206 56 9MB
German Pages 313 [316] Year 1999
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 68
Sibylle Schönborn
Das Buch der Seele Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Redaktion des Bandes: Georg
Jäger
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Schönborn, Sibylle: Das Buch der Seele: Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode / Sibylle Schönborn. - Tübingen: Niemeyer, 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 68) ISBN 3-484-35068-7
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Memminger Zeitung Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Einband: Geiger, Ammerbuch
Vorbemerkung
Die folgende Untersuchung entstand zwischen 1992 und 1996 an der RWTH Aachen und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie wurde ermöglicht durch ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft und 1997 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Habilitationsschrift angenommen. Zu danken habe ich insbesondere Prof. Dr. Bernd Witte für seine langjährige Unterstützung meiner wissenschaftlichen Vorhaben, für fachliche Anregung und Kritik, Prof. Dr. Georg Jäger für seine Förderung dieses Forschungsprojekts und seine kritische Begleitung des Entstehungsprozesses der Arbeit. Auch gilt mein Dank Dr. Ulrike Bardt und Christoph Brauer für ihre Diskussionsbereitschaft und praktische Kritik sowie Mechthild Niehaus, die die technische Einrichtung der Arbeit unermüdlich in vielen Arbeitsstunden geleistet hat. Zuletzt sei an dieser Stelle meinen Eltern für vielfältige Unterstützung, Walter für unbeirrbares Zutrauen, Henk und Signe für kreative Ablenkung gedankt. Düsseldorf, im Januar 1998
Sibylle Schönborn
V
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
X
I.
Einleitung
1
II.
Zum Forschungsstand
27
III.
Das Tagebuch als Chronik pietistischer Erlösungs- und Bekehrungsgeschichten
32
IV.
V.
1. Pietismus und Tagebuch 2. »Fustapfen Gottes«: Philipp Matthäus Hahns Tagebücher 1772-1777 3. Das »Buch des Gewissens« 4. Religiöse Biographie-Modelle
32 37 42 46
Gebetstexte - Vom Dialog mit Gott zum Dialog mit der eigenen Seele
53
1. »Im Namen des Herrn«: Albrecht von Hallers Tagebücher 17361747 und 1772-1777 1.1 Todesfälle 1.2 Bittgebete 2. Der heilige Seelentext: Christian Fürchtegott Gellerts Tagebuch aus dem Jahre 1761 2.1 Körper, Herz und Seele: Die Philosophie des Herzens . . . . 2.2 Seelen[er]forschungen 2.3 Beten und Lesen: Seelentext und Heilige Schrift 2.4 Körperinschriften: Die Seele und der Körper 2.5 Krankheit der Seele
64 66 69 73 77 83
Der Heilige Text - Vom Text Gottes zum Menschentext: Die Tagebücher Johann Caspar Lavaters
86
1. Medientechnik
86
53 55 60
VII
VI.
2. Literarisches Urmuster - Der Roman des Gewissens: Johann Caspar Lavaters »Geheimes Tagebuch« aus dem Jahre 1769 . . . 2.1 Lehrbeispiele christlichen Lebens 2.2 Selbsterfahrung im Tod des anderen 2.3 Texterweckung
92 96 98 105
3. Die Konkurrenz der Texte - Gottes-, Menschen- und Naturtext: »Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst« 1773 3.1 Exemplarische Familienszenen
109 119
Leben im Text - Der Dialog mit dem stummen Partner
127
1. Der Spiegel des anderen - Vater und Sohn: Lavaters »Noli me nolle« 1786-1789 1.1 Der neue Gott 1.2 Freundschaftsideal: V a t e r - S o h n 1.3 Textmagie: »Ein einziger Sohn« 1.4 Das einsame Individuum
127 129 134 138 146
2. Immerwährendes Andenken - Der Dialog mit dem toten Partner: Albertine Pfrangers »Tagebuch einer traurenden Wittwe« 1803 . . 2.1 Die heilige Familie: Selbstentwürfe zwischen Mutter und Ehefrau
VII. Grenzerfahrungen - Lebensreisen ins Unbekannte 1. »Et in arcadia ego«: Sophie La Roches Schweizreisen 1787 und 1793 1.1 Gedächtnis und Erinnerung 1.2 Bedeutungswandel des Todes 1.3 Der Tod in der Kunst 1.4 Trauerarbeit 1.5 Französische Revolution 1.6 »La cérémonie des adieux«: »Schattenrisse abgeschiedener Stunden in Offenbach, WeimarundSchönebeckimJahre 1799« 2. Textinitiation: Johann Wolfgang Goethes »Tagebuch der Italienischen Reise« 1786 2.1 Textvereinigung: Der Liebesdiskurs im Tagebuchdialog . . . 2.2 Kindheitsutopie: Rehabilitation der Sinne oder die Kunst des Sehens 2.3 »Nordische Krankheit« VIII
151 158
167
167 169 178 180 184 187 191
195 201 207 215
VIII. Der psychologische Diskurs - Dialog mit dem zweiten Ich
IX.
222
1. Leben als Erinnern: Elisa von der Reckes Tagebücher der Jahre 1789,1790 und 1791-1795 1.1 Autoerotische »Seelenergießungen« 1.2 »Heiliges Erinnern« 1.3 Die Entdeckung des Anderen im eigenen Ich 1.4 »Heitere Resignation«
222 227 228 235 239
Die andere Geschichte - Archive des Ich
244
1. Chronik des Alltags: Johann Anton von Leisewitz' Tagebücher 1779-1781 1.1 »Leben von Tag zu Tag« 1.2 Lange-Weile: Der Gott der Zeit 1.3 Körpergedächtnis - Traumgedächtnis
244 249 253 257
2. Von radikaler Individualität zur Intimität: Johann Wolfgang Goethes Tagebücher 1776-1782 2.1 Texterleben: Das Mondjahr 1777 2.2 1778: Das dreißigste Jahr - Exemplarischer Lebensentwurf eines Individuums 2.3 »Roman« einer Bildungsgeschichte
262 265 268 271
3. Das ausgegrenzte Individuelle: Georg Christoph Lichtenbergs Tagebücher 1789-1799 3.1 Das verdrängte Private
276 278
X.
Zusammenfassung
284
XI.
Literaturverzeichnis
291
XII. Register
300
IX
Abbildungsverzeichnis
Abb.
1: [Johann Caspar Lavater:] Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1771. S. 264. Im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf.
Abb. 2: Geheimes Tagebuch (wie Abb. 1). Titelkupfer. Wiedergabe in Originalgröße. Abb. 3:
Geheimes Tagebuch (wie Abb. 1). S. 115.
Abb. 4:
Geheimes Tagebuch (wie Abb. 1). S. 46.
Abb. 5:
Geheimes Tagebuch (wie Abb. 1). S. 220.
Abb. 6:
[Johann Caspar Lavater:] Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst. Leipzig. 1773. Titelkupfer. Im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf. Wiedergabe in Originalgröße.
Abb. 7:
Unveränderte Fragmente (wie Abb. 6). S. 169.
Abb. 8: Unveränderte Fragmente (wie Abb. 6). S. 79. Abb. 9: Unveränderte Fragmente (wie Abb. 6). S. 344. Abb. 10:
X
[Albertine Pfranger:] Auszüge aus dem Tagebuch einer traurenden Wittwe. Leipzig 1803. Titelkupfer. Im Besitz der Universitätsbibliothek Bochum. Wiedergabe in Originalgröße.
I. Einleitung Man hält die Feder hin wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben, sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen. Max Frisch: Tagebuch 1946-49. S.21f.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekommt das Schreiben und Lesen von Tagebüchern Konjunktur. Alle, die des Schreibens und Lesens mächtig sind, zählen ohne Ansehen des sozialen Status, des Bildungsgrads und des Geschlechts zum Kreis der potentiellen Tagebuchschreiber. So unterschiedlich und vielstimmig die einzelnen Schreibmotive zunächst klingen, werden alle Schreiber doch von einem Wunsch angetrieben: Sich selbst durch den Text eine Existenz zu verleihen. Die vorstehenden Seiten hatte ich zufällig an meinem Geburtstage geschrieben, an dem Tage, wo ich vor einem Vierteljahrhundert das Licht d. Welt erblickte. Es ist weder Pedanterie noch Eitelkeit, wenn ich mit jenem Tage [...] den Vorsatz fasste [...], mein [...] Leben in Worte zu rahmen; um es dadurch [...] in sich klarer und der Entwicklung fähiger zu machen.1 Mit diesem Eintrag beginnt Rudolf Baier sein Tagebuch und Franz Xaver von Baader bekennt über seine Tagebuchführung: Der große Gedanke; mein ganzes inneres Leben in meinem Tagebuche dermaleinst aufgezeichnet zu sehen, füllte ganz meinen Geist und gab mir ein gewisses Gefühl der Superiorität über den großen Haufen, der mir vorüberlärmte.2 Im Jahr 1833 kommentiert Magdalena von Dobeneck ihre Tagebuchführung: Ich muß mich selbst schrecken um aufzuwachen. Seit langem ist die Feder stumpf und die Tinte eingetrocknet. Welche Überwindung, wieder einmal mit Namen zu nennen, das was heimlich in uns redet! Viel lieber schließt sich der Geist in sich selber zu leeren Träumereien ab und die Gedankenflur gleicht dann einem Stoppelfeld, über das der Wind zeitlicher Umstände und Verhältnisse bequem streifen kann, da und dort Spreu aufsammelnd und mit sich führend. [...] Welch' ein Schutthaufen ist das arme Herz! - 3 Von dem Bedürfnis, das eigene Leben zu ordnen und zu steuern, die eigene Entwicklungsgeschichte zu dokumentieren und verfügbar zu halten, bis zur Bewälti-
1
Rudolf Baier: Mein Tagebuch. Handschrift im Besitz der Universitätsbibliothek Greifswald. Sign. 8°Ms 438. [S. 1] Franz Xaver von Baader: Tagebücher aus den Jahren 1786-1793. Hg. von Emil August von Schaden. Sämtliche Werke. Bd. 11. Neudruck der Ausgabe Leipzig 1850. Aalen. 1963. S.7. 3 Briefe und Tagebuchblätter aus Frankreich, Irland und Italien, mit einem kleinen Anhang von Compositionen und Gedichten von Magdalena, Freifrau von Dobeneck, geb. Feuerbach. Nürnberg, Verlag der Joh. Phil. Raw'schen Buchhandlung 1843. S. 119f.
2
1
gung von Dissoziationserfahrungen des eigenen Bewußtseins reichen die Erwartungen der einzelnen Schreiber zwischen 1760 und 1833 an den Tagebuchtext. Trotz unterschiedlichster Schreibintention binden alle Autoren ihre Individualitätsentwürfe an den Text. Der Text bildet dazu die Voraussetzung, wie Goody und Watt gezeigt haben, da nur in der schriftlichen Fixierung Dauer, Kontinuität, Wandel, der Prozeß von Ichentwicklung realisiert und konserviert werden kann: Zur persönlichen Bewußtwerdung dieser Individuierung haben natürlich auch noch andere Faktoren beigetragen, doch war die Schrift als solche (insbesondere in ihren einfacheren, kursiveren Formen) von großer Bedeutung. Denn dadurch, daß die Schrift Worte vergegenständlicht und sie und ihre Bedeutung längerer und gründlicherer Prüfung zugänglich macht als gesprochene Worte, fördert sie privates oder individuelles Denken. Das Tagebuch (oder die Konfession) ermöglicht es dem Individuum, seine eigene Erfahrung zu vergegenständlichen, und gibt ihm eine gewisse Kontrolle über die Umbildungen des Gedächtnisses unter den Einflüssen späterer Ereignisse. Und wenn das Tagebuch später veröffentlicht wird, können die Unterschiede, die zwischen den Erzählungen von Zeitgenossen zur Zeit der Veröffentlichung des Buches und dem Lebensbericht, der dem Assimilationsprozeß der mündlichen Überlieferung nicht unterworfen war, von einem größeren Publikum konkret erfahren werden. 4 Der mündliche Diskurs bleibt demgegenüber partiell, punktuell, fragmentarisch und fällt dem Vergessen anheim. 5 Er ist auf das flüchtige und unzuverlässige Gedächtnis angewiesen, wie auch Giesecke 6 betont. Kontinuität sichert er vorwiegend durch Wiederholung, weniger durch Entwicklung. Der Text entlastet das individuelle wie kollektive Gedächtnis, 7 er wird zu seinem Surrogat. Erst wer schreibt, kann sich selbst als differenzierte, sich entwickelnde Person konstituieren, ein Bewußtsein von der eigenen Geschichte herstellen. Walter Ong weist in seiner Studie über »Oralität und Literalität« mehrfach auf diesen Sachverhalt hin: Indem es den Wissenden vom Wissen trennte [...], ermöglichte das Schreiben in wachsendem Maße, Introspektivität zu artikulieren. Wie niemals zuvor öffnete sich die menschli-
4
Jack Goody und Ian Watt: Konsequenzen der Literalität. In: Literalität in tradionellen Gesellschaften Hg. von Jack Goody. Frankfurt 1981. S.95. 5 Vgl. dazu Walter Ongs Charakterisierung oral geprägten Denkens als eher »additiv als subordinierend, aggregativ als analytisch, redundant als nachahmend, konservativ als traditionalistisch«. In: Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987. S. 37-60. 6 Vgl. dazu Michael Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt 1992: »Zunächst konnten die gemachten Erfahrungen ja nur im Gedächtnis des einzelnen Menschen gespeichert werden. Durch die Nutzung der verschiedenen Protoschriften und schließlich der Schriftsprache, später des Drucks, des Films, der elektronischen Datenverarbeitung und anderer, wurden künstliche Speicher geschaffen, die von vornherein einen überindividuellen, sozialen Charakter besaßen und besitzen.« S.219. 7 Vgl. zu dem komplexen Zusammenhang von Gedächtnis - Oralität und Literalität Aleida Assmann, Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen 1994. S. 114-137. 2
che Psyche nicht nur der äußeren objektiven Welt, sondern auch erneut dem inneren Selbst, dem sich die Außenwelt darbietet. 8 Im Tagebuch realisieren sich exemplarisch die beiden großen Entwicklungsschübe im Europa des 18. Jahrhunderts, die Literalisierung und Individualisierung der Gesellschaft. 9 Albrecht Koschorke hat die »allgemeine Alphabétisation« im 18. Jahrhundert als entscheidenden Entwicklungsschritt hin zu einer medial geprägten Gesellschaft beschrieben, in der Schreiben und Lesen als Surrogat von Abwesenheit, der unmittelbaren körperlichen Interaktion und Kommunikation, unter Verdrängung eben jener Körperlichkeit differenzierte Affekte generiert, mit deren Hilfe sich das einsame, selbstreferentielle Individuum konstituiert. 10 Die Entwicklungsgeschichte der Gattung Tagebuch korreliert in diesem Sinne mit der Ausbildung von an Schrift gebundenen Individualitätsstrukturen. 11 Walter Ong hat das Tagebuch als eine »Spätform der Literalität« bezeichnet, da es auf der »perfekten Fiktion des Verfassers und des Adressaten« 12 beruhe. Parallel zum Tagebuch bildet sich das Fik-
8
Walter J. Ong. S. 106. Vgl. des weiteren dazu: »Wie wir sahen, sind Schreiben und Lesen einsame Tätigkeiten (obwohl anfänglich oft gemeinsam gelesen wurde). Sie versenken die Psyche in anstrengendes, verinnerlichtes, individualisiertes Denken einer Art, die oralen Menschen verschlossen bleibt. In den Privaträumen, die sie eröffnen, wird der Sinn für den >runden< Charakter geboren - mit tief innerlichen Beweggründen, geheimnisvoll motiviert, jedoch von einem schlüssigen inneren Prinzip getragen.« S. 151f. 9 Vgl. dazu Albrecht Koschorke: »Schreiben zuvor eine auf bestimmte Professionen eingeschränkte und weitgehend von Spezialisten ausgeübte Tätigkeit, wird in den Trägerschichten der aufgeklärten Kultur erstmals ein Alltagsphänomen. Über den gewachsenen technischen Bedarf an schriftlichen Informationen hinaus zeigt sich das an dem habituell werdenden Privatgebrauch von Schrift, sei es in der Form des Tagebuchs und anderer Buchführungsarten, sei es im anschwellenden Briefverkehr.« Albrecht Koschorke: Alphabétisation und Empfindsamkeit. In: Hans Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994. S.605. 10 »Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts werden zwei Tendenzen deutlich, die sich bei genauem Hinsehen wechselseitig bedingen: einerseits die endgültige Durchsetzung einer von literalen Techniken der Wissenverarbeitung und -Vermittlung beherrschten Kultur, die sich zumal in den bürgerlichen Sozialisationen widerspiegelt, und andererseits die verstärkte Entwicklung und Veralltäglichung körperenthobener Affekte, wie sie besonders die Literatur der empfindsamen Periode betreibt. Auf eine Formel verkürzt: Empfindsamkeit und bürgerliche Alphabétisation sind zwei Seiten des gleichen Prozesses.« Koschorke. S. 608. 11 Goody und Watt haben dies in ihren Untersuchungen zuerst beschrieben: »Die formale Unterscheidung, die die alphabetische Kultur zwischen der göttlichen, der natürlichen und der menschlichen Ordnung trifft; die soziale Differenzierung, zu der die Institutionen der literalen Kultur führen; die beispiellose professionelle Spezialisierung intellektueller Tätigkeiten; die ungeheuere Vielfalt der Wahlmöglichkeiten, die der Korpus der schriftlich aufgezeichneten Literatur bietet - diese vier Faktoren tragen in jedem individuellen Fall zu der höchst komplexen Totalität bei, die durch die Auswahl literaler Orientierungen und die Reihe der Primärgruppen, denen das Individuum angehört, bedingt ist.« Goody. S. 95. 12 Seine sehr grobe Charakterisierung des Tagebuchs enthält allerdings wesentliche Gedanken zum grundsätzlichen Verhältnis von Literalität und Tagebuch: »Sogar im persönlichen Tagebuch, das an mich selbst gerichtet ist, muß ich mir einen Adressaten vorstellen. Ja, das Tagebuch setzt in gewisser Weise die perfekteste Fiktion des Verfassers und des Adressaten voraus. Die Schrift ist stets auf eine Art die Nachahmung einer gesprochenen 3
tionsbewußtsein des Lesers an der Gattung des Romans aus, wie Christian Berthold nachgewiesen hat. 13 A m Aufstieg der literarischen Gattung des Tagebuchs läßt sich der Entwicklungsstand der Literalisierung und Individualisierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert ablesen, mehr noch, das Tagebuch kann als Motor dieser Entwicklung gelten. Goody und Watt haben bereits 1981 auf diesen Zusammenhang hingewiesen: Das Tagebuch stellt natürlich einen Extremfall dar; doch zeugen selbst die Dialoge Piatons von der allgemeinen Tendenz der Schrift, das Bewußtsein individueller Verhaltensunterschiede und der ihnen zugrunde liegenden Persönlichkeit zu vergrößern, während der Roman, der in der Tradition der autobiographischen und bekennenden Schriften von Autoren wie Augustinus, Pepys und Rousseau steht und das innere ebenso wie das äußere Leben der Individuen in der wirklichen Welt darstellen soll, an die Stelle der kollektiven Vorstellungen von Mythos und Epos getreten ist.14 Alle neueren Untersuchungen 15 zum Tagebuch gehen von diesem Zusammenhang zwischen der Literalisierung und Individualisierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert aus, wie ihn Wuthenow zuerst formuliert hat: So kann man das Tagebuch (Diarium, Journal) als eine literarische Grundform bezeichnen, als Muster von Literatur, insofern das Ich sich selbst zur Rolle wird und im Erkennen auch die Einsicht in seine Nichtfixierbarkeit gewinnt. Die sog. Identität ist durch das Schreiben, also literarisch, vermittelt.16 Daher läßt die Kultur des Tagebuchschreibens in ihren Anfängen noch ganz ihre Nähe und Verwandtschaft zu mündlichen Kommunikationsformen deutlich werden. Koschorke spricht in diesem Zusammenhang von der »sekundären Oralisierung des Schreibens« 17 und konstatiert, daß in der Durchsetzungsphase von Literalität es »geltendes literarisches Ziel [war], Mündlichkeit zu simulieren.« 18 Auch
Rede, und in einem Tagebuch verhalte ich mich deswegen so, als spräche ich zu mir selbst. Tatsächlich spreche ich jedoch niemals in solcher Weise zu mir selbst. Ich könnte es auch nicht, gäbe es nicht das Schreiben und das Drucken. Das persönliche Tagebuch ist eine Spätform der Literalität, die bis zum 17. Jahrhundert wohl unbekannt war [...]. Eine solche verbalisierte solipsistische Träumerei ist Produkt eines vom Drucken geprägten kulturellen Bewußtseins.« S. 103f. 13 Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993. 14 Goody. S. 95f. 15 Vgl. insbesondere Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Bern 1979. Georg Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors. Tübingen 1991. Birgit Nübel: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen 1994. 16 Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagbücher. Eigenart. Formen. Entwicklungen. Darmstadt 1990. S. 13. 17 Koschorke. S.610. 18 Ebenda. 4
Heinz Schlaffer kommt zu einem ähnlichen Befund, wenn er feststellt, daß alle großen literarischen Gattungen um 1800 noch die »Erinnerung an ihre illiterale Epoche«19 durch Simulation und Adaption von Oralität wachhalten. Das Tagebuch ist in seiner Entstehungssituation wie die verwandte Gattung, der Brief, nichts anderes als die Überführung eines Gesprächs, genauer eines konkreten Dialogs zwischen zunächst zwei vertrauten Partnern in ein anderes Medium, die Schrift. Diese frühen diarischen Dialogtexte, die eine Gesprächssituation nachahmen oder simulieren, stehen im Bewußtsein von Schreibern und Lesern noch auf der Schwelle ihrer Literalität. Deshalb funktionieren sie wie der mündliche Diskurs als konkretes, situatives Kommunikationsmedium und sind alles andere als das späte intime, an keinen Adressaten gerichtete Tagebuch. Ohne seinen konkreten Leser, wichtiger noch: konkreten Hörer, denn die frühen Tagebücher werden im vertrauten Freundeskreis vorgelesen, sind sie nicht denkbar. Darin geben sie ihre Herkunft aus dem mündlichen Dialog zu erkennen. Ihre Öffentlichkeit ist daher vom ersten Entstehungsmoment an bereits festgelegt. Birgit Nübel hat auf diesen Zusammenhang in ihrer Untersuchung über »Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800« hingewiesen: Bei einem Versuch der Funktionsbestimmung von Selbstdarstellungsformen als Kommunikationsmedien muß davon ausgegangen werden, daß noch die intimste, nicht zur Veröffentlichung bestimmte Selbstbespiegelung um 1800 im Kontext der Konstituierung einer literarischen (bürgerlichen) Öffentlichkeit steht. 20
Diese konkrete Funktionsbestimmung repräsentiert das Tagebuch auf doppelte Weise. So ist seine Textstruktur zunächst nicht nur dialogisch geprägt, sondern das Tagebuch unterliegt als Text auch einer konkreten weitgehend mündlich definierten Gebrauchsfunktion. Als Dialog mit der fernen göttlichen Instanz, dem idealen alter ego, dem abwesenden Partner oder innerhalb eines Erziehungsverhältnisses spielen Tagebücher eine bedeutende Rolle. An dieser Stelle soll nur auf den letzten Fall eingegangen werden, da die beiden ersten in der folgenden Untersuchung ausführlicher zur Sprache kommen. Individualitätsausbildung, die Konstitution einer eigenen Lebens- und Entwicklungsgeschichte, wird im 18. Jahrhundert an einen im zunehmenden Maße reflektierten Erziehungsprozeß gekoppelt. Im »pädagogischen Jahrhundert« 21 wird das Tagebuch zu einem entscheidenden Erziehungsinstrument. Nicht nur professionelle Pädagogen setzen das Tagebuch für ihre Arbeit ein, sondern auch die meisten anderen Tagebuchschreiber bis hin zu Goethe empfehlen innerhalb des Freundeskreises das Führen eines Tagebuchs zur Selbstbeobachtung und -erfahrung, zur bewußten Selbstkonstitution. So fordert z. B. der junge Predi-
19
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Heinz Schlaffer: Einleitung. In: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Von Jack Goody, Ian Watt u. Kathleen Gough. Frankfurt 1981. S. 22. Birgit Nübel. S.53. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Vergegenwärtigung beim Lesen und Schreiben. In: DVjs 45.1971. S. 80-116. Vgl.: Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt 1989. S. 181ff.
5
ger, Literat und Hofmeister aus dem Wuppertaler Pietistenkreis um Hasenkamp und Collenbusch, Thomas Wizenmann, seine Zöglinge bereits zu Beginn seiner Erziehertätigkeit zum Tagebuchführen auf 22 und formuliert in seinem eigenen Tagebuch als eines seiner vorrangigen Ziele: »Zwei Wünsche hab' ich auf dem Herzen; 1. meine Lebensgeschichte, 2. die Geschichte meiner Kinder [seiner Zöglinge] detailliert zu schreiben.«23 (Selbst)Erziehung und autobiographische Selbstreflexion gehören bei Wizenmann untrennbar zusammen. Sein Tagebuch nennt er seinen »Trost, - den sinnlichen Spiegel meiner selbst!«24 Damit wird deutlich, was in anderen Tagebüchern ähnlich zu beobachten ist: dem Text wird hier eine höhere Autorität, Evidenz und Wahrheit beigemessen als der konkreten, mündlichen Kommunikation und Interaktion. 25 Ausschließlich dem Ziel der Fremd- und Selbsterziehung ist auch das Tagebuch der Amalie von Galitzin26 verpflichtet. Die Tagebuchführung der Hemsterhuis- und Hamann-Schülerin und - wie Wizenmann - engen Freundin Jacobis verfolgt ein doppeltes Erziehungsprojekt: das eigene wie das ihrer Kinder. Der Katholikin wird das Tagebuch zur Selbstanklage und zum Beichtspiegel über ihre Unvollkommenheiten, ihre Verfehlungen und ihr Scheitern gegenüber ihren Erziehungsaufgaben, zu einer, wie sie mit eigenen Worten schreibt, »fortdauernden Beobachtung« ihrer »Leibes- und Seelenbeschaffenheit«. 27 Tagebücher spielen auf vielfältige Weise im Lebenszusammenhang der unter einem überhöhten, religiös geprägten Ichideal leidenden Hysterikerin eine wichtige Rolle. In ihrem Familien- und Freundeskreis dienen Tagebücher immer wieder zur Beglaubigung von mündlicher Kommunikation und Interaktion, zur Explikation von Gesinnungen und Intentionen und zur Herstellung, Klärung und Sicherung der Beziehungen untereinander. Selbstverständlich führen ihre Kinder ein Tagebuch, das integraler Bestandteil ihrer Erziehung ist: Ich sprach weiter, und weitläufig bis beinah 11 Uhr über die Nothwendigkeit der Übungen in der Selbstkenntniß und der Mittel, die hiezu führten [ . . . ] . - Mimi lief in der Fülle ihres Herzens in ihre Stube, holte ihr Tagebuch herbei, und gab mir eine Stelle daraus vorzulesen, die zum Beispiel dienen sollte, daß sie es auch vor einiger Zeit so gemacht, und sich so sehr wohl dabei befunden hätte. [...] Es kam darin vor, daß sie, wenn sie mit ihren Bruder bei Mikein über die Buschen sprang, immer aus Stolz ihren Rock zum Vorwand gegeben hätte, da sie sich doch bewußt war, daß er sie in diesem Falle nicht hinderte. 28
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26 27 28
6
Thomas Wizenmann: Aus dem Tagebuch, von 25sten April 1783 bis zum 6sten Januar 1784 und von den Monaten Juni und Juli 1785. Manuskript im Besitz der Universitätsbibliothek Greifswald. S.444: »Die Kinder machen Fabeln und führen seit gestern ein Tagebuch.« Wizenmann. S.475. Wizenmann. S. 479. Die Konkurrenz zwischen Sprech- und Textautorität wird in nahezu allen mediengeschichtlichen Untersuchungen diskutiert und die Ablösung der mündlichen Sprache durch den Text als autoritativer Äußerung als Zeichen für die Durchsetzung von Literalität gekennzeichnet. Amalie von Galitzin: Briefwechsel und Tagebücher. Münster 1876. Galitzin. S.29. Galitzin. S.259f.
D i e riskante Veröffentlichung der diarischen Selbstanklage führt in der darauffolg e n d e n D i s k u s s i o n zu einer n e u e n Verfehlung der jungen Schreiberin, die w i e d e r u m nur im b e k e n n e n d e n Aufschreiben gesühnt w e r d e n kann. 2 9 S o kontrolliert Galitzin nicht nur ihre Kinder durch die Lektüre ihrer Tagebücher, sondern definiert die B e z i e h u n g e n zu ihren Freunden über die wechselseitige Veröffentlichung v o n Tagebüchern. E i n e typische Szene, in der es u m die Vergewisserung über O f f e n h e i t und Vertrauen in der Freundschaft geht, hält sie an anderer Stelle fest. Von Druffel, der zu ihrem e n g e r e n Freundeskreis gehört, macht ihr an dieser Stelle d e n Vorwurf, daß er nie die ganze Offenheit in mir gefunden habe, die bis dahin ging, daß ich ihm auch das heimlichste Gute, wie ich so oft mit dem Bösen in mir gethan hätte, sehen ließ; meine Tagebücher ihm nie ganz, sondern nur stückweise anvertraut hätte, da er mir die seinigen immer ganz hingegeben habe. Ich sagte hierauf, der Unterschied wäre sehr groß; da in dem seinigen bloße Reflexionen, in den meinigen das Historische meines Innersten und aller mit mir verwickelten Menschen stünde. [...] E r sagte, von einem Tage vorigen Winters, wo ich ihn von Mitri, den ich mit Mikel auf eine kleine Fußreise geschickt hatte, sprach, und von einer selbstsüchtigen schadenfreudigen Erscheinung, Jacobi betreffend, in mir, und wo ich dann, gleich nach diesem Herzensausguß, der ihn so entzückte, abbrach, und ihn dadurch wieder in ein Dunkel stürzte. Ich erinnerte mich, diesen ganzen Vorfall in mein Tagebuch aufgeschrieben zu haben, freute mich dessen als eines sichern Heilmittels, ihn gänzlich von dieser untreuen Behandlungsweise und mißtrauischem Wesen, wo man zweideutige Eindrücke mitnimmt, und sie, indem man die böseste Seite davon glaubt, dennoch unaufgekläret läßt, abzubringen. Ich holte ihm sogleich diesen Theil; er las, weinte, küßte mir heftig die Hände, weinte wieder, bereute herzlich, sagte mit Innigkeit, nun hoffe er in Kurzem mir Alles sagen zu können, schrieb mir noch ein Blatt innigen Danks, und so schieden wir von beiden Seiten sehr gerührt und zufrieden von einander. 3 0 D e r Tagebuchtext wird bei D i f f e r e n z e n , interaktiven Mißverständnissen und Störungen der B e z i e h u n g i m m e r wieder als Autorität h e r a n g e z o g e n , u m v o n den wahren A b s i c h t e n und M o t i v e n der A k t e u r e Z e u g n i s abzulegen. A l s h ö h e r e Instanz wird d e m Textzeugen ein Wahrheitsanspruch übertragen. Galitzin schildert diese Praxis a m Beispiel einer Auseinandersetzung mit e i n e m Mitglied ihres Hauses: Ich war über den Ausfall verwundert, doch so zu allem zubereitet, daß ich kaltblütig blieb, ihm sagte, er möchte sich nur so weit beruhigen, daß er mich anhören könnte, ich wolle ihm dann bald zeigen, wer von uns im Unrecht sei; ich wäre mit keinem Gedanken bös über sein sonntägiges Verschlafen gewesen; es sei bloßer Irrthum in ihm. Da er das nicht zu glauben schien, sondern mit seinen Vorwürfen fortfuhr, las ich ihm aus meinem Tagebuch alles vor, was ihn betraf. 31 In der schwierigen B e z i e h u n g zu d e m Hauslehrer und -geistlichen Haas, 3 2 die das Tagebuch in ihrer Entwicklung nachzeichnet, spielt das Tagebuch i m m e r wieder
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Vgl. Galitzin. S.260ff. Galitzin. S.99ff. Galitzin. S.138. Vgl. dazu und zur Biographie Galitzins Mathilde Köhler: Amalie von Gallitzin. Ein Leben zwischen Skandal und Legende. Paderborn, München, Wien, Zürich 1993. S.70f.: »1783 kommt ein neuer Hofmeister, der Vikar August Clemens Haas. [...] Mit dem neuen Hof7
eine entscheidende Rolle. Um die geheimsten Gedanken dieses Mannes, den sie als Mitglied ihres Hauses gleichzeitig ihren Erziehungsanstrengungen unterwirft, zu erfahren, gerät sie sogar in Versuchung, heimlich sein Tagebuch zu lesen. Über mehrere Seiten schildert sie in ihrem Tagebuch diesen Gewissenskonflikt zwischen dem Vertrauensbruch der heimlichen Lektüre und ihrem Überwachungs- und Kontrollbedürfnis, das auf der Forderung nach restloser Transparenz der Person ihres Gesprächspartners beruht. Das Tagebuch wird hier zum Beweismittel in einem Inquisitionsprozeß gegen seinen eigenen Schreiber. Galitzin seziert in ihrem Tagebuch diese Situation der Versuchung in ihren vielfältigen, sich widerstreitenden Handlungsmotiven:33 Als die Kinder weg waren, erinnerte ich mich, H. habe mir aufgetragen, sein vergessenes Tagebuch ihm aufzubewahren. Ich dachte, nun will ich's herausnehmen und in Sicherheit bringen. Als ich die Spinde öffnete, fiel mir ein, ich wäre doch neugierig zu wissen wie er meinen Donnerstägigen Ausfall die Peinske und Heinrich betreffend aufgenommen - und ob er von meinem nachherigen Kampf, ihn betreffend, der bis Sonntag dauerte, etwas gemerkt hat, da er mir doch davon nichts geäußert hat. Als ich diese Neugierde merkte, hatte ich noch die Spindenthiire in der Hand und dachte bei mir selbst: Nein, da du diese Neugierde hast, so willst du lieber die Spinde wieder zumachen. Denn hast du bei solchen Umständen das Buch in der Hand, so könnte sie dich leichter überwältigen, als wenn du es gar nicht siehest. Je nun! und wenn ich nun auch hereinsehe, ist er nicht mein Zögling, wünsche ich nicht seine Gedanken bloß darum zu wissen, damit ich mich noch besser in ihn schikken, ihn stets glücklicher machen könne? - Wohl wahr, aber warum nicht ihn lieber darum fragen, und wer steht mir dafür, daß, wenn ich etwas liebloses, scharfrichterisches mir undankbar scheinendes in seinem Tagebuch gegen mich anträfe, es nicht auch wider meinen Willen einen für ihn und meine Liebe zu ihm nachtheiligen Eindruck hinterlassen würde? Ach, ich werde ja, indem ich das Buch anfasse, nicht gleich hineinsehen. 3 4
In der Kommunikationsgemeinschaft der Münsteraner Pietistin wird das Tagebuch zum rigiden Kontroll- und Überwachungsinstrument, zum denunzierenden Dokument seiner Schreiber, zu einer »Polizei des Herzens«, 35 wie es Manfred Schneider genannt hat. Amalie von Galitzin ist im übrigen die letzte, die in ihrem Tagebuch den normativen Dialog mit der eigenen Seele führt. An ihrem Beispiel, das die Selbstzergliederung durch von außen ins eigene Selbst applizierte Gewissensinhalte zur diskursiven Perfektion treibt, wird die letzte Konsequenz dieses Selbstdiskurses in der hysterischen Selbstzerstörung deutlich. Die Bindung an eine konkrete mündliche, textunterstützte Gebrauchssituation haben nicht nur die einzelnen Tagebuchschreiber in ihren Tagebüchern immer wieder dokumentiert, sondern auch der gleichzeitig entstehende Roman propagiert
meister Haas hat Amalie lange ihre liebe Müh. Er badet zu selten, sitzt zu gern in der Küche, um den Mädchen zuzuschauen, wenn sie das Frühstück bereiten, er liest zu wenig, er ist zu ungehobelt. Einmal empfiehlt Amalie ihren Kindern sogar, ihn wegen seiner schlechten Manieren zu schneiden.« " V g l . Galitzin. S. 128-132. 34 Galitzin. S.128f. 35 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München, Wien 1986. S. 19.
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und als gesellschaftliche Praxis des Umgangs mit dem Medium Text zu konstituieren versucht. Sophie La Roche setzt in ihrem Roman »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« an zentralen Stellen des Handlungsverlaufs die persönlichen Aufzeichnungen der Protagonisten als beweiskräftiges und zweifelsfrei glaubwürdiges Dokument ihrer Handlungsintentionen und Gesinnungen ein. Lesend erarbeiten sich hier die Agierenden ihr Verständnis der Situation: Dann sprach sie von ihrer Entführung und ihren ersten Tagen im Gebürge. - Abends gab sie mir ihre Papiere; ich las sie mit Seymourn durch. O Freund, was für eine Seele malt sich darin! [...] Schicken Sie uns Seymours Briefe an Sie gleich; sie müssen gelesen werden, und für ihn reden. 36
Lord Rieh, der am Ende unterliegende Liebende, erfährt erst durch den Text, wie die begehrte Frau und Schreiberin zu ihm steht: Ihre Papiere, die sie in der vollen Aufrichtigkeit ihres Herzens schrieb, beweisen mir, daß sie das Beste mir schenkte, so in ihrer Gewalt war; wahre Hochachtung für meinen Charakter, wahres Vertrauen, zärtliche Wünsche für mein Glück. 37
Tagebücher spielen in den Romanen vor und kurze Zeit nach 1800 immer wieder eine entscheidende Rolle. 38 Gellerts Roman »Leben der schwedischen Gräfinn von G . . « führt den Übergang von der oral konstituierten empfindsamen Freundschaftsgemeinschaft zur literalen Selbstkonstitution innerhalb der Gemeinschaft exemplarisch vor. Während zunächst die Gemeinschaftsstiftung des empfindsamen Freundeskreises noch überwiegend über die Aufführungssituation der erzählten Lebensgeschichte unter starker gestischer und affektiver Ausgestaltung der Szene durch alle Beteiligten von den Tränen der Rührung bis zur Aufnahme in den Kreis der empfindsam Tugendhaften durch die gemeinschaftliche Umarmung verläuft, weist der Roman bereits auf ihre Ablösung durch den Text hin. Es ist zunächst der Brief, der an die Stelle der Erzählung tritt und nun in dem Freundeskreis laut vorgelesen wird. Bei diesem unmerklichen Medienwechsel wird allerdings die auf mündliche Kommunikation zugeschnittene gemeinschaftliche Rezeptionssituation gewahrt. In dem oral geschulten Personenkreis der Empfindsamen kann so der Text problemlos die Stelle der Erzählung einnehmen, ohne die vertraute Wirkung der mündlichen Erzählung zu verfehlen. Solche Textzeugen werden im Roman immer dann eingesetzt, wenn den Protagonisten durch eine zu hohe Affektivität der Situation oder
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Sophie La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hg. von Barbara Becker-Cantarino. Stuttgart 1983. S.339. La Roche. S.344. In allen Romanen Goethes werden Tagebuchtexte auf unterschiedliche Weise integriert: Der »Werther« kann mit gleichem Recht als Briefroman wie Brieftagebuch gelesen werden. Den »Wahlverwandtschaften« hat Goethe Tagebuchfragmente Ottilies eingearbeitet. Im »Wilhelm Meister« spielen tagebuchähnliche autobiographische Texte eine entscheidende Rolle wie die »Bekenntnisse einer schönen Seele« und die Schriftrollen mit den Lebensgeschichten der Mitglieder in der Turmgesellschaft. In den »Wanderjahren« findet sich neben vielen eingeschobenen Briefen ein Tagebuch Lenardos.
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des Gegenstandes der Kommunikation die Worte versagen. Im Angesicht des Todes veranlaßt der Vater des Grafen die Gräfin, sein »Tagebuch« vorzulesen: Alsdann rief er mich, und bat, ich sollte ihm aus seinem Schreibetische ein gewisses Manuscript hohlen. Dieses war ein Verzeichniß seines Lebens seit vierzig Jahren. Und dieses mußte ich ihm bis zu anbrechendem Tage vorlesen. Als wir fertig waren, so that er das brünstigste Gebet zu Gott, und dankte ihm für die Güte und Liebe, welche er ihm in der Welt hatte genießen lassen, auf eine ganz entzückende Weise, und bat, daß er ihn in der künftigen Welt die Wahrheit und Tugend, der er hier unvollkommen nachgestrebt, möchte vollkommen erreichen lassen. Er ließ seinen Sohn rufen, nam uns beyde in die Arme, und fieng an zu weinen. 39
Diese szenische Einführung der tagebuchartigen autobiographischen Aufzeichnung umfaßt als Urszene Entstehung und Funktion des Tagebuchs. Der Text wird hier an die Stelle der (sterbenden) Person gesetzt, er wird zu ihrem Stellvertreter, mehr noch zu ihrem Vermächtnis und zur Konstitution von Unsterblichkeit in der Welt. Fortan steht der autobiographische Text für die Person, er ist ihr glaubwürdigstes Zeugnis, ihr eigentlicher und einziger Ausdruck, ihr Testament. Seine Entstehung verdankt er damit dem Faktum menschlicher Sterblichkeit, indem er allein mächtig ist, Unsterblichkeit in der nachfolgenden Welt zu sichern. Jan Assman hat die Entstehung der Schrift aus dem Totenkult und der Grabkunst der Ägypter anschaulich beschrieben. Die Grabinschrift als erste Form autobiographischer Selbstbeschreibung funktioniert als individuelles Vermächtnis an die Lebenden und dient damit der Wahrung von Präsenz in der diesseitigen Welt als Sicherung von Unsterblichkeit.40 Assmann spricht in diesem Zusammenhang von der »Unsterblichkeit als Rezeptionsschicksal« und macht deutlich, daß »die Analogie zwischen Grab und schriftlichem Kunstwerk enger ist als die zwischen mündlicher und schriftlicher Literatur«, denn »nur das Buch hat einen Autor, den es unsterblich macht.«41 Als solche Grabinschriften sind auch die Tagebücher des 18. Jahrhunderts zu lesen. Die Geschichte des Tagebuchs ist zugleich eine der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. In allen Tagebüchern spielt das Todesthema eine Rolle, sei es als Lebensziel eines beschwerlichen Durchgangsstadiums zur Unsterblichkeit in den religiösen Bekenntnistagebüchern, die als Selbstrechtfertigungen ihrer Schreiber gegenüber einer höheren Instanz funktionieren. Sie markieren den Anfang einer vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Tod. Im direkten Wortsinn ist Albertine
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Christian Fürchtegott Geliert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Bd. IV. Roman. Briefsteller. Hg. Bernd Witte, Werner Jung, Elke Kasper, John F. Reynolds, Sibylle Späth. Berlin, New York 1989. S. 13. Jan Assmann: Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten. In: A. u. J. Assmann, Chr. Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I. München 1983. Dort heißt es: »Schrift (und Flachbildkunst) machen das Grab zu einem Ort der Selbst-Thematisierung nicht der Gesellschaft, sondern des Individuums; sie ermöglichen die Aufzeichnung biographischer Bedeutsamkeit, die den Grabherrn vor dem Vergessenwerden bewahren soll.« S.67f. Assmann. S.67.
Pfrangers »Tagebuch einer traurenden Wittwe«42 eine Grabinschrift sowohl für den toten Gatten wie für die Schreiberin selbst, mit der sie die trennende Distanz zwischen Lebenden und Toten im Text zu überwinden versucht. Ein bleibendes Selbstzeugnis zu Lebzeiten erschafft sich Lavater mit seiner ausgeprägten Tagebuchführung, mit der er sein Überleben im Text zu sichern versucht. Die Tagebücher an seinen Sohn sind bleibendes Vermächtnis und funktionieren als Versuch, seine Präsenz in der Familiengenealogie über den eigenen Tod hinaus zu sichern. In keinen Tagebüchern wird der Zusammenhang von Schrift und Tod deutlicher als in Lavaters Tagebüchern, die als Dialoge mit dem abwesenden Partner entstehen, den Text immer wieder als Restitution der verlorenen Gemeinschaft, als Aufhebung von Trennung und damit als metaphorische Überwindung des Todes einsetzen. Seinen letzten »Auszügen aus Seinem Tagebuche, vom Jahr 1796« gibt er daher auch den Titel »Vermächtnis an meine Freunde« und ergänzt erläuternd, »weil ich es als das lezte Werk, das ich unmittelbar für meine Freunde schreibe, ansehe, und, weil ich bey Demselben den Gedanken an mein eigenes Ende mir immer klarer zu machen suchen werde.«43 Die späteren Tagebücher thematisieren den (eigenen) Tod nicht mehr explizit, allenfalls in der Form neuzeitlicher Verdrängung, als momentan aufblitzende Todesangst. Das Schweigen über den Tod ist aber nicht verwunderlich, denn längst ist er aufs engste mit dem Text verbunden und hat ihm seine Struktur aufgeprägt. Die Tagebücher des Lebens von Tag zu Tag eines Leisewitz, Lichtenberg oder Goethe entstehen als Archive individuellen Lebens, das immer und zu jeder Zeit vom Tod bedroht ist und um diese Bedrohung weiß. Durch die Einsetzung des autobiographischen Textes, sprich des Tagebuchs, als authentische Lebensäußerung seines Schreibers, wird das Individuum im autobiographischen Diskurs des 18. Jahrhunderts mit seinem Text gleichgesetzt. Der einzelne ist sein Text, sein Text wird zum vornehmsten Ausdruck seiner selbst, so daß der Mensch am Ende mit seinem Text verwechselt wird. Glaubwürdiger, echter als er selbst erscheint zuletzt sein Text. Der autobiographische Text gewinnt Autorität über den Menschen, gleich dem Heiligen Text Gottes wird er zu seiner wahren Gestalt. In Sophie La Roches Briefroman kann es daher am Ende zu einer folgenschweren Verwechslung zwischen Text und Person kommen. Der entsagende Liebhaber erfährt seine höchste Befriedigung durch den Besitz des Textes, des Tagebuchs, nicht des Körpers der Geliebten. Der Text steht hier nicht nur für die Person, ihm kommt vielmehr eine höhere Bedeutung und Wahrheit zu. Der entsagende, tugendempfindsame, gelehrte Lord Rieh erhält als Ersatz für die Person ihren Text, das Tagebuch: Aber zwei Tage nach Seymours Briefe brachte er mir mein Tagebuch und die noch dabei gelegenen letzten Briefe von Summerhall in mein Zimmer; mit einer rührenden vielbedeutenden Miene trat er zu mir, küßte die Blätter meines Tagebuchs, drückte sie an seine Brust, und bat mich um Vergebung, eine Abschrift davon genommen zu haben, welche er
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[Albertine Pfranger]: Auszüge aus dem Tagebuch einer traurenden Wittwe. Nebst einer kurzen Biographie der Verfasserin. Leipzig, bey Heinrich Gräff. 1803. Johann Kaspar Lavaters Vermächtnis an Seine Freunde. Größtenteils Auszüge aus Seinem Tagebuche, vom Jahr 1796. Zürich, bey Orell, Geßner, Füßli und Kompagnie. 1796.S.5f.
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aber mit der Urschrift in meine Gewalt gebe. >Erlauben Sie mirSie um dieses Urbild Ihrer Empfindungen zu bitten; lassen Sie meine englische Freundin, mich diese Züge Ihrer Seele besitzen, und erhören Sie meinen Bruder Seymour.< [...] Ich nahm das Original meiner Briefe und des Tagebuchs, und reichte es ihm mit der Anrede: >Nehmen Sie dieses, würdigster Mann, was Sie das Urbild meiner Seele nennen zum Unterpfand der zärtlichen und reinen Freundschaft!*44
Lord Rieh küßt stellvertretend für die Person ihren Text, nimmt statt ihrer diesen in Besitz und die Protagonistin gibt sich über den Text dem Mann ganz preis, mit dem sie sich gerade nicht (durch die Ehe) körperlich verbindet. Demjenigen, dem sie ihren Text anvertraut, offenbart sie nicht nur ihre ganze Person, sondern sie begibt sich auch in seine Gewalt. Diese Textverbindung geht weit über die liebende Verbindung der Körper in der Beziehung zu dem Bruder Lord Richs hinaus. Der Text als Urbild der Seele bleibt in der literalen Gesellschaft der würdigste und gültigste Stellvertreter der Individuen. Individualität wird zum neuen Rätsel und Geheimnis, das es zu lesen, zu entschlüsseln, gilt, wie vordem die Heilige Schrift. Die Idee von dem selbstreferentiellen Individuum ist an die Stelle der Religion getreten. Nach ihrem Muster lesen die einzelnen nun nicht mehr die Heilige Schrift, sondern den eigenen Text wie den der anderen. Jean Paul beschreibt den Protagonisten der »Flegeljahre« in diesem Sinne als einen solchen (Bibel-)Leser: »Da er stets las - was das Volk beten heißet, wie Cicero religio von relegere, oft lesen, ableitet - , so lief er dem Dorfe schon als Pfarrherrlein durch die Finger«.45 Von nun an kommunizieren die einzelnen als Texte miteinander. Text und Mensch werden miteinander identifiziert. Der Mensch ist sein Text. Nur im Text kann er sich als Individuum konstituieren und als solches für andere sichtbar werden. In der allgemein gebräuchlichen Wendung vom »Buch der Seele« manifestiert sich dieser Prozeß der Verknüpfung von Individualitätserfahrung und Literalität. Immer wieder fordern, hoffen und begehren die Tagebuchschreiber, die anderen möchten »im Buch ihrer Seele lesen« und kennen keine größere Befriedigung, als im »Buch der Seele« des anderen gelesen zu haben. Die Vorstellung von der Seele als Buch hat sich am Ende in der Entwicklung der Kultur des Tagebuchschreibens allgemein durchgesetzt. Während die frühen religiös geprägten Tagebücher noch mit unterschiedlichen körperlichen Vorstellungen von der Seele als Gefäß Gottes operieren, emanzipiert sich die Seele vom abhängigen, unselbständigen Organ zum selbstreferentiellen Projektionsraum des Menschen. Die Seele als Gedächtnis und (Selbst)Bewußtsein des Individuums, durch das es sich selbst konstituiert, findet im Zeitalter der Literalisierung kein anderes Synonym als das Buch. 1732 schreibt Albrecht von Haller im Vorwort zu seinen Reisetagebüchern der Jahre 1723-27: Mir aber ist es angenehm, meiner Jugend mich zu erinnern und nüzlich die gemachten Anmerkungen in meiner Gewalt zu haben. Da zumahl ich viele davon nirgends mehr als in
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La Roche. S.341f. Jean Paul: Flegeljahre. Eine Biographie. In: Sämtliche Werke. Abt. I. Bd. 2 Hg. von Norbert Miller. München 1959. S.613.
meinem Gedächtniß aufgezeichnet finde, auß welchem Buche die Buchstaben von selbst sich außlöschen. 4 6 M a n f r e d Schneider hat diesen P r o z e ß so z u s a m m e n g e f a ß t : Der Geist fuhr nicht mehr einem oder einer Auserwählten in den Leib, sondern diktierte von ferne. Die Distanz wurde immer größer, bis schließlich jeder, der schrieb, auch über Geist verfügte. Noch gehörte das Schriftprivileg Männern, während bereits ganze Völker alphabetisiert wurden. Das große Projekt Bildung der Goethezeit unternahm den letzten Versuch, eine Kultur, die gesamte Nation an einen Geist, [...] anzuschließen. An den Literaturgeist. 47 Selbstbeschreibungsmuster werden an Medientechnik gekoppelt. D e r Vorstellung von der Seele als B u c h e n t s p r e c h e n strukturell die m o d e r n e n neurologischen B e wußtseinstheorien eines multimedialen Zeitalters. D a s M e d i u m wird z u m nach a u ß e n gestülpten B e w u ß t s e i n ; seine Struktur z u m Abbild der eigenen Bewußtseinsfunktionen. Haller wird das B u c h z u m Abbild und zur Materialisation seines »wichtigsten Sinnesorgans«
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d e m Gedächtnis, wie uns Z e i t g e n o s s e n digitale I n f o r m a -
tionssysteme. S o entspricht d e m Z e i t a l t e r der Schrift, d e r e n U r h e b e r d e r A u t o r ist, die Vorstellung v o m a u t o n o m e n , sich selbsterschaffenden Ich, wie d e m C o m p u t e r zeitalter diejenige v o m a u t o n o m e n System Gehirn als P r o d u z e n t e n des Ich, wie es G e r h a r d R o t h als E r g e b n i s der n e u e r e n Gehirnforschung z u s a m m e n g e f a ß t hat: Die Wirklichkeit ist nicht ein Konstrukt meines Ich, denn ich bin selbst ein Konstrukt. Vielmehr geht ihre Konstruktion durch das Gehirn nach Prinzipien vor sich, die teils phylogenetisch, teils frühontogenetisch entstanden sind und ansonsten den Erfahrungen des Gehirns mit seiner Umwelt entstammen. [...] Der Abschied vom Ich als Autor meiner Handlungen und die Feststellung >Ich bin ein Konstrukt< bzw. >das Ich ist ein Konstrukt< mögen sehr befremdlich klingen. Diese Feststellung mag uns >den Boden unter unseren Füßen wegzieheninneren Geschichte< zu rechtfertigen - in der Hoffnung auf Freispruch durch ein >menschliches< (Leser-) Publikum. Die Leser als Teil der neuen figurativen Ausdifferenzie-
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Vgl. Claus O. Lappe: Lavaters Geheimschriften entziffert. In: Seminar XIII. 1977. S. 76-87. Darin kommt er zum abschließenden Urteil über den Inhalt der verschlüsselten Textstellen: »[...] überwiegend enthalten diese Stellen Personennamen, Prophezeiungen, religiöse Auseinandersetzungen, auch finanzielle und erotische Aktivitäten.« S.86. Heinrich Mohr: »Freundschaftliche Briefe« - Literatur und Privatsache? Der Streit um W. Gleims Nachlaß. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. 1973. S.49f. Ebenda.
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rung der Institution Literatur werden zu Beobachtern, zu Richtern und zu Geschworenen, zur einzigen und letzten Instanz der Beglaubigung des Erzählten. 58
An der Entwicklung diarischer Selbstreflexion läßt sich auch die Geschichte der schrittweisen Psychologisierung des Diskurses über Subjektivität im 18. Jahrhundert ablesen. Im Zentrum dieser Entwicklung steht der Seelenbegriff,59 der sich im Untersuchungszeitraum aus seiner Zugehörigkeit zum religiösen Diskurs zu einem psychologischen Beschreibungsmuster emanzipiert. Riedel faßt dies zu der Formel zusammen, »daß man nicht übertreibt, wenn man die deutsche Spätaufklärung als eine Epoche der empirischen Psychologie bezeichnet.«60 Die Auseinandersetzung um den Seelenbegriff hat im 18. Jahrhundert Konjunktur und wird von den unterschiedlichsten Disziplinen geführt, bis die Seele als gemeinsamer Sammelbegriff der verschiedenen Diskurssysteme verschwindet. Hagner hat diesbezüglich festgestellt, daß sich der eigentliche Modernisierungsprozeß der Hirnforschung um 1800 als eine Differenzierung in verschiedene Wissens- und Arbeitsgebiete [vollzog], und es ist ein markanter Umstand, daß der Anfang dieses Prozesses eigentlich keiner war, sondern ein Ende, nämlich das Ende vom Seelenorgan. 61
Neben der Theologie und praktischen Religion diskutiert den Seelenbegriff ebenso lange und nachhaltig die Philosophie, hinzutreten die Physiologie und die Medizin und zuletzt die Psychologie. Für die Theologie ist die Seele der unsterbliche Teil des Menschen, der ihn vom Tier unterscheidet, die Philosophie faßt ihn in der Tradition von Leibniz und Wolff als Bewußtsein des Menschen, als Vorstellungskraft, in der Wahrnehmung, Denken, Einbildung, Empfinden und Begehren verankert sind, die Physiologie und Medizin verortet ihren Sitz im Gehirn und koppelt sie an die Funktion der Nerven an. An der Schnittstelle dieser Diskurse über die Seele entsteht der psychologische Diskurs der Erfahrungsseelenkunde Moritz' und seiner Nachfolger, in dem sich die Seele zur Psyche wandelt. In der Tagebuchliteratur läßt sich dieser Entwicklungsprozeß nachvollziehen. Wolffs Bewußtseins- und Seelentheorie der
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Nübel. S. 33. Vgl. zum Seelenbegriff im 18. Jahrhundert die neueren Untersuchungen von: Werner Obermeit: »Das unsichtbare Ding, das Seele heißt«. Die Entdeckung der Psyche im bürgerlichen Zeitalter. Frankfurt 1980. Ludger Lütkehaus: »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt 1989. Gert Jüttemann: Wegbereiter der Historischen Psychologie. München, Weinheim 1988. Ders.: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Weinheim 1986. Ders.: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland. Weinheim 1991. George S. Rousseau: The Language of Psyche: Mind and Psyche in Enlightement Thought. Berkeley 1990. Die umfangreiche Literatur zu Moritz' Erfahrungsseelenkunde soll hier nicht eigens erwähnt werden. Wolfgang Riedel: Influxus physicus und Seelenstärke. Empirische Psychologie und moralische Erzählung in der deutschen Spätaufklärung und bei Jacob Friedrich Abel. In: Jürgen Barkhoff, Eda Sagarra (Hg.): Anthropologie und Literatur um 1800. München 1992. S.26. Michael Hagner: Aufklärung über das Menschenhirn. In: Schings (Hg.): Der ganze Mensch. S.153.
»Psychologia rationalis«62 (1734) und der »Psychologia empirica« (1738) kann dabei als leitend für die diarische Selbsterforschung wie für den Psychologisierungsprozeß begriffen werden. Nach Wolff besteht die Grundfähigkeit der Seele darin, Vorstellungen zu erzeugen. Diese Vorstellungen unterscheiden sich in äußere über die Umwelt und innere über sich selbst. Die auf Empfindungen basierenden Vorstellungen beschreibt Wolff nach einem dualistischen Prinzip als klare und dunkle, sprich bewußte und unbewußte. Klare Vorstellungen entstehen ausschließlich im willentlich gesteuerten Wachzustand, während dunkle nicht nur im Schlaf und Traum geweckt werden. Dabei nimmt Wolff an, daß die dunklen Vorstellungen der Seele überwiegen,63 sie bilden, wie Baumgarten in Wolffs Nachfolge definiert, den »Grund der Seele«, den »fundus animae«.64 Mit dieser Konzeption von dem dominanten dunklen Anteil der Seele legt Wolff den Grundstein für die Psychologisierung des Seelenbegriffs, der auch die Tagebuchschreiber folgen werden. Zunächst bleibt allerdings der Seelenbegriff eines Tagebuchschreibers wie Geliert noch ganz im religiösen Diskurs verhaftet, der die Seele als Erkenntnis- und Empfindungsorgan dem göttlichen Einfluß zu unterstellen versucht. Wo die Seele sich eigenständig zeigt, wirkt ihr dunkler Teil, der sich gegenüber Selbststeuerungsversuchen resistent erweist. Auch der Mediziner Haller, der mit einer eigenen Untersuchung zu den menschlichen Körper- und Seelenfunktionen 65 hervortrat und die Diskussion der Zeit maßgeblich mitgeprägt hat, begreift die Seele im diarischen Diskurs im Widerspruch zwischen ihrer schwer kontrollierbaren Eigendynamik von Nervenreizungen und -reaktionen und der Offenheit für den steuernden göttlichen Eingriff. Kennzeichnend für das Selbstbewußtsein dieser Tagebuchschreiber ist der Dialog mit der eigenen Seele als unabhängiges, autonomes und fremdes Organ, das ein scheinbar unkontrollierbares Eigenleben führt. Bereits hier deutet sich in den vielen Zustandsbeschreibungen der Seele als verstockte, dunkle, trübe, traurige an, daß die Seele weniger als Organ des Bewußtseins und Selbstbewußtseins denn als das des späteren Unbewußten, als der dunkle, fremde, verborgene Teil des Menschen verstanden wird. Bis zu Lichtenberg, Leisewitz und Goethe reichen jene genauen Beschreibungen und Beobachtungen des Erlebenshorizonts der eigenen Seelenempfindungen und -zustände als Diagramme neuzeitlicher psychischer Dispositionen, die sich alle aus dem traditionellen Vokabular speisen, allerdings werden sie nun zu Protokollen ei-
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Christian Wolff: Psychologia empirica. In: Jean Ecole u. a.(Hg.) Gesammelte Werle. II Abt. Bd.V. Nachdruck der Ausgabe 1738. Hildesheim 1968. Vgl. dazu: Kurt Joachim Grau: Die Entwicklung des Bewußtseinsbegriffs im XVII. und XVIII. Jahrhundert. Halle 1916. Neudruck Hildesheim, New York 1921. S.200. Vgl. dazu: Hans Adler: Fundus animae - der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVjS. 62.1988. S. 197-220. Dort resümiert Adler: »Der Zugang zum dunklen Grund der Seele führt also über dessen Phänomena, und es ist kein Zufall, daß die empirische Psychologie gerade in der Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidende Entwicklungsschritte macht.« S.208 Albrecht von Haller: Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers. Hg. von Karl Sudhoff. Leipzig 1922.
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ner empirisch orientierten Erfahrungsseelenkunde ohne den Bezug auf eine höhere einwirkende Instanz. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Lavater enge Beziehungen zu dem Magnetiseur Mesmer pflegte und seine Hochachtung dieser frühen psychologischen Experimente mit seinem skeptischen, einer empirischen Medizin verpflichteten Sohn diskutiert und Elisa von der Recke mit einer kritischen Schrift über Cagliostro zuerst hervortritt. Sie ist es denn auch, die den entscheidenden Entwicklungsschritt zur Psychologisierung des Seelenbegriffs vollzieht, wenn sie in ihrer diarischen Konzeption des Selbstdialogs in einen Diskurs zur Enträtselung der dunklen Empfindungslandschaft Seele und ihrer verborgenen Handlungsleitung eintritt, um unbewußte Abläufe im eigenen Selbst aufzuklären. Ihre sezierenden Diskussionen differenzierter Empfindungslagen und Handlungsmotive folgen dem Ziel, die komplexen Ursachen und Wirkungen von Einstellungen und Handlungen zu untersuchen und weisen in ihrer Struktur auf moderne psychologische Erklärungsmodelle hin. Ihre Selbstanalyse im psychologischen Diskurs, die sie selbst bezeichnenderweise »Seelenergießungen« nennt, macht ihr Schreiben zum »autoerotischen« Selbstzweck, ihre Ich-Geschichte ungewollt zu so etwas wie einem frühen klinischen Fallbeispiel. In der narzistischen Selbstbespiegelung produziert der Text das Krankheitsbild, das den schillernden Namen der Hysterie trägt. Fischer-Homberger hat darauf hingewiesen, daß sich im Hysterie-Begriff des 18. Jahrhunderts entgegen dem verwandten, auf das männliche Geschlecht bezogenen Hypochondrie-Begriff deutlicher die Verbindung von Einbildungskraft und Körpersymptom, modern gesprochen der Zusammenhang der Psychosomatik durchsetzen kann, der konsequent auf Freuds spätere Neurosenlehre verweist. 66 Der fortschreitende Prozeß der Psychologisierung von Selbsterfahrung zeigt sich zuletzt in den Tagebüchern Leisewitz' und Lichtenbergs, die den dunklen Inhalt der Seele selbst im Tagebuch thematisieren und verschriften. Leisewitz ist neben Lichtenberg der erste, der seine Träume im Tagebuch verzeichnet. Die Sprache des Unbewußten wird in diesen Teilen der Tagebücher literaturfähig. Die Tagebuchliteratur des 18. Jahrhunderts leistet darüber hinaus auch einen Beitrag zur Körpergeschichte. 67 Körper und Körpererfahrung gehören zu den zentralen Themen der diarischen Selbstthematisierung. Der Tagebuchtext versucht den Körper als autonomes, dem Selbstbewußtsein fremdes System einer genauen Beobachtung zu unterziehen, um ihn in seinen Funktionen kennenzulernen. Ziel dieser Beobachtung ist der steuernde Eingriff in seine unwillkürlichen Regungen. Nirgends ist der Körper im Text so präsent, nirgends wird der Text so zum Archiv des
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Esther Fischer-Homberger: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern 1979. Vgl. zum Körperthema im 18. Jahrhundert insbesondere die Untersuchungen von: Jean Starobinski: Kleine Geschichte des Körpergefühls. Konstanz 1987. Hartmut Böhme: Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition. In: Ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt 1988. S. 179-211. Eugen König: Körper - Wissen - Macht. Studien zur historischen Anthropologie. Berlin 1989. Rudolf Behrens, Roland Galle (Hg.): Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropolgie im 18. Jahrhundert.Würzburg 1993.
fremden Eigenen wie im Tagebuch. Hahn spricht von dem Körper als »Schlüssel der biographischen Autopoesis.«68 Im diarischen Text vollzieht sich wie in keiner anderen literarischen Gattung die Diskursivierung des Körpers. Damit stellt sich eine paradoxe Situation her: Gerade dasjenige, von dem der Text nachhaltig absieht und abstrahiert, 69 denn Körpersprache und Schriftsprache schließen sich gegenseitig aus und folgen eigenen Gesetzen, wird nun zu seinem Gegenstand. Der Text kann den Körper immer nur diskursiv fassen, über ihn reden, er ist nie selbst Körperausdruck oder -repräsentation. Daß aber Geliert und mit ihm viele der Tagebuchschreiber ihren Körper immer wieder thematisieren, ist Ausdruck dessen, was Schreiben nachhaltig verweigert: Körperlichkeit, Körperempfindung und -ausdruck. Eisner, Gumbrecht, Müller, Spangenberg weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, »daß die Tendenz funktional ausdifferenzierter Gesellschaften zu Abstrahierung von Körpererfahrungen auch durch explizite Körperthematisierungen nicht aufgehoben werden kann.«70 So wie der Körper dem Text feindlich gegenübersteht, so ist sein Körperbild ein negatives, störendes. Der Text arbeitet an der Austreibung des Körpers: Er generiert ein Sprechverbot über alle autonomen Körperregungen (Verdauung, alle sexuellen körperlichen Reaktionen). Sie werden zu niederen, weil unwillkürlichen nicht durchs Bewußtsein steuerbaren vitalen Äußerungen. Damit setzt der Text allmählich die Abstraktion von unmittelbarer Körperlichkeit durch. Die Tagebücher vollziehen diesen Prozeß mit, bilden aber zugleich auch ein retardierendes Moment, indem sie noch einmal Spuren des Körpers dem Text einschreiben, über individuelle Körperreaktionen sprechen, die aus dem literarischen Text als unschicklich, pathologisch, als nicht kommunikabel ausgegrenzt werden. Für Lichtenberg ist es ζ. B. noch kein Skandalon, sein Sexualverhalten im Tagebuch als Bestandteil seines alltäglichen Lebens genauestens zu registrieren. Im Tagebuch kann daher zum letzten Mal das zur Sprache kommen, was aus dem Text verdrängt wird: der autonome Körper. Mit dem Prozeß der Literalisierung geht eine allgemeine Marginalisierung und Abwertung der autonomen Körperfunktionen einher bis zu ihrer völligen Verdrängung aus Schrift und Alltagssprache bis weit ins 19. Jahrhundert. Unwillkürliche Körperreaktionen werden nun dem medizinischen Diskurs überstellt. Im Tagebuch, das noch einmal an der Konstruktion des ganzen Menschen interessiert ist, hat der Körper als Gegenstand der Auseinandersetzung und Beobachtung noch seinen fest verankerten Platz. Zum Standardspektrum der Körpergeschichte zählen Themen
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Alois Hahn: Religiöse Dimension der Leiblichkeit. In: Volker Kapp (Hg.): Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. Marburg 1990. S.138. Vgl. dazu Eisner, Gumbrecht, Müller und Spangenberg in ihrer Einführung »Zur Kulturgeschichte der Medien«: »Es ist nicht mehr der Körper des Schreibers, der als materielle Quelle und Träger des Sinns in einem Manuskript beim Vorgang des Schreibens seine Spur hinterläßt, sondern die Druckerpresse, die sich zwischen einen Autor als intellektuelle Quelle des Sinns und die gedruckte, abstrakte Schriftlichkeit stellt.« S. 172f. In: K. Merten, S.J.Schmidt. S. 163-187. Eisner u.a. S.176.
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wie Schlaf, Verdauung, sexuelle Regungen sowie alle beobachtbaren Disfunktionen des Körpers. Haller, Geliert, Leisewitz, Goethe und Lichtenberg thematisieren mit unterschiedlicher Intensität ihre Körperbefindlichkeit im Tagebuch, protokollieren ihre Schlafgewohnheiten, ihre Verdauung, ihre Körperstörungen. In dem Maße wie die Bedeutung normaler Körperäußerungen aus dem Text verdrängt wird, steigt die Bereitschaft seine Störungen wahrzunehmen und zu thematisieren. Für alle diese beobachtbaren Disfunktionen und Körpersymptome vom Kopfweh, übers Ohrensausen, Brust- und Leibschmerzen bis hin zu Blähungen und Verstopfung produziert das 18. Jahrhundert einen diagnostischen Sammelbegriff: Hypochondrie. 71 Wer schreibend diese Symptome an seinem Körper ausmachen kann, der fällt unter die Kategorie des Hypochonders, um den sich Philosophie, Erfahrungsseelenkunde und Medizin konkurrierend bemühen. Der Hypochonder ist also zunächst nur derjenige, der seinen autonomen Körper als solchen wahrnimmt und ihn (schriftlich) thematisiert. Von Haller über Geliert, Lichtenberg, Leisewitz bis zu Goethe reicht die lange Tradition derjenigen, die diesem Körperschema nachgehen und sich selbst in mehr oder weniger hohem Maße mit der Zuschreibung der Hypochondrie identifizieren. Die Hypochondrie ist die sogenannte Gelehrtenkrankheit des 18. Jahrhunderts nicht nur wegen der ungesunden, körperabstinenten Tätigkeit des Gelehrten, sondern vielmehr deswegen weil der Gelehrte der Schreibende, der Schriftexperte ist. So entsteht diese Krankheit erst mit der Schrift, ihre Existenz ist an Schrift gebunden und hat zugleich ihre Ursachen in ihr. Hypochondrie ist die Krankheit der Schrift, des Schreibens. Kant hat dies in seiner Definition der Hypochondrie als »Grillenkrankheit«, die »ein Geschöpf der Einbildungskraft ist, und daher auch die dichtende heissen könnte«, 72 zum Ausdruck gebracht. Hypochondrie verdankt ihr Entstehen in diesem Sinne der Verschriftlichung der Körperfunktionen. Der Selbstbeobachter des Tagebuchs ist im 18. Jahrhundert eben nicht nur ein Seelenbeobach-
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Zu der umfangreichen und vielfältigen Literatur zum Thema Hypochondrie im 18. Jahrhundert vgl: Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt 1969. Hans Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. Esther Fischer-Homberger: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder. Bern, Stuttgart, Wien 1970. Hartmut Böhme, Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurtl983. Ulrich Nassen: Trübsinn und Indigestion - Zum medizinischen und literarischen Diskurs über Hypochondrie im 18. Jahrhundert. In: Fugen 1.1980. S. 171-186. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook 13.1981. S. 253-277. Sibylle Späth: Vom beschwerlichen Weg zur Glückseligkeit des Menschengeschlechts. Gellerts Moralische Vorlesungen und die Widerstände der Realität gegen die empfindsame Gesellschaftsutopie. In: Bernd Witte: »Ein Lehrer der ganzen Nation« Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München. 1990. S. 151-171. Immanuel Kant: Von der Macht des Gemüths, durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein. Hg. u. mit Anmerkungen versehen von Chr.W. Hufeland. Leipzig 1859. S.34.
ter, sondern im gleichen Maße auch ein Körperbeobachter und als solcher kann er als Urtypus des Hypochonders verstanden werden. Im allgemeinen gegenwärtigen Sprachgebrauch des Hypondriebegriffs von der eingebildeten Krankheit wird dieser Ursprung des klinischen Krankheitsbildes aus der schriftlichen Diskursivierung des Körpers bewahrt. Mit dem Modebegriff Hypochondrie werden im 18. Jahrhundert jene charakterisiert und beschreiben sich zugleich selber, die diesem anachronistischen Unterfangen nachhängen, dem Text ihren Körper einzuschreiben. In die literarischen Großgattungen dagegen darf der Körper nur noch in seinen vermittelten, kulturell überformten, nicht autonomen Reaktionen eingehen. Der Gefühlskult der Empfindsamkeit läßt nur noch Tränen der Rührung, Erröten und Erbleichen, als extremste Reaktion die Ohnmacht zu,73 alle anderen unwillkürlichen Körperreaktionen, die nicht gleichzeitig kulturell vermittelt und psychologisch motiviert sind, werden nun Tabu. Eine entscheidende Rolle spielt das Tagebuch auch bei der Intergration von Frauen in den Literaturbetrieb. Das Tagebuch ist wie der Brief 74 eine Gattung, die im starken Maße Frauen aktiv in das Literatursystem einbindet, ihnen eine gleichberechtigte Rolle als Schreiberinnen zugesteht. Die Anzahl der Briefwechsel und Tagebücher von Frauen ist erheblich, für den Brief können Autorinnen wie Ninon de Léñelos,75 Sevigné76 und Maintenon 77 sogar zum ersten Mal normgebend und mit Vorbildfunktion auftreten. Die weitreichende Beteiligung von Schreiberinnen am Literaturprozeß hat zunächst gattungsspezifische Ursachen. Diese kleineren Gattungen, die sich neben den literarischen Großformen im 18. Jahrhundert zwar durchsetzen, aber nie zur Ebenbürtigkeit aufsteigen, zeichnen sich durch das weitgehende Fehlen einer normativen Gattungspoetik aus. Während für den Brief mit Geliert 78 die neuere Diskussion um eine Briefpoetik ausgelöst wird, werden für das Tagebuch überhaupt keine geschlossenen gattungspoetischen Normen gesetzt. Daher zeichnet sich insbesondere das Tagebuch als eine potentiell offene Form aus, die
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Vgl. dazu: Frank-Rutger Hausmann: Seufzer, Tränen und Erbleichen - nicht-verbale Aspekte der Liebessprache in der französischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Kapp. S. 102-117. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Frauen, Literatur, Geschichte. Hg. von Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann. Stuttgart 1985. S. 83-103 und Reinhard Nikisch: Entwicklung und sozialgeschichtliche Bedeutung des Frauenbriefs im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur von Frauen. Hg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988. Bd. l.S.389-409. Lettres de Mademoiselle de Ninon de Lenclos au Marquis de Sevigné. A Amsterdam 1750. Lettres de Madame Rabutin-Chantal, Marquise de Sevigné, à Madame la Comtesse de Grignan, sa Fille. A La Haye 1726. Françoise d'Aubigné de Maintenon: Briefe, welche der Herr von Beaumelle herausgegeben nebst dem Leben derselben von der Frau von C*** beschrieben. Frankfurt a.M. 1755. Christian Fürchtegott Geliert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefe. In: Ders. Gesammelte Schriften. Bd. I. Hg. von Bernd Witte u. a. Berlin, New York 1989.
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die Gattung für die Aneignung bisher aus dem Literatursystem ausgegrenzter Gruppen prädestiniert. Daß vor allen Dingen Frauen als Brief- und Tagebuchschreiberinnen hervortreten, hat darüber hinaus mit der Koppelung des aufklärerischen Empfindsamkeitskonzept an die Frau als dessen Repräsentantin und Garantin in den Großgattungen zu tun. Da eine Untersuchung über weibliches Schreiben am Beispiel der Gattung Tagebuch noch aussteht, kann an dieser Stelle nur auf die hier untersuchten Tagebücher von Frauen rekurriert werden. Dabei läßt sich feststellen, daß das Tagebuchschreiben in seiner literarischen Durchsetzungsphase durch die konkrete Gebrauchs- und Adressatenbindung, das ursprüngliche Fehlen einer Publikationsabsicht und seine dialogische Anlage, den Entwurf auf einen anderen hin, Frauen als Autorinnen deshalb auch zugestanden wurde, weil diese Gattung von dem Anspruch auf freie Autorschaft innerhalb eines allgemeinen Literaturbetriebs zunächst absieht. Dies gilt sowohl für Albertine Pfrangers Tagebuch als auch noch für Sophie La Roches Tagebücher. Pfranger insistiert im Vorwort auf dem Fehlen einer Publikationsabsicht 79 während des Schreibprozesses und legitimiert ihre anonyme Publikation, die bewußt auf eine persönliche Autorschaft verzichtet, durch den allgemeinen Nutzen ihrer Publikation für ein weibliches Publikum, genauer noch für alle »treuen Gattinnen von Europa«. 8 0 In ihrer Widmung an die Vertreterinnen der Königs- und Fürstenhäuser Europas versichert sie ihre Publikation besonderen Schutzes und außerordentlicher Legitimation. Sie suggeriert dem Lesepublikum sogar im allerhöchsten Auftrag mit ihrer Publikation zu handeln, indem sie einen nicht näher bezeichneten Freund als Vermittler zwischen der Autorin und ihrer fürstlichen Mentorin auftreten läßt: Ich weiss zwar den Weg zum Throne nicht; hätte es auch nie gewagt, diess einfache Gemälde meines Herzens und meines häuslichen Lebens vor Ihnen aufzustellen, wenn nicht ein edler Menschenfreund mir seinen Arm gereicht und mich versichert hätte, er wisse diesen Weg zu finden. Ich hüllte mich in meinen Schleier und nahte mich schüchtern dem Fusse des Throns, legte mein unvollkommnes Werkchen stillschweigend hin, und wagte nur ganz leise zu sagen: Gott segne Euch, Ihr höchsten Frauen der Erde! 81
Freilich übernimmt sie damit ein Muster der Legitimation von Autorschaft, das dem Publikum des 18. Jahrhunderts durchaus vertraut war und sich zunächst in nichts von den Demutsfloskeln männlicher Schreiber unterscheidet. Allerdings tut sie dies zu einem Zeitpunkt als diese Legitimationsformeln für ihre männlichen Kollegen längst nicht mehr als Türöffner zur freien Autorschaft vonnöten waren. Dazu kommt, daß sie in weiblicher Bescheidenheit den Leserkreis ihres Werks stark eingrenzt und ihre Publikation nicht an ein allgemeines Lesepublikum richtet,
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[Albertine Pfranger]: Auszüge aus dem Tagebuch einer traurenden Wittwe. Nebst einer kurzen Biographie der Verfasserin. Leipzig bei Heinrich Gräff 1803. S.XIf. Dort heißt es: »... so viel sey Dir gesagt, meine theure Leserin, dass diese Blätter nicht geschrieben waren, um gedruckt zu werden«. [Albertine Pranger]: Auszüge. [S. 1]. Auszüge. [S.3].
sondern an ihr Geschlecht, genauer alle Ehefrauen und Mütter. Hier schreibt eine Frau über Themen, die ihr durch die »Natur« auf den Leib geschrieben sind, die sie durch eigene Erfahrung kennt und die ihrer gesellschaftlichen »Bestimmung« gehorchen: Ehe und Mutterschaft. Dennoch ist sie wegen dieser äußerst eingeschränkten Autorschaft Anfeindungen ausgesetzt. Daß sie sie im Tagebuch thematisiert, beweist ihr Selbstbewußtsein als Schreiberin und ihren Selbstbehauptungswillen als Autorin. Anders liegt der Fall bei der bereits anerkannten Autorin La Roche. Hier scheint die erfolgreiche Autorschaft als Vehikel zur Legitimation der Gattung zu fungieren, wenn der Verleger im Titel das Tagebuch als ein Werk einer bereits durch einen bestimmten Briefroman hervorgetretenen Autorin annonciert: »Tagebuch einer Reise durch die Schweiz, von der Verfasserin von Rosaliens Briefen«. Auch die Tagebuchpublikation der dritten Schweizerreise kommt nicht ohne eine nähere Erläuterung und Legitimation aus. Diesmal rekurrieren Autorin und Verleger auf die vertraute Formel vom didaktischen Nutzen der Schrift: »Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise. Meinem verwundeten Herzen zur Linderung vielleicht auch mancher traurenden Seele zum Trost geschrieben«. In beiden Titeln muß so der Autorinnenname noch um 1800 hinter das literarische Werk einerseits und die nützliche Wirkabsicht andererseits zurücktreten. Auch La Roche definiert sich in ihrem letzten Tagebuch über die Rolle der Mutter. Ihren Töchtern ist dieses Tagebuch gewidmet, das aber, motiviert durch den Tod des Sohnes, noch eine weitere verborgene Adresse hat, den verlorenen Sohn.82 La Roche entwirft sich im letzten Schweizer Tagebuch durch das Bild der leidenden Mutter, der Piéta, Pfranger führt als alleinstehende Mutter Dialoge mit ihrem toten Ehemann. Im Dialog mit dem imaginären männlichen anderen, dem toten Ehemann und Sohn, finden die Autorinnen ein Diskursmuster weiblichen Schreibens, in dem Gattungsspezifika und Geschlechterdiskurs eine ideale Einheit bilden. Denn der Verlust des Ehemanns wie des Sohnes entzieht der Frau zunächst ihre beiden möglichen Selbstdefinitionen über die Rolle der Ehefrau und Mutter, die sie zur Suche nach der Restitution ihres Selbstverständnisses im Schreiben zwingt. Das Schreiben wird zum Kompensationsversuch eines unwiderbringlichen Verlustes, des konkreten anderen wie des an ihn gebundenen Selbstbildes. Entschiedener und auswegloser als in den Dialogtagebüchern der männlichen Schreiberkollegen hängt für die Schreiberinnen der eigene Selbstentwurf wie die gesellschaftliche Rollenzuweisung von dem anderen ab. Denn der andere ist für die Schreiberinnen derjenige, der ihnen ihr Selbst verleiht, über den sie ihre Existenz und sich selbst definieren, sein Verlust bedeutet Selbstverlust. Deswegen versuchen diese Tagebuchschreiberinnen, den anderen im Text noch einmal zu verlebendigen, um sich selbst als existent zu erfahren.
