Staatskleide, worinn ihn Jeßen gesehn hat, mit seidnen Strümpfen, und einem alten abgeschabten staubichten beschmierten Hut, der zu Gellerts 2tem Buche der Fabel vom Hute der Held zu seyn schien. Ich ließ mich im Garten frisiren, weil ich des schönen Wetters wegen noch auszugehn vorhatte. Drauf tranken Rudolf, Hölty und Hahn Kaffee, und ich ließ mir Kirschen holen. Von ungefähr parodirte Hölty eine Strophe von Jakobis Liede: Wenn im leichten Schäferkleide; und daraus entstand wie der Bliz der Einfall, das ganze Lied zu parodiren, und dem Wandsbecker Boten zu geben. Wenn Männer, wie wir sind, etwas beschließen, so ists so gut als ausgeführt; in 2 Stunden war die Petrarchische Bettlerode fertig, die ich hiemit die Ehre habe, Ew: Ehrsamen zu überreichen. Selbst Rudolf hat daran gearbeitet«, Voß an Brückner, 8.8.1774, SHL Kiel, Cb 4.10:21. Vgl. beide Texte bei Hettche 1998b, S. 193f. und 520. Der Erstdruck im Wandsbecker Bothen, Nr. 139, 31.8.1774, verschweigt die Namen. Vgl. Voß 1804, S. XVIIf. Hölty ist, Voß' Brief nach zu urteilen, offensichtlich der Haupturheber, so schon Halm 1869, S. X, mit Bezug auf Voß 1804, S. XVIIf. Demgegenüber veranschlagt Redlich Höltys Anteil geringer, vgl. Redlich 1870, S. 236f., und 1871, S. 49 (mit Bezug auf S. 47). Vgl. außerdem Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 274, und Michael 1914/18, Bd. 2, S. 113. Erstdruck Wandsbecker Bothe, 15.6.1774, Nr. 95, ohne Verfasserangabe. Vgl. Voß 1804, S. XVIIf. Halm 1869, S. X, nimmt, wiederum mit Bezug auf Voß 1804, S. XVIIf., an, Hölty sei der Haupturheber. Demgegenüber Redlich 1870, S. 236f., und 1871, S. 47. Von Michael 1914/18 und von Hettche 1998b, trotz seiner Betonung der Autorschaftsproblematik, kommentarlos Hölty zugeschrieben. Wandsbecker Bothe, 25.4.1775, Nr. 65. Vgl. Redlich 1871, S. 56.

348

Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

Seladon«, und rückblickend teilt Voß mit: »Dieses Spottlied auf das Gesinge der Opern machte ich in Gesellschaft mit Miller, der mich in Wandsbeck besuchte.« 336 Das scherzhafte Frühlingslied eines gnädigen Fräuleins 1775 stammt von Voß, Miller und Closen. 337 Alle diese Gedichte sind handwerklich formbetont (die »bisher ungebrauchten Reime« sind eine besondere Formspielerei, vgl. im Einzelnen den Kommentar zu Bd. 1, Nr. 154; auch die Bettler-Ode bringt »ungebrauchte Reime< wie »Hutfilzsöckchen« - »Büffelröckchen«), und sie sind alle nicht ganz ernst gemeint. Das Lied eines Bleideckers wurde später im Musenalmanach unter dem bezeichnend-ironischen Titel wiederholt Scene aus einer ungedruckten ernsthaften Oper der Bleydeker genannt.338 Die Barden-Ode zieht z.B. das bei Ossian ernsthaft-schaurige Stürzen einer mächtigen Eiche ins Komische, indem Braga den stürzenden Stamm im letzten Augenblick zur Seite stößt und so den Barden rettet. Voß bekannte später zu dem Frühlingslied: »Dieses Lied war, wie mehrere, die der Aufbewahrung unwürdig schienen, ein gesellschaftliches Spiel, woran Miller und Hölty Theil nahmen.« 339 Dieses »gesellschaftliche Spiel« setzt sich in der Publikation fort in der fiktiven Verfasserangabe - das Lied eines Bleidekers und das Frühlingslied erschienen im Musenalmanach unter Kaspar Balthasar Ahorn - , die Voß bei scherzhaften und angriffslustigen Gedichten einsetzt, um mit der Autorrolle zu spielen. Hier verbergen sich mehrere Verfasser hinter Ahorn; hinter demselben Namen steht manchmal auch Voß allein.340 Offenbar ist Voß bei diesen Versuchen die treibende Kraft; schon Redlich hat vermutet, dass von ihm meist der Hauptanteil kommt. 341 Voß selbst bekundet: »Der Entwurf und das meiste der Ausführung ist von mir.« 342 Er befindet sich aber in einem Umfeld, das Freude an derartigen Versuchen hat - sie sind im Gefüge der Gruppe angelegt - , bei denen der einzelne Dichter hinter der Gruppe zurücktreten kann. Sie sind möglich, wenn ein besonderer formaler Aufwand erforderlich und/oder das Gedicht nicht ganz ernst gemeint ist. Nur in diesen beiden Fällen kann man von einer »kollektiven Autorschaft« sprechen (vgl. die Erörterung unten in II/3, Autorschaft und kollektive »Verbesserungsästhetik"), und auch hier ist offenbar ein einzelner federführend. In Fällen ernsthaft gemeinter Dichtung ist Derartiges nicht möglich. Wenn Ernestine einen anregenden Anteil an Voß' Liedern hat (vgl. oben II/3, Die Sitzungen. Kritik 336 337

338

339

340

341 342

Sämtliche Gedichte 6 (= Lyrische Gedichte 4), Königsberg 1802, S. 360. Voß'scher Musenalmanach 1776, S. 96-99. Vgl. Stammler 1914b, S. 179f., und Schräder 1984, S. 344, Anm. 67. Zu Closens Verfasserschaft vgl. Voß an Ernestine Boie, 20.4.1775, kurz nach der Entstehung des Liedes: »Ich hab' es noch in Göttingen mit Closen und Miller in Gesellschaft gemacht«. Vgl. außerdem Hölty an Voß, 8.5.1775. Von Adrian Hummel ohne Problematisierung der Autorschaft Voß zugewiesen, Hummel 1996, 448f. Hettche behauptet, wiederum ohne Begründung, Höltys Beteiligung, Hettche 1998b, S. 559. VMA 1778, S. 3 6 - 3 8 . Von Hummel ohne Problematisierung der Autorschaft Voß zugewiesen, Hummel 1996, S . 4 4 8 . Voß, Sämtliche Gedichte 4 (= Lyrische Gedichte 2), Königsberg 1802, S. 290. In der Ausgabe von 1785 sagt er nur »Einige Gedanken in diesem Liede sind von Hölty und Miller« (Inhaltsverzeichnis, ohne Seitenangabe). Statt Hölty ist aber offenbar Closen gemeint, vgl. oben. Vgl. z.B. Kahl 2001 b, S. 291. In ähnlicher Weise verbirgt sich auch Hölty manchmal hinter »Freund T.« oder »Vetter T.«, vgl. Hettche 1998b, S. 470. Redlich 1869, S. 236f. Vgl. Halm 1870, S. 158. So über das Frühlingslied, vgl. Sämtliche Gedichte 4 (= Lyrische Gedichte 2), Königsberg 1802, S. 290.

Zur Poetik des Göttinger Hain

349

und Verbesserung im Gespräch), bleiben diese doch Voß' Lieder, und wenn Voß vollends eine Ballade mit »Hölty und Voß« unterzeichnet (vgl. unten 11/3, »Freundschaftspflicht» - Vossens Hölty-Ausgaben) oder eine Ode Höltys um eine Strophe ergänzt (vgl. u n t e n 11/3, Höltys

Auftrag

- Gedicht

zweier

Autoren)

- hier h a n d e l t e s sich u m

ernsthafte Dichtung - , dann ist das nur möglich, weil nicht beide Dichter zugleich tätig sind. Kollektive Verbesserung, nicht gemeinsame Dichtung selbst, ist in der Gruppe möglich, und sie ist ihr eigentliches Anliegen.

Entfernungen: Kritik und Verbesserung im Brief Das beste Beispiel für die brieflich ausgetragene Kritik ist die Auseinandersetzung über Bürgers Lenore in den Briefen zwischen Boie, Cramer und Bürger (s. oben 11/3, Bürgers

Lenore

und der Göttinger

Hain),

a u ß e r d e m d e r B r i e f w e c h s e l d e s B u n d e s mit

Ernst Theodor Johann Brückner in Mecklenburg, der in weiten Teilen Kritik von Dichtungen enthält. 343 Das Gespräch in den Bundessitzungen ist nur über den Widerhall in diesen Briefen vorstellbar; die schriftlichen Kritiken zur Besprechung in den Sitzungen, die Voß erwähnt, sind nicht erhalten. Später setzten sich die Sitzungen ansatzweise in den Briefwechseln der Bundesbrüder fort. Briefkritik gehört aber von Anfang an zum Bund; die entscheidende Anfangsbegegnung, die zwischen Boie und Voß, beginnt mit Boies brieflicher Kritik von Voß' Gedichten. 344 Gegenüber dem auswärtigen Brückner (der beitreten soll) schreibt Voß: »Der Endzweck unserer näheren Verbindung, durch wechselseitige Kritiken einander aufzuhelfen und zu ermuntern, kann bei Ihnen schriftlich erhalten werden; denn schriftlich thun wir's sogar unter uns, um freimüthiger und richtiger zu urtheilen« (26.10.1772). Mündliche Kritik in den Versammlungen ist also ebenso wie die schriftliche Auseinandersetzung Grundbaustein des Bundes. Das Beispiel von Bürgers Lenore wurde schon besprochen. Fast alle Bundesdichter wandten sich in Briefen an Brückner: neben Voß - der ihn in den Kreis des Bundes einführte - Boie, beide Miller, Hölty, Hahn und Cramer. Voß' Briefe an Brückner sind der wichtigste briefliche Spiegel der Geschichte des Bundes und seiner Gespräche. 345 Die anderen Dichter teilten Brückner ihre eigenen Dichtungen mit und diese Mitteilung schloss immer eine Bitte um Kritik ein. 346 Im Herbst 1772 schreibt Hölty an Brückner: »Es folgen einige Gedichte von mir, darüber ich mir Ihr Urtheil ausbitte.« 347 Miller weist 343

344

345 346

347

Vgl. Voß' Briefein Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, unvollständig ergänzt durch Metelmann 1932, die Briefe der übrigen, darunter auch einige Briefe Brückners, bei Metelmann 1932 und Kahl 2001a, S. 112117. Vgl. zu Brückners Nachlass insgesamt Härtung & Karl 50; die hier verzeichneten Briefe und Gedichte befinden sich heute teilweise in privaten Sammlungen und sind der Wissenschaft entzogen. Vgl. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 57-72. Voß hatte sich zuerst an Abraham Gottheit Kästner gewandt, wiederum mit der Bitte, ihn »zum Richter meines Gesanges [...] erwählen« zu dürfen, weil er ihn für den Herausgeber des Musenalmanachs hielt, 8.7.1771, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 5 3 57, hier 54. Über Kästner kam Voß zu Boie. Vgl. grundlegend Beutin 1995 und von Stosch 1997. Im Katalog Härtung & Karl 50 erkennt man am übersichtlichsten, welche Gedichte bei Brückner eingesandt wurden. Ähnlich auch in Briefen an andere, so an Christian Stolberg, dem er am 2.3.1774 zwei Gedichte schickte: »Melden Sie mir Ihr Urtheil darüber.«

350

Dichter und Dichtung im Göttinger Hain

Brückner auf seine Gedichte hin, die im Musenalmanach schon gedruckt sind: »Ihr Urtheil darüber, war' es auch noch so hart, wird mir sehr theuer seyn« (7.10.1773). 348 Auch die Kritik einzelner Gedichte Brückners ist erhalten; Hölty beurteilt Brückners Idyllen, indem er sie als Gattung würdigt, über die Eigenschaften des Dichters spricht und sich auch mit Empfehlungen zu Einzelnem äußert: »Ihre Idyllen hab' ich mit wahren Vergnügen gelesen. Sie haben eine glückliche Idee gehabt, die Scene aus Arcadien in eine Welt ungefallner Menschen zu versetzen. Kein Ausländer ist, so viel ich weiß, auf diesen Gedanken gefallen. Solche Idyllen müßen gewiß noch mehr intereßiren, als die arcadischen, so sehr den Christen intereßiren, als die arcadischen den Griechen. [...] Der Dichter muß sich ganz aus dieser Welt wegsetzen [...], hinzaubern, in eine Welt, wo kein Todt die Liebenden trennt, wo sie verklärt in eine noch glücklichre Welt entrückt werden [...]. Mischen Sie so wenig Bilder aus dieser Welt, als möglich, unter ihre Paradiesbilder, und setzen Sie ihre Schäfer [...] in solche Lagen, in welche nur Bewohner einer Unschuldwelt kommen können. [...] Die Idylle, die beiden Kinder, ist ein Meisterstück [...]. Nach diesem sind die Verklärung, die beiden Reisenden, das Lied von der Liebe die besten, und können durch wenig Veränderungen vollkommen gemacht werden. Die Einleitung, glaub ich, bedarf einer gänzlichen Umarbeitung. Sie ist zu lang, und hat zu viel neue Bilder. Das Gewitter hätte mehr Eindruck machen können, wenn Handlung in die Schilderungen eingewebt wäre, wenn Eloni und Icelia entweder selbst wären verklärt worden, oder ein ander treues Paar hätten verklärt werden sehn. Das Bild von dem herabhängenden Seraphsmantel ist hier vortreflich, ein Bild, das bloß auf ihre Unschuldwelt paßt« (ca. 1.3.1773). Ziel der Ausführungen Höltys ist die Verbesserung der Dichtung, genau dem von Voß benannten »Endzweck« entsprechend: Sie sind eines der feinsinnigsten Beispiele brieflicher Dichtungskritik. Ähnlich eingehende Ausführungen im Brief Millers an Brückner, der ebenfalls die Idyllen aus dem »Land der Unschuld« als Idee würdigt - er fordert sogar eine »Theorie« von Brückner ein - und einzelne Gedichte bespricht. 349 Freilich ist auch ein weniger ernsthaftes Urteil möglich, das vor allem zustimmend ist und nicht auf Verbesserung zielt: »Ihre Idyllen haben mich größtentheils unendlich vergnügt. [...] Vorzüglich gefallen mir die Fischeridylle, der Traum, da das Mädchen von ihrem Jüngling träumt, der auf dem Baume sizt, der HufSchmidt, die Verklärung, und noch ein paar, davon mir die Titel nicht einfallen. Ausführlich und offenherzig wollt' ich Ihnen meine Meinung über die kleinen Theile derselben sagen, als sie Herr Voß an eben dem Tage, da wir sie in eben dieser Absicht zusammen durchlasen, verlohr. Sobald wir wieder Abschriften davon haben, werd' ich Ihnen darüber schreiben, offenherzig, wie ein Deutscher, wie ein Bundesbruder es thun muß. Das Lied an die Quelle unter Ihren älteren Gedichten hat, bis auf einige Kleinigkeiten meinen völligen Beyfall; eben so der Todte Vogel; ich wüste niemanden, der die Kinderbegriffe, und die Kindersprache so glüklich auszudrükken wüste, als Sie, mein Liebster. Die Fischeridylle ist eine so glükliche Geschichte der Liebe von ihrer ersten Entstehung an, daß zwar

348 349

Nach Kahl 2001a, S. 115. 20.2.1773, nach Metelmann 1932, S. 376f.

Zur Poetik des Göttinger Hain

351

Tausend Jünglinge sie schon so gefühlt, aber nie noch so wahr erzählt haben [...]! Überhaupt das ist der Charakter Ihrer Gedichte, daß immer die Schöne des Herzens voranfliegt. Wer mit dieser ersten Eigenschaft eines wahren Dichters, und mit soviel Genie sich an Ausarbeitungen waget, dem darf um den Beyfall der Welt nicht bange seyn« (Miller an Brückner, 7.10.1773). 350 In der Bitte um Klopstocks briefliche Anmerkungen im Frühjahr 1773 im Zusammenhang der Sammlung Für Klopstockfand diese Fernkritik ihr wichtigstes Beispiel (wenngleich Klopstock enttäuschend wenig mitteilte). 351 Auch vor und neben Klopstock werden bedeutende auswärtige Kritiker hinzugezogen. Wie schon gezeigt, bekommt Ramler einige Gedichte zu lesen (vgl. oben II/3, Kritik und »Verbesserungsästhetik« bei K. V\/. Ramler)\ auch an Knebel schickt Boie einiges, und man wünscht »sehnlichst, Ihre Gedanken darüber zu hören«. 352 Herder erhält Übersetzungen von Voß zur Begutachtung (vgl. unten III/3, Übersetzungen). Beide Brüder Stolberg schicken ihre Gedichte von Göttingen aus an Johann Arnold Ebert in Braunschweig. 353 Und Voß erbittet rasch auch von seiner späteren Braut Ernestine Boie ein Urteil: »Sagen Sie mir über meine Gedichte Ihr aufrichtiges Urtheil, das sind Sie mir schuldig. Die natürliche Empfindung gilt mir über alles Regelgeschwäz. Was Ihnen gefällt, muß eine Regel geben, wenn sie noch nicht da ist« (21.12.1774). 354 Die Sitzungen sind bis zum 27. Dezember 1773 im Protokollbuch festgehalten. Über ihren weiteren Verlauf gibt es keine genauen Nachrichten (vgl. oben N/1, Die Sitzungen, und Kommentar zum 27.12.1773). Man versprach sich, im Briefwechsel die gemeinsame Kritik fortzusetzen, ja betrachtete den Briefwechsel als Fortsetzung der Sitzungen; die Kritik in dieser Zeit kurz nach den Abschieden ist insofern besser überliefert, obgleich ein ritualisierter Ablauf des Briefwechsels schon aus Umfangsgründen nicht zustande kam. Voß schlägt vor: »Das Herumschicken der Bundesgedichte würde bey unsrer Entfernung und bekannten Nachlässigkeit fast ein Jahr dauern. Wär es nicht besser, wenn sich jeder der kleinern Unbequemlichkeit unterwürfe, seine Stücke für jeden Trupp besonders abzuschreiben und dann die eingeholten Urtheile im Auszuge an Klopstock, der die lezte Stimme haben soll, zu schicken?« (an Stolberg, 29.12.1774). 355

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Nach Kahl 2001a, S. 113. Vgl. Lüchow 1995, S. 167-169 und passim, außerdem oben 11/1, Dichtung zwischen Klopstock und Wieland. 27.8.1772, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 135. Vgl. Schüddekopf 1886 und Mix 1994. Christian Stolberg an Ebert 28.4.73 »Sie, mein liebster Herr Ebert, haben von einigen kleinen Versuchen in der Dichtkunst von mir, so sehr gütig geurtheilt, dass ich es wage, Ihnen noch einige Versuche zu überschicken. Wie würden Sie mich erfreuen, und aufmuntern, wenn Sie die Güte haben wolten, mir scharfe Kritiken darüber zu machen!« Friedrich Leopold in demselben Brief: »Ich bin so kühn mein theurester Herr Ebert! Ihnen einige Verse von mir zu schicken. Ich unterwerfe sie ganz Ihrem Urtheile, ο wie würden Sie mich erfreuen wenn Sie mir scharfe Kritiquen darüber machten!«, nach Schüddekopf 1886, S. 478. Auch Boie war mit Ebert lebhaft verbunden, vgl. seine Briefe an ihn in Mix 1992. Hier ist nur beiläufig darauf hinzuweisen, dass Voß hiermit eine Haltung des Sturm und Drang ausspricht, die Empfindung über Regel und Kunst stellt. Die von Voß sonst vertretene Kritikauffassung ist aber zugleich der Vorstellung von Verbesserung und Richtigkeit ergeben, vgl. oben II/3, >Inspiration< oder (kollektives) Handwerk. Nach Bobe 1917, Bd. 8, S. 131.

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Ein Beispiel aus dieser Zeit ist Stolbergs Freiheitsgesang aus dem zwanzigsten Jahrhundert,356 Gegenstand des Briefwechsels zwischen Stolberg und Voß und auch Gegenstand der Auseinandersetzung mit Klopstock: »Ich denke viel an die FreiheitsGesänge. Groß sind die Schwierigkeiten aber fest mein Entschluß. Kl. hat mir gerathen nicht ein ganzes daraus zu machen, sondern einzelne Gesänge deren jeder ein ganzes ist. Ich werde also wohl keine Chöre haben« (Stolberg an Voß, 17.5.1774). 357 Das letzte Wort soll Klopstock haben: »Ich will Klopstock meine alte u: Ihre Lesarten schicken« (Stolberg an Voß, 31.1.1775). 358 Die Überschrift Freiheitsgesang aus dem zwanzigsten Jahrhundert - Stolberg wollte ursprünglich Ein Jahrhundert nur noch - greift dagegen Vossens Anregung auf: »Die Erdichtung ist meisterhaft und Stolbergisch. Ich nehme die Ueberschrift aus. [...] Sagen Sie lieber unbestimmt: Freyheitsgesänge für unsre Enkel« (an Stolberg, 29.12.1774). 359 Stolberg: »Die Ueberschrift? Ich will Ihnen ein Jahrhundert schenken. Aus dem 20sten Jahrh. Für unsre Enkel meinten Sie. Aber da ich wie ein Prophet die Zukunft als vergangene Zeit vorstelle, so scheint mir die Ueberschrift: >für unsere Enkel· der Illusion zu schaden.« So deutlich lässt sich die Verschmelzung zweier Gedanken selten belegen. Stolberg bestätigt, Vossens Briefkritik habe ihn »so angefeuert daß ich seit ich Ihrem [so] Brief habe fast nichts anders denke als FreiheitsGesänge. Denken Sie viel dran, u: rathen Sie mir«.360 Die briefliche Kritik schlägt sich in den Gedichten tatsächlich nieder; es handelt sich nicht (immer) um ein folgenloses literarisches Gespräch, wenn dies auch selten so belegt ist wie hier. Oftmals ist die Kritik Ausdruck von Zustimmung oder Ablehnung, die sich nicht in Verbesserung niederschlagen kann. Miller kommentiert und würdigt im Brief vom 24. Mai 1774 einige Gedichte Stolbergs, er teilt aber, wie gegenüber Brückner, mehr seine Rührung mit und beabsichtigt keine tatsächliche Beeinflussung. 361 Umgekehrt bittet Miller aber lebhaft um Kritik seiner Romane, die kurz nach der Göttinger Zeit erschienen sind, namentlich Beytrag zur Geschichte der Zärtlichkeit. Aus den Briefen zweier Liebenden (Leipzig 1776), Briefwechsel dreyer Akademischer Freunde (Ulm 1776) und Siegwart. Eine Klostergeschichte (Leipzig 1776).362 Von dem Briefwechsel über die Romane ist nicht viel erhalten, neben einem Brief von Closens vor allem Voß' Äußerungen. 363 Voß übt, ganz wie von Miller gewünscht, lebhaften Tadel, etwa an den »häufigen Tugendpredigten« im Siegwart (11.9.1776), wie auch am Ganzen. Er bedrängt Miller, den Briefwechsel dreyer Akademischer Freunde nicht fortzusetzen: »Das

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Im Juli 1775 als Einzeldruck, neuerdings Kelletat 1967, S. 195-201. Hellinghaus 1891, S. 17. Hellinghaus 1891, S. 29. Nach Bobe 1917, Bd. 8, S. 131 f. In demselben Brief kommentiert Voß auch den Rhythmus und schlägt eine Reihe von »Lesarten« vor. Beide Zitate und das in dieser Anmerkung folgende Stolberg an Voß, 31.1.1775, Hellinghaus 1891, S. 29. Auch Gerstenberg hat er um Rat gefragt: »Gerstenberg meint ich müste entweder ein Präludium machen oder dazwischen reden um die Dunkelheit zu vermeiden; das sehe ich eben nicht ein« (S. 30). Vgl. Bobe 1917, Bd. 8, hier S. 106t. Vgl. dazu zuletzt Breitenbruch 2000, S. 109-126 und 135-151. Vgl. Stammler 1914b, der einen Brief von Closens vom 25.6.1776 mitteilt, der auf Millers Bitte um Kritik antwortet.

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wünschte ich noch verhindern zu können. Durch eine mittelmäßige Schrift entehrst du zugleich ihre edleren Schwestern, und störst ihre Wirkung auf's Volk. [...] Willst du meinen Rath hören, so denke bei deinen künftigen Arbeiten [...] an Horazens nonum prematur in annum, oder wenigstens novum pr. i. a.« (d.h. »es bleibe neun Jahre verschlossen«, nach Horaz, Über die Dichtkunst, V. 388). In demselben Brief auch vernichtende Kritik einiger Lieder: »Das Bauernlied ist des Dichters von >Das ganze Dorf versammelt sichVerewigungstopos< (Ernst Robert Curtius), von Homer bis Klopstock, mit dem Hölty an einer abendländischen Tradition teilnimmt. Erst hundert Jahre später hat Karl Halm herausgefunden, dass Voß die dritte Strophe hinzugedichtet hat. 382 Höltys von Halm wieder aufgefundene Niederschrift von etwa 1774 überliefert nur die ersten beiden Strophen auf der Rückseite eines Leihscheins der Göttinger Universitätsbibliothek. 383 Voß veröffentlichte das Gedicht 1783 in

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Nach dem Erstdruck, Gedichte 1783, S. 191, bzw. Hettche 1998b, S. 215. Halm 1868, S. 35f. Sigle 32 des Cod. germ. 5194 a in der Münchner Staatsbibliothek, Abb. bei Kelletat 1972, S. 129.

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der Gedichtausgabe dreistrophig. Die Handschrift ist zwar im strengen Sinne kein Beweis, dass Hölty nur zwei Strophen gemacht und Voß die dritte hinzugedichtet habe. Eine spätere Hinzufügung durch Hölty selbst - auf dem Blatt wäre durchaus für die dritte Strophe Raum gewesen - ist aber aus zahlreichen Gründen wohl auszuschließen. Kelletat legt die Autorschaft Vossens für die dritte Strophe anhand von Metrik und Satzbau fast mit Beweischarakter dar. 384 Er zeigt, dass die dritte, zumal im Satzbau etwas ungelenke Strophe, Vossens metrischen Ansprüchen, aber nicht Höltys mutmaßlichem Empfinden entspreche (die ersten beiden Strophen, je ein einziger Satz, fließen leichter dahin). Über die Autorschaft der dritten Strophe wurde eine lehrreicher Streit geführt. Rudolf Lennert fragt, »wie es möglich ist, daß ein lyrisches Gedicht von so schwebender Zartheit und einer scheinbar so unlöslichen inneren Einheit zwei Verfasser hat«? 385 Lennerts Verwunderung ist statthaft, wenn man das Gedicht im geniezeitlichen Sinne für »einheitlich« hält (und der Reiz des vorliegenden Falles besteht darin, dass man dies auf den ersten Blick durchaus tun kann). Man kann das Gedicht immerhin sinnvoll zweistrophig wie auch dreistrophig lesen, ein Bruchstück ist es keineswegs. Die zweistrophige Ode gibt es festgeprägt bei Klopstock, z.B. Selmar und Selma (vgl. VB Nr. 114 und Kommentar). Die zweite Strophe ist Antithese der ersten, oder, wie hier, ihre Erfüllung (»wann« - »dann«). Die Motivreihe lautet: Freundschaft und Tod, Liebe und Harfe, also Lied und Dichtung. Die Motive sind verflochten; das rote Band, ein Liebespfand, ist festverschlungen mit dem Liedsymbol Harfe. Das Gedicht hat einen Schluss, »der alles offen läßt [...], einer, in dem durch den harten Klang dieses »flattert« hindurch die ganze Bitternis eines Lebens sich ausspricht, das weiß, daß es noch nicht vollendet ist und dennoch fort muß«. 386 Es spricht nichts dagegen, dass das Gedicht so wehmütig endete. Dreistrophig bekommt es einen anderen Sinn: Die Saiten tönen von selbst. Die Kinder hören es und auch die Kränze der verstorbenen Mädchen (die Kränze »beben«). Das Motiv der selbstklingenden Harfe erfüllt den Wunsch des Dichters nach Unsterblichkeit und greift auf die erste Strophe zurück; das Gedicht ist auch hier »in sich vollkommen und ein ganz neues Gebilde«. 387 Moritz Jahn hatte 1941 erklärt: »Erst die »zweifelhafte« dritte Strophe verleiht dem Ganzen den Zauber eines vollkommenen und in sich geschlossenen Gebildes«. Diese Erklärung verkennt den Charakter des Gedichts und ist offenbar geleitet von dem Wunsch, das Gedicht in der überlieferten, dreistrophigen Form zu rechtfertigen. Jahns eigentümliche Gedankenführung: »Auch wenn kein Beweis dafür zu erbringen ist, daß sie von Hölty selber herrühren, wohl aber dafür, daß Voß an diesen Zeilen herumgefeilt hat: sie sind dennoch echtester Hölty, und, dürfen wir hinzufügen, so unvossisch, wie nur irgend möglich. Selbst wenn jedes einzelne Wort dieser Schlußstrophe aus Vossens Feder geflossen wäre - was auch nicht zu beweisen ist; die Wahrscheinlichkeit spräche durchaus dafür, daß dies Gedicht den Gegenstand von Unterhaltungen 384 385 386 387

Kelletat Lennert Lennert Lennert

1972, 1965, 1965, 1965,

S. S. S. S.

131 f. Grundlegend außerdem: Lennert 1965. 76f. 80. 85.

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zwischen den Freunden gebildet hat - , selbst dann noch bliebe diese Strophe Höltys Eigentum; der Tote selber hätte hier dem lebenden Dichter die Hand geführt [...]. Diese Strophe müßte dann geboren sein aus einer Vergegenwärtigung fremden Wesens heraus«. 388 Jahn verfehlt (von sonstigen Fragwürdigkeiten nicht zu reden) das Gedicht durch seine Leitvorstellung »eines vollkommenen und in sich geschlossenen Gebildes«, ohne dabei zumindest Vossens Mitwirkung (»herumgefeilt«) abstreiten zu können. Tatsächlich mischen sich bei Voß das Bemühen um Höltys »wahre Meinung« also das Interesse an der Person des »Freundes« - und die sachliche Verbesserung also das Interesse an der »Güte des Ganzen«. In eben diesem Sinne erläutert er gegenüber Miller: »Ich glaubte es unserm Freunde und der Güte des Ganzen schuldig zu sein, diese Stücke druckfertig zu machen. Mich deucht, Eitelkeit kann bei meiner Arbeit doch wol nicht zum Grunde liegen; denn ich lasse meinen Freund manchmal neue, nicht üble Gedanken sagen, und niemand erfährt's, daß ich sie zuerst dachte« (an Miller, 4.4.1777). Dies kann man auf die Ode Auftrag beziehen. Voß stärkt, >konstruiert< den Autor Hölty (»niemand erfährt's«), sein eigenes Autor-Ich nimmt er zurück. Wenn er in der zweiten Vorrede zu Höltys Gedichten (1804) von »Gedichten von Hölty und Voß« spricht, so modifiziert er zwar sein eigenes Autorkonstrukt wieder, die Betonung des Autors als solchen oder auch: der Autoren nimmt er damit aber gerade nicht zurück. Vossens Haltung kommt Hölty insofern entgegen, als Hölty selbst hin und wieder mit der Autorrolle gespielt hat; er spricht von »T.« - seinem Verfasserkürzel im Musenalmanach auf 1775 - als von seinem »Vetter« oder »Freund«. An Charlotte von Einem schreibt er: »Da haben Sie ein Gedicht von Freund T. Mit der nächsten Post bekommen Sie einige von mir« (10.12.1774; vgl. auch an dieselbe, 13.12.1774, an Miller, 12.12.1774, an Boie, 4.5.1775). Beide Dichter haben dem anderen Mitsprache, ja Freiheiten eingeräumt und schon zu Lebzeiten gemeinsam gedichtet. Eine gemeinsam autorisierte Dichtung ist das dreistrophige Gedicht Auftrag freilich nicht. Eben dies gibt es, wie wir gesehen haben, nur in einigen (nicht ernst gemeinten) Sonderfällen. Lennert legt nahe, dass Voß in der Eutiner Zeit größter Freundschaft mit Stolberg und dessen ausgleichender ersten Gemahlin Agnes die dritte Strophe gemacht habe, als die Tage des Bundes in der Erinnerung wieder deutlich hervortraten. In diese Zeit fällt die Vorbereitung der gemeinsamen Ausgabe von Höltys Gedichten und Vossens Überlegung, aus dem Göttinger Bundesgeist heraus die llias gemeinsam mit Stolberg zu übersetzen. 389

388 389

Jahn 1964, Bd. 3, S. 166f. »Soviel ist sicher, daß es die Zeit freiesten, geistigsten Lebens in dem nicht immer freien und geistigen Leben Vossens, eine halkyonische Zeit liebevollen Umganges mit feiner organisierten, der •Tiefe im Antlitz der Welt< näher als er stehenden Menschen gewesen ist, in der diese Strophe und mit ihr das neue, dreistrophige Gedicht geboren worden ist«, Lennert 1965, S. 94. - Zum Vorhaben einer gemeinsamen llias vgl. oben II/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk.

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Zur gerechten Würdigung Vossens Wie wurden Vossens Eingriffe von den Zeitgenossen beurteilt? Boie kritisiert Voß' Hölty-Ausgabe: »Ganz neu waren mir das Mailied 13, Das Feuer im Walde, An den Mond 79, Das Blumenlied 152, Das Mailied 156, An die Nachtigall 154, Die Laube 165, Das Mailied 172, An die Apfelbäume 178, Der Liebende 180, An die Fantasie 182. Einige dieser Stücke glaub ich zu kennen, aber sie sind mir durch Aenderungen wie unkenntlich geworden.« 390 Boie hat aber der Ausgabe bescheinigt, sie werde »unserm edlen Freund ein dauernd Denkmal sein«. 391 Auch er hat die Gedichte anderer für den Musenalmanach bearbeitet (zu Boie und Götz vgl. oben II/3, Kritik und » Verbesserungsästhetik« bei K. W. flam/er). Hölty hat Voß immer zur Kritik aufgefordert (vgl. oben II/3, »Freundschaftspflicht« - Vossens Hölty-Ausgaben). Die Berechtigung zu der Kritik als solcher wurde selbst von Stolberg nicht in Frage gestellt. Auch Stolberg äußert vielfach ausdrückliche Zustimmung zu Vossens Kritik, auch er räumt ihm weitreichende Vollmachten ein (vgl. oben N/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk). Der Begriff des literarischen Eigentums war nicht der heutige. Zur gerechten Beurteilung müsste man im Sinne damaliger Ansprüche auch die »Richtigkeit« und die ästhetische Qualität hinzuziehen. Dies kann nur ein Gedankenexperiment sein, nicht eine historische Untersuchung. Wie schwer dies möglich ist, zeigt ein Beispiel aus dem Bundesbuch. Voß ersetzt in Höltys Nachtigall, handschriftlich im Bundesbuch, »Der grüne Wald | Und Busch erschallt | Von ihrer Minne. | Mit frohem Sinne | Hört jedermann | Den Vogel an« durch »Die junge Schaar | Geht Paar an Paar, | Im Schattengange, | Und horcht den Klang | Der Sängerin | Mit frohem Sinn«, und dieses wiederum durch »Manch junges Paar | Geht dort, wo klar | Das Bächlein rauschet, | Und steht, und lauschet | Mit frohem Sinn | Der Sängerin« (Bd. 1, Nr. 165, vgl. Abb. 2). Wilhelm Michael der erste, der gefordert hat, Voß historisch gerecht zu beurteilen 392 - hat Höltys Texte und Vossens Umarbeitungen von 1783 und 1804 untersucht und Beispiele neben einander gestellt.393 Trotz seiner Forderung wertet Michael in unzulässiger Weise. Er meint, Voß habe »ohne Zweifel eine Reihe von Stellen, die er zu bessern meinte, verschlechtert«. 394 Er bietet zwei verschiedene Formen von Änderungen dar: negative (reine Vermeidungen, etwa von Wiederholungen) und positive (die Gedanken und Bild schärften). 395 Im Einzelnen: Voß verbessere zum Beispiel grammatische Ungenauigkeiten (»Wie meinen Vater und Mutter« durch » 0 mehr, als Vater und Mutter«), er runde apokopierte Formen (»Mein Aug von Thränen naß« durch »Mein Auge thränennaß«), glätte Metrisches (»Wenige Wochen, da starb der verlaßne trauernde Wilhelm« durch »Wenige Wochen, da starb der verlassene traurige Wilhelm«), mildere Gleichklänge (»Es hatt' es noch kein Magellan« durch »Wo weder Cook noch Magellan«) usw. Voß zerstöre fast 390

391 392 393 394 395

An Voß, 24.11.1783, nach Weinhold 1878, S. 211, Anm. 2. Michael sieht darin freilich einen Ausdruck von persönlicher Verärgerung über Voß, Michael 1909b, S. 47; das wird sich nicht aufklären lassen. An Voß, 23.11.1783, nach Weinhold 1868, S. 90. Michael 1909b, S. 38 und passim. Michael 1909b, S. 3 9 - 4 9 . Michael 1909b, S. 39. Vgl. hierzu und zum Folgenden Michael 1909b, S. 4 0 - 4 6 .

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immer Anaphora (»Willkommen liebe Sommerzeit, | Willkommen schöner Mai« durch »Willkommen lieber, schöner Mai, | Der unsre Flur verjüngt«), lasse Strophen aus, streiche veraltete Formen (»einst« für »weiland«), mildere Bilder (»Und schwamm in lauter Blute« durch »Und träumte nur von Blute«) oder schärfe den Ausdruck (»Senkst du noch den Engelblick auf mich« durch »Senkst du noch den Vaterblick auf mich«). Die Ausgabe von 1804 bringt nochmals Änderungen, auch einige weitreichende Änderungen. Voß entschuldigt dies damit, die erste Ausgabe sei, durch den Geisler'sehen Raubdruck veranlasst, zu eilig erschienen (vgl. oben II/3, »Freundschaftspflicht« - Vossens Hölty-Ausgaben). Michael hält fest: Dass Voß »nicht alles geglückt ist, müssen wir ihm verzeihen. Denn bei seiner ausgesprochenen Persönlichkeit war er nicht fähig, sich dem Gedanken· und Stimmungskreis Höltys anzupassen«. 396 Damit ist freilich ungewollt die Grenze der Voß'schen Bearbeitung angedeutet. Ob diese Anpassung an einen »Gedankenund Stimmungskreis« überhaupt möglich wäre, kann nicht Gegenstand einer historischen Untersuchung sein. Voß selbst hatte das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, und dieses Bedürfnis, offenbar in Vossens polemischer Haltung verwurzelt, verrät, dass er selbst ahnte, bei seinen Eingriffen sehr weit - und wohl auch im damaligen Verständnis zu weit - gegangen zu sein: »Kein eiteler Trieb, eine Aristarchische oder Ramlerische Feile zu handhaben, leitete den Herausgeber; sondern der Auftrag des Vorangegangenen. [...] Der Verpflichtete hat in beiden Ausgaben bei jedem nachhelfenden Zuge den Geist des gereiften Hölty gefragt, und das ungefähr zu leisten gestrebt, was der Dichter selbst, wäre nur noch ein Jahr ihm vergönnt worden, mit freierer Hand und glücklicher geleistet hätte.« 397 Vossens Begründung ist autorbezogen (»Geist des gereiften Hölty«). Im völligen Gegensatz zu Ramler will er einen Autor zur Geltung bringen. Seine Änderungen sind - so sehr etwa Metrisches und Grammatisches eine Rolle spielt - davon geleitet und damit begründet, was Höltys Wille gewesen wäre, wie wenig greifbar dieser auch immer ist (für »Vossens« Ramler ist entscheidend, dass er Götz' Wille vollzog, wenn ihm auch manches misslang). Dabei ist auch seine eigene Mitautorschaft treibend - wie die Verfasserangabe »Hölty und Voß« verrät - , wenn er auch die Kennzeichnung seines Anteils in der Ausgabe von 1804 schließlich doch unterlassen hat. Nach 1809 bringt Voß in einer ausführlichen Streitschrift über Götz und Ramler die Argumente für Ramlers Bearbeitungen vor. Voß versucht breit nachzuweisen, dass Ramlers Bearbeitung Götz' Wille gewesen sei. 398 Offenbar rechtfertigt Voß aber doch vor allem seine eigenen Bearbeitungen. 399 Voß würdigt Ramler als »mitempfindenden 396 397

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Michael 1909b, S. 46. Vorrede zur Ausgabe von 1804, Hettche 1998b, S. 460. Ähnlich schon Boies Überlegung von 1779 »in des Verstorbenen Seele [also auf den Autor bezogen] eine kleine Verbeßrung [zu] wagen«, an Charlotte von Einem, 15.-19.11.1779, nach Steinberger 1923, S. 63. Vgl. Voß 1809, S. 57, 62, 65, 92 u.ö. Vgl. zu Götz und Ramler Kertscher 2003, S. 122-125. - Ein vergleichbares Beispiel: Voß beschwert sich über Fälschung und Unterschieben bei Des Knaben Wunderhorn (1806/08), vgl. Hummel 1996, S. 327-332. Bodes Vorhaltung, Voß habe sich an Höltys Gedichten »vergangen«, ist in dem erläuterten Sinne historisch ungerecht (so sehr seine Zurückweisung der Voß'schen Wunderhorn-Po\em\W wiederum berechtigt ist), Bode 1909, S. 21. Dies hat schon Herbst vermutet. »Der Uebereifer von Voss, womit er das Recht, ja die Pflicht Ram-

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und mitschaffenden Künstler[]«: 400 Er rechtfertigt die ältere - Ramlers - Dichtungsform in Begriffen einer neueren Zeit. Offenbar möchte er sich selbst als den mitempfindenden und mitschaffenden Künstler< sehen, weil er ahnt, dass er es nicht ist: weil er sich, wie Ramler, »selbst von Wohlwollenden verkannt« 401 fühlt. Dies kann man freilich nur vermuten.

»des Dichters und des Verbeßerers würdig« kollektive »Verbesserungsästhetik« und Autorschaft Es sind zwei Formen von Kritik zu unterscheiden: die in der Gruppe oder im Zwiegespräch, d.h. in Anwesenheit des Betroffenen, und andererseits die eines Herausgebers (oder Bearbeiters), der sich einem abwesenden oder verstorbenen Dichter widmet, mit und ohne dessen Billigung. Diese letztere vertritt namentlich Karl Wilhelm Ramler als unmittelbares Vorbild des Bundes, und Voß und in geringerem Maße auch Boie verfahren ähnlich. Voß fühlt sich in der Nachfolge der »Verbesserungsästhetik« des Bundes, wenn er Höltys Gedichte bearbeitet. Für das Bundesbuch und das Verfahren der Göttinger 1772-74 ist diese zweite Form, die >Verbesserung des Abwesenden«, nicht entscheidend. Der Autor ist im Gegenteil immer selbst und als anwesende Person beteiligt (und wo nicht - wie in Brückners Fall - wird er brieflich einbezogen). Wenn man mit Bezug auf das erwähnte Bild Chodowieckis Ramler und Voß als die Barbiere der Toten bezeichnen will: Barbiere der Lebendigen sind die Göttinger nicht. Für die Gruppe gilt nur, was »durchgehende gebilligt« ist. Es gibt keinen Fall einer Entscheidung gegen die Stimme des Autors. Walter Hettche spricht nun von der kollektiven Autorschaft der Gruppe, 402 von der »kollektiven Produktion und Autorisation der Texte im >Göttinger Hain««.403 Ist das berechtigt? Beginnt die »Funktion des einzelnen Autors [sich] bereits aufzulösen und in eine Autorengemeinschaft zu diffundieren«? 404 Gibt es tatsächlich ein regelrechtes »Changieren zwischen individueller und kollektiver Produktion«? 405

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lers zu jenen Umbildungen nachzuweisen sucht, erklärt sich aus dem Gefühl, dass er in dem Ramler'schen gewissermassen sein eignes analoges Verfahren rechtfertigte«, Herbst 1872/76, Bd. 2.2, S. 170. - 1796 lernten Voß und Ramler sich in Berlin kennen; Ernestine Voß berichtet: »Ramlern kennen zu lernen wurde Voß schwer gemacht; denn zu einer Zeit, wo Ramler alles mit seiner Feile bedrohte, hatte ihm das Gerücht Voßens Wort zugetragen: Ramler möge sich vor ihm hüten, er habe auch eine Feile. Als ihn daher Voß besuchen wollte, ließ Ramler sich verleugnen; bei einem zweiten Besuch ward er angenommen, und zwar sehr freundlich. Bei einem großen Mittagessen saß Ramler neben Voß, und unterhielt sich unaufhörlich mit ihm«, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 3.1, S. 112f. Voß 1809, S. 96. Voß 1809, S . 3 . Vgl. grundlegend das Nachwort der Kritischen Studienausgabe der Gesammelten Werke und Briefe Höltys (1998), außerdem den Aufsatz Im Hain, im Tunnel und im Teich. Autorschaft und Autorisation in literarischen Vereinen (1999). - Ich hatte mir diese Überlegungen zunächst selbst zu Eigen gemacht, vgl. Kahl 2002a, S. 34f. und 43, und 2002c. Sie lassen sich in dieser Zuspitzung aber nicht begründen, s.u. Hettche 1998b, S. 471. Hettche 1998b, S. 470. Hettche 1998b, S. 470.

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Es gibt durchaus kollektive Schreibformen, und sie sind sogar charakteristisch für den Bund: gemeinsame Briefe an Klopstock, an Brückner oder an Bürger und Versuche, Gedichte mit mehreren Verfassern zu schreiben (vgl. etwa die »Sendschreiben« des Bundes an Brückner, 14.11.1772, und an Klopstock, 24.3.1774, zu gemeinsamen Gedichten vgl. oben II/3, Gedichte einer Gruppe). Es ist Hettche auch darin zuzustimmen, dass die Frage nach dem einen autorisierten Kunstwerk - die Halm und Michael unter dem Einfluss der Goetheforschung umtrieb - falsch gestellt ist; das haben wir im Einzelnen gesehen (vgl. oben II/3, »Freundschaftspflicht« - Vossens Hölty-Ausgaben und Zur gerechten Würdigung Vossens). Nützlich ist auch Hettches Wendung »Variationen über ein Thema«. 406 Wenn man zum Abschied der Grafen Stolberg Millers Abschiedslied auf Esmarchs Abreise »auf die Grafen verändert«, 407 »variiert«, so ist dies amikale Gebrauchspoesie. 408 Der Text ist unfest, nicht autorfixiert. Es wäre unsinnig, dieses Lied als ein »originales« Lebenszeugnis zu betrachten. Freilich ist ein solcher »unfester« Text nicht ins Bundesbuch eingeschrieben worden, und freilich haben weder Hölty (im Musenalmanach) noch Voß (im Musenalmanach und in den Ausgaben) noch einer der anderen, so wie später Hettche, die »Variationen nebeneinander gedruckt; es gibt immer nur eine jeweils gültige Fassung. 409 Hettches Rede von der »kollektiven Autorschaft« ist vollends ein nützlicher Irrtum. Kollektive Autorschaft ist nur in den wenigen entsprechend auszuweisenden Fällen anzunehmen, wenn (erstens) ein besonderer formaler Aufwand erforderlich ist (»schwergereimte Oden«) oder (zweitens) eine Dichtung inhaltlich nicht ernst gemeint ist (Scene aus einer ungedruckten ernsthaften Oper der Bleydeker genannt, vgl. nochmals oben M/3, Gedichte einer Gruppe). Fast keines dieser Gedichte wurde aber des Bundesbuches für würdig befunden. Eine Ausnahme ist nur Vossens schwergereimte Ode An Cramer (Bd. 1, Nr. 154). Hier gibt es eine handwerkliche Unterstützung eines Autors - nämlich bei den besonderen Reimen - , der Autor bleibt als solcher aber namentlich sichtbar. Die Göttinger Dichter haben im Gegenteil Anteil an der Entwicklung, in deren Gefolge sich die Begriffe und die Größen >Autor< und »Schriftsteller durchsetzten. Eben dies taten die Göttinger »kollektiv«, d.h. durch die Gruppe: Die Gruppe billigt, was unter dem Namen des Einzelnen und nur von dessen Hand ins Bundesbuch eingeschrieben wird; eine Eintragung durch einen anderen wird als Sonderfall erörtert. 410 Ähnlich Klopstocks Teilnahme am Göttinger Hain. Klopstock will die Gruppe zu seinen Zwecken nutzen (»heilige Cohorte«), er taucht bei seinem Besuch in Göttingen ein in die Gruppe - deren Mitgliedschaft er formal erwirbt - , weil er als Autor gekränkt ist (Plan und 406 407

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Hettche 1998b, S. 471. Voß an Ernestine Boie, 18.9.1773, vgl. den Text in Miller, Gedichte 1783, S. 303-305. Ein ähnlicher Fall: Esmarch verändert 1777 anlässlich eines Geburts- und Vermählungstages ein Gelegenheitsgedichts Hahns, vgl. Langguth 1903, S. 148f. Amikale Poesie ist zum situationsbezogenen Gebrauch und nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. Vgl. dazu Mohr 1973, S. 24, und Lauer 2002a. Hettche betont, dass Hölty nicht in die Handschrift hineinverbessert, sondern immer neu abgeschrieben habe: »Die älteren >Fassungen< sind ihm also offenkundig nicht wertlos geworden«, Hettche 1998b, S. 470 - wertlos nicht, zum Druck kam freilich immer nur eine Fassung. Voß soll in Brückners »Namen« ins Bundesbuch einschreiben: auch bei der Einschreibung ist der Autor entscheidend, vgl. Miller an Brückner, 20.2.1773, Metelmann 1932, S. 377f.

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Misserfolg der Gelehrten Republik 1774). So beinhalten seine Überlegungen eine Zurücknahme des Autors zugunsten der Gruppe: »Alles was wir schreiben, muß strenge nach diesem Zweck, nach Geschmack und Moral geprüft werden, eh' es erscheinen darf. Er selbst [Klopstock] unterwirft sich dem Urtheil des Bundes« (Voß an Brückner, 17.11.1774). Ebenso stärkt die Gruppe ihre Göttinger Mitglieder wie eine »Ersatzheimat«, 411 die vorübergehend Anregung und Schutz bietet auf dem Weg zur Autorschaft. Jeder hat die Möglichkeit, Vorschläge und Eingriffe abzulehnen, wie sich an den Selbstständigkeitsbestrebungen gegenüber Boie zeigt (vgl. oben II/3, Die Sitzungen. Kritik und Verbesserung im Gespräch). Voß' postume Hölty-Bearbeitungen sind der Sonderfall. Die Abgabe von Lizenzen - etwa zwischen Hölty und Voß oder von Stolberg an Voß - geschieht im Vertrauen auf die Autorität des anderen und aus freien Stücken. Es ist nicht bekannt, dass Voß auf einer Lizenz gegen einen erklärten Willen beharrte, und es ist kein Fall bekannt, dass ein namentlich eingeschriebenes Gedicht im Bundesbuch dort stünde ohne den Beifall des Autors. Das zeitgenössische Inhaltsverzeichnis ist nach Autoren (nicht nach Gattungen) geordnet, die Gedichte vollends namentlich gezeichnet. 412 Auch Voß' Hölty-Bearbeitung hat anders als Ramlers Bearbeitungen vor allem das Ziel, einen Autor zur Geltung zu bringen und zu fragen, was Höltys »Wille« gewesen wäre: Es wird eher ein Autor verbessert als ein Text. Die Ramler'sche Korrekturvorstellung, die auf »Richtigkeit« zielt, steht dabei freilich immer noch im Hintergrund (vgl. oben II/3, Zur gerechten Würdigung Vossens), so wie sich andererseits die Betonung des Autors auch bei Ramler frühzeitig andeutet, etwa im Briefwechsel mit Gleim (vgl. oben M/3, Kritik und »Verbesserungsästhetik« bei K. W. ΠβηιΙβή. Ramler lässt bezeichnenderweise in seiner Lyrischen Bluhmenlese die Namen der Autoren fort, und ebenso bezeichnend ist die Unterhaltung zwischen Boie und Ramler über Ramlers Änderungen - und über die ungenannten Autoren. Überliefert sind nur Boies Briefe. Boie würdigt Ramlers Änderungen, aus denen er mehr gelernt habe »als in Büchern, die eigentlich die Kunst lehren wollen. Ich freue mich allemal, wo ich Ihnen ein wenig auf die Spur gekommen zu sein glaube«. 413 Boie nimmt Ramlers Verfahren bereitwillig und zustimmend an und schaut doch auch auf die Autoren, damit bei Ramler überraschend offene Ohren findend. Offenbar kennt Ramler selbst nicht alle seine Autoren und offenbar hat er Boie nach ihnen gefragt: »Ich kenne die Verfaßer nicht alle, die Sie nicht wißen; die ich aber kenne, will ich hersezen. Er dem ich einst alles war, unter dem Namen der Frl. v. A. ist von Miller, so wie: Komt ihr Frauen auf den Plan und: Siehe mein Röschen. Eudosia hab ich hier für eine Freundin auf ein Band drucken laßen. Nach den Verfaßern der 5 Stücke aus den Br.[emer] Beiträgen hab ich Herrn Schlegel schon vorher gefragt, weil auch ich Sie nicht kante. Die von Büsche, die ihr mich versteckt und mein Freund, du kanst mir glauben wolte er mir nicht sagen; nach seiner Miene aber zu urtheilen ist

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Vgl. Angelika Beck 1982, S. 74. Warum die Namen bei den wenigen Gedichten des zweiten Bandes fehlen, ist unbekannt, vielleicht nur aus Nachlässigkeit. Boie an Ramler, 19.3.1779, ungedruckt, GSA Weimar 75/1,2,24.

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er's selbst.« 414 Boie möchte die Verfasser sogar »entziffern«: »Die Verfaßer der Lieder des zweiten Theils kenne ich ziemlich alle; einen wahren Gefallen aber erweisen Sie mir, wenn Sie mir ein Verzeichniß der des ersten mittheilten, von denen ich viele nicht kenne, und manche vielleicht noch Ihnen entziffern könte.« 415 Auch in Boies eigenen Bearbeitungen deutet sich die Betonung des Autors an, wenn er von einem bearbeiteten Gedicht schreibt, es sei nun »auf alle Weise des Dichters und des Verbeßerers würdig«. 416 Im Vordergrund stehen Personen - neben dem »Dichter« steht der »Verbesserer« - , nicht die Sache. Nur formal ähnelt freilich diese »Verbesserungsästhetik« noch der Ramlers. Eben dies ist spezifischer Ausdruck einer allgemeinen, schrittweisen Entwicklung, einer, wie Hurlebusch an Klopstock zeigt, »grundlegenden Dominanzwende des Werk-Autor-Verhältnisses«. 417 Dem entspricht auch, dass Ramler, im Göttinger Hain zunächst gleichberechtigt mit Klopstock als Leitbild genannt, 418 für die Göttinger dann doch hinter Klopstock zurücktritt. 419 In eben dieser Zeit setzen sich die Begriffe >Autor< und >Schriftsteller< in Deutschland durch, einer künstlerischen und einer rechtlichen Entwicklung folgend, der Genieästhetik und der Entstehung des Urheberrechts. 420 Das Bundesbuch fällt in eben diese Zeit. Ein Meilenstein war Klopstocks Aufruf zur Subskription seiner Gelehrtenrepublik Hauptträger der Subskription war Boie - , die einer Aufwertung des Schaffenden, der schreibenden Person gegenüber dem fertigen Werk den Weg ebnete. 421 Klopstock wirbt für ein Werk, über dessen Inhalt er absichtsvoll nichts mitteilt: Man subskribiert eigentlich einen Autor, nicht ein Werk. Im Mittelpunkt stehen der schöpferische, spontane Autor - nämlich Klopstock selbst - und seine Gemütsbewegung, nicht so sehr der Aufbau des Werks und nicht das Verstehen des Lesers (allenfalls sein mitschaffendes Empfinden). In ähnlicher Weise bleiben die Pläne Klopstocks mit dem Bund lange Zeit im Dunkeln, ohne dass man deshalb ihre Bedeutung bezweifelte. Zu eben diesen Plänen gehören die Ausdehnung des Bundes und die Aufhaltung des »Strom[s] des Lasters und der Sklaverei« (Voß an Brückner, 6.3.1774), also die Ablehnung kultureller und politischer Fremdherrschaft, außerdem die Unterwerfung unter den Gruppenwillen, für Klopstock selbst noch überraschender als für die Bundesbrüder, die Klopstocks Schritt fast ungläubig annehmen: »Er will durchaus nicht mehr als Eine Stimme haben, und zwar, auf unser Bitten, die lezte« (Voß an Brückner, 17.11.1774). Die Einkehr in der Gruppe stärkt den vom Misserfolg gekränkten Autor Klopstock oder stärkt die noch 414 415 416 417

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Boie an Ramler, 19.3.1779. Boie an Ramler, 19.3.1779. Boie an Ramler, 16.6.1774, ungedruckt, GSA 75/1,2,24. Hurlebusch 2001, S. 13f. Das, was Hurlebusch an Klopstock zeigt, die »Bewegung« in der Dichtung und die »schöpferische Selbststeigerung«, trifft im Einzelnen freilich weder auf Voß noch auf Hölty zu - entscheidend ist die Vielgesichtigkeit dieses Umbruchs vom Werk zum Autor und die Überlappung von Vorstellungen, denn Voß ist nicht nur Klopstocks, sondern auch Ramlers Erbe. Dass Ramlers und Klopstocks Gedichte im Hainbund in gleicher Weise auf dem Tisch liegen, wird nur in Voß' frühem Brief an Brückner vom 3.11.1772 mitgeteilt, vgl. oben 11/1, Die Sitzungen. Für die Abwendung von Ramler und die Hinwendung zu Klopstock ist das »ungestüme Feuer« der Dichterpersönlichkeit entscheidend, vgl. Boie an Knebel, 30.12.1771, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 112, zitiert in II/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk. Vgl. Bosse 1981, nochmals Plumpe 1990 und Lauer 2002b. Vgl. Klopstock an Ebert, 5.5.1773, außerdem grundlegend HKA W, Bd. 7.2, bes. S. 234ff.

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vor dem Erfolg stehenden Göttinger Autoren. Aber sie lässt den Autor gerade nicht »diffundieren«. Der Autor bekommt sein Selbstbewusstsein aus dem Gefüge der Gruppe. Klopstocks Teilnahme an der Gruppe (nur) in einer bestimmten Lebenssituation ist so nichts wesentlich anderes als die Teilnahme der Göttinger an der Gruppe, die sie auch in einer biografischen Situation brauchen - dem Erwachsenwerden am fremden Ort und der Profilierung als Autoren. Besonders Miller hat sich in Bundesbuchgedichten als Dichter durch die Gruppe beschrieben. 422 Die biografielastige Philologie - das hat Marius mehrfach gezeigt 423 - wurzelt in dem empfindsamen Interesse an der Autor-Person, das maßgeblich mit Klopstock einsetzt und in Cramers Klopstockkommentaren, die nicht zufällig von einem Göttinger Bundesbruder geschrieben wurden, ersten schriftlichen Niederschlag fand, bis diese Richtung in der personenbezogenen Goethephilologie gipfelte. - Erst im 20. Jahrhundert stellte man wieder die Frage, ob aber der »Autor« zur Erklärung des Textes gebraucht werde und wie präsent er als Person in seinem Werk überhaupt sei? 424 Die werkimmanente Interpretation hat den historischen Autor zurücktreten lassen gegenüber dem sprachlichen Kunstwerk und seinem Erzähler. Die individuelle Autorschaft wurde auch von modernen Wissenschaften wieder in Frage gestellt (Psychologie, Soziologie usw.). Man sprach - dies ist sprichwörtlich geworden - vom »Tod des Autors« (Roland Barthes), man versuchte, den Autor aus der Interpretation zu verdrängen, Literarizität als gleichsam autorunabhängig zu erklären. Roland Barthes und Michel Foucault stellten einen eindeutigen, festen Textsinn in Frage, der durch Verweis auf einen individuellen Autor und seine Absicht gesichert werden kann. Für Barthes besteht der Text aus »einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen, von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur«. 425 So kann die »vielfältige Schrift [...] nämlich nur entwirrt, nicht entziffert werden«: 426 Ähnlich tritt bei Foucault die Frage nach der Absicht des Autors als einer individuellen Person zurück und mit ihr auch »Werk« und »Schreiben« zugunsten des Diskurses, in dem sich das Gesagte befindet und auf den der Leser das Gesagte zu beziehen hat. Vollends Formen kollektiven Schreibens im Internet führen die Auflösung des individuellen Autors fort, 427 der in dieser Weise erst ein Erbe der Klopstock-Zeit ist. Im Göttinger Hain wurde um die Herausbildung des Autors gestritten. Dieser »Diskurs« ist breit dokumentiert, ausdrücklich in den erhaltenen Briefwechseln, vermittelt im gesamten Bundes-

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Vgl. »Und Eures Beyfalls Lächeln, das den Dichter | Zu neuen Liedern aufgewekt«, Miller, An Hölty, Bd. 1, Nr. 155. »Alles was mir noch gelungen ist, hat nur der Bund, haben meine Freunde hervorgebracht«, Miller an Stolberg, 13.3.1774, Bobe 1917, Bd. 8, S. 94. Vgl. zuletzt Martus 2005. Vgl. die grundlegende Textausgabe Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko (2000). Nach Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 2000, S. 190. Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 2000, S. 191. Damit kommt der Leser als Deutungsgröße ins Spiel, dies führt zu einer Aufwertung der Rezeptionsästhetik. Vgl. Gamper 2000, S. 380. »Barthes' Vorstellung, >daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet< und damit keines Autors mehr bedarf, realisiert sich so mit besonderer Augenfälligkeit im Medium der elektronischen und vernetzten Schrift« (S. 381).

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buch; er ist ein Beitrag zum allgemeinen Autordiskurs. Das Bundesbuch selbst und seine zugunsten seiner Autoren verschleppte kollektive Edition ist ein Zeugnis autorschaftlicher Entwicklung: Bund und Bundesbuch werden überflüssig, bleiben aber wertgeschätzt. Das Frühwerk wird ambivalent: verworfen und doch aufgehoben. Der Verzicht aber auf die kollektive Gesamtausgabe bei gleichzeitiger Verwahrung der Reliquie Bundesbuch als historisch gewordenes Jugendwerk entspricht so der Entwicklung des Autorgedankens. Die Gruppenbildung ist nicht eine Alternative zur Genieästhetik. Sie ist ihr Medium. 428

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Zur Gruppenbildung für die Durchsetzung von neuen Standards (»negativ - in Abgrenzung von den herrschenden Positionen - definierte[] Avantgarde«) vgl. Bourdieu 1999, S. 422-427, hier 422.

4. Schluss Die Abkehr vom gemeinsamen gedruckten Bundesbuch s t e h t - w i e im Einzelnen dargelegt - im Zeichen autorschaftlicher Entwicklung. Die Gruppe ist für den Einzelnen nur vorübergehend nötig und nützlich. Das Fehlen einer modernen Ausgabe - trotz mehr als 150 Jahren wissenschaftlicher Germanistik - lässt sich zwar leicht äußerlich erklären: Der Umfang der Edition ist für eine Forschergruppe, eine Arbeitsstelle (wie bei Editionen und Kommentaren der letzten Jahre üblich) zu gering, für einen Einzelnen angesichts der kleinteiligen Fülle begleitender Quellen im Grunde aber zu groß. Dennoch lässt sich in beidem, der einstigen Zurückhaltung der ehemaligen Bundesbrüder wie der der späteren Philologie, auch eine Zurückhaltung gegenüber dem Dichterbund erkennen, die offenbar Gründe hat, die über ein (nach-)geniezeitliches Interesse am einzelnen Autor hinausgehen. Die Vorhaben zur Erweiterung des Bundes - maßgeblich von Klopstock betrieben und Ausdruck seiner >Krise< - erwiesen sich sofort, obgleich von allen Beteiligten, auch von Klopstock selbst, augenblicklich ernst gemeint, als fantastisch und nicht wirklichkeitsfähig. Sie wurden schon 1775 nicht mehr wirklich ernsthaft erwähnt. Auch die Rückschau späterer Jahre erweist Schwieriges. Die Wielandfeindschaft wird in Voß' Vorrede zur Hölty-Ausgabe verschleiert und die Bücherverbrennung als »jugendlicher Mutwille« verharmlost. 429 Es gibt gute Gründe, dies nicht zu glauben, wie Hans-Jürgen Schräder eindrücklich nachgewiesen hat. 430 Die allmähliche Hinwendung fast aller Hainbündler zu Wieland ist eine verstohlene Entfernung vom Feindbilddenken des Bundes. Die rückschauende Verklärung des Bundes bei Miller und Hölty, Stolberg und Voß - in Millers Gedichten setzt sie schon während der Bundeszeit selbst ein (vgl. Bd. 1, Nr. 155,166 u.a.) - entspricht nicht in allem der Wirklichkeit. Betrachtet man die Lyrik des Bundes, so zeigt sich, allein bei einem Blick in diese Ausgabe, eine erstaunliche Uneinheitlichkeit, sowohl der Formen wie der Gattungen wie der Themen. Üblicherweise wird der Göttinger Hain als eine Bewegung von »Anfängen« gewertet, 431 als Vorbereitung der Klassik, etwa im Blick auf die Lieddichtung oder auf antikisierende Formen. Immerhin gehören, wenn eine solche Wertung erlaubt sein mag, einige dem Bundesbuch zeitlich nachfolgende Gedichte zum Schönsten ihrer Zeit: Höltys Maynacht (noch in Voß' Bundesbuch als Nr. 47), Stolbergs Lied auf dem Wasser zu singen 1782 und andere. Voß' Luise ist ohne die im Bundesbuch eingeschriebenen frühen Idyllen nicht denkbar. Üblich ist die Zuordnung zu Sturm und Drang (Annette Lüchow) oder Empfindsamkeit (Jürgen Viering), z.B. aufgrund von Stolbergs Genieästhetik oder durch Formen der Klopstock-Verehrung und die Brief- und Freundschaftskultur. 432 An beidem hat der Göttinger Hain Anteil; hier ist natürlich keine Neubestimmung beabsichtigt, nur eine philologische Unterkellerung des schon stehenden Hauses. 429 430 431 432

Nach Hettche 1998b, S. 451, vgl. auch Schräder 1984, S. 349f. Vgl. Schräder 1984, hier bes. S. 353-355, und oben 11/1, Die Sitzungen. Vgl. schon Goethe in Dichtung und Wahrheit, HA Bd. 9, S. 534, später Schöne 1972 (unpag.). Annette Lüchow bezeichnet den Bund als den »geschlossensten Dichterkreis des Sturm und Drang«, Lüchow 1998, S. 433. Jürgen Viering rechnet ihn zur Empfindsamkeit, vgl. Viering 1997, S. 440.

Schluss

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Nicht ausblenden lässt sich jedenfalls eine Frage: die nach dem Verhältnis zur deutschen Geschichte, allein aufgrund von einseitigen Vereinnahmungen in der Wirkungsgeschichte. So nannte Julian Schmidt kurz vor der Reichsgründung den Hainbund »das Centrum des deutschen Selbstgefühls«. 433 Im 20. Jahrhundert dann eine >völkischvölkisch< wie die Männer des Hainbundes. Man kann über die künstlerische Bedeutung der Göttinger streiten; ihr leidenschaftliches, sich gegen jede Fremdtümelei aufbäumendes deutschvölkisches Wollen rückt sie von selbst in den Blickkreis gerade unserer Zeit.« 434 Und noch 1949 heißt es bei Ernst von Schenck: »Man kann sich die Geschichte des Deutschtums ohne diesen Bund schlechthin nicht denken, der ein Beispiel für das Aufbrechen der Jugendkräfte einer Nation bleiben wird.« 435 Später wurde zu Recht besonders die Frankreichfeindlichkeit hervorgehoben und angeprangert - so zuletzt in der grundlegenden Studie von Hans-Martin Blitz 2000, 436 es wurden aber auch Verharmlosungsversuche unternommen. 437 Das Bundesbuch ist auch hier eines der wichtigsten Dokumente der Überlieferung zur Sache. Voß schreibt an Brückner: »Das an Klopstock halt' ich für meine beste Ode, im Ganzen« (13.6.1773). Gemeint ist An Klopstock im Bundesbuch (Bd. 2, Nr. 25). Voß macht sich zum Sprachrohr einer verhängnisvollen Geisteshaltung: Er erhebt sich selbst, völlig ernst gemeint, zum Rächer der »Unschuld« und nimmt dazu »Jehovahs Kraft« für sich in Anspruch. Darüber kann man nicht leicht hinweglesen. Der Angriff richtet sich wie zahlreiche andere Gedichte des Bundesbuches gegen Christoph Martin Wieland, den man als zu freizügig, zu »französisch« empfand. Den Vorwurf, mit seinem Gedicht An die Herrn Franzosen (Bd. 2, Nr. 32) habe er es sich herausgenommen, »eine ganze Nation anzuschnauzen«, vermerkt Voß nicht ohne Stolz (vgl. Kommentar zur Stelle). Er bekennt ausdrücklich: »Die französische Nation im Ganzen hass' ich, mit jedem deutschen Patrioten« (an Brückner, 24.2.1773). 438 Neben der persönlichen wie wirtschaftlichen Unsicherheit der Hainbündler, besonders Vossens und Hahns, wirkt sich die schwierige Lage des Deutschen Reiches aus, das, in Hunderte Kleinstaaten zersplittert, keine nationale Identifikation bot - Klopstock, der »größte Deutsches lebte von der Gunst eines ausländischen Königs! - und deshalb übersteigerte Nationalgefühle und Feindbilder begünstigte. 439 Dieser Vorgang, verhängnisvoll wirksam in der gesamten deutschen Geschichte der letzten 250 Jahre, angelegt aber schon im Mittelalter, hat unbestreitbar einen frühen wichtigen Zeugen im 433 434 435 436

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Vgl. Julian Schmidt 1870 (unpag.). Zierow 1934/35, S. 185. von Schenck 1949, S. 73. Zu Vaterlandslyrik und Frankreichfeindlichkeit im Göttinger Hain vgl. besonders Blitz 2000, S. 3 7 5 398. Vgl. zu Verharmlosungsversuchen in der Literaturwissenschaft, die mit Teilinterpretationen das Unangenehme gerade umgehen, Blitz 2000, S. 396f. Die Ausnahme, die er anfügt - »Aber dies hindert mich nicht, einzelne große Männer, die sie gewiß haben, hochzuschäzen und zu lieben« - bestätigt nur, wie haarsträubend eine solche Aussage ist, weil sie den Anschein erwecken will, abgewogen zu urteilen. Vgl. Blitz 2000, S. 3 9 2 - 3 9 6 (Biographische und gruppenspezifische Erklärungen).

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Göttinger Hain und seinem Feindbilddenken. Stolberg bekannte gegenüber Klopstock: »Wir thaten zusammen warme Wünsche die Deutschen bald gegen die Franzosen fechten zu sehen« (Bericht über ein Gespräch mit dem Weimarer Prinzen Konstantin, 24.5.1775). Gedichte wie Voß' An Klopstock, sein Trinklied für Freye (VB Nr. 94) und einige andere des Bundesbuches - und man muss sie so ernst nehmen, wie sie gemeint waren - , helfen ebenso wie die vollzogene Buchverbrennung einen Nährboden zu Schlimmerem zu bereiten; eine »imaginierte, in lyrischen Texten beschworene Gewaltbereitschaft kann dann [...] in reale Aggression umschlagen«. 440 Das muss man eben so klar benennen, wie die plump-unhistorische Verbindung der Göttinger Bücherverbrennungen vom 2. Juli 1773 und vom 10. Mai 1933 zurückzuweisen ist.441 Die persönliche - und zugleich überpersönliche - Tragik Vossens war es, dass er das schematische Freund-Feinddenken der Bundesbuchzeit nicht mehr abzulegen vermochte 442 und damit - ungeachtet seiner Leistung als Lehrer wie als Schriftsteller und Übersetzer - geistigen Schaden gestiftet hat. Toleranz ist von ihm nicht zu lernen, 443 und Voß kann nur bei geschichtlicher Teilsicht als politisches Leitbild der Ge440 441

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Blitz 2000, S. 398. Vgl. erst jüngst Walter Müller, der ohne neue Begründung und fahrlässig vereinfachend schreibt: »Die Grundhaltung der Haingenossen zu Wieland und seinem Werk dürfte sich von jener der Göttinger Studenten zu den Schriftstellern, deren Bücher diese nach sorgfältiger Planung und Ankündigung am 10. Mai 1933 in Göttingen verbrannten, nur marginal unterschieden haben«, Müller 2003, S. 34. Vgl. grundlegend Krämer 2001, der vom »Denken in strengen Dualismen« spricht, hier S. 227. Voß' Wirkung als Polemiker beginnt mit den Gedichten des Bundesbuches, besonders den Michaelis-Oden (Bd. 1, Nr. 2; Bd. 2, Nr. 33), Mein Vaterland (Bd. 1, Nr. 32), An Klopstock (Bd. 2, 25) und An die Herrn Franzosen (Bd. 2, Nr. 32). Zu nennen sind sodann die Auseinandersetzungen mit Heyne, Lichtenberg, den Romantikern und später namentlich Stolberg, dem (neben dessen Bruder) einzigen verbliebenen Bundesbruder; die in der Rückschau verzerrte Darstellung des Göttinger Hains nimmt dabei vergleichsweise breiten Raum ein. Die Haltung ist die gleiche wie in An Klopstock im Bundesbuch: schablonenartige Schwarz-Weiß-Zeichnung, Mangel an Selbstkritik, ein Sendungsbewusstsein, dass sich selbst zum Richter, den Gegner zum Geisteskranken macht. - Voß' Polemik hat widersprüchliche Deutungen erfahren, schon im Göttinger Hain selbst, später dann einerseits polemische Ablehnung - Joseph von Eichendorff und August Wilhelm Schlegel - und andererseits Verherrlichung - Varnhagen von Ense, Heinrich Heine - bis hin zu fahrlässiger Verharmlosung und Entproblematisierung in der neueren Voß-Forschung, vgl. neuerdings Katalog 2001a (»grobkörnige Rhetorik«, S. 18 und 67-80); vgl. dort auch einige der einschlägigen Äußerungen über Voß (Eichendorff, Schlegel, Heine u.a.). Bemerkenswert ist namentlich Heinrich Heines Urteil, der bedauernd und in offensichtlicher Unkenntnis der darin liegenden bösen Ironie der Geschichte in der Romantischen Schule von 1836 feststellt: »Dieser Mann ist in Frankreich gar nicht bekannt, und doch giebt es wenige, denen das deutsche Volk, in Hinsicht seiner geistigen Ausbildung mehr verdankt als eben ihm. Er ist vielleicht, nach Lessing, der größte Bürger in der deutschen Literatur«, nach Heine 1979/81, Bd. 8.1, S. 144; vgl. zu Voß insges. Heine 1979/81, Bd. 8.1, S. 144-148. Heine preist Voß' »nordisch heidnische Starrheit«, Heine 1979/81, Bd. 8.1, S. 145, und besonders ausgerechnet die Streitschrift Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? 1819 (»Das war eine famose Geschichte«, Heine 1979/81, Bd. 8.1, S. 146), die Auseinandersetzung zwischen den beiden, die »endlich allein übrig geblieben [waren] von jener jugendlichen Dichterschaar«. Selbstverständlich hat Heinrich Heine auch zu Voß einen ironischen Abstand (»so ist mir als sähe ich den alten einäugigen Odin selbst, der seine Aasenburg verlassen, um Schulmeister zu werden«, Heine 1979/81, Bd. 8.1, S. 146). Das entscheidend Kritikwürdige ist, dass er Voß' Polemik für aufklärerisch hält und das sachlich Verzerrte in der Sache ernst nimmt. Dabei verkennt Heine, wie sehr Voß ungewollt jener Intoleranz Vorschub leistet, gegen die er sich selbst wendet. Der unsachliche Ton der Auseinandersetzung reicht bis in die jüngere Vergangenheit; so hat die DDR-Germanistik Stolberg einseitig verurteilt und Voß' Streitschriften als aufklärerisch zu retten versucht, vgl. Claus-Schulze 1976. Zur sachlichen Einschätzung vgl. Herbst 1872/76, Bd. 2.2,

Schluss

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genwart gelten. 444 Es gibt keinen Grund, dies zu beschönigen oder gar zu verschweigen, auch wenn es - naturgemäß - »den aus Schaden klüger sich dünkenden Nachgeborenen leicht« 445 erscheint: Und ob dies tatsächlich leicht sei, ist nicht einmal ausgemacht. Der Schaden ist umso tragischer, als Gegenkräfte bei aller Unterordnung unter Voß' Haltung schon im Göttinger Hain - und auch bei Voß selbst - wirksam waren: So berechtigt und nur allzu natürlich die Anknüpfung an die Dichtung des deutschen Mittelalters w a r - w e n n der »Minnesang« des Hains auch keine bleibenden Gedichte brachte - , so hat sie doch niemals (sieht man vom Französischen ab) die umfassenden Studien alter und neuer Sprachen beeinträchtigt, ja, »dieses Ausgreifen in fremde Literaturen [bewahrte] vor provinzieller Enge und Borniertheit«. 446 Die Minnesangstudien und das mit ihnen verbundene nationale Anliegen waren immer eingebettet in geschichtliche und literarische Studien vieler Sprachen. Mehrere Bundesbrüder verdienten Geld als Übersetzer; Hölty lernte und beherrschte sogar Spanisch und Italienisch und betrieb auch syrische und arabische Sprachstudien. Wenn Stolberg, unbeschadet seiner eigenen Vaterlandsrhetorik (vgl. Bd. 1, Nr. 29 und Nr. 105 und zahlreiche Gedichte der späteren Jahre), 1784 erklärt: »Vaterland hin, Vaterland her, Griechenland ist mir mehr als Vaterland, es ist das Mutterland meiner bessern Existenz, an seinem Busen allein kann ich athmen wenn diese infame moderne Welt mir zu eng wird« (12.4.1784, an Friedrich Münter), so ist er damit weltbürgerlichen Grundgedanken der Weimarer nicht fern und zugleich dennoch im Fahrwasser des »Hains«, der für Stolberg wie für Voß Ausgangspunkt griechischer Sprachstudien und der Kenntnis Homers war (Cramer hat dies im Bundesbuch scherzhaft besungen, vgl. Bd. 1, Nr. 174).447 Brückner und Boie formulierten schon in den Jahren des Bundes selbst Grundgedanken der Toleranz. In seiner Kinderidylle Jesus als Kind (VB Nr. 116) unterstreicht Brückner, dass auch Heiden selig werden könnten; sein Die Religionsverfolgungen (VB Nr. 117) wendet sich gegen die »Schwertapostel« (»Und wo ihr nicht mit Güte wollt, Soll euch der Teufel hohlen«). Von der Wieland-Fehde rücken beide ausdrück-

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S. 185, Behrens 1997, bes. S. 173f., und Kahl 2001a, S. 97-100, bes. Anm. 66f. Herbst schreibt: »Sein leidenschaftliches Vorgehen wird trotz aller Rechtfertigungsversuche, dem ersten und gesunden Gefühl wie der gründlichsten ethischen Prüfung ein Aergerniss bleiben, das dadurch kaum gemildert wird, dass man es >eine späte Nothwehr seines ganzen Wesens< nennt. Es ist eine Verletzung jenes νόμος άγραφος, von dem der grosse Historiker weiss.« - Die Wirkungsgeschichte Vossens als Polemiker wäre ein eigener Untersuchungsgegenstand. Einer in eben diesem Sinne selektiven Wahrnehmung entspringt Klaus Lüders schöner Satz: »Das geistige Erbe des Mecklenburgers Voß ist ein Baustein für unsere politische Kultur«, Lüders 1995, S. 14. - Besonders unangenehm erscheint es in der Rückschau, dass Voß Stolbergs Verdienste um die Freiheit der Leibeigenen, Hauptinhalt seines, Voß' eigenen, Denkens, verdrängt und sogar geleugnet hat, weil eine vielschichtigere Sicht Stolbergs dessen einhellige Verdammung erschwert hätte, vgl. Kommentar zu VB Nr. 121. Man muss geschichtlich gerecht anerkennen, dass zwei Hauptvertreter des Hains, Voß und Stolberg, sich über Jahrzehnte hinweg darum bemühten, auf je ihre Weise sich der Leibeigenenfrage zu stellen, dichterisch und Stolberg auch im Dienste der Eutiner Regierung. Dies ist überdies ein grundlegendes literaturgeschichtliches Ergebnis. Schöne 1972 (unpag.). Behrens 1988, S. 8. Die »vaterländische« Dichtung der Bundeszeit hat Stolberg freilich fortgeführt; 1815 erschienen in Hamburg in Anknüpfung an Göttingen die Vaterländischen Gedichte beider Brüder.

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lieh ab: »Ich halte dergleichen Gefechte für höchst unanständig für unsern Bund. Wir wollen Religion und Tugend angenehm machen. Das ist das Amt der Poesie und ihre ganze Macht, und das ist auch die Pflicht und die Krafft unsres Bundes. Wollen wir uns aber auf dem großen Theater mit den Narren herumschelten, so lacht uns die Welt mit ihnen aus« (Brückner an Boie, beide Miller, Voß, Hahn und Hölty, 28.1.1774). 448 Anders als Brückner vermochte Boie es auch, die Größe Wielands zu erkennen. Er sah es als sein Unglück an, »mit unter die Partheygänger gezählt zu werden, die einen nicht lieben können ohne den andern zu hassen« (an Klamer Schmidt, 25.4.1774). 449 Damit hat er genau jenes verhängnisvolle Freund-Feinddenken erfasst und verworfen, wenn er auch bei der Herausgabe des Musenalmanachs hinter Voß zurückstehen musste. Wie ist all dies - ähnlich den angeführten Überlegungen zur Autorfrage grundlegend dokumentiert durch das Bundesbuch - nun zusammenzubringen? Eine Gesamtheit anzunehmen ist immer umständlicher als schnelle Harmonisierung. Eine wissenschaftliche Ausgabe kann - auch mit ihren »bibliografischen Quisquilien« - der Versachlichung dienen, weil sie die geschichtlichen Quellen öffnet und weder Streitschrift noch Denkmal sein will.

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Metelmann 1932, S.414. Kahl 2003b, 154.

III. Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

1. Vorrede zur Edition Beschreibung der überlieferten Bücher Das zweibändige Bundesbuch, das Voß'sche Bundesbuch und das Protokollbuch des Bundes befinden sich seit 1926 im Bestand der heutigen Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen. 1 Die Bände des Bundesbuches messen ca. 17,5 χ 25 cm (Blattgröße), das Voß'sche Bundesbuch ca. 11,2 χ 18,5 cm; bibliografisch sind beide Oktavformat (dreimal gebrochener Bogen, acht Blatt je Lage). 2 Band 1 besteht aus ursprünglich 135 Blatt. Bl. XLV, LXXI, LXXII wurden zeitgenössisch herausgetrennt. Die alte Seitenzählung ist von ihrem Fehlen unberührt. Bl. XVI, XVIII, XXXIII, XXXIV, XXXVIII, XXXIX, XLVII, XLVIII, LXIII, LXIV, LXXVI, LXXXIV, Cl wurden etwas später - denn die zeitgenössische Seitenzählung wird unterbrochen herausgetrennt, davon Bl. XVI und XXXVIII 1926 wieder eingefügt (gefalzt). 3 Bis auf Bl. I, II, LXXVv, CXXVIIIv-CXXIXv und CXXXIIv-CXXXVr sind alle Seiten beschrieben. Band 2 besteht aus ursprünglich 118 Blatt. Bl. VII fehlt; unbeschrieben sind Bl. Iv-Ill und XXIX-CXVIIv. Das Voß'sche Bundesbuch besteht aus ursprünglich 264 Blatt. Bl. CCLVI fehlt; unbeschrieben sind Bl. Clr-CCLv und CCLIIIv-CCLXIVr. Die Seitenangaben im ersten Band sind von zeitgenössischer Tinte, die im zweiten später von Bibliothekaren mit Bleistift eingefügt, ebenso wie die Nummerierung der Gedichte in beiden Bänden (daher beide in []). Die heutige bibliothekarische Blattzählung im ersten Band erklärt den auf Blatt II unserer Zählung (nach bibliothekarischer Zählung Blatt III) eingeklebten Brief Hans Baedekers für Blatt II. Die Zählung hier beginnt dagegen mit dem ersten »natürlichen« Blatt - dem ersten Vorsatzblatt - und zählt auch zeitgenössisch oder im 19. Jahrhundert herausgerissene Blätter mit (es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie wieder auftauchen). Diese Zählung ist am historischen Buch interessiert, nicht am bibliothekarischen Istzustand. Dasselbe gilt auch für die Seitenzählung im Voß'schen Bundesbuch. Alle drei Bände sind in ursprünglich schwarz (oder sehr dunkelbraun) lackiertes, heute ungleichmäßig abgeriebenes, vermutlich russisches Kalbsleder (auf Pappe) gebunden. 4 Die Deckel sind gerahmt von goldenen Linien (Strich und parallele Punkt1 2

3

4

Signaturen: 8° Philol. 204 k _ n . Z u m Erwerb vgl. oben II/2. Im 19. und 20. Jahrhundert gebrauchte m a n die Formatbezeichnungen unabhängig von Bogenbrüchen und Blattzahlen nur noch auf die Höhe des Buchrückens bezogen; d a n a c h w ä r e n die Bände des Bundesbuches ein kleines Quartformat und nur das Voß'sche Bundesbuch Oktavformat. W a n n diese Blätter entfernt wurden, weiß ich nicht zu sagen. Michael: »Es darf wohl die V e r m u t u n g ausgesprochen werden, d a ß die fehlenden Blätter nicht erst von späterer Hand entfernt wurden, sondern d a ß irgend wer von den Bundesbrüdern selbst hier gewaltsam Kritik geübt hat. Jedenfalls sind durch diesen Verlust von 13 Blättern nur minderwertige Stücke unserer Kenntnis entzogen«, Michael 1909b, S. 127. Vielleicht wurden sie aber auch erst im 19. Jahrhundert entfernt und verkauft. Die Einbände sind zeittypisch und vermutlich sind sie aus Göttingen (ein auswärtiger Einkauf ist jedenfalls nicht gut denkbar). »Charles Hering aus Göttingen, um 1795 bis zu seinem T o d e 1815 in London tätig, führte viele Aufträge für den englischen Adel aus. Typisch für seine wie auch andere Einbände der Jahrhundertwende war der karge Schmuck; Lehrrahmen aus Goldlinien auf den Deckeln und spärliche Filetenzier und fleurale Elemente auf d e m Rücken, unter Umständen auch betonte In-

376

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

reihe), teilweise durch Abnutzung unterbrochen, und je unterschiedlichen goldenen Stempeln in den Ecken und auf den Buchrücken (Band 1 je Blumen; Band 2 Quasten, auf dem Buchrücken ebenfalls Blumen; Voß'sches Bundesbuch dieselben Blumenstempel in den Ecken und dieselben Linien wie bei Band 1; ob auf dem Buchrücken Stempel waren, ist nicht mehr erkennbar). Bei Band 1 und Band 2 wurden nicht dieselben Fileten verwendet; ob Band 2 eine spätere Bestellung ist - dies wäre sinnvoll anzunehmen - oder mit dem ersten zusammen gekauft wurde, lässt sich nicht sicher sagen. Band 1 und das Voß'sche Buch stammen offensichtlich von demselben Binder und wurden wohl gleichzeitig gekauft. Vermutlich wurden die Bücher vom Buchbinder mit ledernem Einband und Verzierung hergestellt und als solche fertig verkauft, vielleicht aber auch besonders angefertigt. 5 Zahlreiche Blätter haben ein Wasserzeichen (Band 1 Krone, darunter »S T«; 6 Band 2 wechselnd »I Ε S« und Wappen mit darin hängendem Posthorn, unten flächiges Kreuz; Voß'sches Buch wechselnd »HONIG« unter gekröntem Wappen mit unten hängender Glocke (durch den Seitenbruch nur teilweise erkennbar) und »C & L«. Diese Wasserzeichen sind kennzeichnend für Briefpapier, nicht für Druckpapier. Das Papier wurde etwa zwischen 1750 und 1770 geschöpft, im Falle des Voß'schen Bundesbuches mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch den niederländischen Papiermüller Honig. 7 Der Buchbinder dürfte für derartig ähnliche Bücher nicht Papier verschiedener Hersteller verwendet haben; vermutlich ist also auch das Papier der beiden Bände des allgemeinen Bundesbuches von Honig. Die Deckelinnenseiten und die jeweils gegenüberliegende Seite beider Bände des Bundesbuches sind mit unterschiedlichem marmoriertem Buntpapier ausgekleidet, das, obwohl auf den ersten Blick nicht typisch, jeweils zeitgenössisch ist,8 im ersten Band Tunkmarmor, im zweiten Kleisterpapier. Die Deckelinnenseiten des Voß'schen Buches sind mit zeitgenössischem Kammmarmor (>old dutch«) ausgekleidet, das sich auch in anderen Göttinger Bänden der Zeit findet; Vergleichsbeispiele stehen in der Forschungsbibliothek der SUB. 9

5

6 7

8 9

nenkantenvergoldung sind charakteristisch«, Mazai 1997, S. 293. Eben so sieht das Bundesbuch aus; es ist nur etwas früher. Vielleicht stammen die Bände, wie möglicherweise das Vorsatzpapier, von Wiederholdt. Zum Lederhandwerk in Göttingen im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Silke Buchhagen 1995, hier bes. S. 180-189 (»Studenten und Professoren als Kunden«) und S. 199-202 (»Der Buchbinder Christoph Gottfried Wiederholdt«), Darauf könnte Höltys Bemerkung im Brief an Brückner, ca. 1.3.1773, hinweisen: »[W]ir haben schon einen kleinen Folianten von 241 Seiten angefüllt, und müßen itzt den zweiten Band binden laßen.« Dieses Wasserzeichen kommt zweimal auch bei Hölty vor, vgl. Michael 1909b, S. 119. Für Auskunft zu Papier, Wasserzeichen und Einbindung danke ich Peter Gönczi, SUB Göttingen. Vgl. Loubier 1926, bes. Kap. 10, und Mazai 1997, Kap. 12.2, 13 und 19. Zu Honig vgl. Churchill 1935. Das Wasserzeichen des vossischen Bundesbuches ähnelt dem bei Churchill als Nr. 322 abgebildeten; nur ist bei Voß der Glocke nur ein Kringel eingezeichnet, der Schlagring ist räumlich angedeutet, und es fehlt die Ergänzung (& Zoonen). Das Wasserzeichen ist laut Churchill undatiert. Für eine entsprechende Mikroskop-Untersuchung danke ich wiederum Peter Gönczi. Möglicherweise stammt das Buntpapier in Voß' Buch vom Universitätsbuchbinder Johann Carl Wiederholdt, einem der ersten und geschicktesten Buchbinder, der Buntpapier herstellte und verkaufte, und der einzige, der zumindest seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts bis 1866/67 in

Vorrede zur Edition

377

Alle drei Bücher sind heute in gleicher Weise braun, ja, es scheint sich um dasselbe Leder zu handeln (das Voß'sche Buch ist aber ganz geringfügig dunkler). Herbst 1872, Redlich 1873 und Michael 1909b und 1918 haben das Voß'sche Buch als schwarz bezeichnet, die Bände des Bundesbuches als braun. Aber schon 1968 hat Irmgard Fischer alle drei Bücher als farblich völlig gleich beschrieben. 10 Der Kalbsledereinband aller drei Bücher war ursprünglich schwarz (oder sehr dunkel) gefärbt; durch die Jahrhunderte lange Abnutzung ist die Oberfläche abgerieben worden und das Naturbraun wieder hervorgetreten, beim zweibändigen Bundesbuch schneller als bei dem auch heute noch sehr geringfügig dunkleren Voß'schen Band. Dieser Vorgang ist auch von anderen vergleichbaren Ledereinbänden bekannt. 11 Das noch etwas kleinere Protokollbuch (ca. 9,7 χ 16 cm Blattgröße) hat einen graugrünen Pappeinband aus dem 18. Jahrhundert. Es ist geschrieben von Gottlob Dietrich Miller, nur ausnahmsweise von Voß (vgl. Kommentar zu den Stellen), und umfasst 92 Blatt, davon 71 beschrieben, einige doppelseitig. Vorne und hinten ist später je ein Blatt dazu geheftet worden; einige Blätter haben als Wasserzeichen »PRO PATRIA« und einen Ritter mit Helm, Helmbesatz, Lanze und links einen Schwan, wechselnd mit einem gerippten Rundbogen, jeweils durch den Seitenbruch nur teilweise erkennbar.

Textwiedergabe und Apparat Die Niederschrift ist im Bundesbuch (von besonders bezeichneten Ausnahmen abgesehen) grundsätzlich eigenhändig - dies ist sogar ein Gestaltungsgrundsatz - , in Band 1 jeweils, im Voß'schen Band meist mit namentlicher Unterschrift. Die Textwiedergabe erfolgt streng diplomatisch, soweit es möglich und sinnvoll ist.12 Im Einzelnen gelten folgende Regeln: Soweit möglich wird das Überlieferte dokumentiert und nicht vereinheitlicht: Miller beginnt zum Beispiel gelegentlich, auch am Zeilenanfang, Hauptwörter mit eindeutig kleinem, d.h. vom großen unterschiedenen h; dieses wird auch als kleines h wiedergegeben. Großes und kleines d sind nur bei Hölty sicher zu unterscheiden. Bei den anderen Dichtern wird im Datum (»Den 5. Mai«), sofern D am Zeilenanfang steht, immer der Großbuchstabe angenommen. Das gilt auch für den Zeilenanfang im Gedicht, denn dort ist offensichtlich einheitliche Großschreibung angestrebt. Ist ein Anfangsbuchstabe, wie erläutert, aber eindeutig klein (z.B. h), wird er auch klein wiedergegeben, auch zu Beginn einer Gedichtzeile. 13

10

11 12 13

Göttingen Buntpapier vertrieb. Allerdings ist ebensolcher Kammmarmor bei Wiederholdt nicht nachgewiesen; vgl. Deumling 1998. Irmgard Fischer 1968, S. 20. Der sehr dürftige Restaurationsbericht der SUB von 1986 gibt hierüber keine Auskunft. Darauf hat mich freundlicherweise Ulrich Joost hingewiesen. Vgl. zu Editionsprinzipien z.B. die grundlegenden Angaben in HKA Β 1, S. 444-450. Eine Ausnahme ist Ernestine Boie, die als Schreiberin in Voß' Bundesbuch vertreten ist, vgl. VB Nr. 125-129. Ihre Rechtschreibung und Handschrift sind vergleichsweise unregelmäßig, m und η oft

378

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Miller verwendet bei zusammengesetzten Hauptwörtern meistens, aber nicht immer Binnenmajuskeln: »MinneSang« neben »Minnesang«. Dies ist bei vergleichsweise großer Flüchtigkeit aber nicht immer genau zu unterscheiden. In solchen Fällen wird notgedrungen eine Regelmäßigkeit angenommen, die Miller selbst nicht ganz durchhält, und die Binnenmajuskel eingesetzt. Ähnlich nach Satzzeichen: Steht ein Ausrufezeichen im Satz, so ist danach von Kleinschreibung auszugehen. I und J werden bei Kleinbuchstaben unterschieden, meist nicht aber bei großen; daher wird bei der Wiedergabe der Großbuchstaben notfalls nach Ermessen zwischen I und J unterschieden (llion - Juno), auch wenn der Vergleich von i und j bei Kleinbuchstaben keinen Anhalt bietet. Unterstreichungen werden durch Unterstreichungen angezeigt. Doppelte Binde- und Trennungsstriche werden zu dem heute üblichen einfachen aufgelöst. Wenn sie einen verstärkten Gedankenstrich ausdrücken und also sinntragend sind, bleiben sie erhalten. Verdopplung von m und η durch Querbalken wird stillschweigend aufgelöst. Verschleifungen sind selten, da es sich um eine sauber geführte Reinschrift handelt, nur einige wenige im zweiten Band und in Voß' Bundesbuch. Sie werden, wo immer eindeutig, stillschweigend aufgelöst, ebenso auch bewusst gesetzte Suspensionsschlingen. Zweifelsfrei fehlende Umlautzeichen werden stillschweigend ergänzt (so z.B. im Protokoll, wo es gelegentlich »fünfzig« heißt). Vor Zeilenbeginn wiederholte Anführungszeichen (bei Anführungen oder Hervorhebungen, die sich über mehr als eine Zeile erstrecken) werden zu den heute üblichen Anführungszeichen zu Anfang und Ende aufgelöst (so in Bd. 1, Nr. 1, Str. 7, Nr. 64, Str. 6). Deutsche Schrift wird als Stempel G a r a m o n d wiedergegeben, lateinische Schrift als Gill Sans. Gelegentliche und vielleicht versehentliche (oder manieristische?) Reklamanten (bei einem von Anfang an gebundenen Buch unsinnig) werden nicht wiedergegeben, ebenso wenig wie gelegentliche Bleistiftergänzungen von Philologenhand (»Vgl Voß Briefe I 144«); sie sind etwa hundert Jahre alt (vgl. zu früheren Benutzern oben II/2). Auch sehr seltene versehentliche Verdopplungen (Dittografien) werden stillschweigend getilgt. Offensichtliche Schreibfehler, ein sehr seltener Fall, werden nicht dokumentiert und stillschweigend verbessert. Wurde ein Wort vergessen und sofort über der Zeile nachgetragen (in seltenen Fällen im Protokollbuch), so wird dies auch nicht gekennzeichnet. Andere Schreibfehler kommen nicht vor, es handelt sich um eine sorgfältig ausgeführte Reinschrift (hält man Briefhandschriften derselben Schreiber daneben, so wird ein grundlegender Unterschied deutlich).

beliebig gesetzt. Abweichungen dieser Art gehen vermutlich auf die Schreiberin - die sich zumeist auf handschriftliche Vorlagen stützt - , nicht den Dichter zurück. Sie sind inhaltlich bedeutungslos und werden nicht im Apparat mitgeteilt. Ernestine Boie kennt - anders als Miller - kein großes Η (sondern schreibt immer ein eigentlich kleines h); ein großes Η wird immer dort wiedergegeben, wo es nach damaligem und heutigem Brauch eindeutig ist, z.B. am Zeilenanfang von Gedichten oder bei Hauptwörtern.

Vorrede zur Edition

379

Wiedergegeben wird die erste Niederschrift. Sie ist der edierte Text, denn sie entspricht dem, w a s die Gruppe in den Sitzungen g e m e i n s a m gebilligt hat (vgl. oben 11/1, Die Sitzungen,

und II/2). Die später handschriftlich eingefügten Ergänzungen und Än-

derungen (darunter auch die erwähnten Hinweise »B.«, »Bb. S.«) 1 4 werden a m jeweiligen Seitenende wiedergegeben als >negativen Apparat; der Apparat verzichtet, w o immer eindeutig, auf ein L e m m a (Bezugswort) und gibt nur die Abweichung selbst an. Er beschränkt sich z u d e m auf lexikalische Abweichungen, d.h. solche des »Lautstandes«, Rechtschreibung und Zeichensetzung werden nicht berücksichtigt. Ebenso ist der Apparat zu den zeitgenössischen Parallelfassungen im Kommentar gestaltet. Dies ist die sparsamste Möglichkeit überhaupt, einen Apparat zu bilden. Sie erfordert insofern eine >Mitarbeit< des Nutzers, als er die Stellung des ersetzten Wortes in der Gedichtzeile selbst feststellen muss. Durch die Kürze der Zeile und die metrische Gestalt ist dies freilich fast immer leicht. W e n n z.B. in Millers Deutschem

Trinklied

(Bd. 1,

Nr. 38) für die Zeile »Ausgepreßt auf deutschen Hügeln« die Variante »Mildgereift« angegeben wird, so ergibt sich aus Sinn und Grammatik, dass nur das Mittelwort zu Beginn der Zeile ersetzt werden kann. Ebenso w e n n in Millers An ein paar

Augen

(Bd. 1, Nr. 54) zu der Zeile »Aber ach! der Minne Pein« angegeben wird »Liebe«, so ergibt es sich klar, dass nicht etwa »Aber« oder »Pein« ersetzt werden können. Dieser Art ist der größte Teil aller Varianten. Etwas anders, w e n n in Millers An ein paar geltäubchen

Rin-

(Bd. 1, Nr. 77) in der Zeile »Und euch ganz der süssen Liebe weyhn.« die

Änderung »Könnt« angegeben wird. Es ist zwar auch klar, dass nur »Und« ersetzt werden kann, allein w e g e n der Großschreibung. Allerdings wird doch die Wortart geändert. Zur zusätzlichen Sicherheit des Benutzers wird deshalb das folgende Wort als Bezugswort angegeben, die Variante lautet also »Könnt euch« (»euch« ist durch die Wiederholung eindeutig als nicht zur Variante selbst gehörig erwiesen). In Millers Daphnens

Engel (Bd. 1, Nr. 13) wird zu d e m Vers »In der Gottheit stillem Tempel« die

Variante mitgeteilt »In des hochgelobten«.