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Vgl. dazu: Gudrun Loster-Schneider: Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995. S.293ff.
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Wenn Selbstbilder von Frauen im 18. Jahrhundert weitgehend männlich generiert sind83 und Selbstbeschreibungen von Frauen als Spiegelungen männlicher Weiblichkeitsimagines entstehen, so ist nicht nur das Bild des anderen für die Frau konstitutiver Bestandteil der Selbstdefinition, sondern unerläßliche Projektionsfolie des eigenen. Daher ist die dialogische Struktur, die doppelte Bestimmtheit immer schon Grundlage der Selbstdefinition, das Fremdbild immer schon fester, bisweilen dominanter Bestandteil des eigenen. Das Dialogprinzip als Strukturmodell von Selbstbeschreibung ist daher dem weiblichen Schreiben scheinbar »natürlich« vorgegeben. Der Entzug dieser Spiegelfunktion des mächtigen anderen wird als Sturz ins Bodenlose, als Vertreibung aus einem geltenden Diskurssystem erfahren. Daher versuchen das Tagebuch an den toten Ehemann und an den toten Sohn, den anderen als konstitutive Voraussetzung des eigenen Selbst noch einmal zu verlebendigen. Bei Elisa von der Recke fehlt der Bezug auf diesen konkreten männlichen anderen, ohne daß er deshalb aufgegeben wäre. Vielmehr ist er hier bereits völlig unkenntlich, zu einem nicht mehr abspaltbaren und identifizierbaren Teil des eigenen Ich geworden, der die Leitung über die Konstitution des Selbstbildes stillschweigend übernommen hat. Elisa von der Reckes Selbstbeschreibungsversuche lesen sich wie der nachträgliche Vollzug des männlich generierten Weiblichkeitsmodells der Empfindsamkeit: Mitleiden, Altruismus, selbstlose, unbedingte Liebe und Hingabe an den anderen, Zufriedenheit in der Entsagung heißen die Selbstvorschriften dieses übernommenen Weiblichkeitsideals, deren Erfüllung die Selbstbeobachterin stetig verfehlt. Die Untersuchung über Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode versteht sich so als Beitrag zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Am Beispiel der Gattung Tagebuch läßt sich die Konstitution von an Schrift gekoppelten Selbstbeschreibungsmustern im 18. Jahrhundert nachzeichnen. Wenn nach der Definition Reiner Wilds Literatur sowohl »dokumentarischen Charakter für den Wandel der zivilisierten Standards« 84 hat, als auch aktiv an der Ausformulierung solcher Standards beteiligt ist, so ist die Konjunktur und Entwicklung der Gattung Tagebuch im 18. Jahrhundert zunächst im Kontext der allgemeinen Literalisierung der Gesellschaft unter mediengeschichtlichen Aspekten, im speziellen in ihrer Verknüpfung mit den verschiedenen Diskursmodellen der Selbstbeschreibung zu begreifen. Damit ist die Tagebuchliteratur einerseits Bestandteil des kulturellen Diskurses über das Selbst andererseits schreibt sie an diesem Diskurs entscheidend mit. Diese lite-
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Zu der umfangreichen neueren Auseinandersetzung um Weiblichkeit und Schrift sei hier nur auf den Sammelband von Inge Stephan, Carl Pietzcker (Hg.): Frauensprache - Frauenliteratur? Akten des VII. Internationalen Germanisten- Kongresses. Tübingen 1986 verwiesen. Reiner Wild: Literatur und Zivilisationstheorie. In: Renate Glaser, Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996. S.78.
rarischen Selbstbeschreibungsmuster nach dem dualistischen Körper - Seele Prinzip leisten sowohl einen Beitrag zur Körpergeschichte als auch zur Geschichte der Psychologisierung des Subjektsbegriffs im 18. Jahrhundert. Darüber hinaus eröffnet die Gattung Tagebuch unter kulturhistorischer Perspektive Einblicke in die Einbindung von Frauen in den Kulturprozeß und kann so als Element des Geschlechterdiskurses im 18. Jahrhundert begriffen werden. Gegenstand der Untersuchung über Tagebuchliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind ausgewählte Beispiele von ihren Schreibern selbst wie aus dem Nachlaß publizierter Tagebücher um Lavaters programmatische Veröffentlichungen. Mit der Ausnahme von Lavaters »Noli me nolle« werden keine unpublizierten Tagebücher in der Untersuchung berücksichtigt. Aufgenommen werden nur Tagebücher, die das entscheidende Merkmal der Gattung der sukzessiven nicht nachträglichen Entstehung im Idealfall von Tag zu Tag aufweisen. Von dieser Entstehungssituation erhält das Tagebuch seine nur ihm eigene charakteristische Struktur 85 des Offenen, Unabgeschlossenen, Additiven, des ständigen Neuansatzes, dessen Kontinuum erst durch spätere Lektüre herstellbar ist, wie es Wuthenow beschrieben hat: Das Tagebuch als Niederschrift von Datum zu Datum, Station zu Station, Punkt zu Punkt, und dabei stets sozusagen noch fast im Angesicht des Erlebten und Erfahrenen, kennt nicht in dieser Weise Zusammenhang und Folge, Perspektiven, sondern unterliegt dem Prinzip der mehr oder minder einfachen Reihung: es gestattet kein Zusammenfassen aus späterer Einsicht und nachgewachsenem Verständnis heraus, daher ist es in gewisser Hinsicht noch unmittelbar - wenn ein Produkt der Reflexion und Niederschrift noch unmittelbar genannt werden darf.86
Daher finden in der Untersuchung fiktive literarische Tagebücher, die sich ausschließlich der diarischen Form als Stilprinzip bedienen und nicht durch tägliche Eintragungen entstanden sind ebenso wie thematische oder philosophische Tagebücher keine Berücksichtigung wie Hamanns »Tagebuch eines Christen«, Lichtenbergs »Sudelbücher«, Herders »Reisejournal« oder Moritz »Erfahrungsseelenkunde«. Die Vorgeschichte zu der mit Lavater einsetzenden Kultur des Tagebuchschreibens, die auch die Praxis ihrer Veröffentlichung in Gang setzt, repräsentieren die Tagebücher Hallers und Gellerts. Lavaters vielfältige diarische Produktion bildet den Mittelpunkt der Untersuchung. Sie reicht von der religiösen Selbsterfahrung bis zu dem Dialogtagebuch »Noli me nolle« für den Sohn. Dialogische Tagebücher mit dem abwesenden Partner von Albertines Pfrangers Tagebuch an den toten Gatten bis zu Goethes Reisetagebuch an Charlotte von Stein markieren den nächsten Entwicklungsschritt der Gattung und Themenkomplex der Untersuchung. Die Verschiebung des dialogischen Prinzips im Tagebuch von dem konkreten oder fiktiven Adressaten zum Selbstgespräch im Dialog mit dem »zweiten Ich« 85
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Vgl. Sibylle Schönborn: Der Dialog mit dem stummen Partner. Literarische Tagebücher zwischen Aufklärung und Kunstperiode. In: Internationales Archiv der Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 18. Bd. 1993. H. 2. S.22f. Wuthenow. S.2.
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vollzieht Elisa von der Recke in ihren Journalen. Den Abschluß der Untersuchung bilden die Tagebücher Leisewitz', Lichtenbergs und Goethes aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt. Als selbstreferentielles Archiv des Schreiberindividuums und seiner Geschichte bilden sie den Ausgangspunkt für die erneute Ausgrenzung des Tagebuchs aus dem Literatursystem.
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II. Zum Forschungsstand
Immer wieder hat es in der literaturwissenschaftlichen Forschung Ansätze gegeben, die Textform Tagebuch als Forschungsgegenstand zu entdecken. Die unbefriedigenden Ergebnisse, die diese Annäherungsversuche bis heute kennzeichnen, haben hauptsächlich zwei Ursachen: Zum einen ist die unüberschaubare Textlage dafür verantwortlich zu machen, zum anderen aber das geringe theoretische Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Tagebuch als literarischer Gattung. Wuthenow hat auf diese Situation in der Vorbemerkung zu seiner exemplarischen, »essayistisch geprägten« 1 Studie hingewiesen: Die Tagebuchliteratur ist so umfangreich wie vielgestaltig, wobei die unterschiedlichen Formen Ergebnis der jeweiligen Intentionen und Zwecke sind, eine auch nur annähernde Vollständigkeit der Materialerfassung, gar der genauen Übersicht ist überhaupt nicht denkbar. 2
Im Anschluß daran stellt er richtig fest: Tagebuchliteratur ist bislang erstaunlich wenig ernst genommen und um ihrer selbst willen, gar als ein eigenes Genus, behandelt worden: vorwiegend sah man in ihr die auto-biographische Quelle, Material für Biographien oder die Epoche, vielleicht auch zu Erklärung einzelner Werke, gelegentlich dann auch, bei Überwiegen des gedanklichen Gehalts, Philosophie in Bruchstücken und hob also den aphoristischen Charakter hervor. 3
Bis heute gibt es keine größere historisch-systematische Untersuchung weder zum Tagebuch allgemein noch zum Tagebuch des 18. Jahrhunderts. Eine Ausnahme bildet lediglich Peter Boerners kenntnisreiches und informatives Realienbändchen, 4 das immer noch als entscheidende Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Gattung Tagebuch gelten muß. 1969 traf Boerner dort die bis heute gültige Feststellung, »eine Monographie, die das Phänomen des Tagebuchs in seiner ganzen Komplexität umgreift, besitzen wir nicht«.5 Alle weiteren Studien verfahren entweder exemplarisch, d.h. nach mehr oder weniger subjektiven Kriterien selektierend, 6
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Wuthenow. S.25. Wuthenow. S. IX. Ebenda. Peter Boerner: Tagebuch. Stuttgart 1969. Boerner. S. 2. So die neuere Einführung von Rüdiger Görner, die aufgrund ihrer stark subjektiv geprägten Textauswahl kaum wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung. München, Zürich 1986.
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oder sie beschränken sich auf eine Epoche oder einen historischen Zeitraum, zumeist des 19. oder 20. Jahrhunderts. So untersucht Albert Gräser 7 die Tagebücher Kierkegaards, Tolstois und Kafkas, Wilhelm Grenzmann 8 bezieht sich auf Kafka, Jünger, Musil, während Ruprecht Heinrich Kurzrock 9 sich fast ausschließlich mit den Tagebüchern Kafkas befaßt. Einzig Klaus Günther Just10 und Wolfgang Schmeisser11 behandeln in einem kursorischen Überblick auch Tagebücher des 18. Jahrhunderts. Das umfangreichste Quellenmaterial zum Tagebuch bietet dagegen G. R. Hockes Untersuchung zum europäischen Tagebuch.12 Das Verdienst dieser komparatistischen Studie liegt darin, daß Hocke aus der gesamten Geschichte des europäischen Abendlandes von der Antike bis zur Gegenwart Tagebücher in Ausschnitten gesammelt hat, so daß in dieser Gesamtschau Einflüsse und Bezugnahmen sichtbar werden, die der Perspektive auf die ausschließlich deutschsprachige Tagebuchliteratur entgehen. Daß Hocke diesen Vorzug seiner breiten Textbasis dennoch nur in Grenzen nutzbar machen kann, liegt an seinem methodischen Ansatz. Seine an Motivreihen und Themenschwerpunkten orientierte geistesgeschichtliche Untersuchung verzichtet auf jede historische Analyse und bleibt weitgehend deskriptiv. Wenn Hocke das Ziel seiner Auseinandersetzung mit dem europäischen Tagebuch darin sieht, »unmittelbare Einsicht in das Menschliche« und »den spezifisch europäischen Charakter« 13 zu gewinnen, um sich die »typisch europäische Menschenlandschaft« 14 zu erschließen, so vernachlässigt dieses geistesgeschichtliche Erkenntnisinteresse die jeweils historische Bedeutung und Funktion der Literaturform Tagebuch. Die fehlende theoretische Grundlegung dieser monographischen Untersuchung führt zu unlösbaren Definitionsproblemen der Gattung. So versucht Hocke das Echtheitskriterium als Selektionsinstrument der Gattung durchzusetzen, indem er unkritisch das ideologische Selbstverständnis der frühen Tagebuchschreiber übernimmt und die zentrale Bedeutung der Gattung für die Entwicklung von Fiktionalisierungsmodellen seit dem 18. Jahrhundert unberücksichtigt läßt. Ralph-Rainer Wuthenow hat zuletzt den Versuch unternommen, die europäische Geschichte der Tagebuchliteratur, ergänzt durch Exkurse zum japanischen Tagebuch, an ausgewählten Beispielen bis ins 20. Jahrhundert zu charakterisieren. Unter der Prämisse der Uneinheitlichkeit der Form, »das Individuum repräsentiert die
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Albert Gräser: Das literarische Tagebuch. Studien über die Elemente des Tagebuchs als Kunstform. Diss. Saarbrücken 1955. Wilhelm Grenzmann: Das Tagebuch als literarische Form. In: Wirkendes Wort. 1959. S. 84-93. Ruprecht Heinrich Kurzrock: Das Tagebuch als literarische Form. Diss. Berlin 1955. Klaus Günther Just: Das Tagebuch als literarische Form. In: Ders.: Übergänge. Probleme und Gestalten der Literatur. 1966. S.25-41. Wolfgang Schmeisser: Studien über das vorromantische und romantische Tagebuch. Diss. Freiburg 1952. Gustav René Hocke: Das europäische Tagebuch. Wiesbaden und München 2. Aufl. 1978. Hocke. S. 36. Hocke. S. 16.
Gattung«, 15 geht er auf verschiedenste Formen von »echten« Tagebüchern (Boswell, Haller, Flotow) über fiktive (Moritz: »Erfahrungsseelenkunde«) bis zu Grenzfällen (Rousseau, Montaigne, Lichtenbergs »Sudelbücher«, Eckermanns »Gespräche mit Goethe«) ein. Er kommt in seiner exemplarischen Studie nach inhaltlichen Kriterien zu einer Einteilung in »Erscheinungsformen« und analysiert so »frühe« Tagebücher, das »Journal intime«, das »Künstlertagebuch«, »Autobiographische Materialienbücher«, »politische Tagebücher« und für die Gegenwart das »Tagebuch als Werk« im historischen Prozeß. Allen neueren Untersuchungen 16 zum Tagebuch ist gemeinsam, daß sie die Unterscheidung in echte und fiktionale Tagebücher aufgeben und dagegen von einer generellen Fiktionalität aller insbesondere auch autobiographischer Texte ausgehen, um dann am Einzelfall Kriterien für die Bestimmung des Grades an Fiktionalität bzw. Literalität zu erarbeiten. Darüber hinaus stellen sie alle einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Fiktionalitäts- und Individualitätsstrukturen im 18. Jahrhundert her und weisen auf die Bedeutung diarischer Texte für die Entstehung der literarischen Großgattung Roman hin. Als erster hat Manfred Jurgensen diesen Versuch unternommen. Auch er konzentriert seine Studie auf »repräsentative« Werke der Tagebuchliteratur (Goethe, Kierkegaard, Kafka, Musil, Th. Mann, Handke u. a.),17 weist aber auf die Unfruchtbarkeit früherer Definitionsansätze zum Tagebuch hin. In dem breiten theoretischen Vorspann zu seiner Studie weist Jurgensen nach, daß es das echte, d. h. authentische Tagebuch nicht gibt, sondern daß vielmehr von graduellen Unterschieden des Fiktionalisierungs- und das heißt für ihn Selbststilisierungsprozesses ausgegangen werden muß, so daß er mit Recht konstatieren kann, daß die Unterscheidung in literarische und nicht literarische Tagebücher »auf einem Mißverständnis«18 beruhe. Aus diesem Grunde kommt er zu dem Schluß: »Jeder Versuch einer dogmatisch-präzisen Definition des Tagebuchs scheint daher sinnlos.«19 In seinem Versuch einer Tagebuchtheorie, die das Tagebuch als Urform und Katalysator literarischer Fiktionalisierungsprozesse oder -schübe des Ich begreift, mischt Jurgensen rezeptionsästhetische und existenzphilosophische Grundannahmen und Fragestellungen und steckt so den Horizont einer eigenwilligen Untersuchung ab, deren Argumentationsgang aufgrund bewußter Auslassungen und individueller Gewichtungen partiell schwer nachvollziehbar wird und zum Teil sachliche Ungenauigkeiten aufweist.20 Georg Guntermann geht in seiner Untersuchung über die Tagebücher Kafkas ähnlich wie Jurgensen in einem historischen Abriß zur Geschichte des Tagebuchs 15
Wuthenow. S.60. Vgl.: Jurgensen, Wuthenow, Guntermann, Nübel. 17 Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch. Bern 1979. 18 Jurgensen. S. 8. 19 Jurgensen. S. 10. 20 So der Versuch einer Typologie des Tagebuchs mit dem Rekurs auf Montaigne und Pascal an zentraler Stelle (S. 24ff.) oder die Auslassung der Tagebücher Lichtenbergs zugunsten der »Sudelbücher« und »Aphorismen«. (S.28f.) Ebenso scheint mir seine Theorie zum Tagebuchroman der Gegenwart zu verkürzend. 16
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von der generellen Fiktionalität diarischer Texte aus. Aus dem Strukturmerkmal der »Reflexivität« diarischer Texte ergibt sich für Guntermann zwangsläufig die Poetizität des Textes: Solche Reflexivität einer literarischen Gestaltung, die gegenüber dem unmittelbaren Vollzug die Möglichkeit des Sich-selber-Anschauens, des Sich-gegenüber-sich-selbst-Verhaltens bereit hält, bedeutet tatsächlich Poetizität, [...] Fiktionalisierung des Lebens. Das Ich als Gegenstand der diarischen Beobachtung wird zum literarischen Ich und die wertende Abstufung zwischen >mehr< oder >weniger< literarischen Tagebüchern verliert angesichts der allen gemeinsamen, konstitutiven Rolle der Fiktionalisierung ihre entscheidende, unterscheidende Kraft. 21 So zutreffend seine Bemerkungen zur generellen Poetizität und Fiktionalität von Tagebüchern sind, so problematisch ist seine ahistorische Übertragung des sich erst im 19. Jahrhundert herausbildenden Typus des intimen Tagebuchs auf das 18. Jahrhundert: Lange Zeit war es so: Im Tagebuch schrieb jemand bisweilen über, immer aber für sich selbst, und oft war damit eine Gebärde der Abwehr gegenüber der Außenwelt verbunden, mit der das Geschriebene unbefugten fremden Blicke entzogen sein sollte.22 Dieses Mißverständnis liegt an der unkritischen und undifferenzierten Übertragung eines modernen Begriffs von Privatheit auf das 18. Jahrhundert: Die Gattung des Tagebuchs im 18. Jahrhundert [...] war im wesentlichen eine Gattung des Privaten, ja Geheimen; das Tagebuch diente als Geburtshelfer, in dessen Schutz sich die auswachsende Subjektivität artikulieren, das heißt, kennenlernen, anschauen und ausdrücken lernen konnte. 23 Die Diskussion um die Fiktionalität autobiographischer Texte hat zuletzt Birgit Nübel zum Gegenstand ihrer Untersuchung über »Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800« gemacht. Auch sie geht wie Jurgensen und Guntermann von der generellen Fiktionalitätsstruktur 24 autobiographischer Texte aus und entwickelt 21
Georg Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors. Tübingen 1991. S.26f. 22 Guntermann. S. 20. 23 Guntermann. S. 19. 24 Vgl.: »Die hier vertretene These von der sich graduell unterscheidenden Fikionalitätsstruktur zwischen den literarischen Kommunikationsformen des Tagebuchs, der Autobiographie und des Bildungsromans beruht auf der Voraussetzung, daß Fikionalität eine pragmatisch und empirisch zu bestimmende Kategorie in geographischer, historischer, gesellschaftlicher, situativer und individueller Varianz ist. Sowohl innerhalb der prozeß- und figurationssoziologischen als auch innerhalb des kommunikationstheoretischen Paradigmas bezeichnet der Begriff des Fiktiven kein Seinsverhältnis, sondern ein Relations- und Funktionsverhältnis. [...] Mit Hilfe eines funktional-pragmatischen Fiktionsbegriffs kann dagegen innerhalb des kommunikationstheoretischen Paradigmas in der vergleichenden Analyse der Erzählstrukturen des Tagebuchs, der Autobiographie und des Bildungsromans die gemeinsame, sich nur graduell unterscheidende Fiktionalitätsstruktur der Selbstdarstellungs- und Kommunikationsmedien um 1800 begründet werden.« Birgit Nübel. S.58 u. 61. 30
ein differenziertes Strukturmodell zur Analyse unterschiedlicher Fiktionalitätsgrade innerhalb der Literatur um 1800. Allerdings setzt sie in ihrer weitgehend systemtheoretisch orientierten Studie den Fiktionalitätsgrad für die Tagebuchliteratur inkonsequenterweise oberhalb der hier behandelten Tagebücher an und untersucht ausschließlich eindeutige Tagebuchfiktionen, d. h. literarische Texte, die sich der Tagebuchform als Darstellungsmittel bedienen, wie Herders »Reisejournal« und Moritz' »Erfahrungsseelenkunde«.
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III. Das Tagebuch als Chronik pietistischer Erlösungs- und Bekehrungsgeschichten
1.
Pietismus und Tagebuch
Die Entstehung der Tagebuchkultur im 18. Jahrhundert wird immer wieder mit der religiösen Bewegung des Pietismus in Zusammenhang gebracht. Diese These, die auch Peter Boerner 1 für das Tagebuch und Ralph-Rainer Wuthenow für die Autobiographie des 18. Jahrhunderts vertreten,2 ist in dieser Allgemeinheit so unzutreffend wie irreführend. Wie Sauder3 bereits 1974 festgestellt hat, liegt ihre Problematik in dem bis heute unscharfen Gebrauch des Pietismus-Begriffs. Weder die Religionswissenschaft noch die Soziologie oder die Literaturwissenschaft, die alle mit dem Begriff operieren, haben sich um eine hinreichende Definiton ihres unterschiedlichen Begriffsverständnisses bemüht, noch ihren Untersuchungsgegenstand im Feld der Pietismusforschung genau umrissen. So vermischen sich in der Diskussion immer wieder verschiedene Gegenstandsbestimmungen ohne klare Abgrenzung voneinander: Unterschiedlichste Erscheinungsbilder von der praktischen Glaubensbewegung innerhalb der protestantischen Amtskirche und der gegen die Orthodoxie gerichteten theoretischen Theologie bis zu mentalitätsgeschichtlichen, individualpsychologischen und literarischen Erscheinungsformen eines historischen Zeitraums von mindestens einem Jahrhundert werden unter einen Begriff
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Bei Boerner heißt es: »Die ersten Zeichen dieser Evolution sind bei den Pietisten zu erkennen. U m Klarheit über sein Wachstum im Glauben und damit seinen Stand in der Gnade zu gewinnen, sollte der Erweckte immer wieder das wahre Befinden seiner Seele aussprechen und regelmäßig auf seine Bußkämpfe achten. Als ideales Werkzeug für solche Gewissensprüfungen bot sich ein kontinuierlich geführtes Tagebuch an. So begannen die Anhänger der Herrnhuter Brüdergemeine schon bald nach ihrem Zusammenschluß im Jahre 1727, sich gegenseitig zum Schreiben von Tagebüchern zu ermuntern.« Tagebuch. Stuttgart 1969. S.42f Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie im 18. Jahrhundert. München 1974. In der Einleitung formuliert er: »Was Mahrholz [...] etwas altertümlich die >quellende Fülle des Gefühls< nennt, wird nicht zuletzt, statt freie Psychologie zu werden, umspannt und vor allem geformt in dem literarischen Unternehmen der autobiographischen Darstellung, die, wo sie gelingt, mehr ist als Selbstanalyse und Selbstbekenntnis, anders auch als das nur punktuell die Eigenerfahrung fassende Tagebuch: nämlich erzähltes und in der Erzählung gedeutetes Leben, erfahrenes und erinnertes Ich. Was der Pietismus dazu liefert, ist nicht der Inhalt, sondern nur eine Reihe von Voraussetzungen und Elementen des Verfahrens, schließlich wohl auch der Mut zur eingestandenen Unzulänglichkeit nicht nur, sondern zur eingestandenen Subjektivität.« S.37. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. B d . l . Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974. S. 58-64.
subsumiert. So herrscht innerhalb der Diskussion zumeist Unklarheit darüber, daß es sich beim Pietismus als theologische und kirchengeschichtliche Erscheinung mit ihren Protagonisten Spener, Francke und Zinzendorf um eine Erscheinung des frühen 18. Jahrhunderts handelt, es aber, wenn von dem mentalitätsgeschichtlichen und individualpsychologischen oder kultursoziologischen Phänomen des Pietismus die Rede ist, mit Namen wie Johann Georg Hamann, Johann Caspar Lavater, Susanna von Klettenberg, dem jungen Goethe, Adam Bernd, Karl Philipp Moritz, Jung-Stilling oder gar der Katholikin Amalie von Galitzin das späte 18. Jahrhundert in den Blick gerät. Bis auf den Namen haben beide Phänomene oft noch nicht einmal einen gemeinsamen Ursprung noch eine einheitliche gemeinsame Geschichte. Als Beispiele für pietistische Tagebuchschreiber nennt Boerner u. a. Zinzendorf und Francke. Mit diesen beiden Theoretikern und Gründern pietistischer Gemeinden vereinigt Boerner fast das gesamte Spektrum des heterogenen Erscheinungsbildes pietistischer Theoriebildung und Glaubenspraxis. Entscheidender aber als die mangelnde Differenzierung zwischen so unterschiedlichen pietistischen Glaubensbewegungen ist die Tatsache, daß weder Zinzendorf noch Francke ein Tagebuch im Sinne religiöser Selbstreflexion und individueller Glaubenssuche bzw. -erfahrung geführt haben. Die Diarien beider Schreiber sind reine Repetitorien des äußeren Lebens und eher als Tagesregister zu verstehen denn als Tagebücher. Zinzendorfs Tagebuch seiner Studienzeit in Wittenberg dokumentiert so in äußerst knappem, lapidarem Kanzleistil die Pflichten eines Adeligen in seiner Ausbildungsphase. Mit regelmäßiger Gleichförmigkeit wiederholen sich fast identische Tagesabläufe zwischen gesellschaftlichen Verpflichtungen und persönlichen Studien: Beten, Lesen, Korrespondenz, Audienzen, Tanz- und Fechtunterricht, Zeichnen und Kegeln gehören zu festen Bestandteilen von Zinzendorfs Tagesablauf. Die Eintragung für den »Donnerstag 15. Aprilis« (1717) mag an dieser Stelle für viele stehen: Um 6 Uhr ward in der Betstunde das Lied: Schatz über alle Schätze gesungen, und das 2. Tobiae verlesen. Um 7 Uhr hatten wir bey Herrn D Wernhem Interpretationem Authenticam, Doctrinalem, usualem, Jura personarum, Rerum, Status hominum naturales, quibus vel Mares vel foeminae vel Androgyni sunt Liberos natos et nondum natos, geminos, reputationes partuum vel legitimorum vel illegitimorum post nuptias aut mortem viri. (i. m. Herr von Poyck war Hospes im Collegio.) Um 8 Uhr repetierte ich dieses und schrieb an Gnädige Groß-Mama nach Hennerßdorff η Hn v. G. Um 9 Uhr that ich dergleichen u. las in Exodo weiter, Um 10 focht ich mit Mr. Eberharten, Arnim, beyden Heynitzen u. Spillern, Um 11 hatte ich Goerien, Aleppo, Damascum Tripoli und Palaestinam, Um 12 speißten wir. Um 1 schob ich Kegel. Um 2 zeichnete ich. Um 3 gab Herr von Poyck meinem Hofmeister die Visite, Herr von Gerßd schob Kegel mit mir. Um 4 dantzte ich und fing die Alcide an. Um 5 bekam ich ein gnädiges Schreiben von d. Gn. Großmama, ich las im Telemaque fort. Um 6 elaborirte ich ins französische u. betete. Um 7 speisete ich. 4
Erst in seiner eigenen Gemeinde Herrnhut wies Zinzendorf der Tagebuchführung eine neue Funktion zu. Wenn er seine Gemeindemitglieder aufforderte, ihre Bekeh-
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Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Tagebuch 1716-1719. Hg. von G. Reichel und J. Th. Müller. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte 1.1907. S.30f. 33
rungsgeschichte und ihren Sündenkampf in exemplarischen Lebensberichten oder in regelmäßiger Tagebuchführung als Lehrbeispiele für die missionarische Tätigkeit und als Selbstoffenbarung des eigenen Gnadenstandes vor der Gemeinde schriftlich niederzulegen, so mögen dieser Forderung die Gemeindemitglieder zwar gefolgt sein, das erste und einzige pietistische Bekehrungsmodell der Literaturgeschichte, die Lebensgeschichte der Susanna von Klettenberg, entsteht aber außerhalb seiner Gemeinde und verdankt seine Bekanntheit der Aufnahme in Goethes »Wilhelm Meister«. Die meisten im Archiv der Brüderunität erhaltenen Tagebücher von Gemeindemitgliedern sind Diarien des äußeren Lebens, in denen zu gegebenen Anlässen wie Jahreswechseln, Geburtstagen und Todesfällen auch religiöse Reflexionen und Selbstdarstellungen verzeichnet werden. Diese Tagebücher wären sicherlich einer gesonderten Untersuchung wert. Sie können aber über die enge Kommunikationssituation der Gemeinde hinaus keinen Einfluß auf die Entstehung einer allgemeinen Tagebuchkultur im 18. Jahrhundert nehmen und bleiben daher für die vorliegende Untersuchung von untergeordneter Bedeutung. 5 August Hermann Francke, der Schüler Speners und Begründer des Halleschen Pietismus, der sein Leben dem Aufbau des Halleschen Waisenhauses und der ihm angegliederten Sozialeinrichtungen widmete, dokumentierte seine Tätigkeiten gleichfalls in einem regelmäßig geführten Tagebuch. Von seinen Tagebüchern sind im Archiv der Frankeschen Stiftungen die Handschriften der Jahre 1691/72 und 1714 bis 1727 mit wenigen Lücken erhalten. Der Gründer der Halleschen Stiftungen konzentriert seine Tagebuchführung auf die tägliche Dokumentation seines aktiven Lebens. Mit fast ungebrochener Regelmäßigkeit notiert er in knapper Form seine Tagesgeschäfte, verzeichnet Themen seiner Predigten, erhaltene Besuche, seine ausgedehnte Korrespondenz. Als Tagesregister der geleisteten Arbeit verkürzt und formalisiert er im Tagebuch die tagtäglichen Anstrengungen zum reinen Faktenmaterial. Inhaltliches über die eigene Tätigkeit teilt das Tagebuch nicht mit. Der Leser erfährt hier weder etwas über die Entstehungsgeschichte des Waisenhauses noch über Franckes exponierte Persönlichkeit in der Kirchengeschichte seiner Zeit. Persönliche Eintragungen, wie die vom 18. Jan. 1714: »Vor- u. nachmittag im verborgenen Gott mein Elend vorgetragen, und mein Hertz vor ihm ausgeschüttet«, 6 bleiben Ausnahme. Selbst bei dieser vorsichtigen Äußerung persönlicher Befindlichkeit, bleibt die konkrete Thematisierung der als problematisch erlebten Situation aus. Franckes seltene Selbstaussage geht über das bloße Konstatieren der erfahrenen Ir-
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Nach Auskunft von Frau Böttner befinden sich im Herrnhuter Archiv Tagebuchmanuskripte von Caspar Beza, Heinrich Friedrich Cossart, Johann Gottfried Cunow, Charlotte Sophie von Einsiedel, Arvid Gradin, Johannes Grassmann, Magdalene Auguste Grünbeck, Christoph Kaufmann, David Nitschmann, Johann Nitschmann, Christian Georg Andreas Oldendorp, Friederikcke Louise Plitt, Johann Christian Friedrich Quandt, Rembert Gustav Rehren, Samuel Christlieb Reichel, Friedrich Benjamin Reichel, Heinrich Reuss. Sophie Auguste Schrautenbach, Johann Peter Schwimmer, Friedrich Christoph Steinhofer, Jonas Paulus Weiß, Emauel Zäslin, Johann Christoph Becker, Theodora Reuß und Heinrich Reuß.
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August Hermann Francke: Diarium 1714. O.S.
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ritation, ohne deren Ursachen im Text zu problematisieren, nicht hinaus. Selbstreflexion findet dagegen in diesen frühen Tagebüchern fast ausschließlich in der streng ritualisierten Form des Gebets statt. Das Gebet als Modell der Selbstaussage früher Tagebuchführung folgt bei Francke noch ganz dem formalisierten Stereotyp der Fürbitte, hinter der die Person des Sprechenden mit ihrem konkreten Sprechanlaß zurücktritt. Wenn Francke am 10. Febr. 1714 seine Tagesberichte durch ein Gebet erweitert: »Herr heilige du die, welche du ietzt demüthigst, und mache sie selig«,7 so läßt sich der individuelle Sprechanlaß, den das Gebet objektiviert, nur noch erahnen und ist als seltener, verschlüsselter Selbstausdruck seines Schreibers zu verstehen. Ebenso selten wie diese versteckten Selbstaussagen sind Mitteilungen über Ereignisse und Aktivitäten, die den Rahmen des gleichförmigen Alltagsgeschäfts sprengen. Als Verunsicherung und Bedrohung seines Selbstkonzepts der rationalen Planung seiner Tätigkeit mag Francke verschiedene Weissagungen über die Geschicke des Waisenshauses verstanden haben, die ihm eine Eintragung in seinem Tagebuch wert schienen und im Text ihres bedrohlichen Charakters beraubt werden sollen: H. Magnif: D. Antonius kommet zu mir nach dem Paraenetico, eröfnet, daß ihm gesaget, es sey von der inspirata geweißaget, es solle in 3 Wochen das Wh. [Waisenhaus] in feuer aufgehen, und ich solte eines jähling Todes sterben, si pro me Deus, quis contra me? 8
Eine andere, seltene private Eintragung Franckes betrifft im Jahr 1714 seine Familie: »Meinem Sohn die ihm nöthige Vorstellung seines anzutretenden vitae Academicae halber gethan; da er sich erklärt, Theologiam zu studieren, worauf ich mit ihm zu Gott gebetet.« 9 Deutlich wird an diesen Tagebüchern der pietistischen Gründerväter, insbesondere aber an Franckes Tagebuch, der sich zeitlebens einer vita activa verschrieben hatte, daß die Schreiber nicht wie ihre späteren Nachfolger den Text zum Ausdruck ihrer eigenen problematischen (religiösen) Selbsterfahrung nutzen, sondern ihn ausschließlich zur Veröffentlichung ihres persönlichen Tätigkeitsberichts gebrauchen. Der Schreiber selbst versteht sich hier als öffentliche Person und als Repräsentant einer Institution, deren Entwicklung er in seinem Rechenschaftsbericht festhält. Diese unmittelbare Zweckbindung des Tagebuchschreibens belegt auch Franckes Praxis, die Führung seines Tagebuchs anderen zu übertragen. Über weite Zeiträume überläßt er diese Aufgabe seinen Schreibern, denen er seine Tagesgeschäfte diktiert oder die selbständig den Tagesablauf Franckes im Text rekapitulieren. Diese Schreiber geben sich selbst als Urheber des Textes zu erkennen, indem sie Francke als Akteur in der dritten Person nennen und passivisch über die Abläufe des Tages berichten: »Früh wurde die Predigt [...] geschrieben«, lautet eine typische Eintragung. Ebensowenig gibt es persönliche Tagebücher aus dem Umkreis Franckes. Auch seine Schüler, die als Missionare in Indien oder Amerika tätig waren, verfaßten
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Francke: Diarium 1714. O.S. Francke: Diarium 1714. O.S. Francke: Diarium 1714. O.S.
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zwar Rechenschaftsberichte über ihre eigene Tätigkeit, aber keine individuellen Tagebücher. Es scheint im Halleschen Pietismus auch keine Aufforderung zur persönlichen Tagebuchführung als Chronik der eigenen Bekehrungsgeschichte oder als tägliche Gewissenserforschung und Selbstkontrolle gegeben zu haben. Der Pietismus Frankescher Ausprägung ist eine rationale, auf praktische soziale Tätigkeit ausgerichtete Glaubensbewegung: Sie zielt als frühe Form der pietistischen Religionspraxis noch ganz auf eine äußere Reform der Amtskirche und nicht auf die individuelle Bekehrung und das innere Glaubenserlebnis des späteren Pietismus. Tätige Praxis dominiert hier noch gegenüber religiöser Introspektion. Das Phänomen des sich selbst problematischen, weil in seinem Verhältnis zu Gott gestörten Individuum tritt hier kaum auf. Die gestörte Gottesbeziehung als Auslöser problematischer Selbsterfahrung ist kein Gegenstand der Tagebuchschreiber innerhalb pietistischer Gemeinden. Eine verbindliche, über den Gegenstand dieser Untersuchung hinaus gültige Definition des Pietismus kann hier nicht geleistet werden. 10 Zunächst soll im Rahmen dieser Untersuchung unterschieden werden zwischen Tagebuchschreibern, die, ob Theologen oder Laien, als Mitglieder einer pietistischen Gemeinde »natürliche« Angehörige des pietistischen Diskurssystems sind und Schreibern, deren Texte Elememte des pietistischen Diskurses aufweisen. Darunter wäre im weitesten Sinne jede Form der religiösen Selbstreflexion zu verstehen, die ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in einer persönlichen Glaubenssuche und -praxis wie einer individuellen Gotteserfahrung als Voraussetzung für ihre Selbsterfahrung und -definiton hat. Beide Schreibergruppen unterscheiden sich, wie noch zu zeigen sein wird, fundamental in ihrer Selbstpräsentation und konstituieren unterschiedliche Texttypen des Tagebuchs. Dabei ist zunächst ein Unterscheidungskriterium der Bildungsgrad bzw. die Professionalität der Schreiber im Umgang mit Textproduktionen. Während Tagebuchschreiber aus der Gemeinde der Pietisten nicht notwendigerweise über einen hohen Bildungsgrad verfügen und neben ihren Tagebüchern meist keine anderen Texte schreiben, also ungeübte Schreiber sind, verfügt die andere Gruppe über ein breites Bildungsspektrum und tritt durch literarische Produktionen hervor, innerhalb derer das Tagebuch mit wenigen Ausnahmen eine untergeordnete Rolle spielt. Zwischen beiden Schreibergruppen findet kaum Austausch statt. Beide Kommunikationssysteme des pietistischen (Gemeinde-) und des literarischen Dis-
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Wenn im Zusammenhang der Tagebuchliteratur von Pietismus gesprochen wird, so soll darunter nicht die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft pietistischer Prägung verstanden werden, sondern die individuelle Orientierung an pietistischen Traditionen, der Selbstdefinition im Kontext des pietistischen Diskurses von Sündenschuld, Bußkampf, Erweckung und Gnadenstand. Mit Stemme wäre daher das Etikett >Pietismus< als »heuristisches Kennwort« zu verstehen, das im weitesten Sinne für eine individuelle Form verinnerlichter Religiosität steht und im engeren Sinne die Annahme genuin pietistischer Glaubenssätze wie die Wiedergeburtslehre umfaßt. Vgl.: Fritz Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 72. 1951. S. 147.
kurses funktionieren weitgehend abgeschlossen voneinander und bilden eigene Kommunikationsstrukturen aus. Da die Anzahl zeitgenössischer publizierter Tagebücher aus dem Kreis pietistischer Gemeindemitglieder äußerst gering ist, fehlt eine weitere Voraussetzung für eine direkte Einflußnahme auf die Entwicklung der Tagebuchkultur im 18. Jahrhundert.
2. »Fustapfen Gottes«: Philipp Matthäus H a h n s Tagebücher 1772-1777 Als Beispiel pietistischer Tagebuchführung soll im folgenden das Tagebuch Philipp Matthäus Hahns Erwähnung finden, an dem zum einen die auf die pietistische Gemeinde begrenzte Gebrauchs- und Rezeptionsform des Tagebuchs deutlich wird. Zum anderen belegt Hahns Bezugnahme auf Lavaters Tagebuch den umgekehrten Prozeß literarischer Einflußnahme. In den Tagebüchern von Protagonisten des späten Pietismus wie des schwäbischen Pfarrers und Naturwissenschaftlers Philipp Matthäus Hahn oder der westfälischen Geistlichen Rauschenbusch und Collenbusch erstarrt die literarische Form pietistischer Selbstanalyse zur Nachschrift eines normativen Ideals. In der gesicherten Überzeugung von der eigenen Wiedergeburt, dem erreichten Gnadenstand, verzichtet so ζ. B. der Tagebuchschreiber Hahn völlig auf jede religiöse Selbstanalyse, sondern versteht sein Tagebuch als Abbild der »Fustapfen Gottes« in seinem Bewußtsein, die sein Tagebuch nachzeichnet. Bei diesem späten Pietismus geht es um die Darstellung individueller Selbsterfahrung als Gotteserfahrung und deren intersubjektiver Kommunikation und beispielhafter, öffentlicher Demonstration. Nicht an unmittelbarer Steuerung von Verhalten und Handlungskontrolle ist der Tagebuchschreiber Hahn interessiert, sondern an der Präsentation und Perfektionierung eines präskriptiven Selbstkonzeptes. Pietismus zielt hier auf die Einschreibung eines allein gültigen Persönlichkeitsmodells in das Einzelindividuum. Der Erfolg dieses Einschreibungsprozesses kann aber nur transparent gemacht und damit kontrolliert werden, wenn die Einzelindividuen ihn als selbst erfahren beschreiben. Das Kontrollmedium über die Selbsterfahrung des Individuums ist der Text, das Schreiben. Innerhalb des schwäbischen Pietismus kommt daher dem Tagebuch eine konstitutive Bedeutung zu. Es wird zum integralen Bestandteil des Gemeindelebens und bildet eine Institution der praktischen Religionsausübung. Dies wird an der Person Philipp Matthäus Hahns, einer der Protagonisten des schwäbischen Pietismus, deutlich. Hahns Tagebuchführung ist von ihrem Beginn an auf Kommunikation innerhalb der pietistischen Führungselite angelegt. Hahn berichtet in seinem Tagebuch detailliert über die »Conferenzen« der pietistischen Gesellschaft, deren Hauptaufgabe die Bilanzierung des Standes der pietistischen Glaubensangelegenheiten über die Veröffentlichung und Diskussion der Tätigkeiten der einzelnen Mitglieder ist. Nicht der mündliche Bericht, sondern nur die Veröffentlichung eines persönlichen Tagebuchs, zu dessen Führung alle Mitglieder aufgefordert sind, wird als Informationsträger und Diskussionsgrundlage akzeptiert. Das Tagebuch ist als Bericht der 37
seelsorgerischen Arbeit Bestandteil der Amtsführung und als Dokumentation des religiösen Lebens ständige Rechtfertigung und Beglaubigung über die Wahrung und Vervollkommnung des Gnadenstandes des Erweckten. So berichtet Hahn im Tagebuch ausführlich über die Ausübung seiner Amtspflichten, notiert Besuche in seiner verstreuten Gemeinde, vermerkt Gespräche mit einzelnen Gläubigen, dokumentiert seine Arbeit als Religionslehrer in der »Kinderlehre« und führt Themen und Inhalte seiner Predigten aus. Darüber hinaus reflektiert er im Tagebuch seine eigenen religiösen Studien und hält die Ergebnisse seiner Bibellektüre fest. Diese Funktion seiner Tagebuchführung erläutert er selbst: Man sollte alles aufschreiben wie die Malabarische Nachrichten. 1. Wie Gott in mich würckt; 2. wie er durch mich in anderen würckt. Das gäbe ein nützliches Buch. Tagbuch eines Beobachters der Würckungen Gottes in ihm zum Wachsthum seiner selbst und der Würckungen Gottes durch ihn in anderen Menschen. 11
Hahn berichtet in seinem Tagebuch kontinuierlich über den Verlauf dieser Konferenzen und beklagt die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Postulats nach diarischer Selbstoffenbarung: »[...] logirte bey Herrn Stattschreiber, laße nachts noch mein Diarium für und hörte auch andere leßen. War nicht gantz zufrieden mit der Conferenz, das man nicht mittags zusammengesessen und die Diaria durchgegangen«. 12 E r selbst liest immer wieder aus seinem Tagebuch vor und moniert die Versäumnisse und die Zurückhaltung der anderen Versammlungsteilnehmer, kritisiert mit Nachdruck Konferenzen, auf denen die gemeinsame Lektüre von Tagebüchern unterbleibt. Als Vorbild für die Tagebuchführung innerhalb des pietistischen Zirkels dient Lavaters Tagebuch, das Hahn auf einer Versammlung mit den eigenen diarischen Berichten der Teilnehmer konfrontiert. Dabei wird deutlich, welchem.Ziel die Veröffentlichung der Tagebücher in der Gruppe unterliegt. Hier geht es nicht um eine rückhaltlose Selbstpreisgabe im geschützten Raum einer verstehenden Kommunikationsgemeinschaft, sondern um das Nachschreiben eines präskriptiven Biographiemodells. Mit unnachgiebiger Härte registriert die Gemeinschaft die Diskrepanz zwischen individuellem Lebensbericht und Ideal. Das Veröffentlichen des Tagebuchs in der Gemeinschaft gerät für das einzelne Mitglied zur Rechtfertigung vor dem strengen Tribunal. Vor ihm kann nur bestehen, wer sich dem präskriptiven Biographiemodell unterwirft und es seinem eigenen Leben einschreibt. Erst wer sein Tagebuch in diesem Sinne führen kann, darf sich zu den wahrhaft Erweckten zählen. Damit wird das Tagebuch zum institutionalisierten Überwachungs- und Selektionsinstrument. So kann Hahn in der sicheren Gewißheit des wahrhaft Erweckten sein Urteil über einen unvollkommenen Kollegen sprechen:
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Philipp Matthäus Hahn: Die Kornwestheimer Tagebücher 1772-1777. Hg. von Martin Brecht und Rudolf F. Paulus. Texte zur Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von K. Aland, E. Peschke, M. Schmidt. Abt. VIII. B d . l . Berlin, New York 1979. S.325. Hahn. S.59.
Mittags kam Herr Pfarrer von Hoheneck. Er hat sein Tagebuch nicht fortgesetzt, vermuthlich weil es noch so confus in ihm aussieht und von oeconomischen Sorgen zu hart beschwehret ist, oder weil er noch gantz keine Ordnung und Überwindung gewohnt ist, oder weil er noch keinen Willen hat, auf die Hauptsache recht los zu gehen. 13
Wer das präskriptive Biographiemodell nicht erfüllt, kann sich einzig durch Verweigerung vor dem rigiden Urteil der selbsternannten Kontrollinstanz des pietistischen Zirkels retten. So berichtet Hahn kritisch über die Konferenzen: »Nachts nach dem Essen in der Oberamtey wird mein Tagbuch verleßen. Herr Stattschreiber laß das seine in der Conferenz. Hatte aber große Lücken von acht bis zehn Tagen.« 14 An anderer Stelle heißt es: »Herr Helfer ist gar zu schnell, etwas zu glauben und zu schreiben. Drum scheuet er sich, sein Tagbuch vorzuleßen. Herr Stattschreiber hat keines geschrieben, will aber wieder anfangen.« 15 Unter der Diktatur des Schreibzwangs, den die pietistische Gemeinde ausprägt, wird der Text, die dauerhaft niedergelegte Schrift, zum einzigen Medium des Ausdrucks von Wahrheit aufgewertet. Nur in den zu Schrift geronnenen Worten wird der andere im Gegensatz zu seinen verbalen Äußerungen und Handlungen, in denen Verstellung, Täuschung und Verschleierung des Akteurs vermutet werden, glaubwürdig und wahrhaftig sichtbar. Die Schrift wird zum Medium der Wahrheitsfindung. Sie ist direktes und unmittelbares Abbild des verborgenen Inneren seines Schreibers. Das stumme Bewußtsein des einzelnen ist das ungeschriebene Buch, das in der Übertragung in die Schrift dem anderen offengelegt werden soll. Wie in einem offenen Buch will die pietistische Gemeinde im Bewußtsein des andern lesen und erhofft sich von der Lektüre des anderen die Aufdeckung seines wahren Innern, seines Gnadenstandes oder seines Status' des Unwiedergeborenen. Was der einzelne im Gnadenstand über sich selbst aufschreibt, muß wahr sein, denn es ist Abbild der Heiligen Schrift, absoluter Text, der die Handschrift Gottes in sich trägt. In der Selbstkommunikation des Tagebuchschreibens liest der pietistische Schreiber im Buch seines Lebens, in dem die Hand Gottes die Feder führt. Selbstkommunikation als Verständigung mit dem Gott im eigenen Selbst wird zur Arbeit des Entzifferns einer Urschrift, der »Fuzstapfen« Gottes, in denen der einzelne sich selbst erkennt und für andere unverstellt sichtbar wird. Gottes- und Selbsterkenntnis, die im Status der Erweckung zur Deckung gekommen sind, finden im Lesen des göttlichen Buchs statt, das der einzelne als sein Leben nachschreibt. Der Mensch ist der verschlüsselte Text Gottes, seine Selbsterschreibung die Entschlüsselung. Daher kommunizieren in den pietistischen Gemeinden nicht Menschen, sondern Bücher miteinander. Wenn Hahn in intensiven Kontakt zu anderen tritt, so tut er dies über den Austausch von Texten. Wahre Selbstoffenbarung und zweifelsfreies Erkennen des anderen garantiert nur das gegenseitige Offenlegen der eigenen Lebensschrift. Immer
"Hahn. S.73. 14 Hahn. S.75. 15 Hahn. S.134.
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wieder hält Hahn seine Bezugspersonen zur Tagebuchführung an, läßt sich Tagebücher zur Lektüre geben, um den anderen zu erfahren. So gewinnt er neue auserwählte Mitglieder für die Gemeinde über ihre Bereitschaft zur diarischen Selbstoffenbarung: Dorle war sehr begierig, Zerschiedenes zu lernen, versprach auch ein Tagbuch anzufangen ohne viel Bedencken. Ich sähe, das die Erwählte in der Welt zerstreut sind und doch so durch die ewige Weisheit zusamen bestimmt und geordnet, das eines den andern drängen mus. 16
Bei der Lektüre des Tagebuchs einer Pastorentochter, auf die zunächst seine Wahl als zweite Ehegattin fällt, fühlt er tiefes Einverständnis: Nachts Jungfer Helena Flattichin Tagbuch geleßen. Große Sachen, wenn man von Jugend auf geführt wird und geübte Sinnen bekommt. Sie kann sich das Wort Gottes mehr zu Nutzen machen, es besser in Ordnung fassen und kürtzer zusammenfassen, was sie schreibet, als andere. 17
Gleichzeitig kontrolliert er seine erste Frau, deren Erweckung er zutiefst anzweifelt, über die Lektüre ihres Tagebuchs. Zwischen den ungleichen Ehepartnern, dem Erwählten und der Unbekehrten, ist im Leben wie im Text keine Verständigung möglich, dies machen Hahns offene Tagebuchberichte deutlich: Ich habe ihr Tagbuch, das sie vor einem Jahr am Charfreytag, wo sie eine besondere Erwekkung in der Predigt gehabt, angefangen und ein Monat fortgesetzt, geleßen und gefunden, daß sie eine habituirte Lügnerin war, welches sie auch darinnen gestanden und ungeachtet sie sich vorgenommen, nimmer zu lügen, doch immer wieder da hineingefallen, mich anzulügen. [...] Juliana Tagbuch gelesen. Gefunden, das sie noch im alten Sinn steht und noch immer wegen ihren alten Bezeugen gegen mir recht zu haben glaubt. 18
Das Tagebuch des selbstgerechten Pietisten Hahn wird zum unfreiwilligen Zeugnis der Zerstörung eines Menschens. In letzter Konsequenz sieht er sogar dem Sterben seiner Frau tatenlos zu, das er als Ausdruck einer gerechten Strafe Gottes interpretiert. Bei seiner erneuten Partnerwahl spielt das Tagebuch wiederum eine zentrale Rolle. Zwischen drei Pfarrerstöchtern trifft Hahn nach langem Hinundherschwanken seine Wahl. Zum Hauptkriterium für seine Entscheidung wird die Unterwerfungsbereitschaft seiner zukünftigen Frau unter den Willen und die Führung des Mannes. Im Tagebuch äußert er sein Eheideal von der unbedingten Übereinstimmung der pietistischen Gesinnung: Könte ich glauben, das Helena ein wahre Schülerin von mir werden könte, das meine Worte, die aus meinem Selencharacter fließen, ihr eben sowohl Speise wären als Ötingers
16 Hahn. S.80. " H a h n . S.102. 18 Hahn. S.337.
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Worte, und folglich ihre Selengestalt, insofern sie nach mir gebildet wäre, als ein anderes Ich mich erquicken könte. 1 9
Will er sich selbst zweifelsfrei mitteilen, so setzt er die Autorität seines Tagebuchtextes ein, um jede weitere Diskussion für nichtig zu erklären. Als er um seine zweite Frau wirbt, läßt er sein Tagebuch für sich sprechen, um ihre Vorbehalte zu zerstreuen: »Abends mit Helena genug geredt. Sie laß mein Tagbuch. Ich gab ihr auch den Brief, den ich in Beßigheim geschrieben, zu lesen«. 20 Das Tagebuch wird zum Katalysator im Entscheidungsprozeß: »Weil sie aber durch meine Tagebücher Vertrauen zu mir bekommen, so konte ich alles mit ihr reden und war mir ihr Umgang recht süß.« 21 Seine eigenen Zweifel gegenüber der Loyalität und gleichen Glaubensgesinnung seiner gewünschten Partnerin möchte er über das Studium ihres Tagebuchs ausräumen. Erst als sie nach längerem Weigern bereit ist, ihm ihr Tagebuch zu veröffentlichen, sieht er alle Voraussetzungen für die Heirat erfüllt: »Habe gewünscht, ihr Tagbuch zu sehen. Sie nahm es aber nicht mit sich und hatte noch Furcht, ich möchte ihr dadurch abgeneigt werden.« 22 Zuletzt drängt er entschieden auf die diarische Selbstoffenbarung der »Ehekandidatin« und macht sie zur unabdingbaren Voraussetzung für seine endgültige Entscheidung: Als ich nun heute vor meiner völligen Resolution drauf beharrte, sie müsse mich vorher ihr Tagbuch auch leßen lassen, so wollte sie nicht. Sie sähe sich aber endlich genöthiget, die Ursache zu entdecken und ihre Verbindung und Hofnung auf Magister Motz zu ofenbahren.
Am Ende entscheidet sich Hahn wegen ihrer größeren Formbarkeit und ihrer angenehmen äußeren Erscheinung für die jüngste der drei Schwestern, nachdem er Lavaters eben erschienenen »Physiognomische Fragmente« zu Rate gezogen hat: Hierauf zeichnete ich sie durchs Licht. Da ich nun also ihren Kopf bey dieser Fertigung des Schattenrisses näher zu betrachten Gelegenheit hatte, gefiel mir auch ihre Bildung und hatte nichts auszusetzen, sondern glaubte, das wir für einander erschafen seyen und war in meinem Inneren sehr vergnügt und küsste sie. Hierauf laßen wir in Lavaters Physiognomie gemeinschaftlich, weil diß mein Pensum dißmahl war, weil ich das Buch wieder fortgeben muste. Hörte ihr Urtheil und Gedancken. Alsdann laß ich ihr mein Tagbuch vom 1. November an vor, wo ich die ersten Gedancken zur Verehlichung bekommen, um sie vertraulicher und ofenherziger zu machen. 2 4
In Lavater, dem kongenialen Freund, der Hahn besucht, um seine naturwissenschaftlichen Experimente zu bewundern, findet Hahns Selbstbild des wahrhaft Gläubigen und Erweckten seine letzte Bestätigung. Nicht von ungefähr besiegelt das neue Paar im Tagebuchlesen und in der praktischen wie theoretischen Ausein-
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Hahn. Hahn. Hahn. Hahn. Hahn. Hahn.
S.381. S.382. S.384. S.380. S.382. S.386.
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andersetzung mit Lavaters »Physiognomie« den neuen Lebensbund. So wie das Tagebuch den Gnadenstand des inneren Menschen beglaubigt, so repräsentiert die Physiognomie den des äußeren. Die Physiognomie als wahrer und unverstellter Ausdruck des menschlichen Innern zeigt Hahn in Lavaters »Physiognomie« als vollkommenes Abbild Gottes, wie es bereits ihr Motto »Gott schuf den Menschen sich zum Bilde!« andeutet. So gerät Lavaters Hahn-Porträt in den »Physiognomischen Fragmenten« zur höchsten Bestätigung des schwäbischen Pietisten: Unter allen mir bekannten Theologen, der - mit dem ich am meisten sympathisire - oder vielmehr, dessen Theologie zunächst an die meinige gränzt, und der doch so unaussprechlich von mir verschieden ist, als es ein Mensch seyn kann. Ein ganz außerordentlich mechanisches, mathematisches und astronomisches Genie, das immer erfindet, immer schafft mit ausharrender, allüberwindender Geduld, zum letzten Ziel alles ausführt. E r schafft Welten, und freut sich einfältig seiner stillen Schöpfungskraft. [...] Seine Sammlung von Betrachtungen über alle sonn- und festtäglichen Evangelien - und sein Fingerzeig - sind mir eine Goldgrube von großen, unerkannten, und wissenswürdigsten Wahrheiten. Ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich mir's nicht verzeihen kann, diese Höhe und Tiefe von Christuserkenntniß in der Einfalt seines hellen, edeln Gesichtes nicht bemerkt zu haben. Ich suchte, das ist wahr, nur den Mechaniker; und den fand ich im Auge. Ich sah auch den großen Theologen - aber bey weitem nicht den großen, den ich nachher in seinen Schriften, deren unser Zeitalter kaum werth ist, gefunden habe. [...] Wenn ich König wäre, der Mann wäre mir eins der theuersten Produkte meines Reichs. Er brächte Gottes Weltsysteme in mein Cabinet - Wagen, alles zu wägen, in alle meine Magazine, und was mehr ist als beydes, die allertiefste und harmoniereichste Religion in meine Theologie - ob auch in meine Theologen, wär' eine andere Frage? 2 5
3. Das »Buch des Gewissens« Alois Hahn hat in seinem Aufsatz »Identität und Selbstthematisierung«26 Schemata von Selbstbeschreibungsversuchen innerhalb der europäischen Geschichte herausgearbeitet. »Biographiegeneratoren« nennt er die »sozialen Institutionen« über die Modelle der Identitätsbildung vorgezeichnet werden. In der Beichte als »Sündenbiographie«27 macht er den frühesten und wirkmächtigsten Modus der Selbstthematisierung aus. Dies hat entscheidende Konsequenzen für die Beschaffenheit von Selbstbildern und Selbstverständigungsmodellen in ihrer frühen Ausprägungsphase. Das Sündenbekenntnis hat ursprünglich seinen Ort in der kirchlichen Institution der Beichte. Die Beichte ist jedoch zunächst eine mündlich-dialogische Institution der Verhaltenskontrolle innerhalb der katholischen Kirche. Die Individualisierung
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Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Leipzig und Winterthur, 1775. Hg. von Christoph Siegrist. Stuttgart 1984. S.252ff. In: Alois Hahn und Volker Kapp (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt 1987. Hahn, Kapp. S. 21.
und Verschriftlichung der Beichte im Tagebuch protestantischer Schreiber, - fast alle Tagebuchschreiber des frühen 18. Jahrhunderts sind Protestanten, - modifiziert diese Institution in entscheidender Weise. Während die katholische Kirche ihre Mitglieder in ein personell gebundenes, mündliches System der Verhaltenskontrolle und -revision einbindet, bleiben die protestantischen Gläubigen in ihrer Glaubensausübung auf sich selbst gestellt. Verhalten wird für die Protestanten nicht über eine äußere Kontrollinstanz seiner Bewertung unterzogen, vielmehr sind sie, die die Institution der Beichte nicht kennen, auf die eigene, innere Steuerung und Bewertung ihres Verhaltens angewiesen. Sie sind gezwungen, über das eigene Verhalten im Kontext der christlichen Ethik ausschließlich selbst zu reflektieren, ihnen steht kein realer Dialogpartner zur Verfügung, der mit der Autorität zweifelsfreier und wahrer Entscheidung und Bewertung ausgestattet ist. Sie sind auf den Dialog mit sich selbst verwiesen, ihr Verhalten unterliegt keiner äußeren, sondern ausschließlich der eigenen inneren Kontrolle. Daher wird die autobiographische Reflexion im Text zu ihrem Medium und Instrument. A. v. Haller nennt sein Tagebuch deshalb auch »Sündenregister« und C.F. Geliert bringt diese ursprüngliche Funktion der Selbstreflexion des Subjekts durch ein Zitat aus den Predigten Sacks in seinem Tagebuch zum Ausdruck: »Hierbey ist nöthig, daß der Sünder an seine verflossenen Jahre zurück denke, seinen ganzen Lebenslauf vor sich nehme und in dem Buche des Gewissens lese, da er den Ort, die Umstände, die Art und die Menge seiner Sünden aufgeschrieben findet.« 28 Auch der schwäbische Pietist Philipp Matthäus Hahn rekurriert auf diesen Topos, wenn er in seiner Kinderlehre über die Funktion des Gewissens spricht. E r berichtet in seinem Tagebuch über einen seiner Schüler, der in schwerer Krankheit sich Hahns Lehre erinnert, »das das Gewissen ein Buch sey, in dem man wieder leßen werde, was man längst vergessen hat.« 29 In den religiösen Tagebüchern protestantischer Schreiber findet der entscheidende Übergang von der punktuellen, diskontinuierlichen Selbstreferentialität des mündlichen zum kontinuierlichen, umfassenden Selbstbewußtsein des schriftlichen Diskurses statt. Gedächtnis und damit Selbstbewußtsein wird in diesen frühen Tagebüchern als eine Funktion des Gewissens gekennzeichnet. Die soziale Instanz des Gewissens und seine Geschichte hat Heinz D. Kittsteiner in seiner großen Untersuchung »Die Entstehung des modernen Gewissens« 30 dargestellt. Den etymologischen Ursprung des deutschen Begriffs Gewissen aus dem lateinischen conscientia und dem griechischen syneidesis als Wissen und »Mit-Wissen« beschreibt Kittsteiner zutreffend in seiner Entwicklung als Mit-Wissen mit sich selbst. 31 Conscientia bedeutet damit auch Selbstbewußtsein. In der englischen und französischen Etymologie des Begriffs hat sich diese Bedeutung erhalten und durchgesetzt. Nur im Deutschen treten
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Chr. F. Geliert's Tagebuch aus dem Jahre 1761. Hg. von T.O. Weigel. Leipzig 1863. S.57. Hahn. S.82. Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt und Leipzig 1991. Kittsteiner. S.18.
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Gewissen und Selbstbewußtsein etymologisch auseinander, so daß ihr gemeinsamer Ursprung unkenntlich wird. Der deutsche Begriff des Gewissens leitet sich dagegen von »wissen« und »gewiß« her. Wissen und Gewißheit, das richtige Wissen, also Wahrheit, repräsentiert der Begriff im deutschen Sprachgebrauch. Das Gewissen als Instanz eines jeden Menschen beschreibt Kittsteiner als moralische Urteilskraft, Moralsinn des Menschen, der sich sowohl auf andere als auch auf sich selbst bezieht. Das sichere Urteil über andere und zuletzt auch über sich selbst gewährt das Gewissen als herausragendes menschliches Sinnesorgan. Die Geschichte des Selbstbewußtseins ist damit in ihren Anfängen identisch mit der des Gewissens. Gewissen und Selbstbewußtsein sind zunächst ein und dasselbe, bis sich das Selbstbewußtsein als autonome Instanz der Person aus seinem Entstehungskontext löst. Die Selbstreferentialität des Subjekts konstituiert sich unter dem Reflexionsmodus Gewissen im mündlichen Diskurs. Als Ausdruck der Seele und später des Selbstbewußtseins bedarf sie der Schrift. Selbstbewußtsein, das Wissen über sich selbst als Ziel von schriftlicher Selbstreflexion im Tagebuch, ist daher in seinen Anfängen nichts anderes als Manifestation des ehemals mündlich codierten Gewissens. So gewiß es ist, daß jeder Mensch ein Gewissen hat, so gewiß ist es auch bis weit in die Aufklärung hinein, daß das Gewissen und damit das Selbstbewußtsein keine autonome Instanz der Persönlichkeit ist, sondern eine von außen verliehene, von der Person unabhängige Kraft des Menschen, die seiner Prägung und Steuerung entzogen ist. Als Wort Gottes in uns, moralischer Sinn oder äußeres Moralgesetz bleibt das Gewissen eine Instanz des Eingriffs von außen. Selbstbewußtsein erlangt der einzelne daher auch nicht, wie an den frühen Tagebuchtexten zu zeigen sein wird, durch selbstreferentielle Reflexion im Dialog mit seinem Innern, sondern es wird ihm von außen als Auszeichnung einer höheren Instanz verliehen. Kittsteiner bringt diese Verfassung des Selbstbewußtseins auf den Nenner: »Das Innere des Menschen ist das Göttliche in den Menschen hineingenommen. Was später als Innenleben interpretiert wird, stellt sich ursprünglich als Eingriff der Gottheit dar.«32 Das »Buch des Gewissens«, von dem im religiösen Diskurs der Tagebuchschreiber die Rede ist, wenn sie sich im Text über sich selbst bewußt zu werden versuchen, ist daher nichts anderes als die Kopie eines bereits außerhalb von ihnen bestehenden Urtextes, der ihnen als Wort Gottes, als Heiliger Text von außen eingeschrieben wurde und den es in der Anstrengung des Schreibprozesses zum Vorschein zu bringen gilt. Daher ist auch die Erinnerung im Tagebuch dem Gewissen unterworfen. Gedächtnis und Erinnerung als konstitutive Bestandteile von Selbstbewußtsein sind Funktionen der Gewissenstätigkeit. Im Muster religiöser Selbsterfahrung heißt das Gedächtnis Gewissen. Es schreibt der Erinnerung seine Struktur vor. Das Gewissen ist die früheste Form des Gedächtnisses, Selbsterfahrung bedeutet Selbsttribunalisierung nach den Mustern moralischer Wertmaßstäbe von Schuld, Verfehlung, Sünde, Strafe und Sühne. Selbsterfahrung und Selbstinterpretion, die Konstruktion
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der eigenen Lebensgeschichte wie zukünftiger Lebensentwürfe folgen dieser einen Perspektive, der Unterwerfung unter die Richterinstanz des Gewissens. Im Tagebuch hat die Selbsterfahrung ihren Ursprung in der Sündengeschichte des Individuums. Das Tagebuch als schriftlicher Diskurs wird zur Instanz der aktuellen und kontinuierlichen inneren Selbstkontrolle. In diesem Diskurs thematisieren sich die Schreiber nach den traditionellen, mündlichen Regeln des Sündenbekenntnisses und differenzieren das Instrumentarium der Selbstreflektion aus: Das Gebet, wie die Beichte ursprünglich eine mündliche Form religiöser Selbstvergewisserung, ist, wo es nicht kollektiv wie im kirchlichen Ritus praktiziert wird, eine genuin monologische Form der Selbstdarstellung. Beide können ihre Existenz nur behaupten, wenn sie aus dem imaginären Bereich der mündlichen Selbstkommunikation heraustreten und sich im Medium des Textes manifestieren. Das Gebet und die Gewissenserforschung sind als Instanzen praktischer Lebenssteuerung dauerhaft auf das Medium der Schrift angewiesen, wenn sie ihre Wirkung nicht verfehlen wollen. Wo die konkrete, personale Kontrolle des Verhaltens durch die institutionelle Autorität von Gottes Stellvertreter fehlt, soll der Text in seine Funktion eingesetzt werden. E r funktioniert als manifeste Kontrollinstanz monologischer Selbststeuerung. Der Text wird als Autorität eingesetzt, dessen Beurteilung sich der Schreiber unterziehen soll, nachdem er den Priester als Stellvertreter Gottes abgelöst hat. E r wird zum Gesetz, vor das der Schreiber tritt und Rechenschaft ablegt, seine Regulative sind das Gebet und die Lektüre der Heiligen Schrift. Der Text erweist sich gegenüber seinen Produzenten als unnachgiebiger und unfehlbarer Richter. Während die katholischen Christen im Beichtgespräch nach den Regeln von Reue, Sühne, Buße freigesprochen werden, verweist der monologische Text seinen Produzenten wieder an sich selbst, er gewährt keine Vergebung, ja nicht einmal Erleichterung von den individuellen Verfehlungen, der Sündenlast; im Gegenteil er wird zum grausamen Ankläger, j e größer und schwerwiegender die Bekenntnisse, umso härter, gnadenloser und unaufhebbarer sein Urteil. Der Text erteilt keine Absolution, sondern bürdet dem Schreiber das Leiden an seiner eigenen Unvollkommenheit auf, macht sie zu seiner und nur seiner Angelegenheit, je länger der Schreiber spricht, umso tiefer sein Sturz, seine Verworfenheit vor dem Gesetz. Sein Sprechen im Text verlängert und potenziert sein Leiden an sich selbst, nur das Ende des Sprechens kann das Ende der Selbstanklage gewähren. Der Tagebuchschreiber wird nicht, wie der (katholische) Gläubige im mündlichen Diskurs von seiner Verfehlung losgesprochen, um nötigenfalls unmittelbar danach wieder zu fehlen, sondern er wird in aller Härte seiner Sündhaftigkeit und Niedrigkeit gewahr, um aus diesem Zustand der Verworfenheit seinen nie endenden Selbstreinigungsprozeß im Schreiben zu vollziehen.
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4. Religiöse Biographie-Modelle In den religiösen Bekenntnistagebüchern eines Haller oder Geliert steht allerdings weniger das dezidierte Sündenbekenntnis im Vordergrund, wie Lavater es später für das Tagebuch postuliert. Ihre Sündhaftigkeit verstehen die Schreiber summarisch als die dem Menschen eigene große »Sündenlast«. Dagegen thematisieren sie die Geschichte ihrer Bekehrung zu Gott, die Suche nach der göttlichen Gnade. Im Tagebuch erschreiben sie sich ihre eigene Erlösungs- und Heilsgeschichte. Nur einmal in gesamten Jahresverlauf legt ζ. B. Geliert ein konkretes Sündenbekenntnis ab: » - Fehler dieses Tags: 1) erkannte ich und nützte ich die Wohlthat nicht, die mir Gott früh erzeigte. Ich wollte nur mein Glück fühlen, nicht die Wohlthat Gottes, nicht meine Unwürdigkeit, nicht die Absicht und Anwendung der Wohlthat erkennen. 2) Fehler; da ich das Böse von Sachsen ohne Noth erzählte und keinen Abscheu bey mir, kein Mitleiden, vielmehr eine Art der Freude fühlte, daß es bösere Menschen gäbe, als ich. Eine schreckliche Tücke und Eigenschaft, o meine Seele; deren du dich ewig schämen solltest. 3) Die Bitterkeit über die Begebenheit mit der Profession, die ich nicht genug unterdrückte, sondern heimlich nährte, an statt daß ich Jesum hätte bitten sollen, mich zu stärken, damit ich nicht murrte und sündigte. Gelassen sollst du auch das Mißvergnügen dulden. 4) Gegen Herrn Goedicken zu sehr geklagt. - 5) Nach Tische nicht Andacht zum Gebete, und bey Tische kein Andenken an die Güte Gottes. - Ach, Herr Jesu, Du mein Erlöser, diese Sünden, ach daß ich sie bereue und im Glauben an Dein heiliges Blut Vergebung erlange; und wie viel tausend Fehler und Sünden mehr.« 33
Dies alles sind Fehler der Eigenliebe,34 der Eitelkeit, des Stolzes, des Neids, des mangelnden Mitleidens, die Geliert hier namhaft macht. Doch alle diese Begebenheiten gehören der untergeordneten Existenz, dem Durchgangsstadium zu einem besseren, höheren Leben nach dem Tode an, an denen die Selbstanalyse des Tagebuchs nicht interessiert ist. Sie sind Bewährungsproben auf dem Weg zur Nachfolge Christi, zur Gottwerdung des Menschen in seiner zweiten, höheren Existenz, der eigenen Erlösungs- und Bekehrungsgeschichte, die das Tagebuch zum Ziel hat und zugleich aktiv vorantreiben soll: »O Gott, was ist die Welt für ein leeres Schauspiel«,35 urteilt Geliert angesichts des inneren Prozesses seiner Selbsterlösung, der Integration seiner Lebensgeschichte in die göttliche Heilsgeschichte. In der autobiographischen Anstrengung der religiösen Ichanalyse wird die individuelle Lebensgeschichte tabuisiert und konsequent verdrängt. Weder erfahren wir etwas über Haller als Arzt, Literat, Amtsträger und Familienvater aus den Tagebüchern noch über Geliert als Hochschullehrer, populären Autor, gesellschaftlichen Rollenträger, Freund. Indem der Tagebuchschreiber die Reflexion seiner realen gesellschaftlichen Existenz mit einem Verbot belegt, sie als die größte Sünde, die der »Weltliebe«, brandmarkt, verleugnet er seine unverwechselbare In-
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Geliert: Tagebuch aus dem Jahre 1761. S.80f. So hoffte Geliert 1761 auf eine gesicherte materielle Versorgung durch ein Hochschulamt. In diesem Jahr wird ihm am Ende eine lebenslängliche Pension zuteil, nachdem er auf die freigewordene Professur für aristotelische Logik verzichtet hatte. Geliert. S.6.
dividualität und erschreibt sich die unselbständige, stereotype Identität der Sündenbiographie. So kämpft ζ. B. Haller noch 1773, von schwerer Krankheit gezeichnet, gegen seine »Weltliebe«: »Immer noch Anhänglichkeit an die kleinen und falschen Tröstungen die die Welt uns gewähren kann. - Meine Zuflucht ist noch immer zu Büchern, zu gelehrten Beschäftigungen, die vielleicht im Grunde Ehrsucht und Eigennutz so angenehm macht.« 36 In den seltenen Fällen, in denen Geliert über konkrete biographische Ereignisse spricht, verfällt dieses Sprechen einer doppelten, vernichtenden Kritik. Immer sind es Anlässe zur Selbstliebe, zur Eitelkeit, zum Eigenwillen wie im Falle der Publikation seines Briefwechsels mit Rabener oder im Falle seines Bewerbungsverfahrens an der Leipziger Universität. Ihre bloße Thematisierung wiederholt den Fehler noch einmal, denn die Selbstanalyse im Tagebuch beinhaltet zugleich das Sprechverbot über sich. So destruiert das Bekehrungstagebuch konsequent die empirische Persönlichkeit seines Schreibers. Der Erfolgsautor Geliert verleugnet im Dialog mit Gott daher seine Existenz als Schriftsteller. Im Diskurssystem der Bekehrung hat dieser entscheidende Teil seiner Biographie keinen Platz. Er wird vom Tagebuchschreiber nicht nur ausgegrenzt, sondern auch als Schuld- und Sündenerfahrung, als Abkehr von der eigenen Erlösungsgeschichte negiert. Was dies für Gellerts Biographie bedeutet, wird deutlich, wenn nicht nur seine große Wirkung als Lustspiel- und Romanautor, sondern auch seine ausgedehnte Tätigkeit als Briefeschreiber im Kontext seines religiösen Selbstentwurfs als Sünde diskreditiert wird. Über seine Korrespondenz urteilt er im Tagebuch: »Eben diesen Fehler begieng ich auch heute früh nach dem Gebete, da ich an den jungen Schönfeld erst prosaisch, dann poetisch schreiben wollte und die Stunde verderbte, in der ich die seligen Regungen hätte warten und nähren sollen«. 37 Die Kunst fällt unter das Verdikt der »nicht nöthigen Arbeit«, 38 die von Gott und von der eigenen Erlösung ablenkt, da die Kunst zum einen eigene Zwecke verfolgt und eigenen Gesetzen gehorcht, zum anderen der autonomen Selbsterschaffung des Individuums dient. Über die unautorisierte Veröffentlichung seiner Briefe 3 9 äußert sich Geliert: »Die gedruckten Briefe brachte mir Reich - o Eitelkeit! Mutter so vieler Thorheiten und Schwachheiten. Du hast dich gewiß bey dieser Gelegenheit durch Ungeduld Verstellung, Zorn und Nachrede versündigt. - « 4 0 Ziel der Tagebuchführung ist das
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Haller: Fragmente Religiöser Empfindungen. In: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst. Hg. von Johann Georg Heinzmann. Zweyter Theil. Bern, in der Hallerschen Buchhandlung, 1787. S.290. Geliert. S.47f. Geliert. S.47. Briefe von Rabener und Geliert, wie auch des Letztern Unterredung mit dem König von Preussen. Cöln (Berlin), Peter Marteau, 1761. Zwey Briefe, der I. von C.F. Geliert, der II. von G. W. Rabener. Leipzig und Dresden, 1761. Dritter und Vierter Brief, von G. W. Rabener und C. F. Geliert. Leipzig und Dresden, 1761. Fünfter und Sechster Brief, von G. W. Rabener und C.F. Geliert. Leipzig und Dresden, 1761. Vier Briefe durch die Herrn Geliert und Rabener. Leipzig und Dresden, 1761. Sechs Briefe durch die Herrn Geliert und Rabener. Leipzig und Dresden, 1761. Vgl. dazu Gellerts Briefwechsel. Hg. von John F. Reynolds. Bd. III. Berlin, New York 1991. S.122ff. Geliert. S.66.
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Überschreiben der individuellen Biographie mit einer fiktiv-normativen des vollkommenen Christen ohne individuelle Züge: »O lerne dich erkennen und verachten und dienen Stolz und thörichte Eigenliebe unterdrücken«, 41 lautet die Selbstvorschrift im Tagebuch. An anderer Stelle fordert Geliert sich zur Selbstverleugnung, zur Negation seiner Individualität auf: »Meine Seele, sage dir selbst ab und deinem Eigenwillen«. 42 Tatsächlich hatte Geliert 1761 bereits seine Schriftstellertätigkeit aufgegeben. Den Abschluß seines literarischen Werkes bilden die »Geistlichen Oden und Lieder« (1757), 4 3 die als Syntheseversuch zwischen Schriftstellerexistenz und dem Selbstentwurf einer individuellen Erlösungsgeschichte zu verstehen sind. Dennoch beschließt Geliert sein Tagebuch des Jahres 1761 mit einem der »Eigenliebe« verdächtigen Selbstlob, das zum ersten und einzigen Mal in diesem Tagebuch das unverstellte, autonome Selbstbewußtsein seines Schreibers zum Ausdruck bringt: »Also beschließe ich dieses Jahr [...] ohne Schimpf und Schande und vielmehr mit gutem und großem Namen - « , 4 4 Soll der Selbsterziehungsprozeß im Tagebuch wirksam sein, so muß er zu einer ständigen Einrichtung werden. Die Bekenntnistagebücher als Sündenregister werden daher täglich geführt. Die aktuelle, distanzlose Reflexion des alltäglichen Verhaltens duldet keinen Aufschub, wenn sie ihre Funktion der unmittelbaren Verhaltensänderung nicht verfehlen soll. 45 Philipp Matthäus Hahn reflektiert diesen Sachverhalt in seinem Tagebuch: »Heute (Montag) morgens mein Tagbuch seit Freytag geschrieben. Will es aber nicht mehr so lang anstehen lassen, denn es kommt einen schwerer an, wiewohl alsdann die Wahrheiten, die man schreiben wollen, zwar weniger werden wegen Vergessung derselben, aber reifer werden, weil man zwei Mahl nach einer Zwischenpause unter neuer Ansicht der Sache darüber denckt. Was ich schnell aufschreibe, das reuet mich zuweilen, weil ich oft anders dencken lerne, als mir es damahlen so schnell beygekommen ist.« 46
An anderer Stelle beklagt er den Verlust der Erinnerung, der eine Lücke in der kontinuierlichen Selbstoffenbarung hinterläßt: »Von diesem Tag weis ich nichts mehr, weil ich erst folgenden Sontag wieder daran gedacht, etwas aufzuschreiben.« 47 Der Tagesablauf bildet daher die zeitliche Einheit, die den Tagebuchtext strukturiert.
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Ebenda. Geliert. S.64. C. F. Geliert: Geistliche Oden und Lieder. Weidmann. Leipzig 1757. Geliert. S. 100. Günter Niggl weist in diesem Zusammenhang auf die Funktion des Tagebuchs hin und mißt ihm eine entscheidende Bedeutung zu: »Nur im Tagebuch konnte die Selbstbeobachtung der Frommen jene minuziöse Aufmerksamkeit auf jede Stimmung und Schwankung erreichen, die nach Vorbereitung durch Haller und Geliert schließlich bei Lavater (1771) den Sprung ermöglichte, die Erkundung des eigenen Ich nicht mehr als religiöses Mittel, sondern als psychologischen Selbstzweck anzusehen.« Günter Niggl: Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert. In: Prismata. Dank an Bernhard Haussler. Pullach, Verlag Dokumentation. 1974. S. 168. Philipp Matthäus Hahn: Die Kornwestheimer Tagebücher. S. 134. Hahn: Die Kornwestheimer Tagebücher. S.209.
Wenn das schriftliche Bekenntnis Gewißheit über den aktuellen Glaubensstand, Erleichterung von der Sündenlast und die Chance des Neubeginns garantieren soll, so muß diese Arbeit ohne Verzögerung und unausgesetzt geleistet werden. Tag für Tag vollzieht sich im Tagebuch der immergleiche Prozeß der Selbstoffenbarung vor dem göttlichen Gesetz. In der Bekehrungsgeschichte der religiösen Tagebuchschreiber teilt sich Lebenszeit gleichmäßig in den Wechsel von Tag und Nacht. Jeder Tag bringt mit unausweichlicher Gewißheit Versuchungen des Leibes und der Seele hervor; das Gleichmaß des Zeitablaufs kennt nur eine Dynamik, nämlich die der linearen Entwicklung auf das subjektive Ende der Tage hin. Geliert reflektiert wiederholt in diesem Sinne seine Einstellung zu seiner eigenen Lebenszeit: »Also wieder eine Woche beschlossen, im Gebet und Kampfe mit großer Schwachheit. Meine Seele ist noch krank und todt in Sünden; aber daß ich anfange, mein Elend und Verderben zu erkennen und suche, seiner loß zu werden, ist doch große unaussprechliche Gnade; und Gott wird, wenn ich ihm treu bin, sich meiner gewiß erbarmen, mich den Kampf der Buße überstehen, mich zum Glauben und zur Vergebung meiner Sünden gelangen und mich Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geiste um Christi willen erlangen lassen.« 48
Bis dieses Ziel erreicht ist, bleibt das Leben ein stetiges Auf und Ab von Annäherung an das höchste Ziel und neuerlicher Entfernung. Die Erfahrung der kontinuierlichen Entwicklung auf das Ziel hin, ein lineares Fortschreiten der eigenen Bekehrungsgeschichte, gibt es nicht, vielmehr überwiegt die Erfahrung der permanenten Rückschläge, des Zurückgeworfenwerdens an die Anfänge der eigenen Sündenbiographie. Die Schreiber der Bekehrungstagebücher unterliegen einem Wiederholungszwang, ob sie je an ihr Ziel gelangen werden, entzieht sich im letzten ihrem Einfluß. So klagt Geliert immer wieder über das Verstreichen von Zeit, den individuellen Zeitverlust, angesichts einer zum Stillstand gekommenen oder rückläufigen Entwicklung der eigenen Bekehrungsgeschichte: »Ja, meine Seele, wieder eine Woche zu Ende. [...] Und wie hast du diese Woche angewandt? Bist du deinem Heile näher? Christo im Glauben näher? Deiner Erwählung gewisser? Hast du dich mehr wegen aller deiner Sünden demüthigen und Gnade allein, allein in Christo Jesu, dem Sohne Gottes, suchen und hoffen lernen? Bist du gelassner in den Züchtigungen und Strafen Gottes - williger und bereiter zum Tode? - Bedenke die Kostbarkeit der Zeit, die dir Gott schenket! - Diese Zeit eilt dahin und deine Kräfte der Seelen und des Leibes verschwinden.« 49
An anderer Stelle heißt es: »Also ist diese Woche geendet, gleich der vorigen; und ich bin dem Tode näher und bin nicht frömmer gesinnt, nicht williger zu meinem Tode? Ach Gott, lehre mich mein Ende und meine unsterbliche Seele bedenken, um Christi willen.«50 Lebenszeit wird zur lastenden Bürde, als monotone Sündenexistenz begriffen, es gibt keine individuelle Lebensplanung und Zielsetzung, keinen
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individuellen Lebensentwurf, k e i n e unverwechselbare Entwicklungsgeschichte, die sich der Schreiber mit seiner Erinnerungsarbeit im Tagebuch als Identität zuschreib e n könnte. D i e s e r b e d r ü c k e n d e A b l a u f der Lebenszeit in tief e m p f u n d e n e r Sündhaftigkeit und a n w a c h s e n d e m Schuldbewußtsein kann nur durch ein Ereignis v o n a u ß e n durchbrochen werden. D a s e r h o f f t e Erweckungserlebnis als G n a d e n g e schenk G o t t e s kann zwar durch die tägliche A r b e i t der »Selbstzerknirschung« vorbereitet aber nicht provoziert werden. A l s plötzlicher, rettender Eingriff in den A l l t a g der Selbsterniedrigung im Stand der S ü n d e und G o t t e s f e r n e bildet das Erweckungserlebnis den Horizont, der d e n Schreibprozeß antreibt. D i e früheste literarische Vorlage für d i e s e n unerwartet rettenden Eingriff G o t t e s bildet die B e k e h rungsgeschichte Augustinus', deren Vorbild die Erlebnisse der u m E r w e c k u n g Ring e n d e n bis ins D e t a i l nachgebildet werden. In seinen » B e k e n n t n i s s e n « heißt es: »Als vollends durch das tiefe Nachdenken mein ganzes Elend aus dem verborgenen Grunde auftauchte und sich vor dem Blick meines Herzens türmte, da ist ein ungeheurer Sturm aus mir hervorgebrochen, und ein ungeheurer Tränenstrom begleitete ihn. [...] Ich habe mich unter einen Feigenbaum geworfen, ich weiß nicht wie, und habe den Tränen freien Lauf gelassen. In Strömen brachen sie aus meinen Augen hervor, ein wohlgefällig Opfer Dir. Und ich habe zu Dir zu sprechen begonnen, wohl nicht mit diesen Worten, aber vielerlei in diesem Sinne: Und Du, o Herr, wie lange noch? Wie lange, Herr, willst Du beständig zürnen? Gedenk nicht unserer alten Sünden. Ich fühlte nämlich mich von ihnen immer noch gehalten, und voller Jammer schrie ich hinaus: Wann denn, wann denn? Morgen und morgen? Warum nicht gleich? Warum nicht in dieser Stunde das Ende meiner Schmach? Das sagte ich und weinte dabei in der bittersten Zerknirschung meinens Herzens. Und siehe, da höre ich aus dem Nachbarhaus eine Stimme, als ob ein Knabe oder auch ein Mädchen in singendem Ton immer wiederholte: >Nimm, lies, nimm, lies.< [...] Die Tränenflut war zurückgedämmt, ich erhob mich und begriff nur das eine, daß mir göttlich befohlen war, ein Buch zu öffnen und darin das erste Kapitel zu lesen, auf das ich stoßen würde. [...] Ich kehrte daher eiligst an den Platz zurück, wo Alypius saß: dort hatte ich den Band der Paulusbriefe liegen lassen, als ich aufgestanden war. Ich nahm ihn zu Hand, öffnete und las schweigend den Absatz, auf den meine Augen zuerst gefallen sind: >Nicht in Fressen und Saufen, nicht auf Lagerstätten und Unzüchten, nicht in Streit und Mißgunst; sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und pflegt den Leib nicht zur Erregung der Begehrlichkeit^ Weiter wollte ich nicht lesen, und es war auch nicht nötig, denn mit dem Ende dieses Satzes waren, als sei das Licht der Gewißheit in mein Herz gedrungen, alle Schatten des Zweifels im Augenblick zerstoben.« 5 1 Im religiösen B e k e h r u n g s t a g e b u c h findet nach Niggl e i n e » W i e d e r b e l e b u n g der augustinischen Tradition« statt, deren pietistische Variante in der L e b e n s b e s c h r e i b u n g Franckes z u m normativen religiösen B i o g r a p h i e s c h e m a d e s 18. Jahrhunderts u m g e schrieben wird: »Denn Francke hat seine Stationen: Sündenerkenntnis, Sündenangst, Glaubenszweifel, Erlösungswunsch, ringendes Gebet, dann plötzliche Erleuchtung und Glaubensgewißheit, in Gestalt eines kurzen, aber heftigen Bußkampfes und überraschenden Durchbruchs auf engem Raum dramatisch konzentriert. [...] Franckes Bekehrungsschema wird in der Fol-
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Aurelius Augustinus: Dreizehn Bücher Bekenntnisse. Übertragen von Carl Johann Perl. Mit Anmerkungen von Adolf Holl. Paderborn 1964. S.202ff.
gezeit vor allem als Grundlage für die Praxis pietistischer Tagebuchschreiber wichtig, die als Seelenprotokolle alle bei Francke vorgezeichneten Phasen der Erweckung durch tägliche Selbstbeobachtung herbeiführen und nachvollziehen sollen«. 52
In seiner »Bekehrungsgeschichte« schildert Francke das einschneidende Erlebnis seiner Erhebung in den Gnadenstand: »In solcher großen angst legte ich mich nochmals an erwehntem Sonntag abend nieder auff meine Knie, und riefte an den Gott, den ich noch nicht kante, [...]. Da erhörete mich der Herr. [...] So groß war seine Vater=Liebe, das er mir nicht nach und nach solchen zweiffei und unruhe des hertzens wieder benehmen wolte, daran mir wol hätte genügen können, sondern damit ich desto mehr überzeuget würde, [...] so erhörete er mich plötzlich. Denn wie man eine Hand umwendet, so war alle mein Zweiffei hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu«. 53
Immer wieder inszenieren die Tagebuchschreiber jene beispielhafte Bekehrungssituation, stellen den situativen Kontext nach und imaginieren ihre eigene Bekehrung. Bei Geliert heißt es: »O Gott, wie verderbt bin ich und wie wenig thue ich, meinem Verderben zu steuern und Deiner Gnade theilhaftig zu werden. Aber ist es an der Klage genug? Ich schlug heute im Gesangbuch den Vers unverhofft auf, der sehr zu meiner Lehre dient: Du sagst, ich ein Christ, dieweil ich Gottes Lehre ohn allen Menschentand sehr fleißig les' und höre etc, ja wohl lese und höre ich Gottes Wort, aber mit welcher Besserung, mit welchem Gehorsam ehre ichs?« 54
Die Hoffnung auf die Aufnahme in den Gnadenstand zu Lebzeiten treibt die Schreiber zur immer intensiveren, sich täglich steigernden Selbstbezichtigungen an, um dem ersehnten Bekehrungserlebnis den Boden zu bereiten. Immer wieder phantasiert sich der Tagebuchschreiber an die Schwelle zu jenem Ereignis, wenn er in tief empfundener Sündenschuld seine Seele für Gottes Einwirken bereit macht, in tiefster Selbsterniedrigung und bis zur Selbstverachtung gesteigerter Selbstverleugnung die größtmögliche Nähe zu Gott verspürt, ja sich selbst als Gott ähnlich erfährt. Hans R. G. Günther beschreibt diesen Prozeß in der »Psychologie des deutschen Pietismus«: »Denn die metaphysische Selbstdeutung des Pietismus erfaßt den eigenen Lebensgang als einen sich allmählich aufwärts bewegenden, höhere Stufen ersteigenden sittlichen Läuterungsprozeß, der bisweilen mit der absoluten Selbstvergottung abschließt.«55 Am 20. Januar 1761 berichtet Geliert: »Gegen Abend, da ich in der Bibel gelesen, stärkte mich Gott, der Allmächtige und Gnädige, merklich im Gebete und meinen Glauben an Jesum den allmächtigen Heiland. Ach, Herr, welche Barmherzigkeit! o vollführe um Christi willen das angefangene Werk. Laß
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Niggl. S. 156. Hermann August Francke: Anfang und Fortgang der Bekehrung. In: Beiträge zur Geschichte A . H . Franckes. Halle 1861. S.52f. Geliert. S.51. Hans R.G. Günther: Psychologie des deutschen Pietismus. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 4. Jg. IV. Bd. 1926. S. 153.
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mich Glauben und Vertrauen zu Deiner Barmherzigkeit in Christo gewinnen und wenns möglich ist, diese Tage die seligsten meines ganzen Lebens werden. [...] die selige Empfindung des vorigen Abends hielt noch an. Bitte Gott, meine Seele, daß er sie nicht von dir nehme, warte und pflege sie durch Gebet und Betrachtung des Leidens, des Todes und der unbegreiflichen Liebe Jesu Christi. Der Herr ist es, der in uns wirkt, das Wollen und Vollbringen des Guten; du, ja, du vermagst es nicht. Er muß dich durch den Glauben zu einer neuen Creatur machen; diese göttliche Kraft hat dir Christus erworben und er schenkt sie dir aus lauter freyer Gnade und will dein böses Herz gern reinigen und heiligen. [...] Da ich Abends um die Versicherung der Vergebung meiner Sünden und der Offenbarung Jesu Christi in meiner Seele gebetet hatte und in die Stube kam, um einen Bußpsalmen zu lesen, fiel mir das 12. Capitel Jesaiae ins Gesicht. Ich las die drey ersten Verse und ward innigst gerührt und weinte bitterlich [...]. Ich machte diese herrlichen Worte zum Inhalt meiner Beichte.« 56
Dieses emphatische Selbstgefühl herzustellen, die Geburt des anderen omnipotenten, göttlichen Selbst aus der Vernichtung der schlechten individuellen Existenz zu vollziehen, bemüht sich der Tagebuchschreiber tagtäglich durch das Fortschreiben seiner Leidensgeschichte in der Sündenexistenz. Nur selten und nur für einen kurzen, ekstatischen Augenblick gelingt entgegen Günthers Annahme die Imagination des neuen Selbst, dann dominiert wieder das Gleichmaß der Leidensgeschichte an der alten Existenz. Am 6. September notiert Geliert: »Ich ward ruhiger, der Vergebung meiner Sünden, der Gnade Gottes, des Verdienstes Jesu gewisser, hoffte auf sein Wort und empfand dieses herrliche Glück bis den 8. September, da Gott sein Angesicht wieder verbarg.«57 Keine Entwicklung innerhalb der persönlichen Bekehrungsgeschichte läßt sich daher in Gellerts Tagebuch für das Jahr 1761 ausmachen, sondern vielmehr das stetige Auf und Ab von Selbst- und Gottesferne neben wenigen, folgenlosen Augenblicken des vorweggenommenen Gnadenstandes der neuen Existenz, des vollkommenen, göttlichen Menschen. Zutreffend diagnostiziert Günther: »Das pietistische Selbstgefühl schwankt in beständiger Unstetigkeit zwischen höchster Gotterfülltheit und tiefster Gottverlassenheit« 58 zwischen »Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung«.59 Zu sich selbst kommen die Schreiber erst durch Selbstentäußerung. Ihr Persönlichkeitsideal kann sich nur durch den göttlichen Eingriff von außen erfüllen. Ohne ihn sind sie nichts. Selbstbewußtsein erlangen sie auf dem Wege der Selbstverleugnung als Geschenk eines anderen.
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Geliert. S.15ff. Geliert. S.91. Günther. S.154. Günther. S.166.
IV. Gebetstexte - Vom Dialog mit Gott zum Dialog mit der eigenen Seele
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»Im Namen des Herrn«: Albrecht von Hallers Tagebücher 1736-1747 und 1772-1777
Albrecht von Hallers Diarien liegen heute nur noch als Fragment vor. Seine von Heinzmann1 edierten Tagebücher umfassen einen Zeitraum von 42 Jahren. Sie zerfallen in zwei Teile: Die Tagebücher zwischen 1736 bis 1747 und 1772 bis 1777. Die Tagebücher aus den 25 Jahren zwischen 1747 und 1772 hat Heinzmann aus seiner Edition deshalb ausgeklammert, weil sie überwiegend in englischer Sprache verfaßt sind.2 Dies ist nicht der einzige Texteingriff in der Heinzmannschen Edition. Er selbst legt in seinem Vorwort zum Ersten Band des Tagebuchs das Ziel seiner Edition offen, wenn er davon spricht, daß es ihm um die Rehabilitation des Christen Haller gegenüber seinen Kritikern gehe.3 Unter dieser Perspektive selektiert er aus dem Tagebuchmanuskript alle auf Hallers religiöses Leben bezogenen Textstellen und schreibt den Text zu einem homogenen Tagebuch der Glaubenssuche um. Über Inhalt und Umfang des von ihm unterdrückten Textes gibt Heinzmann keine Auskunft. Dieses unwissenschaftliche, den ursprünglichen Text verstümmelnde Editionsverfahren Heinzmanns wiegt umso schwerer, da das Tagebuchmanuskript heute als verschollen gelten muß4 und damit eine Rekonstruktion der Tagebücher nicht mehr möglich ist. Neben den Reisetagebüchern Hallers, die in kritischen Editionen auf Grundlage der Handschriften vorliegen,5 bildet Heinzmanns unzulängliche, verfälschende Auswahledition die einzige Überlieferung der umfangreichen
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Albrecht von Haller: Fragmente Religiöser Empfindungen. In: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Hg. v. Johann Georg Heinzmann. Zweyter Theil. Bern, in der Hallerschen Buchhandlung, 1787. S.219ff. Im folgenden zitiert als Haller. 2 Heinzmann schreibt dazu in einer Fußnote: »Viele der folgenden Jahre sind in englischer Sprache verfaßt. Sie haben aber den gleichen Ton und die gleiche Stimmung des Herzens.« S. 266. 3 Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst. Erster Theil. Bern, 1787. S.XIII-XX. 4 Nach Auskunft der Forschungsstelle der Berner Universitätsbibliothek, in der der verstreute Hallernachlaß wieder zusammengeführt wurde, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die handschriftlichen Tagebücher Hallers durch die Familie, vermutlich seinen Sohn, vernichtet wurden. 5 Albrecht von Haller: Tagebuch seiner Studienreise nach London, Paris, Straßburg und Basel 1727-1728. Hg. von Erich Hintzsche. Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften. Bd. 2. Bern 1968.
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Tagebücher Hallers. Die Analyse des Texttorsos im Kontext religiöser Bekenntnistagebücher des 18. Jahrhunderts muß daher auf eine Interpretation des Textes als geschlossene Einheit verzichten, d. h. daß der Text ausschließlich als Fundstelle isolierter religiöser Reflexionen und Selbstaussagen verstanden werden kann, deren Bedeutung im Kontext des Ursprungstextes nicht mehr rekonstruierbar ist. Hallers Tagebuch kann als literarische Auseinandersetzung mit dem Seelenbegriff gelesen werden. In Hallers Person vereinigen sich noch einmal diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen und Künste, die im Laufe des Jahrhunderts immer mehr auseinanderdriften werden, um zuletzt ihre Unabhängigkeit von einander zu behaupten. Haller ist Naturwissenschaftler, Mediziner und Literat, eine Verbindung, die sich für ihn zunehmend als problematisch darstellen und Widersprüche auftreten lassen sollte, von denen sein Kampf um Selbstbeherrschung im Tagebuch ein letztes Zeugnis ablegt: Als Anatom hatte er maßgeblich an der Diskussion um den Seelenbegriff im 18. Jahrhundert teilgenommen. Seine Versuche zu den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers markieren das Ende der Einheit von Anatomie, Physiologie, Religion und Moralphilosophie, wenn Haller zwar Nerven und Gehirn für die Reizübermittlung und -Verarbeitung verantwortlich macht, die Seele aber nicht mit dem Gehirn gleichsetzt und auf ihrer immateriellen Qualität besteht. Seine Vorlesungsreihe »Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers« schließt er mit einer deutlichen Gegenposition zu seinem langjährigen persönlichen Widersacher la Mettrie:6 Unsere Seele aber ist es, welche sich bewußt ist, sich ihren Körper, und mit Hilfe des Körpers, die Welt vorstellet. Ich bin daher ich, und kein anderer, weil dasjenige, welches man ich nennet, von allem dem verändert wird, was meinen Körper und dessen Teilen widerfähret. [...] Und wenn ein Finger von meinen Körper abgeschnitten, wenn etwas Fleisch von meinem Schenkel weggenommen worden ist, so geht mich dieser Finger und dieses Fleisch nichts mehr an; ich stelle mir das, was diese Teile leiden, nicht mehr vor, ich habe keine Schmerzen von ihnen, es wird von ihrer Verletzung kein Gedanke mehr in mir erweckt. [...] Denn mein Wille, mein Gedächtnis, meine Einbildungskraft, mein Vermögen zu urteilen bleibt, nachdem dieser Finger abgeschnitten worden ist, noch vollkommen, es ist nichts von den Kräften der Seele mit ihm abgegangen; dieser unverstümmelte Wille aber kann nun nicht mehr in diesen Finger wirken: und gleichwohl bleibt dieser Finger reizbar. 7
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Die letzten Abschnitte dieser Streitschrift sind der Widerlegung la Mettries gewidmet: »De la Mettrie hat das neue Vermögen des tierischen Körpers zum Grunde des Lehrgebäudes gelegt, wodurch er die Immaterialität der Seele zu vernichten gesucht [...]. Aber des unglücklichen de la Mettrie Meinung wird durch meine Versuche widerlegt: denn wenn die Reizbarkeit in den Teilen übrig bleibt, die von dem Leibe getrennt, und der Herrschaft der Seele nicht mehr unterworfen sind; wenn sie sich allenthalben in der Muskelfaser befindet, auch der Beihilfe der Nerven nicht bedarf, die gleichsam die Bedienten der Seele sind: so ist die Seele von dem Bezirke der Reizbarkeit sehr unterschieden, und die Reizbarkeit kommt auch nicht von der Seele her; folglich ist es auch nicht die Seele, was wir in dem Körper die Reizbarkeit nennen.« In: Albrecht von Haller: Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers. Deutsch herausgegeben und eingeleitet von Karl Sudhoff. Leipzig 1922. S.57.
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A.a.O. S.37.
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Einerseits bedient sich die Seele bei Haller des menschlichen Organs Gehirn, durch das sie Empfindungen produziert und wahrnimmt, andererseits bleibt sie von diesem Körperorgan unabhängig, behält eine übergeordnete nicht mit den Methoden der Wissenschaft beschreibbare Qualität und Existenz. In seinen Auseinandersetzungen mit dem Materialisten la Mettrie und dessen Konzeption des »l'homme machine«, dem seelenlosen, triebgesteuerten Wesen, beschreibt Haller die Ergebnisse seiner vielfältigen Vivisektionen an Hunden, Ziegen, Fröschen und Ratten, ohne die beobachteten Nervenreaktionen und Gehirnfunktionen mit dem Seelenbegriff gleichzusetzen. Auch sein Tagebuch ist in diesem Sinne der Rettung eines unabhängigen, autonomen Seelenbegriffs gewidmet. Hier streitet der Moralphilosoph und Christ gegen den Physiologen und Materialisten. Gegen die Reizbarkeit der Nerven versucht Haller noch einmal die Seele als autonomes Korrektiv mentaler wie psychischer Abläufe zu setzen. Hallers Tagebücher zerfallen durch die Edition Heinzmanns in zwei deutlich von einander geschiedene Teile. Der erste, bei Heinzmann mit dem Jahr 1736 einsetzende Teil umfaßt die Tagebücher bis 1747. Sie scheinen durch die Auswahl Heinzmanns als Dokumente einer religiösen Bekehrungsgeschichte durch die familiären Schicksale Hallers, den Tod seiner ersten beiden Frauen und zweier seiner Kinder, motiviert zu sein. Während die Tagebücher des letzten Lebensjahrzehnts Hallers eigener Krankheitsgeschichte, seiner Vorbereitung auf den Tod, wie er es selbst nennt, seiner Existenz im Grenzbereich zwischen Leben und Tod,8 gewidmet sind.
1.1 Todesfälle Den frühen Tod seiner ersten Frau, Marianne Wyß, im Jahr 1736 erfährt Haller als einschneidendes Ereignis in seiner Lebensgeschichte, das die autobiographische Selbstreflexion im Tagebuchschreiben auslöst. Durch den Tod seiner Frau wird seine eigene Lebenssituation in Frage gestellt, der Verlust der Lebenspartnerin zwingt ihn zur Selbstreflexion und legt ihm die Revision seines bisherigen Lebens nahe. Die Verarbeitung der Todeserfahrung führt den Arzt Haller in den religiösen Diskurs des Tagebuchs9 ein und bestimmt in den folgenden fünf Jahrzehnten seine Selbsterfahrung. Der Tod bildet das Urmotiv seines Schreibens, er ist der erste und letzte Grund für das Einpassen der eigenen Lebensgeschichte in den religiösen Diskurs. Von ihm, dem unkalkulierbaren, sinnlosen Ereignis erhält die eigene Lebensgeschichte als Bekehrungsgeschichte ihren Sinn. In seinem Todesjahr bekräftigt er
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Zu Beginn seines Todesjahres vermerkt er ins Tagebuch: »Dennoch, o mein Gott, wie viel hab ich dir zu danken, daß du die Grenzen zwischen Leben und Tod so deutlich für mich ausgezeichnet, und mir Zeit und Muse wie aufgedrungen hast, mich zur Ewigkeit zuzubereiten.« Haller. S. 303. Vgl. dazu die Verarbeitung desselben Ereignisses im literarischen Diskurs, wie sie Anselm Haverkamp in seinem Aufsatz »Kryptische Subjektivität: Archäologie des Lyrisch-Individuellen« dargestellt hat. In: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp (Hg.) Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII. München 1988. S. 347-366.
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diesen Schreibanlaß seines Tagebuchprojekts noch einmal retrospektiv und unterstellt sein Tagebuch diesem Ziel: O so öfne meine Augen dem Lichte, du hast es schon mehr, du hast es schon in meiner Jugend gethan. Ich hab es in den Jahren 1736. und 1737. in einem lebhaften Grade empfunden, bin aber durch meine Schuld wieder zerstreut und unempfindlich geworden. Aber, o mein Gott, da nun bald keine Zeit mehr übrig seyn wird, da die Ewigkeit, dieser furchtbare Abgrund so nahe vor mir liegt, o so vergiß meiner vorigen Untreue, schenke mir den Glauben an dich, Vertrauen und Liebe zu meinem Erlöser, welches alles bey mir kalt und leblos ist. 10
Hallers Tagebuchführung folgt damit dem Ziel, die Erinnerung an den Tod im eigenen Bewußtsein wachzuhalten. Das Tagebuch erhebt ihn zur Grundlage seiner Existenz, zum verborgenen Sinn und letzten Ziel seines Lebens. Lebensgeschichte gerinnt in Hallers Tagebuch zu einer Geschichte der realen wie vorweggenommenen Todeserfahrung. In Hallers Tagebuch findet daher auch keine Entwicklung statt. Nur die plötzlichen Todesfälle bilden gewaltsame Einschnitte und Bruchstellen in dem sonst monotonen Ablauf der Tage und Jahre. Als lange, endliche Kette reihen sich die Tage und Jahre bis zum letzten biographischen Ereignis, dem Tod, in gleichbleibenden Wiederholungen aneinander. Jeden Tag konzipiert das Tagebuch als potentiell letzten Tag, jeder Tag folgt dem Schema des memento mori, der Konfrontation des Lebens mit seinem letzten Ziel, dem ewigen Leben. Haller reflektiert in seinen religiösen Selbstbetrachtungen immer wieder seine eigene Vorbereitung auf den Tod. Mit jedem Eintrag antizipiert er täglich sein Sterben, indem er seine reale Lebensführung einer ständigen Todesbereitschaft unterwirft. So scheitert jede Tagesreflexion am Ideal des christlichen Sterbens, der ausschließlichen Orientierung auf das jenseitige Leben, deren Voraussetzung der Verzicht auf »Eigensinn«, seine Selbstaufgabe, ist. Welchen Zwang der produktive, vielseitig tätige Haller sich selbst in der Reflexion seiner Lebensführung unter der Perspektive täglicher Todesbereitschaft antun mußte, belegen seine Klagen über die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Sein Engagement als Arzt und Professor für Medizin, seine wissenschaftlichen Studien, seine politische Tätigkeit als Ratsmitglied der Stadt Bern, seine literarischen Arbeiten unterliegen im Tagebuch des vorweggenommenen Sterbens dem Verdikt der Welt- und Selbstliebe. 1744 resümiert er resigniert sein Leben: Jahre vergehen, Unglücke drohen; schlagen ein oder verschonen. - Meine Frauen sterben in meinen Armen; meine Kinder gehen vor mir hier zur Ruhe; meine Schwachheiten klopfen und melden den Tod an; und ich schlafe, schlafe wachend, mit offenen Augen, und zwinge mich selbst da ich wache, zum Schlafe! Welche Verkehrtheit! o Gott; soll sie währen, so lange als ich selber währe! 1 1
Haller unterscheidet daher in seinem Tagebuch zwischen innerem und äußerem Leben. Was diese beiden Teile des Lebens miteinander verbindet, ist der Tod. Ihm al-
Haller. S.304f. " H a l l e r . S.259. 10
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lein gilt das Interesse des Tagebuchschreibers. Er ist die entscheidende, einschneidende Macht im äußeren Leben, im inneren wird er zum Zielpunkt und Erziehungsinstrument des religiösen Bekehrungsprozesses. Der Tod wird zum Parameter von Lebens- und Selbsterfahrung, der das Spektrum möglicher Selbstinterpretationen definiert. Hallers Lebensgeschichte in den Jahren 1736 bis 1747 reflektiert das Tagebuch daher ausschließlich unter der Perspektive des Todes. Ihn erfährt er als Eingriff von außen, als Schickung der göttlichen Hand: Mein ganzes Haus ändert sich. Das Beste ist todt, die andern Hausgenossen verlieren sich von mir und suchen ihr Glück anderswo. O daß ich je länger je mehr den Unbestand der zeitlichen Dinge erkennen und meine Augen nach der Ewigkeit richten könnte, wo wir eigentlich Bürger sind. Alles ist hier dem Wechsel unterworfen. Die schönsten Personen vernichtet ein Fieber, und macht sie zum abscheulichsten Aase. Unsre Eltern und ihre Freunde sterben von uns weg, und wenn wir niemand mehr über uns haben, so müssen wir selber von der Welt. 12
Der Tod nötigt dem Schreiber die Erfahrung seiner eigenen Endlichkeit auf und durchbricht die Selbsterfahrung einer unwandelbaren, immer gleichen Existenz. Im Jahr 1740 häufen sich die persönlichen Erinnerungsdaten des Todes, wechseln in schneller Folge einander ab. Am 16. Oktober wird Haller 33 Jahre alt, sein Geburtsdatum wird für ihn zu einem memento mori, einer verborgenen Todesdrohung. In seinem Tagebuch des inneren Bekehrungsprozesses kommt diesem Datum symbolische Bedeutung zu. Im Gebet richtet sich der Schreiber an den Gottessohn, in dessen Namen er hofft, die Schrecken des Todes in eine Geschichte der Erlösung uminterpretieren zu können: Heute gehe ich in mein drey und dreyßigstes Jahr. Ein betrübter Geburtstag für mich, da ich nicht nur von der Traurigkeit einen harten Anstoß gelitten, sondern auch im Geistlichen recht todt bin. O mein Gott bessere mich! denn ich vermag es nicht. Ich habe keinen Gefallen, keinen Geschmack an Gottes Worte! eine dürre=ängstliche Sorge umhüllet meine Seele. O lieber Vater, das ist keine Traurigkeit zum Leben, sie gehet zum Tode und Verderben. Ich trage nicht leid um meine Sünden, sondern um meine verlohrne Bequemlichkeit, um den Trost den ich missen muß, um mein zeitliches Elend. O Herr bessere mich! mache den Glauben wirksam; und gieb zum Geistlichen Leben Freudigkeit und Muth. Das thue o Heiland! um deinetwillen. Amen! 1 3
Nur die symbolische Ausdeutung der eigenen Lebensgeschichte als Abbild der Leidensgeschichte Jesu kann die eigene Biographie des allgegenwärtigen Todes vor dem Sturz in die Sinnlosigkeit retten. Der Tod seiner zweiten Frau im Jahr 1740, vier Jahre nach dem Tod der ersten, setzt bei ihm einen seltenen Erinnerungsprozeß in Gang, über den sich der Schreiber in seiner unverwechselbaren Individualität zu erkennen gibt. Das Datum des ersten Hochzeitstages am 22. August 1740 erlangt
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Haller. S.242. Haller. S.245.
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seine, der R e f l e x i o n im Text würdige, biographische B e d e u t u n g nur über den frühen T o d d e r zweiten F r a u vor d e m A b l a u f des ersten E h e j a h r e s : Heute ists ein Jahr, daß meine liebe Frau mit Freuden und Spiel in Göttingen angekommen. Welcher Unterschied, zwischen meinem jezt vereinödeten Hause! O du liebe Seele, wo du nur in den Händen des Schöpfers bist, so bin ich noch zufrieden mit meinem eigenen, wiewohl unvergnügten Zustande. Ich elender Mensch! Im Zeitlichen Angst und Kummer; im Ewigen Furcht und Zittern. 1 4 A m 3 1 . O k t o b e r v e r m e r k t H a l l e r den T o d e s t a g seiner ersten F r a u , die einen M o n a t n a c h der G r ü n d u n g des g e m e i n s a m e n H a u s h a l t s in G ö t t i n g e n stirbt, 1 5 n a c h d e m e r genau einen M o n a t v o r h e r seine B i o g r a p h i e d e r letzten vier J a h r e als G e s c h i c h t e d e r T o d e s e r f a h r u n g erinnert hatte: Heute sinds vier Jahre, daß ich hier lebe. In dieser Zeit ist mir gestorben meine erste Frau Marianne Wyß, mein Söhnlein Albrecht, meine zweyte Frau Elisabeth Bucher, und in meinem Hause noch Hr. Christen; alle diese sind vor Gott, ich aber bin mit den zwey Kindern noch übrig. 1 6 K a u m drei M o n a t e später verliert H a l l e r eines dieser beiden ihm verbliebenen Kinder: 8. Jän. Du hast mich wieder heimgesucht, mein Vater! Du hast mir ein einziges liebes und hoffnungsvolles Pfand meiner ehelichen Liebe entrissen. Im Zeitlichen hast du mich auch eines grossen Theils des Meinigen entblösset. 1 7 Mit d e m T o d des Kindes endet die Chronik der Todesfälle in der Familie Haller. Hallers Tagebuch, das e r mit d e m Ziel d e r inneren Wandlung, als E r z i e h u n g s p r o g r a m m der Seele beginnt, trägt zunächst die Z ü g e pietistischer B e k e h r u n g s g e schichten, bedient sich des Vokabulars pietistischer Selbst- und G o t t e s e r f a h r u n g : Durch den Tod meiner geliebten Frau Marianne, gebohrne Wyß, wurde ich in eine grosse Traurigkeit versetzt; und es wachte insonderheit mein Gewissen auf; als ich bedachte, wie man im Todeskampfe so sehnlich seufzet, über die Sünden, die man ohne Bedenken täglich thut. Ich erschrecke über die fürchterlichen Folgen eines unheiligen Lebens, und trachte mich zu bessern. 1 8 Selbsterfahrung und Selbstentwurf d e c k e n sich in Hallers T a g e b u c h mit d e m M o dell des pietistischen Persönlichkeitsideals. S o bezeichnet sich Haller als »unbekehrten, e l e n d e n M e n s c h e n « , 1 9 auf der S u c h e nach d e m » L i c h t der G n a d e « , 2 0
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Haller. S.243. Haller. S.245f.: »Heute ists vier Jahre, daß meine liebe Frau Marianne Wyß in die Ewigkeit eingegangen ist. Seit der Zeit habe ich viel erduldet. Ich hoffe sie hat überwunden.« Haller. S.244. Haller. S.247. Haller. S.221. Haller. S.232. Haller. S.224.
kämpft u m d e n echten, verinnerlichten G l a u b e n , das wahre Glaubenserlebnis. Er bittet G o t t u m ein »anderes Herz«, 2 1 propagiert radikale Selbstverleugnung, hofft auf »Zerknirschung« seiner selbst, kämpft g e g e n seinen Hauptfehler, die »Weltliebe«, 2 2 und die A n s p r ü c h e seiner individuellen Persönlichkeit an, sucht sie zugunsten einer auf religiöser Innerlichkeit basierenden Identität zu verdrängen. Nicht die B e g e g n u n g mit d e m e i g e n e n empirischen Ich im Versuch der versteh e n d e n Selbstaufklärung bildet die Grundlage der diarischen Selbstthematisierung, sondern die U n t e r w e r f u n g unverwechselbarer Individualität unter das normative Ich-Ideal der pietistischen Persönlichkeit, d e m sich das Schreiber-Ich in der täglic h e n diarischen Selbstkontrolle und -revision anzunähern und gleich zu w e r d e n sucht. D i e s e s Selbsterziehungsprogramm faßt Haller zu B e g i n n seiner Tagebuchführung zusammen: Vater reiche mir deine Hand, führe mich ab vom Weg des Verderbens worauf ich wandle[.] Nimm mich mir selber; nimm meinen Willen, mein Herz zu dir! O ich wollte es dir gerne geben. - Gib mir die Kraft, daß ich hinfort I. den Anfang und das Ende des Tages mit der Untersuchung meines Selbst und mit Übergebung meines Herzens mache; dann auch wohl etwas lese, was die Furcht Gottes bey mir rege machen könne II. Mit dem Gebet anfange und schliesse; III. Alle unnöthige unnütze Gesellschaften meide IV Alle meine Stunden entweder mit Studien oder mit dem Worte Gottes, oder mit einsamen Betrachtungen ausfülle; daß der Müssigang kein Weg zur Sünde werde. V. Gegen alle meine groben und feinern Sünden beständig kämpfe, auch mich darum enthalte des Geschwätzes, der Raillerie; unnöthiger Projekte, und daraus folgender hypothetischer Sünden. 2 3 A l s Kontrollinstrument, das die Einhaltung dieses h o c h g e s t e c k t e n Selbsterziehungsziels garantieren soll, wird die tägliche Tagebuchführung eingesetzt. Vor dies e m strengen Richter, d e m Stellvertreter des göttlichen Gesetzes, erklärt er: Ich will mit Gottes Gnade mein Leben anders einrichten. Wider Zorn, Lügen, Verläumdung, Hochmuth, Müssiggang, Üppigkeit und Weltliebe mich zur Wehr stellen. Gott Morgens und Abends bitten, daß er mir beystehe, in dem Kampfe, wo ich ohne ihn nichts vermag; die Gelegenheiten meiden, und mich bemühen, alle Morgen meine Entschliessungen zu erneuren; alle Abende meine Aufführung zu untersuchen, und zu trachten, daß ich entgehe dem Zorne Gottes, der bereitet ist den Unbußfertigen. 2 4
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Haller. S.222. Immer wieder übt Haller Selbstkritik wegen seinen vielfältigen Einlassungen in die konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen in seiner Umgebung. Eine Selbstcharakteristik schließt er z. B. mit den Worten: »Denn die Welt liebe ich, Hochmuth und insonderheit Unreinigkeit herrschet in meinen Gedanken. Ich habe Ursache zu zweifeln, ob etwas Gutes an mir sey.« Haller. S.222. Vgl. des weiteren: »Die Welt wird mir alle Tage angenehmer, und meine Lüste nehmen zu. Tod und Ewigkeit verliert sich aus meinen Augen. Ich habe kein Gefühl mehr von göttlichen Sachen. O beßer Kreuz als solcher Wohlstand! Ich bin auch nicht einmal ein rechter Heuchler mehr. Herr erbarme dich!« Haller. S.234. »Ich elender Mensch, wie sehr hängt mein Herz an tausend zeitlichen Kleinigkeiten. Ich suche Friede, wo keiner ist, im Gewühl von Büchern, von Arbeiten, von Projekten. Und den Geist, der in mir ist, der ewig bleiben wird - vergiß ich darob.« Haller. S.254. Haller. S.229. Haller. S.225f. 59
Das Tagebuch fungiert als Zeuge in diesem Selbsterziehungsprojekt, als »Sündenregister«25 dokumentiert es unnachgiebig die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit: Welch ein Elendes neues Jahr im Geistlichen! fast sehe und fühle ich nichts mehr von Gott. Zerstreut in weltlichen Sachen, ohne Eifer und Aufmerksamkeit; hängend an Ehre, Wollust und an allem Bösen, zufrieden mit den tröstlichen Zuredungen meiner Eigenliebe. O Herr erbarme dich meiner; denn ich bin eitel und falsch, eitel Heucheley. Gib, daß ich mich verläugnen und dir nachfolgen könne. 26
1.2 Bittgebete Hallers Tagebuch der inneren Selbstkontrolle und Seelenbildung ist bis 1747 viel mehr noch als »Sündenregister« und Gewissenserforschung Gebet. Wuthenow hat auf dieses Merkmal der frühen Tagebücher hingewiesen: »Das Journal wird zum Medium der Gespräche mit Gott.« 27 Sein tägliches Gebet in Tagebuchform richtet Haller unmittelbar an Gott. Hier adressiert Haller Bitten an den allmächtigen Vater. Seine Gebete folgen noch ihrer ursprünglichen Funktion, der unmittelbaren Bitte an ein allesvermögendes Gegenüber in der Hoffnung auf Erhörung und Erfüllung des Wunsches. Um Bekehrung zum wahren Glauben als Voraussetzung für die Wandlung seiner Person bittet Haller in fast endlosen Variationen mit kindlichem Vertrauen den übermächtigen Vater: Mein Gott, erbarme dich doch meiner! Da ich zu allem Guten selbst im Zeitlichen, mich so äusserst verdrossen finde. O Vater heilige mich, ändere meine böse, ganz ans Eitle festgewachsene Natur. Hilf mir, daß ich doch an dich, an den Tod, an die Ewigkeit denken könne, und nicht ganz ein Heide werde. 28
Als »unerfahrnes Kind«29 bezeichnet sich noch der greise Haller gegenüber seinem allmächtigen Vater. Im Bittgebet sind die Rollen der Gesprächspartner eindeutig und unveränderlich festgelegt: Ein unselbständiges, abhängiges Wesen spricht ohne Garantie auf Gehör den fernen, omnipotenten Urheber seiner Existenz an. Das Bittgebet nötigt den Sprechenden zur Selbsterniedrigung vor der schweigenden Macht. Die Verleugnung der eigenen Selbständigkeit ist die Voraussetzung und Vorbereitung für die Ansprache des ungleichen Partners. Haller beschreibt diese Funktion des Gebets in seinem Tagebuch: »Das Gebet ist ein Hilfsmittel wider Sicherheit und Stolz, es ist ein sanftes und kräftiges Band mit Gott.« 30 Ist diese Voraussetzung erfüllt, hat der Bittende im Gebet seine Selbsterniedrigung, die Verleugnung seiner selbst vollzogen, so hat er sich selbst im Akt des Betens seine Bitte
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Haller. S.231. Haller. S.231f. Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Darmstadt 1990. S.62. Haller. S.255. Haller. S.272. Haller. S.300.
erfüllt. In der kindlichen Selbstunterwerfung unter den imaginierten Willen des allmächtigen Vaters sucht der Sprechende den Kontakt zu dem idealisierten alter ego. Als Bittender bleibt er ohne Antwort und wird erneut auf sich selbst zurückgeworfen. Hallers Versuche, sich selbst im Dialog mit Gott zu wandeln, müssen daher scheitern. Immer wieder führt er seine Klage über seine Unfähigkeit zu beten: »Herr, beseele mein todtes Gebet«, 31 bittet er. An anderer Stelle muß er bekennen: »Es scheint bey mir am Gebete zu fehlen, wozu ich eine grosse Schläfrigkeit fühle.«32 »Elendes Gebet, ohne Kraft und Glauben«, 33 verzeichnet er am 29. Dezember 1736. Kurz vor seinem Tod hat sich an dieser Situation nichts geändert: »Beten kann ich nicht, wie ich beten sollte«,34 diagnostiziert er und bittet ein letztes Mal: »O so schenke mir den Geist des Gebets«.35 Radikaler als je zuvor gesteht Haller am Ende sein Scheitern ein: Und dennoch bin ich gegen diesen göttlichen Erlöser so lau, so fühllos. Dies ist mir unbegreiflich und fast unerträglich; denn da kein andrer Name gegeben ist... was hilft mir mein äusserliches Christenthum, wenn ich diesen Namen nicht anrufe, nicht voll Dank gerührt anrufe! 36
Er erkennt seine Bitten zu Gott als das, was sie immer waren: leere, tote Formeln wie die Buchstaben des Tagebuchtextes, ein simulierter Dialog, der ohne Antwort bleibt. Mit seinem Scheitern im Gebet mißlingt zugleich das Projekt seiner Tagebuchführung. 1744 äußert sich Haller zum ersten Mal kritisch gegenüber dem Ziel religiöser Selbsterfahrung im diarischen Schreibprozeß: Vielleicht wäre es besser, wenn ich nur lieber nichts mehr hier aufzeichnete. Was ist es alles, als halbes, kaltes, laues Gesetzwerk! Ist etwas an meinem Gemüthe gebessert oder geändert? Habe ich mehr Demuth, mehr Liebe für den Nächsten, mehr Gefühl von Gott und den Heiland! Ist nicht selbst diese Schrift eine Heucheley! 37
Was Haller hier ausspricht, ist ein tiefes Unbehagen an dem normativen Persönlichkeitsstereotyp religiöser Innerlichkeit, dem er sich mit seiner Tagebuchführung zu unterwerfen versucht. Das Tagebuch entlarvt er als »Heucheley«, seine Selbsterforschung als »laues Gesetzwerk«, ohne sich von dem Vorbild religiöser Seelenanalyse im Nachvollzug idealtypischer Bekehrungsbiographien lösen zu können. Haller gelingt es nicht, der konsequenten Depersonalisation in der formelhaft-religiösen Introspektion die Konstruktion einer eigenen, individuellen Lebensgeschichte als neues Ziel diarischer Selbstanalyse entgegenzustellen.
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Haller. Haller. Haller. Haller. Haller. Haller. Haller.
S.244. S.241. S.223. S.309. S.315. S.295. S.259. 61
Als genauer Beobachter seiner selbst revoltiert Haller im Tagebuch insgeheim gegen das pietistische Persönlichkeitsideal, der durch Leiden erlangten Wiedergeburt in der Bekehrung zum wahren und tiefen Glauben. Der Arzt Haller erfährt während seiner langen Krankheit an der eigenen Person die religiöse Leidensapologie als zerstörerische Selbsttäuschung: Und dennoch überzeug ich mich durch tägliche Erfahrung, daß es noch viel unmöglicher ist, sich unter dem Drucke der Krankheiten und Schmerzen zu ernstlichen Gedanken und Überlegungen zu erheben, da der Körper selbst die Seele zerstreuet, und daß mit Gott umzugehen keine Zeit geschickter ist, als die Zeit der Gesundheit und der Ruhe! 3 8
Die naiv-kindliche Ansprache Gottes im Bittgebet der früheren Jahre findet sich in Hallers spätem Tagebuch seiner langen Krankengeschichte nicht mehr. Sie weicht nur noch notdiirfig kaschierten religiösen Bittformeln ohne innere Beteiligung des Schreibenden, oft versucht sich der Schreiber durch konjunktivische Gebetsvorschläge zum Gespräch mit Gott zu motivieren. Nur noch indirekt kann sich der in seinem Bekehrungsprozeß desillusionierte Haller an den fernen Gesprächspartner wenden: Was soll ich thun, o mein Herr und mein Gott! dich anrufen, daß du dein Licht in meinem Herzen wollest aufgehen lassen, und mir zeigen mögest, was der grosse Endzweck meines Daseyns sey, nemlich dich zu kennen, dich zu lieben, deinen Befehlen zu gehorchen, und deine Gnade über alles zu suchen. 3 9
Im monotonen Wiederholen der Glaubensforderungen versucht Haller sich ein letztes Mal selbst zu überzeugen. Seine Tagebuchführung wird ihm daher immer mehr zur äußerlichen Pflicht, zu deren Erfüllung er sich zwingen muß: Diese wenigen Zeilen zu schreiben habe ich mich selbst heute kaum bereden können. [...] Den ganzen Tag, die Ruhezeit, jeden Augenblick meines Lebens, besitzt meine unruhige Werksucht; die ich zu nichts brauche als mich zu hindern, daß ich mich selbst nicht einsehen möge. 4 0
Wenn Haller schon früh Zweifel an der Zielsetzung seiner Tagebuchführung befallen, so kann er am Ende nur das Scheitern des Selbsterziehungsprozesses konstatieren: Eben die Kälte, die Abgeneigtheit, mich selbst zu prüfen, in mich selbst zurückzukehren, und die Schande vergangener Zeiten durchzusehen. [...] Ich soll schreiben, und weiß nicht was. Mein Gemüthe ist so trocken, so verwirrt, daß ich nicht weiß, was ich sagen soll. Und doch muß ich von meiner Seele und ihrem Zustand reden, der mich am meisten beschäftigen soll. 41
Weiter unten gesteht er:
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Haller. Haller. Haller. Haller.
S.280f. S.270. S.252f. S.270f.
Mein Verstand nimmt deine Verheissungen an, mit Mund und Feder gesteh ich es. Aber fühle ich dieses alles im Herzen. - Nein, der Glaube, der mich über alle Zweifel und Schrecken wegen der Zukunft erheben sollte, fehlt mir. 42
Haller gelingt es nicht, den selbstgesetzten normativen Anspruch im Schreiben umzusetzen, über all die Jahre seiner Tagebuchführung zerfällt er in zwei nicht zu vereinbarende Personen: die empirische Person des »äußeren« Lebens und die fiktive des Ich-Ideals aus dem Tagebuch. Guthke charakterisiert Haller in diesem Sinne durch die »bleibende[.] Spannung im Weltanschaulichen: Wille zur Geborgenheit in der hergebrachten theologischen Bindung einerseits, Macht und Anspruch der autonom erkennenden und autonom fühlenden Person andererseits.« 43 Seine Zweifel an dem äußerlich bleibenden religiös gestimmten Selbstkonzept kann er nicht produktiv nutzen. Als Anfrage an sich selbst, dokumentieren sie sich dennoch vorsichtig. So bleibt sich Haller entgegen seinem ursprünglichen Ziel im Tagebuch selbst ein Rätsel: Meine Krankheit nimmt nicht ab, und scheint nicht abnehmen zu wollen; sie wird vielleicht der Weg seyn, auf welchem ich in die Ewigkeit gehn soll. Und bey dieser ernsten Aussicht kann ich mich dennoch nicht von der Welt abziehen, nicht zu Gott gewöhnen, nicht an dem Einzigen arbeiten, das in der tiefen Dunkelheit mein Trost seyn soll. In dem Menschen ist etwas unbegreifliches. 44
Damit wird dieses Eingeständnis der Unbegreiflichkeit, der Dunkelheit der eigenen Existenz zur einzigen auf Selbständigkeit gegründeten negativen Selbstaussage des Textes. Wenn er am Ende angesichts des »grauenvollen Thals des Todes« sich selbst durch die imitatio Christi in die Heilsgeschichte einzuschreiben versucht, so in der letzten Hoffnung, im vertrauten Muster das Grauen vor dem Unbekannten bannen zu können: O mein Heiland, sey du in diesem für mich so fürchterlich feyerlichen Augenblicke mein Fürsprecher, mein Mittler; wirke du bey deinem und meinem himmlischen Vater meine Begnadigung aus. O schenke mir doch den Beystand deines Geistes, der mich durch das grauenvolle Thal des Todes führe, daß ich, wie du, mein Erlöser, mit meinen sterbenden Lippen triumphierend und glaubensvoll ausrufe: Es ist vollbracht! Vater in deine Hände befehl ich meinen Geist! 45
Der sowohl als Autor wie als Erzieher seiner selbst erfolgreichere Tagebuchschreiber und Zeitgenosse Geliert wird zum bewunderten Vorbild für den vielseitig engagierten Arzt, Schriftsteller und Politiker Haller. 1772, drei Jahre nach Gellerts Tod, zweifelt Haller immer radikaler angesichts seines nahen Todes am Gelingen seiner eigenen Bekehrungsgeschichte:
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Haller. S.313. Karl S. Guthke: Albrecht von Haller. In: Deutsche Dichter. Bd. 3. Aufklärung und Empfindsamkeit. Hg. von Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Stuttgart 1988. S.78. Haller. S.289. Haller. S. 319.
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Ich lese den redlichen Geliert. Aber warum kann ich nicht sterben wie er, der eben auch sieche und beständig kränkelnde Mann! Etwas kann ich einsehen; es scheint der Redliche hatte sich vor groben Sünden, und von der Herrschaft derselben rein gehalten; und der verdient es, wer Gott verlässet, daß er auch wieder von ihm verlassen werde. 46
Was Haller im Gegensatz zu Geliert nicht gelingt, ist die Transformation des Dialogs mit dem idealen alter ego in den Selbstdialog im Gebet. Für Haller bleibt das Ich-Ideal der allmächtigen Vaterfigur eine ihm fremde, äußerliche Instanz. In seinen Gebeten der täglichen Tagebuchführung kann er diese Instanz nicht zu einem eigenen Ichanteil machen, den fernen Gott nicht als »Gott in uns« begreifen. Aus diesem Grunde scheitert auch sein Tagebuchprojekt: Es bleibt äußerliche, seinem Selbst fremde Pflichterfüllung, Nachvollzug eines fremden Selbstverständnisses ohne zum Ausdruck eigenen Selbsterlebens werden zu können. Dagegen gelingt Geliert die Integration des religiösen Persönlichkeitsmodells ins eigene Selbstbild im Schreibprozeß. Seine Tagebuchführung wird ihm zur intensiven, gesteigerten Selbsterfahrung, zur Feier seiner Selbst im Schreibakt. In Gellerts Gesprächen mit Gott, die eigentlich Selbstgespräche sind, zelebriert er sich selbst. Im fiktiven Dialog mit seinem besseren Ich, dem internalisierten allmächtigen Vater-Imago, kommt er zu sich selbst, erfährt sich im Negativ der religiösen Selbstverleugnung mit sich identisch. Die Anstrengung der Selbstauslöschung im Schreibakt erfährt er als ungebrochenes Selbsterlebnis.
2. Der heilige Seelentext: Christian Fürchtegott Gellerts Tagebuch aus dem Jahre 1761 Gellerts Tagebuch aus dem Jahr 1761 ist das einzige erhaltene aus seiner langjährigen und lückenlosen Tagebuchführung. 47 Der Herausgeber Weigel gibt den Text der Handschrift nach eigenen Angaben ohne Kürzungen und Eingriffe »streng nach der Schreibweise Geliert's« 48 wieder. Über den Verbleib der Handschrift aus Weigels Besitz ist nichts bekannt. Sie muß wie alle weiteren Tagebuchmanuskripte Gellerts als verschollen gelten. Der Gellert-Nachlaß in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden enthält keine Tagebücher, allerdings ein umfangreicheres Textkonvolut täglicher Aufzeichnungen, die aus Zitaten und Exzerpten seiner Bibellektüre, aber auch aus philosophischen und religiösen Schriften sowie Sentenzen, Aphorismen und Lehrgedichten bestehen. Diese sporadischen Aufzeichnungen stellen eine Art Arbeitstagebuch der Chronik täglicher Beschäftigung dar. Die Notizen sind zum Teil datiert und umfassen den Zeitraum zwischen dem 10. November vermutlich 1756 und dem 8. März 1759. Die Aufzeichnungen beziehen sich ausschließlich auf die Monate zwischen
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Haller. S.294f. T.O. Weigel (Hg.): Chr. F. Geliert's Tagebuch aus dem Jahre 1761. Zweite unveränderte Auflage Leipzig 1863. Im folgenden zitiert als Geliert. Geliert. S.IV.
September und März, die Sommermonate fehlen ganz. Möglicherweise führte Geliert dieses Arbeitstagebuch nur während der Monate seiner Lehrtätigkeit in Leipzig. Das Jahr 1761 ist innerhalb Gellerts Biographie in beruflicher Hinsicht ein bedeutendes Jahr. 1761 erlangt Geliert endlich, acht Jahre vor seinem Tod, durch eigenes Betreiben eine gesicherte Pension der Leipziger Universität, nachdem er aus gesundheitlichen Gründen die Übernahme eines Lehrstuhls für Aristotelische Logik abgelehnt hatte. 1761 liegen aber auch die Jahre seiner intensiven schriftstellerischen Tätigkeit bereits hinter ihm. Trotz des großen Erfolgs seiner Schriften und der Popularität seiner Person hatte er sich 1757 mit der Publikation seiner »Geistlichen Oden und Lieder« als literarischer Autor verabschiedet. Die unrechtmäßige Publikation des Briefwechsels mit Rabener ist daher auch die einzige Veröffentlichung des Jahres. Beide Ereignisse, die Erlangung der Pension wie die Publikation des Briefwechsels, erwähnt das Tagebuch nur am Rande. Dagegen nimmt Gellerts Versuch, seine gefährdete Gesundheit in den Sommermonaten 1761 durch den Aufenthalt auf verschiedenen Landgütern befreundeter Familien zu stabilisieren, einen breiten Raum ein.49 Grundsätzlich dient aber das Tagebuch von 1761 der religiösen Selbsterfahrung und Selbstreflexion seines Autors. Ereignisse des äußeren Lebens werden nahezu konsequent ausgeklammert. Nur in den ersten Monaten des Jahres 1761 vermerkt Geliert noch stichwortartig ohne näheren Kommentar tägliche Beschäftigungen wie Besuche, Korrespondenzen, Lehrtätigkeiten. 50 Anfangs dokumentiert das Tagebuch das Jahr 1761 fast lückenlos. Geliert bemüht sich hier um eine tägliche Tagebuchführung. In der zweiten Jahreshälfte weist das Tagebuch zunehmend Lükken in der täglichen Führung auf. Der Monat Juni, in dem sich Geliert zu einer Brunnenkur außerhalb Leipzigs befindet, enthält nur zwei Eintragungen. Für den Oktober findet sich nur eine Eintragung, der November fehlt ganz. Das Tagebuch schließt mit einer Jahresbilanz im Hinblick auf die innere Entwicklungsgeschichte seines Schreibers. Vorangestellt finden sich eine tabellarische Übersicht über die finanziellen Verhältnisse in diesem Jahr und eine kurze Dokumentation der »Todesfälle meiner Freunde und Bekannten«. 51
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Vgl. zur Biographie Gellerts: Heidi John, Carina Lehnen, Sibylle Späth: Gellerts Leben. Eine Übersicht. In: Bernd Witte (Hg.): »Ein Lehrer der ganzen Nation«. Leben und Werk Christian Fürchtegott Gellerts. München 1990. S. 11-29. Am 13. Januar notiert Geliert z.B.: »Laß in Kockens Buche - hielt um 10 Uhr Stunde gieng um 11 Uhr spazieren, redte mit Lehningern und dem jüngsten Schönfeld unterwegs aß wieder mehr, als ich vielleicht sollte, gieng spazieren - Frau aus Halberstadt, der ich ein Memorial überreichen sollte, an den König - Brief von Dr. Tillingen wegen Gutmanns, der mich demüthigte - Schneiders Besuch, der ein Missionarius werden möchte - der junge Grundig war bey mir - gieng zu Dr. Tillingen.« Geliert. S. 11. Geliert. S. [1]
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2.1 Körper, Herz und Seele: Die Philosophie des Herzens Gellerts religiösem Bekenntnistagebuch ist der Begriff autonomer, unverwechselbarer Individualität als Selbstbeschreibungsmuster noch fremd. Dagegen versteht der Autor sich als abhängiges, unselbständiges Wesen, als unvollkommenes Abbild Gottes, als Gefäß des göttlichen Willen, als Eigentum Gottes. In Gellerts Selbstverständnis zerfällt die Person in den Leib, die Seele und das Herz. Das Herz bildet die vielseitigste Metapher für die Selbsterfahrung des empfindsamen, aufgeklärten Christen und vertritt damit die Stelle des modernen Selbstbewußtseins. Es ist die zentrale Metapher der Empfindsamkeit, in der das Selbstverständnis der Person zusammenfließt. Um Herzensbildung geht es daher im Bekehrungsprojekt der Tagebuchschreiber. Soll sie gelingen und nicht äußerliches Bekenntnis bleiben, so muß sie ins Herz treffen. So klagt Haller ζ. B. über den Zustand seines Herzens: »Wie falsch, wie irrdisch, wie unfähig aller inneren Triebe ist mein Herz!«52 Das Herz steht in der Mitte zwischen Leib und Seele. Seine Aufgabe ist es, die getrennten Teile zu verbinden. Durch das Herz wird der Mensch zur Person. Als metaphorischer Begriff erweist es sich als offener und vielseitiger Definitionsraum. So bietet ζ. B. Adelung eine Vielzahl von Bedeutungsvarianten für die Herzensmetaphorik an, die das gesamte Spektrum aufklärerischer Selbstbeschreibungsversuche zusammenfaßt. Ohne Angabe von Quellen definiert er mit der Autorität der Tradition »von den ältesten Zeiten an« das Herz als »Sitz der Seele und besonders des Willens und der inneren Empfindung« 53 und fügt die folgenden Bedeutungsvarianten hinzu: »die Gedanken, die innern Vorstellungen der Seele«, »die innern Empfindungen, das Begehrungsvermögen, der Wille [...], das Gemüth« 54 und zuletzt »das Gewissen«.55 Auch Zedier setzt das Herz als »geistliche Substanz«, dem Ort der »Gedanken und Begierden« mit der Seele gleich, fügt allerdings eine bedeutende Erweiterung des Begriffs hinzu, wenn er das Herz als »Gedächtnis«56 des Menschen bezeichnet. Im metaphorischen Sinne ist es das wichtigste, umfassendste »Sinnesorgan« des Menschen. Das Herz fungiert als Sammelbegriff für die unterschiedlichsten Vorstellungen dessen, was Personalität im 18. Jahrhundert konstituiert. In der Herzensmetaphorik artikuliert sich der selbstreferentielle Diskurs der Zeit. Welche Bedeutungen mit der offenen Metapher konnotiert werden, hängt von der Entwicklung des Selbstverständnisses der Schreiber ab und determiniert gleichzeitig ihre Möglichkeiten und Grenzen der Selbsterfahrung und -beschreibung.
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Haller. S.290. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweyter Theil. Wien 1807. Sp. 1145. Adelung. Sp.1146. Adelung. Sp. 1147. Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Halle und Leipzig, verlegts Johann Heinrich Zedier 1732-1754. Reprint Graz 1961-1964. Bd.36. S.553.
Bei Geliert ist das Herz kein unabhängiger, freier Besitz des Menschen, sondern Teil der Schöpfung Gottes. Damit trägt es Gottes Handschrift, mehr noch: im menschlichen Herzen manifestiert sich Gott selbst, ist unwiderruflich präsent. Das Herz als Organ göttlicher Schöpfung ist der Garant für die Nähe zu Gott, macht den Menschen ihm ähnlich, bildet die Voraussetzung für die Verständigung mit ihm, ist das Bindeglied zwischen den ungleichen Partnern. Es ist seinem Einfluß unterworfen, ohne ihn wäre es bewußtloser Teil der Natur, reines Körperorgan. Der Seele verwandt, aber vielseitiger und aktiver als diese, ist das Herz als übergeordnetes, hochentwickeltes Wahrnehmungsorgan Instrument praktisch-sinnlicher Erkenntnis, Sitz des freien Willens, der Leidenschaften, der Empfindungsfähigkeit, des Gewissens und damit des moralischen Sinns. In der Herzensmetaphorik beschreibt sich das empfindsame Individuum als Zwitterwesen. Zum einen ist es Teil göttlicher Natur und zum anderen frei handelndes, in die Selbstverantwortung entlassenes Wesen. Geliert hat seine Herzensphilosophie in seinen »Moralischen Vorlesungen« entwickelt. Hier knüpft er an die englische Philosophie Hutchesons und Shaftesburys an. Im Jahre 1756 hatte Lessing das aus dem Nachlaß veröffentliche »System of Moral Philosophy«57 Francis Hutchesons übersetzt, desjenigen Aufklärers, der in der Tradition Shaftesburys stehend, als Repräsentant der Moral-sense Theorie in Europa Geltung erlangen sollte. Gellerts Moral zeichnet sich bereits in ihrer Grundlegung durch den von Hutcheson vorgedachten Versuch aus, der aufklärerischen Vernunftemphase durch einen harmonischen Ausgleich von Herz und Verstand, Sinnlichkeit und Vernunft, Seele und Geist zu begegnen. So zielt aufklärerische Moral gleichzeitig auf zweierlei, nämlich die Bildung des »Verstand[es] zur Weisheit« und des »Herzjens] zur Tugend«,58 wobei es Geliert in seinem System fast ausschließlich um den zweiten Fall, um die »Tugend des Herzens« geht. Das Herz als Sitz des Gewissens, der geregelten Sinnlichkeit, ist der Ort, wo moralische Urteile und Handlungen verankert sind und ihren Ursprung haben. Geliert geht sogar noch einen Schritt weiter als Hutcheson, 59 wenn er von einem Erkenntnistrieb des Herzens oder Gewissens spricht. Denn dem Herz als Sitz der Seele und damit des Gewissens kommt, wenn es um sein Urteilsvermögen geht, letzte Wahrhaftigkeit zu, d.h. seine Urteile sind unhintergehbar wahr. Zum anderen kann Geliert über diese Prämisse eine bestimmte Form sinnlicher Wahrnehmung zum vornehmsten und bedeutendsten Erkenntnisinstrument aufwerten. Er bezieht damit im Streit um den Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft, der das gesamte 18. Jahrhundert bestimmt, eindeutig Partei zugunsten der
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A System of Moral Philosophie, In Three Books, Written by the late Francis Hutcheson, L. L. D. Professor of Philosophy in the University of Glasgow, Published from the original manuscript by his son Francis Hutcheson, M. D., To which is prefixed some Account of the life Writings, and Character of the Author, by the Reverend William Leechman, D. D., Professor of Divinity in the same University, 2 vols. London 1755. C.F. Gellerts Schriften. Bd. VI. Moralische Vorlesungen. Hg. von Sibylle Späth. Berlin, New York 1992. S.9. Moralische Vorlesungen. S.41.
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sinnlichen Erkenntnisformen. Freilich geht es hier nicht um die theoretische Rechtfertigung einer regellosen, wilden Sinnlichkeit, sondern vielmehr um das in einem lebenslangen Erziehungsprozeß trainierte Empfindungsvermögen. Wenn Geliert die Ausbildung einer auf moralischen Grundsätzen basierenden Gemeinschaft an die Selbstaufklärung und -reflexion des Individuums bindet, so liegen hier die diskursiven Voraussetzungen für die diarischen Selbstdefinitionsversuche. Daß theologische Aufklärung sich dem vorrangigen Ziel der »Erziehung des Menschengeschlechts« verschrieben hatte, hat zuletzt Walter Sparn nachgewiesen: Die theologische Aufklärung hat daher ein authentisches pädagogisches Motiv, und sie teilt von sich aus die erzieherischen und im besondern auf die Verbesserung der Erziehung gerichteten Absichten, welche die Aufklärung des 18. Jahrhunderts geradezu ausmachen. 60
Dieser Erziehungsprozeß setzt beim Individuum an, indem er jeden einzelnen zu befähigen versucht, eigenverantwortlich seine Selbsteuerung zu übernehmen. Die Ausübung dieser Fähigkeit setzt die Bereitschaft zur ständigen Selbstbeobachtung und -analyse voraus, um sich und den anderen in seiner unverwechselbaren Eigenheit, den verborgensten Handlungsantrieben und Reaktionsmustern kennenzulernen. Deshalb lautet in Gellerts Moral auch die fünfte Regel »zur Tugend zu gelangen und sie zu vermehren«: 61 »Bemühe dich früh, von deinen ersten Jahren an, die Welt, die Menschen, dich selbst kennen und immer genauer kennen zu lernen.«62 Wie weit die Masse seiner Zeitgenossen noch von dem Ziel der Selbstaufklärung entfernt war, beklagt Geliert in diesem Zusammenhang: Wie wenig wir von Jugend auf angeführt werden, uns selbst kennen zu lernen, unsre Schooßneigungen, unsre Schwachheiten und guten Eigenschaften, die Kräfte, die wir zu den Geschafften des Lebens empfangen haben, den Mißbrauch derselben, dem wir so leicht ausgesetzet sind, die besondre Lebensart, die wir wählen sollen, und die doch einen großen Einfluß in unser Glück, oder Unglück haben wird, je nachdem wir verständig oder betrüglich wählen; dieses ist durch die Erfahrung nur zu sehr bestätiget. 63
Daher empfiehlt Geliert nachdrücklich allen seinen Zuhörern ein Tagebuch mit dem Ziel der Selbstaufklärung und -kontrolle zu führen: »Halten sie sich, wenn Sie Zeit genug dazu gewinnen können, ein Tagebuch über Ihr eigen Herz, und stellen Sie wenigstens einmal in der Woche eine genaue Prüfung Ihres Verhaltens an.«64 Gellerts umfangreiche Moral ist der Syntheseversuch zwischen protestantischer Moraltheologie und aufgeklärter Empfindsamkeit und tritt mit dem Anspruch einer praktischen Lebensphilosophie auf. Ihre Methode bezieht sie allerdings ausschließlich aus den Regeln des theologischen Diskurses, sie verfährt ohne Einschränkung deduktiv, normativ und dogmatisch.
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Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. S.39f. Moralische Vorlesungen. S. 131. Moralische Vorlesungen. S. 189. Moralische Vorlesungen. S.202f. Moralische Vorlesungen. S.91.
Gellerts Tagebuch bietet zu diesem System das praktische Beispiel. Es markiert die Differenz zwischen Theorie und Praxis, spricht vom Leiden an der Theorie aus der Erfahrung ihrer Uneinlösbarkeit. Die Entfernung des Herzens von Gott bedeutet Selbstverlust, das Verlöschen von Identität, die sich einzig und allein aus dem Sichtbarwerden der göttlichen Natur im Menschen herleitet. Das Verschließen des Herzens vor Gott, die Hartherzigkeit, erfährt der Schreiber als Ichkrise. Immer wieder versucht Geliert in seinem Tagebuch sein Herz zu »erforschen«, zu »wandeln« und zu »erneuern« und bittet Gott um Erneuerung seiner Person, um das Identischwerden mit ihm: »Ach Gott, ich bin ein Sünder, nimm meines Herzens Härtigkeit von mir und meinen Unglauben, und gieb mir doch um Christi willen ein neues gewisses Herz.« 65 Die »Unruhe des Herzens«, 66 das »schwermüthige und harte Herz«,67 das »starre Herz« ohne Empfindungsfähigkeit kennzeichnen den Zustand der Gottesferne und damit den Selbstverlust: »Der ganze Tag elend, mein Herz verließ mich und war nichts Gesundes an meinem Leibe.«68 Nur Gott selbst kann diesen Zustand beenden, wenn »er dein Herz zerknirscht und neu gebildet hat«.69 Das »Verderben« des Herzens, seine »Greuel«, 70 ebenso wie das »unbekehrte Herz« 71 sind gleichbedeutend mit dem Sturz in die Sinnlosigkeit, Leben wird in der täglichen Revision einer heillosen Herzensverfassung »unfruchtbar« und »elend«.72 Ganz im Sinne der pietistischen Wiedergeburtslehre interpretiert Geliert den Zustand seines Herzens und damit die Verfassung seiner Person. Sie entsprechen dem Stadium vor dem Einwirken der göttlichen Gnade, die das an seiner Sündenschuld leidende Individuum erst in einem Erweckungserlebnis in den Stand der Wiedergeborenen, wahrhaft Gläubigen und Gottesnahen versetzen soll. Hans R. G. Günther hat die Ichpsychologie des deutschen Pietismus zutreffend analysiert: Die pietistische Bußmethodik [...] besteht in der willentlichen Erzeugung schmerzvoller Gefühle, ethischer Sündengefühle, die den Zustand völliger >Zerknirschung< herbeiführen sollen, um die selbsterniedrigte Seele des göttlichen Heils würdiger zu machen. 73
2.2 Seelen[er]forschungen Bevor sich der moderne Mensch als autonome psychophysische Einheit versteht, erfährt er sich als hierarchisch aufgebautes, dreigeteiltes Wesen. Als Gottes Geschöpf ist der Mensch in seiner Existenz bereits mit seiner Geburt definiert und präformiert. Von Gott erhält der Mensch, was er ist: den Körper, das Herz und die Seele. Die Seele als unsterblicher Teil des Menschen ist zugleich seine edelste, höch65 66 67 68 69 70 71 72 73
Geliert. S.31. Geliert. S.7. Geliert. S.24. Geliert. S.74. Geliert. S.2. Geliert. S.44f. Geliert. S.52. Geliert. S.62. Hans R. G. Günther: Psychologie des deutschen Pietismus. In: DVjs. 4. IV. Bd. 1926. S. 167f.