Im Apparat heißt es

sicherheitshalber

gleichwohl »In des hochgelobten Tempel«, u m deutlich zu machen, das zugleich »stillem« fortfällt (dies ist nicht sachlich, wohl aber metrisch zwingend). Vollends Millers An die Venus (Bd. 1, Nr. 78). W e n n zu der Zeile »Champagner, und Tokayer.« die Variante »Burgunder« angegeben würde, wäre eine richtige Zuordnung unmöglich. Daher lautet die A n g a b e »und Burgunder«. Die Stellung der Änderungen im Schriftbild wird durch Abkürzungen nur angedeutet, aber nicht erschöpfend beschrieben (in zwei schwierigen Fällen, Bd. 1, Nr. 136 und 165, tritt eine dokumentarische Abbildung hinzu). Die Abkürzungen lauten: -

ü.d.Z.: über der Zeile,

-

u.d.Z.: unter der Zeile,

-

l.n.d.D./T./U./Z.: links neben d e m Datum/dem Titel/der Unterschrift/der Zeile,

-

r.n.d.D./T./U./Z.: rechts neben d e m Datum/dem Titel/der Unterschrift/der Zeile,

-

Überschr.: Überschreibung.

14

Diese sind durchweg in größerer Schrift eingetragen; dies wird nicht jeweils eigens vermerkt, ebenso auch nicht der Schreiber, der durchweg Gottlob Dietrich Miller ist.

380

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Gelegentlich wird die zu ändernde Stelle vom Schreiber durch Unterstreichung oder Durchstreichung bezeichnet. Dies wird weder mitgeteilt noch gar eigens unterschieden, da es inhaltlich ohne Bedeutung ist. Zeitlich aufeinander folgende Streichungen werden - wo immer eindeutig erkennbar - durch (1) und (2) unterschieden.

Der Kommentar Die beiden wichtigsten editorischen Arbeiten im Umfeld der Bundesbuchausgabe sind die Hamburger Klopstockausgabe, die seit 1974 in Einzelbänden erscheint - beinahe in noch größeren Abständen als damals die Bände von Klopstocks Messias - , andererseits die Hölty-Studienausgabe von Walter Hettche (1998). Beide Ausgaben, vor allem die Klopstockausgabe, haben zu Recht lebhafte Auseinandersetzungen ausgelöst über Anlage, Umfang und Zeitgemäßheit von historisch-kritischen Gesamtausgaben und auswählenden Studienausgaben. Es ist umstritten, inwiefern die Klopstockausgabe mit allen Beigaben der Erläuterungsbände zu groß angelegt und vielleicht nicht zeitgemäß sei. Unzweifelhaft lassen sich dafür jedenfalls Gründe beibringen. Die Briefkommentare sind eine panoramaartige kulturgeschichtliche Dokumentation zu Klopstocks Zeit, die ausschließlich der wissenschaftlichen Forschung dient. Jeder, der zu Klopstock und seinem großen Umfeld arbeitet, weiß, als wie vielfältig nützlich und fruchtbar sich dieser Kommentar schon jetzt erwiesen hat. Dagegen ist für die Bände der Oden kein Kommentar vorgesehen. Ohne Kommentar ist auch Walter Hettches Hölty-Studienausgabe. Sie bringt das Gesamtwerk Höltys (ohne die meisten Übersetzungen) und alle Briefe in einem Band. Der Kommentar beschränkt sich auf die Mitteilung aller erhaltenen Handschriften, zeitgenössischer Drucke und wichtiger Lesarten. Gelegentlich wird eine kurze Erläuterung gegeben, sehr selten ein Hinweis auf die Tradition. Es fehlen aber weitere sachliche Erklärungen und Literaturangaben. Zwei Beispiele: Die Gedichte gegen Wieland, die der Göttinger Hain verfasste und an denen auch Hölty Anteil hatte, gehören zweifellos zu den fragwürdigen Erscheinungen der Sturm und Drang-Zeit (vgl. ausführlich oben 11/1, Dichtung zwischen Klopstock und Wieland). Die Gegenwartsbedeutung und der Bezug zur allgemeinen deutschen Geschichte ist ausgeprägt, viel stärker als bei den zahlreichen Briefen Klopstocks, deren Kommentar ein Mehrfaches des Briefumfangs ausmacht; es bleibt freilich fragwürdig, immer im Einzelnen eine »Gegenwartsbedeutung« erweisen zu wollen. HansJürgen Schräder legt dar, inwiefern Höltys Ode An eine Tobackspfeife (Bd. 1, Nr. 91b), im Bundesbuch ausgerissen und durch einen frühen Druck erhalten, die Bücherverbrennung dichterisch vorbereitet: Hölty entwirft »in seiner bereits durch die Diskrepanz des erhabenen alkäischen Metrums zum banalen Gegenstand unfreiwillig komischen Ode An eine Tobackspfeife als Spiel der Phantasie in allen Zügen die symbolische Verbrennungszeremonie am Dichter des Idris und Agathon vor, die im folgenden Jahr erschreckende Wirklichkeit werden sollte«.15 Hettches Kommentar sagt 15

Schräder 1984, S.341.

Vorrede zur Edition

381

weder zur Sache noch zur Literatur irgendetwas, sondern teilt nur Drucke und Varianten mit. Er führt a u ß e r d e m eine Bemerkung Vossens an, der mit seinen

Hölty-

A u s g a b e n von 1783/1804 die Editions- und Kommentargeschichte z u m Göttinger Hain selbst eröffnet. Voß macht die bewusst verharmlosende A n m e r k u n g »Ein Spiel der Fantasie. Hölty liebte den Toback so wenig, als Gleim den Wein«. Er lenkt den Leser damit geschickt irreführend auf eine Frage, die z u m Verständnis des Gedichtes unbedeutend ist. W e n n Hettche eben dies und nur dies anführt, ohne den Z u s a m m e n h a n g zu erläutern, dann setzt er die Voß'sche Verharmlosung fort und enthält d e m Leser Wesentliches vor. Völlig unkommentiert bleibt etwa auch das Gedicht Der

Wollustsän-

ger, das auch auf Wieland zielt. - Das zweite Beispiel ist die Ode Auftrag,

die Voß in

unerkannter »Koautorschaft« u m eine Strophe erweitert hat (vgl. II/3, Höltys Auftrag Gedicht zweier Autoren).

-

Hettches Edition beruht auf Einsichten zu einem geschärften

Autorbild (eben weil er nicht nach d e m einen, sondern d e m variierten Werk schaut; vgl. zur Kritik oben II/3). Sein Kommentar lässt aber die gesamte Literatur zur Sache fort und verweist nicht einmal auf die einschlägige Seite im spärlichen Nachwort. 1 6 W a s ist dann aber der Sinn einer Studienausgabe? W a s will und soll der Leser in einem Kommentar finden? Sollte nicht vielmehr ein Kommentar die zu Entstehung, Wirkung und Deutung entscheidenden Zeugnisse bereitstellen und erläutern? Ist nicht vielleicht auch die Gefahr einer Fehleinschätzung weniger schwerwiegend als der Verzicht auf die Möglichkeit, überhaupt eine Einschätzung zu geben? Der Kommentar z u m Bundesbuch wird eröffnet durch kurze Ausführungen zu den wichtigsten seiner Dichter. Dichter, die nur mit einem Gedicht vertreten sind und nicht z u m Bund gehören, werden dagegen nur im Kommentar zu d e m betreffenden Gedicht selbst vorgestellt, jeweils mit ausführlichen Literaturangaben: Schönborn, John Andre, Adolf Friedrich Brückner, Claudius, Klopstock. Es soll zusammengestellt werden, was z u m Verständnis des jeweiligen Anteils a m Bundesbuch nützlich erscheint. Der Kommentar soll keine Kurzbiografie ersetzen - solche gibt es vielfach; übersichtlich, w e n n auch veraltet, beispielsweise bei August Sauer 1 8 8 5 / 8 7 - 1 8 9 5

(Bd. 1, S. X X X V I I -

CLXVI; Bd. 2, S. I - X l l , 1 1 7 - 1 3 1 ; Bd. 3, S. 1 - 2 9 ) , Rohtraut Bäsken 1937 (S. 15-32), Anton Lübbering 1957 (S. 155-180), Alfred Kelletat 1967 (S. 3 7 5 - 3 9 6 ) . Daneben sind die einschlägigen Nachschlagewerke zu befragen: die Allgemeine phie

Deutsche

(in vielem noch immer unersetzt), das Schleswig-Holsteinische

Lexikon,

Benno von Wieses Sammlung Deutsche

Dichter

des

Biogra-

Biographische

18. Jahrhunderts

und

andere. Nur Stolberg und Voß haben eigene Biografen gefunden: Johannes Janssen 1877 und 1882 und grundlegend Dirk Hempel 1997a; Herbst 1 8 7 2 - 1 8 7 6 . A u ß e r d e m gibt es zu Stolberg, Voß und Miller neuere Ausstellungskataloge (vgl. Kahl 2001a, Hummel 2001 und Katalog 2001 a/b, Breitenbruch 2000). Neuere biografische Literatur ist dagegen nur vereinzelt vorhanden. Der Kommentar besteht sodann aus thematischen Einleitungen zu einigen Gedichtgruppen oder besonderen Erscheinungen: Balladen, antikisierende Oden, Übersetzungen (Horaz), Lieder (Miller), Minnesangrezeption, Ossianrezeption;

16

Hettche 1998b, S. 472.

besonderes

382

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Gewicht liegt auf den Ausführungen zu Voß' frühen Horazübersetzungen, denen, anders als etwa den Balladen im Göttinger Hain, noch keine eigene Untersuchung gewidmet wurde. Hauptteil des Kommentars sind endlich Angaben zu allen einzelnen Gedichten. Diese sind unterschiedlich ausführlich, bestehen mindestens aus Angaben über, soweit vorhanden, eine Vorlesung in den Bundessitzungen und einen möglichen Erstdruck sowie Hinweise auf Parallelniederschriften oder -fassungen im Voß'schen Bundesbuch und in der Auswahl Für Klopstock (1773) und deren Abweichungen. Wichtigste Vorarbeit für die Angabe des Erstdrucks sind Irmgard Fischers Nachweise.17 Fischer gibt jeweils den Druck an, der der Handschrift am nächsten kommt. Hier dagegen wird grundsätzlich nur der erste Druck nachgewiesen, sofern es ihn gibt. Die weitere Textentwicklung - d.h. Änderungen zu Lebzeiten des Dichters; bei Hölty auch postume Änderungen - wird nur in wirkungsgeschichtlichen Ausnahmefällen dokumentiert (vgl. unten III/1, Vom Umgang mit der »Verbesserungsästhetik«)·, sie lässt sich anhand der einschlägigen Ausgaben von Sauer, Michael und Hettche nachvollziehen. Mit Erstdruck ist nicht ein Druck nach dem Bundesbuch als materiale Druckvorlage gemeint (dies ist eigentlich erst bei späteren Herausgebern anzunehmen, namentlich bei Halm), sondern der Druck der Fassung des Bundesbuches oder einer Fassung, die nur leicht abweicht. Nicht ganz einfach ist freilich die Entscheidung, wenn ein früher Druck nicht wortgetreu ist: Handelt es sich bei einem zeitgenössischen Druck um einen Erstdruck des hier vorliegenden Gedichtes mit Varianten oder um den Druck einer anderen Fassung (der Erstdruck der Bundesbuchfassung wäre dann in einer späteren Ausgabe oder hier anzunehmen)? Ein gewisser Ermessensspielraum ist unvermeidlich. Dass einzelne, entlegene Drucke vielleicht übersehen wurden einige Gedichte erschienen auch als Einblattdrucke, so Voß' An Andre (Bd. 1, Nr. 16), die nicht erhalten sind - , kann nicht ganz ausgeschlossen werden. Die meisten Gedichte des Bundesbuchs haben schon Vorgänger beschäftigt, denen der Herausgeber dieser Arbeit verpflichtet ist; namentlich August Sauer und Anton Lübbering haben in ihren Kommentaren zum Göttinger Hain Grundlegendes zur Entstehung und etwas zur Deutung bereitgestellt, und falsche Originalitätsbedürfnisse sollte man in ihrer Nachfolge vermeiden; der Kommentar übernimmt von den Früheren, im Einzelfall sogar als wörtliches Zitat, was immer weitergetragen zu werden verdient. Er kann freilich weit über sie hinausgehen. Allgemeine Literaturangaben zum lyrischen Werk eines Dichters finden sich jeweils bei der Kurzeinführung zu den Dichtern, ohne dass in den Gedichtkommentaren eigens darauf zurückverwiesen wird. Bei den Gedichten selbst wird auch nicht jedes Mal auf mögliche Vorgängerkommentare verwiesen, nur, soweit vorhanden, auf ausgewählte Literatur.

17

Irmgard Fischer 1968, S. 14-22.

Vorrede zur Edition

383

Vom Umgang mit der »Verbesserungsästhetik«: Zur Edition des Bundesbuches Das Bundesbuch ist eine Reinschrift in einer als gültig ausgezeichneten Fassung. Die zahlreichen Berichtigungen, Änderungen, »Verbesserungen«, die zum Wesen des Göttinger Hains gehören (vgl. im Ganzen 11/3), werden nicht durch das Bundesbuch überliefert - es ist eine vorläufige Endstufe - , sondern durch andere Niederschriften sie sind verstreut und größerenteils verschollen - und Drucke in den Musenalmanachen und in den späteren Ausgaben. Gleichwohl gibt es im Bundesbuch Bearbeitungen, die keine Sofortkorrekturen sind (Sofortkorrekturen gibt es so gut wie gar nicht): spätere Bearbeitungen für den geplanten, aber nicht verwirklichten gemeinsamen Druck des Buches. Die Reinschrift wird wieder Manuskript. Diese Bearbeitungen stammen vom jeweiligen Autor, von Voß oder von der Gruppe, und wem sie zuzuweisen sind, ist manchmal unklar, auch dann, wenn sich die Handschrift zuordnen lässt. Insofern liegt auch eine besondere Form von Varianten vor. Im Bundesbuch handelt es sich erstens um Änderungen eines schon fertigen Textes, die also nach der oder einer ersten Fixierung des Textes entstanden sind, bzw. um nachträgliche Auszeichnungen eines fixierten Textes, positiver wie negativer Art. Die nachträgliche Hinzufügung »B.« oder »Bb.«, wie eine Änderung im Apparat mitgeteilt, zeichnet das Gedicht aus, bei weiterer »Sorgfalt« des späteren gedruckten Bundesbuches würdig zu sein, der Hinweis »verworfen« entspricht dem Gegenteil. Zweitens handelt es sich um nachträgliche Änderungen oder Auszeichnungen vom Autor selbst oder von seinem Umfeld und nicht von späteren, fremden Bearbeitern. Die »Autorschaft« ist freilich nicht ganz klar, anders als im Wesentlichen bei den namentlich gezeichneten Gedichten selbst (vgl. 11/3, Autorschaft und kollektive »Verbesserungsästhetik»). Auch einige Varianten stammen, wie die Hinweise »B.« und »Bb. S.«, von Hand des Bundesschreibers Gottlob Dietrich Miller (z.B. Bd. 1, Nr. 14, Nr. 27, Nr. 30), was auf ein allgemeineres Urteil der Gruppe hindeutet. Dies geht aus Briefäußerungen Vossens und Gottlob Dietrich Millers - die jeweils im Plural der Teilnehmer der Samstags-Sitzungen sprechen - hervor: »Wir nehmen jetzt an jedem Sonnabend etliche Stüke aus dem alten Bundesbuche wieder vor, und prüfen sie. Die wir jetzt für gut halten, bezeichnen wir mit B. das heißt, auf diese soll der Verfasser alle Sorgfalt wenden, damit sie in 5 Jahren des Bundes würdig seyn« (Voß an Stolberg, 28.11.1773). 18 Das oben beschriebene Verhältnis von kollektiver »Verbesserungsästhetik« und Autorschaft zeigt sich klar: Die Gruppe unterstützt, verbessert den einzelnen Autor, auf dessen »Sorgfalt« es im Weiteren ankommt. Die Gruppe hat einen Anteil an späterer Bearbeitung und Auszeichnung der Gedichte im Bundesbuch, entscheidend ist aber der jeweilige Autor. Dies ist die besondere Situation von Göttinger Dichterbund und Bundesbuch. Dies ist bei der Auswertung der Änderungen zu bedenken. Ihnen gilt besondere Aufmerksamkeit, da sie einen Gestaltungswillen aussprechen: den der Gruppe - zu18

Nach Behrens 1965, S. 58. Ähnlich in einem Briefe Gottlob Dietrich Millers an Brückner, 22.11.1773, Metelmann 1932, S. 407, zit. oben in II/2.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

mal bei den kollektiven Hinweisen »B.« und »verworfen«; wie sehr auch bei einzelnen Änderungen, ist unbekannt - , und den eines Einzelnen, besonders Vossens. So ist die zweifache Überarbeitung der Übersetzung von Horaz' Ode An Delius (Bd. 1, Nr. 136) ohne jeden Zweifel Vossens Werk (Abb. 4); es wäre unsinnig, bei einem so »vossischen« Anliegen eine Beteiligung der Gruppe anzunehmen. Das Bundesbuch hat hier, im Einzelfall und nachträglich, den Charakter eines Manuskripts angenommen; die erste der drei Fassungen entspricht freilich dem ursprünglichen Anliegen und ist schon und noch erkennbar eine Reinschrift, die dann nachträglich geändert wurde. Das Blatt im Bundesbuch wurde in diesem einzigen Fall zu einer »Arbeitshandschrift«, einem »Brouillon«, wie sie in größerem Umfang erst im 19. und 20. Jahrhundert überliefert wurden. Die Überlieferung hier ist dem Umstand zu danken, dass dieses Blatt Bestandteil des Bundesbuches ist, noch nicht dem späteren Interesse an solchen Handschriften selbst. Eine vergleichbare andere Handschrift aus dem Göttinger Hain dürfte sich kaum erhalten haben. Anders Höltys Die Nachtigall (Bd. 1, Nr. 165): Hier fügt Voß einem Hölty'schen Gedicht - dessen erste Fassung wiederum bereits eine Reinschrift ist - zwei weitere, offenbar ihrerseits zeitlich getrennte Fassungen hinzu (Abb. 5). Es ist unbekannt, wann - vielleicht erst wesentlich später, nämlich im Zusammenhang der Hölty-Gedichtausgabe von 1783 - , aber offensichtlich, dass es sich hier wiederum allein um Vossens Werk, nicht um das der Gruppe handelt. Ein »Brouillon« ist dies freilich nicht. Die Überschreibung ist sorgfältig, wie eine Druckvorlage. In anderen Fällen späterer Bearbeitung, z.B. Millers Daphnens Engel, als sie schlief (Bd. 1, Nr. 13 u.ö.), ist der Urheber der Bearbeitung unklar. Vielleicht gehen hier noch deutlicher Einflüsse des Gruppengesprächs ein. Es gibt aber dafür keine Belege; auch die jeweilig eigene Handschrift ist ein solcher nicht. Die Betrachtung von »Veränderungen und Verbesserungen« eines Autors gewann bereits im 18. Jahrhundert an Bedeutung, je mehr eben dieser Autor selbst an Bedeutung gewann. Lessing bemerkte 1759 über Klopstocks Kopenhagener MessiasAusgabe: »Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter, wie Klopstock, in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst« (Lessing, Neunzehnter Brief der Briefe, die neueste Literatur betreffend 1759).19 Das, was ein Autor »wie Klopstock« setzt, wird seinerseits - es überlappen sich wiederum Genievorstellung und Regelpoetik - zu einer »Regel«: »Der Beginn eines ausdrücklichen Interesses an der Autorvarianz koinzidiert so in Deutschland wohl nicht zufällig mit dem Beginn des Paradigmenwechsels von einer Regelästhetik zu einer Genieästhetik«.20 Diese Einsicht, bekannt in Lessings maßgeblicher Formulierung, entspricht dem Gedankengut des Göttinger Dichterbundes; die vorliegende Edition kann insofern an eine Einsicht anknüpfen, die den edierten Dichtern selbst vertraut war. Boie schreibt am 19. März 1779 an Ramler: »Der zweite Band Ihrer Blumenlese hat mir sehr viel Vergnügen gemacht, und ich habe sie gelesen und verglichen, wie, ich darf es sagen, 19

20

Lessing 1988-2001, Bd. 4, S. 508. Vgl. II/3, Die Verzeitlichung des Gedichts und Autorschaft und kollektive » Verbesserungsästhetik Bohnenkamp 2002, S. 67.

Vorrede zur Edition

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wenige gethan haben werden. Ihre Veränderungen sind mir allemal ein wahres Studium der Kunst und ich habe mehr darin gelernt, als in Büchern, die eigentlich die Kunst lehren wollen«. 21 Im Weiteren greift - so schon bei Cramers Klopstock-Büchern 22 - die Vorstellung Raum, die Autor und Autorvariante gegenüber dem »Studium der Kunst« bevorzugt: Die Autorvariante ist Variante des Autors, nicht Vertreterin von Regel und Kunst. Freilich werden in der vorliegenden Edition nicht alle überlieferten Textzeugen dargeboten, auch nicht eine mögliche Druckgeschichte. Die Varianten, die beide Bände des Bundesbuches zu einigen Gedichten überliefern - nämlich zu insgesamt 33 (zuzüglich der Korrekturhinweise wie »B.«, »verworfen« u. dgl.) - , sind (nur) ein eigentümlicher Ausschnitt des großen textgenetischen Entwurfs, den die Göttinger Verbesserungswerkstatt und ihre verschiedenen Nachspiele ausmachen. Neben eben diesen Änderungen, die das Bundesbuch selbst überliefert, werden in dieser Ausgabe nur die zeitgleichen Lesarten aus dem Göttinger Hain selbst angegeben: möglicher Erstdruck, Voß'sches Bundesbuch (stellvertretend für nicht erhaltene, weitere Bundesbücher) und Sammelhandschrift Für Klopstock. Ausgespart bleiben - auch aus Umfangsgründen weitere Bearbeitungen späterer Jahrzehnte, textgenetische und fremde; erstere dann, wenn sie vom Autor selbst stammen, z.B. in Stolbergs und Voß' eigenen Werkausgaben (vgl. zu Ersterem oben II/3, Die Bearbeitung von Stolbergs Gedichten), Fremdvarianten bei bearbeiteten Drucken in Musenalmanachen und, in einem spezifischen, postum »autorisierten« Sinne, bei Voß' Hölty-Ausgaben (vgl. oben II/3, »Freundschaftspflicht«

- Vossens

Hölty-Ausgaben).

Es ergeben sich nun zwei Apparate: Die Änderungen, die handschriftlich ins Bundesbuch selbst eingetragen sind, sind Bestandteil der Edition des Bundesbuches. Diese Änderungen erscheinen im Apparat auf derselben Seite. Die Abweichungen der genannten drei zeitgenössischen Parallelfassungen werden dagegen im Kommentar mitgeteilt zu Beginn der jeweiligen Erläuterung zu einem Gedicht. Sie sind nicht im strengen Sinne Bestandteil der Edition des Bundesbuches. Es handelt sich in dem erläuterten Sinne nicht um Entstehungsvarianten. Wiedergegeben wird der Ist-Zustand im Bundesbuch. Dies ist das Editionsziel. Ediert werden nicht Gedichte nach dem Bundesbuch, die dann durch genetische Ausführungen begleitet werden: Ediert wird das Bundesbuch, wie es vorliegt, ohne breitere diachrone Dokumentation und gleichsam wie eine Leithandschrift, aber um seiner selbst willen, als Bundesbuch, nicht als »Textträger«. Das Editionsziel ist weder die Darstellung von Textgenese noch die Herstellung eines Textes, wie er dem mutmaßlichen Autorwillen entspricht, sondern eine historische Abbildung. Die sonst entscheidende Frage, ob man eher einen Erstdruck, eine Frühfassung ediere oder Späteres, stellt sich insofern nicht. Ein Vorbild für die Ausgabe gibt es nicht. Editionsphilologisch vergleichbar ist allenfalls die Gesamtausgabe eines Stammbuchs oder einer Sammelhandschrift wie Anton Lübberings

21

22

Ungedruckt, GSA 75/1,2,24. - Die Notwendigkeit genetischer Betrachtung hat später Goethe morphologisch begründet, vgl. Morphologie, FA I, 24, S. 349-356. Vgl. grundlegend Martus 2005 und oben 11/3, Die Verzeitlichung des Gedichts.

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Ausgabe des Bandes Für Klopstock (die freilich sachlich wie methodisch veraltet ist), nicht eine Gedichtausgabe wie die Alfred Kelletats oder Walter Hettches. Bundesbuch und Protokoll werden deshalb vollständig mitgeteilt. Handschrift und edierter Text sind gleich. Die im Bundesbuch durch Textverlust fehlenden Gedichte werden so weit möglich im Kommentar durch zeitgenössische Fassungen ersetzt (ob sie sich genau entsprechen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden). Anders ist der Umgang mit Vossens Bundesbuch. Es ist zwar das einzige erhaltene von ursprünglich womöglich zahlreichen Sonderbänden des Bundesbuches; viele Gedichte sind aber denen im Bundesbuch gleich. Sie werden nicht doppelt abgedruckt.

2. Die Dichter des Bundesbuches Heinrich Christian Boie (1744-1806) Heinrich Christian Boie gilt zu Recht als Begründer des Göttinger Kreises, schon bevor Voß 1772, Boies Einladung folgend, nach Göttingen kam. Bei der Bundesgründung selbst war er nicht zugegen; er wurde eine Art Ehrenvorsitzender, mit dem Bundesnamen »Werdomar«, der ihm in Voß' An Boie, VB Nr. 64, - einer Art dichterischer Aufnahmeurkunde - zugesprochen wurde (vgl. oben 11/1, Bardennamen).23 Herder nannte Boie einen »Musenaccoucheur« (Herder an Merck, 26.10.1772), Gleim einen »Intendanten auf dem Parnaß«. 24 Boie hatte 1770 mit Friedrich Wilhelm Gotter den Göttinger Musenalmanach begründet (vgl. oben 11/1, Die Gründung), später gab er monatlich das Deutsche Museum heraus. In beiden Zeitschriften, besonders im Göttinger Musenalmanach für 1774, sind zahlreiche Stücke des Bundesbuches zum ersten Mal gedruckt worden. Boies Selbsteinschätzung als Dichter war zurückhaltend: »Mich müssen Sie ja nicht unter die Poeten setzen. Ich bin keiner und werde keiner werden« (8.8.1772, Boie an Knebel); 25 ähnlich auch gegenüber Bürger: »Wegen der Größern Gedichte bin ich durchaus und schon lange Ihrer Meynung. Aber ich sollte sie machen? ich? Ach, liebster Freund, Sie sollten doch wißen, daß ich längst allen Anspruch auf den Dichternamen habe fahren laßen. Ich fühle den göttlichen Funken nicht in mir, und da wär' es Thorheit zu streben, und zudem - wenn ich ihn auch fühlte? - Was könnt' ich in meiner Lage?« 26 Dagegen die Einschätzung Vossens: »Gewiß erwarten Sie eine kleine Beschreibung von diesem vortreflichen Manne. Stellen Sie sich also ein kleines und dabei, jedoch proportionirt, etwas dickes Männchen, mit einer gleich einnehmenden, freundlichen Miene vor. Seine Blicke verkündigen seinen Wiz, und wenn er spricht, so wird man bezaubert. Alles ist Geist, alles ist Enthusiasmus an ihm; und wofern er selber keiner von den ersten Dichtern ist, so steht er doch fast mit allen schönen Geistern in Deutschland in einer so nahen Verbindung, daß sie ihm eben die Ehrfurcht, die jene besizen, erwerben müssen. Ramler, Denis, Wieland, Gleim, Jacobi, Dusch, Ebert, Lessing, Weiße, und wer kann sie alle nennen, schreiben ihm in den zärtlichsten Ausdrücken. [...] Klopstock ließ ihm nur noch vor einigen Tagen die verbindlichsten Komplimente machen. Sein Geschmack ist durchaus fein. Nur ein flüchtiger Blick entdeckt ihm jede verborgenste Schönheit und jeden überschminkten Fehler« (an Brückner, 14.5.1772). 27

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24 25 26 27

Es wird immer wieder behauptet, Boie sei nie eigentlich Mitglied geworden. Neben dem Gedicht erweist auch seine selbstverständliche Teilnahme am Bundesbuch und an den Sitzungen, die zehn Mal bei Boie stattfanden, das Gegenteil. Gleim an Knebel, 13.10.1772, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 64. Vgl. auch Mix 1992. Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 134. 5.11.1772, nach Wargnenau 2004, S. 176. Vgl. auch Voß an Brückner, 15.11.1772.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Die meisten Gedichte Boies sind Übersetzungen und Bearbeitungen. In den Sitzungen hat er 20 Gedichte vorgelesen und zwar nur in den allerersten Monaten des Bundes, zuletzt in der 25. Sitzung am 13. Februar 1773 (vgl. Protokoll); danach trat er nur noch gelegentlich als Gastgeber der Sitzungen auf. Im Bundesbuch ist er mit 22 Stücken vertreten (keines im zweiten Band), in Voß' Buch mit 12. 1779/80 befand sich das Bundesbuch vorübergehend in seinem Besitz (vgl. oben II/2). Trotz seiner vergleichsweise geringen Bedeutung als Dichter ist Boie eine Zentralgestalt des literarischen Lebens seiner Zeit. Die Vielfalt seiner literarischen Verbindungen kann noch nicht überschaut werden, weil seine Briefe nicht zusammengetragen, geschweige denn ediert worden sind. Bekannt sind wichtige Einzelbriefwechsel, u.a. der mit Bürger, der grundlegend ist auch für unsere Kenntnis des Göttinger Dichterbundes, 1873 herausgegeben von Adolf Strodtmann, demnächst neu in der Ausgabe von Udo Wargenau. Am bedeutendsten ist vermutlich sein Brautbriefwechsel mit Luise Mejer, bekannt in der Teilausgabe von Ilse Schreiber (2. Aufl. 1963). Lit.: Weinhold 1868, bes. S. 277-373; Kelletat 1967, S. 375f.; Behrens 1971. Neuerdings: SchmidtTollgreve 2004.

Ernst Theodor Johann Brückner (1756-1805) Ernst Theodor Johann Brückner, Voß' erster und wichtigster Freund, war Landpfarrer im mecklenburgischen Groß Vielen (bei Penzlin), seit 1789 Prediger an der Neubrandenburger St. Marienkirche. Er war das einzige auswärtige Bundesmitglied und stand mit den Göttinger Dichtern in lebhaftem Briefwechsel. 28 Namentlich der Briefwechsel zwischen Voß und Brückner ist die Hauptkorrespondenz des Bundes, da Voß hier dem lebhaft teilnehmenden Brückner das Leben des Bundes chronikartig berichtet und dabei auch eine Vielzahl - z.T. in Kurzem sich wandelnder - literaturgeschichtlicher Urteile einfließen lässt. Brückner ist auf diese Weise zum Teilnehmer an einem in der gesamten Forschungsgeschichte des Dichterbundes und zahllosen angrenzenden Gebieten ausgeschöpften Briefwechsel geworden. 29 Die Briefe sind zwar einmal überblicksartig ausgewertet, 30 aber niemals richtig und vollständig herausgegeben worden. 31 Ihre Edition ist nach Erschließung des Bundesbuches das eigentliche Desiderat der Hainbundforschung. Brückner wurde mit einer feierlichen Urkunde unter dem Namen Mannobard in den Bund aufgenommen, die in der 9. Sitzung am 14. November 1772 verfasst wurde (vgl. Kommentar zum Protokoll). Mehrmals wurden Briefe oder Gedichte von Brückner im Bund vorgelesen (vgl. Kommentar zum Protokoll zum 7./14.11.1772). Im allgemeinen Bundesbuch der Gruppe ist Brückner wegen der räumlichen Entfernung nicht vertre-

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Vgl. Voß-Briefe 1829/33, 1, Metelmann 1932 und Kahl 2001a, S. 112-117. Man vgl. nur zuletzt den Briefauszug bei Wolf Gerhard Schmidt 2003/04, Bd. 4, S. 495. Vgl. von Stosch 1997. Vgl. zur Briefausgabe von Abraham Voß oben Einleitung. Die 133 Gegenbriefe Brückners der Jahre 1772-1805 (SHL Kiel) sind fast vollständig ungedruckt.

Die Dichter des Bundesbuches

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ten; 32 man hatte aber vor, dass Voß >in Brückners Namen< etwas ins Bundesbuch einschreibe. 33 Dazu ist es nicht gekommen, warum, ist unbekannt. Vorgesehen war auch Brückners Einbeziehung in das geplante gedruckte Bundesbuch. 34 In die Auswahl Für Klopstock nahm man ein Gedicht Brückners auf, das Voß stellvertretend und mit genauer Herkunftsangabe eintrug: die vom Bund geliebte kurze Kinderidylle Die beyden Kinder.35 Bei Vossens Besuch in Mecklenburg 1775 hat Brückner einige Gedichte in Voß' eigenes Bundesbuch eingetragen; sie sind von der Gruppe unabhängig und vervollständigen nachträglich das Buch als Album für Ernestine Boie (vgl. oben II/2). Voß besuchte Mecklenburg und seinen Freund Brückner vom 22. Juni bis 27. Juli 1775, um sich um eine Rektorenstelle in Neubrandenburg zu bewerben. 36 Offensichtlich stammen Brückners Einträge in Voß' Bundesbuch aus der Zeit dieser Reise (vgl. VB Nr. 74, Nr. 90, 116, 117 und 122). 1774 hatte Voß angekündigt: »Ich werde dir nächstens ein Buch schicken, worinn die übrigen Bundesbrüder alle ihre ungedruckten guten Stücke geschrieben haben, und worinn du auch deine schreiben wirst. Es ist für Ernestinen bestimmt. Ich frage nicht, ob du willst und kannst, denn dies darfst du nicht abschlagen, und wenn du auch die Gicht in den Händen hättest, und mit den Füßen schreiben müßtest.« 37 Voß hat es offensichtlich aber nicht verschickt. 1777 weilte Voß noch einmal gemeinsam mit Ernestine in Mecklenburg; 38 eine für 1784 erwogene Reise kam nicht zustande; 39 die letzten Besuche in Neubrandenburg waren 1797 und 1799. 1796 und 1798 war Brückner zu Gast in Eutin. 40 Der letzte Brief Brückners an Voß stammt vom 18.4.1805; 41 mit Brückners Bruder Adolf Friedrich blieb Voß auch später in Verbindung (vgl. zu VB Nr. 122). Brückner hatte schon 1772 ohne Namen unter Etwas für die deutsche Schaubühne einige Schauspiele herausgebracht: das Trauerspiel Emilie Blondviiie und die Nachspiele Kaliiste und Der Enterbte (Brandenburg 1772). 42 An sich verstand er sich aber als Dichter in »Nebenstunden«, wegen seiner aufgeklärten Gesinnung im rückständigen Mecklenburg der Gefahr der Amtsenthebung ausgesetzt (Biester wurde 1775 von

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Vgl. zum Briefwechsel der Gruppe mit Brückner Metelmann 1932 und II/3, Kritik und Verbesserung im Brief. Vgl. Miller an Brückner, 20.2.1773, Metelmann 1932, S. 378; man sieht daran beiläufig das Gewicht des einzelnen Autors im Gefüge der Gruppe, vgl. oben II/3, Autorschaft und kollektive »Verbesserungsästhetik"'. Vgl. oben II/2; vgl. Voß an Stolberg, 28.11.1773: »Von Brücknern sollen Sie nächstens Idyllen haben, die unserm Bundesbuche einst Ehre machen werden«, nach Behrens 1965, S. 58. Vgl. Lübbering 1957, S. 77, und Kahl 2004b. Vgl. Voß an Ernestine Boie, 8.7.1775, und Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 188-190. An Brückner, 11.7.1774, SHL Kiel, Cb 4.55:7; vgl. auch an Ernestine Boie, 6.7.1774, SHL Kiel, Cb 4.10:17, vgl. oben II/2. Vgl. Voß-Briefe 1829/33, Bd. 2, S. 2 2 - 2 8 . Eine Literarisierung dieser Reise bei Schroeder 1957, S. 219-224. Vgl. Voß an Brückner, 20.6.1784. Zu den Reisen vgl. Irmgard Brückner 1940b, bes. 20ff., dort auch zu den Kontakten in dieser späteren Zeit. Vgl. Brücknerscher Familienverband 12 (1943), S. 5 1 - 5 3 . Haben mir nicht vorgelegen.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

der Universität Bützow entlassen, weil er Klopstocks Geburtstag gefeiert hatte 43 ). Viele Gedichte erschienen in Voß' Musenalmanach nur unter Kürzeln. 44 Hervor trat Brückner mit seinen Idyllen, namentlich Kinderidyllen, und als Erbauungsschriftsteller, d.h. mit Predigtsammlungen, die jahrzehntelang verbreitet und gebräuchlich waren (vgl. die Erwähnung in Vossens Luise »Konnte der Küster | Doch zur Not die Gemein' aus dem redlichen Brückner erbauen!«, 2, V. 149f.). Polemische Dichtung wie das WielandEpigramm (VB Nr. 74) blieb in seinem Werk Ausnahme. Lit.: Koppe 1783/84, Bd. 1, S. 2 2 - 2 5 (Brückners Selbstlebensbeschreibung); Paulus 1827, S. 7 8 - 8 6 (Zum Andenken Brückners, an welchen die Voßische Briefe gerichtet waren); Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 47f.; Köhler 1866, darin bes. S. 354-357; Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 5 0 - 5 3 und passim; Winkel 1909/1926; Lampe 1929; Brücknerscher Familienverband. Zehnter Bericht 1936, bes. S. 1 4 26 (mit Verwendung des Nachlasses und der Familienüberlieferung); Rohtraut Basken 1937, S. 203-206; sodann neuerdings Maubach 1989/1996/2002. Über das Verhältnis Voß-Brückner vgl. Lampe 1929, bes. S. 86ff. Einige Gedichte in Mendheim 1893 (Deutsche National-Litteratur 135.1), S. 244-248.

Karl Friedrich Cramer (1752-1807) Wie die Brüder Stolberg kannte Karl Friedrich Cramer, in Kopenhagen aufgewachsen, Klopstock von Jugend auf; sein Vater, der Dichter und Theologe Johann Andreas Cramer, war Klopstocks Jugendfreund (er ist noch heute im Evangelischen Gesangbuch vertreten mit dem Lied »Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen«). Später wurde Cramer Klopstocks erster Biograf, vgl. sein Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) Hamburg 1777, später sein fünfbändiges Klopstock. Er; und über ihn. Hamburg u.a. 1780-1792. Cramer trat selbstbewusst auf; seine Teilnahme am Bundesleben war davon beeinträchtigt. Am 2. März 1772 von Boie gegenüber Knebel angekündigt, 45 kam er am 21. Mai 1772 nach Göttingen, 46 wurde aber erst im Februar 1773 »auf sein Anhalten in den Bund aufgenommen« (Voß an Brückner, 24.2.1773). Cramer war zunächst aus Dünkel fort geblieben - am 7. November 1772 verzeichnet das Protokoll aber, dass er in der Versammlung seine Ode Die Gerechtigkeit vorlas (Bd. 1, Nr. 171) - und trat bei, als die Grafen Stolberg den Bund >aufgewertet< hatten. 47 Er hat fünf Gedichte in den Sitzungen vorgelesen (vgl. Protokoll) und ist auch nur mit fünf Gedichten im allgemeinen Bundesbuch vertreten (nicht in Voß' Bundesbuch). Voß äußerte Bedenken gegen Cramers Dichtung: »Cramer, der kommt nicht in das grosse Quartbuch! Das ist lauter Feuer von nassem Stroh, mit vielem Blasen ange-

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Vgl. Voß an Ernestine Boie, 15.12.1775, und Borchardt 1989, S. 93. Vgl. Redlich 1875, S. 44. Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 118. Vgl. Krähe 1907, S. 37. - Schon im Juni 1772 war er mit Boie bekannt, vgl. Boie an Ebert, 4.6.1772, nach Mix 1992, S. 203. Vgl. Krähe 1907, S. 49; vgl. auch Stolberg an Voß, 16.11.1773: »Der gute Cramer; ich liebe ihn sehr, aber für den Bund ist er warlich zu klein! Nun er drinnen ist, muß er freylich wohl drinnen bleiben, aber er muß sich noch sehr bilden um es zu verdienen der kleinste sein zu dürfen.« Voß' Vorrede zu Höltys Gedichten datiert die Aufnahme irrtümlich auf Sommer 1773, nach Hettche 1998b, S. 448.

Die Dichter des Bundesbuches

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facht, und dann Rauch und - Gestank«. 48 Cramer hielt offenbar selbst nicht viel von seinen Gedichten dieser Zeit; Voß berichtet an Stolberg, 28. November 1773: »Cramer will von seinen alten Gedichten nichts gedruckt haben [nämlich in dem zu druckenden Bundesbuch, vgl. oben II/2], als die Begeisterung [Bd. 1, Nr. 172]. Wir haben ihm gesagt, daß die es noch weniger verdiente, als seine Gerechtigkeit [Bd. 1, Nr. 171]. Er meynt aber nicht«. 49 Am 20. September 1773 verließ Cramer Göttingen, zeitgleich mit Esmarch. 50 1775 wurde er Professor für alte Sprachen in Kiel; 1794 wegen revolutionsfreundlicher Haltung seines Amtes enthoben, ging er als Buchhändler nach Paris. Lit.: Krähe 1907, zu Cramers Verhältnis zum Bund bes. S. 48ff.; vgl. außerdem Bäsken 1937, S. 1720; Lübbering 1957, S. 165-167; Schumann 1964, S. 17-20; Kelletat 1967, S. 378f.; Schultze 1971; neuerdings Schütt 2002, Schmidt 2002, von Stosch 2004 (wurde mir erst nach Abschluss dieser Arbeit bekannt), Marius 2005. Einige Gedichte von ihm in Friedrich von Matthissons Lyrischer Anthologie, Bd. 11, Zürich 1805, S. 15-33, und Mendheim 1893 (Deutsche National-Litteratur 135.1), S. 253-256. Vgl. auch im Bundesbuch Voß' An Cramer (Bd. 1, Nr. 154) und Kommentar.

Johann Friedrich Hahn (1753-1779) Johann Friedrich Hahn, geboren 1753, seit 1771 Student in Göttingen, 1772 Gründungsmitglied des Bundes, wurde im Göttinger Hain als ein herausragendes Dichtergenie geachtet. 51 Ein letzter Nachhall seiner Gedichte findet sich in Friedrich von Matthissons Lyrischer Anthologie (vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 6); heute ist er vergessen. Voß beschreibt ihn gegenüber Brückner: »Noch einen glücklichen Kopf hätte ich bald vergessen Ihnen bekannt zu machen. Er heißt Hahn, aus Gießen gebürtig. Er hatte einige Gedichte gemacht, die ihn uns bekannt machten. Diese waren freylich voller ausschweifender Verzückungen. Aber sie verriethen Genie. [...] Es ist wahres, kein nachgemachtes, Klopstockisches Feuer darin. Er ist ein Feind aller Gallier, die unser deutsches Vaterland mit ihren Sitten verderbten.« 52 Für Voß ist Hahn eine Zeitlang der beste Freund und erste Vertraute. 53 Groß war Hahns Einfluss auf den Bund. Albert Becker, Hahn->BiografDas glücklichste Schicksal (sagt er) [nämlich in seiner Selbstlebensbeschreibung, Miller 1794, unpag.], das ihn mit jenen edeln, damals jungen Männern, die Deutschland jetzt (1793) großentheils unter seinen vorzüglichen Dichtern oder sonst guten Köpfen zählt und schätzt und liebt, mit Boie, Bürger, Cramer, Hahn, Hölty, Leisewitz, den beiden Stolbergen und Voß in die genaueste und zärtlichste Verbindung brachte, weckte die schon von jeher in seinem Herzen genährte Liebe zur Dichtkunst zur heißen Leidenschaft auf, und machte ihn kühn genug, manches deutsche Lied zu singen, wovon Boie mehrere in den Göttingenschen Musenalmanachen, die er damals herausgab, abdrucken ließ. >Noch erhöht ihm die Rückerinnerung an die Stunden, die er mit jenen Edeln ganz der Freundschaft und der wärmsten Gottes- und Vaterlandsliebe gelebt hatte, den Genuß jeder Freude, und versüßt ihm manches Leiden, das auch zuweilen sein Loos ist.< - Sein erstes Gedicht in der Sammlung seiner Gedichte ist von 1771, das letzte von 1780, und es ist wirklich sonderbar, daß nur seine Gedichte von 1771 bis 1775, die er in Göttingen dichtete, wahren poetischen Werth haben und auf die Nachwelt zu kommen verdienen. Hier sang er die lieblichen, der Religion, der Tugend, dem Vaterland und der keuschen Liebe geweihten Lieder, die, wenn die Zeit das Classische von dem Conventionellschönen wird getrennt haben, von den deutschen Jünglingen und Mädchen der Nachwelt werden gesungen werden. >0 mein Miller, (schrieb Graf Friedrich Leopold zu Stolberg im Nov. 1773 an ihn,) der Gedanke ist mir süß, daß Sie unter allen Deutschen gewiß der beste Lieder-Dichter sind. Kein Deutscher hat seinen Liedern den sanften, natürlich melodischen Fall gegeben, kein Liederdichter so viel Herz in sein Lied gelegt.« - >So viel Natur (schrieb ihm Graf Christian zu Stolberg), so viele feine, zarte Empfindung und so viele Leichtigkeit hat Niemand wie Sie. Wer macht solche Lieder, wie sie?« 68 Die Hochschätzung der anderen, die er genoss, war in der Tat groß (vgl. auch unten III/3, Lieder). Miller studierte 1770 bis 1774 in Göttingen, dann noch ein Semester in Leipzig. Nach einer mehrmonatigen Reise kehrte er in seine Vaterstadt Ulm zurück, wo er bis zu seinem Tode als Geistlicher wirkte, zuletzt am Ulmer Münster. Ausgaben: Miller 1783; Sauer 1885/87-1895, Bd. 2. Lit.: Köhler 1819; Erich Schmidt 1885; Sauer 1885/87-1895, Bd. 2, S. 117-131; Kraeger 1893; Kelletat 1967, S. 386f.; und grundlegend Breitenbruch 2000. Zu Millers Lyrik vgl. Breitenbruch 2000, S. 5 1 - 6 4 ; Hans-Georg Kemper 2002, S. 153-157.

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Nach Köhler 1819, S. 78f.

Die Dichter des Bundesbuches

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Christian Graf zu Stolberg-Stolberg (1748-1821) Beide Brüder Stolberg studierten gemeinsam zunächst in Halle (1770-1772), dann in Göttingen (1772-1773). Christian Stolberg begleitete seinen Bruder Friedrich Leopold noch einige Jahre, namentlich die Schweizer Reise von 1775 machten sie gemeinsam; 1777 wurde Christian Stolberg Amtmann in Tremsbüttel in Holstein. Christians Anteil an Bundesleben und Bundesbuch ist vergleichsweise gering: Sieben Gedichte las er in den Sitzungen vor, neun Gedichte stehen im Bundesbuch (vier im ersten Band, fünf im zweiten), drei in Voß' Bundesbuch (darunter eines von Closen eingetragen). Später trat er als Übersetzer hervor (Sophokles, griechische Gedichte), außerdem mit Dramenversuchen und einem Balladenzyklus (Die weiße Frau 1814), blieb literarisch aber immer im Schatten seines Bruders. 1779 erschien eine gemeinsame Gedichtausgabe (Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. Hrsg. von Heinrich Christian Boie), die als Abschluss des dichterisch bedeutenderen Jugendwerks gilt. Dessen Anfänge dokumentiert das Bundesbuch. Auch nach der Jahrhundertwende erschienen beide Brüder gemeinsam als Autoren: 1815 mit ihren Vaterländischen Gedichten, 1820-1825 mit ihren Gesammelten Werken. Beide reichen zurück in die Göttinger Zeit. Ausgaben und Lit.: siehe zu Friedrich Leopold Stolberg; vgl. außerdem Kelletat 1967, S. 390; Behrens 1970c; Hans-Georg Kemper 2002, S. 194.

Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750-1819) Für Friedrich Leopold Stolberg wie seinen Bruder Christian wurde Göttingen zum Ausgangspunkt ihrer Dichtung. Aufgewachsen in der väterlichen Nähe Friedrich Gottlieb Klopstocks in Kopenhagen - Klopstock war enger Freund der gesamten Familie Stolberg - , bekamen beide Stolbergs im Göttinger Hain nun auch Anstoß zu vermehrter eigener Dichtung und »Wirksamkeit«. Am 5. Dezember 1772 waren beide, von der Universität Halle kommend, zum ersten Mal bei den Bundessitzungen zu Gast, zwei Wochen später wurden sie, gemeinsam mit ihrem Hofmeister Carl Christian Clauswitz, in den Bund aufgenommen (vgl. Erläuterungen zu den Sitzungen am 5. und 19.12.1772), an dem sie bis zum 12. September 1773 teilnahmen und dessen fruchtbarste Zeit mit dem Stolberg'schen »Annus mirabilis< in Göttingen zusammenfiel. Friedrich Leopold Stolberg las in den Sitzungen insgesamt 14 Gedichte vor, er ist mit 19 Gedichten im Bundesbuch vertreten (10 im ersten Band, 9 im zweiten). Der Dichterbund verschaffte namentlich Friedrich Leopold entscheidende Anstöße. Die Anwesenheit der Grafen aber war für den Bund seinerseits ein hervorragender Gewinn. Die Teilnahme von Adligen war - es wird immer darauf hingewiesen, dass in der Universität noch >Grafenbänke< standen - eine gesellschaftliche Aufwertung. Auf der dichterischen Seite wurde über die Grafen die Verbindung zu Klopstock hergestellt zunächst brieflich, später in persönlichen Begegnungen fast aller Bundesmitglieder.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

1773 überbrachten die Brüder Stolberg den Gedichtband Für Klopstock (gedruckt 1957), eine erste >Blumenlese< der gemeinschaftlichen Dichtung der Göttinger. Johann Heinrich Voß, Enkel eines freigelassenen Leibeigenen, begrüßte Friedrich Leopold Stolberg mit der Ode An Hahn (auch An Hahn als F. L. Gr. z. Stolberg die Freyheit sang, Bd. 1, Nr. 30): »Ach! Nah ich mich dem edlen Mann? | Ich zittr'! Umarm ich ihn, | Den Freyheitsrufer? Ich? Den Mann, | Den Klopstock liebt? - | Ich thu's...... Die folgende Umarmung als Besiegelung des Freundschaftsbundes - fast ein halbes Jahrhundert vor Voß' Schmähschriften gegen Stolbergs Konversion 69 - war damals eine »revolutionäre Geste«, 70 wenngleich Standesschranken durchaus erhalten blieben. Die wöchentlichen Bundessitzungen fanden niemals in der Wohnung der Grafen in der Gotmarstraße statt, und auch das im Bunde übliche brüderliche Du teilte man nicht (der Begeisterung des Bundes über ihre Teilnahme steht auf Seiten der Stolbergs eine etwas zurückhaltendere Einschätzung gegenüber). Der Abschied der Grafen aus Göttingen weniger als ein Jahr nach ihrem Beitritt und genau ein Jahr nach der Bundesgründung leitete den Zerfall des kurzlebigen Bundes ein. Literarischen Niederschlag fand die Abschiedsfeier in Voß' Elegie am Abend nach der zwölften Septembernacht, 1773 und in zwei Briefen an Brückner von Voß und von Miller.71 Neben dem Göttinger Hain war die Georg-August-Universität von wegweisender Bedeutung für beide Grafen. Ihr und namentlich dem Altphilologen Christian Gottlieb Heyne verdankten sie die erste grundlegende Begegnung mit der Dichtung des Altertums, nachdem sie sich an der Universität Halle zuvor nur Rechtsstudien gewidmet und auch in Göttingen zunächst noch den Staatsrechtler Stephan Pütter gehört hatten. Die Anziehungskraft der gerade in Göttingen aufblühenden Altertumskunde veranlasste viele, neben den ihnen ursprünglich zugedachten theologischen und juristischen Studien Philologie (»Archäologie«) zu hören, oder, wie Voß, diese sogar an die Stelle des ursprünglichen Faches zu setzen. Homer war ihr wichtigster Anstoß, Griechisch zu lernen, wie man in den Göttinger Briefen beider Brüder an Klopstock anschaulich nachlesen kann; aber auch Shakespeare und andere dichterische Einflüsse wurden in Göttingen erstmals wirksam und begleiteten beide Stolbergs lebenslang. Ausgaben: Stolberg 1779/1820-1825, Bde. 1-2. Sauer 1885/87-1895, Bd. 3. Lit.: Janssen 1877/1882; Schumann 1949/1951/1956/1957/1962/1973/1977a; Behrens 1961/1968a/ 1968b/1970d/1973/1980/1997; Kelletat 1967, S. 390-392; Sudhof 1970; Hempel 1997a/1997b/ 2002a/2002b/2003a; Kahl 2001a; Hans-Georg Kemper 2002, S. 157-161, 194-216.