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ste Existenzform. Sie steht in unmittelbarer Verbindung zu Gott, ist seinem Einfluß direkt zugänglich und garantiert dem Menschen die Kontaktaufnahme und Annäherung an Gott. Die Seele ist ebenso wie das Herz Ausdruck seiner göttlichen Natur, sie ist die Einfallstelle Gottes in den Menschen. Der Körper als sterbliche Hülle der Seele ist der niedrigste Teil der menschlichen Existenz und daher auch der Gott fernste. Auf den Körper des Menschen nimmt Gott keinen Einfluß, es sei denn, um indirekt auf die höherentwickelten Teile des Menschen, das Herz und die Seele, einzuwirken, wenn er ihn mit Krankheiten oder Mängeln straft. Darüber hinaus verfügt der Mensch allein über seinen Körper. Was er mit ihm oder aus ihm macht, ist ganz seinem freien Willen unterworfen. Als unsterblicher Teil des Menschen ist die Seele ein geheimnisvolles, unbekanntes, dunkles Gebilde. Sie macht den Menschen erst zu dem, was er ist, ohne sie wäre er nicht lebensfähig. Daher erscheint die Seele als immaterieller Doppelgänger des Menschen, als eigentliches Wesen des Menschen. Sie ist im gesamten Menschen präsent und zunächst nicht als materielles Körperorgan lokalisierbar. In zeitgenössischen allegorischen Darstellungen verkörpert nicht selten ein verkleinertes Abbild des Menschen, sein kindlicher Doppelgänger im Zustand der Unschuld und Reinheit, die Seele.74 Was die Seele sei, ob identifizierbares Organ, Wesen des Menschen, geistige Kraft und Existenz, darüber streiten im 18. Jahrhundert die Gelehrten und erfinden lange, komplizierte Beweisführungen für ihre Hypothesen. Je nach Erkenntnisinteresse des jeweiligen Wissenschaftszweigs vermutet man den Sitz der Seele im Atem oder Zwerchfell, Rückenmark oder Gehirn, fast kein Organ ist als Sitz der Seele ausgeschlossen. Zuletzt pendelt sich ein Strang der Diskussion auf das Gehirn als Heimat der Seele ein.75 Kant beendet später die lange Diskussion um das Wesen und den Sitz der Seele, indem er konstatiert, »daß wir auf keine Art, welche es auch sei, von der Beschaffenheit unserer Seele, die die Möglichkeit ihrer abgesonderten Existenz überhaupt betrifft, irgendetwas erkennen können.« 76 Bei Geliert ist die Seele das vornehmste Instrument des Menschen, das göttliche Geschenk, mit dem er auf ewig mit seinem Schöpfer verbunden ist. Damit wird sie zum höchsten und einzigen Erkenntnisinstrument seiner göttlichen Herkunft. Selbsterkenntnis heißt in diesem Kontext deshalb auch immer Gotteserkenntnis. Seit Aristoteles' Ethik bedeutet Ausbildung der Seele Selbstbildung des Menschen zur Gotteserkenntnis und damit Steigerung der eigenen Existenz. Thanos Lipowatz faßt diesen Sachverhalt zusammen:
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Vgl. Heinz D. Kittsteiner: Gewissen und Geschichte. Studien zur Entstehung des moralischen Bewußtseins. Heidelberg. 1990. S. 104ff. B. Revesz macht in seiner »Geschichte des Seelenbegriffs« allein für das Gehirn und das Zentralnervensystem unterschiedlichste Lokalisationstheorien als Sitz der Seele wie das Kleinhirn, das verlängerte Rückenmark, der Gehirnbalken, die Hirnhaut usw. aus. Stuttgart 1917. Nachdruck Amsterdam 1966. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Bd. 4. In: Werke in 10 Bdn. Hg. von W. Weischedel. Frankfurt 1968. S.354.
Die höchste Tätigkeit der Seele ist die Konformität mit dem höchsten Gut, dem >letzten Ziel< d. h. mit ihrer >NaturGanzen< im 18. Jahrhundert. In: Schings. S. 242-259. 3 Johann Gottfried Herder: Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte Briefe von Herder und dessen Gattin, Goethe, Schiller, Klopstock, Lenz, Jean Paul, Claudius, Lavater, Jacobi u. a. Hg. von Heinrich Düntzer u. Ferdinand Gottfried von Herder. Zweiter Band. Frankfurt a.M. 1857. S. 5. 4 Georg Finsler: Lavater in Amt und Privatleben. In: Johann Caspar Lavater. Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages. Zürich 1902. S.3f. 86
Wenn es aber nicht Lavaters schriftstellerische Leistung innerhalb des sich konstituierenden Literatursystems ist, die seine Bedeutung ausmacht, so muß sie in seiner Rolle innerhalb des Systems zu suchen sein. Lavaters Bedeutung erschöpft sich nicht in der Textproduktion, sondern er selbst ist Motor, verborgener deus ex machina des Systems, Medienspezialist und Medienproduzent. Lavater besetzt eine Schlüsselposition innerhalb des Mediensystems seines Jahrhunderts: Er beherrscht nicht nur virtuos den Gebrauch aller medialen Systeme, sondern arbeitet produktiv an deren Erweiterung und schafft neue mediale Kommunikationsnetze. Lavater ist ein Meister des Mediums Text, ein Ingenieur differenzierter Kommunikationssysteme des realen wie fiktiven Dialogs, der Selbst- und Fremdkommunikation. Mit den Möglichkeiten und Grenzen dieses Mediums experimentiert er sein Leben lang. Lavaters Existenz gründet sich wie bei keinem anderen seiner Zeitgenossen auf den Text, seine eigene Existenz ist eine mediale. Schreiben stellt Lavaters vorrangige Beschäftigung dar; Schreiben, der virtuose, produktive Umgang mit dem Medium Text, ist Inhalt und Ziel seiner Anstrengungen. Seine Existenzweise ist eine diskursive, sie begründet sich im Text und durch die Texte. Neben der Erledigung seiner Amtsgeschäfte und seinem Familienleben produziert Lavater tagtäglich Texte: Er führt eine ausgedehnte Korrespondenz. Mit unterschiedlichsten, sich gegeneinander abgrenzenden Gruppen und Einzelpersonen steht er in einem engen Textkontakt und kann sich so zu einer medialen Schaltstelle, d.h. zum geistigen Zentrum seiner Zeit machen. In Zürich lebt er außerhalb der großen kulturellen Zentren, in denen sich die Protagonisten des Jahrhunderts zusammenfinden. Dennoch laufen trotz räumlicher Distanz in dem Zürcher Pfarrhaus die Fäden eines ganz anderen Zentrums zusammen. Lavater ist ähnlich wie vor ihm sein Schweizer Landsmann Haller Schöpfer eines Medienzentrums und Produzent neuer, eigener Medienarchive. Seine Textproduktion erfolgt ausnahmslos in einem genau abgesteckten, selbst errichteten, funktionsfähigen Kommunikationsgefüge. Wenn Lavater schreibt, schreibt er immer auf einen konkreten, genau bestimmbaren Adressatenkreis hin. Ob als Brief- oder Tagebuchschreiber, oder wenn er mit ernsthaftem Engagement Texte für Stammbucheintragungen verfaßt, immer sind seine Texte auf einen konkreten Kommunikations- und Funktionszusammenhang hin konzipiert, ihre Wirkung aufs genaueste kalkuliert und im Schreiben selbst antizipiert. In seinem Tagebuch an seinen Sohn erläutert er ihm das Prinzip und das Ziel seines Schreibens: Wenn Du je etwas schreibst, so denke Dir einige Leser bestimmt, für welche Du schreiben willst. Kannst Du sie nicht vor Dir haben, so vergegenwärtige sie Dir wenigstens so sehr wie möglich - Frage Dich - ob dieser, jener mann von Einsicht, Empfindung, Geschmack eintreten, billigen, genießen, und des Geschriebnen herzlich froh seyn könnte? - So oft ich reise, spühr ich, daß ich dieß so sehr ich's oft that, nicht genug gethan habe. 5
5
Noli me nolle 2. [S. 3],
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Später formuliert er allgemeiner und grundsätzlicher sein durch das Schreiben gewonnenes Selbstverständnis: »Ohne Du ist kein Ich. Wie Dein Du, so wird ewig Dein Ich seyn.« 6 So ist Lavater auch der Tagebuchschreiber par excellence. E r führt nicht nur seit seinem zwanzigsten Lebensjahr lebenslang Tagebücher, sondern publiziert sie auch als erster und etabliert damit das Tagebuch bewußt als eigenständige literarische Gattung, die er der bedeutendsten Prosagattung, dem Roman, an die Seite stellt. Durch seine Publikation kann er eine öffentliche Diskussion über dieses Medium der Selbstmitteilung auslösen und beispielgebend auf alle nachfolgenden Tagebuchschreiber wirken. Lavaters Tagebuchpublikation macht die Textgattung, die sich bis dahin außerhalb des Literatursystems angesiedelt fand, zum Gegenstand des literarischen Diskurses. Seit Lavaters »Geheimem Tagebuch« kommunizieren Individuen, vorbereitet durch die Kultur des Briefschreibens, über ein neues Textmedium, über ihre Tagebücher, miteinander. Mit seiner Tagebuchpublikation vollzieht Lavater über die Etablierung der Gattung als diskursives Medium zugleich einen weiteren Schritt, nämlich die Literalisierung der Gattung und damit die Definition des Individuums als fiktive, imaginäre Konfiguration, wenn er sich selbst und den anderen als Text begreift, der sich nur im Text ausdrücken und mitteilen kann und wie ein Text der Entschlüsselung und Interpretation bedarf. 7 Urbild für dieses Verständnisses vom Individuum als einem verschlossenen Text, der sich selbst wie dem anderen nur in unausgesetzter, intensiver Interpretationsarbeit partiell erschließt, ist der im heiligen Text verborgene Gott. An Lavaters unausgesetzten Versuchen der Gotteserkenntnis durch die Interpretation des heiligen Textes, in dessen Verlauf sich sein Gottesbild von der orthodoxen Vorstellung eines fernen Schöpfer- und Vatergottes zu einer individuellen Gottesvorstellung vom vollkommenen Menschenideal als göttlichem Prinzip emanzipiert, entwickelt er parallel dazu sein Verständnis vom menschlichen Indiviuum als geschlossener Einheit, das nur im eigenen, selbstreferentiellen Text zu einer sichtbaren Existenz gelangt. Existenz bedeutet deshalb bei Lavater immer mediale Existenz, und Gotteserkenntnis wird zum Paradigma der Selbsterkenntnis. Daher bezeichnet Lavater in seinem späten Tagebuch für seinen Sohn Gott als Medium, d. h. der Textgott, der nur in der Interpretationsarbeit individuell erfahrbar wird. Er ist der Schlüssel wie das Modell der Selbsterkenntnis. So wie der Mensch sich seinen Gott nur aus dem Text selbst entwerfen kann, so muß er sich auch selbst im Text erschaffen. Dem Textgott, auf dessen Manifestation Lavater weder in der Realität noch im Dialog, dem Gebet des gläubigen Gottessuchers hofft, steht der Textmensch gegenüber, der in seiner göttlichen, d.h. individuellen Existenz einzig in seinem Text zur Existenz gelangen kann. So wie die Existenz der Individuen eine ausschließlich mediale im Text ist, so manifestieren sich in Lavaters
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Noli me nolle 9. [S. 46], Die Bedeutung von Lavaters Tagebüchern für die Gattungspoetologie, die Konstruktion der Autorindividualität hat zuerst Ursula Geitner herausgearbeitet. Vgl.: Ursula Geitner: Zur Poetologie des Tagebuchs. Beobachtungen am Text eines Selbstbeobachters. In: Schings. S. 6 2 9 - 6 5 9 .
System auch die anderen autonomen Individuen nur als Text und im Text. Der andere als Text ist das unendliche, unbekannte, in sich geschlossene und verschlossene Individuum, der Gottmensch, der sich seinem Gegenüber nie ganz und dauerhaft aufschließt, sondern einzig als potentiell unendlicher, interpretationsbedürftiger Text seinem Kommunikationspartner überantwortet. In den Entschlüsselungsversuchen des Menschentextes verschmilzt der eigene Lebenstext mit dem des fremden und initiiert den unendlichen Kommunikationsprozeß der Texte, die sich wechselseitig determinieren und fortschreiben. In seinem »Noli me nolle« an seinen Sohn spricht Lavater daher von seinem Sohn als Text: »Bald sind wir wieder in der Ordnung. Dann wirst du, o wie oft, unser gemeinschaftlicher Text sein. Sei uns ein lieber, schöner Text, über den sich immer was schönes neu schönes sagen lässt.«8 Lavater hat daher seiner Tagebuchproduktion mindestens ebenso viel Raum und Zeit beigemessen wie seiner Korrespondenz. Der Tagesablauf des Pfarrers, der im hohen Maße einer strengen Regeln folgenden Selbstorganisation unterlag, ist nach der Erledigung der Amtsgeschäfte ausschließlich auf die schriftliche Selbstproduktion ausgerichtet. Als verbindliche Vorschrift fixiert er selbst diesen Tagesablauf im Text. Der »Ewige Wochenkalender für mich«, aufgesetzt im October 1779 verzeichnet für den Montag: 1) von 12-6. schlafen. 2) Schlag 6 auf. bis 7 uhr. a) Gebeth mit den meinigen. b) anziehen. Caffé. c) Privatgebeth. 1. Capitelles. d) Tagplan vollständig machen. 3) von 7-12Uhr. wo immer möglich ins Rebhäuslein und dann dort. a) Privatgebeth. b) Entweder alte Briefschuld abbezahlen. c) oder an der Physionomik arbeiten. d) oder Lieder und Gebethe verfertigen. e) oder irgend eine alte Schriftschuld erleichtern und abladen.
[...] 4) Mittageßen 12-1. uhr / a) vom Morgen erzählen. b) Capitel lesen. c) Kinder fragen. 5) von 1 - 2 . uhr. a) entweder audienzen. b) oder: Brochüre lesen. c) oder meditiren. d) oder kleine bestellungen machen. c) od. aufräumen. Landkutsche. 6) von 2 - 5 uhr. Krankenbesuche in der Stadt. oder wittwen, od. Hausbesuche. 7) von 5 bis 6. uhr
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Noli me nolle. H.2. [S. 21],
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verzeichnen. Tagbuch. 8) von 6 bis 7 uhr Lebensgeschichte. 9) von 7 - 8 . uhr Freunde, oder Frau zu Haus. 10) Nachteßen a) Lebensgeschichte. b) gebeth. 8 - 9 uhr 11) Tagbuch. Prüfung. Frauli. 12) Bett. Gebeth. 9
Als verschrifteter, ewig und ohne Ausnahme gültiger Lebensplan dominiert der Text ein Leben, dessen Inhalt neben der Erledigung von Amtspflichten die Textproduktion als Selbstproduktion ist. Neben seiner ausgedehnten Korrespondenz, seinen Predigten und geistlichen Gedichten, die häufig als Stammbucheintragungen entstehen, führt Lavater ein Leben lang Tagebücher verschiedenster Art. Seine Tagebuchführung unterliegt eindeutigen Zweckbestimmungen, die Inhalt und Form der Tagebücher bestimmen. Neben rein persönlichen Tagebüchern führt Lavater Arbeits- bzw. Bildungstagebücher und arbeitet kontinuierlich an Tagebüchern für bestimmte Dialogpartner wie für seine Frau und seinen Sohn, die als unmittelbare Adressaten erste Leser eines ausgewählten gleichgesinnten Rezipientenkreises sind. Konsequentes Nebenprodukt dieser ausgedehnten und differenzierten Selbstproduktion ist das auf das allgemeine Lesepublikum hin geschriebene »Geheime Tagebuch« als stilbildendes Exempel und als Urtypus der Gattung in seinem Entstehungszeitraum. Hier literarisiert Lavater sich und sein Leben selber, entwirft sich als literarische Figur für ein allgemeines Lesepublikum. Nur ein vermutlich geringer Teil der Tagebücher Lavaters ist heute noch erhalten. Publiziert sind ausschließlich das frühe Arbeitstagebuch »Diarium. Mensis. 1761«10 und das von Lavater selbst zur Veröffentlichung bereitgestellte »Geheime Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1771« und die »Unveränderte[n] Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches Zweyter Theil, nebst einem Schreiben an den Herausgeber desselben. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1773«.11 Der umfangreiche Handschriftenbestand aus dem Nachlaß Lavaters in der Zentralbibliothek Zürich läßt vermuten, in welchem Umfang Lavater Tagebücher geführt hat. Dabei wird deutlich, daß Lavater innerhalb ein- und desselben Zeitraums verschiedene Tagebücher parallel führte, wie z. B. die Tagebücher während seiner Bildungsreise nach Barth zu Spalding zeigen.12 Während das erste, lückenlosere Ta9
Lav. Ms 15. Im Besitz der Zentralbibliothek Zürich. O.S. Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus dem Jahre 1761. Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich vorgelegt von Ursula Schnetzler. Pfäffikon 1989. 11 Reprogr. Neudruck: Johann Kaspar Lavater: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst. Bearbeitet von Christoph Siegrist. Bern u. Stuttgart 1978. (Der erste Band nur in Auszügen.) 12 Lav. Ms. 5: Tagebuch, enthaltend Einträge aus der Zeit vom 8. März bis und mit 31. Mai 10
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gebuch streng den Charakter eines Studienberichts über seine Ausbildung wahrt und so etwas wie eine dauerhafte Dokumentation und Materialsammlung zu Bildungsinhalten für einen späteren Gebrauch darstellt, scheint das zweite, parallel dazu geführte Tagebuch eher als persönlicher Rechenschaftsbericht, möglicherweise als Dokumentation der Bildungsreise für seine Eltern konzipiert gewesen zu sein. Bereits bei diesem umfangreichen, frühen Tagebuch des zweiundzwanzigj ährigen Lavater fällt seine ungewöhnliche Praxis, sein Leben im Text zu dokumentieren, auf. Lavater vermerkt in diesem Tagebuch das Befremden seiner Freunde und Reisegefährten über seine ausgedehnte Tagebuchführung, denen diese Tätigkeit nutzlos, unproduktiv und als Hindernis für unmittelbares (Er)Leben anmutet: Mein Freund Heß machte mir Einwürfe wegen den Mühen meiner Tagebücher. Ich sagte: eine deutliche Vorstellung von den Verrichtungen eines jeden Tages, das Verzeichniß einzelner Gedanken, und Anmerkungen, die man, oft nur im vorbeygehen gehört, und die so leicht wiederum vergeßen sind; eine Sammlung von allerhand Beobachtungen u.s.w. können nicht anders, als für die gegenwärtige und zukünftige Zeit von großen Mühen seyn. 13
Gegen die kritischen Einwände seiner Freunde hält Lavater an dieser Praxis fest: »Abends schrieb ich folgenden Auszug, langsam und unterbrochen, ungeachtet diese Arbeit meinen Freunden überflüßig schien.«14 Lavaters Reisebegleiter Füßli geht noch einen Schritt weiter in seiner Kritik, wenn er nicht nur die Unproduktivität des Tagebuchschreibens behauptet, sondern die Textform Tagebuch selbst abwertet, sie als niedere wertlose Textsorte klassifiziert und zuletzt sogar als schädlich für die Ausbildung des eigenen Urteilsvermögens und Schreibstils kennzeichnet: Herr Füßli gab mir auch noch einige wichtige Erinnerungen daß ich meinen Geist durch allzuvieles Schreiben leichter Sachen nicht abmühen, und zu einem gedankenlosen schnellschreiben gewöhnen soll. Auch befrömdete ihn der philosophische Ton, aus dem er mich bisweilen sprechen hörte. 15
Trotz dieser massiven Widerstände der Reisegefährten hält Lavater an seiner Praxis fest und weitet sie während des gemeinsamen Aufenthalts bei Spalding aus. Wenn auch diese frühen Tagebücher noch ganz der Planung und Kontrolle des äußeren Lebens dienen und als »Tagregister« die Erfüllung des jeweiligen Tagesplans überwachen sollen, so äußert sich bereits hier Lavaters selbstreferentielles Bedürfnis, das sich im Laufe seiner Selbstbeschreibungsversuche ausdifferenzieren und wandeln sollte. Dem Reisetagebuch nach Barth folgt das umfangreiche Tagebuch des Aufenthalts bei Spalding, das fast ausschließlich Gegenstände und Inhalte der Ge-
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1763. und 5a: Tagbuch. 1 Heft, enthaltend Einträge vom 8.-10. März, 22.-25. Mai, 1.-5. Juni 1763. Lav. Ms.5. 31.3. O.S. Lav. Ms.5.1.4. O.S. Lav. Ms.5.29.3. O.S. 91
spräche mit dem Lehrer, der unterschiedlichsten theologischen Lektüre sowie eigene fachbezogene Reflexionen wie ζ. B. Rezensionen einzelner Schriften, festhält, und bis ins Detail nachzeichnet. Neben dem Bedürfnis, sich selbst über die eigene Tätigkeit Rechenschaft abzulegen, mag dieses Tagebuch Lavater als nachvollziehende Vertiefung und individuelle Aneignung des Bildungserlebnisses gedient haben und möglicherweise als persönliches Lehr- und Nachschlagewerk für seine spätere praktische Tätigkeit als Geistlicher konzipiert gewesen sein. Im Gegensatz zu diesem umfangreichen, geschlossenen Manuskript des »Tagebuchs aus der Fremde« liegen die persönlichen Tagebücher, die ausschließlich für Lavaters eigenen Gebrauch bestimmt waren, nur noch in Bruchstücken vor. Sie scheinen aus dem Familienbesitz nicht in den Besitz der Zentralbibliothek übergegangen zu sein. 1901 wertet Heinrich Funck in seiner Untersuchung über Lavater und Goethe noch Tagebücher, ein Emser Reisejournal von 1774, ein Reisetagebuch von 1782 sowie das »Reisefremdenbuch« von 1793 aus Kopenhagen, aus dem Privatbesitz der Familie Finsler aus.16 Im Lavater-Nachlaß sind dagegen nur kurze Fragmente aus seiner Brautzeit überliefert, aus dem Jahre 1766, sowie verstreute Texte aus den Jahren 1868,1785,1786,1782 und 1796,1797.17 Günstiger sieht die Lage der Überlieferung bei den bereits für einen ausgewählten Leserkreis bestimmten Tagebüchern wie dem »Noli me nolle« an seinen Sohn Heinrich aus. Bis auf das fünfte Heft ist dieses umfangreiche literarische Tagebuchwerk, das Lavater zwischen 1786 und 1789 verfaßte, vollständig überliefert.
2.
Literarisches Urmuster - Der Roman des Gewissens: Johann Caspar Lavaters »Geheimes Tagebuch« aus dem Jahre 1769
Lavaters »Geheimes Tagebuch« bildet in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme innerhalb der Geschichte der Tagebuchkultur. Es ist das erste zu Lebzeiten seines Autors publizierte Tagebuch, das ein breites Publikumsinteresse fand und muß als Versuch gelesen werden, das Tagebuch als literarische Gattung im Literaturbetrieb zu institutionalisieren. Wenn dieser ersten bedeutenden Tagebuchpublikation auch nur wenige und vereinzelte Publikationen von anderen Tagebüchern folgten und das Tagebuch sich in der Folgezeit nicht als kleinere, eigenständige literarische Gattung neben den drei anderen großen Gattungen durchsetzen konnte, so ist Lavaters Versuch doch von fast allen zeitgenössischen Tagebuchschreibern aufs genaueste registriert worden. Sein publiziertes Tagebuch wird zum Vorbild und Grundmodell der Tagebuchführung, kein Tagebuchschreiber, der nicht Lavaters Tagebuch gelesen hat, sein eigenes Diarium zu diesem Urtext in Beziehung setzt und an diesem Vorbild mißt. Lavaters Freund Ulrich Hegner vermerkt richtig: »Das Tagebuch hat
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Heinrich Funck (Hg.): Goethe und Lavater. Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 16. Weimar 1901. S.380. Lav. Ms. 14.
Lavater zuerst und vorzüglich einen populären Namen gemacht.«18 Daher setzt der Strom der Zürichreisenden nicht erst mit dem Erscheinen der »Physiognomischen Fragmente« ein, sondern bereits nach der Publikation des ersten Tagebuchs wird es für einen Teil seiner Leser zum Ziel, den Autor persönlich kennenzulernen, sich seiner Freundschaft entweder durch den persönlichen Kontakt oder durch die Aufnahme eines Briefwechsels zu vergewissern. So schreibt Philipp Matthäus Hahn nach der Lektüre des Tagebuchs zum ersten Mal an Lavater und legt damit den Grundstein zu einer langjährigen freundschaftlichen Beziehung und gegenseitigen Anerkennung. Der Tagebuchschreiber Franz Kaspar Buchholtz aus dem Münsteraner Kreis um Amalie von Galitzin besucht Lavater 1785 und vermerkt mit höchster Zufriedenheit in seinem Tagebuch, daß Lavater »uns mit der größten wärme und liebe«19 empfing. Buchholtz hält sich längere Zeit bei Lavater auf und teilt mit ihm auch den privaten Alltag. Mit gemeinsamen Freunden wandern sie zu Lavaters Rebhäuschen, verbringen lange Abende im Gespräch miteinander, Lavater fertigt ein Porträt von Bucholtz. Bereits am ersten Tag des Besuchs bei Lavater notiert Buchholtz in sein Tagebuch: »ich lebe jetzt schon bey ihm als wäre ich jähre mit ihm bekannt, den mittag und abend bey ihm und den folgenden Tag so wieder«.20 Auch der Tagebuchschreiber Friedrich von Matthisson aus Dessau reist mit hohen Erwartungen nach Zürich und hofft in Lavater einen vertrauten Freund zu finden. Zunächst werden seine hochgesteckten Erwartungen allerdings enttäuscht: »Lavater empfieng mich mit einer Kälte u. Zurückhaltung«. Resigniert verzeichnet er im Tagebuch: »Trauriger ist mir vielleicht nie ein Tag verschwunden, als der heutige. Ich bin allein - meine Seele sehnt sich nach Mitgefühl u. mein Herz schlägt für ein ähnlich empfindend Herz. Ich genieße nur halb, weil ich nicht mittheilen kann.« Im Laufe seines zweitägigen Aufenthalts bei Lavater kommt es dann doch zu einer Annäherung. Nun findet er das Bild seines Ideals in der Realität bestätigt und beschreibt Lavater als vorbildlichen Hausherrn, Freund und Helfer: »Lavater ließ mich zu tische einladen. Besonders gefiel mir, daß er u. sein Hausgesinde an einem Tische speiste. [...] Ich habe Lav. heute von seiner interessanten Seite kennen gelernt: besonders als Freund, helfer u. Rathgeber von Nothleidenden.« Zuletzt darf er sich zu den Auserwählten zählen, denen Lavater vorbehaltlos Einblick in seine Arbeitssphäre gewährt. Matthisson ist fasziniert von der Ordnung des vielseitig engagierten Autors Lavater: »Seine Mspt. liegen in Pappenkästchen mit Aufschriften«,21 notiert er in sein Tagebuch. Auch der Tagebuchschreiber Leisewitz ist nicht nur vertraut mit den Tagebüchern Lavaters, sondern gilt in seinem Freundeskreis als genauer Kenner der Mate-
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Zitiert nach: G. von Schulthess-Rechberg: Lavater als religiöse Persönlichkeit. In: Johann Caspar Lavater. Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages. Hg. von der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1902. S.292. Franz Kaspar Bucholtz: Tagebuch 1785. Zürich, den 17ten Fbr. Manuskript im Besitz der Universitätsbibliothek Münster. S. 95f. Bucholtz. S.97. Tagebuch 1787. Zürich 12. August. Manuskript im Besitz der Landesbücherei Dessau. O. S.
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rie und Spezialist, der zur Dechiffrierung der Geheimschrift in Lavaters Tagebüchern aufgefordert wird. In sein Tagebuch notiert er: Klockenbring hatte mich in dem eben gedachten Billette um Dechifrirung einiger Stellen in Lavaters Tagebuche gebeten. Ich brachte beynahe den ganzen Morgen damit zu, bis Veithusen und Klockenbring selbst kamen, ich schrieb in ihrer Gegenwart das behufige Billet fertig und übergab es Klockenbringen brevi manu. 2 2
In seinem Freundeskreis wird Leisewitz sogar mit dem Tagebuchschreiber Lavater identifiziert und dem Spott der Kritik ausgesetzt: Heute Abend sagte der Alte [vermutlich Eschenburg] von ungefehr, die Leute, die Tagebücher wie z. E. Lavater hielten, kämen ihm vor, als wenn sie ihre Excremente durchsuchten. Die ganze Gesellschaft lachte, weil sie wußte, daß ich es thue. Der Alte wollte es lange nicht glauben und fragte mich endlich, ob das auch hinein käme. Und doch hätte ich es bald vergeßen! 2 3
Zuerst hatte sich Herder kritisch gegenüber Lavaters Tagebuch geäußert, um dessen Freundschaft sich Lavater lange Zeit nachdrücklich bemühte. Sein zweites publiziertes Tagebuch beginnt mit einer enthusiastischen Feier des ersten Briefes von Herder an Lavater. In einem späteren Brief an Lavater macht Herder 1773 ihm den Vorwurf: »Das Tagebuch bin ich durch. [...] und Du, mein Freund, bist ein lieber Gottesschwätzer!« Gleichzeitig konzediert er dem Tagebuch dennoch versöhnlich einen spezifischen Nutzen, allerdings nicht ohne seine zuerst geäußerte Kritik noch einmal zu vertiefen: Es wird viel gutes und Erbauung stiften, ist aber kein Tagebuch mehr, höchstens zeigt sich Lavater im NachtKamisol oben auf dem Balkon, weiss aber wohl, daß er auf dem Balkon steht. Nicht kalt, noch warm: wollts, daß es kalt oder ρ der Monsieur aber, der vermuthlich ein vortrefflicher Ministre de la Parole de Dieu seyn muß, u. sich die Mühe genommen, in die zu warme Suppe des Textes Stücke Eis zu thun - das Eis ihm unter seine frisirte Perücke! daß es ihm statt Schweis herunter laufe amen p. 24
Was Herder für ein allgemeines Publikum noch als lehrreich und nützlich apostrophiert, bewertet er selbst als mißlungenes Werk literarischer Schwärmerei und eingebildeter, narzistischer Selbstbespiegelung. Diese erste Tagebuchpublikation Lavaters in der (gemeinsamen) Redaktion mit dem in Leipzig lehrenden Schweizer Theologen Zollikofer muß als idealtypisches Modell der Tagebuchführung zur individuellen Nachahmung, quasi als verspäteter Prototyp eines lange bekannten, allerdings wirkungslosen Theoriemodells gelesen
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Johann Anton Leisewitz: Tagebücher. Nach den Handschriften herausgegeben von Heinrich Mack und Johannes Lochner. Erster Band. Weimar 1916. Reprint. Hildesheim u. New York 1976. S.42f. 23 Leisewitz. S.201. 24 An Johann Kaspar Lavater. Bückeburg, etwa 18. Dezember 1773. In: Johann Gottfried Herder. Briefe. 3. Bd. Mai 1773-Sept. 1776. Bearbeitet v.W. Dobbek u.G. Arnold. Weimar 1978. S.59.
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werden, mit dem sein Autor nichts weniger als sich selbst offenbaren, sondern seinen Lesern durch ein konstruiertes Beispiel praktischer Gewissenserforschung als Vorbild für die eigene Praxis dienen wollte. Am deutlichsten formuliert das Zollikofer in seiner Vorrede zu der zweiten Tagebuchpublikation Lavaters: Die Hauptabsicht desselben [des ersten Tagebuchs] war, christliche Leser zum Nachdenken über sich selbst, zur genauen Beobachtung und Prüfung ihrer Gesinnungen und ihres Verhaltens zu erwecken, und ihnen in Beyspielen zu zeigen, wie man dieses Geschäffte vornehmen, und worauf man dabey sehen müsse. 25
Der »Vorbericht des Herausgebers« zum ersten Tagebuch hebt denn auch bereits zu Beginn auf die didaktische Wirkabsicht des Tagebuchs ab, wenn er auf eingeübte Erwartungs- und Rezeptionshaltungen eines erfahrenen Lesepublikums rekurriert: So viel ist gewiß, wie es auch von den scharfsichtigem Beobachtern schon oft genug gesagt worden seyn mag, daß eine getreue und umständliche moralische Lebensbeschreibung des gemeinsten und unromanhaftesten Menschen unendlich wichtiger, und zur Verbesserung des Herzens ungleich tauglicher ist, als der sonderbarste und interessanteste Roman. Es giebt immer tausend Menschen, denen die erstere gegen Einen, dem der letztere einen wahren, einen dauerhaften moralischen Nutzen gewähren kann. 2 6
Der scheinbar zufällige Vergleich mit dem Roman führt ins Zentrum der Eigenheit dieser Publikation. Lavaters eigene Tagebuchpublikation entgegen der bis dahin gängigen Praxis postumer Publikationen bedarf zunächst der besonderen Legitimation. Darüber hinaus dient aber die Gegenüberstellung mit dem Roman der Verschleierung des Entstehungsprozesses dieses Tagebuchs. Indem sich das Vorwort ausschließlich darum bemüht, den behaupteten Unterschied zwischen fiktivem Roman und authentischem Tagebuch zu beweisen, schreibt es nicht nur bis in den kleinsten argumentativen Winkelzug die Legitimationsstrategien der Gattung Roman nach, sondern bedient sich auch deren fingierter Eingangs- und Beglaubigungsformeln des Erzählers. Wie der Roman, von dem der Erzähler behauptet, daß er ihm als wahre Geschichte eines Individuums in die Hände gelangt sei, behauptet der Herausgeber des Tagebuchs, den Text unverändert ohne Wissen seines Schreibers zu publizieren. Bis ins kleinste Detail wiederholt das Vorwort die aus dem Roman bekannten Einleitungs- und Legitimationsfloskeln: Es kann dem Leser vollkommen gleichgültig seyn, durch welchen Zufall mir diese Schrift in die Hände gekommen. - Genug, daß ich ihn versichern darf, daß es das wahre und ächte Tagebuch eines Mannes ist, dessen erste und letzte Angelegenheit es war, sein Herz genau zu kennen [...] Freylich mag dieser liebe Mann an alles in der Welt eher gedacht haben, als daß seine Empfindungen und Beobachtungen einmal unter die Augen des Publikums treten sollten; die Nachlässigkeit und Treuherzigkeit, mit der sie geschrieben sind, wird einen
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Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches Zweyter Teil, nebst einem Schreiben an den Herausgeber desselben. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1773. Im folgenden zitiert als Fragmente. Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich, 1771. S.5f. Im folgenden zitiert als Geheimes Tagebuch.
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jeden leicht davon überzeugen können. Erschrecken würde er, wenn ihm je noch ein gedrucktes Exemplar davon zu Gesichte kommen könnte; aber gewiß würde er auch großmüthig genug seyn, dem Herausgeber eine Freyheit zu verzeihen, die vermuthlich eine sehr wirksame Veranlassung zu den schönsten Empfindungen seyn wird. 27
Um Echtheit und Authentizität des fiktiven Textes zu garantieren, rekurriert der Herausgeber wie im Roman auf die Unwissenheit des Autors und seinen unverwechselbaren, unverstellten Stil. Damit ist für den aufmerksamen Leser klar: entgegen der Behauptung des Herausgebers besteht zwischen Roman und Tagebuch keinerlei Differenz. Was Lavater und Zollikofer in dieser komplizierten Konstruktion dem Publikum mitteilen, ist ein Roman in Tagebuchform, bei dem der Protagonist mit dem Autor identisch ist. Unmöglich, dies ohne diese durchsichtige Verschleierungsstrategie zu sagen, auch wenn der Text wie der Roman eine moralische Wirkabsicht für sich reklamieren kann. Das »Geheime Tagebuch eines Beobachters Seiner Selbst« ist nichts anderes als das fingierte Tagebuch eines anonymen Schreibers und damit eine bis ins kleinste Detail gestaltete Konstruktion idealtypischer Selbstthematisierung im Diskursmodell der Gewissensprüfung.
2.1 Lehrbeispiele christlichen Lebens Keinem als dem manischen Tagebuchschreiber Lavater lag es näher, aus den Erfahrungen seiner eigenen Praxis ein exemplarisches Tagebuch mit existenziell bedeutenden Situationen aus dem Leben eines Christen, dem Verlust eines engen Freundes, dem eigenen symbolischen dreiunddreißigsten Geburtstag und dem nach pietistischem Vorbild gestalteten Erweckungserlebnis zu konstruieren. Das Tagebuch aus dem Januar 1769 zerfällt deutlich in drei unterschiedliche Teile. Das Kernund Mittelstück des Textes bildet die ausführliche, exemplarische Schilderung eines christlichen Sterbens, des Todes von Lavaters engem Freund Felix Hess im Jahre 1768, das im Tagebuch als memento mori reflektiert zum einzigen und letzten Grund der eigenen Selbstanalyse erhoben wird. Dieser zentralen Passage vorgelagert ist der nach strengen Gesetzen durchkonstruierte erste Teil einer täglichen Gewissensprüfung als Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit, der dritte Teil schließt den Roman des Gewissens mit den zentralen Ereignissen des (fiktiven) dreiunddreißigsten Geburtstages und einem breitangelegten Erweckungserlebnis ab. Hier wird das strenge, didaktische Konstruktionsschema des ersten Teils zunehmend zugunsten einer freieren, literarischen Gestaltung aufgehoben. Zu Beginn des neuen Jahres 1769 formuliert Lavater denn auch das Ziel und die Methode der »Beobachtung Seiner Selbst«. Daß der Dialog mit sich selbst, die »Freundschaft und Vertraulichkeit eines menschlichen Herzens mit sich selber«,28 eigentlich ein Dialog mit Gott ist und von seinen Geboten und Verheißungen seine
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Geheimes Tagebuch. S.6f. Geheimes Tagebuch. S. 12.
Prämissen bezieht, spricht Lavater unmißverständlich aus, wenn er seinen Vorsatz formuliert: alles [...] so genau niederzuschreiben, als wenn ich Gott selbst mein Tagebuch vorlesen müßte; - so genau, daß ich einst auf meinem Sterbelager, nach diesen Urkunden eine solche Rechnung über mein Leben machen kann, die derjenigen gleich ist, welche mir vorgelegt werden wird, wenn ich den letzten Athem verhaucht haben werde. 29
Selbstprüfung und Selbstkontrolle nach den Geboten Gottes als Vorwegnahme des göttlichen Richterspruchs nach dem Tode soll das Tagebuch leisten. Damit ist das eigentliche Ziel der Tagebuchführung benannt, die Selbstkontrolle nach dem göttlichen Moralgesetz als Voraussetzung für die Gewährung eines Lebens nach dem Tode. Der Dialog mit dem eigenen Herz heißt nichts anderes als das Messen des eigenen Lebens an den verinnerlichten göttlichen Geboten, die Feststellung der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, die buchhalterische Abrechnung zwischen Soll und Haben: Ich will mich alle Abende nach diesen Grundsätzen prüfen, in meinem Tagebuche die Numern redlich bemerken, welche ich etwa übertreten habe; desgleichen a) was ich gelesen, b) was ich verrichtet, c) worinne ich gefehlt, d) und was ich gelernt habe? - 3 0
So legt Lavater die Soll-Seite seiner Selbstprüfung in seinen »Täglichen Grundsätzen« zu Beginn des Jahres fest und formuliert damit ein nachvollziehbares Modell christlicher Selbstprüfung mit Beispielcharakter. Auf Anschaulichkeit und Exemplarizität setzen die dargestellten Verfehlungen in Lavaters Tagesbilanz. Diese Wirkabsicht der Tagebuchpublikation erfährt eine weitere Steigerung durch die nach Lavaters eigenen Zeichnungen beigefügten Illustrationen, die für ein breites, nicht gelehrtes Publikum typische Verfehlungen ins Bild setzen und als warnende Beispiele menschlichen Fehlens dauerhaft und anschaulich dem Leser vor Augen stehen sollen. Im Bild gefriert die kontextabhängige Selbstanalyse zur allgemeinverbindlichen, dauerhaften Botschaft, deren Symbolgehalt direkt und unmittelbar jederzeit für den Rezepienten wieder abrufbar ist. Daher ist Lavater sicher, daß er seine »beschämenden Situationen [...] und ihre sinnliche Vorstellung für lehrreich halten darf« 31 und beschließt im Tagebuch: ein Gesetz sey es mir von nun an, alle Situationen, deren sinnlicher Anblick mehr beschämenden Eindruck macht, als wenn sie bloß mit Worten beschrieben würden, so gut es mir möglich ist, mir vorzuzeichnen, und sorgfältig in meinem Tagebuch aufzubewahren. 32
Was Lavater im Bild festhält, sind Variationen der menschlichen Eitelkeit und Eigenliebe. So unterschiedlich die Situationen, so eindeutig ist der Befund: Ob Lavater sich als Müßiggänger am Morgen im Bett darstellt oder in gespielt andächtiger
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Geheimes Geheimes Geheimes Geheimes
Tagebuch. Tagebuch. Tagebuch. Tagebuch.
S. 13. S. 17. S. 114. S. 38.
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Haltung beim Gebet, beim Frisör, in Gesellschaft, immer wird das Handeln von Eigenwillen geleitet und zeichnet sich durch die Abwesenheit der Steuerung des Verhaltens durch das verinnerlichte göttliche Gebot aus. So anschaulich wie die Bilder sind auch die Beispiele der Verfehlungen, die Lavater seinen Lesern anvertraut. Sei es in der detaillierten Schilderung der Eitelkeit im Verhalten in Gesellschaft, vom Lockendrehen bis zur Schlittenfahrt, sei es seine Menschenverachtung im Zornesausbruch gegenüber der Magd, die sein Tintenfaß beim Aufräumen umwirft oder die unwillige und herablassende Überwindung des Geizes gegenüber bettelnden Kindern auf der Kutschenfahrt zu seinem todkranken Freund. In diesen plastischen Episoden wird das Tagebuch zum Roman des Gewissens, der dem Leser nicht nur einen kurzweiligen, sondern durch die konkrete Anschauung nützlichen Lesestoff anbieten will. Im Brief des Herausgebers, der Lavaters zweiter Tagebuchpublikation vorangestellt ist, räumt Lavater nachträglich die romanhafte Konstruktion seines ersten Tagebuchs ein und erläutert ihre Funktion, nachdem er seinem Publikum versichert hat, »nie auf einem Schlitten gefahren« zu sein und sich »nie frisiren« 33 lassen zu haben: [...] gesetzt dieser Freund hätte den Zweck und die Absicht gehabt - das christliche Publicum bloß zum Beobachten seiner selbst zu veranlassen; ihm hiezu einige Anleitung zu geben? Manchem wichtige aufschließende Winke auf sein eigen Herz zu geben; und noch sonst manche lehrreiche Anmerkung vorzulegen? - Gesetzt, er hätte in dieser gewiß würdigen Absicht wahre und erdichtete Situationen in der interessanten Form eines Tagebuches zusammengetragen? Hätte, um seinen Zweck glücklicher zu erreichen, kleine gleichgültige, an sich vollkommen nichtsbedeutende Umstände, die dem Werke die vollkommene Gestalt der Wahrheit gegeben hätten, mit angeführt [...] Könnte denn das Buch, gesetzt, daß es auch durchaus im höchsten Grade erdichtet wäre, nicht immer noch in mancher Absicht großen Nutzen haben, wenigstens eben den Nutzen, den man jedem moralischen Romane gern eingesteht? 34
Die ersten Tage des Tagebuchs bis zu der Nachricht von der tödlichen Krankheit des Freundes am 7. Januar folgen denn auch diesem Schema der Selbstprüfung. Lavater wählt zu Beginn des Tages ein Motto aus der Bibel, das er in seinem Tagebuch reflektiert, und selektiert dann aus seinem Tagesablauf typische Situationen der Verletzung des christlichen Tugendkanons. Mangelnde Freigebigkeit, Geiz, Schmeichelei und Heuchelei, Müßiggang und fehlende Selbstkontrolle werden in kleinen Episoden und Charakterstudien einprägsam vorgeführt. In manchen Fällen wird das Negativ durch spätere Verhaltenskorrektur ins Positive gewendet. 2.2 Selbsterfahrung im Tod des anderen Aber die eigentliche Antriebskraft der religiösen Selbstreflexion und das zentrale Thema innerhalb der Tagebuchliteratur ist die eigene Todesgewißheit. Ariès hat in
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Fragmente. S. XXIII. Fragmente. S.XIV.
seiner Untersuchung über »Die Geschichte des Todes«35 auf den Zusammenhang zwischen Selbstbewußtsein und der Beziehung zum eigenen Tod hingewiesen. Das Bewußtsein von der eigenen Sterblichkeit stellt die Voraussetzung für die Ausbildung von Selbstbewußtsein dar und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod die Voraussetzung für die Erfahrung der eigenen Individualität. Der Tod ist das einzige und entscheidende Ereignis im Leben des Menschen, das ihn als Individuum kennzeichnet. In der Erfahrung des Todes ist der einzelne allein, er kann weder Zeit, Ort noch Umstände seines Todes bestimmen, noch kann er das Ereignis abwenden, es auf andere übertragen, den Akt des Sterbens delegieren. In der Reflexion auf den eigenen Tod und dem ständig präsent gehaltenen Bewußtsein von der eigenen Sterblichkeit erfährt der einzelne sich als einzigartiges Individuum. In der Reflexion auf das Ende der Existenz wird der einzelne sich seiner selbst bewußt. Lavater hat auf diese Grundvoraussetzung von Selbstbewußtsein in seinem Tagebuch hingewiesen: Diesen Gedanken überließ ich mich, und konnte mich dabey der äußersten Befremdung nicht erwehren, daß die meisten Menschen immer so sehr über sich selbst hinschielen, über ihre eigene Existenz, den Anfang und das Ende ihres Körpers, der mit ihrer eigenen Person so unzertrennlich und wesentlich verbunden zu seyn scheint, niemals in Bewunderung und tiefes Erstaunen gerathen, in einer beständigen Zerstreuung, Unbekanntschaft mit sich selbst, und, wenn ich so sagen darf, in einer so himmelweiten Entfernung von sich selber dahin leben; dahin träumen, sollte ich sagen. - 3 6
Mit diesen Sätzen gibt Lavater den Grund an, warum in allen religiösen Tagebüchern unabhängig vom Alter ihrer Schreiber die Todesthematik eine zentrale Rolle spielt: Auch der junge Schreiber, den keine Krankheit bedroht, kann sein Selbstbewußtsein nur angesichts des Todes erfahren. Die Reflexion über den eigenen Tod ist kein Privileg der Alten und Kranken, der Todesnahen mehr, sondern wird zum Gebot eines jeden, der sich um ein Bewußtsein seiner selbst bemüht. Lavater macht daher konsequent den Tod zum zentralen Thema seines exemplarischen Tagebuchs. Zunächst rekurriert er mit seinen Reflexionen noch einmal auf den vom Mittelalter bis zum Barock tradierten religiösen Diskurs des memento mori und der vanitas. Die Ausgestaltung des Sterbens seines Freundes zum eigenständigen, in sich geschlossenen romanhaften Text teilt das Tagebuch in zwei ungleiche Teile. Bildet die exemplarische Schilderung des christlichen Todes den Scheidepunkt des Tagebuchs, so rahmt die bildliche Gestaltung des Themas das Tagebuch ein und fügt es unter diesem zentralen Thema wieder zu einer Einheit zusammen. Am Ende des Tagebuchs liegt der Totenschädel, der nach dem Tode seines Freundes als persönliches memento mori in Lavaters Besitz gerät mit dem Stundenglas des eigenen Lebens auf dem Heiligen Text, der »Schrift« (vgl. Abb. 1). Zwischen den Kieferknochen des Schädels erkennt der Betrachter eine Waage. Im Hintergrund dieser allegorischen Darstellung verdrängt helles Licht düstere Wolken. Lavater selbst er-
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Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 1982. Geheimes Tagebuch. S. 123f.
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Abb. 1
läutert die Bildszene: »[...] von nun an will ich mich befleißigen und täglich üben, alle meine Thaten, Worte, Gedanken und Wünsche auf der Wage des Todes und der Schrift abzuwägen.«37 Wenn in der einen Schale der Waage die Heilige Schrift, der Text Gottes und die Mahnung an den eigenen Tod liegen, so auf der anderen die reale Person mit ihren Handlungen und ihr Text, das Tagebuch. Zu welcher Seite sich die Waage neigt, bedarf keiner Erwähnung. Noch stehen Text und Gebot Gottes und der Menschentext einander in unerreichbarer Entfernung gegenüber. Von der Bemühung, sich durch die Selbstproduktion im Text in den heiligen Text einzuschreiben, zeugt das Titelkupfer (vgl. Abb. 2). Wieder arrangiert Lavater dasselbe Symbolmaterial zu einem geschlossenen Bild. Rechts von dem Tagebuchschreiber, der rechten Hand zugeordnet, die die Feder führt, erhellt eine Lampe, das göttliche Licht der (Selbst)Erkenntnis den Raum. Links vom Schreiber, dem aufgestützten Arm zugewandt, der den Kopf des in melancholischer Haltung verharrenden Schreibers stützt, finden sich Stundenglas und Totenschädel. Der melancholischen Todesverfallenheit des Schreibers auf der einen Seite steht die von Licht umgebene kraftvolle Schreiberhand gegenüber. Den Mittelpunkt der Darstellung bildet das hell erleuchtete Tagebuchheft. Die Heilige Schrift ist in diesem Bild nicht mehr präsent. Das Tagebuch hat sie ersetzt. Dem Schreiben des eigenen Textes, eines neuen heiligen Textes, indem der alte aufgehoben ist, ist die Hoffnung auf Aussöhnung zwischen der eigenen Todesdrohung, dem dunklen bedrohlichen Ichanteil des Melancholikers und dem hellen Licht der aktiven aufklärenden (Selbst)Erkenntnis beigegeben. Zwischen dem Sturz in das Unbekannte, der Dunkelheit des Chaos, und dem göttlichen Licht der Gewißheit der Offenbarung steht der Text des Menschen, seine Selbsterschaffung im Schreiben. Als Glaubenszweifel thematisiert Lavater die eigene existenzielle Angst beim Anblick der Leiche seines Freundes im Text: Ich grif meine heiße Stime an - betastete meine Augen - und wie ein Waldwasser fiel mir die Empfindung auf die Brust. - >Auch diese werden einst verwesen; diese mir so nahen, so unentbehrlichen, dem Scheine und meiner Empfindung nach so wesentlichen Theile wer-
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Geheimes Tagebuch. S.264.
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Es sey denn, daß dein Geist, o mein Theurer! mitten in der Verwesung, wie Gott selbst in den Gräbern, wohne - daß du, den meine Seele liebte, - nicht du, irdisches Gefäß, leimerne Hütte - nicht du sichtbares Bild des Unsichtbaren - du Selbst, du unsichtbares Licht und Leben, noch dort unter den - ach schon ekelhaften - Trümmern, stille ruhest - wie Glut unter der Asche; es sey denn, daß die Verwesung dich nicht mehr erreiche - und das Sichtbare deinen neuverklärten Sinnen so unsichtbar sey, als einem Einwohner der Sonne die Nacht! - Ja, vielleicht bist du noch hier; vielleicht nahe bey mir; aber unerreichbar von mir. Hier ist ja auch Gott; - wenn du, mein Verklärter, in ihm lebst, so lebst du im Himmel; denn wo Gott ist, ist Himmel; und wer Gott fühlet und sieht, der ist im Himmel, wenn auch ein sterbliches Auge nichts als Verwesung, ja nichts als Hölle, um ihn erblickte. Wo du also immer seyn magst, mein theurer Entschlafener, so bist du im Himmel. 3 8
Der Totenschädel, Symbol des Sturzes aus dem göttlichen Diskurs ins Nichts und des Selbst- und Heilsverlustes, verknüpft im Tagebuch die Text- und Bildebenen. Am Ende des Romans vom christlichen Sterben erwirbt Lavater ihn von einem Wirt aus der anatomischen Sammlung des Sohnes, der Arzt ist. Die Erzählung von der Reise zum todkranken Freund, der letzten Begegnung, seinem Sterben und dem Abschied von dem Gestorbenen trägt romanhafte Züge und knüpft zunächst noch einmal an die Schilderung vom christlichen Sterben an, wie sie seit Gellerts Roman dem Lesepublikum vertraut war. Im Vordergrund der Erzählung steht hier aber nicht so sehr das vorbildliche Sterben des christlichen Freundes als vielmehr die Reflexion über die Reaktionen des beobachtenden Freundes am Sterbebette. Wieder folgt die Darstellung dem bekannten Schema von der Konfrontation zwischen Ideal und Wirklichkeit. Dem Idealbild des Sterbenden stehen die moralischen Defizite des Beobachters gegenüber. Sein größter Fehler besteht in dem Versäumnis, dauerhaft aus dem beispielhaften Ideal zu lernen und sein Leben auf das letzte Ziel eines ruhigen und christlichen Todes hin auszurichten. Am »Begräbnißtag« des Freundes demonstriert Lavater die gewünschte Lernhaltung angesichts des vorbildlichen Todes seines Freundes und gestaltet sie in einem Monolog am offenen Sarge beispielhaft aus (vgl. Abb. 3): Schon die Hälfte meines Lebens ist zurückgelegt, und ich habe mir noch nie einen halben Tag dazu ausgesetzt, über mich selbst, über meine Bestimmung, meine eigene Sterblichkeit und Unsterblichkeit nachzudenken! - O! du entsetzliche Zerstreuungssucht; du Feindinn der Vernunft, und der wahren Weisheit! Zerstörerinn der Seelenruhe! Räuberinn der Glückseligkeit! - Mutter der Thorheiten und Laster! - wann werde ich einst von deinen Fesseln frey seyn, die mich so sehr von dem Umgange mit mir selber zurückhalten. - 3 9
Und er schließt diese empfindsame Selbstreflexion mit dem Gelübde, dem Beispiel des sterbenden Freundes schon vor dem Tode nachzuleben:
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Geheimes Tagebuch. S. 115f. Geheimes Tagebuch. S. 108.
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Abb. 3
Ach! ich gelobe dir vor Gott, und vielleicht auch vor deinem unsterblichen Geiste: Ich will deiner nicht vergessen; ich will so leben, als wenn du ein beständiger Zeuge meines Lebens wärest - Gutes, nichts als Gutes soll diese Hand thun; Gutes, nichts als Gutes soll dieser Mund reden, der itzt so heilige Gelübde über deinem Sarge ausspricht. - 4 0
Zeugen und ständige Erinnerung an dieses Gelübde werden das Tagebuch und der Schädel, den Lavater auf der Rückreise erwirbt. Scheinbar zufällig gerät der Tagebuchschreiber auf dieser Reise in das anatomische Kabinett eines Arztes, um seine religiösen Reflexionen über den Tod durch die Anschauung der Natur erweitern und bestätigen zu können. Die Betrachtung der Natur des Menschen, seine Entwicklung vom »kleinen unreifen foetus« zum kalten, leblosen »Gebeine«, 4 1 wird ihm zum neuerlichen Beweis für die Existenz Gottes und seiner Schöpferkraft: O unergründlicher Anfang, o undurchdringliches Ende meines Lebens auf Erden - wie bin ich entstanden? wann habe ich angefangen zu seyn? welche Veränderungen werden vielleicht in wenigen Tagen mit diesem, diesem meinem Körper vorgehen? - O allzuhandgreiflicher Beweis, daß ein unsichtbarer, allmächtiger, ewiger Geist ist, dem ich mein Daseyn zu danken habe, daß ich nichts dazu beygetragen, weil ich in keiner Sache so sehr unwissend bin, als in derjenigen, welche meine eigene Existenz betrifft. 4 2
Der Roman vom christlichen Sterben ist aber nicht nur zur Nachahmung empfohlenes Lehrbeispiel, sondern darüber hinaus auch literarischer Selbstausdruck seines Schreibers. Das Tagebuch, das während der Sterbeszene immer wieder eine bedeutende Rolle spielt, ist sein Dokument. Im Tagebuchschreiben während des Sterbens seines Freundes dokumentiert Lavater nicht nur die Vorbildlichkeit des Sterbens, sondern rettet sich selbst, indem er im Schreibprozeß die Bedrohung seiner Person angesichts der verlöschenden Individualität des Freundes zum Ausdruck bringt und 40 41 42
Geheimes Tagebuch. S. 113. Geheimes Tagebuch. S. 123. Ebenda.
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überwindet. »Erhitzt« legt er die Feder nach dem Schreiben nieder. Unmittelbar nach dem Tod des Freundes kann er sich nur im Schreiben bewahren, die Bedrohung des Todes bannen: So weit schrieb ich noch in meinem Schlafzimmer, nachdem der Todte angekleidet und auf das reine Bette geleget war. Ich war ganz allein, eine Treppe höher als der Todte - und es ergriff mich ein Schauer, daß ich beynahe nicht aufsehen, auch kaum zu schreiben aufhören durfte. 43 Je näher und unausweichlicher die Präsenz des Todes, um so größer und ungebremster wird der Schreibzwang, mit dem der Verfasser gegen die Schrecken des Todes revoltiert. Das Ende des Schreibens bedeutet Tod, Verlöschen der Individualität, daher schreibt der »Gefährte« des Sterbenden unausgesetzt, um sich als Lebender zu erfahren, die Sinnlosigkeit des Todes durch die Zeichenflut zu ersticken: Ach! Gott! was ist der Mensch, was bin ich, der ich itzt noch lebe - Diese Hand, welche die Feder hält und führt - einst den warmen Athem hinterlassener Geliebter, die sie noch küssen, nicht mehr empfinden - Und du, mein thränenvolles Auge - deine Thränen werden einst versiegen. Ihr werdet einst erstarren wie meines Entschlafenen Geliebten lichtlose Augen - Nicht mehr athmen wirst du mein Mund; meine Zunge nicht mehr sprechen; da liegen werde ich, und nicht mehr hören, was nah und ferne von meinem entseelten Leichname Gutes oder Böses von mir geredet wird!44 Daß dieser Schreibfluß zum Selbstzweck, d.h. zur Materialisation des Selbsterlebens seines Schreibers wird und damit die moralisch-didaktische Lehrabsicht des Tagebuchs verläßt, vermerkt der Schreiber selbst im Diskurs des Gewissens: Schon 6 Stunden, seitdem mein Geliebter im Lichte der Ewigkeit anbethet, und die Früchte seines Lebens genießt - O Herz, Herz, du weigertest dich zu bethen - ich entsetze mich vor deinem Leichtsinne! Nun stund ich auf, setzte das Tischgen nahe an das Camin, und - bethete nicht, sondern schrieb bis hieher an meinem Tagebuche - Du magst es dir gestehen, oder nicht; es war Zerstreuungssucht und geheime Abneigung vom Gebethe, daß ich dieses that. Lieber schreibe ich meine Thorheiten auf, ja lieber bekennete ich sie - nein - doch nicht alle; alle würde ich niemals bekennen - aber verbessern will ich mich nicht ! - Meine bessern Empfindungen, meine guten Entschließungen, meine Tugenden, beruhen nur auf äußerlichen zufälligen Umständen - und auch diese erhalten ihre Stärke oft nur wenige Augenblicke. - Doch, ich will kein Wort mehr fortschreiben; ich will die Feder niederlegen und bethen; eben darum bethen, weil ich eine geheime Abneigung dagegen spüre - Fürchterliche Ahndung! 45 In seinem zweiten Tagebuch versucht Lavater sogar angesichts des Todes seiner Mutter seine eigene Existenz in dieser Welt über den Tod hinaus durch die Schrift zu verlängern, indem er einen Grabspruch für sich selbst verfaßt. Er tut dies in seiner Geheimschrift, da er sich seiner Hybris gegenüber dem göttlichen Gebot bewußt ist. Die Verfehlung des Tagebuchschreibers besteht im Sich-Verlieren an den Text, in
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Geheimes Tagebuch. S.95. Geheimes Tagebuch. S. 94. Geheimes Tagebuch. S. 98f.
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der Abkehr vom Dialog mit Gott und dem Eintreten in den Dialog mit sich selbst, in die autonome Selbstproduktion im Medium Text. Darum mündet das Tagebuch denn auch sogleich wieder in den Diskurs religiöser Erweckungssehnsucht ein, ins artifizielle Tagebuchgebet: Gott! sagte ich, bester Gott! warum weigere ich mich so sehr, mich mit dir zu unterhalten! wird mein Herz immer so frostig bleiben? dich immer so unterbrochen, so zweydeutig, so lieblos - lieben? wann werde ich doch einmal meinen Empfindungen trauen dürfen? Kannst du denn dieß steinerne Herz nicht zerbrechen? mich nicht zu einer ganz redlichen, dauerhaften und unüberwindlichen Liebe entflammen? - warum vergesse ich deiner so bald wieder? - und meiner selbst fast alle Augenblicke? - Ach! muß ich so gar an diesem Tage, wo ich von den stärksten Erweckungen umringt bin, Klagen über mein armes Herz führen? - 4 6
Das Gebot des Gewissens zwingt den Tagebuchschreiber zum Schweigen, untersagt seine selbstbezogenen Abwehrversuche des Chaos, seine Selbstrettungsversuche im Schreiben, brandmarkt sie als Sünde und zwingt ihn wieder unter sein Diskurssystem. 2.3 Texterweckung Dieser Entfernung vom Dialog mit Gott folgt das zentrale Erweckungserlebnis unmittelbar vor dem 33. Geburtstag des Tagebuchschreibers. Am Ende des Tagesberichts hält er diese zentrale Szene zur ständigen Erinnerung im Bild fest (vgl. Abb. 4 u. 5). Hier dominieren wieder dieselben symbolischen Gegenstände wie im Titel- und Abschlußkupfer, allerdings in einem entscheidend anderen Arrangement. Im Mittelpunkt der Darstellung findet der Betrachter den Tagebuchschreiber auf den Knien ins Gebet versunken. Sein Kopf ist dem hellen Licht zugewandt, das seine Gestalt erleuchtet. Ihm abgewandt erscheint schemenhaft der Totenschädel aus dem Dunkel. Das Stundenglas fehlt ganz, es ist durch eine große Uhr ersetzt. Der Tod als Sturz in das Chaos scheint in dieser Situation vom Licht der Erweckung als Aufbruch in ein neues Leben überwunden, in dem der Tod seine Macht verloren hat. Daß Lavater mit diesem Erweckungserlebnis die pietistische Urszene nachschreibt, reflektiert er angesichts möglicher Kritik im Tagebuch selbst. An die Adresse der Pietisten gerichtet, verwahrt er sich gegen eine vorschnelle Zuordnung in ihr Lager, durch seine Kritik an ihrer Selbstgewißheit und Selbstgerechtigkeit, dem Bewußtsein der Auserwählten im Gnadenstand: Nur muß ich mich wohl hüten, diese glückliche Situation als ein absolutes Kennzeichen meines Gnadenstandes, das heißt, meiner persönlichen und beständigen Fähigkeit zur himmlischen Gemeinschaft mit Gott anzusehen. - So gut, so erhaben, so göttlich immer dieselbe seyn möchte, so würde sie vielmehr zu meiner Verdammniß dienen, wenn sie mich nicht tugendhafter, redlicher im Handeln, thätiger, demüthiger in meinem Betragen u.s.w. machte. 47
46 47
Geheimes Tagebuch. S.99f. Geheimes Tagebuch. S.219.
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Abb. 4
G e g e n den Vorwurf der religiösen Schwärmerei v o n Seiten der O r t h o d o x i e definiert er ganz in pietistischer Manier das Erweckungserlebnis nicht als Produkt seiner Phantasie, sondern als ein G e s c h e n k Gottes: Ich kenne die Natur meiner Seele so wenig, als die Art und Weise, wie die allgegenwärtige Gottheit auf Geister wirken kann; - wenn Gott will, daß ich eine Empfindung als sein unmittelbares Werk ansehen soll, so wird er sie von allen natürlicher Weise möglichen Empfindungen hinlänglich zu unterscheiden wissen. Genug, jede der Wahrheit gemäße Empfindung, [...] muß Gott, den Quell alles Guten, auf irgend eine Weise zum Urheber haben. 4 8 K e n n z e i c h e n dieses übernatürlichen Erweckungserlebnisses sind die tiefe E m p f i n dung der Existenz G o t t e s und die widerspruchsfreie Selbsterfahrung als sein G e schöpf, die d e n passiv E r l e i d e n d e n zu e i n e m qualitativ n e u e n L e b e n und Selbstbewußtsein erwecken. Typisch zunächst die Gestaltung d i e s e s Erweckungserlebnisses bei Lavater: Des Abends war ich ganz allein und empfand einigen Trieb zur Andacht. [...] Mein Gemüth wurde innigst bewegt, und meine stille Freude gieng nach und nach bis zu einer wirklichen Entzückung fort - Eine Freudenthräne schlug die andere; mir ward so unaussprechlich wohl, daß ich auf mein Angesicht niedersank, alles um mich her vergaß, und nur Gott fühlte. Ich empfand meine tiefe Ohnmacht, Leerheit, mein Nichts - und Gott - ach! wie unaussprechlich empfand ich dich, du lebendiges Wesen! - Gott, alles in allen! Ich bethete mit einer so mächtigen, durchdringenden, Gott umfassenden Kraft, mit einer solchen Demuth, Andacht, Inbrunst, Freudigkeit, daß ich mich ganz in ein neues Leben versetzt zu seyn glaubte. 49 D a s Verschmelzen mit Gott und seiner S c h ö p f u n g wird im w e i t e r e n Verlauf zu ei-
48 49
Geheimes Tagebuch. S.218. Geheimes Tagebuch. S.215.
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Abb. 5
nem gesteigerten Selbsterlebnis, das den Schreiber mit einer gottgleichen allumfassenden Kraft ausstattet und in ein religiöses Erhabenheitsgefühl einmündet: Mein Gebeth war auch von so umfassender Kraft. Alle meine Hausgenossen, Freunde, Mitbürger, Feinde, alle Christen, Menschen, waren darinn begriffen; ich drang bis an die entferntsten Meere; in die tiefsten Bergwerke - Gefängnisse - ich umfaßte im Geiste alles was Mensch heißt - gegenwärtige und künftige Zeiten - und Nationen - Kinder im Mutterleibe - Verstorbene - Verdammte, ja - den Satan selber - alle trug ich Gott mit innigster Liebe und mit einem tiefen Gefühle meines Nichts, unter einem Strome von heissen Liebes- und Freudenthränen dem so nahen Unendlichen vor. 50
Der Roman der Erweckung findet hier seine Vollendung. Mit dieser affektgeladenen, distanzlosen Schilderung seines Erweckungserlebnisses sprengt Lavater den Rahmen religiöser Didaxe. Sein Nacherleben der Szene im Text bekommt Selbstzweck und wird zur Manifestation seines gestärkten Selbstgefühls aus der religiösen Urszene. Damit literarisiert er die religiöse Erweckungsszene zum machtvollen Selbstausdruck des Individuums. Er löst durch seine künstlerische Gestaltung die religiöse Urszene aus ihrer engen Zweckbindung und macht sie zu einem literarischen Ereignis, einem freilich noch religiös getönten Selbsterleben ähnlich dem der Sturm und Drang-Generation. Goethe hat diese Literalisierung pietistischen Selbsterlebens mit den autobiographischen Aufzeichnungen der gemeinsamen Freundin Susanna von Klettenberg im »Wilhelm Meister« konsequent fortgesetzt. Demselben Gestaltungsprinzip folgt der 33. Geburtstag im Tagebuch. Als Lavater das Tagebuch publiziert, ist er erst 27 Jahre alt. Für die Darstellung dieses zentralen Datums aller Tagebücher wählt er aber das im christlichen Kontext symbolische Alter, um damit nicht nur seiner Christusphilosophie Ausdruck zu verleihen, sondern auch seine eigene Person in Beziehung zu seinem Vorbild setzen zu können.
so
Geheimes Tagebuch. S.216.
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Zunächst beginnt Lavater seinen Geburtstagsbericht ganz nach den Regeln der religiösen Gewissenserforschung, der summarischen Jahres- und Lebensbilanz, die dieses Datum vom Tagebuchschreiber einfordert. Er vermerkt mit Erschrecken, das stetige Verrinnen von Lebenszeit, kritisiert ihre unzureichende Nutzung zur Verbesserung seiner selbst. Hier diagnostiziert er den Stillstand seiner moralischen Entwicklung mit den bekannten Formeln religiöser Selbstanklage: [...] ich muß, wenn ich nach der Wahrheit reden will, mit Schaam gestehen, daß ich im Grunde noch eben derselbe ungöttliche, verderbte Mensch bin, der ich schon im Anfange meines vernünftigen Lebens zu seyn, lebhaft empfand; [...] ich bin doch im Grunde immer noch der alte, sündliche, verdorbene, ungöttliche Mensch. 51
Mit pietistischer Rigidität propagiert er am Ende seiner umfassenden Gewissenserforschung als Ziel bedingungslose Selbstbeherrschung, Selbstverleugnung und -unterwerfung: »Ich muß, wenn ich Christo angehören will, mein Fleisch samt den Lüsten und Begierden gekreuzigt haben.« 52 An das Sündenbekenntnis schließt ein langes, durch profane Alltagsgeschäfte zweimal unterbrochenes Gebet an, in dem der Protagonist um ein erneutes Erweckungserlebnis, die Gnade der Wiedergeburt an seinem 33. Geburtstag bittet: Versetze mich mit deiner mächtigen Hand in das Reich deines lieben Sohnes, welches nicht in Worten, sondern in Kraft besteht; welches ist Gerechtigkeit. Friede und Freude im heiligen Geiste! Was ich erst gestern in unaussprechlicher Anbethung deiner göttlichen Majestät und Liebenswürdigkeit empfand; jene weitreichenden, das ganze menschliche Geschlecht umfassenden Gefühle der wahren Liebe des Geistes, laß sie nicht nur flüchtig durch meine Seele blitzen! Laß sie mich immer zu großen Werken der Selbstverläugnung und Wohlthätigkeit beleben! 53
Dann erst würde der Geburtstag zum symbolischen Datum. Dem Beispiel Jesu, der in seinem 33. Jahr durch seinen Tod mit dem Vater vereint wurde, sucht der Schreiber in der Bitte um Wiedergeburt nachzuleben, durch den Tod des alten Menschen und die Geburt in einer neuen höheren Existenz dem Vorbild Jesu nachzufolgen und den eigenen Tod zu überwinden. Das Wunschbild des Gebetstextes evoziert das Persönlichkeitsideal seines Schreibers als eines Bruders Jesu: Ach, Gott! ich habe mich überwunden, mit dir zu reden, der ich Staub und Asche bin - ach! würdige mich, dein Geschöpf, einen Hauch deines Mundes, dein Kind, einen Bruder Jesu Christi, mich, für den Jesus Christus gestorben ist - würdige mich armen, ohne dich ohnmächtigen Todten - ach! 54
Der Tod des Gottessohns und der Tod des alten Menschen, die Aufgabe der Sündenexistenz als Überwindung der individuellen Todesdrohung, werden im Gebet auf eine Ebene gestellt, Jesus und der Erweckungssüchtige zu gleichberechtig-
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Geheimes Geheimes Geheimes Geheimes
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Tagebuch. Tagebuch. Tagebuch. Tagebuch.
S.223f. S.226. S.229f. S.232.
ten Brüdern eines Vaters. Damit wertet der Tagebuchschreiber im Erniedrigungsdiskurs des Gebets die eigene Person am symbolischen Geburtstag zum Abbild Christi auf, zum menschlichen Ebenbild des Gottessohns: »[...] dieser mein Geburtstag, ach möchte er der Tag meiner geistlichen Wiedergeburt, und der erste Tag eines neuen ganz göttlichen und himmlischen Lebens werden!«55 Der Wunsch nach Wiedergeburt gibt im Gebet am 33. Geburtstag sein eigentliches Motiv zu erkennen, das nach der Überwindung der eigenen Todesdrohung durch den Beginn und die Garantie des ewigen Lebens zu Lebzeiten. An diesen Textbeispielen wird deutlich, daß Lavaters Tagebuchpublikation mehr ist als ein rein didaktisches Beispiel vorbildlicher Tagebuchführung. Vorsichtig bricht Lavater an zentralen Stellen aus dem religiösen Diskurssystem aus und betreibt unausgesprochen die Literarisierung seiner Person, ohne dies wie in den späteren Tagebüchern explizit zu reflektieren und zum eigentlichen Ziel des Schreibens zu machen. An den Rändern des Dialogs mit Gott wird das Tagebuch unbemerkt zum Roman des Ich, zum Vorläufer jener autobiographischen Romane eines Moritz oder Jung-Stilling. Ging es in den Tagebüchern Hallers und Gellerts noch um das Einschreiben des Gotteswortes, des heiligen Textes, in die Seele des Menschen, so hat sich Lavater bereits weit von dieser unselbständigen Selbsterfahrung entfernt. Die Heilige Schrift als Gottestext dient ihm als Vorbild für den eigenen Lebenstext. Wie Gott sich in der Heiligen Schrift offenbart, so offenbart sich der Mensch in seinem (Tagebuch-)Text. Heilige Schrift und Menschentext stehen seit Lavater selbständig und unabhängig nebeneinander, wenn auch der eine die Urschrift für den anderen darstellt. Lavater nähert damit den Menschen Gott an, indem er auch ihm eine Textexistenz erschreibt und ihn zugleich als Text begreift, den es zu lesen und zu deuten gilt.
3.
Die Konkurrenz der Texte - Gottes-, Menschen- und Naturtext: »Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst« 1773
Lavaters zweites Tagebuch, das er Zollikofer zur Publikation überläßt, ist kein Erbauungsbuch mehr, sondern Selbstdarstellung seines Autors im Kontext konkurrierender Texte. Lavaters Leben, dies belegt seine Theorie und Praxis des Tagebuchschreibens, ist ein literales. So wie er sich selbst nur als Text und im Text realisieren kann, seine gesamte Existenz eine literale ist, so versteht er auch seine Umwelt als eine textual, bzw. literal vermittelte. In dem Titelkupfer zu der Prachtausgabe der »Unveränderten Fragmenten aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst«56 (vgl. Abb. 6) spielt Lavater in 55 56
Geheimes Tagebuch. S.230f. Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst; oder des Tagebuches Zweyter Theil, nebst einem Schreiben an den Herausgeber desselben. Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich. 1773.
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Beipiig, btp SSM&matme SWdj. 1773.
mehrfacher Weise auf diesen Zusammenhang an. Der Bildgehalt des Kupfers ist entgegen den anderen vier Bilddarstellungen im Text im höchsten Maße offen und mehrdeutig. Aus nur drei Elementen ist das Kupfer komponiert: drei Säulen, zwei Putten und zwei Vorhängen. Wie auf einem Theaterschauplatz öffnen die Putten für den Betrachter zwei hintereinander angeordnete Vorhänge. Der rechte Putto enthüllt mit einem dem Betrachter freundlich zugewandten Blick eine leere Bildsäule, die sich vor dem Hintergrund des zweiten, dunklen Vorhangs abhebt. Der zweite Putto gibt nur durch seinen ausgestreckten Arm, mit dem er den Vorhang aufhält, einen kleinen, leeren Raum hinter dem Vorhang frei. Er stützt den Kopf melancholisch auf den freien Arm und wendet sich sowohl von der Bildszene als auch vom Betrachter ab. Die Darstellung läßt Deutungen auf mindestens zwei Ebenen zu. Zunächst kann sie im Kontext religiöser Selbstdarstellung als Ablauf menschlicher Lebensgeschichte verstanden werden, die durch den undurchlässigen Hintergrund des dunklen zweiten Vorhangs begrenzt ist. Hinter dem zweiten Vorhang verbirgt sich für den Betrachter wie für den Autor das zweite, das eigentliche Leben, dessen Geheimnis der Schreiber nicht zu lüften und nur durch den kleinen Einblick auf die Strahlen des Lichts und die hellen Wolken, die sich hinter ihm auftun, anzudeuten vermag. Es ist das Leben nach dem Tode, mit dem die Schwelle zu der göttlichen Welt überschritten wird. Einlaß in diese Welt gewährt nur der Tod, symbolisiert durch den melancholischen Putto, der die Öffnung des Vorhangs überwacht. Der Tod selber hat keinen Zugang, er weiß nichts von dem Leben, das auf ihn folgt, der Putto darf daher den Blick nicht nach hinten wenden. Ihm ist allein die statische Position auf der Grenze zwischen den beiden Welten zugewiesen. Aus dieser religiösen Deutung lassen sich weitere ableiten. Begreift man die beiden Bildräume, die die Vorhänge abteilen, als Textebenen, so stehen sie für die Arbeit des schrittweisen Enthüllens verschiedener hierarchisch angeordneter Texte im Schreiben. Das Tagebuchschreiben als Selbsterschaffung des Autors, symbolisiert durch die Bildsäule hinter dem ersten Vorhang, öffnet den Blick ins Innere des Schreibers. Diese Enthüllung bleibt aber unvollständig, denn hinter ihr verbirgt sich die entscheidende Textebene, der Gottestext, der erst die Erhellung des Bildraums möglich macht und das dunkle Bild des Vorraums in ein neues Licht tauchen kann, d. h. die erste Textebene zu einer qualitativ neuen umwandelt. Diese Arbeit des Hebens der Vorhänge, der sich immer weiter differenzierenden Textproduktion, erscheint als unendlicher Prozeß, denn die Öffnung des zweiten Vorhangs läßt sich auch als Anfang einer immer weiter fortsetzbaren Enthüllungsarbeit verstehen. Darüber hinaus bietet sich eine ergänzende psychologische Deutung an, die auf die einzelnen, in unterschiedlicher Weise zugänglichen Schichten (Bewußtes, Unbewußtes) verweist, in die sich das Ich auffächert und die der diarische Schreibprozeß durchdringen soll. Lavaters zweites Tagebuch ist damit das erste publizierte Tagebuch, das sich aus dem Kontext des religiösen Diskurses emanzipieren kann und konsequent einen eigenen Lebenstext erschreibt, der vorrangig den bis dahin ungeschriebenen, einzigartigen Regeln seiner selbst folgt. Während im ersten Tagebuch der Protagonist die Nachschrift der heiligen Urschrift zu leisten versuchte, tritt der individuelle Lebenstext nun gleichberechtigt neben den konkurrierenden Text der Heiligen Schrift. 111
Wenn Lavaters zweites Tagebuch das erste individuelle, im Bewußtsein der Selbsterschaffung im Schreiben entstandene Tagebuch ist, dann hat dies Konsequenzen für die Form des Tagebuchs. Als individueller Lebenstext wird das Tagebuch zur offenen, fragmentarischen Form mit heterogensten Inhalten und setzt sich damit bewußt in Gegensatz zum geschlossenen literarischen Kunstwerk. Im individuellen Tagebuch dominiert das Marginale, Alltägliche, scheinbar Unbedeutende, das Zusammenhanglose und Widersprüchliche. Als signifikantes Merkmal von Individualität wertet das Tagebuch das aus der literarischen Kommunikation Ausgegrenzte auf und rückt es konsequent ins Zentrum seines Interesses. Lavater rechtfertigt in seinem Vorwort gegenüber seinem Herausgeber diese notwendige Form des Tagebuchs: Den Einwurf, der selbst einigen der weisesten Männer entronnen ist, (verzeihen Sie mir diesen unbescheidenen Ausdruck) daß die allergleichgiiltigsten Dinge nicht hinein gehören - mögen Sie, mein Theurer, selbst beantworten. Der Verfasser oder Herausgeber eines Tagebuchs - will er bloß Tilgenden oder Sünden darlegen?... Hat nicht jedes Gemähide einen Grund; und manche Arzney will auch eine Capsel, ein Gefäß oder ein Vehiculum haben [...] Wenn Sie es weder an sich, noch als Geschichte, noch als Ergänzung, noch als Grund und Boden schicklich und nützlich finden, so lassen Sie es ohne Bedenken weg. Mannichfaltigkeit aber, denke ich, wenn es auch weiter nichts, als das wäre, sollte doch, als untergeordnetes Mittel zu einem andern guten Zweck einigen Werth haben. 57
In diesem Sinne läßt Lavaters zweites Tagebuch auch keine durchgängige Gesamtkonstruktion erkennen, sondern zerfällt in mehrere von einander unabhängige Teile. Das Tagebuch setzt mit dem November 1772 ein. Der erste, in sich geschlossenste und ausführlichste Teil umfaßt den Januar 1773, den Sterbemonat der Mutter Lavaters. Auf ihn folgen die Monate Februar bis Mai, die fast ausschließlich durch ausgewählte Beispiele aus Lavaters Korrespondenz repräsentiert werden. Nach dem Tod seiner Mutter scheint es Lavater schwer gefallen zu sein, sich unmittelbar im Tagebuchschreiben zu veröffentlichen. Aus diesem Grunde mag er die indirekte Selbstmitteilung durch die Briefform im Tagebuch gewählt haben, die durch die konkrete Adresse an eine bestimmte Person eine Distanzierung des Autors gegenüber seinem Publikum erlaubt. Hier findet Lavater ein Forum für seine öffentliche Selbstdarstellung, indem er sich in einem scheinbar privaten Raum zu allgemeinen Themen äußern, auf seine Zeitgenossen belehrend wirken und seine Position gefahrlos deutlich machen kann. Im letzten Textteil finden sich wieder verstärkt Eintragungen mit Themen aus dem unmittelbaren privaten Leben. Das Tagebuch endet mit dem 5. Juni 1773. In Lavaters zweitem Tagebuch kommunizieren Texte miteinander. Zwei Gesichtspunkte sind neu und innerhalb des theologisch-philosophischen Diskurses revolutionär. Das ist das Verständnis vom Menschen als einem Text, einem komplexen Gebilde, der sich im Text realisiert und der wie ein Text von den anderen wahrgenommen und entschlüsselt werden muß. An der Lektüre der Heiligen Schrift wird
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Fragmente. S. XXVII ff.