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In beiden Schmähschriften Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier? 1819 und Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe 1820 geht Voß auch auf die Hainbundzeit ein. Kelletat 1967, S. 390. »Diese Verbrüderung [...] zwischen dem Gastwirtsohn Voß und dem Sproß aus altem Grafengeschlecht ist im zeitgenössischen Kontext ohne Beispiel gewesen. Sie vollzog sich im Zeichen von Klopstocks Poesie«, Beck 1982, S. 110. Vgl. Voß an Ernestine Boie, 18.9.1773, und Miller an Brückner, 7.10.1773, nach Kahl 2001a, S. 112-115.

Die Dichter des Bundesbuches

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Johann Heinrich Voß (1751-1826) Johann Heinrich Voß, geboren 1751 in Sommersdorf bei Waren in Mecklenburg, gestorben 1826 in Heidelberg, hat 46 Gedichte und Übersetzungen in den Sitzungen vorgelesen; er ist mit 32 Stücken im allgemeinen Bundesbuch vertreten (28 im ersten Band, 4 im zweiten), in seinem eigenen finden sich nochmals 33, darunter auch die frühen Leibeigenen-Idyllen. Göttingen war der entscheidende Wendepunkt in Voß' Leben. Die Prägung durch das unvergleichlich rückständige Mecklenburg konnte er niemals ganz ablegen. Entscheidend war Heinrich Christian Boie, der Voß mit Freitisch und freier Wohnung den Aufenthalt in Göttingen und damit Voß' Laufbahn als Philologe und Dichter ermöglichte (in Der Lohn, Bd. 1, Nr. 25a, rühmt Voß Boie nach, dieser habe seine, Voß', »Harfe« »mit goldnem Getön« besaitet). An Brückner schrieb er schon am 14. Mai 1772: »Mehr konnte kein Vater für mich thun, als er für mich gethan hat. Einen freien Tisch, freie Kollegien, freie Stube, alles hab' ich durch ihn. Die Stube bezahlt er sogar selbst, und das allerwenigste wird jährlich 25 Thaler ausmachen.« 1777 heiratete Voß Boies Schwester Ernestine, die Selma seiner Gedichte. - Über seinen weiteren Lebensweg zu berichten ist hier nicht der Ort. Nur Voß, der geistig bedeutendste unter den Bundesbrüdern, hat schon im 19. Jahrhundert einen wissenschaftlichen Biografen gefunden, den Altphilologen Wilhelm Herbst. Unter Voß' Bundesbuch-Gedichten ist kaum ein wirklich bleibendes, und auch kaum eines, das - wie vielleicht die Nachtgedanken eines Mädchens und die Nachtgedanken eines Jünglings (Bd. 1, Nr. 10/11) und besonders sein An den Mond (Bd. 1, Nr. 108) - der Gegenwartssprache unmittelbar offen ist. Wichtige Themen des Voß'schen Lebenswerkes klingen schon an: die Übersetzungen (vgl. unten III/3, Übersetzungen), der Hexameter (vgl. Bd. 1, Nr. 104), Polemik (vgl. Bd. 1, Nr. 152, Bd. 2, Nr. 32), die Idyllen (vgl. VB Nr. 89, 121, 123) - noch nicht aber der Gegensatz zu Stolberg, das Bundesbuch ist im Gegenteil Dokument ihrer Freundschaft (vgl. Bd. 1, Nr. 31 f.). Die wichtigen Dichtungen und Übersetzungen - Luise, Der siebzigste Geburtstag, seine Land- und Erntelieder, der deutsche Homer - fallen allesamt nicht in die Göttinger Zeit, wenn auch ihre Wurzeln eben hier zu suchen sind. Voß' Sorgfalt ist die Erhaltung des Bundesbuches zu danken (vgl. oben II/2). Ausgaben: Voß 1785/1802; Sauer 1885/87-1895, Bd. 1; Hummel 1996. Lit.: Paulus 1827, sodann grundlegend Herbst 1872/76 und Häntzschel 1977; unter den neueren bes. Kelletat 1949/1967, S. 392-395; E. Theodor Voss 1976/1995; von Stosch 1980/1997; Beutin 1995; Raimund Kemper 1995; Behrens 1997; Hummel 1997/2001 a/2001b/2002; Hans-Georg Kemper 2002, S. 162-165, 339-386.

3. Gedichtgruppen Balladen Die Begründung der ernsten Ballade durch Hölty und Bürger - seine Lenore entstand 1773 im Austausch mit den Bundesbrüdern (vgl. II/3, Bürgers Lenore und der Göttinger Hain) - gilt als eine der bleibenden Leistungen des Göttinger Hains. 72 Die Aufwertung Höltys als des eigentlichen Begründers gegenüber Bürger durch Wolfgang Kayser (1936) bezieht sich vor allem auf die zwei ernsten Romanzen Adelstan und Röschen und Die Nonne,73 beide in früher Fassung im Bundesbuch (Bd. 1, Nr. 63, als Ebentheuer von einem Ritter, der sich in ein Mädchen verliebt, und wie sich der Ritter umbrachte, und Bd. 2, Nr. 1). Kayser hält sie für verkannte Gedichte und bewahrt sie davor, als ironisch gemeinte Bänkelsängereien oder komische Romanzen aufgefasst zu werden. Beide sind früher als Bürgers Lenore, aber weniger bedeutend. Sie wurden in den Bundessitzungen am 9. Januar 1773 und am 6. März 1773 vorgelesen (vgl. Protokoll). Am 22. April 1773 schrieb Bürger an Boie, mit offensichtlicher Kenntnis der Hölty'schen Dichtungen und deren Vorrang und Vorbildcharakter bestätigend: »Daß Ihr Herrn in Göttingen so viel stattliche Sachen macht, das danck' euch Herodes! Aber hier! hoc opus [sein Raubgraf], hie labor est! - Nun hab' ich eine rührende Romanze [d.h. keine komische; gemeint ist Lenore] in der Mache, darüber soll sich Hölty aufhängen.« 74 Millers Rückschau bestätigt schon zeitgenössisch die Bedeutung der beiden Gedichte: »Solche Anlage zum Drollichten trieb ihn an, verschiedne komische Romanzen zu machen, die nicht ohne Verdienst sind. Als er aus den Reliques of ancient english Poetry die höhere Romanze oder die Ballade kennen lernte, da machte er sehr gute Balladen, z.E. Adelstan und Röschen, die Nonne etc« (Einiges von und über Höltys Charakter 1776). 75 Wichtigstes Vorbild in Deutschland ist Gleims Marianne (1750), sodann aber vor allem James Macphersons Poems of Ossian und Thomas Percys Balladensammlung Reliques of Ancient English Poetry (1765), von welchen Fair Margaret and Sweet William und Margaret's Ghost Höltys Balladen am nächsten sind (vgl. im Einzelnen den Textvergleich im Kommentar zu Bd. 1, Nr. 63). Percys Vorbildrolle hat Hölty selbst anerkannt: »In der tragischen, schauervollen Romanze, dergleichen in den Reliques of ancient english poetry stehen, wage ich wohl noch einige Versuche« (an Christian Heinrich Schmid, Juli 1772). Neuartig an Höltys Balladen ist der Einbruch irrationaler Kräfte in die Vorherrschaft des aufgeklärten Verstandes wie die maßlose Rachsucht der Nonne. »In Höltys Ge72

Vgl. namentlich Kayser 1936, Schöne 1954/1980, Müller-Seidel 1963/80; Trumpke 1975, Weißert 1993, Hassenstein 1986, Wagenknecht 1997. Kayser 1936, S. 8 0 - 8 8 . Zu Bürgers eigenen Äußerungen über den Wettstreit mit Hölty vgl. nochmals Kayser 1936, S. 87f., und den Briefwechsel der Göttinger mit Bürger, außerdem nochmals oben Ii/3, Bürgers Lenore und der Göttinger Hain. Nach Hettche 1998b, S. 436. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. auch Kayser 1936, S. 87.

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Gedichtgruppen

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dichten wird die bisherige Grenze der Geschehens- und Empfindungsmöglichkeiten gesprengt.« 76 Später hat Hölty, vielleicht unter dem Eindruck von Bürgers Erfolg, von der Ballade Abstand genommen: »Ich soll mehr Balladen machen? Vielleicht mache ich einige, es werden aber sehr wenige sein. Mir kommt ein Balladensänger wie ein Harlekin, oder ein Mensch mit einem Raritätenkasten vor« (an Voß?, April 1774). Kaysers Aufwertung Höltys ist nicht unwidersprochen geblieben. 77 Das Bundesbuch bleibt mit Ebentheuer und Die Nonne gleichwohl ein Grunddokument der Balladengeschichte. Friedrich Leopold Stolberg gilt als Begründer der Unterart Ritterballade, seine Anstöße weisen voraus auf Friedrich Schiller und andere; die ersten Versuche fallen aber nicht mehr in die Göttinger Zeit.78 Lit.: Holzhausen 1883, bes. S. 182-184 (veraltet); Kayser 1936, S. 80-88; Schöne 1954/1980; Staiger 1963, S. 7 5 - 1 1 9 (zu Hölty bes. S. 8 3 - 8 9 und 110); Trumpke 1975, S. 5 9 - 6 8 , 118-121; Kemper 2002, S. 173-176, 234-236.

Antikisierende Oden Klopstock ahmte mit seinen Oden die antiken Metren und Strophenformen programmatisch nach, und er schuf selbst eigene Odenmaße, die er in seiner Odenausgabe 1771 mitteilt. Seine abgewandelte sapphische Strophe mit Wanderdaktylus hat er eigenhändig in Voß' Bundesbuch geschrieben {Selmar und Selma, vgl. VB Nr. 114 mit Kommentar). Die Odendichtung im Göttinger Hain steht ihrerseits in der Nachfolge Klopstocks. Über Klopstock hinaus geht man aber auch zu den alten Quellen selbst zurück, namentlich zu Horaz (vgl. auch unten III/3, Übersetzungen). Voß dichtete, anders als Hölty und Stolberg, kaum in den von Klopstock abgewandelten antikisierenden Strophen, sondern bemühte sich schon in der Göttinger Zeit um das antike Maß selbst. Klopstock prägte die »enthusiastische Ode«; sie wurde im Göttinger Hain mehr verwandelt als nachgeahmt und auch vereinfacht. Namentlich Hahn und Hölty schufen - so die Meinung der grundlegenden Arbeit von Karl Vietor 1923 - mit der elegischen Ode eine neue Art.79 »Der Atem der Jünglinge ist leidenschaftlicher als der Klopstocks, aber auch kürzer. Sie haben nicht die Weite des poetischen Gesichts, nicht das von den Grenzen des Weltalls bis in die innerste Seele schweifende Pathos. Aber es gelingt ihnen, die spröde Gattung zu kleinen, lyrischen Gebilden gefügig zu 76 77

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Kayser 1936, S. 83. Vgl. bes. Müller-Seidel 1963, S. 3 2 - 3 4 , dazu Laufhütte 1979, bes. S. 15f.; später Weißert 2 1993, S. 65; Trumpke 1975, S . 5 9 ; Hettche 1998b, S. 465f.; Hans-Georg Kemper 2002, S. 234-236. Man kann bei Hölty durchaus komisch-groteske »Elemente« annehmen; so zuletzt Kemper: Beiden, Hölty wie Bürger, entspreche das Ironisch-Distanzierte nicht: Hölty habe sich deshalb von der Ballade entfernt, Bürger habe sie deshalb der Volkspoesie angenähert, Hans-Georg Kemper 2002, S. 236. Wie genau Höltys Übergangsstellung zwischen komischer und ernster Ballade und zur Kunstballade zu bezeichnen ist, kann hier nicht ausgeführt oder gar entschieden werden. »Die vieldiskutierte Frage, ob die Geschichte der Kunstballade mit Hölty oder mit Bürger beginnt [...], kann heute für geklärt gelten in der Weise, daß die >Romanzen< Gleims (und seiner Nachfolger) die >Balladen< Bürgers (und Goethes) nur vorbereitet haben«, Wagenknecht 1997, S. 195. Vgl. Kayser 1936, S. 106-108 und passim. Vgl. grundlegend Vietor 1923, hier S. 144. Zur Kritik vgl. Kelletat 1967, S. 426.

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machen.« 80 Dafür bietet das Bundesbuch wichtige Beispiele: besonders Höltys Mayabend (VB Nr. 49), in unmittelbarer Anlehnung an Klopstocks Sommernacht 1766 (vgl. zum Verhältnis beider Gedichte im Einzelnen den Kommentar), sodann Stolbergs An die Natur (Bd. 1, Nr. 120) und Die Natur (Bd. 2, Nr. 12), sein An den Mond (Bd. 2, Nr. 20), Hahns Erinnerung (Bd. 1, Nr. 7), aber auch die verschiedenen sehr kurzen, zweistrophigen Oden, bes. von Hölty und Stolberg, vgl. Stolbergs An einen Wegweiser (Bd. 2, Nr. 19), Christian Stolbergs An meine Schwester A[ugusta] L[uise] (Bd. 2, Nr. 22), Höltys An die Grille (VB Nr. 51), Voß' Selma (VB Nr. 93) und namentlich Höltys Ihr Freunde hänget, wann ich gestorben bin (oben II/3, Höltys Auftrag - Gedicht zweier Autoren). Allein Miller machte Oden nur ausnahmsweise, vgl. im Bundesbuch nur Herbst Gesang (Bd. 1, Nr. 50a), An meinen Hahn (Bd. 1, Nr. 60), An G.D. Miller (Bd. 1, Nr. 64) und Die Geliebte (Bd. 1, Nr. 87). Die Ode war eine Gattung, die fern von der zeitüblichen Franzosennachahmung selbstständig gestaltet wurde und bei Dichtern und Kritikern beliebt war, ja, sie war die »von allen Kritikern und Aesthetikern gehätschelte lyrische Gattung. Über keine andere gibt es aus der Zeit so viele theoretische Schriften und Äußerungen«. 81 Freilich kümmerte man sich im Göttinger Hain nicht um Fragen der Gattungslehre. Die Abgrenzung der Ode von der lyrischen Dichtung im Allgemeinen war oft auch nicht klar. Eine feste Gattungsaufteilung ergab sich kaum; gängig war die stoffliche Einteilung nach hymnischen (oder geistlichen), heroischen, philosophischen (oder moralischen) und anakreontischen Oden (Batteux nach Johann Adolf Schlegel und Ramler),82 daneben Sulzers Unterscheidung nach Gefühlshaltungen (betrachtend, phantasiereich, empfindungsvoll).83 Herder unterscheidet, ganz im Zuge seiner Lehre von der Volksdichtung, Oden des Affekts und Oden der Handlung, d.h. für ihn Oden der Natur und Oden der Kunst (Fragmente einer Abhandlung über die Ode).84 Erhabenheit war stilistischer Grundzug, die »schöne Unordnung«, die, Zwischenglieder auslassend, aus »Begeisterung« spricht, allgemein ein Kennzeichen der Ode, eng mit dem Geiste Klopstocks, Herders und des Sturm und Drang verbunden, wenngleich zumindest Voß unter den Göttingern auch die Ordnung betont: »Ich glaube in einem wirklich lyrischen Geiste muß die größte Unordnung doch Ordnung haben. Die Seele selbst, und ihre ganze Einbildung, ist nun schon einmal in das Ungewöhnliche, in das Stürmende, in das Pythische hineingestimmt. [...] Bei Einer Materie ist nur Ein wahrer Plan möglich; glücklich der Dichter, der diesen trift!« (an Brückner, 2.9.1772). Ein halbes Jahr später schreibt er aber: »Ich bin nicht einerlei Meinung mit dir, daß es ein Fehler ist, wenn man eine Ode nicht gleich das erstemal versteht. Die Art der Ode, das Große, Heftige, Unordentliche, Abgebrochene, das doch alles in der Natur gegründet ist, widerstreitet schon. [...] Wenn die Dunkelheit nur nicht in der Sache, sondern in dem Übermaße der Begeisterung liegt, so kann sie bald aufgelöst werden, und desto größer ist dann das Vergnügen. Überhaupt warum

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Vietor 1923, S. 128. Vietor 1923, S. 133. Johann Adolf Schlegel 1770, S. 380f., und Ramler 1769, S. 28f. Vgl. Vietor 1923, S. 133ff., hier S. 137. Herder 1985-2000, Bd. 1, S. 93.

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sollte die Poesie [...] nicht auch ein Studium verdienen? In den griechischen Schulen erklärte man die Dichter. Bei uns will man ihnen bloß den Nachtisch einräumen« (an Brückner, 24.2.1773). Auch hier die Gegenmeinung vertretend, sagt Stolberg: »Mich deucht eine Ode solte gleich das erste mal [...] ganz verstanden werden [...]. Ich liebe diejenigen von Klopstocks Oden am meisten welche am leichtesten sind.« 85 Für Voß stehen die Oden - nach der Göttinger Zeit entstanden die meisten um 1800 im Mittelpunkt seines dichterischen Selbstbewusstseins; sie sind in der Gegenwart alle vergessen. Lit.: Herder 1985-2000, Bd. 1, S. 5 7 - 9 9 (Von der Ode 1764/65); Vietor 1923, S. 128f. (Stolberg), S. 129 (Voß), S. 133-143 (Odentheorie), S. 144f.; Kelletat 1949, S. 19-39; Fischer 1960, S. 7 - 1 9 , 2 1 - 3 6 ; Kelletat 1967, S. 425-427; Hans-Georg Kemper 2002, S. 189-193.

Übersetzungen (Horaz) Stolberg und namentlich Voß zählen zu den bedeutendsten deutschen Übersetzern antiker Dichtung; ihre Anfänge gehören in die Göttinger Zeit, denn sie fallen mit den Anfängen ihrer altsprachlichen Studien zusammen. Im Bundesbuch finden sich zwar noch keine Übersetzungen Stolbergs, aber fünf wichtige Voß'sche Übertragungen, alle aus Horaz (Bd. 1, Nr. 95 = l,3; Bd. 1, Nr. 99 = l,5; Bd. 1, Nr. 117 = 1,31; Bd. 1, Nr. 136 = II,3; Bd. 1, Nr. 153 = III,3; zzgl. Parodien: Höltys Parodie, Bd. 1, Nr. 75, zu II,3, Millers An die Venus. Parodie der30sten Ode des Horaz, im ersten Buch, Bd. 1, Nr. 78, Vossens An Wehrs, Bd. 1, Nr. 104, zu 1,18; Vossens Übersetzung der der Sappho zugeschriebenen Ode Δεδυκεμεν α σελαννα, Bd. 1, Nr. 10). Die kleinen Formen Horazens und Pindars (welchen der Sturm und Drang mehr schätzte, weil er das Dichtergenie zu verkörpern schien) gehen den Übersetzungen der großepischen Werke Homers voraus. Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. Chr.) vermittelte die griechische Odentradition (Sappho, Alkaios, Asklepiades) in die lateinische Welt. Kein alter Dichter ist so oft ins Deutsche übertragen worden wie Horaz. Wichtige zeitgenössische Übersetzungen sind die Ramlers (15 Oden aus dem Horaz 1769) und die Wielands (Briefe 1782 und Satiren 1786), dann namentlich die Vossens selbst (erste Gesamtausgabe in 2 Bdn. Heidelberg 1806). 86 Die Pindarübersetzungen werden nur im Protokoll (24.-29. Versammlung) genannt; warum sie nicht ins Bundesbuch geschrieben wurden, ist unbekannt. Eine Probe findet sich in Für Klopstock.87 Die Beschäftigung mit Horaz zieht sich durch Vossens Leben hindurch. Vor Göttingen sind Ramler und Horaz seine wichtigsten Vorbilder. 88 Die fünf im Bundesbuch 85 86

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An Voß, 18.1.1774, Hellinghaus 1891, S. 12. Einige Oden wurden vorab veröffentlicht in der Neuen Berlinischen Monatsschrift NBM 1 (1799,1), S. 3 2 - 3 6 (III,3); 1 (1799,1), S. 81f. (III,9); 1 (1799,1), S. 184f. (11,10); 2 (1799,2), S. 8 1 - 8 5 (III,4); 2 (1799,2), S. 2 4 1 - 2 4 3 (IV,5); 3 (1800,1), S.321f. (IV,3); 4 (1800,2), S. 3f. (II,20); 4 (1800,2), S. 161f. (IV,13). Außerdem: Genius derzeit, Bd. 16 (1799,1), S. 196-199 (III,29); 17 (1799,2), S. 60 (111,13), S. 145f., (1,14), S. 4 5 3 - 4 5 5 (11,16); 18 (1799,3), S. 145f. (II,3), S. 147-149 (11,13). Lübbering 1957, S. 7 9 - 8 3 , S. 176-179. Schon in Neubrandenburg, d.h. vor 1769, hat er Horaz übersetzt, aber alle Versuche verbrannt, vgl. seine Erinnerungen aus meinem Jugendleben, Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, S. 43.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

erhaltenen Übersetzungen sind offenbar die einzigen, die er in dieser Zeit machte: 8 9 »Ich habe noch fünf Übersezungen aus Horaz, sie sind aber noch alle zu uncorrect, als daß ich sie Ihnen schicken kann. Es ist viel Arbeit dabei, und der Dank bleibt aus. Es giebt Stellen, w o eine Übertragung aller Schönheiten unmöglich

ist« (an Brückner,

15.11.1772). 9 0 In der Göttinger Zeit bevorzugt er Horaz' griechisches Vorbild: »Ich glaube, daß Horaz mit Recht furchtsam war. Seine beiden O d e n Bacchum Bacche

in remotis

rapis ausgenommen, vielleicht auch noch Quälern ministrum

und Quo me

- hat er nichts so

lyrisches gemacht, als Pindar« (an Brückner, 15.11.1772). Brückner schickt er Proben seiner Pindarübersetzung: »Nur muß ich bitten, ja keine Horazische O d e mit feinem, abgezirkeltem Plan zu erwarten. Pindars G e s ä n g e sind einzig in ihrer Art« (24.2.1773). Proben seiner Göttinger Pindarübersetzungen schickt er über Boie an Herder zur Beurteilung, und Voß ist vor allem an einer Gesamtübersetzung gelegen (die aber nicht zustande kam): »Findet er meine Übersezungsart gut, so denk' ich mit Gottes Hülfe den ganzen Pindar wenigstens in zehn Jahren zu übersezen.« Über den sapphischen Vers schreibt er: »Saffo, die ihn erfunden, hat nie oder selten, das heißt, ohne daran zu denken, den horazischen Abschnitt. Ramler sagt, daß Horaz diesen erfand, um d e m Sylbenmaße mehr Festigkeit und allgemeinere Anwendlichkeit auf alle Gegenstände zu geben. Lies aber nur eine etwas lange O d e im Horaz, ob du nicht eine gewisse Monotonie a m Ende fühlst, die den Vers eklicht macht. Und w a r u m wollen wir ihn wider seine Natur zu höheren Gegenständen, als schmelzenden

Empfindungen

umschaffen? Haben wir nicht den Alcäischen, die mancherlei Art Choriamben, nicht im Deutschen die herrlichen kurzen Jamben? Und unter den unerträglichen Fesseln, die uns der horazische Safficus auferlegt, ist's fast unmöglich, durchgehende stark und wahr zu bleiben. Behalten wir also den Saffischen Vers für weiche Empfindungen, und machen ihn nach der Saffo Vorbild.« Wenig später stellt er kurzerhand fest, »daß die zu sklavische N a c h a h m u n g des Horaz sich für keinen Deutschen schickt« (an Brückner, 18.4.1773). Grundauffassung Vossens - und des Sturm und Drangs (mit d e m Voß hier übereinstimmt): Die Griechen »sind und bleiben doch die einzigen Lehrer der Poesie, wo außer Mutter Natur welche sind« (an Brückner, 6.3.1774). Pindar und Homer stehen in der Mitte seiner Bemühungen. Erst später tritt der lateinische Dichter wieder in den Vordergrund; er war im G a n z e n viel prägender für Voß als Pindar. 1802 las er Horaz mit Goethe in Jena. Seine erste Gesamtübersetzung wurde in Eutin und in Heidelberg vollendet; einige wenige W e n d u n g e n aus den im Bundesbuch vorliegenden frühen Fassungen behält sie wörtlich bei. Sie erschien 1806 (zweite, verbesserte Auflage 1820).

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Die Übersetzung der Ode 1,1 (Protokoll, 6.3.1773) ist nicht erhalten. Cramer würdigt sie gegenüber Bürger: »Voß hat die erste horazische Ode Maecenas atavis etc. über allen Ausdruck herlich übersezt«, 8.3.1773. Vgl. schon Voß an Brückner, 2./20.9.1772, Metelmann 1932, S. 359. Vier der fünf an Brückner gesendeten Übersetzungen u.a. Gedichte der Zeit wurden 1985 mit dem Brückner-Nachlass versteigert (Bd. 1, Nr. 99, 117, 136, 153), vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3049; sie finden sich heute in der SHL Kiel in der Abteilung »Voß-Zuwachs«, Cb 4.5. Die Übersetzung der Ode l,3 (hier Bd. 1, Nr. 95) befindet sich seit 2002 im Johann-Heinrich-Voß-Museum in Otterndorf, offenbar ebenfalls ursprünglich aus dem Brückner-Nachlass stammend.

Gedichtgruppen

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Die zeitgenössische Kritik bescheinigte Voß: »Dasjenige, wodurch sich die vorliegende Vossische Übersetzung so einzig auszeichnet, ist, ausser den metrischen Vorzügen, in den Oden der wahrhaft lyrische Schwung, und die über niedrige Gegenstände durchaus erhabene Sprache [...]. Wir sehen den römischen Geist, der sich in deutscher Sprache römisch gestaltet«. 91 Daneben steht, für die Nachwelt stärker und trennend im Vordergrund, die metrische Strenge, die die Werke des älteren Voß bestimmt. Herder meinte schon 1803, mit Bezug auf 1799/1800 vorab veröffentlichte Übersetzungen: »Manche andre rasselnde Cyklopen-Übersetzung, ohn' alle Ehrerbietung gegen Horaz auf dem Amboß geschmiedet, wird dir gegen das Urbild gehalten, unleidlich tönen« (Erster Brief der Briefe über das Lesen des Horaz, an einen jungen Freund, Adrastea).92 Im Privatbrief hatte er kurzerhand erklärt: »Wenn Horaz in seiner Sprache so gesungen hätte, glauben Sie wohl, ein Römer hätte ihn gelesen?« (an Gleim, 22.3.1799). Und Wilhelm Herbst stellte später fest: »War Voss ein für diese Gattung [Lyrik] weniger gestimmter und beanlagter Geist, so konnte es kaum ausbleiben, dass auch seine Nachbildungen sich nicht über die Buchstabentreue zu der vollen geistigen Treue erhoben. [... Horaz' Wesen] mit befriedigender Aehnlichkeit deutsch wiederzuspiegeln, war eine Aufgabe, welcher Voss mit seinem Mangel an Beweglichkeit, seiner starren Selbstheit nicht gewachsen war.« 93 Die Nachwirkung der horazischen Lyrik ist in der Anakreontik, bei Klopstock, bei Hölty, Stolberg, ja, sie ist im ganzen 18. Jahrhundert breit spürbar, dem Jahrhundert seiner größten Nachwirkung überhaupt. Voß' Antikenübersetzungen und ihre bahnbrechende Genauigkeit wirkten ihrerseits auf Nachfolger, namentlich auch auf August Wilhelm Schlegel, sodann auf die Sprach- und Bildungsgeschichte der Deutschen im Ganzen. Goethe nahm als höchste von drei Arten eine Übersetzung an, die »die Übersetzung dem Original identisch machen möchte« (HA Bd. 2, S. 256) und »die den verschiedenen Dialekten, rhythmischen, metrischen und prosaischen Sprachweisen des Originals« entspreche (Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans, HA Bd. 2, S. 257). Als Beispiel nennt er zunächst Vossens Übersetzungen. Sie haben hier im Bundesbuch des Göttinger Hains ihre ersten Wurzeln. Wilhelm von Humboldt erklärte kurzerhand, von Voß könne man behaupten, »dass er das klassische Alterthum in die Deutsche Sprache eingeführt hat. Eine mächtigere und wohlthätigere Einwirkung auf die Nationalbildung ist in einer schon hoch cultivirten Zeit kaum denkbar, und sie gehört ihm allein an«. 94 Vgl. Voß' programmatisches Gedicht An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg 1780, später Die Weihe, das beschreibt, wie der Übersetzer von Homer selbst eingesetzt wird. Lit.: Degen 1794, Bd. 1, S. 158-245; Herbst 1872/76, Bd. 2.2, S. 155-159; Stemplinger 1906, bes. S. 39-41; Stemplinger 1921; Kelletat 1949, bes. S. 29f. Zu Voß als Übersetzer Häntzschel 1977, bes. S. 39-46 und 224-234; neuerdings Raimund Kemper 1995; Katalog 2001b, S. 74-104.

91

92 93 94

So der Rezensent (Kürzel O.J.D.M.) der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 4 (Juni 1807), Nr. 135-137, S. 465-488, hier 467. Herder 1985-2000, Bd. 10, S. 745. Herbst 1872/76, Bd. 2.2, S. 156. von Humboldt 1909, S. 131.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Lieder (Miller) Die Lieder des Göttinger Hains - sie fallen in eine Zeit, die sich einerseits dem Volkslied zuwendete; andererseits den Höhepunkt des deutschen Kunstliedes in der Romantik >vorbereitete< - gehören nicht zum »ewigen Vorrat« und auch nicht mehr, wie, darin seinerseits historisch geworden, noch Alfred Kelletat vor bald vierzig Jahren meinte, zum »Hausschatz und Mundvorrat« deutscher Lieddichtung, 95 trotz ihrer zum Teil sehr weiten Verbreitung noch im 19. Jahrhundert, wie einschlägig in Hoffmanns von Fallersleben Unsere Volkstümlichen Lieder nachzulesen ist (erstmals 1857). Erhalten haben sich ausschließlich Lieder, die dem Bundesbuch zeitlich nachfolgen, darunter namhafte wie Höltys Üb immer Treu und Redlichkeit 1775, Rosen auf den Weg gestreut 1776, Millers Was frag ich viel nach Geld und Gut 1776, Vossens Landund Erntelieder und namentlich Stolbergs Lied auf dem Wasser zu singen 1782. Der Mehrzahl der übrigen Göttinger Lieder kommt freilich auch nicht eine nur anstoßgebende und vorbereitende« Rolle zu, wenn man nur die langjährige Beliebtheit eines Liedes wie Millers Deutsches Trinklied (Bd. 1, Nr. 38) bedenkt. Gerade mit Urteilen etwa über das Verhältnis von Höltys und Goethes Liedern wird man vorsichtig sein müssen, zumal Goethe Höltys Lieder kaum je als »Anregung« wahrgenommen haben dürfte. Wenn Friedrich Rückert schreibt: »Dein, ο Hölty, gedenk' ich! dein Lied ist der liebliche Knabe, | Der in Goethes Gesang reifte zum herrlichen Mann«, 96 so ist dies zutreffend, wenn man damit keine ursächliche Verbindung meint. Insofern ist der Einschätzung Günther Müllers in seiner grundlegenden Geschichte des deutschen Liedes (erstmals 1925) zuzustimmen: »[J]a, Hölty hat gegenüber den bis 1776 entstandenen Liedern Goethes an innerer Vollendung voraus, was ihn unter anderem Gesichtspunkt neben Goethe verschwinden läßt: die Begrenzung auf ein Erlebnisgebiet«. 97 Zutreffend ist auch Hoffmanns Einschätzung, in dieser zunächst nur die Reihenfolge betonenden Weise: »Die volksthümlichen Lieder, wie sie zunächst aus dem Göttinger Hainbunde hervorgingen, wurden zum Theil Gemeingut des ganzen Volks, zumal da sie ihm mit singbaren, wohlgefälligen Weisen zukamen«. 98 Die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte ist allerdings weitgehend unerforscht. Das Lied war neben der antikisierenden Ode - und dieser schwierigen Form entgegengesetzt - eine Lieblingsgattung der Göttinger (nicht Klopstocks), mit Freude am Einfachen und Gekünstelt-Anakreontisches verdrängend. Müller schreibt mit Bezug auf Hölty: »Die Empfindsamkeit hat hier das Gezierte verloren; sie hat eine persönliche Intimität gewonnen«. 99 Zahlreiche Vertonungen, die ersten den Erstdrucken im Musenalmanach beigegeben, sorgten für Verbreitung und Volkstümlichkeit. Ihre Kompo95 96 97 98

99

Kelletat 1967, S. 441 f. Nachgelassenes Xenion, Rückert 1888, S. 244. Günther Müller 1925, S. 219. Hoffmann von Fallersleben 1869, S . V . Im Neuen Liederbuch für frohe Gesellschaften, enthaltend die besten teutschen Gesänge zur Erhöhung geselliger Freuden, Nürnberg 2 1818 (erstmals 1815), heißt es: »Oder könnte ein dankbares Vaterland den lieblichen Morgen der edlen deutschen Sänger der 70r Jahre, könnte es die Boie, Bürger, Claudius, Hölty, Miller, Overbeck, Stolberge, Voss u.s.w. je vergessen?« (zit. nach Hoffmann von Fallersleben 1869, S. XIX). Günther Müller 1925, S. 219.

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nisten sind Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Friedrich Reichardt, Johann Peter Abraham Schulz und Friedrich Wilhelm Weis, später namentlich Franz Schubert, der 35 Lieder Höltys vertont hat. Harald Müller hat die Vertonungsgeschichte der Lieder Höltys aufgearbeitet (1998). Eine annähernd vollständige Sammlung der Vertonungen der Lieder der anderen Bundesdichter gibt es nicht. Die Lieder des Bundesbuches gehören zu einem Gutteil zu den Minnesangnachahmungen (s.u.). Daneben gibt es allgemeine Liedthemen wie Wein, Liebe und Vaterland. Eigentliche Volkslieder gibt es im Göttinger Bundesbuch nicht; Stoffe der Volksdichtung leben allenfalls in den Balladen fort. Die meisten Göttinger Lieder stammen von Miller. Millers Lieder waren im Bunde hochgeschätzt. Boie urteilt gegenüber Bürger: »Millers Lieder sind mit das beßte meiner neuen Sammlung, und werden mir immer lieber, je mehr ich sie lese« (28.6.1773). Am 16. November 1773 schreibt Stolberg an Miller: »O mein Miller der Gedanke ist mir süß daß Sie unter allen Deutschen [...] gewiß der beste LiederDichter sind. Kein Deutscher hat seinen Liedern den sanften, natürlich, melodischen Fall gegeben, kein LiederDichter hat so viel Herz in sein Lied gebracht.« 100 Bürger meint gar: »Ich kann sagen, wenn mich einer im Hain eyfersüchtig macht, so ists Miller. Ohne Widerspruch ist er schier itzt schon unser bester Liederdichter. Und was wird er noch werden! Mein bischen Liedermacherey muß ich ihm nolens volens zu Füßen legen, und froh seyn, wenn meine Liedermacherey würdig bleibt der Seinigen die Schuhriemen aufzulösen« (an Boie, Oktober 1773). Der Ruhm der Miller'schen Lieder war nicht dauerhaft. Zehn Jahre später meinte Stolberg verächtlich über dessen Ausgabe von 1783: »Thut es nicht weh wenn ein Freund dem Ungeheuer Vergessenheit so grosse Klösse in den Rachen wirft?« 101 Millers eigener Vorbericht 1783 lässt schon gewachsenen Abstand erkennen: »Wer nun sagt, daß meine Gedichte viele Fehler und Schwachheiten an sich haben, der sagt mir eine alte Wahrheit [...]. Ich schäme mich der Fehler, zumal meiner ersten Versuche, eben so wenig, als ich mich schäme ehmals Kinderschuhe getragen und gelallt zu haben« (unpag.). Wenn Miller seine Lieder als »Geschöpfe und Gespielen meiner Jugend« bezeichnet, so mag man das auf die Göttinger Liedepoche insgesamt beziehen, auf ihre Grenzen und auf ihren bleibenden Rang. Lit.: Friedlaender 1902; Günther Müller 1925, S. 206-230, bes. S.207f., 218-221, 222f.; Kelletat 1967, S. 440-445; Harald Müller 1998b; Cloot 2000; Brunner 2000; Meier 2000; Rehm 2001.

Minnesangrezeption Die Minnesangrezeption im Göttinger Hain steht im Zeichen der Hinwendung zum (Alt-) Deutschen wie der Hinwendung zur Volksdichtung. 102 Für Voß ist der Minnesang zugleich antifranzösisch; er schreibt an Brückner: »Ich studire deswegen die Minnesänger und Luthers Schriften, um die alte Nerve wieder zu bekommen, die die deutsche 100 101 102

Ungedruckt, Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethemuseum, Nr. 1603. An Voß, 11.8.1783, Hellinghaus 1891, S. 89. Vgl. bis heute grundlegend, aber in vielem überholt und ungenau: Mühlenpfordt 1899. Mühlenpfordt blieben viele Texte unbekannt, da er nicht das Bundesbuch einsehen konnte.

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

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S p r a c h e e h e d e m hatte, u n d d u r c h d a s v e r w ü n s c h t e Latein und F r a n z ö s i s c h g a n z wieder v e r l o r e n hat« (24.2.1773). Die G l e i c h s e t z u n g d e s ( A l t - ) D e u t s c h e n mit Natürlichkeit ist v o r g e p r ä g t bei Klopstock, vgl. nur die O d e Der Hügel Der Name

»Göttinger

Hain«),

und der Hain (vgl. o b e n 11/1,

Die M i n n e s a n g r e z e p t i o n ist dabei a b e r deutlich v o n der

H i n w e n d u n g zur B a r d e n m y t h o l o g i e zu t r e n n e n . M a n hatte es hier mit g e s c h i c h t l i c h e n T e x t e n zu tun u n d ihre K e n n t n i s bedurfte d u r c h a u s a u c h einer philologischen A n s t r e n g u n g . G r u n d l a g e ist B o d m e r s und Breitingers V e r ö f f e n t l i c h u n g Sammlung singern

aus dem schwaebischen

handschrift.

V o ß hat B o d m e r s

a n e r k a n n t , vgl. sein Der Minnesang

Zeitpuncte

von

1758/59 a u s der Manessischen

Leistung s c h o n in der Göttinger Zeit

MinneLieder-

ausdrücklich

(Bd. 1, Nr. 114).

Die B e d e u t u n g d e s R e z e p t i o n s v o r g a n g s im Göttinger Hain liegt w e n i g e r im dichteris c h e n E r g e b n i s - d a s zeigt sich, w e n n m a n Vorbild u n d N a c h a h m u n g n e b e n e i n a n d e r liest - als in der T a t s a c h e als solcher, d a s s m a n sich hier mit mittelalterlicher D i c h t u n g a u s e i n a n d e r setzte, n a c h d e m B o d m e r s A u s g a b e n z u n ä c h s t o h n e breiteren W i d e r h a l l g e b l i e b e n w a r e n u n d b e v o r mit der R o m a n t i k a u c h eine b r e i t e n w i r k s a m e r e und s p ä t e r w i s s e n s c h a f t l i c h e R e z e p t i o n b e g a n n . G o e t h e , Klinger u n d Lenz b e f a s s t e n sich nicht mit d e m M i n n e s a n g (vgl. G o e t h e in Dichtung d e n G ö t t i n g e r n nur Gleim, der 1773 Gedichte dichte

nach

Walther

von der Vogelweide

und Wahrheit, nach

HA Bd. 10, S. 122), n e b e n

den Minnesingern

und 1779 Ge-

h e r a u s b r a c h t e . 1 0 3 Unter d e n Göttingern w a -

ren es n a m e n t l i c h Hölty u n d Miller, die sich als >Minnesänger< erprobten; w i e b e i m Lied a l l g e m e i n w a r Miller der schnellste. V o ß b e m e r k t e : »Miller reimt leicht, e m p f i n d e t , und spricht s e i n e E m p f i n d u n g aus. Sein Herz ist in s e i n e n Liedern. Die M i n n e s ä n g e r studirt er fleißig, und w i r d im M i n n e s a n g , w i e ich glaube, b e s s e r als Bürger«

(an

Brückner, 15.11.1772). Im Inhaltsverzeichnis d e s Göttinger M u s e n a l m a n a c h s auf 1774 stellt Boie die Minn e s a n g i m i t a t e d e m Leser vor: » M a n hört itzt vieles [...] w i d e r die B a r d e n p o e s i e . D a ß es d e m M i n n e g e s a n g e nicht b e s s e r g e h e n w e r d e , ist m e h r als V e r m u t h u n g . M a n erlaube mir aber, nicht ihn zu vertheidigen, nur allenfalls d e n G e s i c h t s p u n k t a n z u g e b e n , a u s w e l c h e m die Minnelieder dieser S a m m l u n g zu s e h e n sind, eine kleine A n m e r k u n g . Sie s i n d d a s zufällige Spiel einiger Freunde, die, i n d e m sie die alten, freylich nicht g e n u g g e n u t z t e n , Ueberbleibsel d e s s c h w ä b i s c h e n Z e i t p u n k t s mit e i n a n d e r

lasen,

v e r s u c h e n wollten, ob m a n a u c h nicht einmal g a n z in d e m Geiste der M i n n e s i n g e r dichten, und bey der G e l e g e n h e i t einige alte W ö r t e r retten könnte, die nicht hätten u n t e r g e h e n sollen. S i n d M i n n e s p r a c h e u n d alte W ö r t e r in diesen V e r s u c h e n o h n e alten Geist, u n d bloß der a r m s e l i g e Behelf v o n Dichtern, die an der Originalsucht krankten, s o v e r d a m m e m a n sie, und tadle mich, der ich d a s nicht g e g l a u b t habe. D a s einzige w ü n s c h ich nur, d a ß keiner sie beurtheile, als w e r die alten S ä n g e r kennt. Der Leser, d e m sie nicht gefallen, w i r d leicht die w e n i g e n Blätter ü b e r s c h l a g e n , u n d sich mit der V e r s i c h e r u n g beruhigen, d a ß [...] d a s P u b l i k u m nicht mit M i n n e l i e d e r n ü b e r s c h w e m m t w e r d e n soll« (unpag.).

103

Vgl. Mühlenpfordt 1899, S. 10-16. Neuerdings Hettche 2003, S. 526-531.

Gedichtgruppen

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Die Göttinger Minnelieder traten nicht geschlossen in einer Ausgabe hervor, sondern wurden verstreut in den Almanachen gebracht. Boie hatte vor, selbst eine Ausgabe der Minnesänger zu veranstalten, 104 und im Frühjahr 1773 plante man sogar, eine eigene Ausgabe der Göttinger Minnelieder herauszubringen. 105 Beide Vorhaben wurden nicht verwirklicht, ebenso wenig wie die Ausgabe des Bundesbuches. Lit.: Kraeger 1893, S. 9 2 - 9 5 ; Mühlenpfordt 1899.

Ossianrezeption Die ossianischen Dichtungen des Schotten James Macpherson (1736-1796), erstmals 1762-63/1765, die man für Übersetzungen spätantiker Gesänge des sagenhaften greisen Barden Ossian hielt, waren freie Zusammenfügungen bruchstückhafter Überlieferung; man hat freilich, in dieser Zuspitzung ganz verkehrt, von Fälschungen gesprochen. Erst mit der umfassenden Arbeit von Wolf Gerhard Schmidt 2003/04 ist die Ossianforschung in Deutschland auf einen wissenschaftlichen Sockel gesetzt worden. 106 Macpherson knüpfte, wie man heute weiß, in der Tat an vorwiegend mündliche Volksdichtung, die er genau kannte, an und griff Stil und Stoffe auf. Genau lässt sich dies nicht klären: »[K]nowing that the epics are not what they purport to be is quite a different matter from being able to determine with any certainty the precise degree to which Macpherson's Ossianic poetry is actually indebted to the authentic Gaelic materials which he undoubtedly had at his disposal«. 107 Zweifel an der Echtheit entstanden freilich gleich mit Bekanntwerden der Dichtung und wurden in Deutschland erstmals 1766 von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg geäußert (achter Brief der Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur 1766). Hellsichtig hat später Friedrich Schiller Ossian als >sentimentalischen< Dichter bezeichnet (Über naive und sentimentalische Dichtung 1795/96). Herder beruhigte sich im Alter mit der Einsicht, Macphersons Ruhm könne von einer Untersuchung nicht angetastet werden: »Sei alles der Tradition entnommen, wie Ers gab: Er hats gesammelt, Er hats gegeben. [...] Oder empfing er nur rohen Stoff, und setzte mit Schöpferhand zusammen, was er dargestellt hat; um so rühmli-

104 105 106

107

Vgl. Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 81 und 104. Vgl. Voß an Brückner, 24.2.1773, und Kraeger 1893, S. 95. Vgl. Wolf Gerhard Schmidt 2003/04. Zur Problematik dieser vielfach übertreibenden Arbeit vgl. freilich auch Kahl 2005c. Unter den älteren Arbeiten grundlegend: Tombo 1901 und Gillies 1933, außerdem: Gaskill 1988/89. Zur Echtheitsdebatte vgl. im Einzelnen Schmidt 2003/04, Bd. 1, S. 259-298. Gaskill 1991, S. 4. Vgl. auch Meek 1991. Vgl. außerdem: Gaskills Ossian in Europe 1994: »He would have assumed, no doubt rightly, that the material he collected would not, in its raw and undiluted form, be sufficient >to please a polished age< [...]. He may also have managed to convince himself that the material in his possession consisted of the corrupt remnants of a literary tradition of far greater dignity and antiquity [...], perhaps stretching back to the legendary Ossian himself [...]. [T]he procedure he adopted seems reasonably clear. It ranged from something approaching conventional translation - Macpherson can indeed on occasion be found >wrestling with his sources< [ . . . ] - through free adaptation, loosely based on authentic plots and incidents, to complete fabrication. By these means he is able to create, in Fingalat least, a synthetic epic whole which is in part a collage of genuine elements, in part free invention«, Gaskill 1994, S. 646.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

eher für ihn, um so belehrender für uns« (Homer und Ossian, Hören 1795).108 Auch Klopstock, in den Jahren vor dem Göttinger Hain leidenschaftlich um Ossian ringend, trieb im Alter der Zweifel an Ossians Echtheit um, wenngleich Ossian für ihn schon in den siebziger Jahren, der Zeit des Göttinger Hains, wieder an Bedeutung verloren hatte. Wichtiger als die Echtheit ist die Untersuchung der ungewöhnlichen Beliebtheit, die in Herders Altersäußerung noch immer durchklingt und die zwanzig Jahre zuvor in Goethes Werther 1774 ihr wichtigstes, wenn auch zweischneidiges Denkmal gesetzt bekam. Gerade die Eigenschaften, die am freudigsten aufgenommen wurden, erklären sich, vereinfacht gesagt, aus der Entstehung der ossianischen Dichtung zwischen Aufklärung, Empfindsamkeit und Geniezeit, so dass die zeitgenössischen Leser in einem vermeintlichen Altertum etwas finden konnten, was eigentlich ihrer eigenen Gegenwart angehörte. Man sah mit dem Herder der Geniezeit in Ossian, ähnlich wie in Homers und auch Klopstocks eigenen Dichtungen, etwas als genial, als »Natur« an, das durchaus hochkünstlich war. Namentlich das versöhnlich-milde Heldenbild Ossians, ein Zug aus der Überlieferung, den Macpherson übertrieben ausgestaltete, entsprach einer Zeit, die, wie einst Piaton, an Homers Grausamkeiten Anstoß nahm. Dass Fingal, Ossians Vater und Hauptheld der Gesänge, den Skandinavier Swaran nach einem Gastmahl besiegt heimwärts fahren lässt, während Odysseus die Freier gnadenlos umbringt, ist nur augenfälligster Beleg. Der Vergleich mit Homer ist im 18. Jahrhundert Allgemeingut, nicht erst bei Werther. Der schottische Gelehrte Hugh Blair (1718-1800) und der italienische Ossian-Übersetzer Melchiorre Cesarotti (1730-1808) haben Homer zwar größere Kenntnisse bescheinigt, aber auch Geschwätzigkeit und Eintönigkeit vorgehalten. Blair stellte der »savage ferocity, which prevails among all the Homeric heroes«, 109 die »generosity of heroes« 110 gegenüber, ein Zug, den später namentlich Stolberg interessierte.111 Das Fehlen eines greifbaren Gottesbildes regte zu vielfachen Deutungen an, und die Verminderung des Wunderbaren kam dem Empfinden der Aufklärung entgegen. Andererseits wurde auch dem Gefühl Genüge getan: Die rückschauende Klagehaltung Ossians - sie hat einen Anhalt an dem historischen Barden - und seine melancholische »Wonne der Wehmut< (>joy of grieffranzösischer< Einflüsse - starb kurz nach der Gründung des Bundes, am 30. September 1772. Er hatte sieben Gedichte zum Göttinger Musenalmanach für 1773 beigetragen; der Göttinger Musenalmanach für 1776 enthält als Frontispiz sein Bild. Vgl. Höltys Bey Michaelis Grabe, Hettche 1998b, S. 113, und Karl Friedrich Kretschmanns Auf Michaelis Tod, GMA 1774, S. 88-92, außerdem Bürger an Gleim, 20. September 1772. Voß beginnt mit einem ossianischen Herbstbild, vgl. z.B. die Anfangszeile mit »Rise, winds of autumn, rise; blow upon the dark heath!«, The poems of Ossian and related works, S. 169. Vgl. zur Natur bei Ossian Wolf Gerhard Schmidt 2003/04, Bd. 1, bes. S. 132-151. Auch geisterartige Erscheinungen

Kommentar

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der Verstorbenen sind oftmals mit der ossianischen Dichtung verwandt, im Göttinger Hain besonders deutlich etwa in Höltys Bundsgesang (Bd. 1, Nr. 92). Hier werden die Geister der Verstorbenen angerufen, ihren Gräbern zu entsteigen, um die Klagen zu umschweben. Die Klage des Barden um einen tragisch zu früh Verstorbenen mag an die Lieder von Selma erinnern und allgemein der ossianischen Klagestimmung nahe kommen. Auch die Erscheinung von Geistern in »weißer Hülle«, also wohl in Nebel oder Wolken, ist ganz ossianisch. Im Fingal erscheint der Geist des irischen Kriegers Crugal: »[H]is robes are of the clouds of the hill« (The Poems of Ossian and related works, S. 65). Aber bei Ossian entsteigen die Geister nicht den Gräbern, sie wohnen in Sturmwind und Wolken; Crugal: »I am light as the blast of Cromla, and I move like the shadow of mist« (S. 65). Vgl. auch: »The ghosts of the lately dead were near, and swam on gloomy clouds« (S. 62). Es geht Voß freilich um Michaelis, nicht um Ossian. Er zielt nicht auf die Übernahme eines einheitlichen Bildes, die ossianische Stimmung dient der Darstellung seiner Klagehaltung; vgl. Kahl 2000a, bes. S. 5 0 - 5 3 . - Von Michaelis' Tod ausgehend, beklagt Voß die Lage im »deutschen Eichenhain« insgesamt (schon hier die Klopstock'sche Verwendung von »Hain« als deutscher Parnass, vgl. oben 11/1, Der Name »Göttinger Hain«): junge Talente gehen dahin (Str. 4) und Klopstock »gönnt« man Dänemark (kein deutscher König, nur der dänische, fördert ihn), stattdessen »lechzt« man nach Arouet, also Voltaire. Gemeint sind eine leichtlebige, »französische« Gesellschaftskultur und Wieland, den man für deren Repräsentanten in Deutschland ansah und der erst in der späteren Druckfassung namentlich genannt wird, vgl. Bd. 2, Nr. 33, und 11/1, Dichtung zwischen Klopstock und Wieland. Zu »Bube« im Göttinger Hain vgl. Kraeger 1893, S. 79f. Vgl. auch Ursula Schulz 1982, S. 76f. (Michaelis' Eintrag in Boies Stammbuch).