112
dieses neue Textverständnis eingeübt. Gegen das isolierte Studium der Heiligen Schrift, das ζ. B. Haller und Geliert noch propagierten, setzt Lavater die diskursive Auseinandersetzung im Dialog zwischen Gleichgesinnten: Gemeinschaftliches Lesen der Schrift unter gleichgesinnten, wahrheitliebenden, demüthigen Menschen (deren Anzahl aber auf einmal nicht zu stark seyn muß) ist eines der einfältigsten und sichersten Mittel, das Reich Gottes auszubreiten. 58
Darüber hinaus stellt Lavater die Heilige Schrift mit dem Menschentext auf eine Stufe, ja er ordnet diese sogar jenem nach und behauptet von der Heiligen Schrift, daß sie nur unzulängliches Abbild des Menschentextes sei. Bei Lavater wird die Heilige Schrift als absoluter Text, in der Gott seine Worte unmittelbar und direkt dem Menschen als sein Werkzeug einpflanzt, zum Evangelium, einem von Menschen geschaffenen Text: Itzt sage ich nur mit zwey Worten so viel: Es ist in dem Evangelio kein Gebot, keine Vorschrift, die nicht dem Wesen nach in aller Menschen Herzen geschrieben sey; ja, das menschliche Herz ist immer noch viel größer, weitumsichgreifender, erhabener, als der strengste Buchstabe des Evangeliums. Das Evangelium bringt nichts in unser Herz herein, so wenig als ein treuer Ausleger in den Text. Es soll nur das aufwecken, was in dem Herzen ist. Das Evangelium fordert nur mit Tönen und Buchstaben und in leuchtenden Beyspielen - was unser Herz durch Triebe und Empfindungen fordert. Das Evangelium ist nur der Commentar (die Auslegebibel) über unser Herz. 59
Daher kann die Heilige Schrift dem Menschen nicht mehr eingeschrieben und damit vorgeschrieben werden, sondern der Herzenstext des Menschen ist der erste ursprüngliche und lebendige Text, zu dem die Schrift einen unvollkommenen Kommentar darstellt. Damit wertet Lavater das Individuum und seinen Lebenstext auf und stellt ihn über alle Schrift. Die Buchstaben der Heiligen Schrift kennzeichnet Lavater als erloschene Zeichen, statisches, totes Material, dem der lebendige in ständiger Bewegung gehaltene Menschentext gegenübersteht. So macht Lavater die Heilige Schrift gegenüber dem Menschentext zum sekundären Text: »Gott und der Mensch ist immer der Text. Alle Buchstaben sind nur Auslegung; was sage ich, sind nur Bild, Copie, Umriß, Schatten.«60 Die Schrift kennzeichnet Lavater als totes Zeichensystem, als »Schatten« des Lebendigen, als lebloses Abbild. Auch die eigene Lebensschrift führt wie die Heilige Schrift eine eigenständige Existenz. Als endgültige, festgestellte Lebensäußerung wird sie zum toten Zeichen und zum Zeichen des Todes. Textproduktion, das Schreiben selbst, ist dagegen Ausdruck des Lebens, während die zu Schrift geronnenen Zeichen Zeugen des Todes sind. Daher weist Lavater immer wieder darauf hin, daß er für sich selbst keine sinnvollere Beschäftigung kenne als das Führen eines Tagebuchs, das Erschreiben des eigenen Lebenstextes, die Selbsterschaffung des Menschen als Text: 58 59 60
Fragmente. S.309. Fragmente. S.XIXf. Ebenda. 113
Überhaupt kann ich den Gedanken noch nicht aufgeben, daß ich, wofern ich Zeit hätte, für meine Kinder, meine Freunde, und vielleicht auch nach meinem Tode für die Welt kaum etwas Nützlicheres und Unterhaltenderes schreiben könnte, als ein umständliches Tagebuch. 61 D i e Literalisierung der e i g e n e n Person im Tagebuchschreiben schafft das dauerhafte B e w u ß t s e i n v o n der e i g e n e n Existenz im Text, das auf die Gesprächspartner übergeht und sie gleichfalls in diese literale Existenz einbindet. Sie wird v o n d e n B e z u g s p e r s o n e n Lavaters als Realität akzeptiert: L e b e n wird zu e i n e m L e b e n im, für und durch d e n Text, w i e Lavater seinen Freund Pfenninger im Tagebuch formulieren läßt: Bey dem Nachtessen schütteten wir unsere Herzen gegen einander aus über verschiedene Unmenschlichkeiten und Kaltsinnigkeiten, die oft unter uns so wenig geachtet werden. Ich konnte mich einige Male der bittersten Thränen nicht enthalten - Einmal entfuhr mir ein etwas harter Ausdruck - Kommt der auch ins Tagebuch? - fragte P. liebreich lächelnd. 62 D e m Schreiben wird das L e s e n als gleichwertige Tätigkeit an die Seite gestellt. Schreiber und Leser k e n n z e i c h n e t Lavater als »Geschwister«. A l s Schreiber und Leser w e r d e n die e i n z e l n e n erst zu M e n s c h e n , d e n n die Fähigkeit zur reflektierenden Selbst- und F r e m d w a h r n e h m u n g bildet die Voraussetzung für das G e l i n g e n von Kommunikation: Aber - das muß ich auch nicht vergessen, noch beyzufügen - wenn ich etwas dazu beytragen kann, die so sehr unmenschliche Unvertraulichkeit zwischen Menschen und Menschen; das fremde Wesen, daß sie wechselweise annehmen, auch nur einigermaßen verächtlich, und brüderliches, vertrauliches, aufrichtiges Mittheilen seiner Selbst, und brüderliches Theilnehmen an den häuslichen und moralischen Angelegenheiten anderer, auch nur ein wenig gemeiner zu machen; wenn ich nur wenigstens den Gedanken mit auf die Bahn bringen helfe, daß Schriftsteller Menschen, und Leser Menschen, und Schriftsteller und Leser Geschwister sind. 63 D e m Schreiben als einziger Form d e s Selbsterlebens und seines Ausdrucks korrespondiert das L e s e n als einzige m ö g l i c h e Form der Erfahrung der Individualität anderer. D a h e r stellt Lavater das L e s e n fremder Tagebücher fast über das aller anderen Texte, w e n n er gesteht, so muß ich dennoch das dabey sagen, daß ich jedem herzlich danken würde, der mir eine solche wahre Geschichte seines Lebens und seines Herzens mit so vielen Kleinigkeiten,
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Fragmente. S. 185f. Vgl. auch noch einmal im Vorwort: »Finden Sie aber gut, es herauszugeben, so will ich mich gegen alle Mißdeutungen und unangenehme Urtheile, und gegen die weit empfindlicheren Vorwürfe meines eignen Bischens von Bescheidenheit mit dem Gedanken waffnen, den ich einigen verständigen Lesern abgeborgt habe: >daß ich noch nichts nützlicheres geschrieben habe, und nichts nützlicheres schreiben werde, als ein solches TagebuchLaß mich erwachen, ehe ich entschlafe, und leben, ehe ich sterbe! Aber Eines, sagte meine Frau lächelnd, vergissest du - Es gehört auch dazu, und hat mit uns Freude ... Nun war meine Freude vollkommen.... Gott segne euch ihr Lieben! der Freudengeber... Gott.... Gott segne euch< ... Geschwind eilte ich, nachdem ich mein Frühstück genommen, diese Scene mir unvergeßlich zu machen. Es ist gar zu süße, sich an dergleichen Auftritte zu erinnern, besonders wenn sie auf solche Tage fallen, die sich noch durch andere Umstände in unserm Leben auszeichnen. 88
In dieser profanierten Verkündigungsszene wird die Generativität der Familie als Abwehr der Schrecken des Todes eingeführt. Angesichts des Todes sichert die Familie Kontinuität und individuelles Weiterleben. Für den »Jenner 1773«, den Monat des Todes von Lavaters Mutter, findet der Leser zwei Kupferstiche vor: Der eine am Monatsende verweist als Variation der memento mori-Darstellungen anläßlich des Todes von Felix Hess auf das erste Tagebuch. Mit einer ausdrucksstarken Geste der Trauer und Verzweiflung schaut Lavater in den leeren, offenen Sarg der Mutter, an dessen Kopf- und Fußende der Sargschreiner und sein Geselle noch letzte Hand zu seiner Ausstattung anlegen. Das eigene Titelkupfer für den Monat thematisiert dagegen den Kampf zwischen der Familie als Garantin des Lebens und dem Tod. Im Zentrum des Bildes findet der Betrachter eine harmonisch aufeinander bezogene, in sich abgeschlossene Familiengruppe (vgl. Abb. 8).
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Fragmente. S. 168.
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Abb. 8
Lavaters häufig kranke, hier schwangere Frau liegt auf dem Bett, ihrem vor dem Bett sitzenden Gatten zugewandt. Nur der Sohn ist in dieser Szene abwesend. Vor dem Bett steht die Wiege mit dem jüngsten Kind, das Vater und Mutter gleichermaßen ansieht. Die drei Personen scheinen ganz auf sich konzentriert, ihre Anordnung bildet ein Dreieck, in dem jeder der Eckpunkte mit den anderen beiden durch die Linien des Blickkontakts verbunden ist, so daß das Dreieck zu einer geschlossenen Kreisfigur tendiert. Erst auf den zweiten Blick fällt dem Betrachter im rechten unteren Bildrand die Detaildarstellung eines geschlossenen Sarges auf, dem in der Diagonale auf der linken oberen Bildseite ein hell erleuchtetes Fenster gegenübersteht. Mit dieser Darstellung nimmt Lavater den Tod in die Familiensituation hinein, er versucht nicht, seine Existenz zu leugnen oder auszugrenzen. In einem Gespräch mit einer Freundin spricht er von dem Gange meines Herzens bey dem Leidens= und Sterbebette meiner Mutter. Sie konnte nicht begreifen, wie ich diesem Tode, und dem Tode meiner beyden allerliebsten Herzensfreunde habe zusehen können.... Ich sagte: viel eher zusehen, als nicht zusehen. Die Imagination schafft sich die Sache immer furchtbarer, als die Natur ist. Nebst dem sind immer so viele die Empfindlichkeit mäßigende, beschäfftigende, zerstreuende Umstände; u. s. f. daß ich es immer wohl aushalten - sehr oft nicht weinen konnte, wenn auch alle neben mir weinten. 89
Dennoch bleiben Familie und Tod getrennt. Die in der Darstellung dominante Familie nimmt den Tod zwar wahr und akzeptiert seine Realität, aber sie schließt sich
89
Fragmente. S. 163.
122
Abb. 9 machtvoll als Hort des Lebens gegen ihn ab und wird zu seinem utopischen Gegenbild. A m letzten Tage seines zweiten Tagebuchs erwartet Lavater die Ankunft des neuen Familienmitglieds, mit dem die Familiengeschichte und damit auch diejenige des Schreibers in die Zukunft fortgeschrieben wird: »In der Erwartung, daß meine Frau heute oder morgen niederkommen werde, hatte ich Pf. gebeten, am Sonntag Abend für mich zu predigen,« 90 notiert Lavater am 5. Junius 1773. Während Reflexionen zu Feiertagen des Kirchenjahres, (Neujahr, Ostern, Weihnachten) in Lavaters zweitem Tagebuch deutlich zurücktreten, gewinnen konsequenterweise individuelle Feiertage aus der eigenen Biographie an Bedeutung. So wird nicht von ungefähr die ausführliche Darstellung seines siebten Hochzeitstages zu einer Feier der Ehe, in der sich das bürgerliche Familienideal erfüllt. Lavaters Frau mißt bei Tagesanbruch diesem Datum eine familiengeschichtlich herausragende Bedeutung zu, wenn sie sich zu Wort meldet: »Heute vor sieben Jahren, sagte sie, war unser Hochzeittag; es würde mich freuen, wenn ich ihn heute mit einer glücklichen Niederkunft feyern könnte.« 91 Der Tag wird daher nicht nur zum Anlaß, Familiengeschichte erinnernd zu schreiben, um familiale Identität für alle Familienmitglieder in der Gegenwart herzustellen, sondern Lavater tut ein weiteres: Wie er die biographisch bedeutsame Verkündigungsszene und diesen Hochzeitstag im Bild festhält, so konserviert er darüber hinaus dauerhaft die Feier des Hochzeitstages durch ihre Literalisierung im Gedicht »Liedchen für meinen Sohn am siebenden Gedächtnißtage unserer ehelichen Verbindung.« 92 Mit der Aufzeichnung der Feier wird die Aufgabe zukünftiger Erinnerungsarbeit an den Sohn weitergegeben und in ihre Praxis eingeführt. Lavater erinnert den Tag im Tagebuch (vgl. Abb. 9): 90
Fragmente. S. 354. Fragmente. S. 340. 92 Fragmente. S.345. 91
123
Wir giengen in den Saal, wo meine Frau und ich - das erste mal niederknieten - und das erste mal schliefen - vergegenwärtigten uns, die Kinder auf der Schoos und an der Hand, alle Umstände unsers Hochzeittages, durchliefen die sieben Jahre, die wir, aller Prüfungen ungeachtet, so vergnügt hingelebt hatten; erzählten dem Kleinen von unsrer Verbindung; er horchte mit herzerfreuender Theilnehmung. - Was wir an Blumen vorräthig hatten, wurde hergebracht, und Nettchen, die ich in ihrem Gängelwagen fortschob, indem ihn Heinrich führte, auf die Schooß gestreut, ihm aufs Haar gesteckt. Die hochschwangre Mutter sah uns zu - Heinrichen ließ ich das Sonntagskleidchen anziehen, und las ihm an der Hand seiner Mutter das Liedchen vor - das freylich eilfertig genug gemacht - aber doch vermögend war, eine Freudenzähre seinem und der Mutter Auge zu entlocken .. . 9 3 Mit d i e s e m thematischen Schwerpunkt erweist das Tagebuch Lavaters erneut seine N ä h e z u m bürgerlichen R o m a n . Lavater zeigt sich hier w i e andernorts als liebender, sorgender Familienvater. In dieser R o l l e erfüllt er nicht nur praktisch seine I d e e v o n der v o n G o t t v e r l i e h e n e n universellen Liebesfähigkeit, sondern versucht seine d e m ersten Vater abgeschaute Vaterimago nachzuleben. S o reflektiert er im Tagebuch nicht nur seine Erziehungsprinzipien, die v o n R o u s s e a u s und B a s e d o w s Erziehungslehren beeinflußt sind, 9 4 sondern er zeigt sich immer w i e d e r als sorgender empathischer Vater, der sich mit seinen Kindern identifiziert: Als wir auf unsere Stube kamen, hörten wir unsern Kleinen laut schreyen. Wir giengen in die Kammer. Er war halb im Schlafe, und wußte nicht, warum er schrie. >Es ist der leibhaftige Vater!' sagte meine Frau. Dieses habe ich schon manchmal bemerkt, gezittert schon manchmal bey dem Gedanken - >wenn er so schrecklich viel von Träumen leiden muß, wie ich - und wenn er an die ungeheuern Abgründe von Zweifeln kommen muß, an die ich gekommen bin - O Herr Jesu, was wird er leiden müssen!< 95 In derselben N a c h t erlebt Lavater im Traum seinen e i g e n e n Tod: Eine entsetzliche Nacht. So klar, wie möglich, träumte es mir, daß ich enthauptet werden sollte. Schon war ich gebunden. Ein Rückblick auf meine Kinder zerschmelzte mich in Thränen - und der Tod - der Tod selbst stürzte mich in entsetzliche Furcht - ich kniete nieder, und flehte zu Gott - und erwachte - halb todt sank ich in die A r m e meiner Frau - und dachte nur dem Tode nach - Sterben werde ich - dieser Gedanke wurde mir so klar - daß ich Gott für diese Erweckung dankte. 9 6 D e r Tod stellt die größte B e d r o h u n g für das s e l b s t b e w u ß t e Indivuum dar, daher träumt Lavater von einer Enthauptung, v o n der Zerstörung d e s Z e n t r u m s seines Ich. D i e Sorge u m seinen S o h n bildet d e n A n l a ß für das o f f e n e Geständnis der Erfahrung v o n der B e d r o h u n g d e s e i g e n e n Selbstbewußtseins im Tagebuch. D i e Ursac h e für die f u n d a m e n t a l e Verunsicherung ist der Tod. Ü b e r die Auseinandersetzung mit der e i g e n e n Familie treibt er als untergründiges T h e m a w i e d e r an die Oberfläc h e d e s Tagebuch textes.
93 94 95 96
Fragmente. S.343f. Vgl. S.25ff., S.115ff u.a. Fragmente. S.248. Fragmente. S.249.
124
Wie bereits im ersten Tagebuch, so bildet auch im zweiten der Tod ein zentrales Thema des Schreibens. Allerdings hat sich das Verhältnis zu ihm und die Form seiner diskursiven Verarbeitung gewandelt. Das Prinzip eines permanent zu erneuernden memento mori als zentrale Vorschrift der Verhaltenssteuerung ist der Duldung seiner plötzlichen Präsenz gewichen. Zunächst versucht das Tagebuch, den Tod aus dem Alltagsbewußtsein zurückzudrängen. Dem selbstbewußten Individuum mit seiner unverwechselbaren Lebensgeschichte wird er zu einer randständigen, allerdings bedeutenden Ausnahmeerscheinung. In der individuellen Lebensgeschichte wird er an die Peripherie gedrängt, er wird zum ärgsten Widersacher für die Entwicklung und Realisation von individuellen Selbstkonzepten, er kann nicht mehr wie vorher in das religiöse Selbstkonzept integriert werden. Daher fällt auch Lavaters Schilderung des Sterbens seiner Mutter so völlig anders aus als die Sterbeszene seines Freundes Hess im ersten Tagebuch. Hier handelt es sich nicht mehr um ein für das Leben des Schreibers entscheidendes religiöses Erlebnis des Glaubenszuwachses und der Selbsterfahrung als Teil des göttlichen Heilsplans, sondern um einen plötzlichen Einbruch in eine Situation des harmonischen Gleichgewichts, mit dem eine fast unerträgliche Erfahrung menschlichen Leidens verbunden ist. Im Vordergrund von Lavaters Schilderung steht hier sein Erleben unerträglicher körperlicher Leiden, die ihn in seiner bis dahin stabilen Selbsterfahrung zutiefst erschüttern. Der Tod erscheint hier in seiner natürlichen, häßlichen Gestalt und wird nicht mehr wie in der Sterbeszene Felix Hess' zum erbaulichen Ereignis verklärt. Auf das qualvolle Sterben seiner alten Mutter reagiert Lavater selbst mit körperlichen Symptomen. Er beginnt unter einer Entzündung des Kiefers zu leiden, die erst nach dem Tode seiner Mutter mit Erfolg behandelt werden kann. Zwar versucht er auch hier, die Schrecken des Todes mit den bewährten religiösen Verhaltensmustern zu bannen, doch gesteht er nun aus der Erfahrung erlebter Verluste, der beiden Brüder Hess und der Mutter, die unkontrollierbare Gewalt der Empfindungen ein: Bey der Beerdigung des Felix Hessen hätte ich zerschmelzen mögen; und ich hatte doch noch seinen Bruder übrig... uns beyden war der Verlust nachher beynahe unerträglich. Es fehlte uns zur Rechten und zur Linken.... Aber, da auch der zweyte Bruder starb... da war ich betäubter. Überhaupt stehen die Empfindungen nicht in unserer Gewalt. 97
Erst nach dem Begräbnis der Mutter überfällt Lavater gewaltsam und unsteuerbar der Schmerz über den Verlust und kehrt in nicht vorhersehbaren Abständen als eigene Todesdrohung wieder. Zunächst bevölkert er die Phantasie und wandelt die harmonische Familiensituation in eine Szenerie des Schreckens um: Bey dem Nachtessen sprach man von der Mutter Krankheit, vom Sterben; von Gerichte nach dem Tode; ... der Gedanke kam mir immer und immer wieder ... >Wir alle ... und dann wandelte mein Blick von einem zum andern ... jedes von uns wird einst an einer Krankheit oder plötzlich, entweder vor mir, mit mir, oder nach mir sterben... und wie wird
97
Fragmente. S.163f.
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dann dem Sterbenden, dem Gestorbnen, den Überlebenden zu Muthe seyn! ... Ich betrachtete ein Auge um das andere .. du wirst einst brechen; du dich einst schließen; nicht mehr sehen, und nicht mehr gesehen werden < sagte ich leise bey mir selber zu jedem und dann folgte der tiefe Seufzer: O Gott öffne mir doch die Augen, zu sehen, was ich bin, und was aus mir werden soll. 98
Im Traum siedelt sich die nicht mehr im religiösen Diskurs zu bannende Todesbedrohung an und stört plötzlich und unvorhergesehen das positive Selbstkonzept des Schreibers, läßt ihn in seiner Selbstgewißheit einbrechen und liefert ihn einer grenzenlosen Angst aus. Die eigene Todesangst macht ihn unfähig, über den Verlust des anderen zu trauern: »An diesem ersten mutterlosen Morgen erwachte ich ohne alle Gedanken, ohne alle Empfindung; träge, wie ein seelenloses Stück Fleisch; hart, wie ein Stein;« 9 9 Der Verdrängungsarbeit folgen die unkontrollierbaren Ausbrüche des Unbewußten im Traum. Schon am nächsten Tag muß Lavater festeilen: »Ich erwachte um halb sieben Uhr, aus schrecklichen Träumen - und müde.« 100 Aus dem wachen Diskurs des permanenten memento mori verdrängt, wiederholen sich die Schreckensvisionen im Traum in regelmäßigen, unkalkulierbaren Abständen. Am letzten Tag des Januar 1773 heißt es im Tagebuch: Meine Phantasie hatte mich mit ängstlichen Träumen beunruhiget. Ich war, wie es mir vorkam, gestorben, hatte noch die Umstehenden dunkel und wie in einer Entfernung sagen gehört: >Er ist verschieden - und erst hernach zitterte ein aufbäumender Schauer durch die Nerven meines Herzens, und mir däuchte, ich wollte noch die Hände falten - und vermochte es nicht mehr - und entschlief. Ich erwachte mit klopfendem Herzen, und suchte Beruhigung. Erst wollte ich mich nicht bewegen, sondern sogleich wieder einzuschlafen suchen, um den Traum noch einmal zu haben, oder die Fortsetzung desselben möglich zu machen. 1 0 1
Mit Religion ist der neuen Todesangst des selbstbewußten Individuums allein nicht mehr beizukommen. Das Arbeitsfeld der Psychologie tut sich auf.
98 99 100 101
Fragmente. Fragmente. Fragmente. Fragmente.
126
S. 174f. S. 178. S. 180. S.206.
VI. Leben im Text - Der Dialog mit dem stummen Partner
1.
Der Spiegel des anderen - Vater und Sohn: Lavaters »Noli me nolle« 1786-1789
Lavaters letztes umfangreiches Tagebuch ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Unter dem Titel »Noli me nolle« liegen im Lavater-Nachlaß der Züricher Zentralbibliothek 13 handschriftliche Hefte aus den Jahren 1786 bis 1789 vor. Es handelt sich dabei, wie bei den beiden publizierten Tagebüchern, im Gegensatz zu seinen vielfältigen anderen, rein privaten Tagebüchern, um einen vollständig ausformulierten, konsequent gestalteten Text, den Lavater einem kleinen Kreis von Lesern zugänglich machte. Geschrieben wurde das Tagebuch allerdings zunächst für einen einzigen Adressaten, Lavaters Sohn Heinrich, der sich in diesen Jahren als Medizinstudent in Göttingen aufhielt. Das Tagebuch entsteht zwischen dem 24.5.1786 und dem 28.1.1789 und umfaßt 13 Hefte von jeweils ungefähr 60 Seiten. Das fünfte Heft fehlt. Das erste Tagebuch ist zunächst dem gemeinsamen Aufbruch aus Zürich und der Reise nach Göttingen bis zum Abschied am 24. Juni 1786 gewidmet. Das 13. Heft entsteht während der vorübergehenden Rückkehr des Sohnes nach Zürich vor seinem Aufbruch zu weiteren Studien nach Paris und London. Alle weiteren Hefte entstehen während der Trennung zwischen Vater und Sohn und werden über mehrere Zwischenstationen mit »Spedition und Discretion« an den Sohn in Göttingen gesandt. Dem letzten Heft ist am Ende eine Liste der Empfänger des Tagebuchs beigegeben. Die Liste deckt sich in ungefähr mit den Stationen der Reise von Vater und Sohn nach Göttingen.1 Die ersten beiden Hefte formulieren vorwiegend allgemeine Lebensregeln, deren Erläuterung und Variation Lavater in den weiteren Heften vornimmt. Die Hefte drei und vier bilden das Kernstück des Tagebuchs. In ihnen entfaltet Lavater
1
Noli me nolle. H. 13. Manuscript im Besitz der Zentralbibliothek Zürich. Signatur Lav. Ms 13a. Die genaue Liste lautet: Basel. Colmar. Freyburg. Mömpelgard, Gräfin von Wartersieben, gebohrne von Lynar. Strasburg - Herr Paquay - à la ville de Lyon. Carlsruh ... Ihre Durchlaucht. Herr Schlosser. Mannheim Herr Regierungsrath Lanesan. Francfurt. Offenbach. Homburg. Staden. Frau v. Low. Ziegenbert Frau von Dieden. Maynz - Müller. Düsseldorf. - Herr Geheimrath Jacobi. - v. der Borg Münster. Göttingen - Madame Less. Osterode ... Herr Alberti. Detmold. Herr Passavant. Herr v. Cölln. Bremen. Herr Pastor Stolz. Hamburg - Herr Valentin Meyer. London ... Madame Hofhalm. Noli me nolle. H. 14. [S.72f.]
127
seine Philosophie, die er unter dem Titel »Summe meines Nachdenkens über Wahrheit, Tugend, Religion, Christenthum und Menschheit«2 herausgeben wollte. Alle weiteren Hefte bauen auf dieser Grundlage auf, wiederholen variierend die entwikkelte Theorie oder illustrieren sie durch konkrete Beispiele aus der Erfahrung. Darüber hinaus teilen die Hefte verstreute Einzelheiten aus dem familiären Alltag Lavaters, insbesondere über den Gesundheitszustand der Mutter (Heft 8 und 9) mit, verzeichnen Besuche, Arbeitsprojekte, Lektüren, schildern Auseinandersetzungen (Nikolai-Kreis, Heft 4,8,10) und nehmen zu Lavaters Beschäftigung mit dem Magnetismus Mesmers und Cagliostros (Heft 4, 8, 9) und dem Illuminaten Orden (Heft 7,8,9,10) Stellung. Des weiteren enthalten die einzelnen Hefte Gedichte und Stammbucheintragungen Lavaters und bieten vielfältige Zitate aus der Literatur von der Antike bis zu zeitgenössischen Autoren wie Wieland, Herder, Goethe, Moritz, Schlosser, Jacobi, Stolberg, Buchholz, Swedenborg, Heinse und vielen anderen. Mit dem Tagebuch verfolgte Lavater das Ziel, jeden Tag durch eine Eintragung seines abwesenden Sohnes zu gedenken und ihm nach dem zentralen Lehrsatz des Tagebuchs »Nulla dies sine linea« für sich selbst und seinen Sohn nützliche und lehrreiche Gedanken oder Erfahrungen zu formulieren und mitzuteilen. Lavater hält zumindest in der Anfangszeit diesen Vorsatz konsequent ein: »So wenig es sey, täglich soll Dir dennoch ein Zeilchen werden, damit ich Dir immer so nahe sey, wie möglich«,3 verspricht er seinem Sohn zu Beginn seiner Tagebuchführung. Wenn er dennoch an einem Tag nichts notieren kann, so arbeitet er diese »Schuld« an den darauffolgenden ab. Zunächst dient Lavater dieses Tagebuch zur Fortsetzung seines Erziehungsauftrags während der räumlichen Trennung von Vater und Sohn. Die Exklusivität der Vater-Sohn-Beziehung betont Lavater im Tagebuch durch ein Zitat über die Rollenverteilung innerhalb der Erziehungsinstitution Familie: »>Papa hat jezt einen erzognen Sohn - Ich will auch nicht weniger seyn, und auch erzogne Töchter habenIch binsSeegen vom Himmel herab zu leiten auf die Menschheit - Hände gen Himmel zu erheben, und Hände auf's Haupt zu legen -Jetzt, an diesem Neujahrstag 1787 - empfängt mein lieber Heinrich in Göttingen dieß Buch - Jetzt hat E r wenigstens gewiß auch Eine Freude, die Ihm von Zürich herüber kömmt.< 42
So arbeitet er darauf hin, das siebte »Noli me nolle« am Jahrestag der Trennung von Vater und Sohn fertigzustellen und verleiht damit dem Tagebuch eine herausragende Bedeutung im Kontext des Dialogs zwischen Vater und Sohn als Vergegenwärtigung der Geschichte einer Trennung und deren diskursiver Bewältigung: »Du weißt, daß ich gewiße Tage gern fixiere und bezeichne. In angenehmen Reminiszenzen besteht ein wichtiger, wesentlicher Theil unserer Glückseligkeit«, 43 erläutert er seinem Sohn sein Verfahren der Vergegenwärtigung von individueller Geschichte. Bereits im ersten »Noli me nolle« weist Lavater seinen Sohn auf die Bedeutung der Konstitution eigener Lebensgeschichte hin. Später verallgemeinert er diesen Grundsatz zur Kommunikationsregel zwischen unabhängen, selbstbewußten Individuen: »Momente zu verewigen, und Lebensläufe wie nichts anzusehen, ist die große Kunst des Weisen und Guten.« 4 4 Sich selbst »existenter zu machen«, d.h. die eigene Erlebnisfähigkeit in jedem Augenblick zu steigern und auszudifferenzieren, wird zum Ziel menschlicher Existenz. Selbsterfahrung zu einem gesteigerten, alle Sinne umfassenden Selbsterleben zu machen, mit anderen Worten der »Selbstgenuß« wird zur Botschaft in Lavaters Tagebuch an seinen Sohn: So fixiere den flüchtigen Moment! so vervielfache das Einfachste! So lebe ein Leben zehnfach, das die Tohren nicht den Zehntheil genießen. Lieber, mache Dich so existent wie möglich. Glückseligkeit ist nichts als lebhaftes sicheres Daseynsgefühl. 45
Wenn es Lavaters formuliertes oberstes Ziel ist, sein Selbsterleben zu steigern und auszudifferenzieren, so kann er dies aufgrund der Einsicht in seine dialogische Existenz nur durch die Selbstmitteilung gegenüber dem anderen tun. Den Dialog mit seinem wichtigsten Gesprächspartner, dem Sohn, in der unmittelbaren, gemeinsamen Alltagssituation, den der Aufenthalt des Sohnes in Göttingen nicht mehr möglich macht, soll der fiktive Dialog im Tagebuch ersetzen. Im verschrifteten Dialog werden die realen Gesprächspartner zu Texten. Als Texte kommunizieren sie während der räumlichen Trennung miteinander. Der Text wird zum Surrogat eines Mangels. Ihm ist es aufgegeben, eine künstliche Präsenz zu erschaffen, die der Realität fehlt. Nach seiner Rückkehr von der Reise nach Göttingen zu den übrigen Familienmitgliedern schreibt Lavater an seinen Sohn: »Bald sind wir wieder in der Ordnung. Dann wirst Du, o wie oft, unser gemeinschaftlicher Text seyn!« 46 Wenn Lavater sich
42 43 44 45 46
Noli Noli Noli Noli Noli
me me me me me
nolle. nolle. nolle. nolle. nolle.
H. H. H. H. H.
4. [S. 56], 7. [S. 57]. 11. [S. 35], 1. [S.24], 2. [S.21],
141
immer wieder zwingt, seine täglichen Eintragungen in das Tagebuch für seinen Sohn nicht zu versäumen, so tut er dies nicht nur, um einem abstrakten Vorsatz zu folgen, sondern vielmehr um die Kontinuität der virtuellen Vergegenwärtigung, die Gemeinschaft mit dem Sohn im fiktiven Dialog, nicht abreißen zu lassen. Schreiben bekommt in diesen Texten eine magische Funktion. Im Schreiben erschafft sich Lavater die Person des anderen, so wie der Gläubige sich Gott im Gebet erschafft: Wer bethet, macht Götter! Religion - Magie! Glaube - erschaft! Wer glaubt - ist, hat, kann. Ohne Gebeth - kein Gott. Durchs Gebeth wird GottGott für uns. 47
Lavater nennt dies an anderer Stelle die Divinationsfähigkeit 48 des Menschen. Am Pfingsttag des Jahres 1787 notiert Lavater in sein »Noli me nolle«: »An Dich hab' ich heute auch schon gedacht, und will wohl noch einmahl oder zweymahl väterlichmagisch, liebevoll glaubend an Dich denken.« 49 Was es mit dieser Textmagie auf sich hat, macht die unmittelbar darauffolgende Eintragung Lavaters deutlich: Am Pfingstmontag Abends vorm Jahre, es war acht Tage später, ging ich noch mit Dir auf den Graben - machten wir uns reisefertig. Jezo denkest Du gewiß auch daran - liesest wohl im ersten Noli me nolle nach - und sehnst Dich nach einem Vater und Mutterblicke. 50
In der Beschwörung gemeinsam erlebter Vergangenheit und der Aufforderung zum Erinnern eines gemeinsamen Erlebnisbestands soll die verlorene Gemeinschaft in der Gegenwart wiederhergestellt werden. Die gemeinsame Erinnerungsarbeit vereint die Getrennten im Bewußtsein, schafft unangreifbare Nähe über die Distanz. Im Text entstehen Nähe und Gemeinsamkeit, der abwesende andere wird in die eigene Lebenssituation hineingenommen, wird im Schreiben präsent. Immer wieder beschreibt Lavater im Tagebuch für seinen Sohn solche Situationen der Vergegenwärtigung in Gesprächen mit seiner Frau oder in Gedanken auf gemeinsamen Spaziergängen: »Nun geht' ich mit Mamma und den Kindern spazieren. Nur Einer fehlt - Du! Doch Du gehst mit.« 51 Der ferne Gesprächspartner ist virtuell immer anwesend, als Teil der eigenen Person definiert er die aktuelle Lebenssituation, prägt 47 48
49 50 51
Noli me nolle. H. 7. [S. 56], Anläßlich einer seiner Morgenpredigten formuliert Lavater diese Vorstellung von der Divinationsfähigkeit des Menschen: »Nun zur Morgenpredigt über Samuel und Saul, eine uralte, naive Sehergeschichte, die mir wenigstens zeigt, daß der Mensch eben so gewiß ein Divinationsfähiges, als ein intellektuelles und sittliches Wesen sey.« Noli me nolle. H. 8. [S. 11], Noli me nolle. H. 7. (S. 32], Ebenda. Noli me nolle. H. 7. [S. 20],
142
als zweites Ich Wahrnehmen und Erleben des Schreibers. Dieser magischen Vergegenwärtigung im Alltag dient das Tagebuch als schriftliches Dokument: Heute, noch im Bette, sprachen Mamma und ich, wohl eine halbe Stunde von Dir - von allem, was Dir zu schreiben seyn mögte. > 0 könnt ich, sagte Mamma, für eine halbe Stunden nach Göttingen fliegen!' - Wenn wir, so oft wir erwachen, Dein gedenken, Dein, so oft wir einschlafen - o so denk etwa dann und wann unser so kindlich, als wir aelterlich Dein gedenken. 52
Wenn Lavaters Frau den kindlich-naiven Wunsch äußert, augenblicklich in die Nähe ihres Sohnes versetzt zu werden, so erfüllt der Schreibende sich diesen Wunsch tagtäglich in seinen Texten. So wie er den Abwesenden in seine eigene Lebensrealität durch das Schreiben hineinnimmt, so verschafft er sich gleichzeitig im Schreiben Präsenz in der Realität seines Sohnes. Durch seine Texte wird er für den Sohn in Göttingen präsent, sucht sich dem Bewußtsein des anderen einzuschreiben. Vergegenwärtigung, die Herstellung einer virtuellen Präsenz, betreibt Lavater denn auch konsequent mit seinen Tagestexten an den Sohn, die der Dialogsituation des Briefschreibers nachgebildet sind. Im Schreiben des aktuellen Tagestextes ignoriert Lavater die zeitliche Distanz zwischen Textproduktion und -rezeption. Vielmehr siedelt er seine Texte in der momentanen, aktuellen durch den Tag begrenzten Gegenwart an, simuliert den zeitlich synchronen, unmittelbaren Austausch der Gesprächspartner im mündlichen Dialog. Deutlich wird der Kontrast zwischen dem unmittelbaren Aktualitätsbezug des Schreibers und der zeitlichen Distanz zum Entstehungskontext für den Leser in Lavaters eigener Reflexion anläßlich seiner Unruhe nach dem Ausbleiben schriftlicher Nachrichten von seinem Sohn: Wenn Du diese Zeile lesen wirst, so werden wir zwahr Deines Schweigens halber längst schon wieder beruhigt seyn - Dennoch schreib' ichs hin, theils um eine Art von Tagbuch für Dich zu halten, theils Dich für die Zukunft vor allem zu verwahren, wodurch wir, jeden Morgen, Mittag und Abend gemeinschaftlich an Dich denkende zärtliche Aeltern beunruhiget, oder in Verlegenheit gesezt werden könnten. 53
Wenn er an seinen Sohn schreibt, dann spricht er in der Situation des Schreibens mit ihm. Der entstehende Text erfüllt seine Funktion im Akt seiner Produktion, der virtuellen Vergegenwärtigung. Ist er erst entstanden, so wird er zum fremden, dem Schreiber äußerlichen Text und verliert seine Funktion für ihn. Selten liest Lavater daher die Tageseintragungen noch einmal, korrigiert den Gesamttext eines Heftes oder unterlegt ihm eine Gesamtkonzeption. Die Wiederholungen im Text, die Lavater selbst bemerkt und die er gegenüber dem Leser nicht zu entschuldigen sucht, sind konstitutive Merkmale und notwendige Konsequenzen dieses Schreibprojekts:
52 53
Noli me nolle. H. 3. [S.58]. Noli me nolle. H. 4. [S. 10].
143
Ich entschuldige mich nicht, daß ich immer daßelbe sage. Bis so ein Büchelgen fertig ist seh' ich selten, was ich geschrieben. Daher muß die Fülle des Herzens manche, Dir doch nicht unangenehme, Wiederhohlung verursachen. 54
In der Konzentration auf die aktuelle Gegenwart, den Augenblick im Schreiben, verdichtet Lavater Gegenwart virtuell zu einer komplexen idealen Gesprächssituation, deren Intensität die Grenzen realer Dialogsituationen übersteigt. Im Tagebuchdialog mit seinem Sohn erfährt sich Lavater als »existent«, im Moment des Schreibens erreicht er die höchste Stufe seiner Selbsterfahrung, seines Selbstbewußtseins durch Selbstmitteilung an den anderen. Um diese Funktion für den Schreiber zu erfüllen, müssen daher alle Texte in den situativen Grenzen ihrer Entstehungssituation angesiedelt bleiben. Im fiktiven Dialog mit dem abwesenden Partner erschafft der Sprechende den anderen als sein alter ego. Wechselseitige Anteilnahme an der Realität und der Person des anderen soll das Schreiben gewähren. Im Schreiben verleibt der Schreiber sich den anderen durch den Text ein. Anders die Seite des Rezipienten: Ihm wird der Text zur Vergegenwärtigung des Vergangenen, zur Emanation einer anderen Wirklichkeit, deren Teil er ist, und die seine Person in den fiktiven Raum potentiell unendlich erweitert, ihn zu einem anderen, zum Geschöpf seines Dialogpartners macht. Im Dialog der Texte fallen Zeitgrenzen, Gegenwart und Vergangenheit bilden ständig neue, potentiell unendliche Bedeutungsbeziehungen, Personalität vervielfältigt sich in der unendlichen Spiegelung des andern. Durch den Text überwindet sein Produzent die »Zerstückung der Zeit« 55 und die Grenzen seiner Person. Wirklichkeit und Person werden zu einem unendlichen virtuellen Raum, von dessen Ahnung Lavater spricht: »Du weißest, ich wittere wie Columbus - eine neue unbekannte Welt, mitten in der gegenwärtigen - Eine unsichtbare mitten in der gegenwärtigen sichtbaren«.56 Diese neue Welt ist der Text. Existenter kann der Mensch sich nicht machen: »Die Quantität unserer Existenz, wenn ich so sagen darf, bestimmt ihre Qualität; und diese Quantität bestimmt sich durch die Harmonie mannigfaltiger Arten des Selbstgefühles.«57 Die Aufhebung von Trennung im Text bezieht aber auch die Toten mit ein. Vor dem Text gibt es keinen Unterschied zwischen Trennung und Tod. Der Text kennt nur Präsenz und Abwesenheit. Letztere wird im Text zum vorweggenommenen Tod: Montagsmorgen den 26. März 1787. Küßnach. »Irr' ich mich nicht, so war dieß der Tag, an welchem Du mich vor 3. Jahren in Richtersweil
54 55 56 57
Noli Noli Noli Noli
144
me me me me
nolle. nolle. nolle. nolle.
H. H. H. H.
3. 3. 4. 4.
[S. 38], [S. 25]. [S. 55]. [S. 17].
überraschtest - wie ich einst meinen sterbenden Vater ungefähr um eben diese Zeit, es wird wenige Tage antreffen, von der Fremde heimkehrend überraschte. - O mögt' ich dankbar genug seyn für alle Freuden, die mir schon wurden, und täglich noch werden! 58
An einem scheinbar beliebigen Tag im März des Jahres 1786 treffen in Lavaters Tagebuchtext drei männliche Personen aufeinander: Großvater, Vater und Sohn. Es ist der Tod, der alle drei im Text vereint und sie zugleich voneinander scheidet. Lavater stellt zunächst ein Parallele zwischen seiner Heimkehr aus der Fremde zu seinem sterbenden Vater und dem Besuch seines Sohnes aus Göttingen bei ihm in Braunschweig her. Das doppelte Treffen zwischen Vater und Sohn bekommt seine spezifische Bedeutung durch den Tod. Der Text ist es, der diese drei Einzelindividuen über den Tod hinaus miteinander zu einer besonderen Gemeinschaft verbindet. Er konstituiert alle drei nicht nur als sterbliche Einzelindividuen und weist ihnen eine eigene Geschichte zu, sondern stellt sie in eine gemeinsame ein: die der patrilinearen Familie. Die Erfahrung des Todes als größte aller Verletzungen konstituiert die Bedeutung der Einzelindividuen in der Familienkonstellation füreinander. Die eigene Todesgewißheit, die der Text indirekt thematisiert und als Grundschema individueller Lebenserfahrung kennzeichnet, dehnt der Text zur Todesfurcht um den geliebten anderen aus. Michel Vovelle konstatiert in seiner Untersuchung »La Mort et l'Occident de 1300 à nos Jours« für das 18. Jahrhundert diese Verschiebung von der eigenen Todesfurcht auf die Furcht vor dem Tod des anderen. 59 Exakter wäre es wohl, von einer Erweiterung der Todesangst zu sprechen, die die geliebten anderen mit einbezieht. Die Verlustangst, die der Vater gegenüber seinem Sohn empfindet, modelliert seine Beziehung zu ihm. Keinen anderen unnennbaren Schrecken kennt das selbstbewußte Individuum bei Lavater als den Verlust des anderen. Im zwölften Tagebuch an seinen Sohn kommentiert Lavater den plötzlichen und qualvollen Tod eines Jungen: »Solch ein Vorfall - schneidet durch alle Nerven der Seele.«60 Der Tod eines Sohnes trifft Lavater als Vater, denn der Tod eines Sohnes bedeutet den Tod des Vaters zu Lebzeiten. Wo das Weiterleben im eigenen Geschöpf zerstört wird, erlischt für das sterbliche Individuum jeder Sinn. Zweimal berichtet Lavater in seinem Tagebuch für seinen Sohn über den Tod einziger Söhne und verfällt in Sprachlosigkeit. Ein schwarzer Tintenfleck markiert im achten »Noli me nolle« die Stelle des Be-
58 59
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Noli me nolle. H. 6. [S. 30], Vovelle. 1983. S.445f.: »Ma mort n'est rien; mais c'est celle des autres qui me touche, et d'Holbach, dont on sait que le drame intime fut la mort de son épouse, l'exprime avec une pudeur extrême: >Quoique je sache que la mort est le terme fatal et nécessaire de tous les êtres, mon âme n'est pas moins vivement touchée de la perte d'une épouse chérie, d'un enfant propre à consoler ma vieillesse, d'un ami devenu nécessaire à mon coeur .. .< D'Holbach n'a rien d'un isolé dans la vivacité de sa réaction individuelle: toute la chronique parisienne de ce siècle est remplie des grands désespoirs que provoque la disparition de l'être cher; [...] Suivant l'expression devenue classique de Philippe Ariès c'est la mort de >toiDas ist das Elend unserer Zeiten, daß wir gar nichts bey uns behalten können, und daß die fast allgemein gewordene Kopf und Herzensdiarrhöe unsern schwachen Verstand nicht minder, als unsere verdorbene Moralität in ihrer ganzen Blöße zeigt.Ich beschäftige mich itzt mit einer Untersuchung über den möglichst einfachen, unwidersprechlich klaren Begriff vom Namen Gottes.1788 für meinen Sohn nach meinem Tode zu öffnen, und allein zu lesenempfindsamen< 18. Jahrhundert wurden weitergereicht. Partien daraus abgeschrieben oder >schöne< Stellen ausgewählt und der Familie und den Besuchern vorgelesen. Das geschah etwa mit den Briefen von Frauen, die Wieland oder Klopstock im Züricher Kreis erhielten, mit Stellen aus den Briefwechseln der Verlobten Caroline Flachsland-Herder oder mit den Briefen im Kreise der Sophie La Roche, wie denn das Vorlesen im Familien- oder geselligen Kreis eine wichtige Form der Unterhaltung war.3
Nikisch geht konsequent noch einen Schritt weiter, wenn er generell das Medium Schrift an Öffentlichkeit bindet und damit das Private in den außerliterarischen Bereich der oralen Kommunikation verweist: »Eine Trennung zwischen Privatem und Literarischem existierte im 18. Jahrhundert nicht - ja, diese Nicht-Trennung war geradezu die Voraussetzung für die Briefkultur der Zeit.«4 Dies gilt gleichermaßen für die Tagebuchkultur. Sophie La Roches erstes Tagebuch wird 1787 in Altenburg, das zweite 1793 an ihrem letzten Wohnsitz Offenbach publiziert. Zwischen beiden Reisen liegt das historische Ereignis der Französischen Revolution. Während La Roche im ersten Reisetagebuch die vorrevolutionäre Schweiz als fortgeschrittenen, freiheitlichen und prosperierenden europäischen Staat wahrnimmt, in dem politische Verfassung, Wirtschaft und Bildungseinrichtungen vorbildlich entwickelt sind, erlebt sie auf ihrer zweiten Reise eine von den Auswirkungen der Revolution stark betroffene und geschädigte Schweiz. Diese beiden letzten Reisen stehen aber noch in einem weiteren autobiographisch bedeutsamen Zusammenhang. Verbunden werden sie durch den Tod. Auf der zweiten Reise in die Schweiz wird sie von ihrem jüngsten Sohn Franz Wilhelm begleitet, der am Ende der Reise seine Ausbildung als Forstwissenschaftler in Darmstadt antritt. Die dritte Reise unternimmt die Autorin als Begleitung einer Bekannten sieben Jahre später, kurze Zeit nach dem Tod ihres siebenundzwanzig Jahre alten Sohnes. Der frühe Tod des Sohnes motiviert und dominiert ihre letzte Schweizreise. Margit Langner faßt die äußeren Reisedaten wie folgt zusammen: »Der Reisebeginn ist kurze Zeit nach dem Tod Franz von La Roches am 11. September 1791 anzusetzen, der Beginn der Rückreise datiert vom 15. April 1792. Somit umfaßt die Reise einen Zeitraum von sieben Monaten.« 5 La Roches letzte Schweizreise wird zur Trauerarbeit, in der sie versucht, das unbegriffene, sinnlose Ereignis des Todes individuell zu verarbeiten. Lebensgeschichte wird hier nicht als individueller Entwicklungsprozeß konstruiert, sondern sie erscheint als Kontinuum des Todes, der Todesfälle geliebter Personen, an denen sich das schreibende Ich abarbeitet.
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Barbara Becker-Cantarino: Leben als Text. Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann: Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985. S.85f. Reinhard M.G. Nickisch: Brief. Stuttgart 1991. S.51f. Langner. 1995. S.233.
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1.1 Gedächtnis und Erinnerung D u r c h das e n t s c h e i d e n d e Ereignis d e s T o d e s erhält die Schweizer R e i s e mit d e m S o h n e i n e neue, andere B e d e u t u n g . D i e R e i s e nach d e m Verlust d e s S o h n e s wird nicht zu ihrer Wiederholung, sondern vielmehr zu ihrer U m - und N e u s c h r e i b u n g aus der Perspektive d e s Todes. Nicht v o n ungefähr nennt La R o c h e ihr zweites R e i setagebuch auch »Erinnerungen« und weist damit auf d e n k o m p l e x e n Bedingungsz u s a m m e n h a n g ihrer Selbsterfahrung hin. La R o c h e reflektiert d i e s e n Prozeß d e s U m s c h r e i b e n s selbst am Beispiel d e s Gedächtnisses. 6 A m e i g e n e n Leib erfährt sie die Wandlung ihrer W a h r n e h m u n g e n und E m p f i n d u n g e n durch das zentrale Ereignis, das nicht auf das E r l e b e n der G e g e n w a r t begrenzt bleibt, sondern auch das Erinnern neu tönt und umprägt. D a s T o d e s t h e m a wird mit der letzten Schweizreise z u m zentralen Wahrnehmungsmuster und z u m S c h e m a d e s Erinnerns, durch das Gegenwartserfahrung w i e L e b e n s g e s c h i c h t e n e u konstituiert werden. D a ß das G e dächtnis kein neutraler Speicher gleich einer »Maschine« ist, aus d e m die Einzeldaten beliebig abrufbar sind, w e i ß die Schreiberin aus eigener Erfahrung. Sie reflektiert dies durch d e n Vergleich mit Leibniz' Gedächtnismaschine: Kinder! ich konnte die mechanische Bewegung nicht verhindern, welche in meinem Gedächtnis erschien, als ich zweimal schon diese herrliche Gegend, die merkwürdige Stadt, und die Reihe der Eißberge gesehen hatte. Aber die Art, wie ich mich daran erinnerte, als ich meine Blicke umhergehen ließ, um mit dem lebhaften geistvollen Fräulein von Steinberg, über den ihr so neuen Anblick zu sprechen, diese Art schien mir Beweiß: daß die Erfindung unsers großen Leibniz, das sicherste wahreste Bild von der Kraft unserer Seele sey, die man Gedächtniß nennt: denn er hatte eine Maschine erfunden, welche mit Zahlen bezeichnet war, und immer, in mehr oder weniger Zeit, umgetrieben, mehr oder weniger,
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Aleida Assmann hat diese Wandlung des neuzeitlichen »Denk- und Diskursmusters« der Erinnerung am Beispiel der Romantik beschrieben. Was sie bei Wordsworth konstatiert, trifft bereits auf Sophie La Roches Reflektion des Gedächtnisbegriffs zu: »[...] die permanente Sukzession der Bilder und Vorstellungen läßt keine echte Wieder-Holung zu. Gegen solche Verlust-Erfahrung ist kein Kraut der Mnemotechnick gewachsen. Erinnerung gewinnt eine gänzlich andere Qualität; sie bezieht sich im Druckzeitalter nicht auf die Abrufbarkeit von Wissen, sondern auf die Wiederherstellbarkeit von Gefühlen. Die Zeichen selbst sind verfügbar, die Seite im Buch kann aufgeschlagen und wiedergelesen werden, die Orte können abermals besichtigt werden, doch die einst mit ihnen verbundenen Emotionen stellen sich dadurch nicht wieder ein. Die Erinnerung ist ein matter Abglanz der ursprünglichen Erfahrung, zu der kein Weg mehr zurückführt.« S.374. Diese Erfahrung »bricht mit der Auffassung vom Gedächtnis als Speicher. Es entfernt sich von der Vorstellung des Registrierens, Bewahrens und Zurückholens und geht statt dessen aus von unwiederbringlichem Verlust und supplementärer Neuschöpfung. Dieses Erinnerungsmodell ist gezeichnet von der Wunde der Zeit, es steht im Zeichen der >NachträglichkeitUmschriften< bezeichnet«. Die Wunde der Zeit. Wordsworth und die romantische Erinnerung. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. Poetik und Hermeneutik XV. München 1993. S.377.
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die - jenseits gerückt, alle mögliche Berechnungen hervorbrachte. Er nannte diese Maschine Kunstgedächtniß. Ich dünkte mich eine ähnliche Maschine zu seyn; denn durch das Bewegen und Rücken von Offenbach aus, erschienen mir alle Eindrücke und Bilder des Landes, und der Aussichten sehr deutlich wieder vor dem Auge, aber ohne alles Gefühl der Freude, oder Bewunderung. Ich konnte von Allem sprechen, was ich sah; die Vorstellungen traten hervor, wie die Zahlen der Leibnitzischen Maschine sich zeigen, aber ich fühlte genau, daß etwas ganz anderes dazu gehört, wenn unser Gedächtniß auf unsere Empfindungen wirken soll. Alle Triebfedern meiner Seele, haben jetzo nur einen Punkt, ach ich ward davon überzeugt, als ich, von der Anhöhe bei Bern, auf der Stelle war, wo mein Franz 1784 das Entzücken seiner reinen edlen Seele, über den Anblick der schön beleuchteten Berge äusserte. Was sah ich darinn und in der ganzen schönen Erde? nichts, als sein Grab! und erheb ich mein Aug zum Himmel, so sehe ich nur seine Entfernung. 7
Das Selbsterleben in der durch den Tod des Sohnes hervorgerufenen Krisensituation schließt Sophie La Roche entscheidende Einsichten in die Funktionsweise des menschlichen Bewußtseins auf. In ihren Überlegungen kennzeichnet sie zurecht das Gedächtnis als konstitutives Merkmal des Individuums. Bei La Roche tritt wie vorher schon bei Lavater das Gedächtnis als grundlegender Modus der Selbstdefinition und Selbstkonstitution des Individuums an die Stelle des Gewissens. Indem sie die Seele mit dem Gedächtnis gleichsetzt, verläßt sie die Grundlage des religiösen Diskurses der Selbstbeschreibung, bei dem die Seele, das Gedächtnis des Menschen, durch das Gewissen repräsentiert wurde. Entscheidend dabei ist, daß das Gedächtnis im Gegensatz zu dem statischen Gewissen eine veränderliche Funktion des menschlichen Bewußtseins ist. Bei La Roche prägt das erinnernde Subjekt dem Gedächtnis eine individuelle Struktur auf, eine thematische Prägung. Ohne sie bleibt es unfruchtbar, kann seine Funktion für die Selbsterfahrung und Selbstbeschreibung des Indiviuums nicht erfüllen. La Roche erfährt dies durch den Bruch in ihrem Selbstkonzept, den der Tod des Sohnes ausgelöst hat und der sie nun zum Umschreiben ihres Wahrnehmungs- und Erinnerungsmusters zwingt. Das Todesthema ist das neue prägende Gedächtnismuster und damit auch das Thema der Selbstkonstitution, über das sie sich selbst neu definiert und ihre eigene Geschichte umschreibt. Dies wird an der komplexen Erinnerungsstruktur des letzten Tagebuchs deutlich, in dem das Wiederaufsuchen bedeutsamer Orte der Gemeinsamkeit zwischen Mutter und Sohn sowohl Geschichte als unwiederbringlich abgeschlossen erfahrbar macht, als auch Vergangenheit und Gegenwart neu definiert und interpretiert. Dies belegt vor allem der wiederholte Vergleich zwischen dem Erleben der Natur vor und nach dem einschneidenden Ereignis. Bei der erneuten Betrachtung desselben Gegenstandes, der vor dem Tod des Sohnes Erhabenheitserlebnisse auslöste, entsteht im letzten Tagebuch ein weiter Metaphernraum des Todes. Ihre veränderte Naturbeziehung, die ihre Naturerfahrung umprägt, beschreibt sie bereits allgemein ganz zu Anfang ihres Tagebuchs:
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Erinnerungen aus meiner dritten Schweizerreise. Meinem verwundeten Herzen zur Linderung vielleicht auch mancher traurenden Seele zum Trost geschrieben von Sophie, Wittwe von La Roche. Offenbach, bei Ulrich Weiß und Carl Ludwig Brede. 1793. S.20ff. Im folgenden zitiert als Erinnerungen.
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Meine geliebte Töchter, Brentano und Möhn wünschten, daß ich diese Reise mit der Frau von Steinberg machen möchte. Es däuchte den übrigen Kindern, eine Art heilenden Balsams, für mein durch den frühen Tod meines schätzbaren Sohnes Franz Wilhelm zerrissenes Herz zu seyn. Schönheit und Größe der Natur, sollten mich trösten und stärken, Freunde mich zerstreuen: aber liebe Kinder! so war es nicht. Mein Herz ist in seinem Innersten getroffen. Ehmals war ein Blick auf eine schöne Gegend - Erquickung, im größten Leiden meiner Seele; [...] aber jetzo! ach die schöne mir sonst so liebe Erde, ist nun nichts, als das Grab des besten edelsten Sohns. Wälder und Bäume, die mir immer so theuer waren, es durch die Forstwissenschaft meines Franz doppelt waren, was sind sie nun? die Bergstraße, an welche ich nie ohne Entzücken dachte, die Überreste eines alten Bergschlosses ohnweit Darmstadt, von welchem mir mein theurer edler Franz so innig, so schön gesprochen, war mir nun Sinnbild aller zerstörten Glückseligkeit meines Lebens.8 Das erste Reisetagebuch aus der Schweiz stand dagegen ganz im Erwartungshorizont des erfüllten Lebens, in dem die Gegenwart der Gemeinschaft mit dem Sohn, den engen Freunden und die Vergangenheit der eigenen glücklichen Kindheit durch die Erziehung des Vaters in einen harmonischen Gesamtzusammenhang des göttlichen Schöpfungsplans eingestellt werden. Bei dem Anblick der »Kette der Eißgebürge« notiert sie ins Tagebuch: Es deuchte mich, einen ehrwürdigen Güte vollen Freund meiner Kindheit wiederzusehen. Tausend Erinnerungen der schön vergangenen Zeiten durchbebten mein Herz, ich war glücklich bewegt. Vierzig Jahre hatte ich verlangt, diese Gebürge in der Nähe zu sehen, und ich war nun auf dem Weg dahin. Freundschaft und Geist begleiteten mich, ein geliebter Sohn, eine liebenswürdige Schweizerin an meiner Seite. Schöne Stunde voll reiner Freude des Lebens, deine Erinnerung rührt und erquickt mich noch! - 9 Lebensgeschichte schließt sich auf dieser Reise zur harmonischen Einheit, in der Vergangenheit und Gegenwart als Kontinuitätszusammenhang aufgehoben sind und noch einmal im Erleben der Reisenden präsent werden. Das Tagebuch ist sein Dokument, es entsteht gleichzeitig als Hommage an den Vater und als Vermächtnis an die Töchter, die durch den Text in die Geschichte der Mutter eingebunden und zu ihrer Fortsetzung aufgefordert werden. A m Bodensee zeichnet La Roche dieses Vermächtnis auf: Ihr, meine Töchter! kennt mein für alles Gute gefühlvolles Herz. Hier zeigte mir dieses große Stück von Gottes Erde Güter, welche Er da ausgebreitet hatte, und ich erinnerte mich dankbar an die, welche ich von dem Unterrichte meines seligen Vaters genoß. Zu Anfang meines Reiseplans wollte ich ihm diese Blätter zuschreiben, und darinn von meiner Erkenntlichkeit für seine Erziehung sprechen; jetzo bekommt Ihr sie, als Erbe von Eurem Großvater. 10 Ihr Tagebuch schließt mit einer letzten Erinnerung an diese Zielprojektion als Mahnung an die Töchter:
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Erinnerungen. S.4. Tagebuch. S.66f. 10 Tagebuch. S.55. 9
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Ihr hörtet in Eurer Jugend meine Erzählungen gerne, und es freute mich, Euern guten kindlichen Herzen angenehme und nüzliche Augenblicke zu schaffen. Ich wünsche, daß diese Bogen meines Tagebuches Euch jetzo in den Jahren Eurer Vernunft und erworbenen Kenntnisse eben so viele Zufriedenheit geben möge.11 Mit der Reise in die Schweiz verbindet sich für die Autorin das Projekt einer geschlossenen Selbstkonstitution, in der die Ichentwicklung als bruchlose Kontinuität auf einen idealen Abschluß und Höhepunkt hin konstruiert werden soll. Auf dem Hintergrund dieser die Ich-Entwicklung abschließenden Zielprojektion glaubt sich die Schreiberin sicher, daß »meine Schweizerreise, [...] mich mein ganzes übriges Leben freuen [wird], wäre es nur wegen dem Anblick des Wechsels von Wäldern, von staunenden Gebürgen, und den auf einmal ausgebreiteten fruchtbaren Flächen voll Weitzenfelder und Wiesen.« 12 Noch vor der Schweizer Grenze intoniert La Roche im ersten Tagebuch die Grundstimmung und den Horizont ihres Erlebens: Es ist herrlich, Gottes Erde in dieser Jahrszeit zu durchreisen, und etwas Kenntniß von den Werken seiner Schöpfung und den Arbeiten der Menschen zu haben, indem seine Güte die Wunder der Ersten, und die Kunstfähigkeit der Andern zum Glück und zur Freude unsers Erdenslebens uns schenkte.13 Im Kontext dieses hochgestimmten Selbstkonzepts wird Naturerfahrung zum Erhabenheitserlebnis. Angesichts des Rheinfalls bei Schaffhausen notiert die Schreiberin: »Dieser Anblick, meine Kinder! kann man nicht beschreiben; aber ein vorher nie bekanntes Gefühl von der Macht und Schönheit der Natur durchdringt hier die Seele.« 14 Eine letzte Steigerung erfährt dieses Selbsterleben durch seine Einschreibung in die alles umfassende Einheit der Schöpfungsgeschichte. Nach einer beschwerlichen, nicht ungefährlichen und für eine Frau im 18. Jahrhundert durchaus ungewöhnlichen Bergbesteigung, zu der sie ihr Sohn anregt, bringt sie dies Erhabenheitserlebnis zum Ausdruck: Ich gieng etwas allein umher, blieb stehen, sah mich mitten unter diesen staunenden Geschöpfen, und fühlte, daß wir erst in einer andern Welt über sie erhaben, sie ganz sehen, und mit den andern Wundern der Schöpfung ihre Natur und Bestimmung erkennen werden. Ich fühlte mich näher bey diesen obern Gegenden, meine Seele war bewegt und durchdrungen. Gefühle der Anbetung, wie man sie sonst nirgends fühlen kan, Liebe gegen seinen Urheber, feyerliche Freude über Unsterblichkeit, Vergessen alles erlittenen Wehes, Vergebung alles Unrechts, liebreiches Übersehen aller Unvollkommenheiten, waren die Gesinnungen, die mich durchdrangen. Ich dachte des Glücks unwürdig zu seyn, das ich genoß, wenn ich nicht meine Seele dem Himmel so rein zeigte, wie die Luft, welche ich athmete. Ich umarmte Euern Bruder, der in diesem Augenblick zu mir zurückgekommen war, und bat Gott: die Seele des guten Jünglings rein und stark zu erhalten, bis er auch einst über die ganze Erde erhaben seinem Ursprung sich nähern würde.15
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Tagebuch. Tagebuch. 13 Tagebuch. "Tagebuch. 15 Tagebuch. 12
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S.434. S.118. S.33. S.62. S.260f.
Bereits in diesem Bild eines arcadischen Naturzustandes ist der Tod präsent. Allerdings ordnet er sich hier harmonisch dem Erhabenheitserlebnis unter und bildet noch keine existenzielle Bedrohung. Noch einmal sickert im ersten Tagebuch das Todesthema assoziativ in Gestalt der versöhnlichen Metapher des Schlafes in das Naturerleben der Schreiberin ein. Das Bild der Ruhe der Natur überträgt die Schreiberin auf den menschlichen Zustand des Schlafs, der seine letzte Gestalt im Totenschlaf findet. Diese Bildfolge steht unter dem Zeichen eines harmonischen Kontinuums, dem Naturbild korrespondiert die Bestimmung der menschlichen Existenz. Der Tod, der bezeichnenderweise namentlich nicht genannt wird, sich vielmehr hinter der Schlaf-Metapher verbirgt, wird hier nicht als gewaltsamer Eingriff interpretiert, sondern als Bestandteil der harmonischen Natur begriffen: Es ist alles stille, und die Landschaft sehr schön. Der Mond spiegelt sich neben dem Wiederschein der Sterne in dem herrlichen nun ganz ruhigen See. Mögen alle meine Kinder so sanft und wohl schlafen, wie mein guter Franz hier in meinem Zimmer schläft, und möge die Ruhe Euers würdigen Vaters erquickend für ihn seyn, wie es der Thau für die Pflanzen seyn wird. 16
Im zweiten Reisetagebuch bricht diese harmonische Einheit unwiderruflich auseinander. Hier wird die Natur aus dem göttlichen Schöpfungszusammenhang ausgegrenzt. Die Einheit von Mensch, Natur und Gott zerreißt. Der symbolische Blick in die Höhe senkt sich nun zur Erde. Das Gebirge als Standort des Menschen zwischen Himmel und Erde, das vor dem Tod des Sohnes die Erfahrung von Erhabenheit gewährte, kann und darf nicht mehr angeschaut werden. In Bern, »wo mein Franz 1784 das Entzücken seiner reinen edlen Seele, über den Anblick der schön beleuchteten Berge äusserte«,17 wendet sich der Blick der trauernden Mutter nun zur Erde, die blühende Natur ist zum Sinnbild des Grabes geworden. Während im ersten Tagebuch die Natur im Bild der Schäferidylle idealisiert wird, wie sie der Dichterfreund Geßner zeichnete, wird sie im zweiten Tagebuch zu einem Arkadien als Reich des Todes, dessen Grenzen die Autorin schreibend überschreitet. Das Bild der Idylle hat der Tod endgültig zerstört, seine Erinnerung erzeugt Leiden und spricht von dem unwiederbringlichen Verlust: In Bern, in dem schönen Garten des Herrn von Constant [...] fand ich neuen lebhaften Schmerz bei der Erinnerung, daß vor 7 Jahren mein Franz mit so inniger Freude hier war, mich bey der Hand faßte, und zu dem schönen ländlichen Bild führte, das uns einen Hirtenknaben auf der Spitze eines Hügels sitzend darstellte, der einen Erlenstock ausschnitzte, während dem seine 2 Kühe neben ihm weideten. 18
Die göttliche Natur des umfassenden Schöpfungsplans weicht der »gefallenen« Natur als Mutter Erde. Natur und Mensch werden nun als gleichermaßen unvollkom-
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Tagebuch. S.292f. Erinnerungen. S.44. Erinnerungen. S.49.
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mene, isolierte Teile der Schöpfung aus dem Paradies vertrieben. In der zweiten Reise regiert der Tod über beide. Nach der verlorenen Einheit stellt der Tagebuchtext eine neue Verwandtschaftsbeziehung zwischen beiden her. Zu Gleichgesinnten werden die Schreiberin und die Natur im Bild der Mutter, ihr Gemeinsames ist ihre Nähe zum Tod. Die Natur als Mutter Erde wird zur Schöpferin von Leben und zur Heimat der Toten, dies macht sie zur Verwandten der Schreiberin, die als Gebärerin zugleich das Verlöschen von Leben wie am eigenen Leibe erfährt. Im Tagebuch heißt es: Da ich den Herrn der Natur nicht bewegen konnte, dich mir zu lassen; so mag unsere Mutter die Erde, dich ruhig und ungestört in ihrem Schooß verwahren, bis die Stimme des Ewigen dich in verklärter Gestalt hervorruft, und dich dann deiner alsdann auch verklärten Mutter, auf ewig wiedergiebt. 19
In der Hinwendung zu dem großen Vorbild von der Mutter Erde sucht die Tagebuchschreiberin Trost: Aufschluß über die eigene Situation soll die Identifikation mit dem Urbild der Mutter gewähren, aus der konstruierten Analogie das annehmende Verständnis der eigenen Rolle entstehen. Im Bild von der Mutter Natur erschreibt sich La Roche ein neues Ich-Ideal als Lebensspenderin und Bewahrerin der Toten im trauernden Andenken. Am Ende des Tagebuchs formuliert Sophie La Roche: Der Frühling erwacht, Blumen und Kräuter sprossen empor, auch über dem Grab meines geliebten Sohnes. O Erde liege sanft auf seiner Brust, er, im blühenden Frühling seines Lebens, zum ewigen Frühling berufen. In diesem Monat warst du gebohren, Theurer Unvergeßlicher! Du erschienest mit der Blühte der Natur, und welktest mit ihr im September. O wie schön waren alle meine Hoffnungen, wie trauervoll ihr Verlust. 20
Was die Natur gegenüber dem Individuum auszeichnet, ist ihre Geschichtslosigkeit; Werden und Vergehen wechseln sich in endloser Wiederholung ab. Dem Mensch dagegen ist seine einmalige, individuelle Geschichte eigen. La Roche deutet diesen Gedanken am Ende im Bild von dem Schlaf der Natur an: Ich erinnere mich in dieser Ruhe an die vielen Stufen der Abänderungen von Menschen, Wohnungen, Sitten, Glücksumständen, Geisteskräften und Herzensgüte, welche ich seit meiner Abreise aus Speyer bald mehr, bald weniger bemerkte. [...] Was für eine große Verschiedenheit legte Gott in die Kinder der Erde! 21
Unveränderlich und geschichtslos erscheint die Natur im Vergleich mit dem Menschen. Ihre Dauer in ständiger Erneuerung trennt sie von ihren Geschöpfen und bringt sie in Gegensatz zu dem endlichen Individuum. An zentraler Stelle schließt Sophie La Roche ihre Naturbetrachtung ab:
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Erinnerungen. S. 182. Erinnerungen. S. 476. Erinnerungen. S.292f.
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Youngs trauriges Bild in seinen Nachtgedanken kam in meine Erinnerung; Erde! weites G r a b deiner Kinder. Und mußte ich nicht sagen von dem Grab meines Mannes, meines Sohnes, floh ich in die Schweiz, bei dem G r a b von Julie Bondely, bei dem von Salomon Geßner reise ich vorbei wieder zurück. Alle Pflanzen, Blumen und Graß, so über ihrem Sarg stehen, sind mit neuem Leben Kräften erwacht, sie schlafen! 22 D i e Wandlung ihrer N a t u r w a h r n e h m u n g v o m Erhabenheitserlebnis d e s göttlichen Schöpfungsplans z u m symbolischen Totenreich beschreibt La R o c h e immer w i e d e r im Tagebuch und b e n e n n t ihre U r s a c h e w i e auf d e m W e g von B e r n nach Lausanne: Sie sind noch da, alle die Schönheiten, aber nicht mehr für mich - Kinder! ich fragte mich auf einer Stelle - warum fühlte ich so tief die Lage, und die Gesinnungen des Amerikaners, als er dem jungen Engelländer sagte: Siehst du die Sonne aufgehen? Fühlst du wie schön es ist? Aber nicht mehr für mich, mein Sohn ist tod! 2 3 Sinnfällig wird diese Wandlung der Naturerfahrung in d e n Tagebüchern aber erst im Vergleich. Auf b e i d e n R e i s e n rufen die gleichen b l ü h e n d e n Landschaften im Frühling und S o m m e r ein diametral e n t g e g e n g e s e t z t e s Erleben hervor. W ä h r e n d der ersten Schweizer R e i s e wird die Fahrt durch s o m m e r l i c h e L a n d s c h a f t e n zu e i n e m synästhetischen Erlebnis. D i e b l ü h e n d e Natur erscheint als paradiesischer Erlebnisraum, der das Individuum über seine G r e n z e n erhebt: Die Pferdebohnen blühen dazwischen, und der Wind führte uns den angenehmen Geruch davon in den Wagen. Auf den niedrigen Anhöhen zu unserer Linken waren lauter Reben mit vielen zerstreuten Persich- und Mandelbäumen dazwischen, und an der Landstraße hin blühten die Hirtentasche und der Käßklee in großen Büschen neben dem Purpurkraut, dem Wederich und dem blauen Glöckchen eben so gesund und fett, wie die Kornfluren, an deren Rändern sie stehen. 2 4 D i e s e fruchtbare, »lachende« Natur zeigt sich der Betrachterin in ihrer h ö c h s t e n Entfaltung: D a s rauschhafte E r l e b e n d i e s e s Ü b e r f l u s s e s an Farben und G e r ü c h e n evoziert zugleich ein euphorisches Selbsterlebnis. A n d e r s d a g e g e n die Wahrnehm u n g einer ähnlichen Naturszenerie im z w e i t e n Reisetagebuch: Die Aussicht zur rechten über den See hin, war sehr angenehm, schöne wohlbewohnte Anhöhen, mit der großen Reihe der Felsen vom Valais nach der ganzen Länge begränzt, an dem Fuß der hohen Straße, welche wir durchführen, Tausend blühende Kirschbäume, zur linken Berge an lauter Reben, rechts einmal ein schöner aber nur einen einspännigen Karren breiter Weg, mit nett geschnittenen Hecken in voller Blüte, auf dem Grund dichtes Gras mit Tausend und aber tausend Schlüsselblumen, und die große Wiese hindurch eine Allee von hohen Kirschbäumen mit Blüten bedeckt, so wie alles an dem Fuß dieses Theils des Juragebirges grüner, und weiter im Frühling stand, als der bei Lausanne. Ich fühlte und sah es mit inniger Zufriedenheit, aber als ich einen blühenden Pfersichbaum mit zerrisse-
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Erinnerungen. S.476f. Erinnerungen. S.28. Tagebuch. S. 32. 175
nen Ästen, und zerstört, ganz nah an einem alten Stamme erblickte, so kam wie ein Schlag die Idee vor mich: dieses ist Sinnbild meines Lebens, und des schnellen gewaltsamen Verwelkens meines blühenden Franz, der sich auf seine alte Mutter stützte. 25
Nicht geringer ist der Reichtum der blühenden Natur im Frühling auf diesem Weg der Reisenden, dennoch bleibt das hochgestimmte Glückserlebnis aus. Teilnahmslos wird das Naturbild registriert, der distanzierten Wahrnehmung korrespondiert das herabgestimmte Gefühl der Zufriedenheit. Mit dem Pfirsichbaum wird die Intaktheit des ersten Naturbildes hier abrupt zerstört, und das Bild der lebendigen, fruchtbaren Natur in ihr Gegenteil verwandelt. Am Ende dominiert auch hier das Bild des Todes die Frühlingslandschaft. Die Natur wird zum Symbol des Todes und zum Sinnbild der eigenen Geschichte. In ihren letzten beiden Tagebüchern konstruiert Sophie La Roche so ihre Lebensgeschichte als Geschichte des Todes, des Verlustes zentraler Bezugspersonen. Lebensgeschichte als »Lebensreise« wird durch den Tod bewegt und angetrieben, deren letztes Ziel er ist. Im Tagebuch von 1793 rekapituliert sie in Stichworten ihre Lebensgeschichte: Ach er war so sehr verwunden der Weg meines Lebens, auf mancherlei Art, und beinah immer das wahre Bild einer Reise, wo natürlich Gute und schlimme Heerstraßen, schlechte und angenehme Aussichten, vorüberfliegen, und Beschwerden abwechseln. [...] Doch bin ich froh, daß ein stilles ruhiges Grab, diesen Cirkel meiner Wanderungen enden, und mich mit meinen geliebten Vorausgegangenen wieder vereinigen wird. 26
Leben wird zu einer Reise zum Tod, zum Projekt der Grenzüberschreitung in mehrfacher Hinsicht: als Versuch der Annäherung an die geliebten Toten und an den eigenen Tod. Das Leben als Reise folgt bei Sophie La Roche dem zentralen Ziel der Auseinandersetzung mit dem Unbegriffenen, dem Tod. Schon das Tagebuch der zweiten Schweizreise ist infiziert vom Todesthema: Sie ist über weite Strecken dem Andenken ihrer verstorbenen Freundin Julie Bondeli gewidmet. Das Gedenken an die Schriftstellerin und Freundin Rousseaus, Lavaters und Wielands bildet ein zentrales Thema im ersten Reisetagebuch. In ihrer Heimatstadt Bern, in der La Roche lange verweilt, sucht sie sich die fremde Umgebung nicht nur mit den Augen der Toten anzueignen, sondern sie tritt in Kontakt mit engen Freundinnen und Lebensgefährtinnen der Bondeli, um mit ihnen in der gemeinsamen Trauer die verlorene Gemeinschaft virtuell zu restituieren. 27 Bei ihrer Ankunft in Bern notiert sie ins Tagebuch: 25 26 27
Erinnerungen. S. 476f. Erinnerungen. S.33. Ausführlich berichtet sie im Tagebuch über das Zusammentreffen mit den engen Freundinnen Julie Bondelis. In dieser Gemeinschaft des Andenkens wird die Tote noch einmal lebendig: »Diesen Morgen besuchte mich Madame Hartmann, erste Jugendfreundin von Julia Bondeli, denn von dem 14ten Jahre an, bis in das 48ste liebten sie sich. O nie werde ich den Morgen vergessen, wo ich in einem artigen Gartenhause zwischen Blumenbeeten mit dieser würdigen klugen Frau saß, mit ihr den Tod von Julia Bondeli beweinte«. Tage-
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In dieser Stadt, wo die Geschichte der Freyheit das Andenken so vieler großen und weisen Männer bewahrt, ist Julie Bondeli erwachsen. [...] Diese, Berge, Wälder und Gebäude können seit ihrem Tode keine solche Veränderung gelitten haben, daß mein Auge nicht solte auf Theilen verweilt haben, auf welche einst ihre Blicke geheftet waren, vielleicht trat mein Fuß auf manchen Stein, welchen der ihre eigene berührt hatte. 2 8 Bereits zu B e g i n n ihres Tagebuchs gibt sie mit d e m G e d e n k e n an die tote Freundin das untergründige M o t i v ihrer R e i s e an: Mich freute überhaupt die Schweiz, aber auch Bern besonders zu sehen, einmal wegen dem Wohlstand und der Ordnung, welche da herrschen, und auch weil Bern für mich die Wiege meiner Julie ist, obschon der Gedanke, daß sie nicht mehr lebt, wie ein Trauerflor mir alles trübte. So mußte ich Schönheit bewundern und gut heißen; aber Julie fehlte. Die Seele des Ganzen war für mich entflohen; alles schien mir trocken und wie lebloß zu seyn. D e r Verlust der Freundin prägt ihre W a h r n e h m u n g im ersten R e i s e t a g e b u c h w i e der des S o h n e s diejenige d e s zweiten. W ä h r e n d die A n n ä h e r u n g an die Wahrnehmungsperspektive und die Person der tatsächlichen R e i s e g e f ä h r t e n und Freunde im Tagebuchschreiben k e i n e R o l l e spielt, k o m m t der virtuellen Verständigung mit d e n s t u m m e n , a b w e s e n d e n Freunden im Schreiben e i n e zentrale B e d e u t u n g zu. S o ist die G e m e i n s a m k e i t mit ihrem R e i s e b e g l e i t e r für d e n Text d e s ersten Tagebuchs kein G e g e n s t a n d , nur selten wird er mit seinen W a h r n e h m u n g e n erwähnt, ja über weite Strecken scheint er gar nicht präsent zu sein. Seine R o l l e für d e n Text ändert sich e n t s c h e i d e n d nach s e i n e m Tod im z w e i t e n Tagebuch. D a g e g e n ist die schweig e n d e Freundin im ersten Tagebuch allgegenwärtig. D e n Verlust der unmittelbaren, k o n k r e t e n K o m m u n i k a t i o n und G e m e i n s a m k e i t ersetzt das sympathetische A n d e n k e n im Schreiben. D e r Text wird damit z u m Ort der Verständigung mit a b w e s e n d e n , verlorenen Partnern. D a r ü b e r hinaus sucht die Autorin w ä h r e n d ihrer R e i s e in die u n b e k a n n t e Welt i m m e r w i e d e r den Kontakt mit d e m Tod, sei es durch Erzählungen v o n merkwürdigen Todesfällen, die ihr auf der R e i s e überliefert w e r d e n 3 0 o d e r durch den B e s u c h
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buch. S.351. »Meine Hartmann hat mir Briefe von Julie zu lesen gegeben. Gott! was für ein Reichthum von Geist, von Feinheit, Edelmut und Güte lag in dieser Seele. Ewig Erhabene!« Tagebuch. S.354f. Vgl. auch S.357 u. 362. Tagebuch. S.336. Tagebuch. S.175. Das erste Reisetagbuch berichtet unmittelbar zu Beginn der Reise über zwei markante Orte des Todes. D a ist das Rheinufer bei Germersheim, »wo ein gutes junges Bauernmädchen sich vor vier Tagen in den Rhein stürzte, weil man ihren Bruder, den sie innig liebte, wider seinen Willen zu dem Werber geführt hatte«, Tagebuch. S.7f, und der »gebogene Baum« bei Berghausen, »welchen der nun älteste Einwohner des Dorfs, an seinem Hochzeitstage, mit einem gleichen Stämmgen für seine Braut, sezte, und für ihre Erhaltung sorgte. Als seine Frau vor einigen Jahren starb, so hieb er den Baum um, welcher für sie gepflanzt war - machte sein Testament, und verordnete darinn [...], daß [sein alter Knecht] auf seinen Sterbetag diesen zweyten Baum auch umhauen, und benutzen solle. - « Tagebuch. S. 6f. Beide Geschichten, die der Selbstmörderin wie die der Umkehrung des antiken Mythos von Philemon und Baucis, stehen nicht zufällig im ersten Tagebuch für Beispiele
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von Friedhöfen und Grabstätten. Ihr Tagebuch läßt sich daher auch als ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Todes und der Grabkunst im 18. Jahrhundert lesen. In der Welt des Fremden und Unbekannten wird der Tod zum vertrauten Bezugspunkt, zum einzig Gesicherten, Kontinuität garantierenden Faktum, das die Verbindung zwischen fremder Welt und Reisendem schafft. Der Tod schließt das Fremde zusammen, verbindet fremde Kulturen und unbekannte Menschen, er ist ihr einziges Gemeinsames. Der Umgang mit ihm wird zu ihrem Bewertungsmaßstab. In ihren Tagebüchern erschließt die Schreiberin sich selbst und ihre fremde Umgebung aus der Perspektive des Todes, er ist ihr übergeordnetes Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster.