Bd. 1, Nr. 3 Hölty: Laura. Vorgelesen am 14.11.1772. = VB Nr. 3. Die gleiche Fassung auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 20. Am ca. 10.11.1772 an Brückner geschickt, vgl. Metelmann 1932, S. 368. Erstdruck GMA 1775, S. 153 (Kürzel T.; 3,1 Wer hemmte deinen Bogen?; 4,1-3a Ο Kronengeber, welcher den Sterblichen | Die Ketten abreißt, komm, und entfeßle mich, | Ο Wonnetod!), dann Halm 1869, S. 78 (durch Variantenangabe). »Laura« steht, dem sonstigen Gebrauch des Namens in der Lyrikgeschichte zum Trotz, für eine wirkliche Person, nämlich Anna Juliane Hagemann (geb. 1744), verheiratet mit dem Amtmann Busmann in Springe. Wilhelm Nöldeke hatte 1894 ausführlich begründet, dass trotz des Altersunterschieds deren ältere Schwester Margarete Elisabeth Henriette Hagemann (geb. 1729) Höltys Laura sein müsse, vgl. Nöldeke 1894, S. 232-235, auch Krähe 1907, S. 58f., und dann einschlägig widerlegend Nutzhorn 1898a und Michael 1914/18, Bd. 2, S. 229. - Wichtiger als die biografische Untersuchung sind Höltys briefliche Selbstaussagen. »Laura ist in der Stadt geboren und erzogen. Sie ist die schönste Person, die ich gesehn habe; ich habe mir kein Ideal liebenswürdiger bilden können [...]. Als ich sie kennen lernte, war sie bei ihrer Schwester, die in meinem Geburtsorte verheiratet war, und im December 1768 starb. Es war ein schöner Maiabend, die Nachtigallen begannen zu schlagen, und die Abenddämmerung anzubrechen. Sie ging durch einen Gang blühender Apfelbäume, und war in die Farbe der Unschuld gekleidet. Rothe Bänder spielten an ihrem schönen Busen, und oft zitterte ein Abendsonnenblick durch die Blüten, und röthete ihr weisses Gewand und ihren schönen Busen. Was Wunder, daß so viele Reize einen tiefen Eindruck auf mich machten, den keine Entfernung auslöschen konnte«, an Voß?, 13. Dezember 1773, vgl. auch Hölty an Christian Stolberg, 2. Dezember 1773, und an Friedrich Leopold Stolberg, 19. Januar 1774. Hölty berichtet meistens vergleichsweise zurückhaltend von Laura, mehrmals seinen »Freund T.« vorschiebend: »Ich habe an die Laura, die mein Freund T. besungen hat, einen Almanach geschickt, und einen Brief voll Weyhrauchkörner von ihr zurückbekommen«, an Miller, 12. Dezember 1774. »Auch eine kleine Schwestertochter der Laura, die mein guter Freund T. besungen hat, war unter der Anzahl«, an Boie, 4. Mai 1775. >Laura< spielt offenbar in mehr als dreißig Gedichten Höltys eine Rolle, so Nöldeke 1894, S.220f. Nöldeke breitet zahlreiche Bezüge zwischen Leben und Gedicht aus: »So begleitet die Liebe zu Laura Hölty durch alle Stufen seines kurzen Lebens, nur durch sie ist er ein Dichter«, Nöldeke 1894, S. 232, eine Überzeichnung offenbar unter dem Einfluss der biografischen Goetheforschung. Voß hat das Gedicht in den beiden Ausgaben mit dem folgenden zu einem vermischt. Zu Höltys Liebeslyrik vgl. Rohtraut Bäsken 1937, S. 188-191. Lit.: Nöldeke 1894, Nutzhorn 1898/1899, außerdem Ernst Müller 1986, S. 3 3 - 3 6 .

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Bd. 1, Nr. 4 Hölty: Laura. Vorgelesen am 14.11.1772. = VB Nr. 4. Erstdruck Halm 1869, S. 79f. Die Todeserwartung ist ein Grundmotiv bei Hölty, zumal seit Herbst 1774; am 8. Mai 1775 schreibt er an Voß: »Vielleicht, hat Zimmermann Leisewitzen gesagt, könnt' ich noch vor der Schwindsucht gerettet werden, wenn ich die verordneten Arzeneyen gebrauchte, und die vorgeschriebne Diät befolgte. Du siehst also, wie gefährlich meine Krankheit ist, und auf welch einem schmahlen Scheidewege zwischen Leben und Tod ich wandle. So wenig ich mich auch vor dem Tode fürchte, so gern lebt' ich doch noch ein Paar Olympiaden, um mit euch Freunden mich des Lebens zu freuen, und um nicht unerhöht mit der großen Flut hinunterzufließen.« Vgl. auch Hölty an Charlotte von Einem, 24. Februar 1775, und zu Bd. 1, Nr. 3. Sterbeglocke: Im 18. Jahrhundert fanden Beisetzungen spät abends oder nachts statt.

Bd. 1, Nr. 5 Johann Martin Miller: Die Verschwiegenheit. Vorgelesen am 14.11.1772. = VB Nr. 5. Erstdruck GMA 1774, S. 68 (dort nur Verschwiegenheit; ohne Datum; Kürzel L.M.). Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Str. 3 ist angelehnt an Walthers Under der linden (II, 16). Miller trat im Almanach unter einer Reihe wiederkehrender Kürzel auf, vgl. Voß an Brückner, 15. August 1774.

Bd. 1, Nr. 6 Hahn: Erinnerung. Vorgelesen am 31.10.1772. = VB Nr. 6. Erstdruck Matthisson 11 (1805), S. 10f. (dort An den Mond; 1,2 Wange mir zu!; 2,1 Damon; 3,4 Schluchzend jammert' ichs laut; 4,1-3 der Scheidekuss! | Erdentrennung, nur das! Dämmern nicht Grüft' auch uns? | Blüht nicht uns auch ein Eden; 5,1-2 Doch gebeugt ist mein Geist! ο bis zur Gruft gebeugt! | Brich, ο Mond, dein Gewölk!; 5,3 Jenseits blüht uns ein Eden). Die Bundesbuchfassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 8 (3,2 mein; 4,3 Friedrich). Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Die Bearbeitung des Erstdrucks offenbar von Friedrich von Matthisson selbst, vgl. Matthisson 1 (1803), S. If. (Vorrede); es handelt sich also offenbar um nicht autorisierte Fremdvarianten. - Matthisson bringt immerhin fünf Gedichte von Hahn. Das Gedicht entstand in der Nacht vom 30. zum 31. Oktober 1772, gleichzeitig mit Höltys An Daphnens Kanarienvogel (Bd. 1, Nr. 23) und Voß' An einen jungen Britten (Bd. 1, Nr. 16) und durch die Gemeinsamkeit angeregt. Voß: »Darauf ging ich zu Hölty, und fand eben Hahn bei ihm. Ich that den Vorschlag, auf ein nahgelegenes Gartenhaus zu gehn, den Kaffe dort zu trinken, und jeder ein Gedicht zu machen. [...] Erst machten wir uns recht vergnügt, und darauf ging jeder für sich in verschiedenen Gängen, und dichtete beim Scheine des Mondes. Um sieben Uhr Morgens kehrten wir zurück mit Beute beladen« (an Brückner, 3.11.1772). Vgl. auch Voß' Rückschau: »Ein paarmal geschah es, daß einige sich das Wort gaben, in einer Mondnacht auf dem Lande zu bleiben (campieren war der Kunstausdruck), und jeder ein Gedicht zu machen. Durch solche Abrede entstanden in Scharfs Garten zugleich Höltys Gedicht an Dafne's Kanarienvogel, Vossens an Andre, und Hahns Erinnerung: Brich, ο Mond, dein Gewölk«, Vorrede zu Höltys Gedichten 1804, nach Hettche 1998b, S. 450. - Zu Hahn vgl. Kahl 2001c (mit weiterer Lit.), Hans-Georg Kemper 2002, S. 152f. Klosen: Karl August Wilhelm von Closen (1756-1776), seit 1773 in Göttingen, war nicht-dichtendes Mitglied des Bundes (ein Bericht über eine förmliche Aufnahme fehlt, vgl. aber Voß nach Hettche 1998b, 448) und besonders mit Hahn befreundet; vgl. Herbst 1872/76, Bd. 1, S . 2 9 1 und 296f. (gegen Weinhold 1868, S. 54, Anm. 4) und Stammler 1914b, außerdem Heinz Jansen 1933, passim.

Bd. 1, Nr. 7 Hahn: An Bardenhold, beym Klavier. Vorgelesen am 28.11.1772. = VB Nr. 7 (dort An G. D. Miller. Beym Klavier, 5,4 Natterbrut; 8,2 Wann). Fast gleich ist die Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 9f. (dort An Gottlob Dietrich Miller beym Ciavier, 4,3-4 ο laß mich, | War auch Wahn es; 5,4 Natterbrut; 8,2-3 mein Angesicht | Bleicht im Schweiße des Todes). Erstdruck Heidelberger Taschenbuch auf das Jahr 1811, hrsg. von Aloys Schreiber, Mannheim [1811], S. 9 - 1 1 (6,1 schwillet, und mir zischend entgegenschießt; 6,2 fühlendes). Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1.

Kommentar

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»Die bei Höity stille, immer noch erträgliche Melancholie des Sterbenmüssens ist bei Hahn in der Ode [...] An Bardenhold beim Klavier [...] zu einem krankhaft verzerrten Gesicht geworden [...]. Todessehnsucht beherrscht ihn ganz, und er kann und will das Leben nicht meistern. [...] Hier ist nicht die Rede von geistlichem Trost [...], hier soll die Freundschaft die Hand halten, hier ist die Freundschaft Erlösung«, Bäsken 1937, S. 62f. Lit.: Lübbering 1957, S. 156f.

Bd. 1, Nr. 8 Johann Martin Miller: An mein Liebchen. Minnelied. Vorgelesen am 31.10.1772. Die Grundschrift = VB Nr. 8 (dort Minnelied an mein Liebchen). Die Grundschrift auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 31 (1,5 Wiederhuld; 4,5 mein; 6,2 Liebchen). Am 15.11.1772 an Brückner gesandt, vgl. Metelmann 1932, S. 366, und Härtung & Karl 50, Nr. 3033. Erstdruck der Grundschrift GMA 1774, S. 31 f. (dort Minnelied an mein Liebchen, ohne Datum, Kürzel R.; 3,2 im; 6,2 Liebchen). Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Früheste Vorlesung einer Minnesangnachahmung in den Bundesversammlungen. Im Brief an Brückner der Hinweis »nach Ideen der Minnesänger gebildet, die ich unaufhörlich leße«. Im Inhaltsverzeichnis der Ausgabe seiner Gedichte 1783 fügt Miller diesem Gedicht die Anmerkung hinzu: »Man erlaube mir von diesem und den folgenden wenigen Minneliedern ein paar Worte! Bürger, Hahn, Höity, Voß und ich fiengen an, um die damalige Zeit die Minnesinger gemeinschaftlich zu lesen und zu studieren. Voll von der Einfalt und Süssigkeit dieser Sänger, ganz in ihre Zeiten zurückgezaubert, versuchten wirs, ihnen etliche Lieder nachzusingen, und hatten dabey die Absicht, zum Studium dieser Denkmale deutscher Dichtkunst mehrere zu ermuntern, und sie auf wahre Simplicität und auch verschiedne alte gute Wörter aufmerksam zu machen, nicht aber, wie nachher Ein Recensent dem andern nachschwatzte, leeren Klingklang, dessen ohnedieß schon genug ist, noch mehr in Gang zu bringen. - Aber welche Absicht wird nicht von dem Troß gewöhnlicher Recensenten verkannt!« (S. 471f.). Bürger urteilte: »Sagen Sie doch Miliern, daß ich einige von den mir neülich abgeschriebenen Minneliedern ihm bis zum närrisch werden beneidete. Als da sind: [er nennt Bd. 1, Nr. 8, 9, 53, 123, 180; Bd. 2, Nr. 29.] Ich verzweiffle beynahe, daß ich so minniglich singen werde« (an Boie, 22.4.1773).

Bd. 1, Nr. 9 Johann Martin Miller: An die Minne. Vorgelesen am 31.10.1772. = VB Nr. 9. Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 32 (2,1 Keuschen). Am 15.11.1772 an Brückner gesandt, vgl. Metelmann 1932, S. 366, und Härtung & Karl 50, Nr. 3033. Erstdruck GMA 1774, S. 79f. (ohne Datum, Kürzel R.). Die Unterschrift mit »Ebd« (Ebender) im Bundesbuch nur hier. Vgl. zu Bd. 1, Nr. 8. Lit.: Lübbering 1957, S. 161.

Bd. 1, Nr. 10 Voß: Nachtgedanken eines Mädchens. = VB Nr. 10. Erstdruck GMA 1774, S. 41 (Kürzel X.). Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, Härtung & Karl 50, Nr. 3050. Die griechische Dichterin Sappho lebte um 600 v. Chr., mehr als ein halbes Jahrtausend vor Horaz, dem die meisten Übersetzungen im Bundesbuch gelten. Die vorliegende Strophe zählt zu bruchstückhaft erhaltenen Hochzeitsbrauchliedern, gehört aber wahrscheinlich nicht der Dichterin selbst an (Franyö/Snell 1976, Nr. 94 und S. 145). In Göttingen übersetzte Voß außerdem die Ode Φαίνεται μοι κηνος (Franyo/Snell 1976, Nr. 2, von Voß wegen ihrer Überlieferung Sapphos Ode aus dem Longin genannt, Lübbering 1957, S. 83 und 179). Vgl. zu Vossens Übersetzungen und seiner Hochschätzung des sapphischen Verses oben III/3, Übersetzungen. 1800 erschienen zwei Sappho-Übersetzungen im Fahrwasser der vossischen Übersetzungskunst: Christian Adolf Overbecks Anakreon und Sappho (Lübeck, Leipzig 1800) und Franz Karl Leopold Freiherr von Seckendorffs Blüthen griechischer Dichter (Weimar 1800). 1802 brachte Voß im Rahmen seiner Zeitmessung der deutschen Sprache die Nachtgedanken gänzlich überarbeitet, als Beispiel für Versmaße (mit Spondeus). Der Vergleich unterstreicht die gelungene Einfachheit der frühen Fassung (»Schon senkte sich dort Selene | und dort die Plejad'; umher ist | Nachtöd'; es entflog das Stündlein: | und Ich bin allein gelagert«, Voß 1802, S. 195). Sein Lied Die Spinnerin 1787 wurde durch ein Fragment der Sappho angeregt.

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Siebensterne: Die sieben Töchter des Atlas, die Zeus als Sterne an den Himmel versetzte. Lit.: Rüdiger 1934, bes. S. 3 3 - 3 5 ; Schadewaldt 1950, bes. S. 45.

Bd. 1, Nr. 11 Voß: Nachtgedanken eines Jünglings. = VB Nr. 11. Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, Härtung & Karl 50, Nr. 3050. Erstdruck GMA 1774, S. 39 (ohne Datum; Kürzel X.; 2,5 schamroth). Gereimtes Gegenstück zu Nr. 10. - 1802 machte Voß zu der revidierten Fassung die Angabe: »Man sagt, ich lehre dieses, für, ich trage es vor. Man sagt, ich lehre dich, für, ich unterrichte dich. Aber falsch sagt man: ich lehre dich dieses; die Sprache fodert: ich lehre dich, dieses (zu) thun, oder, ich lehre dir dieses. Denn nicht, die Kinder werden, sondern, den Kindern wird, die Religion gelehrt. Eben so ist es mit heissen. Unsere besten Schriftsteller (so jung sind wir!) machen noch Sprachfehler«, Voß, Lyrische Gedichte 2 (Sämtliche Gedichte 4), Königsberg 1802, S. 287.

Bd. 1, Nr. 12 Voß: An Esmarch. Vorgelesen am 10.10.1772. Als Grundschrift auch in VB als Nr. 12 (dort von Voß nachträglich geändert: 2,2 r.n.d.Z. die uns umschwebete; 3,2 ü.d.Z. Sang brittischer). Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3050. Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 69f. (3,2 Sang brittischer Barden), und in Esmarchs Stammbuch (dort mit dem Datum 4.8.1774; 3,2 Sang brittischer Barden; 4,1 Tauben; 6,1 deiner ****; 7,1 ich vormals), nach Langguth 1903, S. 234f. Erstdruck GMA 1774, S. 99f. (dort: An E** und ohne Datum; 1,3 E**; 3,2 Sang brittischer Barden; 4,1 Tauben; 6,1 Emilia; 7,1 ich vormals). »Liebesworte in solch erotischer Form gehören zur empfindsamen Jünglingsliebe der Zeit und sind nicht körperlich gemeint. [...] Es ist bei den Göttingern so, daß ihnen kein Wort berauscht genug ist, um ihre Begeisterung für das Edelste, das sie bewegt, und das Traurigste, das sie schmerzt, zu nennen«, Basken 1937, S. 63f., dort auch weitere Interpretation. Voß teilte das Gedicht Heyne mit: »Aber sollte das Gleichniss mit den Tauben nicht spielend sein? Heyne tadelte es. Ich wollts wegstreichen, aber der Bund Verbots«, an Brückner, 24. Februar 1773, nach Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 73; das Taubengleichnis ist später im Druck fortgefallen, vgl. Lyrische Gedichte 1 (Sämtliche Gedichte 3), Königsberg 1802, S. 16-18. - Langguth nennt, eine Übertreibung, Esmarch »die beste Verkörperung der im Hain zu Tage tretenden vaterländischen und ethischen Bestrebungen«, Langguth 1903, S. 7f. Dircäischer Päan: ein Siegeshymnus. Warne: Warnow, Fluss in Mecklenburg. Vgl. auch Millers Abschiedslied. An Esmarch, Sauer 1885/87-1895, Bd. 2, S. 241f., dazu Bäsken 1937, S. 64-66, Kahl 2001a, S. 112-117, außerdem oben II/3, Autorschaft und kollektive »Verbesserungsästhetik«. Lit.: Lübbering 1957, S. 173. Zu Esmarch vgl. Langguth 1903, zu Voß und Esmarch bes. S. 2 3 1 254; außerdem Lohmeier 1985a/1997.

Bd. 1, Nr. 13 Johann Martin Miller: Daphnens Engel, als sie schlief. Vorgelesen am 28.11.1772. Die Grundschrift = VB Nr. 13 (6,6 verschliessen; 7,1 leztenmal). Eine eigenhändige Fassung am 20.2.1773 an Brückner geschickt, vgl. Metelmann 1932, S. 378, und Härtung & Karl 50, Nr. 3034. Erstdruck der Grundschrift GMA 1774, S. 150152 (ohne Datum; Kürzel L.M.; 6,3 seinem; 6,4 deinigen; 6,8 zärtlich). Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Die Grundschrift auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 43f. (2,2 der; 3,2 bey den; 6,5 der Bilder; 7,7 wann). Die Änderungen wurden vielleicht im Herbst 1773 vorgenommen, als der Musenalmanach bereits gedruckt war. Daphne: Nymphe der griechischen Mythologie (der Name bedeutet Lorbeer). Daphne war bekannt dafür, dass sie Männer immer abwies. Von Apoll verfolgt, ließ sie sich zum Schutze in einen Lorbeer verwandeln. Im Gedicht empfiehlt der Engel der schlafenden Daphne, doch neben der karitativen Liebe auch der erotischen Gattenliebe zuzusagen.

Kommentar

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Bd. 1, Nr. 14 Johann Martin Miller: Die Eyfersucht. Vorgelesen am 5.12.1772. Die Grundschrift = VB Nr. 14. Die Grundschrift auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 45 (1,4 Sein). Eine eigenhändige Fassung am 20.2.1773 an Brückner geschickt, vgl. Metelmann 1932, S. 378, und Härtung & Karl 50, Nr. 3034 (mit Abbildung). Erstdruck der Grundschrift Gedichte 1783, S. 127f. (2,1-2 Da zittert' ich vorüber; | Sie barg sich hinterm Rosenbusch), nicht, wie Sauer 1885/87-1895, Bd. 2, S. 183, meint, Almanach der deutschen Musen 1776, S. 47f. Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Bd. 1, Nr. 15 Hahn: [ohne Überschrift], Vorgelesen am 12.12.1772 als Selbsttadel von 3 Zeilen. = VB Nr. 15. Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 12. Erstdruck GMA 1774, S. 226 (dort Beruhigung; Kürzel N.). Unterschrift in anderer Tinte. Radierspuren, vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Bd. 1, Nr. 16 Voß: An Andre. Vorgelesen am 31.10.1772. Die Grundschrift = VB Nr. 16. Erstdruck Einzeldruck bei Dieterich, nicht erhalten. Die Grundschrift auch im Wandsbecker Bothen 15.12.1772 (= Nr. 200, dort An einen jungen Britten und ohne Autorangabe, Unterschrift: »Göttingen, den 1sten November 1772; 1,2 Denn gefürchteten; 8,3 Dein *), Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1774, S. 219f. (dort An einen jungen Britten. Göttingen, den 1sten November 1772; 1,3 Dessem), und zuletzt Fehn 1978, S. 171 f. Eine völlige Umarbeitung, rückdatiert auf 1773, in: Genius der Zeit 19,1 (1800), S. 246-248, gemeinsam mit Andres Parting (VB Nr. 130). »Das Gedicht an den Engländer Andre ist aus vollem Herzen gekommen. Er war gleich lange mit mir hier, der liebenswürdigste und edelste Jüngling, und einer meiner besten Freunde. Als Lieutenant ward er unvermuthet zurückgefedert, weil sein Regiment nach Amerika geht. Den 1. November frühe mußte er schon gehen, und Freitags [30.10.] Abend erfuhr ich's erst. [...] Mein Gedicht an Andre gefiel, und ward gleich nach Dieterich geschickt. Den Abend gab Rodney, ein Sohn des berühmten Admirals, in einem Gasthause den Abschiedsschmaus. Es war Niemand da, als Engländer, weil sonst die Gesellschaft allzu stark geworden wäre, und folglich ich auch nicht. Boie nahm die Gedichte mit, und erregte damit eine allgemeine Freude. Gleich darauf kam ein Bedienter, und nöthigte mich, die Nacht mit den Engländern zuzubringen. Der Parnaß war eben den Nachmittag bei mir [7. Versammlung am 31.10.1772]; ich ließ sie auf meiner Stube, und ging nach dem Könige von Preußen. In meinem Leben bin ich nicht stolzer gewesen, als wie mir die Engländer alle entgegenkamen, und mich umarmten. Andre vorzüglich drückte mich an seine Brust, und sagte: Sie sind ein braver Mann; Sie lieben Ihr Vaterland! [...] Er nahm mit Thränen Abschied von mir, und ich hab' ihm versprechen müssen, daß, wenn er mir eine verschaffe, ich in England eine Stelle annehmen wolle. Auf die Liebe eines vernünftigen und rechtschaffenen Engländers kann man doch wol ein wenig stolz sein?«, an Brückner, 3. November 1772 (der Rest des Abschnitts bei Bd. 1, Nr. 6). Am 15. November 1772 berichtet Voß an Brückner: »Von meinem Gedichte an Andre muß ich Ihnen noch erzählen, daß es allgemeinen Beifall bei Kästnern, Heynen, Federn und vielen Frauenzimmern und andern erhalten hat. Feder umarmte mich auf öffentlichem Concerte für mein schönes Gedicht, wie er sagte, und sezte hinzu, daß es ihn von vielen Gedichten am meisten gerührt hätte.« Endlich am 24. Februar 1773: »Andre hat mir aus Hanau, wo er noch ist, geschrieben, und aufs neue für das Gedicht gedankt. Es soll dort am Hofe Beifall finden. Bei den Engländern bin ich überhaupt sehr geliebt, und ich schäze diese Nation mehr als die stolzniederträchtigen Römer. Die französische Nation im Ganzen hass' ich, mit jedem deutschen Patrioten.« - Der englische Offizier John Andre war 1772 zu eigener Fortbildung in Göttingen und hatte Umgang mit dem Göttinger Hain; er erwarb sich ungewöhnliche Wertschätzung, auch außerhalb des Dichterbundes. Um Voß' Begeisterung zu verstehen, »muß man sich vor Augen halten, daß Voß erst im Frühjahr 1772 nach einer demütigenden Hauslehrerzeit nach Göttingen gekommen war und bisher nur ein Gedicht veröffentlicht hatte. Die Ereignisse bei Andres Abschied stärkten sein Selbstbewußtsein als Mensch und Dichter. Der Sohn eines verarmten Pächters, der in Göttingen auf einen Freitisch hoffte, sah sich durch seine Verse in einen Kreis angesehener Ausländer und adliger Deutscher versetzt, die ihm ihre Anerkennung ausdrückten. Zwar hielten die beim Landesvater geschlossenen Duz-

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Freundschaften nur ein paar Stunden an [...], aber ein Brief Andres aus Hanau bewies Voß, daß dessen Zuneigung den weinbeschwingten Abend überdauert hatte«, Fehn 1978, S. 161. Vgl. zu Andre die Angaben zu VB Nr. 130. - 1773 kehrte Andre nach einer halbjährigen Reise durch Deutschland noch einmal nach Göttingen zurück und schrieb Voß als Gegengabe sein Abschiedsgedicht Parting in dessen Bundesbuch (VB Nr. 130). 1780 geriet Andre im Unabhängigkeitskrieg in amerikanische Gefangenschaft und wurde als Spion gehenkt. Vgl. aus Lichtenbergs Verriss der Ode: »Daß Hr. V. den Abschied eines solchen Mannes beklagt wie Andre war, macht ihm wahre Ehre. Andre war einer der vortrefflichsten Menschen, die mir vorgekommen sind, rechtschaffen im höchsten Grad, von einer fast jungfräulichen Bescheidenheit, einem lebhaften Gefühl für das schöne, und einem durchdringenden Verstand. [...] Was der feine Andre hierbei in der Kutsche mag gelächelt haben! O! Phrases! Phrases! Diese Dinge kommen weder aus dem Kopf noch aus dem Herzen, sondern gehen immer aus einem Gedicht neben dem Kopf vorbey in das andere. [...] Ja fürwahr, wäre Andre ein Neapolitaner gewesen, und Hr. V. hätte ihm zugesungen: sage Du kämest aus dem Lande, wo die Apfelsinen an den Heerstrassen wachsen, ich hätte es ihm eher verziehen«, Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur3 (1783), S. 149-151. Oeser. Adam Friedrich (1717-1799), Direktor der Leipziger Zeichenakademie, Goethes Lehrer. Rode: Christian Bernhard (1725-1797), Maler, Akademiedirektor in Berlin. Lit.: Sauer 1885/87-1895, Bd. 1, S. 173f.; Basken 1937, S. 67, und Fehn 1978, S. 159-163.

Bd. 1, Nr. 17 Voß: An Miller, den Liedertichter aus Ulm. Vorgelesen am 21.11.1772. = VB Nr. 17. Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 70 (Liederdichter; 2,1 vom). Erstdruck VMA 1776, S. 47f. (dort nur An Miller, 2,1-3 Singst du nur ganz gewöhnlich; | Wie zauberst du! wie sehnlich | Erröthet dir das Kind!; 2,5 scheuem; 2,6 Ey! wie Sie lose sind!; 3,3 Ein Minchen zu erflehn; 3,6 kein Mensch; 4,1 Seiinden). Die gleiche Fassung wie im Musenalmanach in Millers Gedichten 1783, S. 101 f. Die Bundesbuchfassung dann zuerst wörtlich im Brief Voß an Brückner, 6.12.1772, in VoßBriefe 1829/33, Bd. 1, S. 118 (...den Liederdichter aus Ulm). Voß: »Hier haben Sie noch eine Schnurre an Miller, die vorigen Sonnabend vorgelesen ward, und worauf Miller gestern eine Antwort brachte« (an Brückner, 6.12.1772). Es ist selten, dass bei Voß ein selbstironischer Ton erklingt (dritte Strophe). Er huldigt, natürlich nicht ganz ernsthaft (»Schnurre«), der Leichtigkeit, mit der Miller »zaubert«, während er selbst, Voß, »[s]ich noch so sehr bemühte«, vgl. oben Ii/3, >inspiration< oder (kollektives) Handwerk. Voß' Liebesdichtungen richten sich fast immer an Selma, vgl. VB Nr. 47, 93, 105, 115 u.ö. Brückner gegenüber bekannte er, »daß ich eigentlich kein Liederdichter werden kann« (18.4.1773); vgl. aber seine späteren Land- und Erntelieder. Schon am 2. September 1772 hatte Voß an Brückner geschrieben: »Miller ist einer meiner besten Freunde geworden. Ganz für die Tugend und für eine einnehmende und bezaubernde Zärtlichkeit ist er geschaffen.« Die Freundschaft beider Dichter dauerte lebenslang. Der Briefwechsel reicht bis 1810. 1804 traf man sich in Ulm noch einmal wieder, vgl. Ii/2 und Ii/3, Die Sitzungen, außerdem Herbst 1872/76, Bd. 2.2, S. 32f., von Stosch 1997, hier bes. S. 2 0 - 2 6 , Breitenbruch 2000, S. 3 8 - 4 0 und 199f. Auf Namen zu reimen, war nur bei scherzhaften Gedichten üblich; in An Cramer reimt Voß »Leßing« auf »Meßing«, Bd. 1, Nr. 154. Den Reim Miller-Triller hat später Friedrich Rückert aufgegriffen: »Zu meiner Zeit war Goeth' und Schiller | Berühmter, selber Voß und Miller, | Als eines Virtuosen Triller | Und Luftsprüng' einer Tänzerin«, Rückert 1988, S. 163. Obotriten: die alte wendische Bevölkerung Mecklenburgs; als Selbstbezeichnung der Mecklenburger zu Voß' Zeit noch gebräuchlich, vgl. auch Adolf Friedrich Brückner an Voß, Oktober 1775, nach Kahl 2005b, 30. Vgl. auch Bd. 1, Nr. 18 und Nr. 167. Lit.: Bäsken 1937, S. 61, Moering 2003. Zu Vossens Liebeslyrik vgl. auch Bäsken 1937, S. 183-186.

Bl. XIVv-XVr fotografisch abgebildet in Katalog 2001a, S. 85. Bd. 1, Nr. 18 Johann Martin Miller: An Voß, den Obotriten. Vorgelesen am 28.11.1772. = VB Nr. 18. Erstdruck Gedichte 1783, S. 103f. (dort J. M. Miller an Voß. 1772, 2,3 Cypris; 3,4 ich). Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 71 (4,5 küst').

Kommentar

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Miller bekennt sich, auf Vossens Frage hin, zu einer Naturpoetik, welche der Stolberg'schen verwandt ist; der poetologische Gegensatz Voß-Stolberg entspricht hier dem spielerisch-scherzhaft ausgetragenen von Voß und Miller, vgl. II/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk. Ohne die Natur bzw. ohne Venus und den »kleinen Knaben« (Amor) mühte sich Voß umsonst. Vgl. auch Bd. 1, Nr. 166, 4. Regelpoetik wird 1776 auch im Siegwart verworfen, vgl. Bd. 1, S. 334. Vgl. auch Bd. 1, Nr. 17 und 167.

Bd. 1, Nr. 19 Boie: Die Verzweiflung. Vorgelesen am 12.12.1772. = VB Nr. 19 (1,2 schroffe; 1,3 Dorimene). Erstdruck hier. Spätere Fassung GMA1804, S. 48 (Kürzel B.). Die Szenerie entspricht der ossianischen Welt - tiefer Fluss, steiler Felsen, kalte Flut - , ebenso die tragische Situation - verlassenes Mädchen, zum Freitod entschlossen - , ebenso die Verbindung von beidem, der gefährdete Mensch in rauer, nordischer Natur; daneben Anakreontisches, der Schäfer, Euphrosine. Dann, unerwartet, der lakonische, nur angedeutete Entschluss des Mädchens, auf den Sprung zu verzichten, sich ihres einen Lebens zu erinnern und einen anderen Schäfer zu wählen. In der späteren Fassung ist die Schlusswendung anders: »Und spricht: >lch habe nur Ein Leben; | Und falscher Männer gibt es mehr!Triumph< des Gesegnetseins von Gott wächst ihr gesteigertes Selbstbewußtsein ins Religiöse, in die Überzeugung von ihrem Auserwähltsein, von Gottes persönlichem Eingreifen in ihr Tun, seiner fühlbaren, unsichtbaren Gegenwart bei ihrer Bundesfeier«, Bäsken 1937, S. 54. Dircäer. vermutlich Pindar, vgl. Horaz, Lieder IV, 2, 25. Latiums Freiheitsmörder, vielleicht Caesar. Roßbach: bei Merseburg; Friedrich der Große errang dort 1757 im Siebenjährigen Krieg binnen weniger Stunden einen legendären Sieg gegen die Franzosen und gewann so zugleich Volkstümlichkeit in Deutschland. Höchstädt an der Donau in Bayerisch-Schwaben; 1703/04 Schlachten im Spanischen Erbfolgekrieg mit Niederlage der Franzosen. Thuiskon: erdgeborener Stammgott der Germanen und mythischer Ahnherr der Deutschen, vgl. Klopstocks Ode Thuiskon 1764; außerdem Wielands Ausführungen in Ueber den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses, wo es mit Blick auf Kretschmann und Denis heißt, die Bardendichtung laufe Gefahr, »der besten Früchte ihres grossen Talentes verlustiget zu werden, wenn sie fortfahren, im Taumel der dichterischen Begeisterung, die Teutschen des achtzehnten Jahrhunderts für Enkel Tuiskons anzusehen«. In der Anmerkung dazu betont Wieland, dass »blos der unermeßliche Unterschied der gegenwärtigen Verfassung von Europa und Deutschland von dem, was beydes zu den Zeiten der Barden war, es in mehr als einer Betrachtung unräthlich macht, die Sprache Hermanns mit uns zu reden, und uns die Gesinnungen der alten Catten und Hermundurer einflössen zu wollen«, Der Teutsche Merkur, zweiter Band, erstes Stück, 1773, S. 163 und 183. Voß nennt im Brief an Stolberg auch Klopstock einmal »unser[n] Thuiskon (er hat Thuiskons Geschlecht von neuem gezeugt, wie der Meßias Adams!)«, 2. März 1774, nach Behrens 1965, S. 62. Zur vaterländischen Lyrik vgl. grundlegend Blitz 2000, S. 375-398, hier bes. 384. Lit.: Bäsken 1937, S. 54f.

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Bd. 1, Nr. 52 Boie: An Hahn. Vorgelesen am 2.1.1773. = VB Nr. 55. Erstdruck GMA 1774, S. 144 (dort An einen jungen Dichter und ohne Datum; Kürzel X.; 2 weiser alter; 3 Und, traun! der Mann; 5 Stets ungerecht, voll Neid ist unsre Seele!) Boie'sche Bescheidenheitslyrik, vgl. auch Bd. 1, Nr. 37.

Bd. 1, Nr. 53 Johann Martin Miller: TrauerSang. Vorgelesen am 2.1.1773. = VB Nr. 56. Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 32. Erstdruck GMA 1774, S. 48 (dort Wohl und Weh, ohne Datum, Kürzel R.; 2,2 nichts; 2,4 Trauern; 2,6 nichts). Sehr einfaches Reimschema: aa bb aa; a wird in der zweiten Strophe identisch wiederholt. Vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 8.

Bd. 1, Nr. 54 Johann Martin Miller: An ein paar Augen. Vorgelesen am 2.1.1773. Die Grundschrift als Nr. 57 in VB. Erstdruck (mit den Korrekturen) GMA 1774, S. 11 (dort An die Augen und ohne Datum, Kürzel C. S.). Bd. 1, Nr. 55 Boie: Schäferlehren. Vorgelesen am 2.1.1773. = VB Nr. 58 (dort Schäferlehren an Bürger, 2,3 Wann; 8,4 Sieht; 12,4 und Brod). Andere, drei Strophen längere Fassung GMA 1774, S. 160-163 (Kürzel B.). Erstdruck hier. Nachdichtung, sich in die Boie'sche Bescheidenheitslyrik einfügend. Cramer teilte Bürger mit: »Auch ist es gewiß daß die Lehren an einen angehenden Schäfer nicht von ihm, wie er sagt, erfunden, sondern nach dem Shenstone so wie die Verschwiegenheit] nach dem Bernard ist«, 15. Februar 1773. Doch hat Boie seine Quellen im Inhaltsverzeichnis Musenalmanach offengelegt. A m 12. August 1773 kündigte Boie Bürger die Bearbeitung an; Bürger antwortete am 14. August 1773: »Ihre Schäferlehren sind in der That allerliebst und haben durch die Schnitzeley sehr an Grazie gewonnen. Es kitzelt uns gewiß nicht wenig, daß unser Nahmen drüber steht.« Der englische Dichter William Shenstone (1714-1763) hatte das Gedicht als Inschrift für sein Landgut The Leasowes in der Nähe von Shrewsbury vorgesehen, das er sich als Landschaftsgarten ausgestaltete. »Far from violating it's natural beauties, Mr. Shenstone's only study was to give them their full effect«, vgl. The Works, in Verse and Prose, of William Shenstone. [Hrsg. von R. Dodsley] 3 Bde. London 3 1768/69, Bd.2, S. 288. Der Garten war geschmückt mit Versen, »Inscriptions«, aus alter und neuer Dichtung. »Ascending to the next seat, which is in the Gothick form, the scene grows more and more extended; woods and lawns, hills and vallies, thicket and plain, agreeably intermingled. On the back of his seat is the following inscription, which the author told me that he chose to fix here, to supply what he thought some want of life in this part of the farm, and to keep up the spectator's attention till he came to scale the hill beyond. Inscription. Shepherd, would'st thou here obtain | Pleasure unalloy'd with pain? I Joy that suits the rural sphere? | Gentle shepherd, lend an ear. [Es folgen elf Strophen]« (S. 297f.). - Der naturnahe englische Landschaftsgarten wurde im 18. Jahrhundert auch in Deutschland beliebt und dem Französischen Garten vorgezogen. Der Schmuck des Parks durch Dichtung wurde später durch den Weimarer Ilm-Park bekannt, in dem sich noch heute zwei von Goethe angebrachte Epigramme befinden (Einsamkeit, Erwählter Fels). Zu Garten und Park vgl. auch Hempel 1997a, S. 134-143 (mit neuerer Lit.).

Bd. 1, Nr. 56 Johann Martin Miller: Sittenverderb. Vorgelesen am 13.9.1772. Die Grundschrift als Nr. 59 in VB. Erstdruck Der Deutsche, sonst Wandsbecker Bothe 19.2.1773, Nr. 29 (dort ohne Datum und ohne Verfasserangabe; 1,4 auch; 2,2 Und schwur; 3,4 Von uns wie weggebannt; 4,1 Nachbar; 4,4 seinen Fehlern, 5,3 Söhne). Die »Programmatik« des Bundes, denkbar vereinfacht und passgenau am Gründungstag: Treue und Redlichkeit, und >der Franz· als Feindbild, dem Falschheit und Laster vorgeworfen werden. die Jugend noch'. Anspielung auf die zeitübliche »Kavaliersreise« nach Frankreich. Zur vaterländischen Lyrik vgl. grundlegend Blitz 2000, S. 375-398, hier bes. 391.

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Bd. 1, Nr. 57 Johann Martin Miller: Das deutsche Mädchen an ihr Ciavier. Vorgelesen am 2.1.1773. Die Grundschrift als Nr. 60 in VB (dort ...ans C/av/'e/·). Erstdruck der Grundschrift Gedichte 1783, S. 153f. (2,2 keuschen; 3,3 Dir nur; 5,2 Ein Herz, wie meines). buhlerischer...·. Das mittelalterliche, für Jahrhunderte erloschene Wort »Buhle«, zunächst nur einfach »Liebster«, bekommt im Göttinger Hain einen abwertenden Klang (»buhlerischer Afterscherz«); bei Goethe gleichzeitig neutral (vgl. den König von Thüle 1774), vgl. Deutsches Wörterbuch 2 (1860), Sp. 498ff., und Kraeger 1893, S. 79. Dein vaterländisch...·. Vgl. Klopstocks Vaterlandslied zum Singen für Johanna Elisabeth von Winthem, Oden 1771, S. 2 7 4 - 2 7 6 (»Ich bin ein deutsches Mädchen! | Mein Aug' ist blau, und sanft mein Blick, | Ich hab ein Herz | Das edel ist, und stolz, und gut...«). Winthem·. Johanna Elisabeth von Winthem geb. Dimpfel (1747-1821); Tochter von Katharina Margareta Dimpfel geb. Moller, der Schwester von Klopstocks Frau Meta Moller, und dadurch Klopstocks Nichte; 1765 mit Johann Martin von Winthem verheiratet, bekannt als Sängerin; wurde in den siebziger Jahren in Hamburg engste Freundin Klopstocks, der sie 1791, zwei Jahre nach von Winthems Tod, als 67-Jähriger heiratete. Die Winthem war auch von den Hainbunddichtern als Sängerin verehrt; vgl. Boie an Stolberg: »Die Winthem ist eine sehr liebenswürdige Frau, mit und ohne Gesang. Freylich im Gesänge noch um einen Grad mehr! Sie hat bey mir gewonnen, je mehr ich sie kenne. Die anderen witzigen Damen haben fast alle verloren«, 30. Januar 1774, nach Bobe 1907, Bd. 8, S. 8.

Bd. 1, Nr. 58 Boie: Invisibil fa veder amore. Erstdruck GMA 1774, S. 48 (dort Blind und nicht blind', Kürzel X.; 1 Kupido blind). Ariosto: Lodovico Ariosto (1474-1533), italienischer Dichter. Das Motto heißt wörtlich: »Das Unsichtbare macht die Liebe sichtbar«, vgl. Ariost, Der rasende Roland, Gesang I, Stanze 56; eine zeitgenössische Ausgabe, die Boie benutzt haben könnte: Ludovico Ariosto: Orlando Furioso. 4 Bde. Paris 1768, Bd. 1, S. 20.

Bd. 1, Nr. 59 Voß: Trinklied, in einer Sommernacht. Vorgelesen am 2.1.1773. = VB Nr. 61. Die gleiche Fassung auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 75 (dort nur Trinklied', 2,6 doch; 3,5 Laßt mal im Wein sie; 3,7 gellend Lyäen). Erstdruck GMA 1774, S. 116 (dort nur Trinklied und ohne Datum; Kürzel X.; 1,1-4 Trinkt, Brüder, der Reben | Entflammten Saft! | Er würzet das Leben, | Und schenkt uns Kraft!; 3,7 Bachus). Schon 1782 in Niemanns Akademischem Abweichungen). Lit.: Albertsen 2003.

Liederbuch,

Bd. 1, S.37f. (dort Wirkung

des Weines;

mit

Bd. 1, Nr. 60 Johann Martin Miller: An meinen Hahn. Vorgelesen am 5.12.1772. = VB Nr. 62 (3,3 Ihn). Die gleiche Fassung in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 38f. (dort An Hahn. An meinem Geburtstage, den 3 Dec. 1772, 1,4 sich eines durch Blumen hinwand; 2,1 sey er; 3,3 Ihn). Anlehnung an Klopstocks Sprache. Im Bundesbuch nur vier Versuche Millers in Odenform, vgl. Bd. 1, Nr. 50a, Nr. 64 und Nr. 87. - An Hahn richtet sich auch Millers Es war kein Schwur; Es war ein Blick, Gedichte 1783, S. 41 f. Miller schätzte Hahn hoch ein: »Ueberhaupt erwart ich kaum von 4 ietz lebenden Deutschen soviel als von unserm Hahn und ich irre mich gewiss nicht. Alles, was er thut, seine ganze Denkungs Art [...] zeigt einen ausserordentlichen Geist an, der an innerer Stärke jedem andern Trotz bietet. Wenn er seine Laune, oder vielleicht auch Eigensinn überwinden könnte, warlich, er könnte schon in jeder Dichtart, selbst auch in der Philosophie Meisterstücke aufstellen«, an Stolberg, 24. Mai 1774, Bobe 1917, Bd. 8, S. 100. Vgl. auch Millers Bemerkung über Hahn in Gedichte 1783, S. 37t., wiedergeben oben in III/2, Hahn. Lit.: Breitenbruch 2000, S. 40f. und 4 6 - 4 8 , Kahl 2001c, S. 176f.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Bd. 1, Nr. 61 Friedrich Leopold Stolberg: Der Irrwisch. Vorgelesen am 9.1.1773. = VB Nr. 63 (3,3 Mädchen). Erstdruck GMA 1774, S. 104 (dort ohne Datum; Kürzel X.; 2,2 Führet! | Mädchenränke!; 2,4 Flatternde Nais!). Von Weinhold 1868, S. 313f., irrtümlich Boie zugeschrieben; vgl. auch Grantzow 1909, S. 52f. Irrwisch: von Wisch, -leuchtende Fackel·, Irrlicht: nach dem Volksglauben ein Flämmchen in Moor und Sumpfgebiet, das vom Weg abführen kann.

Bd. 1, Nr. 61a Voß: An Boie. Vorgelesen am 10.10.1772. Fehlt. Erhalten als VB Nr. 64 (vgl. den Text dort). Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3050. Erstdruck Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 284 (dort nur Str. 1, 2, 7), sonst hier. Eine stark abweichende Fassung liegt einem Brief Boies an Knebel bei, 15.10.1772, GSA Weimar 54/123, nach Schmidt-Tollgreve 2004, S. 26f. u. Anm. Boie war beim »Eydschwur« (Str. 1) nicht anwesend, vgl. oben 11/1, Die Gründung, und wird nun, Ausdruck von Achtung und gleichzeitigem Bestreben um Selbstständigkeit, in den Bund aufgenommen: Er erhält dichterisch einen Eichenkranz, das Gegenstück zum griechischen Lorbeer, und einen Bundesnamen (Str. 7). Seine Zustimmung zur Bundesgründung wird, sachlich ganz zu Recht und hier literarisch überhöht, unterstellt (Str. 1 - 2 ) ; Boies aufmunternde Fähigkeit (Str. 3) und seine Kennerschaft (Str. 4 - 6 ) werden gewürdigt, ja, er wird als Führer (mit Fackel) zu Klopstock anerkannt (Str. 5 - 6 ) , welcher alle anderen Dichter überragt. Der Name Werdomar ist entlehnt aus Klopstocks Hermanns Schlacht, wo der Anführer des Bardenchors eben so heißt. Dieser »greise Vorfahr« wird zuletzt aufgerufen, außerdem die in der Auseinandersetzung von Germanen und Römern vorgebildete Verbindung von Gesang und kriegerischem Kampf, jeweils gegen kulturelle und politische Fremdherrschaft (»gaukelnder Afterton« und Römerherrschaft): Der »Ruf« der Bardenschüler vertreibt, eigentümlich verquickt, »durch den Lanzenwurf« die Römer (Str. 8 - 9 ) . Die selbstbestimmte Einheit Deutschlands ist tragisch begründet in einer Negation. Vgl. Boie an Knebel, 20. November 1772: »Ich glaube, Sie machen Voß, wegen des Gedichtes an mich, mit Unrecht zum Barden. Ich schickte nur Ihnen das Gedicht, wegen der sehr vorzüglichen Wendung am Ende. Unsere jungen Dichter hatten einen Bund mit einander gemacht, ihre Leiern nicht durch Nachahmung zu entweihen, deutschen Geist und Patriotismus zu singen, aber Barden wollten sie durchaus nicht sein, wie wir jetzt das Wort nehmen [...]. Ich munterte den Bund sehr auf, und sie, die sich unter einander zum Spaße alte Namen gegeben hatten, gaben mir den von Werdamar [so]. Das Stück kann und wird sonst nie bekannt werden, fast jede Strophe bezieht sich auf etwas, auf irgend eine kleine Anekdote«, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 138f. Vgl. zu den Bardennamen oben 11/1, Bardennamen. Offenbar hat Boie das Gedicht an Goethe, Ramler und Knebel geschickt; so ist offenbar eine briefliche Mitteilung Millers an Stolberg zu verstehen, die zugleich die fortschreitende Emanzipierung von Boies ursprünglicher Autorität im Bunde bezeugt: »Hat er doch Vossens Werdomar, worinn er als unser Anführer beschrieben ist, an Göthe, Ramler und Knebel geschickt. Denken Sie, Boie unser Anführer! und wir wollen nicht einmal Klopstokzu unserm Haupt\«, 24. Mai 1774, Bobe 1917, Bd. 8, hierS. 107. Es gibt mehrere Gedichte Vossens an Boie, vgl. auch Bd. 1, Nr. 25a/b.

Bd. 1, Nr. 62 Friedrich Leopold Stolberg: Die Ruhe. Vorgelesen am 9.1.1773. = VB Nr. 65 (4,2 u: um erzwungenen; 5,4 widmet; 8,1 wenn; 8,2 wenn). Die gleiche Fassung in Für Klopstock. Nicht erhaltene Abschrift am 27.1.1773 an Klopstock geschickt. Am 28.4.1773 an Ebert geschickt mit der Bitte um Kritik, vgl. Schüddekopf 1886, vgl. bes. S. 479f. (vom Bundesbuch nur leicht abweichend). Eine frühe, wiederum nur leicht abweichende Handschrift in der Sammlung Stolberg, vgl. Kahl 2001a, S. 44-46. Abweichende Fassung GMA 1774, S. 205-207; nochmals geändert in GW. Erstdruck Lübbering 1957, S. 63f. (3,2 Geweihte; 4,2 u: um erzwungenen; 5,2 leite; 5,4 Dir nur und lächelnder Weisheit widmet; 8,1 Thale / leiten, wenn; 8,2 wenn; 10,1 sanftem); die ersten beiden Strophen nach dem Bundesbuch auch bei Lüchow 1995, S. 174. Die Wendung gegen despotische und tyrannische Herrschaft entspricht Stolbergs politischer Haltung im Ganzen, die sich hier früh und deutlich ausspricht. Die politischen Ereignisse - etwa der russischtürkische Krieg (1,1f.); die Teilung Polens 1772 (2,3f.) - sollen, so die Selbstaufforderung des Sprechenden, ihn nicht kümmern, trotz der »Mitwissenschaft«. Das lyrische Ich ruft die »holde Ruhe« als

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seine »Gespielinn« herbei. Zur poetologischen Bedeutung der Ruhe vgl. Stolbergs Prosahymnus Über die Ruhe nach dem Genuß und über den Zustand des Dichters in dieser Ruhe 1780 (in GW Bd. 10, S. 382-392). - Die Druckfassung im Musenalmanach weicht von dieser Fassung ab. Wie viele der Änderungen auf Klopstocks Anmerkungen zurückgehen - sie sind nicht erhalten - (und welche möglicherweise auf Voß), bleibt unklar, vgl. Lüchow 1995, S. 167, Anm. 82. Annette Lüchow vermutet Boies Unwillen gegenüber der Veröffentlichung; auf Boie gingen Milderungen zurück (»Caesar« statt »Gustav«, gegen Stolbergs erklärten Willen), während er Klopstocks Änderungen - die den kämpferischen Zug bestätigten - nicht zu ändern gewagt hätte, Lüchow 1995, S. 173f. Eigentümliches Beispiel für widerstreitende Fremdeinflüsse auf ein Gedicht. Von sich aus hat Stolberg nichts geändert. - Die Fassung im Musenalmanach lautet: Die Ruhe: O b siege M a c h m u d , oder ob N i k o l a s Den Popen höre; ob sich der Bischof R o m s Despotisch aufbläh', oder knechtisch Lecke die Ferse den Burboniden; O b dort ein schlauer Caesar O k t a v i u s Ein V o l k bejoche, w e l c h e m noch Freyheit galt; O b hier, nach spätgefundnen Rechten, Könige H a b e des andern theilen: Soll mich nicht k ü m m e r n ! Eine der Menschlichkeit Geweinte Thräne floß, da der Korse jüngst Den edlen N a c k e n bog, als seine Räuber i h m sandte der Vielgeliebte. Seitdem entsagt' ich aller Mitwissenschaft U m ferne Schlachten, u n d den e r z w u n g e n e n Vertrag, der oft mit feuchtem O e l z w e i g S c h l u m m e r n d e Gluten verbarg, nicht löschte. Komm, süsse R u h e ! süsse Gespiehnn, k o m m , Der frohen U n s c h u l d ! führe mit deiner H a n d Den J ü n g l i n g , der sein ganzes Leben Dir, u n d der lächelnden Weisheit heiligt! U n d frühen W e i h r a u c h deinen Altären streut, Den H a f e n segnend, weil i h m der Ocean N o c h lächelt, eh die schwarze W o g e Prediget R e t t u n g zugleich u n d Weisheit! D e m späten O p f r e r öffnet ihr H e i l i g t h u m Die R u h e selten. Ekel u n d S c h l u m m e r täuscht Den m ü d e n W e l t m a n n , stets von neuen W ü n s c h e n u n d geisselnder Furcht gestöret. [Die letzten vier Strophen stimmen überein.] Vgl. Vossens rückschauende Polemik in Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe: »[l]m Januar 1773 ward sein Freiheitssinn einigen von uns bedenklich, als sein im November entworfenes Gedicht, die Ruhe, vor unserer Versammlung sich also aussprach: Ob dort ein schlauer Gustav-Octavius Das Volck bejoche, welchem noch Freyheit galt. Sein Ideal von Freiheit war der Hochgeborenen in Schweden landverderbliche Oligokratie; und, zum Heile des Volks, die alte gesezmäsig beschränkte Monarchie wieder herstellen, hieß ihm, das Volk bejochen. [...] Man durchmustere Stolbergs sämtliche Jugendlieder für deutsche Freiheit, ob je Frevel am Volk ihn zu edlem Unwillen begeisterte, ob je Verlezung des Gemeinwohls, ob Gesezlosigkeit, ob

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Druck, ob Uebermut, ob mishandelnde Gewalt. Er besingt sich und seine Urenkel, wie des alten Stamms würdige Kämpfer für die Freiheit, die ein herrischer Unterjocher kränkt«, Voß 1820b, S. 5 - 7 . Es ist bezeichnend für die Vossische Polemik, dass sie, scheinbar geschichtlich genau, auf Ereignisse zurückgeht, die fast fünfzig Jahre zurückliegen, und dabei Einzelheiten wie einzelne Gedichte und deren Vorlesung in der Bundesversammlung aufgreift. Voß erweckt damit den Anschein historischer Richtigkeit; vgl. zur Einschätzung der Polemik freilich Kahl 2001a, S. 98-100 und 106-108. - Offensichtlich haben Voß Bundesbuch und Protokoll vorgelegen, als er seine Polemik schrieb. - Die letzten zwei Strophen schrieb Stolberg Cramer ins Stammbuch, vgl. Krähe 1907, S. 68. Machmud türkischer Sultan (1696-1754), der gegen Russland kämpfte, wohl auch allgemein für Despot. Nikolas: Russlands Schutzheiliger, einer der Hauptheiligen der Ostkirche. Burbonide: Ludwig XV. von Frankreich (1710-1774), der 1768 Korsika einnahm. Gustav Octavius: Gustav III. von Schweden (1746—1792), entmachtete 1772 den Adel zugunsten einer konstitutionelleren Ordnung. Vgl. auch II/3, Die Bearbeitung von Stolbergs Gedichten. Lit.: Lübbering 1957, S. 170; vgl. insgesamt Hempel 1997a, hier bes. S. 53f.

Bd. 1, Nr. 63 Hölty: Ebentheuer von einem Ritter, der sich in ein Mädchen verliebt, und wie sich der Ritter umbrachte. Vorgelesen am 9.1.1773. Die gleiche Fassung in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 14-16 (dort nur Ballade; 4,5 Drauf; 5,6 Rosenbank; 5,8 Liebchen; 7,2 Von; 11,2 Der Ritter lag auf Pflaum; 11,3 Gold und Silber; 11,5 blauem; 15,4 Und purpurroth das). Erstdruck Michael 1914/18, Bd. 1, S. 57-61. Spätere Fassung in GMA 1774, S. 178-184 als Adelstan und Röschen, die gleiche Fassung sehr leicht abweichend danach noch in den Romanzen der Deutschen (Leipzig 1774, S. 172-176, gemeinsam mit Höltys Leander und Ismene). Jambischer Achtzeiler, der, ursprünglich aus dem Kirchenlied, im späten 18. Jahrhundert, namentlich durch die Göttinger, breiter in die weltliche Dichtung eindrang, vgl. nur Höltys Traummädchen (Bd. 1, Nr. 72) und seine Nonne (Bd. 2, Nr. 1) u.a., vgl. Frank 2 1993, S.599. - Motivlich eng verwandt und offensichtlicher Anreger ist Margaret's Ghost aus Percys Reliques, vgl. [Thomas Percy]: Reliques of Ancient English Poetry: Consisting of Old Heroic Ballads, Songs, and other Pieces of our earlier Poets, (Chiefly of the Lyric kind.) Together with some few of later Date. 3 Bde. London 1765, Bd. 3, S. 3 1 0 313. Margaret's Ghost stammt von dem schottischen Dichter David Mallet (um 1700-1765), geht aber auf ältere Anregung zurück, vgl. Bd. 3, S. 121 und 310. Percy nennt Margaret's Ghost »one of the most beautiful ballads in our own or any language« (S. 121). In Percys (bzw. Mallets) Ballade begegnet ebenfalls der Geist der betrogenen Geliebten dem früheren Liebhaber und klagt ihn in einem über mehrere Strophen sich erstreckenden Monolog an: 'T W A S at the silent solemn hour, W h e n night and m o r n i n g meet; In glided M a r g a r e t ' s g r i m l y ghost, A n d stood at W i l l i a m ' s feet. H e r face w a s like an April morn, C l a d in a w i n t r y cloud: A n d clay-cold w a s her lily hand, That held her sable shrowd. [ . . . ] » A w a k e ! she c r y ' d , t h y true love calls, C o m e f r o m her midnight grave; N o w let thy p i t y hear the maid, T h y love refus'd to save. [ . . . ] W h y did y o u promise love to me, A n d not that promise keep? W h y did y o u swear mine eyes w e r e bright, Yet leave those eyes to w e e p ? . . . «

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Er, erweicht, rast seinerseits und stirbt über Margrets Grab: »And thrice he call'd on Margaret's name, | And thrice he wept full sore: | Then laid his cheek to her cold grave, | And word spake never more.« Bei Percy gibt es keinen erzählerischen Vorspann, auch keinen Hinweis auf Margrets Tod, die Ballade beginnt gleich mit Margrets Geist. Was dagegen auf die erzählerischen Anfangsstrophen bei Hölty folgt, ist zunächst offen. Es finden sich andere Strömungen, Anakreontisches (Schäferin), der für Hölty typische Gegensatz von Stadt- und Landleben, hier auch der von Ritter und Bauernmädchen (Schäferin), Züge der Idylle. Bei der Begegnungsszene (Str. 11f.) ist die Ähnlichkeit mit Percy am deutlichsten, gleich auch der Tod des Liebhabers auf dem Grab. Doch Höltys »Geist« spricht nicht, er erscheint in grausiger Sprachlosigkeit jede Nacht, »wimmert, und entweicht«. - Die letzte Strophe nimmt die Unmittelbarkeit des Geschehens zurück (»Der Landmann, der es sieht«), wie es noch deutlicher bei Höltys Nonne zu finden ist (Bd. 2, Nr. 1). Nach Kayser stellt »die Geistererscheinung eine Fortsetzung des irrationellen, nicht mehr durch den Verstand des lebenden Menschen gebändigten Liebesschmerzes dar, der auf den Lebenden nun zurückwirkt. Und wenn der sich tötet, so ist seine Laufbahn nicht abgeschlossen, die Schuld nicht gesühnt, als unerlöstes Gespenst geht er um, wie die Nonne weiterhin als Gespenst ihre leidenschaftliche Rache übt«, Kayser 1936, S. 82. Vgl. auch zu Bd. 2, Nr. 1. - »Höltys rührende Ballade von >Adelstan und Röschen· [...], die ihren Ausgang von eben dem anakreontischen Bereich nimmt, den der Hain gepflegt hat, von der schäferlichen Idylle und der Welt des flatterhaft-leichtsinnigen Rokokoliebhabers, und die nun aus dem Gefühl des verlassenen Mädchens das unheimlich Dämonische, blutig Schauerliche und Entsetzliche entbindet, kann als Gründungszeugnis für die Kunstform der ernsten Ballade wohl nur noch auf literarhistorisches Interesse rechnen«, Schöne 1962, S. 261 f. Hölty berichtet an Christian Stolberg: »Boje ist ein sehr guter Mann, der alle Liebe verdient, nur eine Aristarchusmine kleidet ihn nicht. Meine Stücke scheinen gar nicht nach seinem Geschmacke zu seyn. Er stempelt sie niemahls mit seinem Stempel, oder erklärt sie für Almanachsstücke, und hat gegen meine Freunde sehr gejammert, daß er meine Ballade [ΕόβΜΙίθυθή aufgenommen. Doch ich muß mich darüber trösten, und will seinem Beyfall gern entsagen, wenn ich Ihren und Klopstocks Beyfall habe« (2.12.1773). Hardiknut wohl nach Hardyknute. A Scottish Fragment, Percy 1765, Bd. 2, S. 87-102. Lit.: Rhoades 1892, S. 2 5 - 2 7 ; Kayser 1936, S. 8 0 - 8 8 ; Trumpke 1975, S. 6 1 - 6 8 .

Bd. 1, Nr. 64 Johann Martin Miller: An G. D. Miller. Vorgelesen am 5.12.1772. = VB Nr. 71 (5,3 Wann; 8,1 Wann). Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 39 (1,2 vorüberflog; 2,1 ruft; 2,4 Jugendlich lächelt; 4,4 Thraur sich; 5,3 Wann; 8,1 Wann). Millers dritte Ode (vgl. Bd. 1, Nr. 50a, Nr. 60 und Nr. 87). Zum Donaumotiv vgl. zu Bd. 1, Nr. 1. Von G. D. Miller beantwortet mit Bd. 1, Nr. 176. Zu »Mann« und »männlich« im Göttinger Hain vgl. Kraeger 1893, S. 68f.

Bd. 1, Nr. 65 Johann Martin Miller: An meinen Bruder. = VB Nr. 72 (Grundschrift ohne Durchstreichung; 3,4 Den schon der Jahre Moos umzieht; 4,4 Vor mir dein starrer Cörper lag; 5,1 Scene). Die nicht revidierte Fassung auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 29f. (3,4 Den schon der Jahre Moos umzieht; 4,4 Vor mir dein starrer Körper lag; 5,1 Scene / zurükk; 5,3 Blikk; 6,2 seiner). Spätere Fassung GMA 1775, S. 104-106. Der Rezensent der Kritischen Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 2.2, Bützow, Wismar 1775, schreibt: »An meinen Bruder, von Miller, eins der besten Stücke in dieser Sammlung« (S. 335). In den Gedichten 1783 mit dem Zusatz: »Dieser gute, hofnungsvolle, mir ewig unvergeßliche Knabe ist zu Ulm den 3ten Junius 1764, in seinem siebenten Jahre gestorben. Der Schmerz über seinen Tod gab mir mein erstes Lied ein, das auf seinem Grabe abgelesen wurde« (S. 45). Vgl. auch Millers Siegwart. »Oft gieng er an das Grab seiner Mutter, wo er Rosen und Jesmin und Todtennelken gepflanzt hatte, und weinte da. Kein Geräusch weckte ihn so leicht aus dem Schlaf; aber wenn vor Sonnen Aufgang an seinem Kammerfenster, das in den Garten gieng, die Nachtigall auf einem Apfelbaume sang, da wachte er schnell auf, ward munter, sprang aus dem Bette, hörte ihr unbeweglich zu, und sah mit Entzücken die Sonne hinter den Bäumen aufgehn. Noch lieber hörte er die Nachtigall des Abends, wenn die Blumen und die Apfelblüthen süsser dufteten, und alles stille war, und der Mond herabsah. Da hatte er Gefühle, die beym Jüngling, der ihm gleich ist, zu Liedern werden. Da dachte er oft an seinen Bruder, der vor 4 Jahren in seinem 6ten Jahr gestorben war, und machte einst ein Lied

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auf ihn; da vergaß er oft sich und die ganze Welt; da rief man ihn oft zum Abendessen, und er hörte nichts, bis ihn sein Bruder oder Vater fand, und zu Tische holte, wo er wehmüthig saß, und nichts sprach. Nach dem Abendessen lag er wieder unter seinem Kammerfenster, hörte bis 11 Uhr oder 12 Uhr der Nachtigall zu; wünschte nichts, als wie sie singen zu können, und träumte sich im Schlaf in paradiesische Gegenden zu seinem Bruder«, Miller 1776, Bd. 1, S. 10f. Vgl. auch Bd. 2, Nr. 26.

Bd. 1, Nr. 65a Johann Martin Miller: An die Donau. Vorgelesen am 26.9.1772. Erstdruck hier. Erhalten als VB Nr. 73. Abgewandelte (offenbar nicht autorisierte) Fassung in: Geisler 1782/83, Bd. 1, S. 7 - 1 6 (dort Minnehold an die Donau und irrtümlich als ein Gedicht Höltys). Die Gegenwart fordert den Dichter nur zu Zorn auf (Str. 1 und 11f.); zwei Vorzeiten werden gepriesen, die der Barden (Str. 2 - 3 ) und dann folgend die des Minnesangs (5-9), die, mit Pause von Jahrhunderten (Str. 10) erst in Klopstocks Zeit von dem Barden Sined - gemeint ist Michael Denis - wieder erreicht wird (Str. 13-15). In den Schlussstrophen (16-19) die Betrachtung des Dichters angesichts der gebrochenen Tradition und Anrede an Denis. Als Gedicht verfehlt, aber in der Gedankenführung aufschlussreich. - Die Anrede an einen Fluss als Gegenüber der Betrachtung des Dichters und als Zeuge des Gesanges ist verbreitet (vgl. nur Goethes An den Mond 1776/78); der Strom ist selbst Sinnbild des Gesangs (die Barden lehren ihn »rauschen«). Vgl. insgesamt auch Bd. 1, Nr. 166; vgl. zur Donau bei Millerauch Bd. 1, Nr. 1. Denis nahm das Gedicht auf in seine Lesefrüchte, 2 Tie., Wien 1797, Bd. 1, S. 170-173, mit dem irrtümlichen Hinweis auf Hölty: »Ein Lied, das dieser gute, sanfte, im J. 1776. viel zu frühe weggeblühte Dichter an mich sandte, soll zu seinem werthen Andenken hier stehen, weil es die Herausgeber seines Nachlasses etwa nicht gefunden haben.« Sined: Michael Denis (1729-1800), Jesuitenpater und Bibliothekar, Dichter und Übersetzer, brachte 1768/69 die erste Gesamtübersetzung Ossians in Hexametern heraus, vgl. Denis 1768/69, die zugleich die am weitesten verbreitete Übersetzung wurde; wegen ihres Hexameters war sie bald umstritten. Denis' gesamte Dichtung (Sineds ϋβάβή im Fahrwasser Ossians und zugleich österreichische Panegyrik. Briefwechsel mit Klopstock, Mitarbeit am Göttinger Musenalmanach. Vgl. zu ihm HofmannWellenhof 1881, bes. S. 337-342, Wolf Gerhard Schmidt 2003/04, Bd. 1, S. 545-569. Zur Ossianrezeption vgl. Tombo 1901, Kahl 2000a sowie neuerdings grundlegend Wolf Gerhard Schmidt 2003/04. Kayser, Herzog: Die Heidelberger Liederhandschrift C (Große oder Manessische Liederhandschrift, um 1300), die durch die Ausgabe Bodmers Grundlage der Minnesangkenntnisse im Göttinger Hain wurde, ist nach Sängern und deren Stand gegliedert, eröffnet durch Kaiser Heinrich VI., gefolgt von Königen, Herzögen usw., bis sich schließlich die titellosen Sänger anschließen, vgl. Kornrumpf 1981 (mit weiterführender Lit.). Schenke von Landegg·. Schenk Konrad von Landegg, schweizerischer Minnesänger der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts; in der Großen Heidelberger Liederhandschrift und in Bodmers und Breitingers Ausgabe Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte (2 Bde., Zürich 1758/59) vertreten; vgl. nach dieser Ausgabe: »Mich muos w u n d e r han | Wie es sich stelle bi dem Rhine Umb den Boden se | Ob der sumer sich da zer Frankrich het den plan | Den man siht in truebem schine Rife tuont in vve. | Bi der Sene und bi dem mer | Dise not hantz ouch bi Ene Da ist ir frceide kranc | Wüne und vogel sanc Ist in Svvaben des ich vvene | Dar so iamert mich Nach der schonen minneklich || Lieb und alles guot | Wünsche ich ir die ich da meine Und nige al dar | Einer vvile tusent stunt Ich han minen muot | Gar vereinet an si eine S w a s ich lande ervar | Mir w a r t nie so liebes kunt | Dü vil suesse reine vvandels vrie | Zieret S w a b e n l a n d Hanegcevve Brabant | Flandern Frankrich Picardie Hat so schoenes nicht | Noh so lieblich angesicht« (Bd. 1, S. 200).

Bd. 1, Nr. 65b Boie: Der Bischof und der Priester. Vorgelesen am 30.1.1773. Offenbar nicht erhalten. Bd. 1, Nr. 66 Hölty: (Bruchstück: An Damon). Vorgelesen am 28.11.1772. Erstdruck Crueger 1889, S. 284f. Eine catullische Elegie. Klage gegenüber einem Freund über die Entfernung der Geliebten. Titel nach dem Inhaltsverzeichnis erschlossen. Vgl. Beißner 2 1961, S. 112.

Kommentar

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Bd. 1, Nr. 67 Hölty: An einen Blumengarten. Vorgelesen am 10.10.1772. Erstdruck Michael 1914/18, Bd. 1, S. 89. Spätere Fassung, um eine Strophe gekürzt, im Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 1 (1774), S. 97f. (Kürzel L.). Klassische sapphische Strophe (noch ohne Wanderdaktylus), vgl. Frank 2 1993, S. 265-267. Hölty'sche Naturfrömmigkeit, voll Wehmut. Der Blumengarten, Ort einer idyllisierten Kindheit und Ort der Begegnung mit Laura, besteht nur noch, verklärt (»goldene Knabenfreuden«), in der »späten Erinnerung«, und diese soll fortgetragen werden, so wie die Erinnerung an Laura, bis hin ins Paradies, ein beinahe vorromantischer Gedanke. - Gelegentlich gibt es bei Hölty einen literarisierten Rückbezug auf die Kindheit oder vielmehr Knabenzeit; von eigengewichtiger »Kindheit« im heutigen Sinne hatte man keinen Begriff. Vgl. auch Höltys Minnehuldigung (»Was ich weiland that als Knabe«, Bd. 1, Nr. 159) und An die Ruhe (Bd. 2, Nr. 7). Laura: vgl. zu Bd. 1, Nr. 3.

Bd. 1, Nr. 68 Boie: Auf Sophiens Geburtstag. Vorgelesen am 16.1.1773. = VB Nr. 79. Erstdruck VMA 1782, S. 110 (dort An Sofiens Geburtstage, im Mai 1770; Kürzel X.; 1,5 Kräuter; 2,2 jugendlichen). Bd. 1, Nr. 69 Voß: An den 1773ger Musenalmanach. Schräder 1984, S. 339. Erstdruck hier.

= VB Nr. 80. Str. 3 - 5 schon bei

War offenbar als Eröffnungsgedicht für den Musenalmanach gedacht, als »Begrüßung« des neu erscheinenden Bändchens. Voß verfasste hin und wider entsprechende Eröffnungsgedichte, vgl. nur seine Schwergereimte Ode. Statt der Vorrede. An Voß, die den Musenalmanach auf 1777 eröffnet, vgl. Kahl 2001b. - Vielleicht hat Boie die polemische Gegenüberstellung von »Feenmährchen« und »verbuhlter Frenzen« (gegen Wieland gerichtet) und andererseits »deutschem Sang« und »edlem Bardensohn« getadelt und die Veröffentlichung im Musenalmanach verhindert (daher die Durchstreichung). Als Voß einen eigenen Almanach herausgab, hatte Boie diesen Einfluss nicht mehr.

Bd. 1, Nr. 70 Christian Stolberg: An ein Mädchen in den Musen Almanach. Vorgelesen am 16.1.1773. = VB Nr. 81. Erstdruck hier. Kleine Formspielerei. Das Mädchen übertrifft die Wirkung der gepriesenen Lieder. Christian Stolberg unterschreibt nur hier, in Nr. 106 und VB Nr. 70, mit dem (abgekürzten) Grafentitel, sonst immer - und anders als sein Bruder - nur mir Vor- und Zunamen; vgl. dazu noch Voß' späte Erinnerung in Wie ward Friz Stolberg ein Unfreier?, Voß 1819, S. 7.

Bd. 1, Nr. 71 Hölty: Der Tod. Vorgelesen am 10.10.1772. Erstdruck Halm 1869, S. 84f. Der Tod wird gepriesen als Friedensbote, der Himmel als Heimat. Für Hölty typische, in Leben und in Dichtung verwurzelte Todesnähe und Gottergebenheit, so sehr sich zugleich an anderer Stelle seine Lebenssehnsucht ausspricht, vgl. dazu seinen Brief an Voß vom 8. Mai 1775, zitiert im Kommentar zu Bd. 1, Nr. 4. Vgl. auch das gleichnamige Gedicht Bd. 1, Nr. 41.

Bd. 1, Nr. 72 Hölty: An ein Traummädchen. Vorgelesen am 16.1.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 128-130 (durch Variantenangabe), spätere Fassungen in GMA 1775, S. 139f., und in Olla Potrida 1 (2,1778), S. 202-204 (dort Der Traum, mit dem Hinweis »eingeschickt«). Zur Strophenform vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 63. - Der Rezensent der Kritischen Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 2.2, Bützow, Wismar 1775, schreibt: »Das Traumbild von Hölty, ist eine weitere Ausbildung eines Gedankens von Hagedorn: Sie folgte dort in jugendlichen Träumen | Mir immer nach... Wie fallen doch die erkünstelten Verse der modernen Dichter weg, wenn man sie gegen die schöne Natur in den Hagedornischen Liedern hält!« (S. 334). Gemeint ist folgende Strophe in Hagedorns Gedicht An den verlohrnen Schlaf. »Sie eilte dort, in jugendlichen Träumen, | Mir immer nach; | Bald in der Flur, bald unter hohen Bäumen, | Bald an dem Bach. | Oft stolz im Putz, oft leicht im Schäfer-

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Kleide, | Mit offner Brust, | Stets lächelnd hold im Ueberfluß der Freude: | Schön von Gestalt, noch schöner durch die Lust.« [Friedrich von Hagedorn:] Oden und Lieder in fünf Büchern. Hamburg 1747, S. 77f. Thymus'. Thymian, Quendel. Lit.: Michael 1909b, S. 115f.

Bd. 1, Nr. 73 Johann Martin Miller: SchäferGebeth. ich allein | Soll von). Erstdruck hier.

= VB Nr. 84 (4 Laue; 21f. Götter,

Lalage·. vgl. zu Bd. 1, Nr. 43.

Bd. 1, Nr. 74 Johann Martin Miller: Grabschrift. = VB Nr. 85 (2 Beklagt). Erstdruck Kayseriich-privilegirte Hamburgische Neue Zeitung 160, 6.10.1773 (2 Beklagt). Dann GMA 1774, S. 184 (dort Kornar, Kürzel U. M.). Typenschelte. Von Voß später durch die Einreihung in andere entsprechende Epigramme polemisch auf Wieland bezogen; ob Miller mit dieser Einreihung damals einverstanden war, lässt sich nicht sagen. Vgl. Schräder 1984, S. 357f., und Bd. 1, Nr. 152, außerdem VB Nr. 74 mit ausführlichem Kommentar.

Bd. 1, Nr. 75 Hölty: Parodie. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 1 (1774), S. 143f. (ohne Datum; Kürzel H.; 1,1 Gleichmuth, Freund, und Zufriedenheit; 1.3 Weihrauchkörnlein; 1,4 Spöttischen Tadel verströmt und Grobheit; 3,1-2 wo dir der Lehnstuhl und | Der Ofen winken; 3,3 dampft; 4,4 im Rollen; 5,3 goldnen Schnitten; 5,4 und Titeln; 6,2 Klopstocks Fluge), dann Michael 1914/1918, Bd. 1, S. 82f. Klassische horazische Aufforderung zu Gelassenheit, Maß und Lebensgenuss angesichts des Todes, der unausweichlich ist, gleich wie das Leben gewesen sei; hier von Hölty scherzhaft übertragen auf die Gelassenheit des Dichters angesichts eines Rezensenten. In der Gelehrtenkarikatur vielleicht auch Selbstironie? Vgl. zu Dichter und Rezensent z.B. Goethes Da hatt ich einen Kerl zu Gast (1773), das auch im Göttinger Musenalmanach erschien (1775, S. 59). - Die früheste Fassung im Brief von Knebel an Gilbert, 3. September 1772, Knebel-Nachlass 1835/36, Bd. 2, S. 23 (statt Klopstock wird in Str. 6 noch Ramler genannt). Aequam memento...: Horaz, Lieder II, 3 (Gelassen gedenke in Lagen voll Härte zu bewahren den Sinn). Levante: Küste Kleinasiens. Lit.: Stemplinger 1906, S. 2 4 - 3 9 und 228-232; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 359-364. Vgl. auch Bd. 1, Nr. 136.

Bd. 1, Nr. 76 Johann Martin Miller: Nach Herrn Walther von der Vogelweide. Erstdruck hier. Andere, um eine Strophe gekürzte Fassung in GMA 1774, S. 195f. (dort Lied, Kürzel R.; im Register die Ergänzung: »Nach Herrn Walther von der Vogelweide. Sammlung von Minnesingern. I Th. 113«). Vgl. Walthers Under der linden (Cormeau 1996, Nr. 16, S. 77f.). Willkürliche Mischung von Anakreontik, Minnesangspuren und bürgerlicher Empfindsamkeit (Heimlichkeit vor der Mutter). Montan: von lat. Montanus, auf dem Berge lebend (später Jarnos Name in Wilhelm Meisters Wanderjähren). Lit.: Mühlenpfordt 1899, S. 4 4 - 4 6 ; Bäsken 1937, S. 180.

Bd. 1, Nr. 77 Johann Martin Miller: An ein paar RingelTäubchen. Erstdruck der Grundschrift Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 4 (1775), S. 133-135 (Kürzel I.; 3,2 Euer Nest im Pappelstamm; 4,6 stillen; 5,4 weht durchs junge; 6,3 der Küsse süßes; 6.4 jugendlichem; 7,4 mich sittsam zu ihr). Die Liebe der Tauben als beliebter Spiegel der menschlichen Liebe. Cypria: Aphrodite. Lit.: Bäsken 1937, S. 137.

Kommentar

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Bd. 1, Nr. 7 8 J o h a n n M a r t i n Miller: An die Venus.

E r s t d r u c k hier. S p ä t e r e F a s s u n g in

V M A 1776, S. 75f. Die Fassung im Musenalmanach lautet: An die Venus. Nach Horazens 3 Oster Ode im ersten Buch. 1772. Madam, die Sie als Königin In Paphos residiren, Ο könnt* ich Ihren holden Sinn Durch meine Bitte rühren! Verlassen Sie den goldnen Saal Im paphischen Palaste, U n d kommen Sie für diesesmal Bey Cynthien zu Gaste! + Aufs stattlichste w i r d da geschmaust, Da thun die Köche Wunder; U n d aus krystallnen Flaschen braust Champagner und Burgunder; Sie könnten mir, erschienen Sie Mit Ihren Charitinnen, Durch Ihren Fürspruch ohne M ü h Des Fräuleins H e r z gewinnen. Beehren Sie mit sanftem Tritt Die blumigen Gemächer, U n d bringen Ihren Junker mit, Samt Bogen, Pfeil und Köcher! Ihr Kerl Merkur versteht den Pfiff; Wenn Sie's ihm nur befehlen, W i r d er durch einen Meistergriff Des Fräuleins Herz mit stehlen. Miller. 0 Venus...: Horaz, Lieder I, 30 (O Venus, Königin von Knidos und von Paphos). Paphos: Stadt auf Zypern, mythische Stadtgründung, Ort des Aphrodite-Kultes. Charitinnen: die Grazien, Begleiterinnen der Venus. Das junge Herrchen: Amor. Lit.: Stemplinger 1906, S. 24-39 und 203-205; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 275-278. Bd. 1, Nr. 7 9 J o h a n n M a r t i n Miller: Der Traum.

Die korrigierte F a s s u n g = V B Nr. 6 7 (1,4

m i c h ; 3 , 4 d e r G r u n d s c h r i f t : S c h l u m m e r ; 5 , 4 d. Gr.: V o n G r a m ) . E r s t d r u c k d e r G r u n d s c h r i f t Almanach

der deutschen

Musen

auf das Jahr

1774, S. 86f. ( o h n e D a t u m , K ü r z e l

LI.; 3,2 d a h e r ) . E r s t d r u c k mit d e n K o r r e k t u r e n Gedichte

1783, S. 1 0 5 - 1 0 7 (1,2 Der

M o n d s o rein; 1,4 M i c h ; 3,2 der G r u n d s c h r i f t : Rollt'; 3 , 4 d.Gr.: S c h l u m m e r ; 4 , 2 d . G r . M i c h , a c h , s o s ü ß ! ; 5 , 4 d.Gr.: V o n G r a m ; 7,2 d . G r . Rief; 7 , 3 d.Gr. S e l i n d e ; 9 , 2 d . G r . S o w o n n i g l i c h ; 9 , 3 d.Gr. s e h n t ' ; 9 , 4 d . G r . V o n h i n n e n mich). O f f e n b a r a u c h in E w a l d s B u n d e s a l b u m , vgl. B e r b i g 1 9 0 3 , S. 94. Johann Georg Jacobi schreibt in seiner Almanach-Rezension im Teutschen Merkur über den Traum: »Hüpft wie ein Morgenlüftgen vorbey, und verdient, in einem Tempe geträumt zu werden«, 6. Bd., 1. Stück, 1774, S. 54.

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Diana: Artemis. Morpheus: Sohn des Somnus, des Gottes des Schlafes. Krümme: die Krümmung (z.B. eines Flusses oder Tales), vgl. Klopstock, Messias, »Der Jüngling, der dort an der Krümme des Baches | Ernst das Auge gen Himmel erhebt, ist Jethro«, 17, 577; vgl. Deutsches Wörterbuch 5 (1873), Sp. 2453-2456. Lit.: Breitenbruch 2000, S. 54.

Bd. 1, Nr. 80 Johann Martin Miller: Einladung in die Laube. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 2 (1774), S. 137-139 (dort mit Untertitel An Damon; ohne Datum; Kürzel I.; 4,2 edeln; 5,2 zu; 6,2 tiefverborgne; 7,2 es; 7,4 Mayennacht). Motivlich im Hintergrund stehen Klopstocks Oden Der Rheinwein 1753/71 und Der Jüngling 1764/71.

Bd. 1, Nr. 81 Johann Martin Miller: Das schlummernde Mädchen. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 2 (1774), S. 143 (ohne Datum; Kürzel I.; 1,2 Leiser; 1,3 Stört sie nicht in; 3,1 Wann; 3,2 strengen). Bd. 1, Nr. 82 Johann Martin Miller: Vergleichung an Daphnen. Erstdruck Miller, Gedichte 1783, S. 193 (2,1 Freude; 3,1 wenn nicht; 3,2 Gegenhuld mir; 3,3 das Blümchen / ihm; 4,2 Jüngst mit Thränen sehen). Bd. 1, Nr. 83 Johann Martin Miller: An Damon. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 4 (1775), S. 131 (Kürzel I.; 1,3 Nordes; 1,4 Entstellt und blätterlos; 2,3 könnt ich Rosen; 4,2 Thräne; 4,3 betrübtem; 4,4 deine). Die Grundschrift auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 46 (1,4 Entstellt, und blätterlos; 3,4 Entstellt, und blätterlos). Bd. 1, Nr. 84 Johann Martin Miller: An ein verwelktes Röschen. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 4 (1775), S. 132 (Kürzel I.; 3 hattest; 4 Daphne sah und; 7 war dein Tod so; 8 Als du Abends welktest; 11 war dein Tod so). Abgebildet bei Breitenbruch 2000, S. 55. In den Gedichten 1783 mit Anmerkung: »Aeusserst unbedeutend, und nur um der sehr angenehmen, Rondeaumäßigen Komposition des Herrn Neefe willen, hier aufgenommen« (S. 469).

Bd. 1, Nr. 85 Johann Martin Miller: An einen frischgepflanzten Rosenstrauch. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 1 (1774), S. 69 (Kürzel Ths.; ohne Datum; 1,1 Frühlingsgötter; 1,4 Blümchen; 2,1 wann | in künftgen; 2,3 deinen; 2,4 Meine blonde; 3,1 Wann; 3,2 Blümchen; 3,3 beweine). Bd. 1, Nr. 86 Johann Martin Miller: Der Bund. Vorgelesen am 13.9.1772. = VB Nr. 78 (3,1 Genung!). Erstdruck hier. Für Miller ist der Bund von Anfang an vaterländisch. Wie in Vossens Briefbericht über die Bundesgründung (20.9.1772, an Brückner, zit. oben in 11/1, Die Gründung) wird der Mond zum Zeugen angerufen. - Vgl. auch die anderen Bundeslieder, Bd. 1, Nr. 1, Nr. 51/VB Nr. 54, Bd. 1, Nr. 92, VB Nr. 75.

Bd. 1, Nr. 87 Johann Martin Miller: Die Geliebte. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 4 (1775), S. 136f. (Kürzel I.; 1,1 Natur, wie du; 2,4 verschmähte; 3,3 in herzensvoller Sprache; 4,2 Verlasse; 4,3 Wo; 4,4 den düftenden Frühling preisen).

Kommentar

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Frauentugenden wie Sittsamkeit oder Unschuld werden als deutsch bezeichnet. Zu Miller als Odendichter vgl. zu Bd. 1, Nr. 50a. Lutetien: Paris. Lit.: Breitenbruch 2000, S. 58f.

Bd. 1, Nr. 88 Johann Martin Miller: Klagelied einer Bäuerinn. Erstdruck der korrigierten Fassung (um die vierte Strophe verkürzt) GMA 1775, S. 79f. (Kürzel L.; 1,1 Die; 1,2 Nun endlich auch im; 1,3 Da ging ich jeden Morgen; 1,7 Wilhelm; 2,2 blühen; 2,6 Dies noch; 2,8 Auf Schlüsselblumen; 5,8 in die Hände; 6,1 Da schlug mein Herz, ich konnte; 6,2 Ahndung). Bd. 1, Nr. 89 Johann Martin Miller: Aufmunterung zum Trinken. 26.9.1772. Erstdruck GMA 1774, S. 44f. (Kürzel X.; 2,5 Wann).

Vorgelesen am

Vgl. auch Albertsen 2003.

Bd. 1, Nr. 90 Johann Martin Miller: TrinkLied. Vorgelesen am 24.10.1772. Erstdruck GMA 1775, S. 163f. (Kürzel E.R.; 2,4 wißt ihr; 2,5 Wir Menschen; 3,1 Chloens; 4,1 Ein Mädchen, das; 4,5 Nebel an). Die Zeiten...: vgl. das lateinische »Tempora mutantur, nos et mutamur in illis«, nach Kaiser Lothar I. (817-855). Wie Nebel...: Das Bild des in der Sonne weichenden Nebels ist typisch aufklärerisch, im 18. Jahrhundert aber auch durch die ossianische Nebelwelt verbreitet. Vgl. auch Albertsen 2003.

Bd. 1, Nr. 91 Johann Martin Miller: Trinklied. Vorgelesen am 24.10.1772. Erstdruck GMA 1775, S. 60 (ohne Datum; Kürzel E. R.; 1,2 Vater Zevs; 3,2 Das uns). Schon 1782 in August Christian Heinrich Niemanns Akademischem Maler Müller zugeschrieben). Vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 38. Lit.: Breitenbruch 2000, S. 61 f.; vgl. auch Albertsen 2003.

Liederbuch,

Bd. 1, S. 20f. (dort

Bd. 1, Nr. 91a Hölty: An die Laute. Ausgerissen, offenbar verloren. Bd. 1, Nr. 91b Hölty: An eine Tobackspfeife. Ausgerissen. Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3029 (mit Faksimile, danach ersatzweise hier der Text), heute Freies Deutsches Hochstift/Frankfurter Goethe-Museum, Hs. 24596; offenbar mit Höltys Brief vom ca. 1.3.1773 an Brückner geschickt, vgl. Metelmann 1932, S. 375f., und Hettche 1998b, S. 494 u. 542. Erstdruck Taschenbuch für Dichter und Dichterfreunde 2 (1774), S. 151 (leicht von der Handschrift abweichend). Alkäische Ode, die üblicherweise heroischen und erhabenen Gegenständen vorbehalten ist (»Ihr bewegt gehobener Klang empfahl die Strophe zumal für Oden an Personen in freundschaftlicher oder huldigender Anrede«, Frank 1993, S. 262). Voß hat auch eine Parodie An einen Pfeifenkopf geschrieben (GMA 1773, S. 106), die vielleicht Anreger von Höltys Gedicht ist: Höltys »Tobackspfeife ist niedlich. Ich hatte einmal mit meinem Pfeifenkopf den ganzen Parnaß beinah zu Tobackssängern gemacht« (Voß an Brückner, 15.11.1772). Schräder: Hölty entwirft »in seiner bereits durch die Diskrepanz des erhabenen alkäischen Metrums zum banalen Gegenstand unfreiwillig komischen Ode An eine Tobackspfeife als Spiel der Phantasie in allen Zügen die symbolische Verbrennungszeremonie am Dichter des Idris und Agathon vor, die im folgenden Jahr erschreckende Wirklichkeit werden sollte«, Schräder 1984, S. 341; vgl. auch III/1, Der Kommentar, zur Sache außerdem 11/1, Dichtung zwischen Klopstock und Wieland. Der Text lautet:

B u n d e s b u c h u n d Protokoll -

446

Kommentar

A n eine Tobackspfeife. Dir, braune Pfeife, welche dem zögernden Decemberabend schnellere Flügel giebt, Vertraute meiner Einsamkeiten; W i l l ich ein Fidibusopfer weihen, Dies ganze Bündel, das mir mein A g a t h o n A u s schaalen Reimen, Bibliothecken, u n d R o m a n e n drehte. Schwelgt, ihr Flammen, A n den erträumeten Ewigkeiten. Bestraft den N a r r e n , w e l c h e r ins Waffenfeld, M i t Gänsespulen stattlich bewafnet, zog, T u m u l t aus ehrnem Rachen brüllte Alberne Katzengefechte kämpfte. Den leeren Reimer, welcher mit goldnem Schnitt, Im Schoos der schönen Tochter der Enkelin, Zu ruhen träumte. Seine Asche, Sinke, voll gaukelnder Funken, nieder. Hölty. Bestraft den...: vgl. Wieland, Der neue Amadis II, 20-23. Lit.: Schräder 1984, S.341f. B d . 1, Nr. 9 2 H ö l t y : ( B r u c h s t ü c k : Der Bund).

Zwei Strophen aus der früheren Fassung.

V o r g e l e s e n a m 1 6 . 9 . 1 7 7 2 . E r s t d r u c k L ü b b e r i n g 1 9 5 7 , S . 19 ( d i e d o r t i g e f r ü h e F a s s u n g ist d e r h i e s i g e n n i c h t g l e i c h , v e r m u t l i c h a b e r s e h r ä h n l i c h ; d e s h a l b w i r d s i e a l s E r s a t z i m G a n z e n w i e d e r g e g e b e n . E r s t d r u c k d e r s p ä t e r e n F a s s u n g Der (mit allen B a r d e n n a m e n Musen

auf das Jahr

und der Unterschrift

1780, S . 1 3 7 - 1 3 9 (vgl. 11/1,

Bund,

» H ö l t y « ) in Almanach Bardennamen).

Bundsgesang I m S e p t e m b . 1772 H a b t Gottes Segen! Vaterland, Vaterland Tönt jede Lippe, Vaterland, Vaterland, Brennt jeder Busen, Brüderherzen F l a m m e n entgegen den Brüderherzen. Ihr kniet nieder, schwöret d e m Laster H o h n , D e n Schändern eurer Fluren, die Galliens, U n d jedes Auslands Kette schleppen, Schwöret ihr H o h n , u n d der Tugend H u l d u n g . H a b t Gottes Segen! W o h l mir! ihr w i n k e t mich In eure W e i h e ; w i n d e t den Eichenkranz U m meinen Schlaf, u m meine Harfe, Gebt mir den Handschlag der deutschen Treue. N o c h einen R u n d k u ß , Brüder, bevor mein Eid D e m Vaterlande huldet, u n d T u g e n d dir, N o c h einen Handschlag vor den A u g e n Gottes, der unsichtbar u m uns wandelt. D u r c h alle Sterne hallt er! Eloa schaut V o n seinem Throne nieder, u n d segnet uns,

der

von

Haining deutschen

Kommentar

447 Die Geister unsrer Väter schweben Lichthell u n d säuselnd u m unsre Häupter. S e y d Zeugen, Geister, Zeugen des T u g e n d s c h w u r s ! M e i n Spiel verstumme flugs, mein Gedächtniß sey Ein Brandmaal, u n d mein N a m e Schande, Falls ich euch, Brüder, nicht zärtlich liebe. Kein blaues A u g e w e i n e die B l u m e n naß, Die meinen Todtenhügel beduften, falls Ich Lieder töne, welche Deutschland Schänden, u n d Laster u n d Wollust hauchen. Der Enkel stampfe zornig auf meine Gruft, W e n n meine Lieder Gift in das weiche H e r z Des M ä d c h e n s träuflen, u n d verfluche M e i n e n zerstäubenden kalten M o d e r . Die M o n d n a c h t leuchtet hehrer, die Eiche rauscht Gefühltres Grauen. - N i m m mich in deinen A r m , M e i n Miller, daß die Seelenschauer Sich in E n t z ü c k u n g der Freundschaft w a n d e l n .

Alkäische Ode, vgl. Frank 2 1993, S. 259-264. Die wiederkehrenden Vorstellungen des Bundes: Vaterland, Tugend, Religion, Freundschaft, verbunden mit entsprechenden Feindbildern, nämlich Frankreich und sogar »jedes Ausland« (Str. 2) sowie die Ablehnung der als unsittlich empfundenen Dichtung Wielands. Wieland braucht nicht namentlich genannt zu werden; die Strophen 7 und 8 beziehen sich eindeutig auf ihn. Vgl. auch die anderen Bundeslieder, Bd. 1, Nr. 1, Nr. 51/VB Nr. 54, Bd. 1, Nr. 86, VB Nr. 75. Eloa: das hebräische Wort für Gott (Eloah). Geister unsrer Väter. Anspielung auf Macphersons Ossian, vgl. III/3, Ossianrezeption. Die Mondnacht...: Anspielung auf die Szenerie der Bundesgründung, vgl. Voß' Brief an Brückner vom 20. September 1772, zit. in 11/1, Die Gründung. Mein Miller, vgl. zu Bd. 1, Nr. 155.

Bd. 1, Nr. 93 Boie: Der Brunn der Vergessenheit. Vorgelesen am 30.1.1773. = VB Nr. 97 (1,2 seufzend, immer; 2,6 So oft, so viel). Erstdruck hier. Spätere Fassung bei Weinhold 1868, S. 296f. Die von Weinhold nach Boies handschriftlichem Sammelbuch mitgeteilte Fassung lautet: Das Brünnchen der Vergessenheit. Verzehrt von S c h w e r m u t h u n d v o n Liebe Floß i m m e r seufzend, i m m e r trübe Sehndor m ein Brünnchen hin; U n d alle, die zu diesem kamen, Vergaßen trinkend selbst den N a m e n Der ungetreuen Schäferin. Philinden endlich zu vergeßen, Die schon zu lang dieß H e r z beseßen, Kam ich auch jüngst hierher gerannt. D o c h sie w a r mir zu v o r g e k o m m e n U n d hatte schon so viel genommen, Daß ich für mich kein Tröpfchen fand. Boies Vorlage ist offenbar folgendes Gedicht von Antoine Ferrand (1678-1719):

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

448 Madrigal.

D ' A m o u r & de melancolie Jadis C e l a m n u s consume En Fontaine fut transforme, Et qui boit de ses eaux oublie J u s q u ' a u n o m de l'objet aime. Pour m i e u x oublier Egerie J ' y courus hier vainement; A force de changer d ' A m a n t , L'infidelle l'avoit tarie. Vgl. Elite de poesies fugitives. Bd. 1. London 1764, S. 233. Lalage: vgl. zu Bd. 1, Nr. 43.

Bd. 1, Nr. 94 Voß: Die Ausgießung des heiligen Geistes. Vorgelesen am 23.1.1773. Die Grundschrift = VB Nr. 98. Erstdruck der Grundschrift Wandsbecker Bothe 6.6.1775, Nr. 89 (dort Auf die...] 1,4 jäher; 4,3 Tyrenersandes; 6,1-2 Und Seuchen in Gehenna's Klüfte | Sich stürzen; wenn, durch Gottes Schutz; 6,3 Gestärkt, sie Becher; 6,4 Verhöhnen, und des Wütrichs Trutz!; 7,2 Geheimnißvolles Blut; 7,3 Das ewig an den Stuffen; 7,4 schauerhaften; 8,1 itzt / gläubig; 8,3 ihm; 9,3 Höllischen; 10,3 lautre / die dem Müden; 10,4 In Edens Palmen Labsahl quillt!). Die Grundschrift auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 68f. 1769 in Neubrandenburg gedichtet. Einziges erhaltenes der frühen Gedichte Vossens von 1768/69; die anderen hat Voß selbst verbrannt. In seinen Erinnerungen aus meinem Jugendleben schreibt Voß über frühe Gelegenheitsgedichte aus der Penziiner Zeit (vor 1766), Voß-Briefe 1829/33, Bd. 1, vgl. bes. S. 22f. Herbst: »ein Gedicht der Schule, nicht des Lebens, mit angelerntem religiösen Pathos«, Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 45. Lübbering: »das Pfingsterlebnis eines religiösen -Mechanikers·«, Lübbering 1957, S. 172. Es hört die...·, vgl. Apg. 2,8-11. Mit Feuertaufe...·, vgl. Mt. 3,11/Lk. 3,16. Lit.: Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 44t.; Schröder 1909, S. 103t.; Lübbering 1957, S. 171-173.