1.2 Bedeutungswandel des Todes Das zentrale Schreibmotiv der Todeserfahrung, das Sophie La Roches Reisetagebücher mit denen früherer Schreiber verbindet, bekommt bei ihr eine neue Akzentuierung. Mit Sophie La Roche wird der Tod zur abstrakten, unbegriffenen Größe, dem unkalkulierbaren, omnipotenten und allgegenwärtigen Feind des Individuums. Entscheidend dabei ist das Fehlen einer durchgängigen eschatologischen Fundierung der eigenen Lebensgeschichte. Der Domestizierung der Schrecken des Todes durch die Religion steht die Sinnlosigkeit und die ungemilderte Macht des Todes in der Natur gegenüber. Wo die Orientierung der eigenen Lebensgeschichte auf die Heilsgeschichte in den Hintergrund tritt, markiert der Tod nicht mehr die erwünschte Nahtstelle des Übergangs, sondern wird zum factum brutum, dem entscheidenden Ereignis. Pfrangers Dialogmodell mit dem geliebten Partner als zeitlich begrenzter Brückenschlag zwischen den Welten ist für Sophie La Roche nicht mehr praktizierbar. Daß Gespräche mit den Toten nur schmerzhafte Selbstgespräche sind, die das Leiden an dem unwiederbringlichen Verlust ins Unendliche perpetuieren, weiß sie nur zu genau. Nicht die Toten, sondern die Lebenden geht der Tod an, ihnen ist es aufgegeben, aus sich selbst heraus die Auseinandersetzung mit ihm zu führen, sich ohne fremde Hilfe seine je individuelle Bedeutung zu erschließen. Daher folgt das Gedenken an die Toten einem Selbstzweck, ist nichts anderes als die Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst angesichts des existenziellen Faktums des Todes. Wenn bei Sophie La Roche dennoch die Vorstellung von einem Wiedersehen nach dem Tode angedeutet wird, so spielt sie eine untergeordnete
eines verkehrten Umgangs mit dem Tod. La Roche kommentiert dazu: »Ach es ist traurig, wenn unser Geist nicht Kräfte genug hat, unserm gebeugten Herzen Trost zu geben, und eine Aussicht zu zeigen, wo über schwarzen Wolken eines gegenwärtigen Übels der Himmel sich aufklärt und bessere Stunden verspricht.« Tagebuch. S.8. Die zweite Reise rahmen parallel dazu zwei Begegnungen mit trauernden Müttern ein: »Mußte ich mir nicht sagen: Daß es sonderbar ist, daß ich bei dem Anfang und dem Ende meiner Reise Mütter treffen mußte, welche erst kürzlich blühende gute Söhne auf eine unglückliche Weise verloren.« Erinnerungen. S.502. Beide Kontakte mit dem Tod entsprechen aufs genaueste ihrem jeweiligen Verhältnis zu ihm: Im ersten Fall ihrer kritischen Distanz, im zweiten ihrer direkten Betroffenheit.
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Rolle und ist nicht mehr als dominantes Ziel präsent. Bereits zu Beginn ihres letzten Reisetagebuchs weist sie religiöse Trostgründe zurück und formuliert entschieden die offene Frage nach dem Sinn des Todes. So kann die Schilderung des Sterbens ihres Sohnes nicht mehr zum erbaulichen Erlebnis für alle Beteiligten, den Sterbenden und die Weiterlebenden, werden. Der Sterbeszene fehlt sowohl die Vorbildfunktion des christlichen Todes als auch das tröstende und läuternde Element für die Lebenden. Dem moralischen und damit schönen Tod steht hier die Gewalt des Todes, der physische Todeskampf gegenüber, für den es keine tröstende Erklärung mehr gibt. Die christliche Inszenierung des Sterbens als lehrreiches Gemeinschaftserlebnis wird hier durch ein neues Sterbemuster verdrängt. Bei La Roche kündigt sich der einsame Tod an, der sich wegen seines unerträglichen Grauens dem Gemeinschaftserlebnis aus Rücksicht gegenüber den Lebenden entzieht. Sophie La Roche erinnert die Sterbeszene ihres Sohnes im Vergleich mit dem plötzlichen Tod eines anderen jungen Mannes im Gespräch mit dessen Mutter. Wo der Tod als Zusammenbruch des Körpers und nicht als gleichzeitige Erlösung und Erhebung der Seele verstanden wird, wird das langsame Sterben zum qualvollen Miterleben menschlicher Leiden, der plötzliche Tod zur Gnade im Gegensatz zur Bewertung dieser Todesarten in der Religion, die den langsamen Tod als letzte Chance der Läuterung und des Glaubenserlebnisses feierte. La Roche schreibt: Seine Mutter litte allein, er nichts. Aber mein theurer, edler Franz, war 8 Tage lang krank, sah ihn kommen den Tod, hatte fürchterliche Leibschmerzen, mit Engels Gedult getragen. Es war kindliche Liebe für mich, wenn er bei dem Eintritt in das Zimmer mir entgegenlächelte, wenn er allerlei Veranstaltungen machte, durch die ich abgehalten wurde, immer um ihn zu seyn, damit ich ihn nicht so oft im Kampf mit seinem Schmerz sehen sollte. O ich fühlte mich unglücklicher, als Frau von Dietrich: denn mein Herz war durch das Leiden meines guten liebenswerthen Sohnes, schon lange zerrissen, ehe mich das volle Unglück seines Verlusts traf! Auch wars der erste Gedanke von Trost, mir zu sagen: Er leidet nicht mehr! Es war der einzige Trost, den ich annehmen konnte; Alleinseyn mein einziger Wunsch; den Gedanken umfassen: mein Franz ist tod, [...] alle seine Tugenden, seine so treu gesammelte Kenntnisse, alle seine Liebenswürdigkeit, dem Grab bestimmt! Töchter! Liebe Töchter! ich konnte nichts tragen, als den Anblick von Thränen, die um ihn geweint wurden! Trost annehmen? o leichter hätte ich mich mit Füßen treten lassen. Frau von Dietrich war sehr zu bedauern, daß der harte Schlag, wie ein Donner, auf sie herab fiel; aber sie hatte ihren schönen blühenden Sohn nicht leiden sehen, nicht sagen hören: ich sterbe - , welches rechtschaffene Herz, wird sich in dem Weh des Andern trösten, es leidet für sich und den Nächsten. 31
Dieses Sterben hat nichts Tröstendes oder Erbauliches für die Lebenden mehr, es entbehrt dagegen jeglichen Sinns, wird zur Ursache unheilbarer Leiden für die Überlebenden. Hatte die christliche Sterbeszene durch ihren Exempelcharakter von der Person des Sterbenden abgelenkt, den Toten entindividualisiert und ihn der Zahl der unpersönlichen Tugendhaften zugeschlagen, so steht in der Erfahrung der Tagebuchschreiberin das Entsetzen vor dem endgültigen Verlöschen von Individualität im Vordergrund.
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Erinnerungen. S. 8ff.
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1.3 Der Tod in der Kunst Wo der Tod seine letzte Erklärung nicht mehr im religiösen Diskurs findet, da dringt er als zentrales Thema in die Kunst ein. Daß der Tod nicht nur das Schreibmotiv für La Roches Tagebuchführung liefert, sondern der Ursprung aller Kunst ist, deutet sie durch die Aufnahme des Entstehungsmythos der korinthischen Säule im klassischen Altertum an: Ein liebenswürdiges erwachsenes Mädgen in Corinth wurde krank und starb. Ihre Amme nahm einige Lieblingszierathen der Verstorbenen, legte sie in einen Korb, und stellte diesen auf das Grab. Damit nun der Regen nichts verderbe, deckte sie einen Ziegelstein darüber. Der Zufall wollte, daß der Korb auf eine Accanthwurzel gestellt wurde und ihre aufwachsende Blätter sich mit so viel Zierlichkeit um den Korb an dem Stein hinbogen daß der Bildhauer Callimachus, von der schönen Gestalt eingenommen sie abzeichnete, und zu Capitale der Säulenordnung gebrauchte, welche man noch die Corinthische nennt. 32
Mit dem Tod als Gegenstand der Kunst setzt sich Sophie La Roche nicht erst in ihrem letzten Tagebuch auseinander. Bereits im ersten Schweizer Tagebuch sucht sie die Annäherung an dieses zentrale Thema über die Kunst. Mit dem Bedeutungsverlust heilsgeschichtlicher Gewißheit korrespondiert die Entstehung individueller Totenkulte und kunstvoller Gestaltung von Grabstätten. Für die Lebenden wird die Grabstätte zum Meditationsobjekt ihrer Trauerarbeit und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Totenkult und Grabgestaltung werden zu Denkmälern des Todes, die über das Andenken an die Verstorbenen hinaus, Botschaften an die Lebenden zur eigenen Annäherung an das Unbegreifliche senden sollen. So gehört für La Roche der Besuch von Friedhöfen und Grabstätten zu einem zentralen Ziel, insbesondere der ersten Schweizer Reise. Nur einmal sucht sie auf der zweiten Schweizer Reise einen Ort wieder auf, den sie zuerst mit ihrem Sohn besuchte. Es ist nicht zufällig ein Friedhof: Aber nachdem kamen wir auf den Platz neben der Kirche, der mit großen beweglichen Sandsteinen belegt, und zu den Begräbnissen gewidmet ist. Viele fromme Seelen waren da, und hatten, nach dem Gebrauch der römischen Kirche, geweihtes Wasser vor sich, womit sie während dem Gebet die Stellen besprengten, wo geliebte Freunde und Verwandte eingesenkt waren. Ach Kinder, wie war mir, als ich mich auf der Stelle sah, wo man mir vor 7 Jahren, von der Bestimmung dieses Platzes sprach, und mein Franz so eifrig zuhörte, die Steine zählte, aber dabei sagte: ein freier Begräbnisplatz auf den Dörfern sey freundlicher. - Ach, er ruhet auf einem Dorfkirchhof, der freundlichste, beste junge Mann, der je lebte. 33
Diese Wiederholung macht ihr das Motiv ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod auf der ersten Reise deutlich, das von der Suche nach einem Kontakt mit dieser unbekannten und unkalkulierbaren Bedrohung herrührt. Es ist der Versuch, sich selbst im Kontext des Todes zu definieren, sein Einbrechen in das eigene Leben
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Erinnerungen. S.407ff. Erinnerungen. S.20.
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spielerisch zu erfahren und gefahrlos zu erproben. 34 In der Rückschau erhält diese Konzentration auf das Todesthema durch den Tod des Sohnes ihren Sinn. Auf dem ländlichen Friedhof schließt sich ihre Lebensgeschichte zu einem Kontinuum der virtuellen und konkreten Auseinandersetzung mit dem Tod zusammen: Ich empfand viel, sehr viel bei dem kurzen Weg über diese Gräber, und fragte mich dann: ob es wohl geheime Ahndung war, daß einst ein frühes Grab, alles verschliessen würde, was mein Herz beglückte? - da ich immer Grabstätten, und Denkmähler verstorbener Edlen, mit Theilnahme betrachtete, aber oft darüber verspottet wurde. 35
Auf ihrer ersten Reise besucht sie auch das »berühmte Grabmal der schönen Wöchnerin« in der »Kirche zu Heidelbank«. Daß es sich bei La Roches Interesse für Grabkunst nicht um ein individuelles handelt, sondern die »Besichtigung« von Grabstätten gleichberechtigt neben die von Baudenkmälern, Kunstsammlungen u. a. im allgemeinen Reiseverhalten des 18. Jahrhunderts tritt, macht dieses Beispiel deutlich. Wenn sie das Grab als »berühmtes« apostrophieren kann, so rekurriert sie auf seine breitere Bekanntheit und dokumentiert darüber hinaus die Existenz eines allgemeinen Diskurses über Grabkunst durch ihren Hinweis auf eine Interpretation seiner künstlerischen Gestaltung bei Wieland: Der Gedanke des durch den Schall der Trompete des lezten Gerichts geborstenen Grabsteins ist der Religion so angemessen, und der Augenblick, in welchem ein schönes Wesen neu erschaffen zu ewiger Seligkeit aus dem Grabe emporstrebt, macht es dem Künstler zur Pflicht, die liebenswürdige Tode in voller Blüthe der Schönheit darzustellen, und wie ich von Wieland die richtige Bemerkung machen hörte, so ist auch die Bewegung des Arms, mit welchem sie den Stein wegstößt, mit so vielen Geist nach der Kraft einer Unsterblichen berechnet, daß gar keine Anstrengung, wie Menschen nöthig haben, dabey sichtbar ist, sondern nur eine leichte Berührung von der Hand eines sich aufschwingenden Engels. Ihr Kind, das mit ihr starb, faßt sie mit der andern. 36
Ist diese Grabstätte noch ganz der Darstellung einer heilsgeschichtlichen Botschaft verpflichtet, so konzentriert sich die Gestaltung des Sarkophags der Fürstin Orlow in Lausanne auf den bleibenden Ausdruck von unüberwindbarer Trauer. Ihre Grabstätte setzt im Bild der Trauer Tote und Lebende in eine dauerhafte Beziehung. Entscheidend ist, daß die Tote nicht mehr wie in der Grabstätte der schönen Wöchnerin in ihrer individuellen, körperlichen Gestalt dem Andenken bewahrt bleibt, sondern hier wie in allen anderen beschriebenen Grabstätten des Tagebuchs der kunstvoll und kostbar gestaltete Sarg oder die Urne an die Stelle der Person tritt. Daß der Tod Individualität unwiederbringlich zerstört, macht dieses Verbot der körperlichen Darstellung deutlich. Im Kunstwerk überlebt nicht mehr die individuelle Gestalt der Toten, vielmehr erinnert ihr prachtvolles Gefäß an das Ende der menschlichen Existenz. Die Tote selbst ist in dieser Szene abwesend, dagegen dominieren die Überlebenden im Ausdruck ihrer Trauer das Bild:
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Vgl. Anmerkung 25. Erinnerungen. S.20. 36 Tagebuch. S. 168f. 35
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Der Sarcophag ist ein prächtig grosses Stück schwarzer Marmor mit alabasternen simplen Verzierungen. Auf der Vorderseite zeigt die Aufschrift den Nahmen, Stand, das Alter und den Tod; zu dem Haupt steht ein Bas relief, wo ein Mann in römischer Heldenkleidung einen Aschenkrug mit Blumen bekränzen will, und für Schmerz niedersinkt. Zu den Füßen ist ein Basrelief, wo die Liebe einen Aschenkrug umfaßt, und über ihn weint. Cypressengewinde hängen neben den Basreliefs herab, und Thränengefäße stehen dazwischen. 37 D i e zeitgenössische Grabkunst setzt an die Stelle d e s individuellen A b b i l d e s d e s Toten die kunstvolle Gestaltung seines Totengefässes. Im »prächtigen A s c h e n k r u g v o n w e i s e n Marmor« der H e r z o g i n v o n Curland ist die Verbindung z u m L e b e n endgültig zerrissen, g e n a u s o w i e in d e m » A s c h e n k r u g einer Mutter, w e l c h e mit ihrem ganz kleinen K i n d e zugleich g e s t o r b e n seyn muß, d e n n die kleine U r n e mit e i n i g e n Stiikk e n kleiner K n ö c h e l g e n stand in der g r o ß e n Urne, so, daß wirklich die A s c h e des K i n d e s in der v o n seiner Mutter ruhte«. 3 8 D e r Tod als E n d e d e s Lebens, der individuellen körperlichen Existenz, wird hier unverhüllt ausgestellt. In d e m symbolischen A r r a n g e m e n t der Toten erkennt La R o c h e eine b e l e h r e n d e Botschaft an die L e b e n d e n : » E s war mir ein sehr süsses Bild der mütterlichen Liebe, und interessirte mich mehr als die Bilder v o n Maria von Burgund«. 3 9 A l s u n z e i t g e m ä ß e m p f i n d e t La R o c h e daher auch d e n Totenkult d e s A r z t e s Tissot, der seinen toten » Z i e h s o h n « nicht nur [...] einbalsamiren, sondern nach seinem Bild einen Gibsabdruck verfertigen, den er unter die in das Gesicht geschnittene Haare, auftragen lies. Dem geliebten Toden wurden seine gewöhnliche Kleidgen angezogen, und sodann in dem mit einen Glaßdeckel gemachten Sarg wie auf einem Bette schlummernd, in einem eigen erbauten Monument, auf ein schönes Fußgestelle, in seinem Garten beigesetzt; wo Tissot alle Tage, die Witterung mag seyn welche sie will, die Überreste besucht, und Blumen und Früchte zu seinen Füßen niederstellt, seinen Verlust beweint, sein Andenken feiert, und nach dieser rührenden Wallfahrt wieder in die Stadt zurückkehrt, seinen Geist sammlet, um andere Kranke zu besorgen. 4 0 D e r b e r ü h m t e Arzt versucht n o c h einmal, die unwiderrufliche Trennung durch d e n Tod zu negieren. La R o c h e urteilt über ihn: Mir ward er wirklich auch Erscheinung dadurch, aber als eine ehrwürdige Erinnerung an vergangene Jahrhunderte voll großer Menschenseelen, welche jedem Zug des Herzens, jeder Idee des Geistes Vollkommenheit gaben, wie ihre Schriften, ihre Thaten, und unsterbliche Werke auf immer zeigen. Zärtliche Liebe eines edlen Verwandten für die in der Morgenröthe des Lebens und der Verdienste verwelkte Blüthe voll Unschuld und Geist - o die durfte bei den Großen Alten, ein Tissot, in ihrer ganzen Fülle zeigen, und wurde darüber verehrt. 41 G e g e n diese sinnlich erfahrbare B e w a h r u n g und Präsentation des toten Körpers, die zuletzt G o e t h e mit der Einbalsamierung M i g n o n s im »Wilhelm Meister« literarisiert hat, stellt La R o c h e das Darstellungsverbot des Toten. Im B e w u ß t s e i n der
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Tagebuch. S. 199. Tagebuch. S.424. Ebenda. Tagebuch. S.179. Ebenda.
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Lebenden existiert der Tote getrennt von seinem Körper weiter. Mit dem Tod verliert er im Andenken seine Körperlichkeit. Das Grab, der Sarkophag oder am häufigsten der Aschenkrug, der am konsequentesten das Körperbild aus der Vorstellung verdrängt, tritt als Kunstobjekt an die Stelle des toten Körpers. In der kunstvoll gestalteten Urne wird das Grauen vor dem häßlichen Antlitz des Todes abgemildert. La Roche kommentiert die »Trauerphantasie« des Schweizer Arztes: Es ist etwas Ausserordentliches und Heiliges in dieser Trauerphantasie, sehr verschieden von meinen Gefühlen über meinen Sohn. Es ist in meiner Seele sein Bild, aber es würde mir nicht möglich gewesen seyn, seine entseelte Hülle, so schön sie auch noch war, zu sehen oder zu umfassen. Der Gedanke davon bringt mich, die ich so stark gebaut bin, einer Ohnmacht nahe. 42
Dagegen trifft das Bild, das ihr ein Strumpfweber aus Zürich schenkt, exakt das Modell ihres Andenkens an den Toten. In seiner Darstellung findet sie ihre Beziehung zu dem Toten aufgehoben: Ein Hain mit Trauerweiden und Cypressen, in welchem ein erhabener einfach gezierter Stein einen Aschenkrug trägt, unter welchem der Name Franz von la Roche, und die aus dem Griechischen übersetzte Inschrift steht: >Wen Gott liebt, der stirbt als Jüngling.< Eine in Wittwengewand traurende Frau, sitzt weinend zu den Füßen des Denkmals. Eine Himmelsgestalt kommt aus einer Wolke, faßt ihre Hand und deutet sanft lächlend auf diese Inschrift! Ach Kinder! Geschwister meines Franz! was ist dieses so edel gedachte, so fürtreflich ausgeführte Bild für meine Seele, wie sanft, wie still belehrend! 43
Dieses Bild bietet keine eschatologische Deutung des Todes an, macht keinen ernsthaften Versuch der Tröstung, sondern beharrt auf der Geste der Trauer. Nicht um den Toten und sein mögliches Seelenheil geht es in dieser Darstellung, sondern um die durch den Tod ausgelöste Krisenerfahrung der Lebenden. In diesem Bild, das keine letzte zuverlässige Antwort gewährt, steht die Selbstdefinition der Lebenden angesichts des Todes zur Disposition. Das Bild siedelt die Lebende in einem Grenzbereich zwischen Leben und Tod an. Weder dem Reich der Toten noch dem der Lebenden gehört die Trauernde an, ihr Ort ist das Zwischenreich, die zum symbolischen Totenreich arrangierte Natur. Damit wird deutlich, was der Tod des geliebten anderen bedeutet: die Zerstörung eines geschlossenen Selbstkonzepts. Der Tod eines Sohnes tut dies auf besondere Weise, indem er in den biologisch-biographischen Entwicklungsplan von der Abfolge der Generationen eingreift. Er bedeutet daher zugleich den symbolischen Tod der Mutter. Durch die Umkehrung des natürlichen Zeitablaufs verliert auch das aus der Mutterrolle gewonnene Selbstkonzept des Lebens für die Kinder und des Weiterlebens in den Nachkommen seine Gültigkeit. Der Tod eines Sohnes wird damit zum »widernatürlichen« Tod, indem er die biologische Generationenabfolge verletzt. La Roche weist mehrfach auf diese Erschütterung ihres Selbstkonzepts durch den Tod des Sohnes hin: »Es wäre zu schön, zu groß
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Ebenda. Erinnerungen. S. 372.
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gewesen dieses Loos, wenn meine Söhne Franz und Carl mir die Augen geschlossen hätten.« 44 Anläßlich ihres ein-undsechzigsten Geburtstags erfährt sie noch einmal mit aller Deutlichkeit den Bruch in ihrem biographischen Selbstentwurf durch den Tod des Sohnes: [...] ach warum ich einundsechsig - Er nur Dreiundzwanzig? ... Dank sey dir, daß der edle liebenswerthe Jüngling dem Erdenkummer entrissen wurde. Ach ich habe alle Jahrszeiten gekannt. Mein Frühling war schön durch gute Erziehung, durch Freundschaft, und meine glückliche Heurath; mein Sommer durch Kenntniß, durch Erfahrung und Aussichten auf gute Tage; der Herbst trübte sich und störte das Einsammeln mühsam gepflegter Früchte der redlichen Arbeit meines rechtschaffnen Mannes; und nun, da der Winter meines Lebens anbrach, da ich in dem Sonnenschein des Glücks meines jüngsten Sohnes, mich erquicken, und in dem Genuß seiner ausübenden Tugend und Verdienst alles vorhergehende Weh vergessen wollte, entreißt mir ein hartes Schicksal diese Stütze - 45 Mit dem Tod des Sohnes erlischt das Selbstkonzept der Identifikation über den geliebten anderen 46 als Teil des eigenen Selbst. Im ersten Tagebuch hatte Sophie La Roche sich immer wieder in ihrer Mutterrolle beschrieben, ihre Identifikation über ihre Kinder gipfelt in dem Bekenntnis: »Seelige Tage der Erinnerung jeder für meine Kinder verwendeten Stunde, mein ganzes Leben hat kein Andenken in mir gelassen, welches so befriedigend wäre.« Diese Orientierung stellt der Tod des Sohnes in Frage.
1.4 Trauerarbeit Wo die Erklärungsparameter der Religion nicht mehr greifen, entsteht der selbstreferentielle Diskurs im Schreiben und der Dialog mit Gleichgesinnten. Sophie La Roches Tagebuch wird zum modernen Projekt der Trauerarbeit. Es ist Auseinandersetzung mit dem Tod durch Selbstbeobachtung: »Meinem verwundeten Herzen zur Linderung vielleicht auch mancher traurenden Seele zum Trost geschrieben«, lautet der Untertitel des Tagebuchs und gibt damit die Funktion des Textes für die Schreiberin wie für die potentiellen Leser an. In ihrem Tagebuch thematisiert sie das neue Erscheinungsbild des Trauernden, der als krank definiert 47 außerhalb des 44
Erinnerungen. S. 106. Erinnerungen. S. 107f. 46 Philippe Ariès beschreibt in der »Geschichte des Todes« (München 1980) diesen von ihm geprägten Begriff wie folgt: »Vom achtzehnten Jahrhundert an ist dagegen die Zuneigung von Kindheit an ganz auf einige Wesen, die außergewöhnlich, unersetzlich und unzertrennlich werden, konzentriert.« S.600. »Diese Zuneigung, die kultiviert und sogar verherrlicht wurde, machte die Trennung durch den Tod schmerzlicher und lud dazu ein, sie durch die Erinnerung oder andere mehr oder weniger konkrete Formen des Weiterlebens zu kompensieren.« S. 599. »Die verschiedenen Arten des Glaubens an ein künftiges Leben oder an das Leben in der Erinnerung sind in der Tat die Antworten auf die Unmöglichkeit, den Tod des geliebten Menschen zu akzeptieren.« S.600. 47 Freud hat dieses Verständnis von der Krankheit des Trauernden, lange nachdem es bereits im gesellschaftlichen Diskurs verankert wurde, wissenschaftlich in seinem Beitrag zu »Trauer und Melancholie« durchzusetzen versucht: »Die Schwere der Trauer, die Reak45
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gesellschaftlichen Diskurssystems steht. Mehrfach diagnostiziert sie ihren Zustand als den des »Wahnsinns«. Als Wahnsinnige grenzt sie sich selbst aus den geltenden Diskurssystemen aus, dem religiösen wie dem gesellschaftlichen. Damit wird ihre Trauerarbeit zum Selbstheilungsversuch im Schreiben. Im aktuellen Schreibprozeß bekommt der Text Entlastungsfunktion, dient als Klagemauer, in die das eigene Leiden schmerzhaft eingeritzt wird. An die Adresse der Töchter formuliert sie: Aber laßt mich, liebe Töchter, da ihr mein Leben wünscht, laßt mich mein Herz, von Zeit zu Zeit, von der Last seines Kummers entladen, unter welchem es so oft ermattet und sinkt. Oft, sehr oft steht in schlaflosen Nächten das Bild Eures entschlafenen edlen Bruders vor mir, meine Arme sind ausgestreckt nach ihm, leer falten sie sich auf meiner Brust! - Ach mein Franz! diese Worte unwillkürlich ausgesprochen, tönt in meine Seele, erschüttert mich, und bringt mich zu mir zurück.48 Hier artikuliert sich, was der religiöse Diskurs mit einem Tabu belegt, die fehlende Akzeptierungsbereitschaft gegenüber dem Tod, die sinnlose Negation des Todes in der Phantasie, die Wahnvorstellung. Als solche erkannt, verweist sie das Individuum an das eigene Leiden zurück, demonstriert ihm schmerzhaft sein Ausgeliefertsein an sich selbst. Damit wird das Tagebuch zum Protokoll einer Krankengeschichte, die in der eigenen späteren Lektüre Selbstaufschluß und -therapie, d. h. Heilung gewähren soll: »Doch machte das tiefe fortdauernde Gefühl meiner Trauer, daß ich mir vornahm, den Gang meiner Seele in diesem Fall, so genau als möglich zu beobachten, um mich selbst ganz kennen zu lernen.« 49 Den Töchtern erläutert sie diese Funktion des Tagebuchs: Diese Blätter meine Töchter! sollen zu Ergiessung meiner Seele dienen und nach meiner Rückkunft mich über mich selbst belehren. Denn ich berge es nicht, ich bin nicht so stark als ich es dachte, und Gott hätte mir auch keine größere Probe für meine Grundsätze, und meine Ergebenheit in seinen Willen auflegen können, als diesen so unvorhergesehenen, so unerwarteten Verlust [...]. Alle meine Gefühle sind seit dem 11. September für alles taub, nur meiner Trauer gewidmet. Ich kämpfe auch nicht dagegen, weil sie mir lieb waren, diese zerreissenden Gefühle, [...] Trauer sey meine Freude. Man wollte in mir eine starke Frau sehen, die den größten Kummer mit Größe trägt. Ach! dieser Ruhm wurde nicht von mir gesucht, ich war, ich will nichts seyn, als Mutter als verarmte Mutter. Aber mich beobachten, so viel als mein nagender Schmerz mir erlaubte: dies wollte ich.50
tion auf den Verlust einer geliebten Person, enthält die nämliche schmerzliche Stimmung, den Verlust des Interesses für die Außenwelt - soweit sie nicht an den Verstorbenen mahnt, - den Verlust der Fähigkeit, irgend ein neues Liebesobjekt zu wählen - was den Betrauerten ersetzen ließe, - die Abwendung von jeder Leistung, die nicht mit dem Andenken des Verstorbenen in Beziehung steht. Wir fassen es leicht, daß diese Hemmung und Einschränkung des Ichs der Ausdruck der ausschließlichen Hingabe an die Trauer ist, wobei für andere Absichten und Interessen nichts übrig bleibt. Eigentlich erscheint uns dieses Verhalten nur darum nicht pathologisch, weil wir es so gut zu erklären wissen.« Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Bd. 10. Frankfurt 1973. S.429. 48 Erinnerungen. S.28. 49 Erinnerungen. S. 10. 50 Erinnerungen. S.54. 185
Das Tagebuch wird zum Dokument der Entwicklung dieses Trauerprozesses. Zu Beginn ihrer letzten Schweizer Reise versucht Sophie La Roche zunächst die Erinnerung an den Verlust des Sohnes zu vermeiden. So entzieht sie sich dem gesellschaftlichen Kontakt mit alten, gemeinsamen Freunden und versucht, die Orte der letzten gemeinsamen Reise zu umgehen: Was fühlte ich - als meine Blicke während der Reise nach Mannheim, auf diese Waldungen, und diese Ruinen trafen! [...] Denn mit ihm, mit dem blühenden geliebten Jüngling, hatte ich die erste Reise, in die Schweitz gemacht - alle, alle Gegenstände, welche sein reines gefühlvolles Herz gerührt hatten, riefen mir sein Andenken zurück. Oft sah ich seine holde Gestalt vor mir, und fühlte neu seinen Verlust. Zu den Füßen der Wahrheit sey es bekannt, mit Schmerz erblickte ich junge Männer, von dem Alter meines Franz, die in Stärke und Gesundheit vor unsern Wagen kamen. 51
So ist sie bestrebt, die Reise nicht zu einer Wiederholung der ersten gemeinsamen werden zu lassen und versucht, wenn möglich, eine andere Reiseroute zu wählen, die sie nicht an die Orte der verlorenen Gemeinsamkeit führt: »Wir trafen Abends in Basel ein; froh, daß es auf einem ganz andern Weg geschah, als den ich befürchtete; denn das erstemal, war ich mit Franz nach Schaffhausen, war also über den Schwarzwald, und hätte da wieder so viel Erinnerungen getroffen.« 52 In der Phase der ersten Trauer erläßt die Schreiberin ein Berührungsverbot mit dem Gegenstand ihrer Trauer. Das Andenken an die Toten ist hier noch Auslöser einer eigenen unheilbaren Krisensituation. Erst in der Phase der kontrollierten Trauer kann das Andenken heilsam wirken. Gleichzeitig meidet La Roche gesellschaftliche Kontakte aus der Zeit der Gemeinsamkeit mit dem Sohn: Ich hätte die wegen ihrem unerschöpflichen Witz, von Voltaire selbst so sehr geschätzte Madame Cramer, und meine geliebte Madame Neker Saussure gesehen: aber meine Seele war krank, verwundet, jede Berührung gab mir ein Fieber; Trost und Zerstreuung empörten mich, und eine Kleinigkeit reizte mich im eigentlichen Verstände so, daß ich wegeilte. 53
Nur die Gemeinsamkeit der Trauer akzeptiert sie als Gesprächsgrundlage, nur wer den Tod eines Angehörigen erfahren hat, wird zum kongenialen Partner in der Trauerarbeit, kann partiell Trost spenden. Deshalb sucht sie auf der zweiten Schweizer Reise Freunde, insbesondere Bezugspersonen und Lehrer ihres Sohnes nicht wieder auf. Dagegen macht sie bei Sarazin in Basel Station, der durch den Tod seiner Frau zum ebenbürtigen Gesprächspartner wird. Hier findet sie die gewünschte Bestätigung ihrer Trauer, wenn ihr Sarazin nach den Regeln des empfindsamen Freundschaftsdiskurses mit den Worten begegnet: »Freundinn! mein Verlust war groß, aber der Ihrige ist größer.«54 Sarazins tröstende Anteilnahme registriert sie mit Genugtuung: »[...] dieses Gefühl von der Größe meines Weh, von dem Ver-
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Erinnerungen. Erinnerungen. Erinnerungen. Erinnerungen.
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S.4. S. 14. S.52. S. 16.
dienst meines verlohrnen Guten, gab mir ein Gefühl von Glück«.55 Immer wieder sucht sie den Kontakt zu Ihresgleichen, zu bisher fremden Menschen, mit denen sie ein ähnliches Schicksal verbindet, um im Vergleich des erfahrenen Verlustes die Berechtigung der Größe ihrer Trauer zu erleben. Mit dem Ehepaar Dhom verbindet sie diese Erfahrung, da sie »ganz gestimmt waren, mit meinem Herzen zu sprechen, denn sie feierten gerade den Jahrtag, an dem sie den Verlust ihres einzigen Sohnes beweinten.« 56 Es ist vor allen Dingen die Gemeinschaft der trauernden Mütter, in der sie ungebrochene Bestätigung findet. Hier trifft sie nicht nur auf die Mutter, die um den plötzlichen Tod ihres Sohnes trauert, sondern auch in Bern auf das Schicksal einer Frau, das sich bis ins Detail mit ihrem eigenen zu decken scheint: »Tugenden des Eifers im Dienst, die wir unsern geliebten Söhnen einpflanzten, und die sie ausübten, waren der Keim ihrer tödtlichen Krankheit geworden.«57 Die scheinbaren Zufälle des Zusammentreffens mit Trauernden kann die Schreiberin nicht als Ergebnis ihrer eigenen Wahrnehmungsdisposition, ihrer Obsession des Todesthemas, erkennen. Am Ende der Reise konstatiert sie mit Erstaunen seine Dominanz: »Das Ohngefähr brachte Hofrath Kramer in den Gasthof, wo wir wohnten, und dieser erzählte mir, als eine Art von Trost über den Verlust meines Sohnes: Daß vor zwei Tagen eine Mutter in Mannheim einen Sohn im Duell verlor«.58 Entscheidend aber in dieser Reihe der trauernden Mütter wird für Sophie La Roche die Begegnung mit einer Frau, die ihren Sohn, der wie ihr Sohn Franz heißt, durch die politischen Ereignisse verliert. Als Wachsoldat der Königin von Frankreich wird er ein Opfer der Revolution, nach seiner Ermordung wird sein Körper auf das Schrecklichste verstümmelt.59 In diesem Fall überschneiden sich Individualgeschichte und allgemeine Geschichte. La Roches selbstauferlegtes Desinteresse an den einschneidenden politischen Ereignissen während ihrer Schweizer Reise wird an diesem Überschneidungspunkt aufgebrochen und liefert den Schlüssel, mit dem sie Zugang zu ihrer weiteren, intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema gewinnt. Die Bedeutung des Todes wird auch bei ihrer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution zum entscheidenden Bewertungsmaßstab.
1.5
Französische Revolution
In der Gegenwart der Emigranten, die in diesen Tagen die Schweiz überfluten, erfährt sie sich als Gleichgesinnte: Bei diesem Anblick wandelte in der kleinen Ecke, wo ich mich gesezt hatte, der Geist der Betrachtung auch um mich, und leitete mein Aug und meine Ideen auf die Personen der Gesellschaft, welche meist alle durch traurige Zufälle des Lebens zusammen geführt waren: Französinnen durch Erschütterungen des Throns, Sylva durch Krankheit, ich durch
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Ebenda. Erinnerungen. Erinnerungen. Erinnerungen. Erinnerungen.
S. 17. S.24. S.502. S.63.
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den Todt meines Sohns, mich däuchte, daß Lavater selbst eine reiche Erndte Beobachtungen machen könnte. 6 0 D i e s e G e m e i n s c h a f t der L e i d e n d e n verbindet das Verhaltensmuster der Flucht: » D i e s e w o l l e n d e n politischen U n r u h e n ihres Vaterlandes entfliehen, u n d ich d e m K u m m e r m e i n e s Herzens.« 6 1 Im Z u s a m m e n t r e f f e n mit d e n Emigranten kann La R o c h e die e i g e n e Vermeidungsstrategie als Flucht k e n n z e i c h n e n . D i e s e s Fluchtverhalten kritisiert sie in b e i d e n Fällen als selbstzerstörerischen Wahn. Sich selbst belehrt sie mit d e m Grundsatz: » G e m ü t h s r u h e m u ß in d e m G r u n d e der S e e l e entstehen«, 6 2 d e n emigrierten A d e l i g e n wirft sie Geschichtsblindheit, m a n g e l n d e Flexibilität und die Schuld an d e n gesellschaftlichen Z u s t ä n d e n vor, die die R e v o l u t i o n auslösten. E n t s c h i e d e n fällt ihr Urteil über d e n auf seinen Privilegien beharrenden A d e l aus: Aber Männer und Weiber voll Geist, begehen Ungerechtigkeiten, vergessen Wahrheit und Edelmuth, den Ruhm der Güte und Philosophie, um den alten Wahn, des bessern, vorzüglichem Blutes ihre Verehrung zu beweisen! Irrt man wohl, wenn man die französische Emigrantenarmee Kinder des Wahns nennet, indem sie die nöthigste sicherste Güther des Lebens verlassen, Wünschen nachjagen, das Mitleiden ermüden, und den kleinen geretteten Überrest ihres Vermögens verzehren, weil es ihnen unerträglich war, neben andern Kindern der Erde zu stehen. Mein innigster Wunsch ist: daß der Himmel ihnen allen die Gesinnungen des edlen Dampiere gebe, dessen Besitzungen nahe bei Dijon liegen, der auch hieher flüchtete, welchen aber sein guter Genius, in moralischen Betrachtungen Hülfe finden ließ. [...] Dampiere befolgte den guten Rath der frommen Weisheit, und gieng nach Dijon zurück, wo er nun nach den neuen Gesetzen seines Vaterlandes, als vernünftiger und rechtschaffener Familienvater lebt. 6 3 D i e s e entschieden republikanische Position, die derjenigen Elisa v o n der R e c k e s verwandt ist, erläutert S o p h i e La R o c h e im w e i t e r e n ausführlich: Sollte ich meine eigene Ideen wagen, so möchte ich geradezu voraussetzen, daß der Geist eines moralischen Republikaners, niemals mit dem Genius der französischen Monarchie in einer trauten Verbindung stehn konnte, ja daß in allen Fällen die ursprüngliche Verschiedenheit ihrer Wesen immer in Streit seyn muß. 6 4 D i e Französische R e v o l u t i o n wird in der z w e i t e n H ä l f t e d e s R e i s e t a g e b u c h s z u m d o m i n i e r e n d e n T h e m a . Vernichtend fällt ihr Urteil über d e n alten A d e l aus: Wer kann sich aber hier enthalten zu sagen: arme Fürsten! Nichtswürdige, schmeichelnde Hofleute! Denn diese sinds, welche ihnen [den Königen] alles in einem falschen Licht vorstellen, und Regenten die keine selbstdenkende Herrn sind, [...] von Irrweg zu Irrweg füh-
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Erinnerungen. Erinnerungen. Ebenda. Erinnerungen. Erinnerungen. Erinnerungen.
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S. 137. S. 15. S.238f. S.205. S.210.
Ihre politischen Einsichten entstehen nicht nur in den Teegesellschaften, sondern beruhen auf dezidierten Kenntnissen. La Roche arbeitet sich während der Reise in das Thema ein, liest Hume, Mirabeau, die Schriften der Revolution, informiert sich durch Zeitschriftenlektüre, befaßt sich mit Finanzpolitik: Ich lese Neckers Buch. Natürlich kann ich nicht in das Labyrinth der Finanzsysteme und Ideen eindringen, aber die Charakterzüge des Mannes kann ich bemerken und sehen, was er, in dem für ihn und ganz Frankreich so critischen Zeitpunkt, von dem Vergangenen und Gegenwärtigen denkt, [...]. Was sollten auch die Hofleute von Versailles mit einem Minister machen, der das Volk liebte, überflüssigen Aufwand einschränkte, Ordnung und Wahrheit haben wollte. 66
Sie wird zu einer Anhängerin der englischen Verfassung, die sie mit der entstehenden französischen vergleicht: Gerne hätte ich hier auch einige Auszüge von der französischen Constitution gemacht, um sie der Englischen entgegen zu halten, ich that es für mich, seit mehr als vier Tagen bis heute Abend; aber ich habe nicht Muth genug, eine solche Unternehmung mit meiner Feder zu wagen. Vielleicht würden es kaum meine Freundinnen Julia von Mudersbach und Dorothea Schlötzer thun, welche doch jede Wissenschaft besitzen, die zu einem gründlichen Urtheil führen kann. 6 7
Mit wachem und scharfem Bewußtsein beobachtet sie nun die politischen und sozialen Verhältnisse auf ihrer Reise in der Schweiz und macht ihr Tagebuch zu einer kritischen Chronik der sozialen Verhältnisse in diesem Land. Sie analysiert die menschenverachtenden Prinzipien eines ungezügelten Wirtschaftssystems anläßlich eines Schiffunglücks auf dem Genfer See, bei dem mehrere Menschen den Tod finden, weil der Kapitän aus wirtschaftlichen Interessen sein Schiff überladen hatte und fragt an anderer Stelle angesichts ausbeuterischer Produktionsverhältnisse in Amerika: »Warum geschieht es, daß Verfeinerung des materiellen Schönen, und die Veredlung alles dessen, was die physische Welt, in Stein, Holz und Pflanzen giebt, zugleich Herabwürdigung der moralischen Welt erzeugt?«68 Zuletzt beschreibt sie die zunehmende soziale Verelendung der Schweizer Landbevölkerung am Beispiel der Ereignisse nach einer Rinderseuche: Zwei Kühe wurden in der Gegend von Nion getödtet, und Nachts kamen arme Savoyarden über den See, und holten sie aus der Grube. Vor zwei Jahren Wölfe aus Hunger, dieses Jahr Menschen aus einem von Natur fruchtbaren Land! es war mir traurig, und mußte mich über die Regierung dieses Landes unzufrieden machen. 6 9
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Erinnerungen. S.205. Erinnerungen. S.236. Erinnerungen. S.229. Erinnerungen. S.255f. Das zwei Jahre zurückliegende Ereignis schildert sie mit einfühlsamem Mitleiden für das Leiden der Tiere nach Augenzeugenberichten, wie »die Kühe, als anfangs zusammengetrieben, und die ersten Stücke getödtet wurden, sich sträubten und wimmerten, sobald aber der Stier todt war, willig stille stunden, und sich tödten Hessen. Man verscharrte sie in eine hundert zwei und dreißig Schuh tiefe Grube, dennoch kamen die Wölfe von dem Geruch angezogen sehr weit her.«
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Dennoch ist sie keine Anhängerin der Französischen Revolution, sondern übt scharfe Kritik an ihr. Mit diesem Thema schließt sich in La Roches Tagebuch der Kreis ihrer Betrachtungen über die Bedeutung des Todes. Die Ereignisse in Frankreich führen sie wieder an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zurück und können als Variation des Todesthemas auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene gelesen werden. Hatte sie bei ihrer Selbstanalyse das Todesmotiv in der Natur aufgesucht und diese als Totenreich durchmessen, so nähert sie sich ihrem letzten Gegenstand, der Menschengeschichte, noch einmal unter der Perspektive der Todesthematik an. Wenn sie zu einer entschiedenen Verurteilung der revolutionären Ereignisse kommt, so begründet sie dies durch das Verhältnis der Revolution zum Tod. Im hemmungslosen Morden der Revolutionäre erkennt La Roche die Verdrängung der Bedeutung des Todes aus dem menschlichen Bewußtsein, deren Konsequenz die Mißachtung des menschlichen Individuums ist. Die Forderung der égalité, die sich im beliebigen Töten realisiert, negiert den einzelnen als Individuum und führt zurück in ein vorzivilisatorisches Stadium. Am Beispiel der Französischen Revolution macht La Roche in ihrem Reisetagebuch sinnfällig, daß sich das Individuum nur über sein Verhältnis zum Tod selbst konstituieren kann. Wo die reflektierende Beziehung zum eigenen Tod und das Leiden über den Tod des anderen aus dem gesellschaftlichen Diskurs verdrängt wird, gibt sich der einzelne selbst auf, wird menschliche Gemeinschaft unmöglich. Zum ersten Mal wird La Roche auf ihrer Reise bereits in Straßburg mit der Revolution konfrontiert und zu einem Vergleich zwischen der Borniertheit ihrer eigenen Selbstkonzentration und der der revolutionären Zielperspektive angeregt. Im Tagebuch formuliert sie den Wunsch, daß der ermordete Dampiere, das lezte Opfer der mißverstandenen Freiheitsliebe seyn möge. Ich hätte noch viele Betrachtungen über den Parteigeist machen können, der mir, während meinem Auffenthalt in Strasburg, unter mancher Gestalt, und in manchem Ton vorkam; aber wie wenig sind jetzo alle andre Gegenstände für mich! Doch fühlte ich einige Augenblicke Trauer der Nächstenliebe, bei der Idee: daß so viele sonst gute vortrefliche Menschen, von dem unglücklichen Parteigeist ergriffen, gegen alles Wohl und Weh des Nächsten unempfindlich werden; gegen Despotismus sprechen, und nicht fühlen, daß sie ihn selbst ausüben: wenn sie fodern, daß in diesem Moment alle Welt denken solle, wie sie es gut finden. Arme Menschheit! du mußt also den ganzen Cirkel aller möglicher Irrungen und Fehler durchlaufen, ehe du die Zeit erreichst, wo Weisheit und edle Güte deinen Weg beleuchten werden. Und sieht man nicht, daß sie selbst bei jedem einzelnen Menschen wechseln, die Tage des Schicksals, und des Gebrauchs unserer Kräfte? Aber woher kommts, daß die Geschichte vergangener Reiche, die jetzige Regenten nicht belehrte, und daß die immer so genau bemerkte Fehler des Nächsten, uns nicht besser und klüger machen? 70
La Roche setzt hier Individualgeschichte und allgemeine Geschichte in einen Zusammenhang. Nur wo beide in einer harmonischen Beziehung zueinander stehen, die Entwicklung von Individualgeschichte nicht von der allgemeinen bedroht oder
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behindert wird, kann es zu einer sinnvollen Entwicklung der Gesellschaft kommen. So mündet La Roches individuelle Auseinandersetzung mit dem Tod zuletzt ein in eine vehemente Parteinahme für die Rechte des Individuums. Den Rückfall in die Barbarei eines vorindividuellen Zeitalters beschreibt La Roche an anderer Stelle eindringlich im Tagebuch: Heute machte ein Theil der Neuigkeiten, beinah alle Eindrücke des herrlichen Tages, zu Nichte; indem von den Grausamkeiten gesprochen wurde, welche die Negers in St. Dominique an den Weissen verübten, die von den Ohren der Lezteren Cocarden auf die Hüte machten. In Avignon wurde diese verabscheuungswürdige Barbarei noch weiter getrieben, indem man sich dort Cocarden von Menschenfleisch machte. O wie fürchterlich ist die Rache des Stolzes. Die Betrachtungen von der ganzen Theegesellschaft und auch bei dem Abendessen, waren von traurigem Inhalt, ich kam also des Nachts nicht so glücklich in mein Zimmer zurück, als ich Morgens heraus gieng; doch kann ich wieder sagen, blühte aus schwarzem Grund eine Blume empor, weil Zurückdenken an uns selbst immer nützlich und belehrend ist: denn die Frage, wie ist es möglich, daß Menschen so gefühllos werden? führte die Antwort: durch Leidenschaft, herbei. Ach was thun diese nicht, was wird nicht durch sie vergessen und niedergetreten! Mußte ich nicht am Ende sagen: die Trauer meiner Seele machte mich so lange für alle Wunder und Schönheiten der Natur unempfindlich, auf Andre wirken die Leidenschaften des Hassen und Zorns gegen ihren Nächsten, und verhindern, daß sie weder die Wahrheit, noch die Verdienste und Unschuld der Personen sehen, über diesie klagen. 71
So findet Sophie La Roche zuletzt in der Auseinandersetzung mit den revolutionären Ereignissen den Schlüssel zu ihrer Selbstheilung. 1.6 »La cérémonie des adieux«: »Schattenrisse abgeschiedener Stunden in Offenbach, Weimar und Schönebeck im Jahr 1799« La Roches letztes (Reise-)Tagebuch »Schattenrisse abgeschiedener Stunden in Offenbach, Weimar und Schönebeck im Jahre 1799«72 entsteht als explizite Selbstfiktionalisierung seiner Autorin, indem es mit allen aus der Gattungstradition überlieferten Strukturmodellen bricht und eine neue Form autobiographischer Selbstthematisierung liefert. Die Autorin verzichtet hier selbstbewußt auf alle Rechtfertigungs- und Plausibilisierungsmuster der Gattung: So gibt es weder eine unmittelbar angesprochene Adresse, an die das Tagebuch gerichtet ist, auch verzichtet die Autorin auf die Formulierung eines konkreten, potenziellen Nutzens des Textes für den Leser, noch dient das Tagebuch zur Selbstrechtfertigung oder Selbstexplikation seiner Schreiberin. Auch fehlt hier noch in stärkerem Maß wie in seinen Vorläufern eine formale Kennzeichnung als Tagebuch durch klar abgegrenzte Tageseinteilungen. Daß es dennoch als Tagebuch zu verstehen sei und nicht als Reisebericht, darauf weist die Autorin hin, wenn sie ihren Text als solches klassifiziert.73
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Erinnerungen. S.408f. Leipzig, bey Heinrich Gräff 1800. Im folgenden zitiert als Schattenrisse. »Indessen lernte ich [...] eine Menge vortrefflicher Werke kennen, welche mir ganz neu und ganz fremd waren, bemerkte aber auch in dieser Unterredung, wie schön berühmte
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Mit den »Schattenrissen« überschreitet die Gattung explizit die engen Grenzen der literarischen Gebrauchsform und wird zur selbständigen literarischen Form autobiographischer Selbsterfindung. Wie ihr »Fräulein von Sternheim« auf das Leseverbot durch einen Bücherraub,74 den die höfische Welt als letzten Versuch der Zerstörung bürgerlicher Identität durch den Entzug ihres Identitfikationsmediums unternimmt, mit dem Schreiben von Briefen reagiert, ja zuletzt sogar in Gefangenschaft in Erwartung ihres Todes nur durch das Schreiben eines Tagebuchs überleben kann,75 so erfährt und erschafft sich die Tagebuchschreiberin La Roche zuletzt im Text. Nur das Schreiben, der Text, gewährt die Erfahrung der Identität. Sie wird zu seinem Produkt und Ziel. Damit wird Individualität als Erfahrung von Identität zu einer Textfunktion und -fiktion, die nur hier entsteht und erfahrbar ist. Die Bindung von Selbsterfahrung an das Medium Schrift wird nirgendwo so deutlich wie in dem letzten Tagebuch der Sophie La Roche. Die »Schattenrisse« stehen unter dem Vorzeichen einer »cérémonie des adieux«.76 Sie sind nach dem Tod des Ehemanns, des Sohns und einer Tochter niemandem mehr verpflichtet als dem schreibenden Ich. In diesem letzten Tagebuch sucht Sophie La Roche noch einmal Stationen ihrer Biographie auf, besucht ein letztes Mal die noch lebenden Weggefährten: Wieland in Oßmannstedt, Herder und Goethe in Weimar, den Sohn mit seiner Familie in Schönebeck. Das Tagebuch folgt dem Ziel des Abschiednehmens. Damit wird es noch in stärkerem Maße als die Schweizer Tagebücher zu einem Prozeß des Erinnerns unter der Perspektive der Herstellung von lebensgeschichtlicher Kontinuität und zur Lebensbilanz durch den
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Namen wirken - indem ich weder in meinem Tagebuche, noch sonst irgendwo, jemals nöthig habe, mit den Worten Wieland, Herder, Göthe, Schiller, und anderen mehr, nur die mindeste Beschreibung oder Anzeige zu verbinden, da gleich alle Menschen wissen, wovon die Rede ist«. Schattenrisse. S.276. Vgl. Sophie von La Roche: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Hg. von Barbara Becker-Cantarino. Stuttgart 1990. Die Heldin des Romans berichtet dort in einem Brief an ihre Freundin: »Heute spielte meine Tante eine seltsame Szene mit mir. Sie kam, sobald ich angezogen war, in mein Zimmer, wo ich schon bei meinen Büchern saß. >Ich bin eifersüchtig auf deine BücherWas ist dies, Rosine?< Der Graf, sagte sie, wäre gekommen, und hätte alles wegnehmen lassen. Es wäre ein Spaß von der Gräfin, hätte er gesagt. Ein unartiger Spaß, der sie nichts nützen wird; denn ich will desto mehr schreiben«. S.79. Vgl. Geschichte des Fräuleins von Sternheim. S.303ff. Ohne Hoffnung auf eine Leserin führt die Heldin in Gefangenschaft ihr Tagebuch - »Niemand höret euch, niemand wird euch lesen; diese Blätter werden mit mir sterben und verwesen;« - ja sie beabsichtigt sogar, als ihr Papiervorrat zur Neige geht, ihren Lebenstext einem Stoff einzuweben und verweist damit auf die ursprüngliche Bedeutung von Text als »Gewebe«: »Mein Papier, ach Emilia, mein Papier geht zu Ende; ich darf nun nicht mehr viel schreiben; der Winter ist lange; ich will den Überrest auf Erzählung meiner noch dunklen Hoffnungen erhalten. O mein Kind! einige Bogen Papier waren mein Glück, und ich darf es nicht mehr genießen! Ich will Cannevas sparen und Buchstaben hinein nähen.« S.313f. Unter diesen Titel stellte Simone de Beauvoir 1981 ihre Lebenserinnerungen an Jean Paul Sartre.
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Versuch einer Integration der gesamten Lebensgeschichte in die aktuelle Selbstdefinition. Diesem Entwurf einer Lebenssynthese dient die Natur als Vorbild und Metapher. Nach einem zerstörerischen Winter, in dem das Mainhochwasser ihren Garten, das letzte Vermächtnis ihres Mannes,77 scheinbar vernichtet, erwacht die Natur im Mai wieder zu neuem Leben und verheißt der Schreiberin mit der geplanten Reise eine reiche »Lebensernte«: Frühling von 1799! wenn du auch der letzte meines Lebens bist, so verdienst du meinen Segen und meine Liebe, wie die gütige Natur meinen innigsten Dank, daß sie mir das ganze Gefühl für ihre Schönheit, und ihre Wohlthaten so stark und so rein erhielt - auch du! mein oft verworrnes und trauriges Schicksal! auch du bezeichnest diesen Lenz mit sprossenden edlen Freuden für meinen Geist und mein Herz - in jeder Stunde bemerke ich das Entfalten der Blätter und Blüthen der Bäume meines Gärtchens, und jede Minute nähert mich dem Tage, an welchem ich die schönste Reise antreten werde, um einen schätzbaren Sohn und seine Familie zu besuchen, und Wieland, den edelsten Freund meiner Jugend [...], ich werde also mitten durch den Frühling der Natur zu dem Anblick der schon vollkommnen Erndte in dem moralischen Gebieth eines schönen Theils unsers Deutschlands kommen. 7 8
Dieses vitalistische, der Biologie entlehnte Entwicklungsmodell erfährt die Schreiberin als letzten Ort des Wirkens unveränderlicher Gesetzmäßigkeiten innerhalb eines geschlossenen, unabhängigen und stabilen Systems, dessen Transkription der eigenen Lebensgeschichte Sinn und Kontinuität verleiht, die zugleich aber der sozialen Realität mangelt: Innig dankte ich Gott für die Unwandelbarkeit der Gesetze der Natur, horchte den Nachtigallen zu, und mein Auge ergötzte sich an der anmuthsvollen Gestalt und Bewegung der Blumen; auch wurde mir dieser Standpunkt in meinem kleinen Hause doppelt werth - war auch jeden der folgenden Tage in der nämlichen Stunde da, und erhob oft meine Blicke vom Buch und Schreiben nach meinem Gärtchen, wo Bäume und Gemüßebeete mir viel Gutes versprachen. 7 9
Gegen die unkontrollierbaren Wechselfälle des gesellschaftlichen Lebens wendet sich dieses Einschreiben des individuellen Lebens in die Natur und ihre Geschichte. Das Ende der Reise fällt daher nicht von ungefähr in den Herbst. Wie sich das Tagebuch als Lebenssynthese im Ablauf der Jahreszeiten rundet, sich der Naturkreislauf des Lebens schließt, so schließt die »cérémonie des adieux« als Reise in die eigene Lebensgeschichte mit der Akzeptanz des eigenen Lebensendes, der individuellen Ergebung unter das Naturgesetz:
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Mit dem zerstörten Garten assoziiert die Schreiberin im Tagebuch den Verlust ihrer Familienmitglieder durch den Tod: »>Also auch diese von la Roche gepflanzten Bäume, wie alles, was der beste Mann und Vater für seine Familie that - auch diese verlohren! hin, wie E r - Franz - und Maximiiiana!«-« Schattenrisse. S. lf. Schattenrisse. S. 6f. Schattenrisse. S . l l f .
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Heute früh bin ich von meinen geliebten Kindern und Enkeln abgereist, mit dem unausprechlich schmerzhaften Gedanken: >das Letztemal siehst du, umarmst du deinen Sohn Carl.< - Dieses rufte mir das Abschiednehmen von meinem Franz und meiner Maximiiiana zurück, und ich fühlte nochmals ihren Tod. - [ . . . ] Lange und mit Trauer waren meine Augen auf die Rauchsäulen gerichtet, welche von Schönebecks Salzöfen in die Höhe stiegen, ach sie waren noch viel für mich; aber bald bog sie ein Regenwind nieder, und entzog mir den letzten Anblick - [ . . . ] Die Kornfelder waren leer, wie die Stelle der Freuden in meiner Seele. - Die Erndte meiner süßesten Hoffnungen und Wünsche war nun auch vorüber, und ich gehe mit starken Schritten dem Winter des Lebens, wie dem der Natur entgegen. 80 Diese letzte Reise wird im Tagebuch zu einer Metapher der »letzten Reise«. Sie ist Vorbereitung und Vorwegnähme des eigenen Todes. Waren die Schweizer Tagebücher der Trauerarbeit im Abschiednehmen und Andenken an die Toten gewidmet, so verschiebt sich der Akzent im letzten Tagebuch auf das eigene Abschiednehmen: Aus der Auseinandersetzung mit dem Tod des anderen entsteht die mit dem eigenen. Formulierten die früheren Tagebücher das Erleben des Todes des anderen, so das letzte die Antizipation des eigenen Sterbens. Wenn sie auch auf dieser Reise ihrer Gewohnheit folgt, die Orte der Toten aufzusuchen, 81 so tut sie dies nicht mehr,
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Schattenrisse. S.248f. Auch in diesem Tagebuch nutzt sie jeden Besuch einer Grabstätte als Anlaß des Erinnerns an ihre Verstorbenen: »Gerne machte ich einen einsamen schnellen Spatziergang in der prächtigen Lindenallee von Wielands Garten nach der kleinen Aussicht auf die Ilm und das jenseitige Ufer. Wieland und seine ganze Familie wissen nicht, was diese Momente für mich waren, wo nur die Dryaden des Hayns mich sahen und hörten, während tausend Ideen und Gefühle mich umschwebten, und ich die Asche des Mannes segnete, welcher diese schönen Bäume und das kleine Birkenwäldchen pflanzte, worin ich eines Abends in Rückerinnerung eines traurigen Gelübdes mich beynah verirrte - indem ich glänzenden im hohen Aether hinschwimmenden Wölkchen zu lange nachsah und dachte: >Ob wohl ihr Wiederschein das Grab meines Franz beleuchtet, auf welchem mein Herz alle Wünsche und alle Hoffnungen niederlegte, und nie, nie keine von beyden wieder aufgehoben haben sollte.Könnte wohl ich, oder irgend eine fühlbare Seele, von diesen stillen Kammern der Todten hinweggehen, ohne die Furcht vor dem Sterben durch ruhige Ergebenheit vermindert zu fühlen, und mit diesem allgemeinen Trauerloos versöhnt zu werden, oder in meinem jetzigen Charakter als Reisender zu sprechen, zu dieser letzten Reise bereitwilliger zu seyn!Du< erlaubte und ihn nicht darüber in Zweifel ließ, daß er der wichtigste Mensch in ihrem Leben sei, ihm sogar ihr Lieblingskind überließ, sich aber niemals in ihren ethischen und moralischen Forderungen erweichen ließ. Sie wurde mehr und mehr das ausschließliche Objekt seiner Zuneigung, Bewunderung und auch seiner sexuellen Wünsche.« In: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. Bd. 2. Frankfurt 1985. S. 1212. Goethes Werke. Briefe. IV. Abtheilung. 8. Band. Weimar 1890. S. 10. Im folgenden zitiert als Briefe. Von Karlsbad nach Rom 3.9.-19.10.1786. Goethes Reisetagebuch für Frau von Stein. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. II. Abteilung. 3. Band. Italien - Im Schatten der Revolution. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt 1991. Im folgenden zitiert als Tagebuch 1786. S.272.
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Weimarer Existenz lossagen. Reiner Wild spricht in diesem Zusammenhang von einer Inszenierung als einem »sozialen Tod«.88 Dieses Fluchtverhalten Goethes dürfte allerdings die mit seiner Biographie Vertrauten nicht überrascht haben. Nicht nur während seiner Weimarer Amtszeit sucht er sich durch kleine Fluchten in den Harz aus drückenden und stagnierenden Verhältnissen zu befreien. Von seiner Harzreise aus dem Jahre 1777, die als gefahrlose Versuchsanordnung für die spätere Italienreise gedient haben mag, - er reist inkognito, um sich »vom Schicksaale leiten zu lassen«,89 - schreibt er an Charlotte von Stein: Mir ists eine sonderbaare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir als wenn ich mein Verhältniss zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte. Ich heise Weber, bin ein Mahler habe iura studirt, oder ein Reisender überhaupt, betrage mich sehr höflich gegen iedermann, und bin überall wohl aufgenommen. 90
Bereits seine erste Schweizer Reise zeigte durch ihren überstürzten Aufbruch aus Frankfurt ebenso ihren Fluchtcharakter wie sein erster halbherzig unternommener Aufbruch nach Italien nach dem endgültigen Scheitern der Beziehung zu Lili Schönemann, der in der Umsiedlung nach Weimar endet. Horst Rüdiger hat auf diese Parallele zwischen der gescheiterten ersten Flucht nach Italien und dem zweiten Aufbruch hingewiesen: Das Motiv der Flucht, das die beiden so exponierten Stellen der Autobiographie über die Lücke der elf Weimarer Jahre hinweg miteinander verknüpft, bedeutet mehr als gefällige literarische Stilisierung. [...] Für Goethe verbindet sich damit die Idee der Erhaltung, der Erneuerung des Lebens. Beharrendes Verweilen wäre der Tod gewesen; Flucht ist die Vorbedingung der Wiedergeburt. 91
Mit dem ersten Reisetag beginnt Goethe ein Tagebuch für Charlotte von Stein, die er mit diesem Text aus der Zäsur innerhalb seiner Biographie ausnehmen möchte. Sein Tagebuch folgt damit zwei diametral entgegengesetzten Intentionen: dem Versuch eines radikalen Identitätswechsels und der partiellen Kontinuitätswahrung und -Sicherung. Zwischen diesen Extremen zu vermitteln, wird Aufgabe seines Schreibens. Das Reisetagebuch für Charlotte von Stein steht allerdings nicht isoliert innerhalb der Kommunikation zwischen den beiden Partnern. Seit seiner ersten Bekanntschaft mit Charlotte von Stein hatte Goethe nicht nur einen ausgedehnten, fast täglichen Briefwechsel mit ihr begonnen, sondern es sich auch zur Gewohnheit
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Reiner Wild: Italienische Reise. In: Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte, Theo Buck u.a. Bd.3. Stuttgart, Weimar 1997. S.333. Briefe IV, 8. S.191f. Briefe IV, 8. S.192. Horst Rüdiger: Zum Verständnis von Goethes Tagebuch der Italienischen Reise, der Römischen Elegien und der Venetianischen Epigramme. In: Ders.: Goethe und Europa. Essays und Aufsätze 1944-1983. Hg. von Willy R. Berger und Erwin Koppen. Berlin, New York 1990. S.45.
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gemacht, während seiner häufigen Abwesenheit von Weimar durch Brieftagebücher mit der Geliebten zu kommunizieren. Von seinen, oft nur kurzen Reisen in die unmittelbare Umgebung wie nach Jena, Ilmenau, Gotha, nach Thüringen, Sachsen, in den Harz und seiner zweiten Schweizreise oder aus Karlsbad korrespondiert er täglich mit seiner Briefpartnerin. 1779 schreibt Goethe aus Rheinzabern: »Ich hatte mir vorgenommen ein klein Diarium zu schreiben, es ging aber nicht weil es mir keinen nahen Zweck hatte, künftig will ich Ihnen täglich, einfach aufschreiben was uns geschieht.«92 Diese Briefe, die sich nicht selten zu einem geschlossenen diarischen Text ausdehnen, können als Vorläufer des »Italienischen Tagebuchs« gelesen werden. An Intensität und verhaltener Intimität gewinnen die Briefe Goethes an Charlotte immer dann, wenn, bedingt durch eine räumliche Trennung, zu der halböffentlichen schriftlichen nicht die exklusive mündliche Kommunikation treten kann. In ihnen entstehen die literarischen Muster der Vergegenwärtigung und des Andenkens, die das Italientagebuch weiterentwickelt. So klagt er in einem Brief vom 2. Januar 1779 bereits wie später im italienischen Tagebuch über die Grenzen einer synästhetischen Repräsentation des erfüllten Erlebnisraumes im Medium der Schrift: »Einige Anblicke waren ganz unendlich schön, ich wünschte sie Ihnen vors Fenster.«93 In dem berühmten Wartburg-Brief verdichtet sich idealtypisch bereits die verschriftete Naturerfahrung zu jener literarischen Selbstinszenierung, die dem Reisetagebuch aus Italien eigen ist: Hieroben! Wenn ich Ihnen nur diesen Blick der mich nur kostet aufzustehn vom Stuhl hiniiberseegnen könnte. In dem grausen linden Dämmer des Monds die tiefen Gründe, Wiesgen, Büsche, Wälder und Waldblösen, die Felsen Abhänge davor, und hinten die Wände, und wie der Schatten des Schlossbergs und Schlosses unten alles finster hält und drüben an den sachten Wänden sich noch anfasst wie die nackten Felsspizzen im Monde röthen und die lieblichen Auen und Thäler ferner hinunter, und das weite Thüringen hinterwärts im dämmer sich dem Himmel mischt. Liebste ich hab eine rechte fröhlichkeit dran, ob ich gleich sagen mag dass der belebende Genuss mir heute mangelt, wie der lang gebundne reck ich erst meine Glieder. Aber mit dem ächten Gefühl von Danck, wie der Durstige ein Glas Wasser nimmt, und die Heiligkeit des Brunnens, und die Liebheit der Welt, nur nebenweg schaut. 94
Die Entstehungsgeschichte seines Reisetagebuchs hat Goethe selbst dokumentiert. Am Ende seines Venedig-Aufenthalts schickt er die ersten vier Bücher des Tagebuchs zusammen mit einem erläuternden Brief an Charlotte von Stein. Am 13. Oktober 1786 ist er bereits eineinhalb Monate unterwegs, der größte Teil des Tagebuchs ist bis zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt: Mir sey jetzt genug dir mit Freuden alles zu schicken was ich auf dem Wege aufgerafft habe, damit du es selbst beurtheilest und mir zum Nutzen und Vergnügen aufbewahrest. Die er-
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Briefe IV, 4. S.63. Briefe IV, 4. S.l. Briefe IV, 4. S.175f.
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ste Epoche meiner Reise ist vorbey, der Himmel segne die übrigen und vor allen die letzte die mich wieder zu dir führen wird. 95
Einige Tage vorher beginnt er, das Tagebuch noch einmal durchzusehen, ohne es allerdings einer Überarbeitung zu unterziehen. Da er an der Vermittlung eines möglichst authentischen persönlichen Berichts an die Adressatin interessiert ist, der die Unmittelbarkeit zwischen Erleben und Aufzeichnen wahrt, verschiebt er eine weitere Redaktion des Textes auf seine Rückkehr. Im Tagebuch vermerkt er unter dem 10. Oktober: Heut hab ich angefangen mein Tagebuch durchzugehn und es zur Abreise zuzurichten. Die Ackten sollen nun inrotulirt und dir zum Urtheilsspruche zugeschickt werden. Schon jetzt find ich manches in den geschriebnen Blättern das ich näher bestimmen, das ich erweitern und verbeßern könnte. Es mag stehen als Denckmal des ersten Eindrucks, der, wenn auch nicht immer wahr, uns doch köstlich und werth ist. 96
Er reflektiert anläßlich dieses Termins mehrfach über den Charakter des Tagebuchs. Dabei versucht er, gegenüber der Adressatin auf die Unmittelbarkeit und Spontaneität seiner Aufzeichnungen hinzuweisen, die ihr die Exklusivität des Textes deutlich machen und unmittelbare Nähe innerhalb der schriftlichen Kommunikation über die zeitliche und räumliche Distanz hinweg suggerieren sollen. Als Leseanweisung an die Adressatin formuliert er: »In meinem Tagebuche findest du die ersten augenblicklichen Eindrücke, wie schön wird es seyn, wenn ich dir die Verbindung und Erweiterung der Begriffe dereinst mündlich mittheilen und dich in guten Stunden unterhalten kann.«97 Einen Tag später schließt er die erste Sendung endgültig mit dem Kommentar ab: Nun meine liebste muß ich schließen. Morgen geh ich ab, und dieses Packet auch. [...] So viel ich geschrieben habe: so bleibt doch viel mehr im Sinne zurück, doch ist das meiste angedeutet. [..] Lebe wohl. Ich schließe ungern. Wenn alles recht geht; so erhälst du dieses vor Ende Oktobers und das Tagebuch der zweyten Epoche sollst du E n d e Novembers haben. So werd ich dir wieder nah und bleibe bey dir. Lebe wohl. Grüse die deinigen. Ich bin fern und nah der Eurige. 9 8
In dem beiliegenden Brief an Charlotte von Stein spricht Goethe noch einmal seine persönliche Widmung des Textes für die eine und erste Leserin aus: Mein Tagebuch ist zum erstenmal geschloßen, du erhälst ehstens die genaue Geschichte jedes Tags seitdem ich dich verließ, alles was ich gethan gedacht und empfunden habe. [...] Anfangs gedacht ich mein Tagebuch allgemein zu schreiben, dann es an dich zu richten und das Sie zu brauchen damit es kommunikabel wäre, es ging aber nicht es ist allein für dich. 99
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Tagebuch Tagebuch Tagebuch Tagebuch Tagebuch
1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S. 120. S. 115. S.119. S. 120. S. 121f.
199
Mit der Ankunft in Rom sendet Goethe etwas verspätet am 12. Dezember den zweiten Teil des Tagebuchs nach Weimar. Dabei handelt es sich um das fünfte Buch seiner Reise von Venedig nach Rom. Dieser zweite Teil ist von erheblich geringerem Umfang, das Tempo der Reise nach Rom erhöht sich, die einzelnen Stationen der Reise, Ferrara, Cento, Bologna, Florenz, Perugia u. a. werden nur noch kurz gestreift. Mit der Ankunft in Rom endet das Tagebuch. Goethe beginnt seinen vorletzten Eintrag ins Tagebuch mit der Ankündigung der letzten Sendung: In Hoffnung daß endlich das Venetianische Packet angekommen seyn wird, schick ich auch dieses Stück fort und wünsche daß es dir zur guten Stunde kommen und mich in deine Nähe bringen möge. Seit ich in Rom bin hab ich nichts aufgeschrieben als was ich dir von Zeit zu Zeit geschickt habe. 100
Bereits in seinem ersten Brief an Charlotte von Stein legt Goethe aber nahe, daß er mit dem Tagebuch eine weitergehende Intention verband, die über den exklusiven Kommunikationszusammenhang der Partner hinausweist. Unverhohlen weiht er die Geliebte in seine weiteren Pläne ein und versucht sie sogar zu einer Mitarbeit am Tagebuch für eine spätere Publikation zu bewegen: Nun will ich dir einen Vorschlag thun. Wenn du es nach und nach abschriebst, in Quart, aber gebrochne Blätter, verwandeltest das Du in Sie und liesest was dich allein angeht, oder du sonst denckst weg; so fand ich wenn ich wiederkomme gleich ein Exemplar in das ich hinein korrigieren und das Ganze in Ordnung bringen könnte. 101
Zu dieser Zusammenarbeit kam es nicht mehr. Am 31.8.1788 forderte Goethe von Charlotte von Stein das Tagebuch und seine Korrespondenz aus Italien zurück, nachdem ihre Beziehung nicht mehr bestand. Erst Jahre nach der zweiten RomReise erscheint 1816 der erste Teil der »Italienischen Reise«, der die erste RomReise zum Gegenstand hat und den alten Plan, der Überarbeitung des Tagebuchund Briefmaterials umsetzt. Diese späte Bearbeitung scheint noch einmal auf die ursprüngliche Konzeption zu rekurrieren. Trotz der großen zeitlichen Distanz behält Goethe in der »Italienischen Reise« die diarische Struktur des Textes bei und ordnet den Text seinen übrigen autobiographischen Schriften unter dem Titel »Aus meinem Leben« zu. Herbert von Einem nennt sie daher zu Recht eine »Selbstdarstellung, ein Stück seiner Autobiographie« 102 und führt diese Charakteristik näher aus: »Im großen und ganzen dürfen wir sagen, daß der erste Teil dem Reisejournale sehr getreu folgt und die beschwingte Stimmung jener ersten Wochen und Monate rein wiedergibt.«103 Das »Tagebuch der italienischen Reise« wird dagegen zum ersten Mal nach der Originalhandschrift von 1788 von Erich Schmidt im 2. Band der »Schriften der Goethe-Gesellschaft« 1886 publiziert.
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Tagebuch 1786. S. 184f. Tagebuch 1786. S. 122. Herbert von Einem: Goethe-Studien. München 1971. S.66. von Einem. S.68.
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2.1 Textvereinigung: Der Liebesdiskurs im Tagebuchdialog Goethes »Tagebuch der Italienischen Reise« repräsentiert ein weiteres bedeutendes Modell des Tagebuchdialogs, das Gespräch des Liebenden. Mit diesem Typus des diarischen Liebesdiskurses findet die Geschichte des dialogischen Tagebuchs ihren Abschluß und Höhepunkt. Goethes Tagebuch für Charlotte von Stein zielt auf eine imaginäre Vereinigung im Text, die die Realität dem Schreiber versagt. Die Textvereinigung im Schreiben wird zum Ersatz für die Vereinigung der Körper, der Tagebuchtext simuliert gemeinsames sinnliches Erleben. In der unausgesetzten Schreibanstrengung soll die symbolische Berührung der Körper aufrechterhalten, die fragile Textverbindung zwischen den getrennten Körpern in keinem Moment durchtrennt werden. Auf die Funktion des Textes als »Körper-Ersatz« hat Christiaan L. Hart Nibbrig hingewiesen. Am Beispiel von Rousseaus Briefroman »La Nouvelle Héloise« hat er formuliert, was gleichermaßen auf Goethes Brieftagebuch der Italienischen Reise zutrifft: Dieses sinnliche Feuer wird durch die schmerzliche Abwesenheit des andern Körpers geschürt und schließlich imaginär auf dem Papier gelöscht. Diese Liebe darf nur in den Briefen brennen [...]. Lektüre prüft ihre Brennbarkeit: Körperlichkeit zweiten Grades, die sich im Feuer der Sinnlichkeit verzehrt und in Phantasie-Wärme umsetzt. Feuer als Sublimation. 104
In Venedig lernt Goethe den Gesang der Fischer kennen, »die den Tasso und den Ariost auf ihre Melodie singen«.105 In diesem Gesang findet Goethe das unerreichbare Ideal seiner Tagebuchführung für Charlotte von Stein realisiert: Sie haben die Gewohnheit, wenn ihre Männer aufs Fischen im Meer sind, sich ans Ufer zu setzen und mit durchdringender Stimme Abends diese Gesänge zu singen, biß sie auch von Ferne die Stimme der Ihrigen wieder hören und sich so mit ihnen unterhalten. Findst du das nicht schön? sehr schön! Es läßt sich leicht dencken daß ein naher Zuhörer wenig Freude an diesen Stimmen haben mögte, die mit den Wellen des Meers kämpfen. Aber wie menschlich und wahr wird der Begriff dieses Gesangs. Wie lebendig wird mir nun diese Melodie, über deren Todten Buchstaben wir uns sooft den Kopf zerbrochen haben. Gesang eines Einsamen in die Ferne und Weite, daß ihn ein andrer gleichgestimmter höre, und ihm antworte. Warum kann ich dir nicht auch einen Ton hinüber schicken, den du in der Stunde vernähmest und mir antwortetest. 106
Damit formuliert Goethe das Ziel seiner Tagebuchführung: Es geht um die magische Beschwörung von Nähe, die Herstellung von Präsenz, die Überwindung von zeitlicher und räumlicher Distanz. Der Gesang der Fischer, der Goethe an das Bedrohliche der Trennung zwischen den Partnern mahnt, hat daher »etwas unglaub-
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Christiaan L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. Frankfurt 1985. S. 120. Tagebuch 1786. S. 108. Tagebuch 1786. S.109f.
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lieh, biß zu Thränen rührendes«. 107 Die Unmittelbarkeit der oralen Kommunikation zwischen den Sängern kann aber der abstrakte Tagebuchtext nie erreichen und nur unzureichend nachahmen. In der Abstraktion des Schreibens unterliegen alle Formen der sinnlichen Wahrnehmung einem Realitätsverlust. Der Text bleibt unzureichendes Surrogat seines Urbilds authentischer Wahrnehmung und Kommunikation. Dennoch stellt sich das Tagebuch immer wieder die Aufgabe, Hören und Sehen über den Text zu vermitteln. Es wird zum geliehenen Auge des Schreibers, indem es den sinnlichen Nachvollzug seines Sehens ermöglichen soll. Bereits zu Beginn des Tagebuchs ist von der Augenübertragung, der Vermittlung des Sehens die Rede, wenn Goethe der Adressatin den Sinn seiner Tagebuchführung erläutert. Am dritten Tag seiner Reise formuliert er: »Ich bin wohl, freyen Gemüths und aus diesen Blättern wirst du sehn wie ich der Welt genieße.«108 Der Genuß des Schreibers soll durch den Text auch zu dem der Adressatin werden. Er soll die Ausgeschlossene am Erleben des Schreibers partizipieren lassen: »Wir werden nun gerne etwas von diesen Gegenden lesen, weil ich sie gesehn, manches über sie gedacht habe und du sie durch mich genießen sollst.«109 Der Text versucht durch den Blick des Schreibenden derjenigen, deren Blick den Gegenständen fern ist, die Welt »vor die Augen« zu stellen, die Distanz zum sinnlichen Erlebnis zu überbrücken: »Der Mond ging auf und beleuchtete ungeheure Gegenstände. Einige Mühlen über dem reißenden Strom waren völlige Everdingen. Wenn ich dir sie nur vor die Augen hätte stellen können.« 110 Das Defizit des Textes, authentisches Erleben nur unzureichend simulieren zu können, soll durch bildliche Darstellungen bzw. deren Zitat kompensiert werden: Everdings Landschaftsmalerei und Goethes eigene Zeichnungen dienen der Illustration des Textes: Wie sehnlich wünsch' ich dich einen Augenblick neben mich, damit du dich mit mir der Aussicht freuen könntest die vor mir liegt. [...] Aus dem Zimmer wo ich sitze geht eine Thüre in den Hof hinunter, ich habe meinen Tisch davor geruckt und dir die Aussicht mit einigen Linien gezeichnet. 111
Damit versucht das Tagebuch, den sinnlichen Nachvollzug des Unbekannten möglich zu machen. Stellvertretend für die Geliebte nimmt der Schreiber seine Umwelt wahr, er sieht für sie mit seinen Augen, und gleichzeitig nähert er sich mit ihrem Blick seinem Gegenstand. D. h. auf der Reise und besonders im Tagebuchtext ist der andere immer präsent, seine Perspektive auf die Welt implizit. In Venedig angekommen, notiert Goethe: »Und da ich mir blos zu reisen scheine um dir zu erzählen; so setz ich mich nun hin, da es Nacht ist, dir mancherley vorzusagen.«112 Daß der andere als Teil des eigenen Ich immer imaginär anwesend ist, davon soll das Schreiben
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Tagebuch Tagebuch 109 Tagebuch 110 Tagebuch 111 Tagebuch 112 Tagebuch 108
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1786. 1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S.109. S.21. S 20. S.28. S.34. S.82.
des Tagebuchs Zeugnis ablegen. Goethe weist an verschiedenen Stellen ausdrücklich darauf hin: Wie gewöhnlich meine Liebe wenn das Ave Maria della Sera gebetet wird wend ich meine Gedankeken zu dir; ob ich mich gleich nicht so ausdrücken darf, denn sie sind den ganzen Tag bey dir. Ach daß wir doch recht wüßten was wir an einander haben wenn wir beysammen sind. 113
Noch einmal formuliert Goethe in Vizenza die ständige Anwesenheit der Geliebten auf seiner Reise über den Prozeß des Tagebuchschreibens hinaus: »Und dann freu ich mich dir zu schreiben, wie ich mich freue vor den Gegenständen mir dir zu sprechen und meiner Geliebten alles in die Ferne zuzuschicken was ich ihr einmal in der Nähe zu erzählen hoffe.«114 Je größer die räumliche und zeitliche Entfernung zwischen den Geliebten wird, um so mehr wächst das Bedürfnis nach einer magischen Vergegenwärtigung des anderen im Text. Spätestens mit der Ankunft in Venedig, dem ersten Höhepunkt seiner Reise, beginnt und schließt Goethe fast jede Tageseintragung mit einer persönlichen Adresse an die Geliebte. Dem entspricht sein nun streng geregelter, wenig südländischer Tagesablauf. So beginnt jeder Tag mit Gedanken an die Geliebte und ihrer meditativen Vergegenwärtigung, um ebenso zu schließen. Goethe betont immer wieder, daß er, bewußt gegen die Lebensweise des Südens verstoßend, den Abend seinem Tagebuch, d. h. seiner fiktiven Gemeinschaft mit der Geliebten vorbehält. Diese Regel seines Tagesablaufs der schreibenden Vergegenwärtigung unterstreicht er gegenüber der Adressatin: »Ich bin recht gut gewöhnt, wenn es Nacht schlägt gehe ich nach Hause. Der lärmige Platz wird mir einsam und ich suche dich.«115 Im Schreiben wird die Partnerin sichtbar, findet der Schreiber eine andere Gemeinschaft mit ihr, verleiht ihr über die Entfernung hinweg Anwesenheit. Ein anderes Mal weist er gegenüber der Geliebten unmißverständlich auf seinen bewußten Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben zugunsten der magischen Beschwörung ihrer imaginären Gemeinschaft hin: »Wenn des Venetianers Leben angeht, zieh ich mich nach Hause zurück um dir etwas zu sagen. Sogar die Hausmagd warf mirs gestern vor; daß ich kein Liebhaber vom Abend spazieren sey.«116 Diese morgendlichen und abendlichen Beschwörungen der Gemeinsamkeit im Schreiben haben zwei Funktionen. Gegenüber der Adressatin funktionieren sie als Selbstrechtfertigungen ihres Schreibers, als Versuch der Herstellung von Transparenz und als Bekenntnis zu einem konsequent auf den fernen anderen ausgerichteten Lebens. Zugleich funktionieren sie aber auch als Verpflichtung der Geliebten. Goethes morgendliche Grüße an die ferne Geliebte sollen sie ebenso auf ihn beziehen, an den Fernen binden, wie er es ihr demonstrativ im Tagebuch vorlebt: »Mein Pensum an der Iphigenie] absolvirt und ich ziehe mich nun an und gehe aus. Vorher be-
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Tagebuch Tagebuch 1,5 Tagebuch 116 Tagebuch
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1786. 1786. 1786. 1786.
S.80. S.72f. S.98. S.87.
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grüß ich dich und wünsche dir einen guten Morgen.«117 Wenn der Reisende seinen gesamten Tagesablauf auf die Vergegenwärtigung der Abwesenden konzentriert, so soll es die Adressatin ihm gleichtun: »Nach einem glücklich und wohl zugebrachten Tage, ist mir's immer eine unaussprechlich süße Empfindung wenn ich mich hinsetze dir zu schreiben.«118 Für den Reisenden selbst bedeutet das Schreiben einen rettenden Ruhepunkt der Konzentration und Selbstvergewisserung, des zu sich selbst Kommens, aber auch der Klage: »Lebe wohl für heute. Mir ist der Kopf wüste, von meinem heutigen einsamen thätig, unthätigen Tage«.119 Nicht immer gelingt es, im Schreiben diesen Selbstausgleich herzustellen: »Gute Nacht mfeine] L[iebe] ich habe auch heute Abend keine rechte Sammlung«,120 notiert Goethe in Cento, der kritischsten Phase seiner Reise nach dem Verlassen Venedigs. Zwischen den Höhepunkten seiner Reise, Venedig und Rom, fällt der Reisende in eine Krise, das Tagebuch wird zu ihrem Dokument: Ich möchte dir nun auch gerne wieder einmal ein ruhig, vernünftiges Wort schreiben denn diese Tage her wollt es nicht mit mir. Ich weiß nicht wie es diesen Abend seyn wird. Mir läuft die Welt unter den Füßen fort und eine unsägliche Leidenschaft treibt mich weiter. [...] Ich sage dir alles wie mir ist und ich schäme mich vor dir keiner Schwachheit. 121
In dieser Krisensituation wird die Trennung von der Geliebten zum ersten Mal schmerzlich erfahren, ihre Gegenwart herbeigesehnt: »Gute Nacht. Es ist kalt und ich bin müde. Gute Nacht! Wann werd ich dir dieß Wort wieder mündlich zurufen!«122 Sein Leiden an der Trennung erfährt der Schreiber in der Situation, als ihm das Ziel seiner Reise zu entgleiten scheint. Hier ist er nicht mehr in der Lage, als selbstbewußtes Subjekt eine eigene Welt schreibend zu entwerfen, um die Geliebte an ihr teilhaben zu lassen. Das Tagebuch wird dagegen für einen kurzen Zeitraum zur Klage über die Trennung: »Nun Gute Nacht. Es geht nicht weiter. Ich bin dir herzlich zugethan und sehne mich recht zu dir; schon fängt mich der Schnee an zu ängstigen der sich bald mit Macht zwischen uns legen wird.«123 Der Schnee behindert nicht nur ganz konkret den Postverkehr zwischen den Partnern, sondern er wird darüber hinaus zur Metapher für die Bedrohung der Beziehung, mit der sowohl die Befürchtung des möglichen Aufkommens von tiefgreifender Kälte als auch die leere Stille, das Verlöschen der Kommunikation im Schweigen und d. h. in letzter Konsequenz das Ende der Beziehung imaginiert wird. Zum ersten Mal quälen den Schreiber Verlustängste, einen Tag später muß er sein Unvermögen, das vorübergehende Scheitern seines Tagebuchprojekts der Vergegenwärtigung gestehen: »Ich hatte heute Abend ein unaussprechliches Verlangen dir zu schreiben und kann es 117
Tagebuch Ebenda. 119 Tagebuch 120 Tagebuch 121 Tagebuch 122 Tagebuch 123 Tagebuch
1786. S.83.
118
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1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S.120. S.129. S.131. S.139. S.143.
nicht befriedigen. [...] In Perugia hab ich nichts gesehn, aus Zufall und Schuld«,124 begründet er lapidar seine Schreibhemmung. Im Tagebuch wird die Geliebte nicht nur zur fiktiven Begleiterin des Tages, die den Horizont des Erlebens absteckt, sondern vielmehr zum Zielpunkt und zur Sinngebung im Erleben des Schreibers. Die stumme Begleiterin erhebt der Text zum »Schutzgeist«, zum behütenden, glückspendenden anderen Ich, dessen Anwesenheit maßgeblichen Anteil am Gelingen des Tagesverlaufes hat. Goethes abendliche Tagebucheintragungen werden damit zu einem profanen Gebet, einer Beschwörung der heilenden, schützenden Energien der Geliebten, deren sich der Schreiber zu vergewissern sucht.125 Nicht von ungefähr stellt er das an Maria gerichtete Abendgebet seinen Tagebucheintragungen für Charlotte gleich. Von Goethes Verehrung der Mutterfigur Maria soll an anderer Stelle die Rede sein.126 Unmittelbar vor der Ankunft in Rom kommt das Tagebuch für Charlotte an seinen Höhepunkt, bevor es dann abbricht: »Wieder in einer Hole sitzend, die vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten, wend ich mein Gebet zu dir mein lieber Schutzgeist.«127 Das Arrangement dieses Bilds von der schützenden, dem Uterus ähnlichen Höhle ist für die Empfängerin nicht neu. Bereits Jahre vorher hatte sich Goethe seiner bei seinen einsamen Streifzügen durch die Thüringische Landschaft bedient. 128 Das Gebet schließt mit einem eindeutigen Bekenntnis, in dem der Schreiber seine Ansprüche auf die Geliebte unmißverständlich zum Ausdruck bringt: Wie verwöhnt ich bin fühl ich erst jetzt. Zehn Jahre mit dir zu leben von dir geliebt zu seyn und nun in einer fremden Welt. Ich sagte mir's voraus und nur die höchste Notwendigkeit konnte mich zwingen den Entschluß zu faßen. Laß uns keinen andern Gedancken haben als unser Leben miteinander zu endigen. 129
Mehr konnte nicht gesagt werden. Mit dieser Bilanz und der darauffolgenden Zukunftsprojektion schließt das Tagebuch. Dagegen spricht die Realität eine andere Sprache. Bereits während seiner Reise, spätestens aber mit Goethes Ankunft in Rom beginnt Charlotte von Stein, sich aus der Beziehung zu lösen. In diesem Sinne verfehlt das Tagebuch sein Ziel. Der Text
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Ebenda. Eissler hat die therapeutische Funktion Charlotte von Steins für Goethe in seiner psychoanalytischen Studie herausgearbeitet: »Bei der Analyse werden alle Schranken der Kommunikation niedergerissen, und der Strom der Mitteilungen muß sich auf die Totalität des Lebens erstrecken. Goethe wollte in seiner Kommunikation mit Charlotte von Stein diese Totalität erfassen. [...] Alles in ihrer Beziehung diente in erster Linie - wenn nicht ausschließlich - dem Zweck des Ich, und dies in anderem Sinne als dem, was gewöhnlich bei Liebesbeziehungen gilt. [...] In Goethes Liebe zu Charlotte von Stein gab es aber - wenn es überhaupt wirkliche Liebe war - ein zusätzliches Element von Selbstsucht, nämlich das Ziel der Genesung von einer Krankheit.« Goethe. Eine psychoanalytische Studie. Bd. 2. Frankfurt 1985. S. 1221f. Vgl. S. 242ff. Tagebuch 1786. S. 146. Vgl. S. 307f. Tagebuch 1786. S.146.
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als Medium der Überwindung von Trennung und der gegenseitigen Verpflichtung aufeinander versagt. Dem oralen Dialog der Fischer steht der Monolog des Tagebuchschreibers gegenüber. Die magische Vergegenwärtigung gelingt nur einseitig im produktiven Akt des Schreibens. Im Schreiben des Textes vollzieht der Autor die Vereinigung mit der Geliebten, die ihm die Realität versagt. Der Text wird zur (symbolischen) Erfüllung des Begehrens seines Schreibers. Dieser Ausweg bleibt der passiven Leserin verschlossen. Der Prozeß der schreibenden Textvereinigung ist nicht umkehrbar, lesend nicht reproduzierbar. Daran hat nicht nur die unzureichende Entwicklung des Kommunikationsmediums Post schuld. Charlotte von Stein erhält den ersten Teil des Tagebuchs erst, als Goethe bereits in Rom angekommen ist, und reagiert in Unkenntnis der zeitlichen Verzögerung auf das Schweigen des Partners mit Ablehnung. Im Nachhinein werden Goethe die fatalen Konsequenzen seines vermeintlich langen Schweigens bewußt: »Seit dem Todte meiner Schwester hat mich nichts so betrübt, als die Schmerzen die ich dir durch mein Scheiden und Schweigen verursacht«, schreibt er an Charlotte, »warum schickt ich dir nicht das Tagebuch von jeder Station!«130 In Goethes Briefen an die Geliebte dokumentiert er ihre zunehmende Entfremdung: Soweit war ich am 9. Dez. als ich einen Brief von Seideln erhalte und ein Zettelgen drinne von deiner Hand. Das war also alles was du einem Freunde, einem Geliebten zu sagen hattest, der sich so lange nach einem guten Worte von dir sehnt. Der keinen Tag, ja keine Stunde gelebt hat, seit er dich verließ ohne an dich zu dencken. Möge doch bald mein Packet das ich von Venedig abschickte ankommen, und dir ein Zeugniß geben wie sehr ich dich liebe. [...] Ich sage dir nicht wie dein Blätgen mein Herz zerrißen hat. Lebe wohl, du einziges Wesen und verhärte dein Herz nicht gegen mich. 131
Einige Tage später bestätigt er noch einmal das Anhalten seiner Verstörung durch die Reaktion der Geliebten: »Seitdem ich in Rom bin hab ich unermüdet alles sehenswürdige gesehen und meinen Geist recht damit überfüllt, in der Zeit da sich manches zu setzen und aufzuklären schien, kam dein Zettelgen und brach mir alles ab.«132 Der Tagebuchdialog, dies belegt Goethes Schreibprojekt, bleibt gegenüber dem mündlichen Dialog ein defizitäres Medium der Verständigung zwischen zwei Partnern. Seine Schwäche liegt in seiner monologischen Struktur, der Ungleichzeitigkeit zwischen Produktion und Rezeption wie seiner Abstraktheit. Christiaan L. Hart Nibbrig kennzeichnet zutreffend die Problematik des Textes als »Körper-Ersatz«: Schrift ersetzt das Bild des Körpers, als Zeichen verweigerter Spiegelung, ohne zu bezeichnen. Wo das Auge, ein Körper-Bild erwartend, umspringen muß auf den Text, wird ihm die bildliche Erfüllung seiner Erwartung verweigert und zugleich negativ zurückgespiegelt, daß das, was es erwartet, der Körper, abstrakt geworden ist und daß es im Grund schon von ihm abgesehen hat. 133
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Briefe IV, 8. S.139. Briefe IV, 8. S.79. Briefe IV, 8. S.93. Christiaan L. Hart Nibbrig. S. 197.
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2.2 Kindheitsutopie: Rehabilitation der Sinne oder die Kunst des Sehens Gleich zu Beginn des Tagebuchs verweist Goethe auf die entscheidende Differenz zwischen seinem Reisetagebuch und anderen Reisetagebüchern. Bewußt grenzt er sich von allen anderen Italienreisenden und ihren Reisebeschreibungen ab und wendet sich gegen die Objektivität der Beschreibung anstrebenden, auf Vollständigkeit bedachten Reisebeschreibungen eines dem Subjekt äußerlich bleibenden Bildungsbegriffs. Mit seinem Tagebuch an die Geliebte strebt er dagegen keine auf Vollständigkeit und Repräsentativität ausgerichtete Beschreibung des Gesehenen an, sondern stellt konsequent die subjektive Perspektive und das individuelle Bildungsbedürfnis, das konkrete, unvoreingenommene, umfassende sinnliche Erlebnis in den Vordergrund, dessen Ergebnis seine unzulängliche sprachliche Vermittlung im persönlichen Tagebuch an die Adressatin darstellt. Es geht um einen individuellen Lernprozeß, der im Rückgriff auf Muster kindlicher Weltaneignung zunächst die Identitätskrise der Weimarer Existenz überwinden und ein geschlossenes Selbstkonzept schaffen soll. Das Insistieren auf der Tätigkeit des Lernens verknüpft Goethe mit Modellen konkreter, sinnlicher Wahrnehmung und trägt damit dem Bedürfnis nach der Erweiterung seines Selbstkonzepts Rechnung: Nur ists sonderbar und manchmal macht michs fürchten, daß so gar viel auf mich gleichsam eindringt dessen ich mich nicht erwehren kann daß meine Existenz wie ein Schneeball wächst, und manchmal ists als wenn mein Kopf es nicht fassen noch ertragen könnte, und doch entwickelt sich alles von innen heraus, und ich kann nicht leben ohne das. 134
Das neue Selbstkonzept erwirbt Goethe durch den Rückgriff auf vertraute Kindheitsmuster und läßt die Reise so zur Erfüllung und zum Abschluß seiner Kindheit werden. Dem Reisetagebuch kommt in diesem Zusammenhang die Funktion des Zusammenschließens und Verknüpfens von isolierten, widersprüchlichen Ichkonzepten zum geschlossenen Selbstentwurf zu. Dies manifestiert sich in der Opposition von Bücherwissen und Erfahrung, Studium und Erleben, mit der er im Text wiederholt sein Erwachsenenalter und seine Weimarer Situation der Stagnation mit seiner Kindheitsexistenz und dem Italienerlebnis vergleicht. In Venedig schreibt er: »Wie wohl wird mir's daß das nun Welt und Natur wird und aufhört Cabinet zu seyn. / Mit Freuden seh ich nun jeder Känntniß entgegen, die mir von da und dort zunickt und ich werde gern zu den Büchern wiederkehren.« 135 Daher verweist Goethe immer wieder, wenn es um die Darstellung berühmter Reiseziele von Bildungsreisenden in Italien geht, auf seine eigene reisevorbereitende Lektüre, den »Volckmann«.136 Bereits in Verona bittet er Charlotte, 134
Tagebuch 1786. S.81. Tagebuch 1786. S. 105. Vgl. auch S. 115f. 136 Johann Jacob Volkmann: Historisch-kritische Nachrichten von Italien, welche eine genaue Beschreibung dieses Landes, der Sitten und Gebräuche, der Regierungsform, Handlung, Ökonomie, des Zustandes der Wissenschaften und insonderheit der Werke der Kunst nebst einer Beurteilung derselben enthalten. Aus den neuesten französischen und englischen Reisebeschreibungen und aus eigenen Anmerkungen zusammengetragen. 3 Bde. Leipzig 1770-71. 135
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»schaffe dir Volckmanns Reise nach Italien, etwa von der Bibliothek, ich will immer die Seite anführen und thun als wenn du das Buch gelesen hättest.«137 Auf Volckmanns Darstellung greift Goethe im Tagebuch immer dann kommentierend zurück, wenn seine Aufmerksamkeit von den Gegenständen der Betrachtung nur wenig affiziert wird, oder er wie in Padua in Erwartung seines Reiseziels Rom nicht in der Lage ist, seine Wahrnehmung auf die unmittelbare Umgebung zu konzentrieren: Nun denn in Padua! und habe in fünf Stunden was Volckmann anzeigt meist gesehen; nichts was mich recht herzlich gefreut hätte aber manches das gesehen zu haben gut ist. Diesmal will ich Volckmann folgen den du im 3. Theil auf der 638. Seite nachschlagen wirst. Ich nehme an daß du die Artickel liesest, und ich mache nur meine Anmerckungen. 138
In Bologna notiert er lapidar: »Auch hier in Bologna müßte man sich lange aufhalten. Siehe nunmehr Volckmanns ersten Theil, von pag. 375 biß 443.«139 Daß seine Reise wie sein Reisetagebuch aber ganz anderen Zielen folgt als Volcksmanns und die seiner vielen Zeitgenossen, macht er in einer umfassenden Kritik der Tradition der Reisebeschreibungen deutlich: In unsern statistischen Zeiten braucht man sich um diese Dinge wenig zu bekümmern ein andrer hat schon die Sorge übernommen, mir ists nur jetzt um die sinnlichen Eindrücke zu thun, die mir kein Buch und kein Bild geben kann, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme und daß ich meinen Beobachtungsgeist versuche, und auch sehe wie weit es mit meinen Wissenschaften und Kenntnissen geht, ob und wie mein Auge licht, rein und hell ist, was ich in der Geschwindigkeit fassen kann und ob die Falten, die sich in mein Gemüth geschlagen und gedruckt haben, wieder auszutilgen sind. 140
In diesen Sätzen versammelt Goethe das gesamte Programm seiner Reise. Eher als an die vielen gebildeten Reisebeschreibungen über Italien knüpft Goethe mit seinem Tagebuch an die Tradition der diarischen Bekehrungsgeschichten an. Klaus H. Kiefer bemerkt in seiner Untersuchung über Goethes Reisetagebuch: »Es steht jedoch noch immer [...] in der Tradition des pietistisch-empfindsamen Tagebuches.«141 Wenn er in der »Italienischen Reise« das berühmt gewordene Wort von der »wahren Wiedergeburth«, dem »zweiten Geburtstag« 142 prägt, so stellt er seine Reise in die Tradition innerer Bekehrungsgeschichten ein und profaniert zugleich das Modell religiöser Selbsterfahrung, indem er die Reise ins Innere nicht mehr am Modell eines unbekannten Jenseits vollzieht, sondern in der realen Gegenwart ansiedelt. Dem utopischen Zielort eines paradiesischen Jenseits steht bei Goethe die erfüllte Utopie Italien gegenüber als einem Arkadien, in dem eschatologische Hoff-
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Tagebuch 1786. S.48. Tagebuch 1786. S.90. 139 Tagebuch 1786. S.130. 140 Tagebuch 1786. S.30. 141 Klaus H. Kiefer: Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise. Bonn 1978. S.348. 142 Italienische Reise. S. 194. 138
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nungen auf die Erde zurückgeholt werden. Das Ziel, sich als Reisender in einem Selbstläuterungsprozeß diesem Paradies anzunähern und sich ihm im fiktiven Selbstentwurf einzuschreiben, bleibt seinen pietistischen Vorbildern im Verfahren verwandt. Der Preis für diesen Transformationsprozeß ist die Anerkennung des Todes, sein Gewinn das Leben. In einem Arkadien als Ort erfüllter Utopie ist der Tod zwar präsent, ohne jedoch eine Bedrohung für das Leben darzustellen. Im Gegenteil, er wird zu seiner stillschweigend akzeptierten Bedingung. Nur einmal befaßt sich Goethe auf seiner Reise in Italien mit dem Tod am Beispiel der Grabkunst anläßlich seines Besuchs des berühmten Maffeianums in Verona. Der Ort der Toten evoziert hier keine memento mori-Vorstellungen oder -Reflexionen, wie sie die religiös geprägten Tagebücher forderten und exemplarisch vorführten, sondern wird in der Darstellung Goethes zu einer Feier des Lebens: Und die Grabmähler sind herzlich und rührend. Da ist ein Mann der neben seiner Frauen aus einer Nische wie zu einem Fenster heraus [sieht], da steht Vater und Mutter den Sohn in der Mitte und sehn einander mit unaussprechlicher Natürlichkeit an, da reichen ein Paar einander die Hände. Da scheint ein Vater von seiner Familie auf dem Sterbebette liegend ruhigen Abschied zu nehmen. Wir wollen die Kupfer zusammen durchgehn. Mir war die Gegenwart der Steine höchstrührend daß ich mich der Thränen nicht enthalten konnte. Hier ist kein geharnischter mann auf den Knien, der einer fröhligen Auferstehung wartet, hier hat der Künstler mit mehr oder weniger Geschick immer nur die einfache Gegenwart der Menschen hingestellt, ihre Existenz dadurch fortgesetzt und bleibend gemacht. Sie falten nicht die Hände zusammen, schauen nicht gen Himmel; sondern sie sind was sie waren, sie stehn beysammen, sie nehmen Anteil an einander, sie lieben sich, und das ist in den Steinen offt mit einer gewissen Handwercksunfähigkeit allerliebst ausgedruckt. 143
Helmut Pfotenhauer hat in einem eigens diesem Thema gewidmeten Aufsatz Goethes Einstellung zum Tod zusammengefaßt: »Relevant ist ihm auch in diesem problematischen Felde nur die absolute Diesseitigkeit des Sinnes; nur das ist schön, nur das ist symbolisch sprechend, und diesem ästhetischen Credo muß sich halt auch der Tod beugen.«144 An Goethes Einstellung zum Tod zeigt sich die fundamentale Differenz und zugleich die Gemeinsamkeit zwischen seiner Selbstbeschreibung und derjenigen religiös motivierter Schreiber. Während die letzteren ihr Leben einem ihnen selbst äußerlichen Sinn einzuschreiben versuchten, stellt Goethe sich mit dem Tagebuch der Aufgabe, seinem Leben Sinn zu verleihen, indem er seine Wahrnehmungen nach dem Modell symbolischer Bedeutsamkeit modelliert. An der Vorstellung von einer immanenten Sinnhaftigkeit des Lebens hält Goethe wie seine Vorgänger fest, allerdings ist sie ihm nicht unmittelbar vorgegeben, sondern muß durch konstruktive Selbstanstrengung erst hergestellt werden. Dabei geht es dem Siebenunddreißigjährigen um eine Selbsttherapie, den Versuch einer Rückgewinnung des unmittelbaren, sinnlichen Erlebens, das den eigenen
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Tagebuch 1786. S.52. Helmut Pfotenhauer: Der schöne Tod. Über einige Schatten in Goethes Italienbild. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. 1987. S. 146.
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erworbenen logozentrischen Entwicklungs- und Bildungsstand einer literalen Gesellschaft zurücknimmt und zu ignorieren versucht, indem sich der Erwachsene in den Zustand des weltoffenen, naiven und begriffslosen Kindes zurückversetzt, dessen erstes und bedeutendes Wahrnehmungsinstrument das Auge ist, gefolgt von allen anderen Formen sinnlicher Wahrnehmung. In Venedig, dem ersten großen Ziel der Reise, bekennt er: Hätte ich nicht den Entschluß gefaßt den ich jetzt ausführe; so war ich rein zu Grunde gegangen und zu allem unfähig geworden, solch einen Grad von Reife hatte die Begierde diese Gegenstände mit Augen zu sehen in meinem Gemüth erlangt. Denn ich konnte mir der historischen Erkänntniß nicht näher, die Gegenstände standen gleichsam nur eine Handbreit von mir ab waren aber durch eine undurchdringliche Mauer von mir abgesondert. 145
Die Reise wird damit zu einer Metapher der individuellen Entgrenzung, des Rollenund Identitätswechsels. Goethe experimentiert in Italien sowohl mit erworbenen wie angenommenen sozialen und herkunftsbezogenen Rollen (Nordländer, Südländer) als auch mit verschiedenen entwicklungsgeschichtlichen Identitäten (Kind, Erwachsener). Reisen bedeutet daher für ihn Aufbruch ins Unbekannte und Unbestimmte. Die Begegnung mit dem Fremden wird zum Selbstexperiment mit offenem Ausgang. Reisen wird als Möglichkeit der Entgrenzung, der Negation von aufgezwungenen Festlegungen und erworbenen Sicherheiten begriffen, es wird zu einer Metapher der Befreiung, bei der die Person des Reisenden zur Disposition steht. Dieses Modell des Reisens als Projekt des Identitätswechsels setzt ein Selbstverständnis voraus, das seine Grundlage in der autonomen und selbstverantwortlichen Definition des Individuums und seiner Geschichte hat. Karl Heinz Schlaffer hat auf die Kehrseite dieser neuzeitlichen Erfahrung hingewiesen, wenn er auf Kontigenzerfahrungen und den Mangel an »Bedeutsamkeit« 146 im Leben des einzelnen verweist. Sinnstiftung, Herstellung von Zusammenhängen und das Aufspüren von Bedeutsamkeit wird daher zur konzeptionellen Aufgabe der neuzeitlichen Selbstdefintion. Emphatisch begrüßt Goethe nach dem Aufbruch sein Alleinsein und sieht mit Spannung der Erweiterung seiner Ichgrenzen entgegen. Personale Offenheit propagiert er mit seiner Reise, trifft durch die Anonymität seiner Person die Voraussetzungen für das Ablegen der alten Existenz, der erworbenen gesellschaftlichen Position, der aufgezwungenen Rollenmuster. Unmittelbar nach dem Aufbruch markiert er in seinem ersten Text an Charlotte von Stein daher auch die Prämissen und die Zielperspektive seiner Reise und läßt sich mit keinem Wort auf eine mögliche Rechtfertigung seines Verhaltens ein. Es geht ihm um die autonome Selbstbestimmung seiner Person, die Rückgewinnung von Unabhängigkeit und Freiheit durch den Bruch mit der Weimarer Existenz. Das Reisetagebuch entsteht als Medium eines konsequenten geschlossenen Selbstentwurfs, der sowohl retrospektiv die eigene
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Tagebuch 1786. S. 116. Karl Heinz Schlaffer: Goethes Versuch, die Neuzeit zu hintergehen. In: Paolo Chiarini (Hg.): Bausteine zu einem neuen Goethe. Frankfurt 1987. S. 13.
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Biographie umzuschreiben als auch Zukunft zu entwerfen hat. Damit geht es um individuelle Sinnstiftung und Bedeutungszuweisung, die Konstruktion einer individuell sinnvollen und geschlossenen Lebensgeschichte. Karl Heinz Schlaffer hat auf die Zielperspektive des Tagebuchs, des »ästhetisch entworfenen und mythisch interpretierten Lebens« 147 hingewiesen. Wenn sich Goethe auf den ersten Seiten seines Tagebuchs biographisch darstellt, so tut er dies unter bewußter Ausklammerung der Weimarer Lebensphase. Er versucht im Text, lebensgeschichtlich an die Zeit vor Weimar anzuknüpfen, definiert sich noch einmal in der Rolle des jungen Mannes, dessen Entwicklungsmöglichkeiten noch offen und unbegrenzt sind: »Jetzt freut mich alles mehr, und ich fang in allem gleichsam wieder von vorne an«,148 gesteht er gegenüber der Adressatin und greift, wenn er sich selbst in der Fremde als Person verortet, auf die Konstellationen seiner Jugend zurück. Offenheit, Naivität und Vorurteilsfreiheit des Jugendlichen propagiert er denn auch als zentrale Wahrnehmungsformen in seinem Selbstexperiment, das ihn noch einmal in die Rolle des Lernenden, des Schülers, zurückversetzt: »Wie glücklich mich meine Art die Welt anzusehn macht ist unsäglich, und was ich täglich lerne! und wie doch mir fast keine Existenz ein Räthsel ist. Es spricht eben alles zu mir und zeigt sich mir an.«149 Unmittelbar im Anschluß daran teilt er Charlotte von Stein eine scheinbar marginale Reiseerfahrung mit, die ihre Bedeutung erst dadurch erhält, daß Goethe in dieser Episode mit seinem Verhalten in die Rolle eines Schülers schlüpft: »Auch habe ich einem alten Weibe, das mir am Wasser begegnete, für einen Kr[euzer] Birn abgekauft und habe solche wie ein andrer Schüler publice verzehrt.«150 Immer wieder verweist er im Tagebuch auf seine zentrale Haltung des Lernenden. In Verona schreibt er: »Seit gestern Mittag bin ich hier, und habe schon viel gesehen und viel gelernt.«151 Einen Tag später notiert er: »Ich muß erst mein Auge bilden, mich zu sehen gewöhnen.«152 In Vicenza heißt es: »Ich gehe nur immer herum und herum und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn«,153 etwas später, »mein Auge fängt sich gut an zu bilden«.154 Noch einmal propagiert er in Venedig, der glücklichsten Station seiner Reise vor der Ankunft in Rom, sein Programm des Wiedererlernens sinnlicher Wahrnehmung: »Man muß nur sehen, wenn man Augen hat und alles entwickelt sich.«155 Dieses Programm der unvoreingenommenen, individuellen Wahrnehmung geht entwicklungsgeschichtlich den Weg zurück in die Kindheit: »Mir ists wie einem Kinde, das erst wieder leben lernen muß.«156 In dieser knappen Formulierung verbirgt sich Goethes eigentliches Reiseziel. Es ist die Rückkehr in die Rolle des Kin-
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Schlaffer. Tagebuch 149 Ebenda. 150 Ebenda. 151 Tagebuch 152 Tagebuch 153 Tagebuch 154 Tagebuch 155 Tagebuch 156 Tagebuch 148
1987. S.16. 1786. S.12.
1786. 1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S.48. S.57. S.67. S.73. S.106. S.33.
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des, die der Schreiber mit seinem Ausbruch aus der von Zwängen bedrückten Erwachsenenexistenz herbeisehnt. Was er der Geliebten hier mitteilen will, ist: Ich muß noch einmal in meine Kindheit zurückgehen, wieder zum Kind werden, um neu leben zu lernen. Dieses Programm formuliert er bereits zu Beginn der Reise, wenn er Herder zitiert: »Herder hat wohl recht zu sagen: daß ich ein groses Kind bin und bleibe, und ietzt ist mir es so wohl daß ich ohngestraft meinem kindischen Wesen folgen kann.«157 Diese Rückkehr in die Kindheit deutet Goethe als lebensgeschichtlichen Auftrag, der »im Buche des Schicksals auf meinem Blatte« 158 vorausbestimmt wurde. Anders ausgedrückt, schließt sich mit Goethes erster Italienreise ein lebensgeschichtlicher Kreis: Mit dem Aufbruch nach Italien erfüllt sich nicht nur ein in der Kindheit angelegter Wunsch, ein vorgeschriebenes Ziel, das das Kind durch die Italienliebe des Vaters, dessen eigene Reise, die Ausstattung der väterlichen Wohnung mit Stichen italienischer Baudenkmäler und Kunst eingeprägt bekommt, sondern er wird zugleich zu einer Rückkehr in die glückliche Kinderrolle und damit zum Versuch der Überwindung der Krise des Erwachsenen. Nicht von ungefähr stellt Goethe bereits zu Beginn der Reise eine Beziehung zwischen seiner Heimatstadt Frankfurt und Eger her und vergleicht die Donau mit dem Main. Im Bild der beiden Flüsse steht die ersehnte Dynamik aus der Kindheit und Jugendzeit in Frankfurt ebenso wie die des weitereilenden Reisenden der Statik der Weimarer Gesellschaft gegenüber, wenn er notiert: »der Morgen war kühl und man klagt auch hier über Nässe und Kälte, aber es war ein herrlicher gelinder Tag, und die Luft die ein groser Fluß mitbringt ist ganz was anders.«159 Die Italienreise wird damit zur Rehabilitation eines verschütteten und verdrängten Kindheits-Ich, dessen unaufhaltsame Rebellion im Innern des Schreibers nun sein Recht fordern darf. In unmittelbarer Nähe seines Reiseziels Rom bekennt Goethe im Tagebuch immer wieder den lange verborgenen Wunsch und den geheimen Plan zu seiner Reise: »Noch vierzehn Tage und eine Sehnsucht von 30 Jahren ist gestillt! Und es ist mir immer noch als wenns nicht möglich wäre.«160 An anderer Stelle heißt es: »Ich will mich auch faßen und abwarten, hab ich mich diese 30 Jahre geduldet, werd ich doch noch 14 Tage überstehn.«161 Zuletzt notiert er: »Wenn ich so dencke heut ist Donnerstag und den nächsten Sonntag wirst du in Rom schlafen nach dreysig Jahren Wunsch und Hofnung. Es ist ein närrisch Ding der Mensch.«162 In dem Bild des auferstandenen Christus von Guercino findet Goethe die symbolische Entsprechung zu seiner Kindheitsimago: Der auferstandene, gewandelte Sohn kehrt zu seiner Mutter zurück, eingedenk der von beiden erfahrenen Leiden:
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1786. 1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S. 15. S.82. S.12. S.129. S.135. S. 146.
Der Auferstandne Christus, der seiner Mutter erscheint. Sie kniet vor ihm und sieht ihn mit unbeschreiblicher Innigkeit an, mit der lincken fühlt sie an seinen Leib, gleich unter der unglückselichen Wunde, die das ganze Bild verdirbt. Er hat seine Lincke Hand um ihren Hals gelegt und biegt sich um sie in der Nähe anzusehn ein wenig mit dem Körper zurück. [...] Und der still traurige Blick mit dem er sie ansieht, als wenn ihm eine Erinnerung seiner und ihrer Leiden, die durch eine Auferstehung nicht gleich geheilt werden, vor der edlen Seele schwebte. 163
In einem Brief an die Mutter aus Rom spricht er von seiner Auferstehung: Wie wohl mir's ist daß sich soviele Träume und Wünsche meines Lebens auflösen, daß ich nun die Gegenstände in der Natur sehe die ich von Jugend auf in Kupfer sah, und von denen ich den Vater so oft erzählen hörte, kann ich Ihnen nicht ausdrücken. [...] Heute hab ich nicht Zeit viel zu sagen nur wollt ich daß Sie schnell die Freude mit mir theilten. Ich werde als ein neuer Mensch zurückkommen und mir und meinen Freunden zu größerer Freude leben. 1 6 4
In Venedig, der biographisch wichtigsten Station der ersten Italienreise, erfüllt sich dieser lebensgeschichtliche Kreislauf, drängt der Zusammenhang von imaginierter Kindheit und erfüllter Gegenwart eruptiv an die Oberfläche. Die Ankunft in Venedig wird zur Rückkehr in die Geborgenheit der Kindheit. In der Erinnerung an das erste Kinderspielzeug, die Gondel, die der Vater aus Venedig mitbrachte, fließen glückhaft erinnerte Kindheit und Gegenwart zusammen: Wie die erste Gondel an das Schiff anfuhr, fiel mir mein erstes Kinderspielzeug ein, an das ich vielleicht in zwanzig Jahren nicht mehr gedacht hatte. Mein Vater hatte ein schönes Gondelmodell von Venedig mitgebracht, er hielt es sehr werth und es ward mir hoch angerechnet wenn ich damit spielen durfte. Die ersten Schnäbel von Eisenblech, die schwarzen Gondelkäfige, alles grüßte ich wie eine alte Bekanntschafft, wie einen langentbehrten ersten Jugend Eindruck. 1 6 5
Hatte der Weimarer Lebensabschnitt die Kindheit aus dem Bewußtsein des Schreibers verdrängt, so bricht sie nicht erst in dieser zentralen Situation wieder hervor und wird zum metaphorischen Persönlichkeitsideal. Weiter unten heißt es: »Ich gedachte meines armen Vaters in Ehren, der nichts bessers wußte als von diesen Dingen zu erzählen.« 166 Neben der patrilinearen Identifikation, die das Venedig-Erlebnis bietet, kehrt Goethe aber auch in die Welt der Mütter zurück. In der »triumphirenden Braut des Meeres«, einer Verwandten der Venus, vereinigt der Text Mutter und Geliebte als Objekte des Begehrens: »Heute hats geregnet, nun ists wieder ausgeheilt und ich hoffe die Lagune und die ehmals triumphirende Braut des Meers bey schöner Tagszeit zu erblicken und dich aus ihrem Schoos zu begrüßen jetzt gute Nacht.« 167 Goethe entwirft in seinem Reisetagebuch damit konsequent das Modell einer anderen individuellen Wiedergeburt. Indem er den pietistischen Begriff wörtlich 163
Tagebuch Tagebuch 165 Tagebuch 166 Tagebuch 167 Tagebuch 164
1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S. 128. S. 155. S.82. S.85. S.82.
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nimmt, konstruiert er das Selbstexperiment einer Reise in die eigene Entwicklungsgeschichte, um die eigene Geschichte an den Orten des uneingelösten Begehrens noch einmal neu zu schreiben. Als Kind bricht er nach Venedig, der ersten Station seiner Entwicklungsgeschichte, auf. Dort emanzipiert er sich von seiner frühen Sozialisation, die ihm vermittelt durch den Vater die venezianische Utopie als Erbe mitgegeben hatte. In Rom wird aus dem Jugendlichen der Erwachsene, der sich am Ziel seines Begehrens aus eigener Kraft zu einem umfassend neuen Menschen ausbilden kann. Schließt die Ankunft in Venedig die unerfüllte Kindheit ab, so markiert die Ankunft in Rom den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen. In dem letzten Eintrag in seinem Reisetagebuch kommt Goethe als ein anderer, als neuer, veränderter junger Mann in der Gegenwart an. Daher kennzeichnet er seine Ankunft in Rom als Initiationsfeier: »Nur ein Wort nach einem sehr reichen Tag! Ich habe die wichtigsten Ruinen des alten Roms heute früh, heut Abend die Peterskirche gesehen und bin nun initiirt.« 168 Die Anverwandlung der Rolle des Kindes, die der erwachsene Schreiber auf der Reise unternimmt, ist eine der bedingungslosen sinnlichen Obsessionen. Mit dem Auge vollzieht der Erwachsene noch einmal die Weltaneignung des Kindes, das sich ursprünglich alles, was um es ist, mit dem Munde einverleibt. Genauso besitzergreifend wie der Mund des Kindes ist das Auge des Schreibers, das diese erste und sinnlichste aller Aneignungsformen des Menschen noch einmal nachzuahmen versucht. Augenlust als Ersatz für die unmittelbare sinnliche Befriedigung des Kindes ist es, die Goethe nach seiner Ankunft in Venedig in seinen Formulierungen an Charlotte von Stein zum Ausdruck bringt: »So wohn ich und so werd ich eine Zeitlang bleiben, biß mein Paket für Deutschland fertig ist und biß ich mich am Bilde dieser Stadt satt gesogen habe.« 1 6 9 Das Auge wird hier zum besitzergreifenden Mund, der sich sein Gegenüber einverleibt und noch einmal das erste Muster sinnlicher Befriedigung nachzuerleben versucht. 170 Nicht von ungefähr sind diese Worte an die Geliebte gerichtet, die Goethe nach Eissler 171 mit der Mutter identifiziert und auf die sich die Ansprüche auf sinnliche Befriedigung des Erwachsenen richten. So fühlt sich der Italienreisende trotz seiner scharfen Kritik an der Lust- und Sinnenfeindlichkeit der religiösen Sujets in der Malerei dennoch immer wieder vom Bild der nährenden Mutter Maria angezogen: »Eine Madonna. Das Kind verlangt nach der Brust und sie zaudert schamhaft die Busen zu entblösen und sie ihm zu reichen, köstlich schön.« 172 In Bologna, das ihn wegen seiner Romsehnsucht kaum fesseln kann, fängt sich sein Blick noch einmal an einer Marien-Darstellung Guido Renis: Der Kopf der Maria als wenn ihn ein Gott gemahlt hätte. Der Ausdruck ist unbeschreiblich mit dem sie auf das säugende Kind herunter sieht. Mir druckts eine stille tiefe Duldung
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Tagebuch 1786. S.150. Tagebuch 1786. S.82f. Eissler weist ausführlich auf die orale Prägung Goethes hin. Vgl. Goethe. Bd. 2. S. 1201f. Eissler. Bd. 2. S 1216ff. Tagebuch 1786. S. 128.
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[aus] als wenn sie das Kind, nicht das Kind der Liebe und Freude sondern einen untergeschobnen himmlischen Wechselbalg nur so an sich saugen ließe, weil es nun einmal so ist und sie in tiefer Demuth gar nicht begreift wie sie dazu kommt. 173
Dieser glückhaften Existenz in der symbiotischen Mutter-Kind-Dyade gilt die Sehnsucht des Betrachters. In der Figur des Christus-Kindes ist das Ziel seiner metaphorischen Regression repräsentiert; im leidenden Christus am Kreuze findet er das Urmuster seiner Idee von der eigenen Auferstehung und Wiedergeburt als neuer Mensch. 2.3 »Nordische Krankheit« Wenn es in der Italienreise mit der Rückkehr zur Kindheit um die Wiederherstellung und Wahrung einer verborgenen anderen biographischen Identität geht, so intendiert Goethe damit die Erschaffung eines neuen idealen Selbst. Das Reisetagebuch für Charlotte von Stein wird zu seinem Medium. So dient das Konzept einer unvoreingenommenen und freien sinnlichen Wahrnehmung dem Ziel der Konstruktion eines neuen ganzheitlichen idealen Selbstkonzepts. Was Goethes entfesselter Blick auf der Reise wahrzunehmen versucht, ist die Bestätigung und Illustration seines fiktiven Persönlichkeitsideals. Italien wird zu seinem symbolischen Ort. Im Sammelbegriff des Südens konstruiert Goethe sein Ideal einer erfüllten Utopie. Daß hier nicht von dem realen Italien des 18. Jahrhunderts die Rede ist, hat bereits Schlaffer dargelegt: Als symbolisch gelten ihm die gegenständliche Natur und sein individuelles Dasein ebenso wie die Kunst. Die tote Natur wird wie Leben interpretiert, das Leben wie ein Kunstwerk. [...] Italien wird im genauen Sinn zur Kunstlandschaft. Sie gewährt dem Bildungsreisenden den Eindruck schöner Ordnung und Sinnfülle, der sonst dem Erzeugnisse der Fiktion vorbehalten ist. 174
So stehen die Wahrnehmungen auf der Reise nach Italien unter dem Vorzeichen der Nord-Süd-Metaphorik. Mit dem Norden verbindet Goethe nicht nur seine Herkunft, sein Heimatland, sondern zugleich auch die Mentalität seiner Einwohner, eine Bewußtseinsverfassung, die er mit einer mangelnden »Elastizität« des Geistes oder einer »Umnebelung« des Bewußtseins beschreibt. Die Nordländer, das sind die schweren, unbeweglichen Deutschen, denen die Natürlichkeit und Freizügigkeit der Südländer gegenübergestellt werden. Neben den Vorzügen des südlichen Klimas stellt Goethe den Zeitbegriff der Südländer als unterscheidendes Merkmal heraus. Die der Natur angepaßte, dynamische Zeiteinteilung der Südländer qualifiziert er als ein Element der anderen, idealen Existenzbedingungen des Südens. In einem komplizierten Schema versucht er der Adressatin die flexible Zeiteinteilung der Italiener nach den Jahreszeiten deutlich zu machen. Diese natürliche Zeiteinteilung,
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Tagebuch 1786. S.130. Schlaffer. S.15u. 16.
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bei der die »Nacht [...] mit jedem halben Monat eine halbe Stunde« 175 wächst, folgt den Bedürfnissen der Menschen und ordnet sie der Uhr nicht sklavisch unter: Nun kommt aber die Hauptsache. In einem Lande wo man des Tags genießt, besonders aber sich des Abends freut, ist es höchst bedeutend wenn es Nacht wird. Wann die Arbeit des Tags aufhöre? Wann der Spaziergänger ausgehn und zurückkommen muß. Mit einbrechender Nacht will der Vater seine Tochter wieder zu Hause haben pp die Nacht schliest den Abend und macht dem Tag eine Ende. Und was ein Tag sey wissen wir Cimmerier im ewigen Nebel und Trübe kaum, uns ists einerley obs Tag oder Nacht ist, denn welcher Stunde können wir uns unter freyem Himmel freuen. 176 Gegen die willkürlichen Ordnungsprinzipien der Zivilisation setzt Goethe hier das unmittelbare Verhältnis der Südländer zur Natur, ihr Leben im »Naturzustand«. Wie der Zeitbegriff so wird auch das Klima zu einer Metapher seines Selbstverständnisses. Immer wieder preist er gegenüber Charlotte von Stein die südliche Witterung, stellt das helle, trockene, warme Klima dem dunklen, nassen und kalten des Nordens gegenüber und beschreibt seine Auswirkungen auf die Verfassung des Individuums. Im milden und heiteren südlichen Klima werden die Bedingungen, die die problematische Beziehung zwischen der Geliebten und ihm einengen, zum Leiden unter einem »bösen Himmel«. In Trient schreibt er: Heute ist wieder ein Herrlicher Tag, besonders die Milde der Luft kann ich dir nicht ausdrücken. [...] Ach was ich da schreibe hab ich lang gewußt, seitdem ich mit dir unter einem bösen Himmel leide, und jetzt mag ich gern diese Freude als Ausnahme fühlen, die wir als eine ewige Naturwohlthat immer genießen sollten.177 So spricht er das Trennende zwischen ihnen unter der Metapher des Klimas an. In seiner zweiten Ausführung über die »Witterung« erläutert er: Diesen Punckt behandle ich so ausführlich weil ich eben glaube in der Gegend zu seyn, von der unser trauriges nördliches Schicksal abhängt. [...] Ja es giebt mich nun nicht so sehr wunder, daß wir so schlimme Sommer haben, vielmehr weis ich nicht wie wir guten haben können. [...] Aus allem diesem schliese ich ihr werdet ietzt gemischte doch mehr gut als böse Tage haben, denn obgleich die Athmosphäre wie ich offt wiederhole elastisch genug zu seyn scheint; so muß doch immer soviel von den Dünsten nach Norden kommen, was dort nicht gleich aufgelöst und in einer niedrem Athmosphäre schwebend als Regen herunter falle muß. 178 Weiter unten prognostiziert er aus der Perspektive des Südens düstere Aussichten für den Norden: »Ich habe bemerckt daß sich nach dem Regen bald die Wolcken gegen das Tyroler Gebirg warfen und dort hängen blieben auch ward es nicht ganz wieder rein. Das zieht nun alles Nordwärts, und wird euch trübe und kalte Tage machen.« 179 Goethes theoretische Ausführungen zur Witterung haben aber zugleich
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Tagebuch Tagebuch 177 Tagebuch 178 Tagebuch 179 Tagebuch 176
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1786. S.59. 1786. S.61. 1786. S.31f. 1786. S.38f. 1786. S.61f.
auch einen metaphorischen Hintersinn. Im unveränderlichen Klimagegensatz zwischen Nord und Süd verbirgt sich die kritische Analyse seiner Liebesbeziehung. Goethes Ausführungen zum Wetter enthalten eine versteckte Klage an die Geliebte. Unter der Sonne des Südens, getrennt von der Geliebten, fühlt er sich »recht innerlich warm«.180 Im heimatlichen Norden ist nach der Theorie des Klimas kein Raum für solche Empfindungen, dies legt der Tagebuchtext seiner Leserin nahe. Von der Erfahrung eines Mangels an Wärme, Leichtigkeit und Unkompliziertheit spricht das Tagebuch, wenn es den utopischen Süden in den sächsischen Norden zu transferieren wünscht. Auch an der Liebesbeziehung soll der Süden seine therapeutische Funktion erfüllen, die Wunden der trennenden Kälte und des unerfüllten Begehrens metaphorisch heilen: »Könnt ich nur mit dir dieser Gegend und Luft geniesen in der du dich gewiß gesund fühlen würdest.«181 Mit zunehmender Distanz versöhnlicher gestimmt, äußert Goethe den Wunsch, die Partnerin virtuell an der heilsamen Wirkung des Südens partizipieren zu lassen: »Das Clima mögt ich dir zusenden oder dich darein versetzen können. Sonst wäre hier für uns beyde keine Existenz.«182 Zuletzt formuliert er die Hoffnung, ihre Beziehung nach dem Modell des Südens umgestalten, eine südliche Insel Utopia mitten in Weimar installieren zu können: »[...] und ich wiederhohle ich will ihnen alles laßen, wenn ich nur wie Dido so viel Clima mitnehmen könnte als ich mit einer Kuhhaut umspannen könnte um es um unsre Wohnung zu legen. Es ist ein ander Seyn.«183 Mit dem Wechsel des Klimas verbindet Goethe daher auch unmittelbar eine Wandlung seines Selbstempfindens: »Gestern hab ich meinen Mantel in den Koffer gethan in Verona muß ich mir was leichtes auf den Leib schaffen es ist zwar nicht heis aber so recht innerlich warm, wovon ich seit solanger Zeit keinen Begriff gehabt habe.«184 Bereits in Tirol beobachtet Goethe an sich eine Veränderung, die ihn dem südländischen Ideal annähert: »Schon jetzt daß ich mich selbst bediene immer aufmercksam, immer gegenwärtig seyn muß, giebt mir diese wenige Tage her eine ganz andre Elasticität des Geistes.«185 Den Begriff der Elastizität hatte Goethe zunächst für seine Beobachtung des Wetters geprägt. An diesem Beispiel wird sein Verfahren der konsequenten symbolischen Deutung und individuellen Sinnstiftung deutlich. Seine Beobachtungen über die Auflösung der Wolken über den Alpen, die für das Klima des Südens verantwortlich sind, werden zu einer Metapher für die Verfassung und Selbsterfahrung des Individuums. Die »Elasticität«, die die »Dünste die vorher massenweis zusammen gedrängt waren,« auflöst, »ia ins unendlich kleine«186 aufteilt, wird zu einer Metapher für die Wandlung des Bewußtseins, das sich aus seiner lastenden Schwere und Eingrenzung befreit, sich unter dem südli-
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Tagebuch Tagebuch 182 Tagebuch 183 Tagebuch 184 Tagebuch 185 Tagebuch 186 Tagebuch 181
1786. 1786. 1786. 1786. 1786. 1786. 1786.
S.37. S.31. S.126. S.127. S.37. S.30. S.21.
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chen Himmel vervielfältigt und ausdifferenziert und eine autonome, selbstbestimmte Existenz ermöglicht. Als Südländer definiert sich Goethe daher emphatisch, gerade in Italien angekommen: »Es ist mir als wenn ich hier gebohren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt von einem Wallfischfang zurückkäme.«187 Zu dem symbolischen Identitäts- tritt der soziale Rollenwechsel. Eine Bedingung für Goethes Selbstbefreiung besteht in der Aufrechterhaltung seiner Anonymität während der Reise. Sie ermöglicht ihm das Spiel mit sozialen Rollen. Auf der Reise experimentiert er bewußt mit bestehenden Rollen Vorschriften, nimmt wechselnde soziale Rollen an oder versufcht häufiger noch, sich jeder sozialen Zuordnung zu entziehen, indem er seine soziale Identität vor seinem Gegenüber verschleiert, um seinen Aktionsraum zu erweitern. In Venedig berichtet er mit Genugtuung über seine Undefinierte, rätselhafte Zwischenexistenz: Ich trete in einen Buchladen und frage den Mann nach einem Buche, das er sich nicht gleich besinnt, es sitzen verschiedne Personen von gutem Stande herum, geistliche weltliche. Einer fängt gleich mit dem Buchhändler zu reden an, hilft ihm und mir zurechte und das alles ganz grade hin, als wenn man sich lange kennte und ohne weiters. das hab ich an ihnen bemerckt. Sie sehen einen von Kopf biß zu Fuße an, und scheinen einen trefflich Phisiognomischen Kleiderblick zu haben. Nun ists mein Spas sie mit den Strümpfen irre zu machen, nach denen sie mich unmöglich für einen Gentleman halten können. Übrigens betrag ich mich gegen sie offen, höflich, gesetzt und freue mich nun so frey ohne Furcht erkannt zu werden herumzugehen. 188
Als Rollenspiel, ja mehr noch als Spiel mit verschiedenen Identitäten mit dem Ziel, Individualität zu vervielfältigen, versteht Goethe seine Reise. Wenn es dennoch so etwas wie eine konstante Rollenübernahme während der Reise gibt, dann besteht sie in dem Versuch, sich nicht nur äußerlich der südlichen Mentalität anzunähern. Daher vertauscht er, gerade in Italien angekommen, seine sozial klassifizierende Bekleidung gegen die leichte südländische: »Es hat kein Mensch Stiefeln an, kein TuchRock zu sehn. Ich komme recht wie ein nordischer Bär vom Gebirge. Ich will mir aber den Spas machen mich nach und nach in die Landstracht zu kleiden.«189 In der ersten Phase seiner Reise versucht Goethe zunächst, sich restlos der südländischen Mentalität anzuverwandeln, den südländischen Teil seines Ich dominant werden zu lassen. Daß dieser Versuch des intendierten Identitätswechsels nicht restlos gelingt, erfährt er während der weiteren Dauer seiner Reise. In Venedig bezeichnet er sich als »nordischen Flüchtling«190 und in Bologna wird er sich der Diskrepanz zwischen dem angenommenen Persönlichkeitsideal des Südländers und seiner erworbenen Identität bewußt. Am Ende seines Venedig-Aufenthalts relativiert er sein abstraktes Ideal angesichts seiner realen Selbsterfahrung:
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Tagebuch Tagebuch Tagebuch Tagebuch
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1786. 1786. 1786. 1786.
S.31. S.74. S.33. S. 107.
O könnt ich dir nur einen Hauch dieser leichten Existenz hinübersenden. Ach wohl, ist den Italiänern das Ultramontano ein dunckler Begriff! mir ist er's auch. Nur du und wenig Freunde winckt mir aus dem Nebel zu. Doch sag ich aufrichtig das Clima ganz allein ists, sonst ists nichts was mich diese Gegenden jenen vorziehen machte. Denn sonst ist doch die Geburt und Gewohnheit ein mächtiges Ding, ich möchte hier nicht leben, wie überhaupt an keinem Orte wo ich nicht beschäfftigt wäre. 191
Erst in Venedig kann Goethe seinen emphatischen Versuch des uneingeschränkten Identitätswechsels als Spiel begreifen, das seine Grenzen in den erworbenen Dispositionen seiner Herkunft hat. In das Tagebuch fließen nun Reflexionen über das Spannungsverhältnis zwischen erworbener und angenommener Identität ein. Erst in dieser Phase der Reise begreift er sie als Agieren in einem Zwischenreich, formuliert seine biographisch vorgeprägte Distanz zu dem fiktiven südländischen Persönlichkeitsideal und gesteht ohne Bedauern die Unmöglichkeit einer restlosen Übernahme der fremden Identität ein. Welche Grenzen Goethe sich selbst innerhalb seines Selbstexperiments auferlegt, thematisiert er im Tagebuch. Als wahrer »Nordländer« erweist er sich, wenn er mit Disziplin sowohl an seinem Arbeitsplan bezüglich der »Iphigenie« wie auch auf die Einhaltung der Ordnung eines geregelten Tagesablaufs achtet: Heute komm ich später zu dir als gewöhnt, und hätte dir doch recht viel zu sagen. Heute früh schrieb ich lange an der Iphigenie und es ging gut von statten. Die Tage sind sich nicht gleich und es wundert mich daß es in dem fremden Leben noch so geht es ist aber ein Zeichen daß ich mich noch gut besitze. 192
Ebenso intendiert er keine plan- und grenzenlose Öffnung seiner Person, fürchtet nichts mehr als den Verlust der Selbstkontrolle und vermeidet konsequent, sich in Extremsituationen zu begeben: »Ich lebe sehr diät und halte mich ruhig damit die Gegenstände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen. Im letzten Falle ist man dem Irrthum weit weniger ausgesetzt als im ersten.«193 Dieter Breuer geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht von dem »Roman der Selbstdisziplinierung eines Reisenden«. 194 Während des Carnevals in Venedig wird ihm seine Ausnahmesituation als Grenzgänger zwischen den Identitäten, sein Rollenspiel bewußt, das dem zeitlich begrenzten Rollen- und Identitätswechsel der Venetianer im Carneval gleichkommt: »Es war mir die Lust angekommen mir einen Tabarro mit
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Tagebuch 1786. S.115. Tagebuch 1786. S.89. 193 Tagebuch 1786. S.72. 194 Dieter Breuer: Sinnenlust und Entsagung. Goethes Versuche, Heinses Italiendarstellung zu korrigieren. In: Italienische Reise. Reisen nach Italien. Hg. von Italo Michele Battafarano. Trento 1988. S. 157. Dort attestiert Breuer Goethe des weiteren »eine geradezu pietistische Freude an der Selbstverleugnung, um in der objektivierenden Kunstbegegnung auch zu sittlicher Erneuerung, ja >Wiedergeburt< zu gelangen. [...] Was der >klassische Boden< sonst an Verlockendem der Einbildungskraft und Empfindung darbietet, wird mit Hilfe geologischer, mineralogischer, meteorologischer Beobachtungen neutralisiert, ja >unterdrücktGötter Griechenlands< und dessen Resignation*. Wir sprachen viel über beide Gedichte; die >Resignation< ist schrecklich schön! Ich aber danke dem ewigen Unerforschlichen, daß mein Glaube an Unsterblichkeit bis jetzt nicht wankend geworden ist. Die Resignation habe ich noch nicht, daß ich auch ohne Hoffnung des ewigen Seins alle Verhältnisse des Lebens so heiter ertragen könnte, als ich mich jetzt willig unter dem Gesetze der Notwendigkeit schmiege. Ich bewundere den Charakter, der ohne diese selige Hoffnung die Leiden des Lebens ertragen kann; und selbst diese Stärke des Geistes gewisser Seelen gibt mir die festere Überzeugung, daß so vollkommene Wesen nicht im Staub verstieben können. Schiller hat in seinem furchtbaren Gedichte eine Lebensphilosophie begründet, die leichtsinnigen Lebensgenuß lehrt. Er hat allen Schmuck der Dichtkunst aufgeboten, um junge Seelen zu verlocken, und so hat er sein herrliches Talent schlecht benutzt.« Mein Journal. S.59f. 61 Friedrich Schiller: Resignation. In: Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 1. Hg. von Georg Kurscheidt. Frankfurt 1992. S.624. 59
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bis zuletzt, ihr l e b e n s g e s c h i c h t l i c h e s S c h e i t e r n a u f d e m H i n t e r g r u n d e i n e r h ö h e r e n S i n n g e b u n g positiv u m z u i n t e r p r e t i e r e n : Jetzt bin ich negativ glücklich, auch danke ich noch so manchem lebenden Freunde das Glück, welches tiefgefühlte, innige Freundschaft gewährt. Noch ist meine zur innigsten Freundschaft und Anhänglichkeit geschaffene Seele nicht ganz isoliert. Noch habe ich auch unter den Lebenden Freunde, die mich lieben, wie meine Verstorbenen mich liebten, und die ich liebe, wie ich die theueren Seligen liebte. - Aber oft trennen Verhältnisse mich von den Lieblingen meines Herzens, und mehrentheils muß ich unter Menschen leben, die meinem Herzen fremd sind. Gottlob, daß dies Leben so kurz, und ewig - so lang ist. 6 2
62
Mein Journal. S. 164.
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IX. Die andere Geschichte - Archive des Ich
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Chronik des Alltags: Johann Anton von Leisewitz' Tagebücher 1779-1781
Von Johann Anton von Leisewitz, dem Autor des »Julius von Tarent«, sind drei Jahrgänge intensiver Tagebuchführung überliefert. Die Tagebücher liegen in einer Edition nach den Handschriften von Heinrich Mack und Johannes Lochner aus den Jahren 1916 und 1920 vor. Diese sehr zuverlässige Edition, in einem Vorwort legen die Herausgeber Rechenschaft über ihr Editionsverfahren ab, gibt allerdings nicht den gesamten Text wieder. Auslassungen, die im Text gekennzeichnet sind, beziehen sich auf »die Vermerke über die Zeiten des Aufstehens und Zubettgehens. Sodann die zusatzlosen Erwähnungen der geschriebenen und empfangenen Briefe, [...] abgestatteten und empfangenen Besuche, [...] Lektüre des Verfassers, [...] sein körperliches Befinden«.1 In den Jahren 1779 bis 1781 führte Leisewitz täglich ein Tagebuch, das neben der Arbeit an der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, einer Komödie und verschiedenen kleineren Schriften zu seiner wichtigsten, kontinuierlichen Textproduktion wird. Mit seiner Heirat im Jahre 1781 endet diese Phase der intensiven autobiographischen Auseinandersetzung. Auf Drängen seiner jungen Frau, für die auch die ersten Tagebücher bestimmt waren,2 versucht er noch einmal, seine alte Praxis der Tagebuchführung aufzunehmen: Von April bis December - es ist eine Lücke, die in einem ziemlich langen Leben schon ins Auge fallen könnte, und vieleicht schriebe ich auch heute noch nicht, wenn es Sophie nicht so gern wollte. Also ein neues Tagebuch! [...] Mein Leben ist jetzt noch einförmiger als sonst, und warum sollte ich nicht alle Gattungen von Geschichten seiner selbst versuchen? 3
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Johann Anton Leisewitz: Tagebücher. Nach den Handschriften herausgegeben von Heinrich Mack und Johannes Lochner. 2 Bde. Weimar 1916 u. 1920. Reprint Hildesheim, New York 1976. S.XIII. Im folgenden zitiert als Tagebücher. Am 7. März 1779 notiert er ins Tagebuch: »Zu Hause in Schlözers Briefwechsel und in Moores Reisen geblättert, meine Tage Bücher, die ich an M.S. schicken will, eingepackt.« Tagebücher. I. S. 159. Am 18. November 1780 erhält er seine Tagebücher von Sophie Seyler zurück: »Ich bekam heute von M.S. meine Tagebücher zurück, auf gewiße weise war das Paket offen, weil der Bindfaden durchgescheuert war, ich war unterdeßen sehr ruhig darüber.« Tagebücher. II. S. 104. Tagebücher II. S. 155.
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Eine kontinuierliche Tagebuchführung scheint ihm nach der Heirat nicht mehr adäquat, dennoch mag er den Anspruch auf autobiographische Auseinandersetzung im Text nicht aufgeben. Es entstehen die kurzen »Mich betreffenden Nachrichten und Betrachtungen« aus den Jahren 1781 bis 1790, die keinen eigenständigen Text mehr bilden, sondern höchstens Notizen zu einer geplanten größeren autobiographischen Arbeit darstellen. Zu Beginn dieses Textes vom 25. Dezember 1781 erläutert er das Ende seiner kontinuierlichen Tagebuchführung: Sophie ist nunmehr mein, mein Weib. Alle Wünsche sind erschöpft, ich will nichts Neues, nur das, was ich habe, erhalten und genießen können. [...] Ich habe zu verschiedenen Mahlen noch etwas über diese Sache hinzu setzen wollen, es ist aber darauf hinausgelaufen, daß ich hinging und meine Frau küßte. Es wird immer so gehen, ich will also nur abbrechen. 4
Seine Wunscherfüllung, die Einlösung seines Selbstentwurfs in der Realität und damit der Abschluß einer Entwicklung stehen der autobiographischen Selbstreflexion entgegen. An dieser Stelle gibt Leisewitz ein zentrales Grundmotiv seiner früheren Tagebuchführung mit der Diskrepanz zwischen Selbstentwurf und realer Existenz zu erkennen. Seine diarische Selbstreflexion der Jahre 1779-1781 folgte dem Bedürfnis, ein projektives Selbstbild gegenüber den Widerständen der Realität aufrechtzuerhalten, und wurde angetrieben von dem Spannungsverhältnis zwischen diesem uneingelösten Selbstentwurf und der faktischen Realität. Zwei entscheidende Entwicklungsmomente bürgerlicher Biographie verbinden sich bei Leisewitz mit diesen Jahren: die Vorbereitung der Heirat und die Suche nach einer beruflichen Existenz. Beide sind 1781, als die Tagebuchführung aussetzt, erfolgreich abgeschlossen. Nach seiner Heirat gibt Leisewitz die Suche nach einer anderen Beschäftigung außerhalb Braunschweigs, die in den Tagebüchern einen breiten Raum einnimmt, endgültig auf. Dagegen resümierte er noch 1780 seine Situation im Tagebuch: Alles drängte auf mich zu: meine Liebe, das fehlgeschlagne Proiect, mein Verdruß von gestern, meine Vermögens Umstände, meine Kränklichkeit. Es muß nur ein ganz kleiner Rest von Übeln in der Hölle zurückgeblieben seyn, die übrigen waren alle zwischen meinen Vorhängen. 5
Abschließend heißt es: »Ich haße Braunschweig und meine Bedienung unaussprechlich!«6 1785 stellt er dagegen fest: Vorzüglich halte ich Braunschweig nicht mehr vor ein Jammerthal und meinen Aufenthalt hier nicht mehr vor ein Exilium. Der ehrenvolle Auftrag den Erbprinzen zu unterrichten hat diese Revolution nicht bewirket, sondern vollendet. Den ersten Grund zu derselben legte bey meinem Aufenthalte in Hannover eine gewisse Unzufriedenheit mit verschiedenen Leuten und besonders der Umstand, daß mich das Braunschweigische Publicum mit immer wachsender Achtung be-
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Tagebücher II. S. 155f. Tagebücher I. S.190. Tagebücher I. S.191.
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gegnete. Der Umstand, daß mich die verwittwete Herzoginn zur Tafel zog, that das Seinige. 7
Ganz anders lautete dagegen die Bilanz des Jahres 1780: Also wieder ein Jahr, das mit Recht das proiectvolle heißen könte und mich doch gelaßen hat, wie ich war. Das künftige soll mich, wie ich hoffe, weiter bringen, da ich meine ietzigen Entwürfe nicht auf Menschen und Dinge außer mir, sondern auf mich selbst gründe. 8
So wird das Tagebuch über Jahre zur Vermittlungsinstanz zwischen Selbstentwurf und Realität, indem es das Leiden an der erfahrenen Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit benennt und damit zu überwinden versucht. Die mangelnde gesellschaftliche Etablierung, die erst mit der Heirat und der Aufwertung seines Amts erreicht wird, weist ihm in den Jahren davor eine Sonderrolle zu, die nach Selbstdefiniton durch Selbstkommunikation drängt. Wer und was er selbst ist, erfährt Leisewitz nicht oder nur unzureichend in sozialer Interaktion mit der großen, intellektuellen Gemeinschaft Braunschweigs und Wolfenbüttels, der er angehört, sondern erst in der diarischen Selbsterfindung. In dem Maße, wie seiner gesellschaftlichen Selbstrepräsentation Grenzen gesetzt werden, steigt die Notwendigkeit des Selbstentwurfs und der Selbstanalyse in der täglichen Tagebuchführung. Im Tagebuchtext entsteht und erfährt sich ein anderes, komplexes und differenziertes Selbst, das in der Realität reduziert und begrenzt erscheint. Der eingeschränkten Existenz in der Gesellschaft steht die virtuelle Existenz des Tagebuchs gegenüber. Sie ist ihr Widerpart, der ihre Grenzen ignoriert und die umfassenden Rechte des Individuums behauptet, d. h. der Schreiber realisiert sich selbst im Schreiben und kann sich nur im Schreiben realisieren. Daher wird die Tagebuchführung zur zentralen Aufgabe, zum entschiedensten Engagement, zum eigentlichen Leben. Das Tagebuch bildet sein genaues Archiv, in dem sich der Schreiber in seiner ganzen Komplexität erfährt, die die Realität reduziert und unterdrückt, in Teilen tabuisiert und aus dem öffentlichen Diskurs ausgrenzt. Es wird zum Ort der Selbstbewahrung und -behauptung, das die gesellschaftliche Einschränkung des Individuums rückgängig machen soll, indem es den ganzen Menschen, Körper und Seele, bewahrt. Nur im Schreiben kann er sich ganz mitteilen, ist seine ganze Person aufgehoben. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, daß Leisewitz die autobiographische Auseinandersetzung zu seiner zentralen Beschäftigung in diesem Zeitraum erhebt und mit verschiedenen Gattungen der Autobiographie experimentiert. Am ersten Dezember 1779 notiert er in Geheimschrift in sein Tagebuch: »Ich hatte heute sehr lebhaft den Einfall [meinen Lebens Lauf oder Mémoires a la Montagne mit einer ganz unglaublichen Offenherzigkeit zu schreiben.] Das beschäftigte mich noch sehr, als ich zu Hause kam.«9 An anderer Stelle schreibt er:
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Tagebücher II. S. 166. Tagebücher II. S.118. Tagebücher I. S. 120. Der in eckigen Klammern gesetzte Text bezeichnet den hier aufgelösten Geheimschrifttext.