Bd. 1, Nr. 95 Voß: An das Schiff, das den Vergil nach Athen brachte. Vorgelesen am 6.2.1773. = VB Nr. 99 (2 Grundschrift unleserlich; Überschr.: Tyndarischen; 25 ü.d.Z.: auszustehn; 26 ü.d.Z. Rennt; 34 r.n.d.Z. Fittigen,; 35 ü.d.Z. Die nicht Menschen verliehen). Erstdruck hier. Spätere Fassung in Voß 1806 (dort Auf Virgils Meerfahrt), S. 10-12 = Horaz, Lieder I, 3. Nur Vers 8 ging wörtlich in die Ausgabe von 1806 ein. Eine leicht abweichende Handschrift im Voß-Museum Otterndorf ist offenbar älter, da im Bundesbuch die von Brückner vorgeschlagene Änderung (Voß an Brückner, 15.11.1772) bereits vollzogen ist. Vierte asklepiadeische Strophe, von Voß nachzubilden versucht, aber nicht strophisch abgesetzt, vgl. zu Bd. 1, Nr. 51. Die Beibehaltung der lateinischen Windnamen und der mehrfache Verzicht auf Vorsilben (brechliche, rüchtige, flügelte) sind typisch für die schon früh zu Härten neigende Übersetzungssprache Vossens. Der besonderen Bitte für Vergil, Publius Vergilius Maro (70-19 v. Chr.), Zeitgenossen und Freund des Horaz - über seine Reise ist sonst nichts bekannt - , folgt die Erinnerung an die Gefahren durch die von den Göttern nicht gewollte Schifffahrt (der erste Schiffbauer ist der, »der zuerst brechliche Flöße dem | Grausen Ocean übergab«); diese Gefahren sind Folge und Strafe der Grenzüberschreitungen des Menschen im Allgemeinen (»Thürstig jegliches zu bestehn«), der die sinnvolle Weltordnung durchbricht, dafür die mythologischen Vorbilder Prometheus (Japets Sohn), Dädalus und Herkules. Prometheus stiehlt Zeus das Feuer und gibt es den Menschen. Magerkeit (bei Voß unschön und missverständlich »Dörrsucht«) und »neue Fiebergeschwader« sind Strafe der Götter; Dädalus fliegt mit selbstgefertigten Flügeln; Herkules dringt in die Unterwelt ein und stiehlt den Höllenhund Zerberus. Zeus kann seine rächenden Blitze gar nicht aus der Hand legen (»entfällt« ist irreführend übersetzt).

Kommentar

449

Die Kritik der Schifffahrt bzw. ihres Erfinders, Ausdruck antiker Zivilisationsskepsis, ist in der Dichtung hier zuerst belegt; sie ist später bei Properz, Ovid, Seneca u.a. geläufig. In Deutschland gibt es Gedichte im Fahrwasser dieser Ode bei Gleim (O Schiff, du führest einen Mann 1751, als Klopstock nach Kopenhagen reiste), bei Zachariä (An das Schiff, welches Klopstocken nach Dänemark führte 1751) u.a. Cypris: Aphrodite. Leuchtende Zwillinge: wörtlich Brüder der Helena, nämlich Castor und Pollux, die Dioskuren, als Sterne an den Himmel versetzt und Schützer der Seeleute; auch in der deutschen Dichtung häufig. Japyx: hier der südapulische Wind. Africus: Südwestwind. Aquilonen: Nordwinde. Notus: Südwind. rüchtiger Fels: von Brückner vorgeschlagen, für ursprünglich »gräulicher Fels«, vgl. Voß an Brückner, 15. November 1772. Hoher Keraunien: Teilübersetzung aus Acroceraunia (Vorgebirge in Epirus). Acheron: die Unterwelt (eigentlich dortiger Fluss). Thürstig·. turstig, zu turren, wagen, sich erkühnen, Deutsches Wörterbuch 11 (1952), Sp. 1 9 0 2 1904. Lit.: Stemplinger 1906, S. 7 7 - 9 4 ; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 5 8 - 6 9 ; vgl. auch oben III/3, Übersetzungen.

Bd. 1, Nr. 96 Johann Martin Miller: Agathon. Erstdruck Ulmisches Intelligenzblatt, 46. Stück, 16.11.1775. Kürzel S. (ohne Datum; 1 , 5 - 6 Nur von ihrem Agathon | Hört sie keines Lobes Ton; 2,1 Auf; 2 , 3 - 4 Meine Blicke starren nieder, | Schauer bebt durch alle Glieder; 2,5 Ach; 3,3 ich sie betrachten; 3,4 Seufzer unterdrücken, schmachten). Agathon\ griechisch, der Gute, Edle; Held des gleichnamigen Romans von Wieland (1766/67).

Bd. 1, Nr. 97 Boie: Die kleine Braune. Vorgelesen am 13.2.1773. = VB Nr. 100 (dort unter dem Titel »(Belle Brune, que j'adore)«; 1,3 Haße). Erstdruck hier. Andere Fassung in VMA 1789, S. 77f. (dort Duett, Kürzel B.). Daphnis und Daphne sind ein Idealpaar, schon bei Klopstock (Klopstock verdrängte die Namen 1766 durch Selmar und Selma, vgl. Kahl 2002b). - Herkunft des Stückes unbekannt.

Bd. 1, Nr. 98 Johann Martin Miller: Der EydBruch. Vorgelesen am 12.12.1772. Erstdruck VMA 1776, S. 95 (ohne Datum; Kürzel D.; 1,2 Als unsrer Liebe; 2,2 Schrecken; 3,2 Und sammeln sich um sie; 4,2 schonet noch!). Zeittypische Gewitter- und Geisterdichtung, mit den Balladen verwandt.

Bd. 1, Nr. 99 Voß: An Pyrrha. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck hier. = VB Nr. 101. Spätere Fassung in Voß 1806, S. 15f. = Horaz, Lieder I, 5. Vers 4 ging wörtlich in die Ausgabe von 1806 ein. Eine andere Handschrift früher im Brückner-Nachlass, Härtung & Karl 50, Nr. 3049, vgl. oben III/3, Übersetzungen. Pyrrha: Tochter des Epimetheus und der Pandora, die erste Sterbliche; sie heiratete Deukalion, den Sohn des Prometheus. Beide wurden gemeinsam aus der Sintflut gerettet. - Bildlich verbunden sind Seenot und Liebesniederlage; das lyrische Ich, selbst entronnen - daher die Dankbarkeit gegenüber dem Meeresgott - , fragt nach dem gutgläubigen neuen Liebhaber Pyrrhas, der es einst selbst angehörte. Lit.: Stemplinger 1906, S. 102-108; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 7 9 - 8 5 ; Storrs/Tennyson 1959 (154 Übersetzungen in 25 Sprachen, darunter 13 deutsche, Voß fehlt).

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Bd. 1, Nr. 100 Friedrich Leopold Stolberg: An eine meiner Schwestern, welche Lavaters KriegsLieder laß. = VB Nr. 102 (dort An eine Schwester, welche...] 3,3 Tiefgestürzte). Erstdruck offenbar hier. Johann Kaspar Lavater (1741-1801) war Prediger und Schriftsteller in Zürich. Vgl. seine ohne Namen erschienenen Schweizerlieder. Von einem Mitgiiede der helvetischen Gesellschafft zu Schinnzach. Bern 1767, darin zwei Kriegslieder (S. 162-166). Lavaters Schweizerlieder wurden bis 1796 neunmal aufgelegt; sie geben ein Bild des heroisch gedeuteten Volkes und seines Freiheitskampfes; sie gehören ins Umfeld der Heldenballade und bezeichnen den »Beginn des patriotisch-nationalen Volkslieds in der Schweiz« (Im Hof 1985, S. 99). Einige sind ausdrücklich als »Kriegslieder« bezeichnet, einige auch als Sieges- und Schlachtlieder; sie entstanden unter dem Eindruck der Siege Friedrichs des Großen; Lavater hat sie nach dem Siebenjährigen Krieg als eine seiner »unwürdige Arbeit« zurückgenommen, nach Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hrsg. von Ernst Staehelin. Bd. 1: Die neue Kreatur in Christo 1748-1772. Zürich 1943, S. 69, vgl. auch Weigelt 1991, S. 90f. (sie blieben in den Ausgaben aber stehen). Das ist auch der Gegenstand des vorliegenden Gedichts: wie »donnernder Kriegsgesang« - der nicht frei ist von Kriegsverherrlichung - und die »zarte Empfindung« der Schwester zusammenzubringen seien. Stolberg preist ihre Vereinigung von »weiblicher Milde« und »Helden Tugend«, Portia vergleichbar, einer der bedeutendsten Heldinnen bei Shakespeare (Kaufmann von Venedig). Die Schwester ist vermutlich Auguste Stolberg, die sich unter den Stolberg-Schwestern am meisten mit Dichtung beschäftigte; Auguste las auch Lavaters Physiognomische Fragmente und war ihm auch in späteren Jahren verbunden, vgl. Elsa Plath-Langheinrich 1989, S. 131 ff., 331 f., vgl. zu Auguste außerdem ausführlich den Kommentar zu Bd. 2, Nr. 22. Drei Briefe Augustes an Lavater sind erhalten in: Johan Caspar Lavaters Rejse til Danmark i Sommeren 1793 [...]. Hrsg. von Louis Bobe. Kopenhagen 1898 (darunter ihr erster Brief an Lavater vom 4.11.1791, S. 115-117). - Stolberg beschäftigte besonders die Vorstellung des Tyrannensturzes (Str. 3), wohl auch unter dem Eindruck der Struensee-Affäre in Kopenhagen 1770. Zu seiner politischen Auffassung vgl. grundlegend Hempel 1997a. Die Brüder Stolberg lernten Lavater auf ihrer Schweizer Reise 1775 kennen, vgl. Friedrich Leopold an Henriette Bernstorff, 11.-13. Juni 1775, zunächst durch seine Predigt, dann persönlich. Am 31. Juli 1775 schickte Friedrich Leopold ihm aus Marschlins ein ihm gewidmetes Gedicht (»Bester Lavater ich ehre u: liebe Dich unaussprechlich! Wer Dich nicht von ganzem Herzen liebt der werde Chorherr!«). Gegenüber Miller pries er ihn als »göttlichen Mann« (11.10.1775). Ihm selbst schrieb er schwärmerische Briefe (ungewöhnlich ist das vertrauliche Du), vgl. besonders den Brief an Lavater vom 27. November 1775. Eine Reihe von Briefen Friedrich Leopolds an Lavater aus den Jahren 1775 bis 1800 sind erhalten, vgl. Behrens 1968b und Hempel 1997a, S. 289-314; Briefe Stolbergs an Lavater in: Ulrich Hegner: Beiträge zur nähern Kenntniß und wahren Darstellung Johann Kaspar Lavater's. Aus Briefen seiner Freunde an ihn, und nach persönlichem Umgang. Leipzig 1836 und Behrens 1966, passim. Im September 1791 besuchte Stolberg Lavater erneut in der Schweiz, nach Italien durchreisend; 1793 reiste Lavater nach Kopenhagen und besuchte auch Emkendorf und Eutin. Die schwärmerische Jugendfreundschaft wich einer verfeinerten Einschätzung und zunehmender Entfernung, vgl. besonders Stolberg an Voß, 17. April 1787, und an Amalie von Gallitzin, 31. Oktober 1796; anders als Goethe und Voß hielt Stolberg aber lebenslang an Lavater fest. Vgl. auch Stolbergs Äußerung über Lavater aus den Jahren nach der Konversion: »Lavaters Schweizer-Lieder sehr gut, geistliche Lieder haben sehr viel Schönes, Physiognomische Briefe, 4 Bände 4°, haben viel Vortreffliches, auch viel Übertriebenes, zahllos sind seine andern Schriften. Er hatte viel Geist und ein treffliches Herz und war voll Eifer fürs Christentum; er schrieb viel zu viel, und ermüdet oft die Leser, aber überall findet man Geist und einen guten Geist in seinen Schriften«, nach Behrens 1968a, S. 151. Bemerkenswert ist endlich Lavaters duldsam-verständiges Urteil über Stolbergs Übertritt, vgl. Janssen 1877, Bd. 2, S. 4 - 8 , und Schumann 1956, S. 299f. Lavater charakterisierte beide Brüder Stolberg in seinen Physiognomischen Fragmenten, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775-1778). Diese Charakteristiken gingen später in Dichtung und Wahrheit ein (4. Teil, 19. Buch, HA Bd. 10, S. 136f., 162-165). - Stolberg richtete gleich nach dem Kennenlernen ein Gedicht an Lavater (verschickt am 31.7.1775, G W Bd. 1, S. 107, vgl. auch GW Bd. 2, S. 15-18). Lavaters Schweizerlieder - am 11 ,/13. Juni 1775 berichtet Stolberg, er habe in der Schweiz Lavaters Schweizerbauernlied gesungen (an Henriette Bernstorff) - regten ihn seinerseits zu Liedern an. Schon 1775 erschienen in der Vierten verbesserten und vermehrten Auflage der Schweizerlieder in einer Neuen Zugabe zu den Schweizerliedern (Zürich 1775) vier Gedichte, die mit »Fr. v. St.« gezeichnet sind und die offenbar auf der Reise

Kommentar

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entstanden: Das Rüsthaus, später als Das Rüsthaus in Bern in G W Bd. 1, S. 98f.; Die Trümmer, GW Bd. 1, S. 100f.; Schweizerisches Hochzeitslied, als Bei einer Schweizer-Hochzeit in GW Bd. 1, S. 102f.; Teils Geburtsort, als Bei Wilhelm Tell's Geburtsstätte im Kanton Uri in G W Bd. 1, S. 96f. Lit. zu Lavaters Schweizerliedern: Im Hof 1985/1994. Zu Lavater allgemein vgl. Weigelt 1991, Ohage 1999 und Ohage in Kahl 2001a, S. 5 8 - 6 3 ; außerdem Brandt 1926.

Bd. 1, Nr. 101 Friedrich Leopold Stolberg: An die Träume. Vorgelesen am 23.1.1773. = VB Nr. 101 (1,7 von; 2,1 pfauichtem; 2,5 sollen). Erstdruck GMA 1777, S. 134f. (ohne Datum; Verfasserangabe: Graf zu **; 1,5 mit leichtem; 1,7 Mohndurchflochtnen; 3,4 lezte Strahl; 3,5 Der Sonne sich). Es hat in Stolbergs Leben immer wieder Zeiten seelischer Verdunklung gegeben, Preis jener charakteristischen »Fülle des Herzens«, einer außergewöhnlichen seelischen Reizbarkeit, die zur Empfindsamkeit als Epoche wie zu Stolberg selbst gehört und die er selbst beschreibt, vgl. seinen Prosahymnus Über die Fülle des Herzens 1777. Unverkennbar ist freilich auch die dichterische Stilisierung. Welchen »Anlass« das vorliegende Gedicht hat, ist unbekannt, vgl. ähnlich Der Abendstern, Bd. 1, Nr. 107. Möglicherweise bezieht Hölty sich im Brief an Stolberg vom 19. Januar 1774 auf diese beiden Gedichte (auch dadurch bestätigte sich deren Zusammengehörigkeit), wo es mit Bezug auf einen nicht erhaltenen Brief Stolbergs heißt: »Haben Sie meinen herzlichen Dank für die Nachricht, die Sie mir in Ihrem letzten Briefe gegeben haben. Die Träume, und der Abendstern sind mir jetzt wichtiger und lieber, da ich die Verfaßung kenne, worin Sie waren, als Sie diese Stücke machten, und mit dem Engel bekannt geworden bin, der Sie begeisterte. Widmen Sie doch der schönen Serena noch einige Gesänge.« Offenbar kannte Hölty beide Gedichte schon (nämlich aus dem Bundesbuch) und kann sie nun, offenbar nach einer persönlichen Mitteilung Stolbergs, besser verstehen. Vielleicht beziehen sie sich, zusätzlich stilisiert, auf eine frühe unglückliche Liebe Stolbergs, die den heftigen Kummer ausgelöst hat und von der sonst nichts bekannt ist. Dagegen ließe sich einwenden, dass in den Gedichten selbst nicht ausdrücklich von Liebeskummer oder sogar einer besonderen Person die Rede ist, sondern nur allgemein von »meiner Seele Wunden« und der »Geissei meiner Sorgen« (An die Träume) oder »nagender Traurigkeit« (Der Abendstern).

Bd. 1, Nr. 102 Johann Martin Miller: NachtGebeth. Auch in Für Klopstock. Lübbering 1957, S. 37f. (dort irrtümlich 1773; 5,4 BruderHerzen).

Erstdruck

Die »Millersche Zufriedenheit, Selbstbescheidung und leichte Philistrosität in Gebetsform«, Lübbering 1957, S. 161.

Bd. 1, Nr. 103 Johann Martin Miller: An Elisen um die MitternachtsZeit. Vorgelesen am 24.10.1772. Erstdruck Miller, Gedichte 1783, S. 73f. (dort An Elisen, um Mitternacht, 1,5 und Dunkel wandelt; 2,1 Froh denk'; 2,2 Und all den tausend Freuden nach; 3,3 Doris; 3,5-6 Erweicht durch keine Seufzer ward, | Und Pfauen gleich, sich blähte). Bd. 1, Nr. 104 Voß: An Wehrs. Vorgelesen am 27.2.1773. Erstdruck Schöne 1972 (Faksimile). Spätere Fassung VB Nr. 96 (dort An Rolf, vgl. Text und Druckangaben dort) und im Deutschen sonst Wandsbecker Bothen 4.6.1774, Nr. 89 (dort Poetischer Winkel. Tobacksode, ohne Namensnennung). Eine Parodie auf Horaz' Gedicht auf den Wein (Lieder I, 18) - Kaffeetrinken und Rauchen werden von Voß eingeführt - und zugleich einer der frühesten Versuche Vossens mit dem deutschen Hexameter: Wer trinkt, darf auch rauchen, wenn es - dies ist ganz Horaz - nur nicht zu viel ist; das Übermaß entspricht hier dann, mit der bei Voß üblichen Frankreichfeindlichkeit, dem »Spaß kalter Romanen«. A m 24. Oktober 1773 kündigt Voß gegenüber Stolberg die Umarbeitung an, Bobe 1917, Bd. 8, S. 125. Vielleicht ist der unbedeutende Wehrs, schon in der etwas späteren Fassung in Voß' Bundesbuch durch »Rolf« ersetzt, nur wegen der Namensähnlichkeit mit Varus eingesetzt? Der Rezensent der Kritischen Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 2.2, Bützow, Wismar 1775, schreibt verständnislos: »An Rolf von Voß ist ein recht Rolfsmäßiges Gedicht. Man höre nur einmal die Versart: Rolf, beym mäßigen Kelch, oder beym Trank den die Levante bringt... So

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

dichtete schon im vorigen Jahrhundert Peter Sqvenz beym Gryphius: Ich wünsch euch allen eine gute Nacht, / Dieß Spiel hab' ich, Herr Peter Sqvenz, Schreiber und Schulmeister zu Rumpeiskirchen selber gemacht. / Sollte man nicht denken, Herr Wieland und seine Nachfolger hätten die Metra vom Herrn Peter Sqvenz gelernt?« (S. 334). Nullam, Vare...\ Horaz, Liederl, 18 (Nicht, Varus, sollst vor der heiligen Rebe du pflanzen einen anderen Baum). Sabisch: aus Südarabien. Virginisch: aus dem Südosten der Vereinigten Staaten, vgl. auch »Virginiaknaster«, Voß, Luise 2, 183 und 196, Sauer 1885/87-1895, Bd. 1, S. 32. Stygisch: aus der Unterwelt. Lit.: Stemplinger 1906, S. 167-170; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 199-208; Kahl 2000b, S. 147.

Bd. 1, Nr. 104a: Hölty: Der Trost. Ausgerissen. Vorgelesen am 2.1.1773. Erhalten in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 21 f. (danach der Text). Der Trost 1773. W e r d e heller mein trüber Geist, Gleich dem W i n t e r g e w ö l k , w a n n sich der junge Lenz, Ein V e r k ü n d e r der Freude, naht. W e r d e heller mein Geist! Kurzer, ach! kurzer D a u r Ist das Leben, der Fiebertraum. Eine Blase, die quillt, tanzet, mit Farben prunkt, U n d dann plötzlich in Nichts zerplatzt, Leicht zerfliegende Spreu, welche der S o m m e r s t u r m Rauschend wirbelt, u n d dann verweht. W o die Palme des Ziels w i n k e t dem W a n d e r e r , Steht ein Engel, sein N a m e Tod, Ach, er führet mich bald zu den Unsterblichen, W o die M a r t e r n der Jünglingsbrust W o n n e w e r d e n u n d R u h , trocknet die Tränen mir, Die mein A u g e noch w ö l k e n , ab. Fröhlich folg* ich dir nach, Bothe des Friedens, dir, Schaue w e i n e n d die Lieben an, Die der H i m m e l mir gab, drücke die treue H a n d , Die mein A u g e bald schließen w i r d , Male, Laura, dein Bild, ach, u n d u m a r m e dich In G e d a n k e n das letztemahl, Röchle, stehe vor Gott. K o m m , du Gesegneter, W i r d er lächeln, das saget mir Dieses H i m m e l s g e f ü h l , k o m m du Gesegneter, U n d empfahe den Siegerkranz. W e r d e heller mein Geist! L a u r a bewohnet dann Eine beßere W e l t mit mir, A u e n Gottes, w o kein W i m m e r n der Liebenden Deinen Tritten entgegenweint, Menschentröster, ο Tod, A u e n w o Engel mich Bruder grüßen, u n d Schwester sie. Gott ist unser Gespräch, Jesus ist unser Lied, E w i g preisen w i r unsern Gott, U n d den blutenden Sohn, w a n d e l n an eurer H a n d , Ihr Verklärten, u n d sehen k a u m Jenen f l i m m e r n d e n Stern, w o w i r entschlummerten.

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Vierte asklepiadeische Strophe: zweimal abwechselnd Glykoneus und (der um einen Choriambus längere) Asklepiadeus minor, vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 51. - Der alte Gedanke: der Tod als Freund. Vgl. auch Bd. 1, Nr. 41 und 45. Laura·, vgl. zu Bd. 1, Nr. 3.

Bd. 1, Nr. 105 Friedrich Leopold Stolberg: Der Harz. Vorgelesen am 9.1.1773. = VB Nr. 109 (5,2 schenckt uns nützendes Eisen, das; 5,3 Unsern Acker). Auch in Für Klopstock. Am 28.4.1773 an Ebert geschickt mit der Bitte um Kritik, vgl. Schüddekopf 1886, bes. S.479. Nicht erhaltene Abschrift am 27.1.1773 an Klopstock geschickt. Andere Fassung GMA 1774, S. 175-177, nochmals bearbeitet in GW. Die letzten vier Strophen nach dem Bundesbuch bei Redlich 1875, S. 352. Erstdruck Lübbering 1957, S. 64f. (dort ohne Ortsangabe und mit dem Datum 1772; 6,1 deinen; 8,4 dir; 11,4 Hall!). Dritte asklepiadeische Strophe, wie in Klopstocks großer Naturode Der Zürchersee, vgl. Frank 2 1993, S. 338-341; vgl. auch Bd. 2, Nr. 7. Am 27. Januar 1773 schrieb Stolberg an Klopstock: »Hier schicke ich Ihnen 2 Oden, eine auf die Ruhe, die andre auf unsern Harz. Die lezte habe ich im Harz gemacht, auf der hinreise nach Stolberg, wo wir diese lezten Weyhnachten gewesen sind. Mit Furcht u: Zittern schicke ich sie.« Die Datumsangabe im Bundesbuch ist also vielleicht ungenau (denn hier spricht Stolberg von der Hinreise eines Weihnachtsbesuchs). Von den Umständen dieser Reise ist nichts Weiteres bekannt. Auch im Sommer 1773 machten beide Stolbergs von Göttingen aus eine Reise in den Harz (mit Brockenbesteigung), vgl. den Bericht beider an Klopstock, 21. Juni 1773, frühe wichtige Zeugnisse der Harzbegeisterung. Weitere Reisen folgten 1784 und 1812. Der Harz war für Stolberg der Ursprung der 800jährigen Geschichte seines eigenen Hauses, die er als natürlich gegebene und von Gott eingesetzte Ordnung verstand; Stolbergs Vater Christian Günther (vgl. Bd. 2, Nr. 2) wurde in Stolberg am Harz bis 1945 Hauptsitz des Hauses Stolberg-Stolberg - geboren, trat als Zweitgeborener aber keine Regierung an. Friedrich Leopold hatte lebhafte Verbindungen namentlich nach Wernigerode, dem Sitz der nah verwandten Grafen Stolberg-Wernigerode, kaum aber nach Stolberg selbst, vgl. Kahl 2001a, S. 9 25. Auch Hermann und Klopstock, ideale Vertreter der kriegerischen und dichterischen Überlegenheit Deutschlands, erscheinen als dem Harz verbunden. Klopstock wurde in Quedlinburg am Ostharz geboren, und auch für ihn war »Cheruscien« Heimat Hermanns und Ort der Schlacht. Dem Harz kam die erwachende Aufmerksamkeit für die Natur des Hochgebirges zu Gute, angestoßen durch Rousseau (Schweiz) und Macphersons Ossian (schottisches Hochland). - Ein besonderer Anklang an Ossian ist das Echomotiv (Str. 3 und 8), bei Ossian allerdings bezeichnet es die götterlose Welt (dem Menschen antwortet nur die unbelebte Natur). Colma singt in den Liedern von Selma vom »sounding rock« (The poems of Ossian and related works, S. 167), und das Echo kennt auch der Gesang Alpins: »Nought answered, but the son of the rock« (S. 169), vgl. auch Macphersons Anm. *. Bei Stolberg kommt das Echo in zahlreichen Gedichten vor: An Röschen (GW Bd. 1, S. 47), Kain am Ufer des Meeres (GW Bd. 1, S. 48-50), Homer (GW Bd. 1, S. 120-122), Hellebek (GW Bd. 1, S. 135145 bzw. VB Nr. 129) u.ö. Zum Echo vgl. Wolf Gerhard Schmidt 2003/04, Bd. 1, S. 95f. (»Macphersons Ossian ist mit Sicherheit das an Echos reichste Epos der Weltliteratur«), Stolberg hat das Gedicht nach Vossens Anregungen bearbeitet, vgl. Stolberg an Klopstock, 2. September 1773. Vgl. außerdem seinen Brief an den Bund vom 19. September 1773: »Ich mußte ihm [Klopstock] den Harz nach der neuen Lesart langsam vorsagen, er laß im schwarzen Buch [Für Klopstock] die alte. Da wir zu der Stelle kamen wo er sonst über Herrmann erhoben ward, sagte ich ihm ganz naiv es schiene mir nicht erlaubt, u: der Sprache dieses Stücks zuwieder zu sein, jemanden, selbst ihn, über Hermann zu setzen. Er gab mir ganz recht«, nach Lüchow 1995, S. 200f. Voß hat noch fast fünfzig Jahre später auf seinen Anteil hingewiesen: »Im Harz und im Genius sind viele Aenderungen von mir, in der Freiheit (M. Alm. 75) von Hahn und mir«, Bestätigung der Stolbergischen Umtriebe, Voß 1820b, S. 136. Zu den Varianten vgl. Sauer 1885/87-1895, Bd. 3, S. 38-40. Vgl. zu der Bearbeitung oben II/3, Die Bearbeitung von Stolbergs Gedichten. Kurz nach Stolbergs Harzgedicht entstand auch Goethes Harzbegeisterung, vgl. nur seine Harzreise im Winter 1777; kurz nach Stolberg bestieg Goethe den Brocken. Goethe besuchte den Harz 1777, 1783/84 und 1805. Die Begegnung mit dem Harz bzw. dem Brocken im Besonderen hat für Goethe eine religiöse Dimension, der Bezug zur deutschen Geschichte (Cheruskia), wie bei Klopstock und Stolberg, steht nicht im Vordergrund, vgl. Leistner 1998. Stolberg gibt hier (und nur hier) nicht nur Zeit, sondern auch Ort der Entstehung des Gedichtes an, vgl. II/3, Die Verzeitlichung des Gedichts. Wie die Natur Ort ist, Dichtung zu lesen - nach Herder entfal-

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ten die Volkslieder erst »an den Orten, da sie geschahen« (Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker, Herder 1985-2000, Bd. 2, S. 457) ihre ganze Wirkung - , so ist die Natur auch der Ort der Kunstdichtung. Namentlich der Harz wurde später gleichsam zum Gebirge der Dichter. Stolberg schickte schon in der Göttinger Zeit seine Werke vor dem Druck an Johann Arnold Ebert (1723-1795), Literaturkritiker, Übersetzer und Lehrer in Braunschweig, der in seiner Jugend zu den >Bremer Beiträgern< gehörte und über Jahrzehnte hinweg mit der Familie Stolberg befreundet war, vgl. grundlegend Mix 1994, bes. S. 134-136. Zu den Bremer Beiträgern vgl. auch 11/1, Die Gründung. Die Briefe der Stolbergs an Ebert befinden sich, größtenteils ungedruckt, in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, Stolbergiana, 616 Novi. Von den Bundesbuchgedichten erhielt Ebert außer dem vorliegenden noch Der Abendstern (Bd. 1, Nr. 107) und An meine kranke Schwester Sophia Magdalena (Bd. 2, Nr. 14), außerdem von Christian Stolberg An Bürger (Bd. 1, Nr. 116), An Clauswitz (Bd. 1, Nr. 168) und An die beyden Grafen Reventlow (Bd. 2, Nr. 14). Auch Boie war mit Ebert lebhaft verbunden, vgl. Mix 1992. Dein wohlthätiger...: Bergbau; ähnlicher Hinweis wie wenig später in Goethes Harzreise im Winter. Lit.: Wolf Gerhard Schmidt 2003/04, Bd. 2, S. 598f. und 630. Vgl. zur vaterländischen Lyrik grundlegend Blitz 2000, S. 375-398.

Bd. 1, Nr. 106 Christian Stolberg: An meine Schwester Bernstorff. = VB Nr. 110 (4,4 Süße). Vorgelesen am 9.1.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 58f. (ohne Datum; 3,2 uns nicht; 5,4 patriotische). Zweite asklepiadeische Strophe; auf drei Asclepiadei minores folgt ein Glykoneus; im Deutschen sehr selten. - Gemeint ist Henriette Gräfin Bernstorff, geb. Gräfin zu Stolberg-Stolberg (1747-1782), die älteste Tochter Christian Günther Stolbergs und Schwester der beiden Brüder, die 1762 Andreas Peter Grafen von Bernstorff (1735-1797) heiratete, den bedeutendsten dänischen Staatsmann des 18. Jahrhunderts. Bernstorff war schon seit 1758 unter seinem Oheim Johann Hartwig Ernst als Beamter im dänischen Staatsdienst. Nach dessen Sturz 1770 zog auch er sich in seine mecklenburgische Heimat (»Obotritien«) zurück; im Herbst 1772 entsprach er dem allgemeinen Wunsch nach seiner Rückkehr. In den folgenden Jahrzehnten prägte er die dänische Politik. - Nach Henriettes frühem Tod wurde ihre jüngere Schwester Auguste Bernstorffs Frau, vgl. zu ihr Kommentar zu Bd. 2, Nr. 22. Zu Bernstorff vgl. neuerdings Feldbask 1986, Opitz 2001, bes. S. 4 3 - 5 4 . Christian Stolberg gibt gelegentlich nur den Tag an, nicht das Jahr, vgl. Bd. 1, Nr. 21. - Bezeichnend sind der enge Zusammenhalt der Geschwister Stolberg (Str. 1 - 3 ) und der Gegensatz von prunkvoller, lauter Hofstadt und ländlicher Stille (Str. 4, 6). Lit.: Lübbering 1957, S. 167f.

Bd. 1, Nr. 107 Friedrich Leopold Stolberg: Der Abend Stern. = VB Nr. 111 (1,2 ü.d.Z. wie sie den; 2,2 bald aber flohen sie!). Vorgelesen am 16.1.1773. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 65f. (1,1 Ehmal; 2,1 lechzenden; 2,2 bald aber schwanden sie; 3,2 du wie ich; 4,1 blaue Gewand). Am 28.4.1773 an Ebert geschickt mit der Bitte um Kritik, vgl. Schüddekopf 1886, bes. S. 480. Erstdruck VMA 1776, S. 52f. (1,3 farbigen; 4,1 das blaue Gewand; 4,4 Einen; 5,3 Wann den Abend du bringest). Ähnlich düstere Stimmung wie in An die Träume, vgl. Bd. 1, Nr. 101 und Kommentar; dort die verzweifelte Bitte um Schlaf, hier sogar der Wunsch zu sterben. Zu Ebert vgl. zu Bd. 1, Nr. 105. Lit.: Lübbering 1957, S. 170f.

Bd. 1, Nr. 108 Voß: An den Mond. Vorgelesen am 9.1.1773. Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3049. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 76 (dort ohne Datum). Erstdruck Sauer 1885/87-1895, Bd. 1, 182f. Später bearbeitet als Besorgnis, Lyrische Gedichte 1 (Sämtliche Gedichte 3), Königsberg 1802, S. 58f. Klassische sapphische Strophe, ohne Klopstocks Wanderdaktylus und noch ohne Spondeus, vgl. Frank 2 1993, S. 265-267. Freundschaftlich liebende Sorge um den fernen Brückner in Mecklenburg, das Metrum zwanglos und echt erfüllend. Später metrisch begründete Verschlimmbesserung.

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Die »schlichte Empfindung ist so natürlich in das antike Metrum gegossen, fügt sich so ohne Rest ein, daß uns das Gebilde einfachvertraut und keineswegs fremd anmutet«, Kelletat 1949, S. 23. »Die liedhaften Töne der Frühode füllen mühelos das Metrum. Eine einfache Wortwahl unterstützt das glatte Fließen schlichter Perioden, in die sich Interjektionen und Anreden ohne Störung einfügen. An diesem anmutigen Schreiten gemessen, wirkt die Zweitfassung plump und unbeholfen«, Fischer 1960, S. 23. Die spätere Fassung lautet: Besorgnis. N e i n , umsonst liebkoset, ο M o n d , dein A n t l i z Durch der W a n d W e i n l a u b , das die A b e n d k ü h l u n g Sanft bewegt! N i c h t heitere Lust, du weckest Düstere W e h m u t ! Schon durchliefst dreimal mit gelöschter Fackel Du die Bahn, dreimal in erneutem Vollglanz; U n d mir trug kein Lüftchen von m e i n e m B r ü c k n e r Grass u n d V e r k ü n d u n g ! H a t ihn Trübsinn e t w a geschweigt, u n d Krankheit? Oder ach! (schnell hülle G e w ö l k dein A n t l i z ! ) Schimmerst du, falschlächelnder M o n d , auf seinen R a g e n d e n Grabstein? Voß macht die Anmerkung: »Der erste deutsche Versuch in der saffischen Versart. Im zweiten Takte kann der Spondeus mit einer Mittelzeit schliessen, auch zur Abwechselung einem Trochäus Raum geben«, Lyrische Gedichte 1 (Sämtliche Gedichte 3), Königsberg 1802, S. 295. - Zur grundlegenden Bedeutung Brückners für Voß vgl. Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 5 0 - 5 3 und passim, außerdem Kommentar zu VB Nr. 74. Lit.: Kelletat 1949, S. 23-25; Fischer 1960, S. 2 2 - 2 4 (jeweils auch ausführlich zur Bearbeitung).

Bd. 1, Nr. 109 Johann Martin Miller: Erinnerung. Vorgelesen am 9.1.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 34 (2,4 Denk' an ihr Lächeln ich zurük!). Bd. 1, Nr. 110 Johann Martin Miller: Lied eines alten Ritters. Vorgelesen am 9.1.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 34f. (3,2 Ringeltanz). Bd. 1, Nr. 111 Johann Martin Miller: Im Garten. Vorgelesen am 9.1.1773. Erstdruck Breitenbruch 2000, S. 60 (mit Faksimile). Breitenbruchs biografische Deutung des Gedichts auf Millers Liebe zu Wilhelmine Stock ist bei so versatzstückhafter Gedichtsprache schwerlich zu begründen. Lit.: Breitenbruch 2000, S. 60.

Bd. 1, Nr. 112 Johann Martin Miller: Ritter Richard eine Ballade. Vorgelesen am 16.1.1773. Erstdruck Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1774, 6 7 - 7 2 (ohne Datum; Kürzel LI.; 2,1-2 Und wurde bald erhört. Es sprach | Die Lieb' aus ihrem Blick; 9,4 andrer; 10,3 zweyte; 11,4 empfahn; 12,1 Die ist; 12,3 zweyte; 12,4 ihm angetraut; 13,2 im wilden; 16,4 Sobald der; 20,4 in den; 21,3 Den Blick; 23,3 Ihr Blumenkranz mit; 23,4 Sein Aug' Empfindungleer; 25,1 Fackelnschein; 25,2 Leichtung; 25,4 Dann gings zu ihrem Grab; 29,4 Zeterschrey). Chevy-Chase-Strophe, vgl. zu VB Nr. 94. - Datiert auf den 10. Januar 1773, einen Tag nach der Vorlesung von Höltys Ebentheuer (Bd. 1, Nr. 63) und offenbar dessen frühestes Wirkungszeugnis. Die Handlung hat Ähnlichkeiten mit den beiden Hölty'schen Balladen; offenbar reizte Miller aber die andere Rollenverteilung, verlassen ist nicht das Mädchen, sondern der Ritter. Die plumpere Darstellung bestä-

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Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

tigt zugleich Höltys feinsinnige Zeichnung. Es fehlt das Motiv der Reue (Ebentheuefy die Bluttat steht im Vordergrund (auch der Nebenbuhler wird ermordet), nicht der Wahnsinn (die Nonne tritt auf das Herz des schon bestatteten Geliebten, Die Nonne, Bd. 2, Nr. 1, 6.3.1773); die moralische Anordnung ist schlichter, Richard ist gut, Robert nur schön. Millers Darstellung ist geradezu, nicht, wie bei Hölty, gespiegelt und entrückt (»Der Landmann, der es sieht...«). In dieser Gattung konnte Miller nichts Eigenes leisten. Kraeger 1893, S. 95: »[l]n der Balladenpoesie [schlürfte] wieder Miller hinter Hölty her; sein Ritter Richard ist nichts als eine alberne Nachahmung von >Adelstan und Röschen·«; ebenso Kayser 1936, S. 102. - Miller selbst hat Höltys Balladen sehr gewürdigt, vgl. Einiges von und über Höltys Charakter, nach Hettche 1998b, S. 436.

Bd. 1, Nr. 113 Gottlob Dietrich Miller: An Boie. Bei einer Statue der Venus. Vorgelesen am 16.1.1773. Erstdruck hier. Bd. 1, Nr. 114 Voß: Der Minnesang. Vorgelesen am 16.1.1773. Eine neunstrophige Fassung in Brückners Nachlass, vgl. Härtung & Karl, Nr. 3049; Erstdruck der Grundschrift Metelmann 1932, S. 371-373 (dort Der Minnesang. An Miller, ohne Datum; 8,1 staubtest; 12,2 Franzosen). Die Grundschrift auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 77f. (dort Der Minnesang·, 2,2 farbigen; 6,2 Traum; 6,3 mir Töne; 10,1 Lerchengesang). Lobpreis Bodmers, der mit seinen Veröffentlichungen des Minnesangs die Minnesangnachahmungen im Göttinger Hain ermöglichte, vgl. Bodmers und Breitingers Ausgabe Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte (2 Bde. Zürich 1758/59), vgl. auch Bd. 1, Nr. 65a. Alte deutsche Handschriften als Überlieferungsträger sind auch Klopstocks Anliegen gewesen, allerdings beschäftigte er sich mit der Zeit vor dem Minnesang, v.a. mit Bardengesängen, die er zu finden hoffte, vgl. Klopstock an Denis, 8. September 1767 und 22. Juli 1768. Sinnigerweise wird nun im Bundesbuch selbst, einer Sammelhandschrift mit wechselvoller Überlieferungs- und Druckgeschichte, die Überlieferung von Handschriften dichterisch aufgegriffen. - Miller wird besonders mit dem Minnesang in Verbindung gebracht, vgl. Bd. 1, Nr. 166 und Kommentar. Zu Voß und Miller vgl. auch Bd. 1, Nr. 17-18. 1802 erschien eine freie Abwandlung, rückdatiert auf 1773, als Der deutsche Gesang. An Miller und Hölty in Voß' Lyrischen Gedichten 1 (Sämtliche Gedichte 3), Königsberg 1802, S. 4 4 - 4 9 . Voß macht dort die Angabe: »Häufige Gespräche über Mangel an ächtdeutschen Liedern, und über den eingeschränkten Modeton unserer aus Gottschedischer Verwässerung wieder aufblühenden Sprache, veranlassten einige von uns, samt unserm benachbarten Freunde Bürger, den Geist und die Sprache jener Denkmäler etwas genauer zu erforschen. Mit gleicher Absicht lasen Virgil, Milton, Klopstock und Lessing die Vorfahren, dass von ihren nicht ganz abgestorbenen Ausdrücken und Fügungen, was Leben verdiente, für die mannigfaltigen Tonarten der Poesie erweckt würde« (S. 292). Ludewigs Büchersääle\ wohl Ludwig XIV. von Frankreich, König von 1643-1715, in dessen Regierungszeit 1657 die Heidelberger Liederhandschrift an die Königliche Bibliothek in Paris gelangte (sie kam erst 1888 auf dem Tauschwege nach Heidelberg zurück), vielleicht auch sein Urenkel Ludwig XV., der 1715-1774, also zur Zeit des Gedichtes, König war. Heinriche: Kaiser Heinrich VI. (1190-1197); acht ihm zugesprochene Minnesangstrophen eröffnen die Heidelberger Liederhandschrift; zu Heinrichs Zeit war der staufische Hof ein Hauptort des Minnesangs. Donau vgl. zu Miller und der Donau auch Bd. 1, Nr. 1 und Nr. 65a. Der rosichte Knabe: Miller. Ausonisch: gemeint ist italienisch.

Bd. 1, Nr. 114a: Gottlob Dietrich Miller: Auf Babets Tod. Nicht erhalten. Vorgelesen am 16.1.1773. Babet. vgl. zu Bd. 1, Nr. 121.

Bd. 1, Nr. 115 Gottlob Dietrich Miller: (Bruchstück: Bey Babets Grabe). Erstdruck hier. Vermutlich gleichzeitig mit Bd. 1, Nr. 114a entstanden, aber nicht vorgelesen (oder vorgelesen als Unter den Gräbern am 16.1.1773). Babet: vgl. zu Bd. 1, Nr. 121.

Kommentar

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Bd. 1, Nr. 116 Christian Stolberg: An Bürger. Vorgelesen am 23.1.1773. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 59f. (ohne Datum; 5,3 unter dem richtenden; 5,4 Greise; 6.2 vom Schall; 6,4 lehrtest; 8,4 Locke). Erstdruck GMA 1774, S.209f. (ohne Datum; 2.3 hungriger Geiz; 3,3 Du, unnennbar dem Volk; 4,2 Unschuld Klage! Sie naht weinend der Furie; 4,4 Scheucht/fort!; 5,1-4 Ο des seligen Tags, da die Gerechtigkeit | Noch mit stralender Stirn weilte bey Mana's Volk, | Noch, von Eichen umschaurt, mit in dem richtenden | Kreise silberner Väter saß!; 6,3-4 Da Erfahrung, und du, Erbe Teutonias, | Tugend, lehrtest). Am 28.4.1773 an Ebert geschickt mit der Bitte um Kritik, vgl. Schüddekopf 1886, bes. S. 480. Mit An Haugwitz (Bd. 2, Nr. 21) das erste Gedicht, das Christian Stolberg veröffentlichte. Das Gedicht beklagt die Abwesenheit, den >Raub< und die >Flucht< der Gerechtigkeit, offenbar im Sinne eines germanischen Weltaltermythos, vgl. dazu auch Cramers Gedicht an Bürger Die Gerechtigkeit (Bd. 1, Nr. 171). Bei Stolberg ist Bürger einer von »wenigen Lieblingen« der Gerechtigkeit; er übe »Druden gleich« »Richter Tugenden« aus und dürfe sich als Sänger mit »heiligen Barden« vergleichen. In Cramers Gedicht ist Bürger dagegen der von der Welt Verkannte. Styx. Hauptfluss im Hades. Themis·. Titanin, frühe Erdgöttin, später Göttin der Ordnung bei menschlichen Versammlungen. Thuiskoir. vgl. zu Bd. 1, Nr. 51. Maria: eigentlich Mannus, Sohn Thuiskons. Cheruska Sohn: Bürger wurde geboren in Molmerswende in der Nähe von Halberstadt, vgl. zum Harz Bd. 1, Nr. 105. Braga: eigentl. altnordisch Bragi, ein heldenhafter Dichter, der im Besitz begeisternden Dichtermeths ist, dann Gott der Dichtung; bei Klopstock ein Gegenbild Apolls, so schon Cramer 1777, S. 35. Zu Ebert vgl. zu Bd. 1, Nr. 105.

Bd. 1, Nr. 117 Voß: Der Wunsch. Vorgelesen am 30.1.1773. Erstdruck hier. Spätere Fassung in Voß 1806, 71f. = Horaz, Lieder I, 31. Die Verse 6, 9, 12, 20 gingen wörtlich in die Ausgabe von 1806 ein (dort An Apollo; die Überschrift hier ist von Voß). Andere Handschrift früher im Brückner-Nachlass, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3049 (mit Abb. der ersten Strophe). Horazische Einfachheit und Zufriedenheit, zu der untrennbar die »Cither«, also der Gesang des Dichters, gehört. Dichter, wörtlich: Seher. Anger. Anklang an die zeitgleiche Minnesangbeschäftigung, später durch »Fruchtgefilde« ersetzt. Kaiaber. Bewohner Kalabriens. Indus: Fluss in Indien. Liris: Fluß in Latium. Kales: Weinbauort in Kampanien. Hippe: Sichel. Latous: Apoll (Letos Sohn). Lit.: Stemplinger 1906, S. 205-209; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 279-286.

Bd. 1, Nr. 118 Johann Martin Miller: An die Minne. Vorgelesen am 23.1.1773. Erstdruck hier. Bd. 1, Nr. 119 Voß: In einer Sommernacht.

Vorgelesen am 23.1.1773. Erstdruck hier.

Vierte asklepiadeische Strophe, wie Klopstocks Der Lehrling der Griechen 1747/71 in umgekehrter Reihenfolge, mit Asklepiadeus minor beginnend, vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 51. Vor Ernestine Boie gab es keine andere Frau in Voß' Leben. Zu Voß' Liebesdichtung vgl. zu Bd. 1, Nr. 17.

458 B d . 1, N r . 1 2 0 F r i e d r i c h L e o p o l d S t o l b e r g : An A u c h in Für Genius',

Klopstock,

Lübbering

B u n d e s b u c h und Protokoll -

Kommentar

die

30.1.1773.

Natur.

Vorgelesen am

1957, S. 66. Erstdruck G M A

1774, S. 227f.

(dort

ohne Datum; 2,3 dieß Staunen).

Der Adler ist im Sturm und Drang Bild für das Genie; schon Pindar hatte sich selbst als Adler dargestellt, vgl. Jochen Schmidt 1985, S. 286. Zur Vogelmetaphorik vgl. auch den Briefwechsel mit Bürger, dazu oben Ii/3, Bürgers Lenore und der Göttinger Hain. Zu Stolbergs Begeisterungspoetik vgl. oben II/3, >lnspiration< oder (kollektives) Handwerk. Die Naturkraft (»Urkraft«, »trinckt die Sonne«, »Sonnendurst«, »Feuer«, »Toben in der Brust«) überragt das, was der Kunst möglich ist, weit, sie führt zu neuen »Höhen [...], | Welche das Auge der Kunst nicht spähet«. Auf die Dichtung bezogen: Die »Seelen werdender Lieder« umschweben den Dichter gleichsam unaufgefordert, das »Gewand der Sprache« ist »nachahmend«, d.h. auch nachträglich. Der spätere Titel Genius, den Stolberg auch in seine Werkausgaben übernimmt, unterstreicht, dass Natur hier nicht nur die natürliche Umgebung meint, sondern die Eingebung gegenüber der »Kunst« (für Stolberg immer abwertend). Gleichwohl ist durchaus auch die Welt der natürlichen Erscheinungen gemeint. Vietor zu dieser Ode: Stolberg »singt Horazens bukolisches Glück nach, fühlt sich nach des Meisters Art zugleich als geweihter Sänger«; der »Enthusiasmus für die Natur, als selbständiges Motiv« trete erst hier in die Odendichtung ein, Vietor 1923, S. 128. Vgl. auch Stolbergs Die Natur {Bd. 2, Nr. 12) und sein Süße, heilige Natur... (GW Bd. 1, S. 113). Zu Stolbergs Naturbegriff vgl. Behrens 1970e, S. 5 8 - 6 0 , außerdem Kranefuss 1978, S. 146-148.

B d . 1, N r . 1 2 1 G o t t l o b D i e t r i c h M i l l e r : Bei in Für Klopstock.

einer

Rose.

Vorgelesen a m 23.1.1773. Auch

Erstdruck L ü b b e r i n g 1957, S. 51.

Sapphische Strophe mit dem von Klopstock eingeführten Wanderdaktylus, vgl. Kommentar zu VB Nr. 114. Die Gleichsetzung von Rose und Mädchen ist ein geläufiges Motiv; Millers Vorbild oder Anreger dürfte Klopstocks Die todte Clarissa 1751 sein. Babet Koseform zu Barbara und Elisabeth. Geliebte des französischen Dichters Edme Boursault (1638-1701), bekannt geworden durch den vielgelesenen Briefwechsel Liebesbriefe der Babet. Lit.: Lübbering 1957, S. 163f. B d . 1, N r . 1 2 2 B o i e : Die Mittagssonne. S . 3 7 f . ( d o r t Morgen

und

Mittag;

Vorgelesen a m 6.2.1773. Erstdruck G M A

1775,

o h n e D a t u m u n d o h n e Zitat, im Register der H i n w e i s

» N a c h d e m E n g l i s c h e n « ; Kürzel X.; 1,5 zitternd; 2,1 deinen). Vgl. die Vorlage in John Aikins Essays on song-writing

[...] London [1772], S. 279f.:

W h e n first u p o n y o u r t e n d e r cheek I s a w the m o r n of b e a u t y b r e a k W i t h m i l d a n d chearing beam, I b o w ' d b e f o r e y o u r infant shrine, The earliest sighs y o u h a d w e r e mine, A n d y o u m y d a r l i n g theme. I s a w y o u in that o p e n i n g m o r n F o r b e a u t y ' s b o u n d l e s s empire born, A n d first c o n f e s s ' d y o u r s w a y ; A n d e'er y o u r t h o u g h t s , d e v o i d of art, C o u l d learn the v a l u e of a heart, I gave m y heart a w a y . I w a t c h ' d the d a w n of e v e r y grace, A n d g a z ' d u p o n that angel face, W h i l e y e t ' t w a s safe to gaze; A n d f o n d l y blest each rising charm, N o r t h o u g h t such innocence c o u l d h a r m The peace of f u t u r e d a y s .

Kommentar

459 But n o w despotic o'er the plains The a w f u l noon of b e a u t y reigns, A n d kneeling c r o w d s adore; These charms arise too fiercely bright, Danger and death attend the sight, A n d I must hope no more. Thus to the rising God of day Their early v o w s the Persians p a y , A n d bless the spreading fire; W h o s e g l o w i n g chariot m o u n t i n g soon Pours on their heads the burning noon, T h e y sicken, and expire.

Bd. 1, Nr. 123 Johann Martin Miller: Minnelied Erstdruck Lübbering 1957, S. 35.

im Frühling.

Auch in Für

Klopstock.

»Schreibtischpoesie«, Lübbering 1957, S. 161. Vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 8. Vielleicht ist dieses oder das folgende Gedicht von Miller in der Bundessitzung selbst geschrieben worden, vgl. den Eintrag im Protokoll zum 30. Januar 1773: »Miller machte ein Minnelied in der Gesellschaft.«

Bd. 1, Nr. 124 Johann Martin Miller: An meine Frau. Erstdruck offenbar hier. Vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 123.

Bd. 1, Nr. 125 Johann Martin Miller: Minnelied.

Vielleicht vorgelesen am 30.1.1773.

Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 35 (dort Minnelache\ 3,3 stille). Versehentlicher Zweiteintrag unter Bd. 1, Nr. 132, dort mit dem Datum 2. Februar 1773.

Bd. 1, Nr. 126 Johann Martin Miller: Bey Nacht. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck offenbar hier. Der Mond kann die Geliebte sehen und wird darum beneidet, ein beliebtes anakreontisches Motiv, vgl. z.B. Goethes An den Mond 1768.

Bd. 1, Nr. 127 Hölty: Minneglück. Vorgelesen am 6.2.1773. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S.23f. (3,1 wenn). Erstdruck Michael 1914/18, Bd. 1, S. 114f. Spätere Fassung in GMA 1776, S. 56f. (dort Erinnerung, Kürzel P.). Verkürzte und veränderte Fassung später in Des Knaben Wunderhorn, Heidelberg 1808, Bd. 2, S. 191, unter dem Titel Das schöne Kind, mit dem irreführenden Hinweis »mündlich«. Die Seitenangabe neben dem Titel bezieht sich auf Voß' Hölty-Ausgabe von 1783; sie wurde offenbar viel später in Eutin eingetragen und ist ein weiterer Beleg dafür, dass Voß das Bundesbuch bei der Vorbereitung der Hölty-Ausgabe nutzte. Die spätere Fassung gehört zu jenen Gedichten, die Hölty aus Geldnot dem Göttinger Musenalmanach - und nicht dem Vossischen - gab; vgl. Voß an Hölty, 14. November 1775, nach Hettche 1998a, S. 414, und Höltys Entschuldigung gegenüber Voß, 4. Dezember 1775. - Die Wunderhorn-Fassung wurde vermutlich von Clemens Brentano geschaffen. Sie lautet: Das schöne Kind. (Mündlich.) W i e w a r ich doch so wonnereich, D e m Kaiser u n d dem König gleich In meinen jungen Jahren, Als J u l i a das schöne Kind, Schön w i e die lieben Engel sind, U n d ich b e y s a m m e n waren.

460

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar Die M u t t e r nannt mich Bräutigam, W i r w u r d e n gar nicht roth vor Scham, W i r mochten so gern spielen, D o c h J u l i a das schöne Kind, Das gieng schon fort i m kalten W i n d , U n d mochte es nicht fühlen. N u n bin ich gar nicht wonnereich, D e m alten M a n n e bin ich gleich, U n d bin doch j u n g von Jahren, Ich bin ein König ohne Land, Denn J u l i a an deiner H a n d Da tanzen Engeischaaren.

Eine Bemerkung Brentanos gegenüber Arnim - »es ist das schönste Lied im Wunderhorn, nach meiner Empfindung, denn so war mirs als ich Sophien in Jena liebte« (Februar 1808) - ist offenbar auf dieses Gedicht zu beziehen, vgl. insgesamt Brentano, Werke Bd. 9.2, S. 305-307, und Bode 1909, S. 539. seldenreiclr. nach mhd. ssldenrTche: voll heil, glückselig. Julie·, vgl. zu Bd. 1, Nr. 3. Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 263.

Bd. 1, Nr. 128 Hölty: Minnelied. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 143f. Von Voß bearbeitete Fassung in Gedichte 1783, S. 152 (dort Blumenlied). Zeile 1,3 ist radiert und neugeschrieben. Angeregt von Walthers »So die bluomen üz deme grase dringent« (so schon Halm). Vgl. Walther »Ez ist wol halb ein himelriche« und »wirläzen alle bluomen stän | und kapfen an daz werde wip«, nach Cormeau 1996, S. 94f. »Das Lied bezeugt auf nahezu groteske Weise die naive Verkennung der hochartifiziellen Kunstform des höfischen Minnesangs. Von daher bleibt dessen Aneignung durch den Göttinger Hain oberflächlich und verständnislos, auch wenn sich immer wieder konkrete Anspielungen auf mittelalterliche Lieder- und Spruchdichter [...] erkennen lassen«, Hans-Georg Kemper 2002, S. 177f. Dasselbe Lied hat Gleim in seinen An die Schönen und Das schöne Weib aufgenommen, Gleim 1779, S. 48f. Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 263. Lit.: Mühlenpfordt 1899, S. 47-49; Hans-Georg Kemper 2002, S. 177f.

Bd. 1, Nr. 129 Hölty: Der Anger. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck VMA 1781, S. 157f. (dort ohne Datum; Kürzel Y.; 2,1 Oft werd' ich; 3,6 Beim Namen meiner Schönen; 4,5 Des Mais). Bd. 1, Nr. 130 Hölty: Maylied. Vorgelesen 6.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 145f. Spätere Fassung in VMA 1781, S. 198 (Kürzel Y.). Zeile 2,3 ist radiert und neugeschrieben. Anklänge an Dietmar von Eists »Ahy nu kumt uns dü zit«, so schon Berger 1966, S. 312, nach Bodmer/Breitinger 1758/59, Bd. 1, S. 39. - Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 264.

Bd. 1, Nr. 131 Johann Martin Miller: Die Schwalbe. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck offenbar hier. Bd. 1, Nr. 132 Johann Martin Miller: Minnelachen. = Bd. 1, Nr. 125. Versehentlicher Zweiteintrag. Bd. 1, Nr. 133 Johann Martin Miller: Die Nachtigall. Vorgelesen am 6.2.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 36 (3,4 den Brautgesang). lieben Leute: alte schwache Beugung, um 1800 noch gebräuchlich, vgl. z.B. Schillers An die Freunde (»Lieben Freunde...«).

Kommentar

461

Bd. 1, Nr. 134 Johann Martin Miller: Bey einer Schlittenfahrt. Vorgelesen am 6.2.1773. Eine eigenhändige Fassung am 20.2.1773 an Brückner geschickt, vgl. Metelmann 1932, S. 378, und Härtung & Karl 50, Nr. 3034. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 46f. (1,2 Windesschnell; 5,1 dieser). Erstdruck GMA 1774, S. 74f. (dort ohne Datum, Kürzel L. M.) Bd. 1, Nr. 135 Johann Martin Miller: Abschied von der Heide. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck offenbar hier. Bd. 1, Nr. 136 Voß: An Delius. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck hier. Spätere Fassung in Genius der Zeit 18 (1799,3), S. 145f., und, wiederum abweichend, in Voß 1806, S. 9 6 - 9 8 (dort An Deilius) = Horaz, Lieder II, 3. Von der Grundschrift abweichende, ähnliche Fassung früher im Brückner-Nachlass, Härtung & Karl 50, Nr. 3049 (mit Abb.). (Abb. 4) Klassische horazische Aufforderung zu Gelassenheit, Maß und Lebensgenuss angesichts des Todes, der unausweichlich ist, gleich wie das Leben gewesen sei. - Nirgendwo sonst hat Voß das Bundesbuch so sehr zu einer Arbeitshandschrift (»Brouillon«) gemacht wie hier. Mit der Handschrift in Brückners Nachlass sind allein vier handschriftliche Fassungen überliefert, zwei weitere wurden gedruckt. Die drei Fassungen des Bundesbuches stehen nicht säuberlich neben einander wie die Fassungen der Voß'schen Bearbeitung von Höltys Die Nachtigall (Bd. 1, Nr. 165); sie stehen vielmehr palimpsestartig über- und ineinander, lassen sich aber durch die verschiedenen Tinten recht genau von einander trennen. Die Überarbeitungen machen die Übersetzungen genauer, z.B. das sehr missverständliche »Raub des Todes« zu »denn sterben mußt du«, vgl. lat. »moriture Delli« (später wieder zurückgenommen), aber vielfach auch ungelenker, vgl. z.B. »Deinen geschonten Falerner spendest!« zu »Mit dem verwahrteren Krug Falerners« oder »gastlichen Schatten« zu »Bewirtungsschatten«. Die Bearbeitungen beruhen offenbar auf Voß' fortschreitenden altphilologischen und metrischen Kenntnissen und gehören nicht in die Zeit des Göttinger Hains; sie sind bereits Voß' Selbstrezeption. Wie viel Zeit zwischen den Fassungen liegt, ist aber unbekannt. das Glück verfolgt... \ günstiget. Glück im Sinne von Geschick; also: in bösen wie in guten Tagen. Falerner. eine Weinsorte, wächst im Norden des Volturnus in Mittelitalien. spinnende Schwestern: die Parzen. Inachus: sagenhafter Urkönig von Argos. Allen rauscht eigentlich »geschüttelt«; alter Losbrauch, durch das Schütteln einer Urne springt das Los heraus. Lit.: Stemplinger 1906, S. 228-232; Syndikus 1972/73, Bd. 1, S. 359-364.

Bd. 1, Nr. 137 Boie: Der Mond. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck hier. Vgl. die Vorlage in John Aikins Essays on song-writing [...] London [1772], S. 259: Should some perverse malignant star ( A s envious stars w i l l sometimes shine) T h r o w m e f r o m m y Florella far, Let not m y lovely fair repine If in her absence I should gaze W i t h pleasure on another's face. The w e a r i e d pilgrim, w h e n the sun H a s ended his diurnal race, W i t h pleasure sees the friendly m o o n B y b o r r o w ' d light, s u p p l y his place: N o t that he flights the God of day, But loves ev'n his reflected ray.

462

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Bd. 1, Nr. 138 Johann Martin Miller: An Frid. Leop. Graf zu Stolberg. Vorgelesen am 13.2.1773. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S . 4 0 (2,5 Wann). Erstdruck Miller, Gedichte 1783, S. 226f. (2,4 Froher; 4,5 Wenn). Im vierten Band seiner Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. In Briefen (4 Bde. Leipzig 1778/79) würdigt Miller beide Stolbergs schwärmerisch und preist Friedrich Leopold als großen Dichter: »Ich halt ihn für eins der wahrsten Dichtergenies, das zum Segen und zur Wonne Deutschlands noch die herrlichsten Früchte tragen wird« (Bd. 4, S. 131t., vgl. außerdem bes. 126-132, 134t., 144t., 149 u.ö.). Den Abschied von den Brüdern Stolberg beschreibt Miller im Brief an Brückner am 7. Oktober 1773, Kahl 2001a, S. 112-117. Millers Vorhaben, nach dem Studium eine Hofmeisterstelle in Kopenhagen anzunehmen und in der Nähe der Grafen zu sein, kam nicht zustande, vgl. zu VB Nr. 104. Der Briefwechsel beider Dichter brach 1778 ab. A m 19. August 1791 besuchte Stolberg Miller auf seiner Reise nach Italien, vgl. Miller an Voß, Juni 1792, nach Voß-Briefe 1829/33, Bd. 2, S. 124. Vgl. zum Verhältnis beider Breitenbruch 2000, S. 4 2 - 4 4 . Millers Briefe an Stolberg in Bobe 1917, Bd. 8, S. 84-116. Zur vorweggenommenen Einsamkeit des Dichters an der Donau vgl. auch Bd. 1, Nr. 166. Daphnis, Daphne: beliebtes anakreontisches Namenspaar, von Klopstock ersetzt durch Selma und Selmar, vgl. VB Nr. 114. Schreibe den...: Miller macht in seiner Ausgabe 1783 die Anmerkung: »In ein Buch, dergleichen jeder von uns in Göttingen besaß, und in welches jeder seine Gedichte eigenhändig einschrieb« (S. 227, vgl. oben II/2).

Bd. 1, Nr. 139 Boie: Das Mädchen von Dreyzehn. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck hier. Eine vierstrophige, spätere Fassung in VMA 1790, S. 174 (Kürzel B.). Vorbild ist der vierstrophige Song for a girl, in Love Triumphant or Nature will prevail (1694, hier nach der Ausgabe London 1735, S. 505f.), fünfter Aufzug, erster Auftritt, des englischer Dichters und Kritikers John Dryden (1631-1700).

Young I am, and yet unskill'd How to make a Lover yield: How to keep, or how to gain; When to love, and when to feign. Take me, take me some of you, While I yet am young and true; Ere I can my Soul disguise, Heave my Breasts, and roll my Eyes. Stay not till I learn the way, How to lye, and to betray: He that has me first, is blest, For I may deceive the rest. Cou'd I find a blooming Youth; Full of Love, and full of Truth, Brisk, and of a janty Mein, I shou'd long to be Fifteen. »Es würde nicht dem Wesen der Anakreontik entsprechen, wollte man von diesen Gedichten Rückschlüsse auf Boies eigene Liebesmoral ziehen, vielmehr ist der frivole Ton durch seine Vermittlung der französischen, höfisch beeinflußten Dichtung zu erklären«, Bäsken 1937, S. 175. Lit.: Bäsken 1937, S. 175f.

Bd. 1, Nr. 140 Johann Martin Miller: An Christian Graf zu Stolberg. Vorgelesen am 13.2.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 40f. (2,1 sich mit dir hin; 5,2 VaterländerVäter; 6,3 Herzensdank).

Kommentar

463

Vgl. zu Millers Verhältnis zu beiden Stolbergs Bd. 1, Nr. 138 und Kommentar. Vgl. zum Motiv der goldenen, deutschen Zeit Bd. 1, Nr. 166. Wie in Millers An Frid. Leop. Graf zu Stolberg wird auf einen Grundbaustein des Bundes angespielt: dort die Eintragung ins Bundesbuch, hier die Vorlesung in der Versammlung.

Bd. 1, Nr. 141 Boie: Nicht für Einen. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck GMA 1774, S. 81 f. (dort ohne Untertitel und ohne Datum, Kürzel X., im Register der Hinweis »Essays on Songwriting, p. 154«; 1,1 Jung und hold und; 2,3 Lächelte, ward; 3,4 Theons). Vgl. die Vorlage in John Aikins Essays on song-writing

[...] London [1772], S. 154f.:

Fair, and soft, and gay, and young, All charm! she play'd, she danc'd, she sung, There was no way to 'scape the dart, No care could guard the lover's heart. Ah! why, cry'd I, and dropt a tear, (Adoring, yet despairing e'er To have her to myself alone) Was so much sweetness made for one? But growing bolder, in her ear I in soft numbers told my care: She heard, and rais'd me from her feet, And seem'd to glow with equal heat. Like heaven's, too mighty to express, My joys could but be known by guess! Ah! fool, said I, what have I done, To wish her made for more than one? But long I had not been in view, Before her eyes their beams withdrew; E'er I had reckon'd half her charms She sunk into another's arms. But she that once could faithless be, Will favour him no more than me: He too will find himself undone, And that she was not made for one. Lit.: Basken 1937, S. 175f.

Bd. 1, Nr. 142 Johann Martin Miller: An meinen 13.2.1773. Erstdruck Breitenbruch 2000, S. 86.

Ludwig,

in Ulm. Vorgelesen

am

Ludwig: Johannes Ludwig (1750-1801), Jugendfreund Millers, Theologe und Schriftsteller (Jugendgeschichte zweier Liebenden zur Beherzigung junger Leute besonders studirender Jünglinge, Kempten 1786), vgl. Albrecht Weyermann: Nachrichten von Gelehrten, Künstlern und andern merkwürdigen Personen aus Ulm. Ulm 1798, S. 382f. Die Umstände, auf die das Gedicht möglicherweise anspielt, sind unbekannt. Lit.: Breitenbruch 2000, S. 86f., 183.

Bd. 1, Nr. 143 Gottlob Dietrich Miller: Die Treue der Alten. Vorgelesen am 13.2.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 51 (dort ohne Datum; die Namen lauten Muz und Maz; 3 so wäre; 5 letzten). Epigrammatischer Kurzdialog. Was der Sinn ist, weiß ich nicht zu sagen. Vgl. auch Boies Kunz Hinz, VMA 1783, S. 217, und Weinhold 1868, S. 324. Schein: eine Urkunde? Spiel mit der Doppelbedeutung von Schein?

und

464

Bundesbuch und Protokoll - Kommentar

Bd. 1, Nr. 144 Johann Martin Miller: An die Minne. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck hier. Bd. 1, Nr. 145 Hölty: Minnelied. Vorgelesen am 6.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 146f. (3,4 irrtümlich: fliegt). Von Voß bearbeitete und gekürzte Fassung in den Gedichten von 1804, S. 175f. Von Franz Schubert 1816 vertont, von Mendelssohn-Bartholdy 1825-28, von Johannes Brahms 1877; noch unter Fischer-Dieskaus Texten deutscher Lieder (erstmals 1968). Weitere Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 265. Wasen: Rasen.

Bd. 1, Nr. 146 Hölty: Winterlied. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 147f. (2,1 irrtümlich: Vogelsang). Von Voß noch weiter veränderte Fassung in VMA 1778, S. 8f. (mit Vertonung von Johann Friedrich Reichardt). Weitere Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 262t.

Bd. 1, Nr. 147 Hölty: Frauenlob. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 148f. In den Gedichten 1804 von Voß umgearbeitete Fassung. Frauenlot. nach mhd. frouwenlop, zugleich Name Heinrichs von Meißen, spätmittelalterlicher Spruchdichter (um 1250-1318), der später als Begründer des Meistersanges galt. Vgl. auch Stolbergs gleichnamiges Gedicht, Bd. 2, Nr. 18. Lit.: Mühlenpfordt 1899, S. 51t.

Bd. 1, Nr. 148 Hölty: Frühlingslied. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 150f. (durch Variantenangabe), dann Michael 1909b, S. 109. Spätere Fassung VMA 1779, S.7f. Zur Textgeschichte vgl. Michael 1909b, S. 108-112, 1914/1918, Bd. 2, S. 75-77, und Hettche 1998b, S. 511 f. Das Frühlingslied gehört zu jenen Gedichten, die Hölty aus Geldnot dem Göttinger Musenalmanach und nicht dem Vossischen - gab; vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 127. - Nachleben als »Volksweise« in Schullesebüchern. Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 263. Sint mhd. seit.

Bd. 1, Nr. 149 Hölty: Minnelied. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 151 f. In den Gedichten 1804 von Voß umgearbeitete Fassung. Von Franz Schubert 1816 vertont; noch unter Fischer-Dieskaus Texten deutscher 1968; dort Seligkeit). Wandel·. Gebrechen, Makel. Lit.: Mainka 2000, S. 11t.

Lieder

(erstmals

Bd. 1, Nr. 150 Hölty: (Bruchstück: Die Gräber). Vorgelesen am 13.2.1773 als Auferstehung. Erstdruck Crueger 1889, S. 286. Titel nach dem Register. Offenbar hat das Gedicht ursprünglich 42 Zeilen umfasst, vgl. Michael 1909b, S. 132f.

Bd. 1, Nr. 151 Boie: Chloens Abwesenheit. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck hier. Abweichende Fassung in VMA 1782, S. 187 (dort Eilsens Abwesenheit, ohne Datum, Kürzel P.). Vgl. Matthew Prior: Poems upon several occasions. Bd. 1 (= The British Poets Μ) Edinburgh 1773, S. 89:

Kommentar

465 A Song. If w i n e and music have the p o w ' r , To ease the sickness of the soul; Let Phoebus e v ' r y string explore; A n d Bacchus fill the sprightly b o w l . Let them their f r i e n d l y aid e m p l o y , To make m y C l o e ' s absence light; A n d seek for pleasure, to destroy The sorrows of this live-long night. But she t o - m o r r o w w i l l return: Venus, be thou t o - m o r r o w great: T h y m y r t l e s strow, t h e y odours burn; A n d meet thy fav'rite n y m p h in state. Kind goddess, to no other p o w ' r s Let us t o - m o r r o w ' s blessings own: T h y darling loves shall guide the hours; A n d all the day be thine alone.

Prior. Matthew Prior (1664-1721), englischer Dichter, Wegbereiter des englischen Rokoko, upon several occasions, erstmals 1718.

Poems

Bd. 1, Nr. 152 Voß: Druckfehler. Erstdruck Kayserlich-privilegirte Hamburgische Zeitung 160, 6.10.1773 (ohne Autorangabe), dann GMA 1774, S. 68 (Kürzel X.).

Neue

Vossens An Wehrs (Bd. 1, Nr. 104) erschien später als An Rolf (VB Nr. 96); vielleicht richtet sich der Zweizeiler auch an Wehrs; vgl. zu ihm Kahl 2000b, bes. S. 146-148. Von Voß später durch die Einreihung in andere entsprechende Epigramme auf Wieland bezogen, vgl. Schräder 1984, S. 357t., Bd. 1, Nr. 74 und VB Nr. 74 mit ausführlichem Kommentar.

Bd. 1, Nr. 153 Voß: Horazens dritte Ode des dritten Buchs. Vorgelesen am 13.2.1773. Erstdruck hier. Spätere Fassung in NBM 1 (1799,1), S. 32-36, dann, wiederum abweichend, Voß 1806, S. 150-155 (dort Auf den vergötterten Augustus, den Bezwinger des Antonius, der ein oströmisches Reich zu stiften vorhatte) = Horaz, Lieder III, 3. Die Verse 68 und 72 gingen (fast) wörtlich in die Ausgabe von 1806 ein. Andere Handschrift früher im Brückner-Nachlass, Härtung & Karl 50, Nr. 3049. Die ersten beiden Strophen preisen die Haltung des »Biedermannes« - ein Lieblingswort des Übersetzers, hier aber eigentlich der Gerechte, d.i. der stoische Weise; vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 1 - im Allgemeinen; danach werden Beispiele aus der Dichtung gebracht: Herkules und Pollux, Bacchus, Romulus; sie alle wurden vergöttlicht. Der größte Teil der Ode (Str. 5-17) gibt eine Rede Heras wieder: ihren Segen für Romulus, den Gründer Roms, und die Römer - nun geht es um die Haltung des ganzen Volkes - , sofern man nur die verfluchte Troja, unmoralisches Gegenbild Roms, nicht wieder aufbaue. Auster. Südwind. Alcid. Herkules; der unsterblich gewordene Held war unter den Sternen zu sehen. Pollux: vgl. zu Bd. 1, Nr. 95. hingesenkt zu Tische liegend. Bronius: Bacchus. Quirin: Romulus. Mavors: Mars. Richter. Paris. fremdem Weibe·. Helena. sint. vgl. zu Bd. 1, Nr. 148. Laomedon: König von Troja, verweigerte den Göttern den Lohn für eine Stadtmauer um Troja. Buhlerinn: wörtlich Ehebrecherin. Enkel·. Romulus, Aeneas Enkel. Weil ungemeßner... / Weil noch...·, wörtlich: solange.

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Heymathstrieb...·, wörtlich: nicht allzu fromm noch mit zu viel Vertrauen. rügen·. wörtlich nur: berichten. Lit.: Stemplinger 1906, S. 301-311; Syndikus 1972/73, Bd. 2, S. 3 4 - 4 9 .

Bd. 1, Nr. 154 Voß: An Cramer. Vorgelesen am 6.2.1773. Eigenhändige Fassung in Brückners Nachlass, vgl. Härtung & Karl 50, Nr. 3049. Erstdruck Nützliche Beyträge zu den Neuen Strelitzischen Anzeigen, 22. Stück, 2.6.1773, S. 171-174 (dort An Damon, ohne das Zitat und ohne Verfasserangabe, mit dem Hinweis »Folgendes Stück ist von einem in Göttingen studirenden Mecklenburger verfertigt«; 3,4 saust; 4,3 Wasserblase; 5,1 das; 5,3 Auch Meßing; 5,4 oft den Glanz; 6,2 kaust; 7,1 Und dann; 7,4 Vor dem sich Pindar selbst verbirgt; 8,2 Aschgesicht; 10,2 Zum Raub; 10,3 ο Damon!; 10,4 dienet; 11,1 Zieh; 11,3 Rothenhaus und Kaisers; 11,4 von Darm und Stahl und; 12,2 Schnell schwindet dem; 14,3 seinem Schwellen; 14,4 Und neig; 15,2 Stentor, Bav und Stax; 15,3 Dann führ; 15,4 nicht zu stracks; 16,1 Mägdlein). Umarbeitung und Erweiterung auf 19 Strophen im Wandsbecker Bothen 8.3.1774, Nr. 38 (dort Schwergereimte Ode an einen schwerreimenden Dichter, ohne Namen), dann, nochmals geändert und zu 21 Strophen erweitert in GMA 1775, S. 87-92 (dort Schwergereimte Ode. An Reimbold). Voß nimmt offenbar Bezug auf Cramers Die Begeisterung (Bd. 1, Nr. 172), vgl. die klangvollen Reime dort (»alte Reimsucht«). Vgl. Vossens Brief an Brückner, 24. Februar 1773: »Cramer ist auf sein Anhalten in den Bund aufgenommen. Er hat ein Gedicht an Bürger gemacht, das ich für sein bestes halte. Weil er sich Mühe gegeben, viele außerordentliche Reime darin zu gebrauchen, so verfiel ich auf die Grille, ein Gedicht an ihn in lauter bisher ungebrauchten Reimen zu machen. Boie gefiel es, und half Reime mit suchen. Daraus ist das Gedicht von [gemeint: an] Cramer (die schwergereimte Ode) entstanden, der, wie er sagt, sich mehr darüber freut, als wenn Klopstock eins an ihn gemacht. Aber im Ernst, ungewöhnliche Reime thun bisweilen eine herrliche Wirkung, so wie die Sonne und Wonne bisweilen alles verderben. Ich glaube sogar, daß man einige von meinen versuchten Arten in ganz ernsthaften Stücken mit Vortheil gebrauchen könnte. Die ewigen Reime, die sich auf ein stumpfes Ε enden, verursachen Überdruß. Und wie wenige haben wir auf ich und ung.« Vgl. auch Lyrische Gedichte 4 (Sämtliche Gedichte 6), Königsberg 1802, S. 357-359. Hier zeigt sich das »Handwerkliche« des Dichtens; es ist möglich, dass ein anderer hilft »Reime mit suchen«. Vgl. Boie an Gotter, 15. April 1778: »Das Reimzwangsgedicht an Cramer ist ein boutrime, gemacht um Cramer zu erinnern, dass schwere und neue Reime noch keine Poesie sind«, nach Krähe 1907, S. 56. Die Senkung nach der betonten Reimsilbe ist gleichsam >beschwert< (»Satan« - »Rath an«), der Reim erweitert (ähnlich einem reichen Reim, bei dem sich die letzten beiden betonten Silben reimen); manchmal reimt ein Einzelwort mit zwei anderen (gespaltener Reim) - »Harzwald«, »schwarz wallt« - eine Fülle von Klangspielereien, komisch-gesuchte (und daher verblüffende) Reime (»grillst dich« - »schwülstig«; »Lolli« - »Moll lieh«). Die Form dieser »schwergereimten Ode« (Ode heißt hier nur Lied) gibt es bei Voß gelegentlich, etwa seine Schwergereimte Ode an einen Dukaten Scheisser, offenbar gerade aus der gleichen Zeit, vgl. dazu Joost 1997, oder sein An mich selbst (»Was stehst du, Spötter, da und pausbackst...?«), vgl. dazu Kahl 2001b. Der Begriff »schwergereimt« ist nur für Voß belegt, vgl. Joost 1997, S. 233 (Voß sagt auch einmal »schwere Ode«, so an Ernestine Boie, 3. August 1774, SHL Kiel Cb 4.10:20); die Form gibt es auch bei Lichtenberg (Schreiben an einen Freund 1769) und später namentlich bei Wilhelm Busch. In Stolbergs Schauspiel Apollo's Hain 1786 singt der Faunenchor schwergereimt die Sage von Dädalus und Ikarus, vermutlich auch in vossischer Tradition (GW Bd. 5, S. 105-107). Im Brief an Brückner überlegt Voß, bezeichnend für seine polemische Teilnahme am Literaturbetrieb, für den Druck im Musenalmanach eine Spitze gegen Reinhard einzufügen: »Hast du gelesen was er von der Meßiade sagt? Es ist der erbärmlichste unter allen Ausrufern. [...] Aber wer will sich um jedes Gebell bekümmern. Ich hätt's in meiner Gewalt, Reinharden in meiner schwergereimten Ode einen Hieb zu geben, der nicht ganz ohne Wirkung seyn würde«, 11. Juli 1774, SHL Kiel, Cb 4.55:7; gemeint ist Adolf Friedrich Reinhard (1726-1783), polemischer Literaturkritiker aus Mecklenburg. Neben dem vorliegenden gibt es von den Bundesbrüdern nur ein weiteres Widmungsgedicht an Cramer, Millers An C. F. Cramer, Professor in Kiel 1775, Gedichte 1783, S. 381f. Non ego...·. Horaz, Lieder IV, 9, 3 0 - 3 4 : »Nicht werd ich dich auf meinen | Blättern ungepriesen verschweigen, | nicht will ich zulassen, dass an deinen vielen Mühen || ungestraft, Lollius, nage neidisches | Vergessen« (Bernhard Kytzler). Seim: zähe Flüssigkeit.

Kommentar

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Harzwald: zum Harz vgl. zu Bd. 1, Nr. 105, vgl. auch Bd. 1, Nr. 172, Str. 11. Blocksberg: volkstümlich für den Brocken, Versammlungsplatz der Hexen in der Walpurgisnacht, vgl. Hölty an Stolberg, 23. Mai 1774. Styx. vgl. zu Bd. 1, Nr. 116. Der Ruhm, wonach...: vgl. Voß an Brückner, November 1773: »Cramer, der kommt nicht in das grosse Quartbuch! Das ist lauter Feuer von nassem Stroh, mit vielem Blasen angefacht, und dann Rauch und - Gestank«, nach Herbst 1872/76, Bd. 1, S. 94. Leßing: Die einzige Erwähnung Lessings im Bundesbuch; zu Voß und Lessing vgl. Kuhlmann 1914. Päan: Paian, hier Chorlied mit Kehrreim. Pindar, zu Voß und Pindar vgl. Lübbering 1957, S. 7 9 - 8 3 , 176-179. Flausrock. im Erstdruck die Anmerkung: »Ein sogenannter Gasch heißt in Göttingen Flausrock«; später heißt es in Lyrische Gedichte 4 (Sämtliche Gedichte 6), Königsberg 1802, S. 359: »Der Flausrock, ein Überrock von zottigem Tuche war damals die tägliche Tracht«; Gasch (mecklenburgisch) ist ein flanellartiger Stoff; vgl. auch Steinberger 1923, S. 138. Rothenhanns, Leyser. im Erstdruck die Anmerkung »Die Entrepreneurs des Concerts in Göttingen«. Bux: im Erstdruck die Anmerkung »Buchsbaum«. Lolli: italienischer Geigenspieler und Komponist (gest. 1794), im Erstdruck die Anmerkung »Ein Virtuose«. Forkel: Johann Nikolaus (1749-1818), seit 1778 Universitätsmusikdirektor in Göttingen. Benda: Franz (1709-1786) und sein Bruder Georg Anton (1722-1795), Konzertmeister in Berlin und Hofkapellmeister in Gotha. Kreß: nicht ermittelt. Leß: Gottfried (1736-1797), Theologieprofessor und damals auch erster Universitätsprediger. Tatern, Kaimucken: mongolische Stämme. Hundsfott vgl. Voß' eigene Erläuterung in Lyrische Gedichte 4 (Sämtliche Gedichte 6), Königsberg 1802, S. 358f.: »Mir scheint die unsaubere, nur den Gelehrten bekannte Erklärung des verachtenden Wortes Hundsfott [...] nicht den ursprünglichen Sinn, sondern den später hineingewizelten, zu treffen. Man hunzte durch die Schimpfwörter Hund, Lumpenhund (Canaille), Hundejunge, Hundskopf bei Luther, und Hundspfot mit langem o, welches in Hundsfot (kurz), oder vielmehr in Hunsfot, sich abnuzte. Eben so braucht man Hase und Hasenfuss in gleicher Bedeutung. Der Holländer sagt noch, op een hondsvot (aus hondsvoet) byten, nichts zu beissen noch zu brechen haben; und der Sasse, Hungerpoten sugen, schwerlich wie ein Bär, sondern eigentlich Hunjepoten, von der alten, noch unter den Leibeigenen gangbaren Aussprache Hunjd, Hunje (sprich wie legno im Italienischen), für Hund, Hunde, wie Büngel, für Bündel«. laß: nach mhd. laz, matt, träge. Lit.: Krähe 1907, S. 55f. Zu Voß und Cramer vgl. von Stosch 1997, S. 2 6 - 3 1 . Zur derb-obszönen Dichtung - die sich im Bundesbuch natürlich nicht findet; nur hier gibt es Anklänge - vgl. Joost 1997/2001 und Prauss 2001 in Katalog 2001b, S. 36f. und 133f. Vgl. außerdem allgemein: Kühn 1987.

Bd. 1, Nr. 155 Johann Martin Miller: An Hölty. Vorgelesen am 20.2.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 41 (2,3 Und die des frohen Jünglings tollkühn spotten; 6,2 Die einsten; 7,1 Und Beyfalls; 7,3 AfterRichter). Die Vorwegnahme der Trennung des Bundes - einher damit geht ein Verfall der Dichtung und ein Ansehensverlust des Dichters - ist ein Leitmotiv einiger Lieder Millers, vgl. nur Bd. 1, Nr. 166. A m 28. Mai 1775 tröstet Hölty Miller: »Ich will dir eben den Freundschaftsdienst erweisen [nämlich Briefe zu schreiben], wenn du Einsiedler in Schwaben bist, und nach den Briefen deiner Freunde schmachtest.« - Der Bund wird als Anreger von Dichtung gepriesen (»vorgelokt durch euren Ruf«). Vgl. auch Bd. 1, Nr. 156, und Millers Auf den Tod meines seeligen Freundes Hölty (November 1776), Miller, Gedichte 1783, S. 396-402, und Millers Einiges von und über Höltys Charakter 1776, zuletzt in Hettche 1998b, S. 4 2 9 438. Neun Briefe Höltys an Miller sind erhalten (Hettche 1998b), die Gegenbriefe sind verschollen.

Bd. 1, Nr. 156 Hölty: An Johann Martin Miller. Vorgelesen am 20.2.1773. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S.22f. (4 Wermuthskelch; 15 Mädchens; 20f. der Lust, welche die Freundschaft aus | Vollen Schaalen auf uns ergoß). Erstdruck Halm 1869, S. 9 1 - 9 4 (im Kommentar). Spätere Fassung GMA 1775, S. 119-121 (dort An ΜΐΙΙβή.

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Der »Wechselgesang« ist typisch für die Freundschaftsdichtung im Göttinger Hain: Einer besingt den anderen und der antwortet (hier gleich am nächsten Tag) dadurch angeregt wieder mit einem Gedicht, manchmal Strophenform und sogar einen Reim aufnehmend (vgl. Bd. 1, Nr. 17 und 18), oder, wie hier, in einer je gemäßen Form (den schnittigen Kreuzreim kann Hölty hier nicht übernehmen). - Zur Todeserwartung bei Hölty vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 4. Leine: Höltys Geburtstort Mariensee liegt wie Göttingen an der Leine. Lauren: vgl. zu Bd. 1, Nr. 3. gehren\ begehren, nach mhd. gern. Lit.: Basken 1937, S. 62.

Bd. 1, Nr. 157 Johann Martin Miller: FrauenWahl. Vorgelesen am 20.2.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck offenbar Lübbering 1957, S. 36 (3,1 Seit). Sint. vgl. zu Bd. 1, Nr. 148.

Bd. 1, Nr. 158 Johann Martin Miller: Zum Tanz. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck GMA 1774, S. 42f. (dort ohne Datum, Kürzel R.; 2,4 wonniglicher). Eine offenbar von Ramler bearbeitete Fassung in der Lyrischen Bluhmenlese, Leipzig 1778, Bd. 2, S. 53f. (dort Einladung ins Grüne). Lit.: Breitenbruch 2000, S. 63f.

Bd. 1, Nr. 159 Hölty: Minnehuldigung. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 152f. Erstdruck der von Voß hier geänderten Fassung VMA 1777, S. 166 (dort Die frühe Liebe, ohne Datum, Kürzel Y.; 2,3 Wenn). Zum Rückbezug auf die Kindheit (Vogelnester, Steckenpferd) vgl. Bd. 1, Nr. 67 und Bd. 2, Nr. 7. A m 14. Mai 1776 mit zahlreichen anderen an Voß geschickt, vgl. auch Michael 1909b, S. 157-159. Kalmäusern: hier etwa: trübsinnig-gelehrtes Stubenhocken. Donat Donatus Aelius, römischer Grammatiker, um 350 n. Chr.; mit »Donat« meinte man auch die ganze lateinische Elementargrammatik.

Bd. 1, Nr. 160 Hölty: An den Mond. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck VMA 1779, S. 91 (ohne Datum; 1,6 frohem; 2,1 jezt; 3,1 Bald, lieber; 3,2 Ach bald; 3,6 Des Jünglings Asche birgt!). Von Hoffmann von Fallersleben noch 1869 zu den volkstümlichen Liedern gezählt, Hoffmann von Fallersleben 1869, Nr. 140. Vertonungen bei Friedländer 1902, Bd. 2, S. 262.

Bd. 1, Nr. 161 Hölty: Minnelied. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck der Grundschrift Halm 1869, S. 155. Erstdruck mit Vossens Änderungen VMA 1781, S. 113f. (dort Lied, ohne Datum, Kürzel Y., 4,4 von). Bd. 1, Nr. 162 Hölty: Maylied. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck GMA 1776, S. 24f. (dort Frühlingslied, ohne Datum, Kürzel P., 1,4 Auf; 1,5 Vögelschall; 4,3 dieß Leben). Das Maylied gehört zu jenen Gedichten, die Hölty aus Geldnot dem Göttinger Musenalmanach - und nicht dem Vossischen - gab; vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 127. - Str. 1, 3 und 4 leicht abgewandelt als Frühlingslied und ohne Verfasserangabe in Campes Kleiner Kinderbibliothek V, Hamburg 1780, S.5f. Eine andere dreistrophige Fassung auch 1782 in Wolkes Zweihundert und zehn Lidern (S. 55). Von Hoffmann von Fallersleben noch 1869/1900 zu den volkstümlichen Liedern gezählt, Hoffmann von Fallersleben 1869/1900, Nr. 176 und Nr. 222. Vertont von Schubert, Mendelssohn, Tschaikowsky u.a., vgl. Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 264.

Kommentar

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Bd. 1, Nr. 163 Hölty: Maylied. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck Michael 1914/18, Bd. 1, S. 131 und Bd. 2, S. 80f. (durch Variantenangabe). In der ersten Strophe abweichende Fassung GMA 1776, S. 28 (dort Frühlingslied, ohne Datum, Kürzel P.). Die Fassung des Erstdrucks schon 1782 in Wolkes Zweihundert und zehn Lidern (S. 91 f., dort Der Wonnemond). Von Hoffmann von Fallersleben noch 1869 und 1900 zu den volkstümlichen Liedern gezählt, Hoffmann von Fallersleben 1869/1900, Nr. 207 und Nr. 260a. Vertonungen bei Friedlaender 1902, Bd. 2, S. 264f.

Bd. 1, Nr. 164 Hölty: Vaterlandslied. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck Halm 1869, S. 158f. Verwandtschaft mit Walthers »lr suit sprechen willekomen«, besonders der fünften Strophe: »Tiusche man sint wol gezogen, | rehte als engel sint diu wip getan. | swer si schiltet, derst gar betrogen: | ich enkan sin anders niht verstän. | Tugent und reine minne, | swer die suochen wil, | der sol komen in unser lant, da ist wunne vil. | lange müeze ich leben dar inne!«, nach Cormeau 1996, S. 118. Vgl. auch Gleims Bearbeitung, Gedichte nach Walter von der Vogelweide 1779, Nr. 6: Der deutsche Mann (S. 20-22). Lit.: Mühlenpfordt 1899, S. 4 9 - 5 1 .

Bd. 1, Nr. 165 Hölty: Die Nachtigall. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck der Grundschrift Michael 1914/18, Bd. 1, S. 133. Erstdruck der Korrekturfassung Gedichte 1783, S. 184 (dort Seufzer). (Abb. 5) Michael macht die Anmerkung: »V. 10 [...] hatte Hölty geschrieben: frohen. Voß fügte den letzten Strich zum m hinzu«, Michael 1914/18, Bd. 2, S. 81. Ob dies zutrifft, scheint mir anhand der Handschrift unklar. Es handelt sich freilich um den »Staub bibliografischer Quisquilien«, vgl. oben, Einleitung. Vgl. zu Voß' Bearbeitung der Hölty'schen Grundschrift, offenbar im Hinblick auf die Ausgabe von 1783, oben II 1/1, Vom Umgang mit der »Verbesserungsästhetik".

Bd. 1, Nr. 166 Johann Martin Miller: An meinen Boie. Vorgelesen am 20.2.1773. Auch in Für Klopstock. Erstdruck Lübbering 1957, S. 42f. (dort An Boie\ 1,2 mein Geschick einst bringt; 1,4 Laute; 4,1 edlen; 5,3 ihres Weibes; 5,4 Dem; 6,3 Weiber / entehrt, entfernten; 6,4 Ringeltanz; 7,3-4 Leichenhügel ausgespreitet, | Und ihn mit Thränen angefüllt; 8,3 Und Sänger keinen AfterRichter; 12,1 FreudenThräne). Millers Verbindung zu Boie entstand, wie er selbst mitteilt, durch sein Klagelied eines Bauren, vgl. Millers Bemerkung in Gedichte 1783, S. 469, das dann im Göttinger Musenalmanach 1773 erschien. Boie schätze Miller besonders als Liederdichter; Miller hatte Boie gegenüber auch Vorbehalte, vgl. Miller an Stolberg, 24. Mai 1774, Bobe 1917, Bd. 8, hier S. 107f., und Breitenbruch 2000, S.37f. Ein Brief Millers an Boie ist bekannt, 11. Januar 1777, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive Bd. 3, 1904/05, S. 291-294. - 1775 bis zu seinem Tode 1814 lebte Miller als Kandidat, Pfarrer und später Münsterprediger wieder in seiner Geburtsstadt Ulm an der Donau, vgl. Breitenbruch 2000, Kap. 3 - 5 . Millers Befürchtung, Schwaben könne sich ihm als Dichter nicht günstig erweisen, hat sich nicht bestätigt, Miller war wenig später in ganz Süddeutschland ein gefeierter Dichter. Die Zeit Walthers von der Vogelweide wird zur goldenen Zeit des Dichters stilisiert (neben Bd. 1, Nr. 76 und Nr. 114 ist dies die einzige ausdrückliche Nennung Walthers im Bundesbuch); sie ist kurzzeitig wieder erschienen »An meiner BundesBrüder Hand« und - da für das Gedicht die Göttinger Zeit abgeschlossen ist - wieder entschwunden; zur goldenen Zeit vgl. auch Millers An Christian Graf zu Stolberg, Bd. 1, Nr. 140; auch Voß' Elegie am Abend nach der zwölften Septembernacht, 1773, bringt Freundschaftsbund und »goldenes Alter« in Verbindung, Kelletat 1967, S. 267-272. Gegensatz ist bei Miller die vorweggenommene Einsamkeit des Dichters am Donauufer (zum Donaumotiv bei Miller vgl. auch Bd. 1, Nr. 1 und Nr. 64), und Gegensatz ist eine Zeit, in der »Verachtung« »des Dichters Loos entehrt« (vgl. zum vorweggenommenen Ansehensverlust der Dichtung auch Bd. 1, Nr. 155). Die Schlusswendung geht wieder ins Besondere und besingt die Freundschaft mit Boie. Für Gerstenberg und namentlich Klopstock, Vorbilder des Göttinger Hains, sind die Zeit Hermanns und das germanische Altertum geschichtliche Bezugsgrößen, die griechische Antike ersetzend, nicht,

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wie ausnahmsweise in diesem Gedicht, das Mittelalter. Das Mittelalter, in Klopstocks Sprachstudien vorkommend und im Sturm und Drang neu gewürdigt, wurde erst eigentlich in der Romantik als goldene Zeit betrachtet. 1788 beklagte Friedrich Schiller in seinen Göttern Griechenlandes aus der Sicht einer entzauberten Moderne den Verlust eines griechisch-vorchristlichen »Blüthenalters der Natur« und gab damit den klassischen Ausdruck für die Verbindung von goldener Zeit und Kunst, die auch hier bei Miller in ähnlichen Satzverbindungen angelegt ist. Der dichterisch vorweggenommene und dann tatsächliche Abschied der Bundesfreunde ist in Gedichten und Briefen vielfach gestaltet, vgl. Miller an Stolberg, 13. März 1774, Bobe 1917, Bd. 8, S. 92-95, und 29. Oktober 1774, hier S. 113; vgl. oben 11/1, Die Sitzungen. Zum goldenen Zeitalter, einer Gegenwart des Verfalls gegenübergestellt, vgl. auch Millers Vorrede zu Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. In Briefen, 4 Bde. Leipzig 1778/79, Bd. 1, bes. S. 10-14. Sohn des Vaterlandes: Klopstock? der angeredete Boie? Das Walthern einst...: nämlich in Wien. den ihn Natur...·, vgl. auch zu Bd. 1, Nr. 18. Wo Kaysernoch...·, vgl. zu Bd. 1, Nr. 65a. Lit.: vgl. oben III/3, Minnesang; zur »goldenen Zeit« Mühlenpfordt 1899, S. 14f. (der dieses Gedicht selbst aber noch nicht kannte).

Bd. 1, Nr. 167 Friedrich Leopold Stolberg: An Johann Martin Miller. Vorgelesen am 20.2.1773. Erstdruck Moering 2003, S. 153-155, nach einer Einzelblatthandschrift im Freien Deutschen Hochstift (Sign. 1609) unter dem 15.2.1772 (richtig: 1773; 12 edlen; 32 Trennung; 36 ihr; 40 Herzen; 61 singest). Ein Teildruck nach dieser Handschrift schon bei Behrens 1988, S. 27f. »Das Gedicht umschreibt, teilweise ironisch übertreibend, die Spannung zwischen himmelstürmendem Pathos des Sturm und Drang und idyllisch-innigem Ton, der von den Göttingern, insbesondere von Miller und Hölty, aber auch von Stolberg selbst, gepflegt wurde«, Behrens 1988, S. 27. Der Adler steht im Sturm und Drang für das (Dichter-)Genie (der Adler ist Vogel des Zeus); vgl. Stolbergs Über die Fülle des Herzens·. »Was soll ich von dir sagen, göttliche Dichtkunst? Du entströmst der Fülle des Herzens und bietest die süßen Trunkenheiten deines Nectars reinen Herzen an. Du erhebst das Herz auf Flügeln des Adlers« (GW Bd. 10, S.370f.). Neben dem Adler steht die Nachtigall für Miller als Liebesdichter und seinen Minnesang (»Minne Thäler«), Durch Gesang »besiegt« der Dichter die Zeit ein uraltes Motiv - und wird unsterblich. Deutlich ist der Bezug zu Bd. 1, Nr. 17-18, vgl. dazu Moering 2003. »Dieses Poem sollte vielleicht im Streit, zumindest im Wettstreit der Freunde [Voß und Miller] vermitteln. Dazu paßt auch seine Form; es ist gereimt, doch folgt die Länge der Zeilen dem natürlichen Sprachfluß« (S. 160). Vgl. auch Bd. 1, Nr. 138 und Kommentar. Ueber Gotthards...: Vorwegnahme des Alpenerlebnisses der Schweizerreise von 1775. Silber reine: vgl. Bd. 1, Nr. 17. Miller/Triller, vgl. Bd. 1, Nr. 17. Lit.: Behrens 1988, S. 27f.; Moering 2003 (irrtümlich ohne Hinweis auf die Parallelhandschrift im Bundesbuch).

Bd. 1, Nr. 168 Christian Stolberg: An Clauswitz. Vorgelesen am 20.2.1773. Auch in Für Klopstock, Lübbering 1957, S. 60f. (ohne Datum; 2,4 In den; 4,1 geprüfteren; 5,2 glüht/ Kastalia; 5,3 ich mir winde; 6,1 alsdann; 7,1 hinab). Erstdruck Schüddekopf 1886, S. 482f. (ohne Datum; 4,1 geprüfteren; 5,2 glüht / Kastalia; 5,3 ich mir winde; 6,1 alsdann; 7,1 hinab). Am 28.4.1773 an Ebert geschickt mit der Bitte um Kritik, vgl. Schüddekopf 1886. Dritte asklepiadeische Strophe, vgl. Kommentar zu Bd. 1, Nr. 105. Karl Christian Clauswitz (1734— 1795) war 1757-1773 Hofmeister der Grafen Stolberg und wurde mit ihnen am 19. Dezember 1772 in den Bund aufgenommen (vgl. Protokoll). 1773 ging er mit beiden Stolbergs nach Kopenhagen und trat dort in den Staatsdienst ein. Von Clauswitz selbst ist nur ein Gedicht bekannt, die Elegie Auf den Tod einer Freundin. Kopenhagen 1773, in Esmarchs Bundesbuch, Langguth 1903, S. 18 und 339-342; vgl. zu ihm S. 18 und passim. Christian Stolberg besingt Clauswitz als den, der er ist: Freund und Lehrer seiner Jugend. Vgl. auch Millers Lied An Herrn Clauswitz (mit dem Zusatz »ehemaligen Hofmeister der Grafen Stolberg, jetzt, so viel ich weiß, Sekretär bey der deutschen Kanzley in Kopenhagen«), Gedieh-

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te 1783, S. 284-286. »Dieses Dankes- und Freundschaftsgedicht stellt sich durch sein Thema U n sterblichkeit im Reiche der Musen (Str. 5 und 7) zu Cramers >Begeisterung< [= Bd. 1, Nr. 172], das Bürger zum Adressaten hat. Ein Beweis der starken Wirkung Klopstocks, die die Nachfolger fast einschmilzt und die Originalität sehr schwer macht. Schon in der >Wingolf