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Ich dachte heute wider darauf, Memoirs de Mr Leisewitz und etwas Comisches in Ciceros Geschmack zu schreiben. Zu den ersten gab wohl Diderots Vie de Seneque Anlaß, das mir der Prinz August geschickt hatte. [...] Wie ich heute Morgen die erste Hälfte des Augusts in meinem Tage Buche laß, so fiel mir ein, was mir sonst schon eingefallen ist, Commentarien über mich selbst zu schreiben; ich ward hitzig darauf, schrieb doch aber erst A. 4 S.7 zu Ende, machte mich aber denn dabey und schrieb etwas, das allenfalls das erste Capitel heißen kan. Ich brachte mit diesen Dingen bis um 1 zu. 10
Mit Begeisterung liest Leisewitz Hippels »Lebensläufe in aufsteigender Linie«: Ich [...] that [...] den ganzen Morgen sehr wenig, als daß ich in den Lebensläufen in aufsteigender Linie laß. Sie haben schon ziemliche Zeit auf meinem Schreib Tische gelegen, ich habe oft darin geblättert, aber meine Stunde war noch nicht kommen. Heute fing ich von vorne an, und es gefiel mir vortreflich. 11
Nicht von ungefähr wird der Autobiograph Leisewitz sogar für den Autor der anonym erschienenen »Lebensläufe« gehalten: »[Ich] ging auf meines Schwagers Comtoir und fand einen Reichs Postreuter, der mir erzählte, daß ich der Verfaßer der Lebensläufe in aufsteigender Linie und ein loser Vogel qu. sey«.12 Leisewitz' Tagebuch dient nach innen der Behauptung unerfüllter Ichentwürfe, nach außen der Selbstdarstellung im Freundeskreis. Deshalb liest er verschiedentlich bei Freunden aus seinem Tagebuch vor und praktiziert damit die ihm einzig mögliche Form gesellschaftlicher Selbstrepräsentation. Gegenüber seinem Freund Gotter kommt er »sehr in den Vorlese Enthusiasmus und spendirt sogar die Haßelfeldische Geschichte aus [seinem] Tage Buche.«13 Trotz seiner Verpflichtung, über den Vorfall zu schweigen, erzählt er diese Begebenheit mehrfach zur allgemeinen Unterhaltung. Daß es sich dabei um das einzige romanhafte Abenteuer aus Leisewitz' Tagebuch handelt, bei dem er die Bekanntschaft eines auf der Flucht nach einem Duell befindlichen Adeligen macht, belegt die Bedeutung des Tagebuchs für seine Außendarstellung innerhalb des Freundeskreises. Leisewitz registriert im Tagebuch mit Genugtuung die Wirkung seiner Erzählung: »Weil ich den Nahmen nicht nannte, glaubte ich meine Haßelfeldische Geschichte erzählen zu können. Es war nicht meine deutliche Absicht, aber ich bemerkte, daß ich dadurch der ganzen Gesellschaft ungemein gefiel.«14 Solche Gelegenheiten, sich in der Gemeinschaft in Szene zu setzen, bleiben allerdings die Ausnahme. Spätestens seit Lavaters Tagebuchpublikationen hatte sich innerhalb der Gemeinschaft der Gebildeten ein Diskursmuster ausgebildet, am Beispiel von Tagebüchern über sich selbst zu kommunizieren. Nicht nur die Lektüre und Diskussion von Tagebüchern, allen voran die von Lavater, wird zur Pflicht innerhalb der vertrauten Kommunikationsgemeinschaft, sondern die Veröffentlichung des eigenen Tagebuchs in der Gemeinschaft wird zum Mittel der Selbstdarstellung wie zum gemeinschaftsstiftenden Ereignis für
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Tagebücher "Tagebücher 12 Tagebücher 13 Tagebücher 14 Tagebücher
II. S.50. I. S.77. I. S.65. II. S.57. II. S.14.
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den Freundeskreis. So entschlüsselt Leisewitz für Freunde die Geheimschrift aus Lavaters Tagebüchern: Klockenbring hatte mich in dem eben gedachten Billette um Dechifrirung einiger Stellen in Lavaters Tagebuche gebeten. Ich brachte beynahe den ganzen Morgen damit zu, bis Veithusen und Klockenbring selbst kamen, ich schrieb in ihrer Gegenwart das behufige Billet fertig und übergab es Klockenbringen brevi manu. 15
Bei Jerusalem stellt Leisewitz dem braunschweigischen Freundeskreis sein Tagebuch vor und reflektiert die Bedeutung der Gattung mit den Gleichgesinnten: »Viel von Tagebüchern und besonders von meinem«, 16 notiert er dazu resümierend in sein Tagebuch und einige Sätze später teilt er darüber hinaus noch eine kurze Anmerkung Jerusalems zum Tagebuch mit: »Ich machte heute einen dummen Streich man soll, wie heute Jerusalem sagte, auch seine dummen Streiche ins Tagebuch schreiben - , ich bot nemlich der Rautenbergen an mit mir nach Hannover zu reisen.«17 Tagebücher funktionieren im Kontext eines begrenzten Freundschaftskreises als Medium der Selbstexplikation und als Instrumentarium der Rollenzuweisung und Standortbestimmung innerhalb einer sich konstituierenden, offenen, von äußeren Zugangsbeschränkungen freien Gesellschaft. Kritische Stimmen zur allgemeinen Praxis der Tagebuchführung, wie sie Leisewitz für wichtig genug befindet, in seinem Tagebuch festzuhalten, belegen daher am Ende noch einmal seine zentrale individualitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion: Heute Abend sagte der Alte [Konrad Arnold Schmid] von ungefehr, die Leute, die Tagebücher wie z. E. Lavater hielten, kämen ihn vor, als wenn sie ihre Excremente durchsuchten. Die ganze Gesellschaft lachte, weil sie wußte, daß ich es thue. Der Alte wollte es lange nicht glauben und fragte mich endlich, ob das auch hinein käme. Und doch hätte ich es bald vergeßen! 18
An dieser Notiz ist mehreres bemerkenswert: Nicht nur, daß Leisewitz hier unter der Hand zugibt, seine »Excremente« zu durchsuchen. Gleichzeitig teilt sich die Gesellschaft hier in Eingeweihte und (einen) Unwissenden, so daß Leisewitz am Ende die Lacher auf seiner Seite hat. Und zuletzt scheint es Schmid nicht gleichgültig zu sein, ob seine unbedacht kritische Äußerung in Leisewitz' Tagebuch dokumentiert wird. Diese kurze Szene stellt auf jeden Fall Leisewitz ins Zentrum der Gesellschaft und weist seiner Person durch seine Tagebuchführung eine nicht unerhebliche Bedeutung zu.
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Tagebücher I. S.42. Tagebücher II. S.127. 17 Ebenda. 18 Tagebücher I. S.201. 16
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1.1 »Leben von Tag zu Tag« Seitdem das eigene Leben nicht mehr als Teil einer höheren Ordnung interpretiert wird, liegt es in der eigenen Verantwortung des einzelnen. Mit dem Verlust eschatologischer Hoffnungen wird der einzelne auf sein jeweils begrenztes eigenes Leben verwiesen. Das Bewußtsein von der eigenen unverwechselbaren Geschichte tritt an die Stelle normativer Biographiemodelle. Leben als Ablauf begrenzter Lebenszeit verlangt im Bewußtsein nach Organisation, Struktur und Ordnung. Der Begriff, der am umfassendsten diesen Erfordernissen nachkommt, ist der der Geschichte. Als individuell unverwechselbare Lebensgeschichte wird sie seit dem späten 18. Jahrhundert zur unangefochtenen Metapher der Selbstwahrnehmung und -beschreibung. Dabei impliziert das individuelle Geschichtsbewußtsein den Begriff der Entwicklung. Mit ihm werden nicht nur kulturelle Eckdaten individueller Biographie vorgegeben, sondern zugleich spezifische Muster der Selbstwahrnehmung und -beschreibung virulent. Dem entspricht die Selbsterfahrung des einzelnen als geschichtliches Wesen mit einer ihm unverwechselbar zurechenbaren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Was aber individualgeschichtlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heißt und bedeutet, kann erst durch den einzelnen in einem nie endenden Prozeß der Selbstbeschreibung und -interpretation hergestellt werden. Die Aufgabe der individuellen Selbstkonstitution nach dem Diskursmuster der eigenen Entwicklungsgeschichte operiert mit den Wahrnehmungsmustern Erinnern, Analysieren und Projizieren. Anders als die Autobiographie oder die Memoiren, die als nachträgliche individualgeschichtliche Sinnstiftung eine zeitlich begrenzte, einmalige Selbstkonstitution darstellen, erfüllt das Tagebuch alle Anforderungen einer unausgesetzten autobiographischen Selbsterfindung. Das Tagebuch wird, aus der religiösen Bindung entlassen, zur Chronik einer anderen Geschichte, zum Archiv des unausgesetzten Prozesses tagtäglicher Selbsterfindung im Koordinatensystem von individueller Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftskonstitution. Dem eigenen Leben nachträglich einen Sinn zu applizieren, wie es die Autobiographie tut, kann dem Tagebuch nicht genügen. Es korrespondiert vielmehr mit einem gesteigerten individuellen Zeit- bzw. Geschichtsbewußtsein, das sich der Aufgabe der Memoria im Spannungsfeld von Selbstentwurf und Selbsterfahrung stellt. Im Tagebuchschreiben konstituiert sich das selbstbewußte Individuum nicht einmalig wie in der Autobiographie, sondern tagtäglich in seinem ständigen Wandlungsprozeß. Programmatisch hält daher Leisewitz in seinem Tagebuch mit dem Überlegenheitsgestus selbstbewußter Persönlichkeit fest: »Leßing kan es gar nicht vergeßen, daß ich einmahl zu ihm sagte, es käme mir vor, als wenn man als ein Schwein in die Welt hinein lebte, wenn man kein Tage Buch hielte.«19
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Tagebücher I. S.107. 249
Leisewitz' Arbeit der tagtäglichen diarischen Selbstkonstitution liest sich denn auch wie die endlose Ausdehnung von Zeit, das minutiöse Archiv des immergleichen Alltäglichen. So monoton die einzelnen Tage zwischen Aufstehen, Lektüre, literarischen Arbeiten, Amtsgeschäften, Korrespondenz, Besuchen und Geselligkeit, Krankheiten, Bemerkungen zu seiner materiellen Lage, seinen Heiratsabsichten und Berufsprojekten verlaufen, liefern sie doch den Stoff für das tägliche Archiv. Eine der knappsten Tageseintragungen stammt von Mittwoch, dem 9. Februar 1780: »Nach Tische auf der Meße und nachher bey dem Hofgerichts-Assessor Hartken. Wir sind wieder recht gute Freunde. Von da zu Schmids, wo Leßing und Eschenburg waren. Der letzte und ich aßen da. Wir waren ziemlich lustig. Leßing ist sehr übel.«20 Aber auch die längeren Tageseintragungen heben sich nur selten aus dem Einerlei der täglichen Verrichtungen heraus. Einziger Höhepunkt innerhalb dieser drei Jahre Tagebuchführung, der den Autor aus dem Gleichklang der Tage herausführt, ist seine Reise nach Weimar und Gotha und ihre längere Vorbereitungsphase. Deshalb denkt Leisewitz vor seiner ursprünglich zweiten geplanten Reise nach Meinigen sogar daran, seine Tagebuchführung zu intensivieren: »Mein Tagebuch soll noch genauer geführt werden als gewöhnlich, einmahl à la Uffenbach, 21 ich will Minutes in meine Schreib Tafel nehmen.« 22 Daran wird deutlich, daß dieses Tagebuch ausschließlich eine Funktion für seinen eigenen Schreiber und seine Partnerin, partiell für einige wenige vertraute Freunde, erfüllt und nicht für ein allgemeines Lesepublikum verfaßt ist. Als Tagesbilanz ähnelt es zunächst kaufmännischen Rechnungsbüchern und ist ganz in diesem Sinne als Rechenschaftsbericht über die ökonomische Nutzung von überschaubarer Lebenszeit dem einen Tag verpflichtet. Unter dem dominanten Aspekt der Entwicklung wird nach Erfolgs- und Mißerfolgskriterien über den Stand von Arbeitsprojekten und Lebensentwürfen abgerechnet. Verzögerungen und Hemmnisse oder gar ihr Scheitern werden registriert und partiell auf mögliche Ursachen hin untersucht. Am idealen Selbstbild wird das tatsächliche Vermögen, die Tagesleistung, gemessen und bewertet, der Selbstentwurf korrigiert oder revidiert. Es wird nach einem Optimum an ökonomischer Tageseinteilung gesucht, die eine größtmögliche Effizienz der individuellen Kräftenutzung gewährleistet. Ironisch charakterisiert Leisewitz dieses diarische Programm angestrengter Selbstvorschriften: Der vorige Monat ist in Absicht des Arbeitens und der Diät nicht der glorreichste gewesen; ich faßte heute von neuen vortrefliche Entschließungen. Mir deucht, ich habe mehr wie die meisten andern Menschen die Grille bey merklichen Zeit Abschnitten gute Vorsätze zu faßen und auch wohl bis dahin aufzuschieben. Ich erinnre mir dergleichen schon aus meiner ersten Kindheit: schon in meinen 7.Jahre wollte ich die Sache bis Neuiahr so hingehen la-
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Tagebücher I. S. 146. Gemeint ist vermutlich Zacharias Konrad von Uffenbach (1638-1734), der zusammen mit seinem Bruder Johann Friedrich ein ausführliches Tagebuch ihrer Reisen durch Norddeutschland, die Niederlande und England führte: »Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und England. 3 Theile. Mit Kupfern. Frankfurt und Leipzig 1753«. Tagebücher I. S.242.
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Ben, aber alsdenn wie Don Quixotte in meiner Moral ausziehen, allem Unrechte wehren und alle Ungeheuer erlegen. Man ficht oft mit moralischen Windmühlen. 23
So steht in den Jahren 1779-1781 der Erfüllung der ungeliebten Amtspflichten immer wieder die eigene literarische Produktion gegenüber: »Mein Gewißen ward gestern auf eine unangenehme Art im Schlafe gestört; ich beschloß fest, mehr Amtsgeschäfte zu treiben, zumahl alles wegen einer gewißen wichtigen Sache auf mich wartet. Ich arbeitete bis 10 so treu, als wenn ich nicht für 4t Verstand für mich selbst hätte.«24 Über den Fortschritt seiner literarischen Projekte urteilt er an anderer Stelle: Ich stand heute um 6 auf, war aber zu zerstreut, um an meiner Comödie zu arbeiten. Überhaupt geht es mir mit dieser Arbeit jetzt sehr sonderbar. Ich bin seit einiger Zeit wirklich zu glücklich damit gewesen, ich habe daher einen gewißen Eifer, der aus Überwindung der Schwierigkeiten entsteht, verlohren; gewiße Leetüren haben den bemerkten Einfluß gehabt, meine Gabe etwas leicht überdrüßig zu werden nicht zu vergeßen. 25
Psychohygiene als Balance zwischen Lust und Unlust, die Regelung und Kontrolle der Affekte, Vermeidungsstrategien gegenüber dem hypochondrischen Symptom betreibt das Tagebuch darüber hinaus durch permanente Verhaltensvorschriften. Gegen die »Braunschweigische Langeweile«26 und sein Alleinsein, das hypochondrische Zustände hervorruft, verordnet er sich selbst einen nachmittäglichen Visitenplan: »Unter durch machte ich auch Verordnungen gegen das nachmittägliche Zu Hause Sitzen, und weil ich oft verlegen bin, wo ich hingehen soll, will ich eine Art von Visiten Zettel auf die ganze Woche voraus machen«.27 Zwei Tage später muß er konstatieren: Mit meinem Visiten Zettel gerieth es schon heute in ziemliche Unordnung, weil ich versäumt hatte mich bey dem Secretair Wilmerding melden zu laßen, ich ging also nach Tische zu Schmids, wo ich einen Herrn Seebode, einen artigen, geschickten, vernünftigen, enuyanten Mann antraf.28
Etwa einen Monat später greift er diesen Gedanken wieder auf: »Es ist [...] nicht zu leugnen, daß meine Übel mit von meiner Lebensart herkommen. Das verdammte Zuhause Sitzen! und doch bin ich zuweilen nicht im Stande auszugehen.«29 Minutiös dokumentiert das Tagebuch auch Leisewitz' Anstrengung, seine berufliche Situation zu verändern. Nicht zuletzt spekuliert er nach Lessings Tod kurzfristig und ohne Erfolg auf dessen Amtsnachfolge. Von der ersten vorsichtigen Idee,
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Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher
I. S.72. I. S.78. II. S.69. I. S.158. I. S.140. I. S.141. I. S.170. 251
sich in Meiningen um ein Amt zu bemühen, bis zum Scheitern dieses Projekts dokumentiert das Tagebuch über mehrere Monate die Entwicklung dieses Vorhabens in allen seinen einzelnen Phasen. Das Tagebuch zeichnet die Konkretisierung des Plans bis zum brieflichen Gesuch und der projektierten Reise, die vor den Toren Meiningens abgebrochen wird, aufs genaueste nach und zeigt die verschiedenen kognitiven Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien dieses emotional hochbesetzten Selbstentwurfs zwischen enthusiastischer Hoffnung, kalter Ernüchterung, Resignation und Verzichtleistung. Immer wieder verzeichnet das Tagebuch über Wochen die gespannte Erwartungshaltung anläßlich der »Meininger Posttage« und die Verarbeitungsleistung nach der Enttäuschung über das Ausbleiben einer Antwort. Am 31. Mai versucht Leisewitz sich im Schreiben über die Stagnation seiner Pläne zu beruhigen: Ich bin jetzt wegen Meiningen so ruhig, als ich nur immer seyn kan, baue unterdeßen selbst darauf, daß ich keine Briefe habe, eine neue Hofnung. Der Herzog will mir Dienste anbieten, sich aber vorher in Hannover und Braunschweig nach mir erkundigen. Es wäre unbillig ihm das zu verdenken. 3 0
Zwei Tage später versagt diese Beruhigungsstrategie: Meine Reise, wovon ich auch heute viel gesprochen habe, beschäftigte mich sehr. Ich habe eigentlich keine große Lust dazu, und am E n d e fiel es mir ein, ob es nicht beßer sey, gar nicht nach Leipzig und Dresden, sondern grade über Gotha nach Meiningen zu gehen. Mein Verlangen nach Briefen daher ward ordentlich wieder ängstlich. 31
Das Tagebuch wird so zum Dokument der Widerstände der Realität gegen einen lebensgeschichtlichen Selbstentwurf unter der Prämisse des Entwicklungsbegriffs. Mit seltener Selbstironie zieht Leisewitz diese negative Bilanz an seinem Geburtstag, dem 9. Mai 1780: Wieder ein Jahr von meinem Leben hin, ohne daß ich in dieser Leichen Predigt viel von ihm zu rühmen wüßte. Ohne M.S., ohne Gesundheit, ohne Zufriedenheit! Pfui, ich wollte für Alles in der Welt kein solches Jahr seyn! Zwar hat es mir die Aussicht nach Meiningen gegeben. Aber es fragt sich noch immer, ob es eine wahre Aussicht ist oder eine von den Hofnungen, Die wie die Katzen Vorne lecken, hinten kratzen, wie der alte Vers lautet. Wir müßen sehen, schlägt die Sache ein, so will ich mich auf das Maul schlagen, dem Jahre eine Ehrenerklärung thun, es soll ein wackers Jahr seyn, und der heilige Christ soll ihm ein Honigkuchen Pferd bringen. 32
An dieser Textpassage werden zwei Dinge deutlich: Zum einen definiert der Tagebuchschreiber hier seinen Zeitbegriff als einen individualgeschichtlichen. Zeit
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Tagebücher I. S.209. Zum ersten Mal hält Leisewitz die Idee, nach Meinigen zu gehen, am 13.1.1780 fest: »[Meiningen] beschäftigte mich wieder sehr. Der Plan ist aber dahin geändert, daß [mir der Herzog keine Geschäfte, aber eine Pension gibt] ist auch nicht übel.« Tagebücher I. S. 135. Tagebücher I. S.197f.
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bedeutet dem Schreiber ausschließlich individuelle Lebenszeit, gemessen in Lebensjahren und biographisch bedeutsamen Daten, ihr Bewertungskriterium ist das Entwicklungsprinzip. Zum anderen wird Zeit, personifiziert im angesprochenen Jahr, zum alles dominierenden Prinzip der Selbsterfahrung, zum neuen Deus ex machina, von dem der einzelne einzig und vollständig abhängt. Die unaufhebbare Bindung an die eigene Lebenszeit verbunden mit dem Entwicklungspostulat wird zum Leiden an ihrem Ablauf, deren Ausdruck die »Leichen-Predigt« als Erfahrung eines reinen Verlustes von individueller Lebenszeit ist. Vergangene Zeit, das letzte Lebensjahr, weist hier nicht in die Gegenwart und Zukunft, sondern wird klagend zu Grabe getragen, ein Verlust ohne Gewinn. 1.2 Lange-Weile: Der Gott der Zeit Zeit wird unter der Perspektive endlicher Lebenszeit zur dominierenden Kategorie und zum Maßstab von (Selbst-)Erfahrung. Sie ist nicht mehr bloße Dauer, sondern erscheint in vielerlei Gesichtern, als ökonomisch genutzte Zeit, als vertane oder als erfüllte Zeit. Ebenso breit wie das Spektrum der Zeitwertung ist das des Zeiterlebens von der verfliegenden Zeit bis zur Langeweile. Das Tagebuch ist ihr Archiv, wird zum Speicher und Maßstab von Zeit, indem es Zeit aufzeichnet, gliedert, ordnet, wertet. Jean Starobinski hat in einem Aufsatz über die »Tages-Ordnung« auf diesen Sachverhalt hingewiesen: Das Industriezeitalter kongruiert - und zwar schon zur Zeit seiner ersten Vorläufer - dann voll im Augenblick seines ersten Aufblühens - in bezeichnender Weise mit einer Literatur des Tagesablaufs. Daher die zunehmende Bedeutung der Reflexion über die Nutzung der Zeit in der moralischen, pädagogischen und politisch-sozialen Literatur.33
Das Tagebuch ist im Gegensatz zu allen anderen literarischen Formen in der Lage, ein genaues Abbild der Zeit zu liefern. Es dehnt sich gleichmäßig mit dem Ablauf der Zeit aus, ist von Tag zu Tag an sie gekettet, ist ihr Sklave. Daher rührt die ermüdende Monotonie des Immergleichen, der Wiederholung, das scheinbare Stillstehen der Zeit bei der Lektüre. Dem entspricht die subjektive Zeiterfahrung der longue durée, der Langeweile seines Schreibers. Im Schreiben versucht er gegen sie anzukämpfen, seine subjektive Lebenszeit zu ordnen und mit Sinn aufzuladen. Nachdem Leisewitz seine Tagebuchführung eingestellt hat, konstatiert er: »Mein Leben ist jetzt noch einförmiger als sonst«.34 Auch während der Jahre seiner Tagebuchführung klagt er immer wieder über sein spezifisches Zeiterleben, die Langeweile, die er aufs engste mit seiner unbefriedigenden Braunschweiger Situation verknüpft sieht. Selten bringt Leisewitz dies mit selbstironischem Unterton zum Ausdruck wie am 7. September 1779:
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Jean Starobinski: Die Tages-Ordnung. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. (Poetik und Hermeneutik XII). München 1987. S.442. Tagebücher II. S.155.
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Ich hielt heute mit meiner lieben Seele ein vertrauliches Gespräch und filzete sie tüchtig aus. Weder in Amts Geschäften noch in litterarischen Arbeiten geschieht etwas von Bedeutung, selbst mein Tage Buch interreßirt mich wenig, es ist mir so fortgelaufen wie die Tage selbst. Die liebe Seele gähnte. 35
Im Tagebuch versucht Leisewitz gegen das gleichmäßige Verrinnen von Zeit anzuschreiben, die Lange-Weile zu überwinden. Zweier unterschiedlicher Strategien bedient sich der Tagebuchschreiber bei diesem Projekt: Die eine besteht im Markieren von individuell bedeutsamen Ereignissen und Daten im gleichförmigen Zeitablauf; die andere im Wiederlesen des Tagebuchs, der Selbstlektüre als Suche nach Bewegung in einem scheinbar unveränderlichen zeitlichen Kontinuum. Wie vor ihm Lavater und Elisa von Recke hebt Leisewitz einzelne Daten aus dem monotonen Ablauf seines Lebens heraus und kennzeichnet sie als bedeutsame Eckdaten seiner Biographie: Zu dem Ende will ich den heutigen Tag - ist der l i t e April - zum Andenken dieses Proiectes [Meiningen] zu einen Festtage machen; die Zeit wird lehren, ob es ein rührendes oder ein lächerliches Fest - wie etwa das Narren Fest - werden wird. Gott sey Dank, daß es nichts schlimmers werden kan! Bey dieser Gelegenheit will ich doch alle Feste, wie sie jetzt in der Leisewitzischen Kirche gefeyert werden, hersetzen: die drei Feste der Liebe, der Iste Junius,36 der Iste December, der Iste Januar, außerdem der l i t e April und das Gedächtniß meines Verlangens nach Universitäten zu gehen, welches mir auf Schulen manchen angenehmen Traum machte. Es fällt auf den ersten Ostertag, ist 1769, also in den frühesten Zeiten der Kirche, eingesetzt, wird aber nicht immer gehörig gefeyert, wie auch dies Jahr nicht geschehen ist. 37
Wie die Kirche mit ihrem festen Bestand von Festtagen ihren Gott verehrt, so huldigt der Tagebuchschreiber durch die veränderliche, entwicklungsfähige Zahl seiner individuellen Festtage sich selbst in seiner eigenen Lebensgeschichte und damit seiner Lebenszeit. Sie wird zum neuen Gott des endlichen Individuums, seinem höchsten und bedeutendsten Besitz, den es zu nutzen und zu gestalten gilt. Wenn Leisewitz den Namen seiner Braut am 21. Juni 1779 als Zeichen in einen Stein ritzt und in kontinuierlichen Abständen immer wieder nach diesem Stein in der Natur sucht, so versucht er damit, an älteste Formen der Zeichensetzung anknüpfend, sich selbst und seiner Liebe in der Zeit Dauer zu verleihen: »Ich dachte viel an Thaer und schrieb M. S. Nahmen mit einem Steine auf einen Stein und hoffte ihn wieder zu finden. Wenn ich nicht sehr irre, so ist dieses die erste romanhafte Thorheit, die ich in mein Tagebuch einschreibe, und wenn ich nicht zum zweytenmahle irre, so ist das seit dem lsten Januar ganz billig.«38 Am 26. Oktober findet er sich wieder an diesem bedeutsamen Ort ein: »Auf einmahl fiel mir ein, daß ich nach dem Nußberge gehen
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Tagebücher I. S.86f. Der 1. Juni ist der Tag des ersten Kusses: »Ich feyerte heute das Fest des ersten Kußes mit aller gehörigen Andacht, auch um die wahre Stunde, Morgens zwischen 10 und 11.« Tagebücher I. S.210. Tagebücher I. S.179f. Tagebücher I. S.52.
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und den Stein sehen wollte, auf dem ich an 21sten Junius Sophiens Nahmen schrieb; ich ging hin, fand zu meinem großen Vergnügen den Stein und schrieb auch das heutige Datum darauf.«39 Am 9. Februar 1780 sucht er zum letzten Mal diese Stätte der magischen Vergegenwärtigung auf: »[...] so beschloß ich nach dem Nußberge zu gehen. [...] Den Stein mit M. S. Nahmen konnte ich nicht widerfinden, und vieleicht hat die Winter Näße die Schrift ausgelöschet.«40 Wie entscheidend das individuelle Zeitbewußtsein und -erleben für Leisewitz wird, dessen genaues Archiv das Tagebuch ist, macht sein Prinzip der ständigen Konfrontation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deutlich. So markiert er sich einen beliebigen Tag im noch leeren Tagebuchheft als Vergleichspunkt. Die Zukunftsprojektion der aktuellen Gegenwart soll, nach Ablauf der Zeit nun Gegenwart geworden, mit dem von der Zeit überholten Zukunftsentwurf, der nun der Vergangenheit angehört, konfrontiert werden: Ehe ich weiter gehe, muß ich die Falte hier auf der Seite commentiren. Es steckt mehr dahinter als eine Falte und als man glauben sollte. Als ich diesen Band dieses Tage Buches anfing, so war ich grade wegen Meinigen in der heißesten Periode, im Julius der Hofnung, ich schlug also das Blatt ein und wollte mich des Tages erinnern und damit vergleichen, wie weit denn die Sache wäre, wenn ich auf dies Blatt käme, und siehe, es ist alles noch grade wie den 18ten April. Ich bin jetzt sehr gleichgültig darüber.41
Wie die unausgesetzte Chronik des Ablaufs von Zeit im Tagebuchschreiben individuelles Leben als bedeutsames konstituiert, so vergegenwärtigt die Lektüre des eigenen Tagebuchtextes diesen Prozeß des Abiaufens von Lebenszeit. Leisewitz revidiert sein Tagebuch nicht nur am Ende jeden Jahres, sondern gelegentlich auch nach Ablauf eines Monats. Diese Tätigkeit der Revision des Tagebuchs haben Mack und Lochner genau dokumentiert: Nachdem Leisewitz vom 12. bis zum 28. Dezember 1779 die Eintragungen des laufenden Jahres >revidiert< hat, liest er vom März bis Oktober 1780 die Aufzeichnungen von Februar bis Mitte Oktober, jedesmal um die Monatswende den verflossenen Monat vornehmend; dann liest er vom 22. bis 26. November die Eintragungen von Januar bis April des Jahres abermals und macht sich dabei Auszüge, beginnt aber, ab 22. Dezember bekennend, daß er nicht wisse, wie weit er mit seiner >Revision< gekommen sei, am 29. Dezember die Arbeit von neuem und setzt sie bis zum 11. Februar 1781 fort, an dem er mit dem August 1780 fertig wird. Indessen hat er, was ausdrücklich betont sei, bei diesen Revisionen, von der gelegentlichen Verbesserung von Schreibfehlern abgesehen, den ursprünglichen Text unangetastet gelassen und etwaige Bemängelungen und Berichtigungen nur in - übrigens sehr spärlichen - Randbemerkungen niedergelegt. 42
Darüber hinaus liest er in unregelmäßigen Abständen immer wieder in seinen alten Tagebüchern. Am 22. November 1780 notiert er: »Ich war heute Morgen ungemein aufgeräumt [...] Ich konte dem Vergnügen nicht widerstehen, das ich mir aus der
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Tagebücher I. S. 106. Tagebücher I.S. 214. Tagebücherl. S.206. Tagebücher I.S. VI.
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Lecture meines Tagebuches von diesem Jahre versprach, ich laß also den Januar durch und machte die gehörigen Auszüge.«43 Erst im Lesen der eigenen Chronik von Tag zu Tag, in der der Ablauf von Lebenszeit konserviert erscheint, findet die eigentliche Arbeit der Sinn- und Bedeutungsstiftung für das eigene Leben statt. Im Lesen der Selbstchronik erfährt sich der Leser als historisches, wandelbares Individuum. Hier findet er das Material für den Entwurf seiner eigenen Entwicklungsgeschichte, in der Konfrontation von historischem und aktuellem Ich kann dem bedrückenden Ablauf von Lebenszeit Sinn zugesprochen werden. Am 9.9.1772 notiert Leisewitz in sein Tagebuch: Mein 27ster Geburts=Tag. Ich laß heute in einem meiner alten Tage Bücher, was ich an diesem Tage 1772 geschrieben hatte, dachte der Veränderung nach, die in diesen 7 Jahren mit mir vorgegangen war: Ort, Vermögen, Beschäftigung, Bekante, Aussichten, Gesinnungen, Einsichten, alles ganz anders, und besonders der Umstand, der mir jetzt am nächsten Herzen liegt, den ich mir 1772 nicht als möglich vorstellte! Werde ich in 7 Jahren nicht beynahe eben das schreiben können, wenn ich noch schreiben kan? 44
Immer wieder stellt sich dieses Bedürfnis nach sinnstiftender lebensgeschichtlicher Konstruktion ein, wie Leisewitz' Tagebuch belegt. Unterschiedliche Zeitabschnitte faßt diese Konstruktionsarbeit zusammen und konstituiert damit immer wieder verschiedene, andere Ichgeschichten: »Endlich schrieb ich an meinen Rechnungen und Tagebuche bis 3/4 11. [...] Das Lesen der ersten Hälfte dieses Monates setzte mich [...] in einem höchst behaglichen GemüthsZustand.« 45 An anderer Stelle greift die Lektüre weiter zurück und steht wie häufig unter der Perspektive der Entwicklung der eigenen Krankheitsgeschichte: Wie gesagt, es war mehr Faulheit und Grille als Übelbefinden, daß ich zu Hause blieb. Die meiste Zeit war ich sogar bey guter Laune. Hierin setzte mich zuerst das Blättern in alten Göttingischen Tage Büchern und in Shandy. [...] Einen guten Theil dieser Zeit beschäftigte mich meine Gesundheit. Ich fand durch die alten Tage Bücher, daß ich damals nicht so schlimm gewesen wie diesesmal. 46
Nicht immer verläuft die Konfrontation mit dem historischen Selbst befriedigend ab. In diesem Falle gelingt es dem Leser seiner selbst nicht, ein sinnvolles, zielgerichtetes Selbstkonzept zu entwickeln: »Morgens hatte ich einen, iedoch leidlichen, Anfall von Hypochondrie, der sich äußerte, als ich eine sehr hypochondrische Periode in meinem Tagebuche durchging.«47
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Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher
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II. S. 105. I. S.35. I. S.240. I. S. 145. II. S. 121.
1.3
Körpergedächtnis - Traumgedächtnis
So setzt sich der Tagebuchschreiber aus vielen einzelnen, immer neuen Ichgeschichten zusammen. In seinem Tagebuch schreibt Leisewitz nicht nur an seiner sozialen (Beruf, Familiengründung) und psychologischen (Träume) Entwicklungsgeschichte, sondern auch an einer Geschichte des Körpers. Er wird im Tagebuch zu einem zentralen Gegenstand der Beobachtung, allerdings unter einer spezifischen Perspektive als Entwicklung seiner Krankheitsgeschichte. Körpererfahrung und -Wahrnehmung stehen bei Leisewitz ganz in der Tradition des in der Aufklärung virulenten medizinischen Körperbewußtseins von seinen Fehlern, Mängeln und Disfunktionen, dem Leiden an der Körperlichkeit. Leisewitz' Krankheit, seine Hypochondrie, auch ein Symptom seiner Langeweile, d. h. seiner mangelnden Zeitbeherrschung, dokumentiert das Tagebuch aufs genaueste in ihrem Verlauf von Tag zu Tag. Hier zeigt sich Leisewitz ganz der späten Aufklärung verhaftet. Nicht nur registriert er akribisch den ständigen Wechsel zwischen Ausbruchs- und Latenzzeiten des Symptoms, der sich zusammengenommen als Prozeß einer fortschreitenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes lesen läßt, sondern er versucht darüber hinaus, mit allen bekannten und unbekannten Mitteln der Diätetik seine Krankheit zu therapieren. Im Februar 1780 zieht er Bilanz über den Verlauf seiner Krankheitsgeschichte: Ich machte einen Plan zu den Curen dieses Sommers und mir den Vorwurf, daß ich bisher noch nicht ernsthaft genug auf meine Gesundheit gedacht hätte. Ich will Stahl nehmen, baden, reisen, des Nachmittags nie zu Hause seyn, auch des Morgens ausgehen, die Frühlings und Sommer Morgen auf dem Garten zubringen, keine Lecture mit Ernst und Ängstlichkeit treiben, gar keine Schriftsteller Arbeit vornehmen, alles gehen laßen, wie es will. 48
Ganz im Sinne von Gellerts und Kants Diätetik beobachtet Leisewitz seine Körperregungen und sucht sie durch das Einhalten von Diät unter seine Kontrolle zu bringen. Symptomatisch für diese Praxis ist eine Eintragung wie diese: Ich hatte Düsterheit des Kopfes, Hypochondrie, Nervenschwäche, Rückenschmerzen, allein von allen nur kurze Anfälle. Ich weiß nicht, ob die unruhige Nacht, die gegeßenen Erbsen, das viele Denken an meinen Zustand oder das Lesen in der Montague Briefen nach Tische Schuld daran war. In dieser Ungewißheit werde ich es alle zu vermeiden suchen. 49
Tatsächlich mutet Leisewitz seinem Körper Unerträgliches zu, zuletzt mit allen erdenklichen Therapien, mit denen er an seinem Körper experimentiert. So nimmt er eiskalte Bäder, trinkt Brunnenwasser mit Ziegenmilch oder Meerrettich mit Wein, 50 versucht es zuletzt mit einer Weinkur. Über sich selbst sagt er: »Ich bin ein wahrer Freygeist in der Medecin, abergläubisch und ungläubig zugleich.« 51
48 49 50 51
Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher
I. I. I. I.
S. 145. S. 16. S. 172. S. 17.
257
Dennoch ahnt Leisewitz die Ursachen seiner körperlichen Leiden, denen mit aller Diät nicht beizukommen ist. Bereits zu Beginn seines Tagebuchs reflektiert er: ein äußerst hypochondrischer Tag. [...] Auf dem Archive ward es mir mit einemmahle so warm in der Brust, und nachher warf ich etwas Blut aus. Ich habe seit einiger Zeit den Husten und bin überhaupt diesen ganzen Monat durch sehr elend gewesen. Einsamkeit und überhäufte Arbeit haben ihren Theil daran. 52
Auch an dem darauffolgenden Tag bessert sich sein Zustand nicht: »Ein höchst schwarzer, hypochondrischer Tag. [...] Aller Orten voll Schwermuth. Abends wieder einige Zeit bey meinem Schwager und ging 1/4 10 beynahe in Verzweifelung zu Bette. Mein Blut war sonderlich Abends in entsetzlicher Wallung.«53 Im Tagebuch wird der Körper zu einem unbestechlichen Gedächtnis des problematischen Ich, seiner unerfüllten Wünsche und verdrängten Ängste, die er in seiner Sprache dem Schreiber mitteilt. Seine Botschaften kreisen um die Themen Sexualität und Tod. Als Ausdruck unerfüllten Begehrens meldet sich der Körper in der nächtlichen Einsamkeit ebenso wie aus verdrängter Todesangst. Was das wache Bewußtsein aus seiner diskursiven Bearbeitung ausgrenzt, bringt der Körper auf seine Weise zur Sprache. Nur an einer Stelle spricht Leisewitz über diese beiden so zentralen wie problematischen Themen, bezeichnenderweise in fremder Sprache: Brief von M. S. Sad news, that poor maid is very sick, and i am in proportion of my unutterable love deiected and low spirited. What hindrances find our tenderness, which perhaps never can be surmounted! My own crazy constitution contributed to aggravate my sorrows. I have observed, that i fear death much more, since i love. - I answered M. S.'s letter and poured out a great deal of unfeeld comfort and fortitude. But what is left for me in the end? nothing but that stoic comfort: things are, as they are, and a pitiful Tu contra audentius ito. 54
Noch einmal vertraut er seinem Tagebuch sein unerfülltes Verlangen an, die Ursache seiner körperlichen Leiden, diesmal in seiner Geheimschrift: »[...] ich bemerkte eine Nerven Schwäche, wie ich sie lange nicht gefühlt hatte [In Bette beschäftigte mich Sophie mit derienigen kränklichen Lebhaftigheit, die mit der Nerven Schwäche so gerne verbunden ist; das stieß dem Faße den Boden völlig aus.]«55 Der Körper erinnert so immer wieder an das aus dem Bewußtsein Verdrängte und Ausgegrenzte. In Leisewitz' Tagebuch seiner Ich-Geschichten führt der Tod, der eigene wie der des anderen, im Gegensatz zu den Tagebüchern von Haller bis Lavater eine Randexistenz und bildet keinen Anlaß des memento mori mehr. Todesfälle in der Familie, seine Schwester verliert 1779 zwei Kinder, registriert er knapp und lapidar: »Ich bekam früh die Nachricht, daß meiner Schwester ihr kleines Mädchen Wilhelmine gestorben sey. Glücklicher Weise war ich in einer Laune, daß dieses nicht so viel
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Tagebücher I. S.8. Ebenda. Tagebücher I. S. 19. Tagebücher I. S.98.
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Eindruck auf mich machte, als es sonst wohl würde gethan haben.« 56 Zwei Wochen später stirbt der Bruder des Mädchens. Leisewitz, der seine eigene Gesundheit nach allen Regeln der Medizin beobachtete und zu fördern versuchte, vermerkt nicht einmal die Todesursache der Kinder: In Landschaftl. Sachen gearbeitet, woran mich ein Besuch in meines Schwagers Hause unterbrach, wo ich hinging, weil meiner Schwester ihr kleiner Junge Dieterich gestorben war. Es bekümmerte mich das sehr; die gute Faßung, worin ich meine Schwester fand, richtete] mich etwas wieder auf. 57
Diese Todesfälle bieten ihm, ebenso wie der Todestag des Vaters,58 keinen Anlaß zur Reflexion des Todesthemas mehr. Vielmehr äußert sich hier eine neue Berührungsangst gegenüber dem Tod, die mit Strategien der Unterdrückung von Trauer korrespondieren. Der Tod wird zu einem das normale Gleichgewicht des Alltags störenden Ereignis, zur Ausnahmesituation. In Leisewitz' Tagebuch wird der Tod aus dem Alltagsleben verdrängt. Die emotionale Betroffenheit, die er auslöst, wird als Störung des eigenen psychischen Gleichgewichts empfunden und zu unterdrükken versucht. Die Abwehr des Todes hat Konsequenzen. Als irrationale Todesangst in Gestalt des eigenen Körpererlebens kehrt er unkontrollierbar wieder. Während seiner hypochondrischen Anfälle durchlebt Leisewitz Todesängste: »Mein Husten ist seit gestern stärker - low spirited. Sterbens Gedanken!« 59 Todesphantasien bedrängen den Schreiber, der den Tod aus seinem wachen Bewußtsein erfolgreich verdrängt hat, in der Nacht: »Ich erwachte heute Nacht von meinen Leib Schmerzen und befand mich in dem entsetzlichsten Zustande. Ein naher Tod und die schwärzesten Ideen beschäftigten mich.«60 Nach diesem Verdrängungsprozeß hat der Tod Einzug ins Unbewußte gehalten. Wo er nicht über den Umweg der Körpersprache ins Bewußtsein dringt, wird er zum Gegenstand der Träume: Mir träumte Morgens, ich sey krank, und dieser Traum daurte, wenn ich nicht irre, drey Tage. Ich bemerkte die Abwechselungen des Fiebers, die Unruhe des Nachts, die Schwäche der Augen, indem ich lesen wollte und nicht konte, sehr lebhaft, auch bereitete ich mich zum Tode. 61
Leisewitz ist der erste Tagebuchschreiber, der seine Träume konsequent im Tagebuch verzeichnet. Zwischen Juni 1779 und April 1780 hält Leisewitz regelmäßig seine Träume im Tagebuch fest. Danach erlischt das Interesse am Traum. Anfang 1781 bemerkt er dazu:
56
Tagebücher I. S. 12. Tagebücher I. S. 15. 58 Am 5. Mai 1779 heißt es im Tagebuch: »Heute ist der Todes Tag meines Vaters!« Tagebücher I. S. 33. 59 Tagebücher I. S.9. 60 Tagebücher I.S. 168. 61 Tagebücherl. S. 87. 57
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Ich bin ganz davon abgekommen, meine Träume aufzuschreiben. Zum Theil kömt das daher, daß mir eine Zeit herdurch wenig geträumet hat, daß ich, weil es so selten kömmt, nicht genug darauf achte und daß ich auch oft an meinem Tagebuche sehr in der Eile geschrieben habe. 62
Ursprünglich ausgelöst wird die Beschäftigung mit den eigenen Träumen durch Therapieversuche seines hypochondrischen Symptoms. Die Träume werden so zum Abfallprodukt seiner Krankengeschichte. Nachdem Leisewitz während einer Molkekur begonnen hatte, seine Träume wahrzunehmen und im Tagebuch festzuhalten, notiert er: »Ich träume viel, beschloß diese Träume in mein Tage Buch einzutragen, träumte wieder von diesem Entschluße und hatte, wie ich aufstand, alles vergeßen.«63 Leisewitz thematisiert damit als erster in der Geschichte der Tagebuchkultur explizit das moderne Verständnis von einer mehrschichtigen Ich-Struktur mit bewußten und unbewußten Anteilen. Aus Gottes Einflußsphäre entlassen, wird der blinde Fleck, die Seele, zum Schauplatz des Unbewußten, zum Reich der Träume. Träume werden nun zu einem eigenständigen Bestandteil der komplexen Ich-Geschichten seines Autors. Vordergründig zielt Leisewitz' Tagebuch auch hier auf Selbst- und Bewußtseinskontrolle, mit der unerwünschte Inhalte des Bewußtseins aus dem wachen Diskurs ausgegrenzt werden sollen. Diese Form der Selbstzensur mit ihren Strategien des Ignorierens und Verleugnens spaltet das Individuum auf in einen bekannten, kommunikablen und einen unbekannten Teil. Der Traum wird zum Ausdruck des unbekannten Teils des eigenen Ich, der fremden Seele, die sich der Kontrolle und Kenntnis seines Besitzers entzieht, eine eigenständige Existenz führt und im Tagebuchtext partiell aufgeschlossen werden soll. In den Traumschilderungen des Tagebuchs äußert sich ein Individuum, das sich selbst fremd und unbegriffen bleibt: »Ich träumte heute Morgen, aber so wild, daß ich mir nichts mehr davon erinnre«.64 Leisewitz vergleicht daher seine Seele, die Produktionsstätte der Träume, mit dem Schauspiel als einem Ort einer fremden, unbekannten Handlung, der er selbst als Zuschauer beiwohnt. Einen seiner Tagträume kommentiert er: »Meine Seele ist doch ein vortrefflicher Guckkasten.« 65 An anderer Stelle heißt es: »Wie ich aber erst einmahl schlief, ging alles gut, nur Morgens, wie ich nach getrunkner Molke wieder einschlummerte, so träumte ich entsetzlich, alles im neuesten Dramatischen Geschmack ohne Einheit, Ordnung und Zusammenhang - kein Gedanke an den Aristoteles.«66 Im Traum revoltiert die Seele gegen die Ordnungsstruktur des wachen Bewußtseins und gibt ausschnitthaft den Blick in ihre Tiefendimensionen frei, ohne dem Zuschauer auf dem Schauplatz seiner selbst jedoch Parameter zum Verstehen des Geschehens an die Hand zu geben. Der Traum wird zur Hieroglyphe, zum Geheimnis des Ich, das ihn in Angst versetzt und dessen Entschlüsselung dem Träu-
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Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher Tagebücher
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II. S. 130. I. S.72. I. S.57. I. S.63. I. S.53.
m e n d e n nicht gelingt. I m T r a u m offenbart sich die Seele d e m T r ä u m e n d e n nicht, sondern verrätselt sich. Dies erfährt Leisewitz in e i n e m T r a u m über den Traum: Ich träumte beynahe die ganze Nacht, aber auf eine wirklich unbeschreibliche Art; ich konte etwas nicht begreifen, das ich begreifen sollte, und das nicht zu begreifen mir höchst ängstlich war. Das war ungefähr die Haupt Idee, die aber unter den dunkelsten und beynahe undenkbaren Hyroglyphen versteckt war. 6 7 E i n solcher Traum, d e r durch Verwirrung von Zeitstrukturen zum Ausdruck einer mit A n g s t besetzten, v e r b o t e n e n Wunscherfüllung angesichts seiner verhinderten Heiratsabsichten wird, vertraut Leisewitz in englischer S p r a c h e seinem Tagebuch an: A Dream. M.S. was brought to bed; i sat before that bed and was very glad on that event; soon i reminded, that we were not wedded, and my joy turned into sorrow. I totured my brains to invent an ingenious expedient to conceal that thing, and incarne in my mind a so foolish thought, that it is difficile to describe its madness. I thought in earnest to make things done undone, to annullate a piece of time, to return in the time past, to celebrate our marriage and then let follow that child, which was already born. 6 8 D e r T r a u m wird hier zum O r t der Wunscherfüllung, die e r in demselben M o m e n t als v e r b o t e n e rückgängig zu m a c h e n versucht. S o beziehen sich viele von Leisewitz' T r ä u m e n auf die E r l a n g u n g gesellschaftlicher A n e r k e n n u n g , die F l u c h t aus den eine n g e n d e n B r a u n s c h w e i g e r Verhältnissen 6 9 o d e r die Befriedigung sexuellen Verlang e n s . 7 0 A n d e r e übersteigern d a g e g e n r e a l e Ä n g s t e der gesellschaftlichen Bloßstellung o d e r der Entlassung aus landschaftlichen Diensten ins M o n s t r ö s e . S o läuft e r im T r a u m nackt durch die Stadt 7 1 o d e r phantasiert seine Verhaftung w e g e n eines F e h l e r s in seiner A m t s a u s ü b u n g : Mir träumte heute Nacht, daß ich in der Gegend des Linder Berges wäre, als ein starkes Gewitter mit vielen Blitzen aufstieg. Ich kam noch mit dem Regen in die Mühle, jedoch mit dem Verdachte, daß mich die Landschaft würde gefangen nehmen laßen. Dieser Verdacht schien sich etwas zu verlieren, jedoch wurde ich endlich von einem Menschen arretiret, der wie der Scheibengucker aussahe. Mein Verbrechen bestand darin, daß ich einen Fehler in einem Rechnungs Exempel gemacht hatte, worin Brabandter auf Braunschweiger Ellen
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Tagebücher I. S.108. Tagebücher I. S.69. Einmal träumt er, mit Lessing nach Italien zu reisen: »Ich hatte diese Nacht die Anlage zu einem herrlichen Traume. Ich war mit Leßing in Italien, und wir waren im Begriffe aus zu fahren, um die Alterthümer von Pompeii zu besehen; es ward aber nichts daraus.« Tagebücher I. S. 203. Alle diese Träume beziehen sich nicht auf seine Braut, sondern auf andere bekannte [die Schmid-Töchter] oder unbekannte Frauen und sind zumeist nach dem Erwachen mit Angst verbunden. Vgl. Tagebücher I. S.88f, 98,109,170f. »Heute Morgen träumte mir, daß ich nackend auf der Höhe ginge. Es schien sich aber niemand darum zu bekümmern, mich selbst genirte das Ding so wenig daß ich weiter nichts that, als daß ich nur über den Packhof und die Kannengießer Straße gehen wollte, weil da nicht so viel Menschen wären als auf der andern Seite.« Tagebücher I. S.205. 261
reduciret wurden. Ich sollte auf das Clever Thor gebracht und sehr hart gehalten werden, keine Bücher, keine Decke und keine Frisur haben. 72
Zuletzt phantasiert Leisewitz im Traum seine Macht über Leben und Tod. Im Traum verleiht er den Toten neues Leben und läßt Lebende als Tote auftreten. Die Szene des Traumes bevölkern zu neuem Leben erstandene Tote und tote Lebende. Hier treffen die Lebenden und Toten aufeinander und bilden eine Gesellschaft jenseits der Grenzen von Leben und Tod: Mir träumte heute Morgen ein langes und breites. Ich war in einer Gesellschaft, wo Knigge, der Rittmeister Hoym, die Hartmannen gegen mir über und viele andre Leute waren. Es wurde da jemand beleidiget, ich weiß aber nicht mehr wer, der in seinem Unmuthe davon ging. Nachher ging ich mit dem Rittmeister von Hoym spatzieren, wir irrten lange in dem Kreutzgange einer Kirche über Gräbern herum, auch sähe ich die noch frische Leiche eines Kindes und einen Haufen hölzerner Köpfe, die mit denen viel ähnliches hatten, die an der Garßischen Hause saßen. Ich laß auf einem Leichenstein den Nahmen von Grone, und es fing mir an zu grauen. Endlich kamen wir heraus und fanden an der Kirchthüre meinen theuern Lehrer den würdigen Pastor Langhans. 73
Der Träumer erfährt sich hier als omnipotentes Individuum, das Leben verleihen und nehmen kann. Im Spiel mit dem Tod äußert sich der letzte und alles entscheidende Wunsch des Träumers, der Auslieferung an den Tod zu entgehen, Herr über Leben und Tod zu sein.
2. Von radikaler Individualität zur Intimität: Johann Wolfgang Goethes Tagebücher 1776-1782 Goethe steht wie kein anderer für den literalen Menschentypus des 18. Jahrhunderts. Ihm gelingt die konsequente Literalisierung seines Lebens. Minutiös überführt er sein tägliches Leben in Schrift, sei es in seinen Briefen des ersten Weimarer Jahrzehnts an Charlotte von Stein, seinen Brieftagebüchern, seinem Tagebuch, das er mit wenigen Unterbrechungen über 57 Jahre zwischen 1776 und 1832 führt, wie in seinen vielfältigen Aufzeichnungen und Gesprächen. Kaum eine Lebensäußerung bleibt ohne schriftliche Dokumentation. Jedes schriftliche Dokument wird aufbewahrt, archiviert und dient zuletzt als Material für die größeren autobiographischen Arbeiten, die »Tag- und Jahreshefte« und die Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«. Am Beispiel Goethes gerinnt Leben zu Schrift. Der Text wird zur Manifestation von Leben und zu seinem eigentlichen Ziel. Daß Goethes Tagebücher zwischen 1776 und 1782 innerhalb seiner nahezu sechs Jahrzehnte umfassenden Tagebuchführung eine Einheit bilden, ist von der Forschung einhellig festgestellt worden.74 Dies belegt zuallererst das Faktum, daß sie 72 73 74
Tagebücher I. S.208. Tagebücher I . S . I I I . Gertrud Hager: Grundform und Eigenart von Goethes Tagebüchern. In: DVjs. 1951. S.351-371. Gerhart Baumann: Die Tagebücher Goethes. Der »Geist« der »Gegenwart«.
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ausschließlich von Goethe selbst geschrieben wurden, während er sich zur Tagebuchführung in späteren Jahren verschiedener Schreiber bediente. Die Tagebücher nach Goethes Italienreise verstehen sich als Archiv des äußeren, tätigen Lebens der öffentlichen Person Goethe. Das Tagebuch wird nun zum nach außen verlagerten Gedächtnis seines Schreibers, zum Archiv der nachträglichen autobiographischen Erinnerungsarbeit eines sich selbst historisch verstehenden und gewordenen Repräsentanten seines Jahrhunderts. Erst nach dem Tod Christianes wird das Tagebuch partiell wieder zu einem stummen Gesprächspartner. Leben im Text findet bei Goethe seit seiner Ankunft in Weimar auf vielfältigen Ebenen statt. Briefe, Brieftagebücher, Notizen, Tagebucheintragungen entstehen täglich und variieren denselben Stoff, das tägliche Leben, nach der jeweiligen Schreibintention. Diese Verdopplung, mehr noch Vervielfältigung des einen Gegenstandes, der eigenen Lebensführung, läßt eine Vielzahl paralleler autobiographischer Texte entstehen. So existiert der kontinuierliche Lebenstext mindestens zweimal, einmal als Kommunikation mit der einen Partnerin, ein zweites Mal als nicht kommunikabler Text des Tagebuchs. Goethes Leben der Jahre 1776 bis 1782 bedarf der Textunterstützung. Fast täglich schreibt er an Charlotte von Stein, sichert die Beziehung, der ein gemeinsamer Lebensalltag mangelt, durch den Text. Ist er längere Zeit in Weimar abwesend, weiten sich die Briefe zu einem Brieftagebuch aus. Daneben führt er ein Tagebuch für sich selbst. Beide Texte, die über weite Strecken in einem engen Zusammenhang stehen, sich oftmals bis in die Formulierungen decken, existieren dennoch völlig getrennt voneinander. Die Weimarer Ausgabe weist auf den engen Zusammenhang zwischen den Briefen und dem Tagebuch hin, wenn sie von den »kaum lösbar vereinigten Blätter[n] an Frau v. Stein« 75 und dem Tagebuch spricht. Über seinen Briefwechsel mit Charlotte von Stein bemerkt er bereits nach dem ersten Monat: »Ich fange wieder an zu schreiben, es wird eine Billets Kranckheit unter uns geben, wenn's so von Morgen zu Nacht fortgeht.« 76 Und in dem an Charlotte von Stein gerichteten Gedicht »Warum gabst du uns die Tiefen Blicke« 77 verbindet er sinnliche Wahrnehmung und Textarbeit zum herausragenden Instrument des Verstehens und Erkennens des anderen: »Konntest mich mit Einem Blicke lesen / Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt.« Lesen und Schreiben werden hier als herausragende Verständigungsformen des Menschen propagiert. Als Texte vereinigen sich die aufeinander Bezogenen im Blick. Die Geliebte »liest« nicht nur den Text des Partners, das Gedicht, sie »liest« damit den Geliebten, der zu seinem Text geworden ist. Er
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In: Euphorion 1956. S. 27-56. Hans-Heinrich Reuter: Goethe im Spiegel seiner Tagebücher. In: Goethe Jahrbuch. NF. 1961. S. 99-140. Goethes Tagebücher 1775-1787. Werke. III. Abtheilung. 1. Band. Weimar 1887. S.359. Im folgenden zitiert als Werke III, 1. Goethes Werke. Briefe. IV. Abtheilung. 8. Band. Weimar 1890. S.21. Im folgenden zitiert als Briefe. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Bd. 2.1. Hg. von Hartmut Reinhardt. München 1987. S. 23.
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steht damit über der sinnlichen Wahrnehmung, der konkreten Begegnung ebenso wie über der mündlichen Kommunikation. Den Höhepunkt dieser Textbeziehung bildet das Tagebuch der Italienischen Reise, in dem Tagebuch und adressiertes Brieftagebuch zusammenfallen und die Trennung der beiden Textebenen aus der Weimarer Zeit aufgehoben wird. Damit ist Goethe der erste, der explizit eine Trennung zwischen kommunikablen, das heißt adressatenbezogenen, und nicht kommunikablen Texten vollzieht. Wenn er für Charlotte von Stein einen Tag in Ilmenau oder Jena aufschreibt, so tut er dies ein zweites Mal für sich selbst im Tagebuch. Dieser Lebenstext im Tagebuch entsteht ausschließlich für den Schreiber selber, ist an keinen anderen gerichtet, keinem anderen Leser vorbehalten als ihm selbst. Goethe bricht hier mit der Praxis der teilweisen oder gänzlichen Veröffentlichung von Tagebüchern im 18. Jahrhundert. Dagegen grenzt er sein Tagebuch als erster konsequent aus jeder öffentlichen Kommunikation aus und erschafft damit einen Raum der Intimität als Ausdruck radikaler Individualität. An Goethes permanenter Lebenstextproduktion wird die Vervielfältigung des Individuums wie seine Aufspaltung in ein öffentliches und ein privates deutlich. Im Tagebuch formuliert er das Programm dieser autobiographischen Textproduktion: »Den Punckt der Vereinigung des manigfaltigen zu finden bleibt immer ein Geheimniss, weil die Individualitet eines ieden darinn besonders zu Rathe gehn muss und niemanden anhören darf.«78 Das Tagebuch wird zum Medium, in dem das Individuum ausschließlich mit sich selbst kommuniziert und sich selbst (re)produziert. Goethes Tagebücher akzeptieren gegenüber der zeitgenössischen Praxis keinen impliziten oder expliziten Leser mehr. Bis zu seinem Tod nahm Goethe daher seine Tagebücher konsequent von jeder Publikation aus. Goethes Tagebuch ist das erste, das auf den Ausschluß des Lesers angelegt ist und konsequent an seiner Ausgrenzung arbeitet. Der ausschließlich selbstreferentielle Text entwickelt einen eigenen Code der sprachlichen Verdichtung und Chiffrierung, dessen verknappte Textzeichen auch nur von seinem Schreiber wieder entschlüsselt, d.h. in die Erinnerung eines komplexen Erlebenszusammenhangs rückübersetzt werden können. So leistet der Tagebuchtext etwas paradoxes, er wird als Ich-Geschichte seines Schreibers zum Mittel der Selbstabschließung gegenüber der Außenwelt. Nur hier im gegenüber der Außenwelt abgeschlossenen Text entsteht und behauptet sich Individualität, hier ist der Ort, an dem sie sich realisiert und materialisiert. Im Text verbirgt sie sich vor den anderen, vor allem vor dem Leser, und führt ihre geheime, exklusive Existenz für ihren Schreiber. Individuell bedeutsame Ereignisse wie ζ. B. den Tod der Schwester oder den des Vaters registriert das Tagebuch ohne weiteren Kommentar oder teilt sie überhaupt nicht mit.79 Goethe hat dies allen Lesern unmißverständlich hinterlassen: »[...] was ich geworden und geleistet, mag die Welt wissen; Wie es im Einzelnen zugegangen, bleibe mein eigenstes 78 79
Werke III, 1.S.89. Vgl. zu den individualgeschichtlich bedeutsamen Ereignissen dieser Jahre K. R. Eissler: Goethe. Eine psychoanalytische Studie. Bd.l. Frankfurt 1983.
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Geheimnis.«80 Daß das schreibende Ich im Text verborgen bleibt, macht auch der Schreibstil der Goetheschen Tagebücher deutlich. So fehlt fast allen Eintragungen das Subjekt, es ist dem Text implizit, ohne daß es eigens genannt werden müßte. Mit Goethes Tagebüchern endet die kurze Geschichte des Tagebuchs als eigenständige in das literarische Diskurssystem eingebundene Gattung. 2.1 Texterleben: Das Mondjahr 1777 Das Tagebuch der ersten beiden Weimarer Jahre thematisiert vor allem Goethes Orientierung am Hof, seine Amtsgeschäfte wie seine Beziehung zu Charlotte von Stein. Was im Amtsgeschäft wie im Dialog mit der Geliebten unausgesprochen bleiben muß, hat im Tagebuch seinen Platz. Das Tagebuch läßt hier noch deutlich seine Nähe zu dem Fragment der ersten Reise in die Schweiz erkennen. Im Vordergrund stehen Expressionen der Gefühlslage, der psychischen Verfassung seines Schreibers, mit denen er auf die täglichen Anforderungen seiner neuen Existenz reagiert. Das Tagebuch dient als Therapeutikum für die innere Zerissenheit, die Stimmungsschwankungen und emotionale Labilität seines Schreibers und tritt damit gleichberechtigt neben die beiden anderen selbsttherapeutischen Beschäftigungen: das Zeichnen und das Naturerleben. Mit unmittelbarer Offenheit macht Goethe sein Tagebuch zum Diagramm seiner wechselnden Affektlagen. Diese Konzentration auf die eigene psychische Situation, von der auch die körperliche Befindlichkeit nicht ausgenommen bleibt - von der Diarrhoe und der »Dummheit« der Rhabarbertherapie 81 über eine »fieberhaffte Wehmuth« und »Schläfrigkeit« bis zu »Herzklopfen und fliegender Hitze«82 um den Jahreswechsel 1776/77 - , gibt jedem Tag seine emotionale Tönung. Breit gefächert ist das Spektrum der Beschreibungen, nuancenreich die Abstufung affektiver Lagen, die Goethe jeweils in einem Begriff zusammenfaßt: Als »dumpf«, »traurig«, »fatal«, »dumm«, »stumpf«, »dunckel«, »trübe«, »Scheis weh« oder »rein«, »heiter«, »lustig« und »ausgelassen lustig«, »ruhig«, »bewegt«, »vergnügt«, »frey« und »froh« werden die Tage im schnellen Wechsel der Stimmungen charakterisiert. 1776 vertraut er dem Text darüber hinaus seine »Vergebne Hoffnung«, »Dumpfheit«, 83 seine »Einsamkeit«84 und die Empfindung von »Druck, Wehmuth und Glauben« an. Jeder Tag erhält so seine Signatur, der kommende wird zum unbekannten Ereignis eines sich selbst beobachtenden und erfahrenden Schreibers, auf den der Text des Tagebuchs reagiert wie der Schreiber auf sich selbst. Seltener teilt er über diese fokussierte Charakteristik hinaus näheres über seine psychische Verfassung mit. Konkret benennt er seine Emotionen einzig
80
81 82 83 84
Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Um 1830. Zitiert nach: Peter Boerner: Johann Wolfgang Goethe: Tagebücher. 2. Ergänzungsband der Goethe-Gedenkausgabe. Zürich 1964. S.613. Werke III, 1. S. 16. Werke III, 1. S.29f. Werke III, 1. S.14. Werke III, 1. S. 16.
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während seines Wartburg-Aufenthalts: »Tiefes Gefühl des Alleinseyns.«85 In allen anderen Fällen vermeidet es Goethe, konkret zu werden und begnügt sich mit Andeutungen, die nur von ihm selbst inhaltlich gefüllt werden können. Über eine Nacht, die er beim Herzog verbringt, schreibt er: »Phantasie! Herzklopfen.« 86 Am 13. April 1777 verzeichnet er: »Viel in der Seele umgeworfen.«87 Über einen Tag, den er überwiegend allein verbringt, notiert er: »Vielerley gedacht übers Dramatische des Lebens.« 88 Wie das Tagebuch so dient auch das Zeichnen der Affektabfuhr. Immer wieder notiert Goethe seine Zeichenversuche im Tagebuch. Seine Sujets findet er in der Geliebten, sich selbst und der menschenleeren Natur. Vom Schreiben ist in diesen frühen Tagebuchtexten noch kaum die Rede. Über die Funktion des Zeichnens klärt sich Goethe in seinem berühmten Tagebuchbrief von der Wartburg an Charlotte von Stein selbst auf: »Da hab ich einen Einfall: mir ists als wenn das Zeichnen mir ein Saugläppchen wäre, dem Kind in Mund gegeben, dass es schweige, und in eingebildeter Nahrung ruhe.«89 Diese psychologische Deutung der Funktion des Zeichnens, die gleichermaßen für das Tagebuchschreiben gelten kann, wird durch das Tagebuch gestützt, in dem er von seinen einsamen Zeichenstunden in einer Höhle berichtet, die er zum imaginären Raum der Gemeinsamkeit mit Charlotte bestimmt hatte. 90 Als unproduktive Ersatzhandlung charakterisiert er sein Zeichnen in der Briefanalyse: »mir ist gestern was auf gefallen, in meinem Diarium steht so offt: ich habe gezeichnet, und es will sich immer nichts finden was ich gezeichnet habe, auser den Paar Dingen die Sie haben.«91 Im Brief stellt er das Schreiben dem Zeichnen an die Seite und kennzeichnet es als Surrogat des wirklichen Lebens: »O man sollte weder zeichnen noch schreiben! - [...] In uns ist Leben und - ich weis wohl was ich will aber wie sagen?«92 So wird der Text des Tagebuchs in seiner beredten Stimmungsanalyse neben seinen Zeichenblättern zum Ersatz für den einen, unausgesprochenen Wunsch, den der Brief an die Geliebte andeutet.
85 86 87 88 89 90
91 92
Werke III, 1.S.49. Werke III, 1.S.32. Werke III, 1.S.37. Werke III, 1.S.47. Briefe IV, 3. S. 176. An die Geliebte schreibt er: »nun ich habe heut den Göttern sey danck von 8 Uhr früh bis Abends 8 gezeichnet, in Kochberg und hier immer mit gleicher Freude, und gleicher Hoffnung dass es Ihnen auch Freude machen soll, so wenig Hoffnung dazu ist! denn wenn die Natur Sie nicht mehr freut wie soll Sie mein stammeln dran vergnügen. Gnug auf dem Papier sind allerley treue gute Augenblicke befestigt, Augenblicke in denen immer der Gedancke an Sie über der schönen gegend schwebte. [...] Sonntag früh 10. In der Höhle von Weissenburg. Wir haben uns herausgesezt und gezeichnet, es fängt ein Regen an und ich sezze mich unter einen Busch Ihnen guten Morgen zu sagen. Der Tag ist grau aber schön! wie schon die Nacht war und der Mond auf der Saale im Thal lässt sich nicht sagen.« Briefe IV, 3. S. 164. Briefe IV, 3. S.178. Briefe IV, 3. S.176f.
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Deutlicher als in den direkten Attributen spiegeln sich die Empfindungen des Betrachters in den vielen einsamen Naturbetrachtungen. Es ist immer wieder der Zustand der Natur, der zum Spiegel der Empfindungen und Verfassung des Schreibers wird. In der veränderlichen Natur, deren Wandlung durch Klima, Witterung und Wetter Goethe genau beobachtet, findet er eine Entsprechung für die Instabilität und Wechselhaftigkeit seiner eigenen inneren Verfassung. Durch das zurückgezogene, einsame Leben in seinem Garten entstehen die Voraussetzungen für das Leben mit der Natur, das sein Tagebuch bis zu seinem Umzug in die Stadt dokumentiert: »Wieder in Garten gezogen. Die Natur unendlich schön gesehn«,93 heißt es am 26. Juli 1777. Seine genauen Wetterbeobachtungen im Tagebuch werden fast immer in Beziehung zu seiner eigenen Verfassung gesetzt. Meist entsprechen sich der Zustand der Natur und seine eigene Stimmungslage: »Bewegung des Herzens Frühlings Thauwetter«, 94 notiert er am 24. Februar. Wie das Tauwetter die Bewegung der gesamten Natur verheißt, so deutet die seiner Seele auf weitere Entwicklungen des Ich hin. Am 7. Juli heißt es: »In dunckler Unruhe früh. [...] Grauer Morgen«,95 fünf Tage später hält Goethe im Tagebuch fest: »Dumm Wetter und Sinn«.96 Tauwetter, das kontinuierliche Fließen des Regens und die dramatische Szenerie des Gewitters, - »Unruhe. Gewitter« - 9 7 affizieren den Tagebuchschreiber besonders, dessen eigene Lebenserfahrung unter dem Primat von Bewegung, Veränderung, Entwicklung steht: »Nachts herrliches Gewitter auf dem Altan abgewartet«, 98 findet sich als Notiz unter dem 2. Mai. Wenn es um die Beschreibung seines Naturerlebens geht, so verläßt das Tagebuch gelegentlich seinen verknappenden Prosastil. Goethes Reise nach Wörlitz schließt mit einer poetischen Metapher: »Nach Tische im Regen die Tour vom Parck im Regen. Wie das Vorüberschweben eines leisen Traumbilds.«99 Ein einziges Mal erfährt Goethe eine Störung seines symbiotischen Verhältnisses zur Natur, bezeichnenderweise als er sich fern von seinem Garten in der höfischen Lebenswelt befindet. Mit Irritation und Verunsicherung bemerkt er: »Nach Tische gefürstenkindert, Jagt im Garten. Nachts Ball. War unfähig die Natur zufühlen ut -«. 10 ° Zu diesen Beobachtungen der bewegten Natur kommen in den ersten Weimarer Jahren die einsamen nächtlichen Mondbetrachtungen, wobei nicht selten das Naturerleben mit dem Zeichnen verbunden wird. Am 13. und 15. Januar 1777 notiert Goethe: »Abend Mondenzeichnung« [...] »Abend Mond gezeichnet.«101 Es ist die Attitüde des mondsüchtigen Melancholikers, die Goethe in den einsamen nächtlichen Stunden in seinem Garten nachlebt: »Nachts 10 zurück in Garten. Die Bäume 93
Werke III, 1. S.43. Werke III, 1.S.34. 95 Werke III, 1, S.42. 96 Ebenda. 97 Werke III, 1. S. 18. 98 Werke I I I , 1 . S . 3 8 . " W e r k e III, 1.S.66. 100 Werke III, 1.S.21. 101 Werke III, 1. S.31. 94
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voll blinckenden Dufts im Mondschein.«102 Als synästhetisches Erlebnis hält der Text die Wahrnehmung der Mondnacht fest. In den einsamen Mondnächten erfährt sich der Schreiber als ungeteiltes Individuum. Nur der Mond erhält im Tagebuch ausschließlich positive Konnotationen, er wird zum Verbündeten des Schreibers, zu seinem Spiegelbild. Am 24. Juli vermerkt Goethe im Tagebuch: »Im Garten geschlafen in herrlichem Mondschein aufgewacht. Herrliche Mischung des Mondlichts und anbrechenden Tags.«103 Am 19. Mai heißt es: »Im Garten bis Nacht, war herrlicher Mondschein und ich schlief aufm Altan.« 104 Weiter unten am 9. November hält Goethe fest: »Schöne Mondnacht« 105 und am 12. Nov. »Herrl. Mondnacht auf den schönsten Tag.« Mit der Eintragung vom 13. Nov. schließt Goethe sein Mondjahr 1777 ab: »Höchst schöner Mond und kalte Reifnacht.« 106
2.2 1778: Das dreißigste Jahr - Exemplarischer Lebensentwurf eines Individuums Zwischen 1776 und 1782 entsteht der eigenständige, zweite Text des Tagebuchs parallel zu den Briefen an die Geliebte. Das Tagebuch zielt auf die Ich-Konstitution des Schreibers für sich selbst, dient als Archiv der eigenen Ich-Geschichte im Lebensprozeß. Im Text konstituiert sich der Schreiber als Individuum, ohne sich auf einen impliziten Leser außerhalb seiner selbst zu verpflichten. Darin unterscheidet sich Goethe entschieden von seinen Vorgängern. Selbst wenn er noch die Praxis der Tagebuchkommunikation des 18. Jahrhunderts kennt, propagiert und an ihr teilnimmt 107 und sie in seinem Werk vielerorts tradiert, 108 so nimmt er doch sein eigenes Tagebuch entschieden von ihr aus. Nur rudimentär übernimmt Goethe daher auch die Muster der Rechtfertigungsund Bilanzierungsstrategien früherer Tagebuchschreiber, etwa wenn er zunächst noch seine Geburtstage oder den Jahreswechsel als Anlässe der Selbstrechtfertigung nach dem Muster von idealem Ichentwurf und tatsächlicher Lebenspraxis nutzt. Zunehmend befreit er sich auch von diesen letzten Paradigmen der wertenden Selbstanalyse. Dagegen setzt er die Chronik seiner tagtäglichen Lebensbewältigung. So nimmt er den Jahreswechsel ausschließlich zum Anlaß, das Vergangene zu ordnen und abzuschließen, ohne zu werten oder Vorsätze für das neue Jahr zu fassen. Am 31. Dezember 1777 heißt es: »Abends zu Hause. Aufgereumt das alte Jahr.«109 Den ersten Tag des neuen Jahres beginnt er mit Arbeiten am »Wilhelm
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109
Werke III, 1.S.34. Werke III, 1, S.43. Werke III, 1.S.39. Werke III, 1.S.53. Ebenda. Am 6. Dezember 1778 notiert er ins Tagebuch: »Knebel badte. las sein Tagebuch von vorm Jahr.« Werke III, 1. S.72. Vgl. den Tagebuchstil des »Werther«, die »Bekenntnisse einer schönen Seele« im »Wilhelm Meister« und die eingeschobenen Tagebuchfragmente Ottilies in den »Wahlverwandtschaften«. Vgl. dazu auch: Hager. 1951. S.355. Werke III, 1.S.58.
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Meister« und kommentiert seine Verfassung am Neujahrstag: »Rein ruhig hatte das alte Jahr zusammen gepackt.«110 Die eigenständige Ich-Geschichte wird daher auch geprägt durch eine neue, individuelle Einteilung und Wertung von Lebenszeit. Einzig im Jahr 1780 vermerkt Goethe an seinem Geburtstag im Tagebuch, daß er sein letztes Lebensjahr resümiert habe. Am 26.8. notiert er: »früh im Garten auf und ab und nachgedacht was in diesem meinem zu Ende gehenden 31ten Jahr geschehen und nicht geschehen sey. Was ich zu Stande gebracht. Worinn ich zugenommen pp.«111 An seinem Geburtstag setzt er diese Reflexionen fort: »früh im Stern spazierend überlegt, wo und an welchen Ecken es mir noch fehlt. Was ich dis Jahr nicht gethan. Nicht zu Stande gebracht. Uber gewisse dinge mich so klar als möglich gemacht.«112 Bezeichnend ist dabei, daß der Maßstab zur Beurteilung der eigenen Entwicklung ein rein individueller, der Lebensgeschichte entnommener und angepaßter, nur dem Schreiber bekannter ist, der im Text nicht einmal mitgeteilt wird. Was sich hinter den selbst gesteckten Zielen verbirgt, das offenbart das Tagebuch partiell an anderer Stelle, nicht aber an dem Geburtstag selbst. Zwei Jahre zuvor hatte er seinen neunundzwanzigsten Geburtstag im Tagebuch demonstrativ übergangen. Unter dem Datum des 28. August 1778 findet sich ausschließlich eine Eintragung über seine negative körperliche Befindlichkeit: »Schlepte mich mit verdorbenem Magen«.113 Erst drei Tage später thematisiert er seinen Geburtstag im Tagebuch: »Wundersam Gefühl vom Eintritt in's dreyßigste Jahr. Und Verändrung mancher Gesichts Punckte.«114 Signifikant ist hier wie an vielen anderen Stellen nicht das, was der Text mitteilt, sondern was er verschweigt. In der Andeutung des Bedeutsamen spricht er von den Schwierigkeiten und Irritationen im Umgang mit dem Datum nach dem Verlust der vertrauten diarischen Reflexionsmuster. Erst im Verlaufe des Jahres gelingt die Auseinandersetzung mit dem biographischen Datum, erhält es seine Bedeutung und Deutung. Noch deutlicher zeigt sich die Problematik im Umgang mit dem Datum des Beginns eines neuen Lebensjahres in Goethes Tagebuch bereits ein Jahr zuvor. Als existenzielle Verunsicherung wird der biographische Jahreswechsel erfahren, als Datum der individuellen Gefährdung mit ungewissem Ausgang: ritt ich Nach Tische dunckel von W. weg, ich sah offt nach meinem Garten zurück, und dachte so was alles mir durch die Seele müsse biss ich das arme Dach wieder sähe. Langsam ritt ich nach Kbg. fand sie froh und ruhig und mir wards so frey und wohl noch den Abend. 1 1 5
Dem allein Verantwortlichen für die eigene Lebenszeit gerinnt das Datum zum bedeutsamen und entscheidenden Moment innerhalb der Lebensgeschichte, in dem
""Werke III, 1.S.59. 1,1 Werke 111,1. S. 123. 112 Werke III, 1. S. 124. 113 Werke III, 1. S.69. 114 Ebenda. 115 Werke III, 1. S.44.
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individuelle Geschichte und Zukunft zusammenfließen. Entspannung ist auch hier nur nachträglich möglich, nachdem diese Situation extremer Bedrohung des eigenen Ichentwurfs im bedeutsamen Moment positiv gewendet wurde: »Wachte an m. Geburtstag mit der schönen sonne so heiter auf dass ich alles was vor mir liegt leichter an sah.«116 Auch hier bleibt im Text verborgen, woher die Rettung aus der Krisensituation kommt. Das Spiel mit den Zeichen gibt den Grund nicht zweifelsfrei preis: Sie, die »schöne sonne« kennt nur der Schreiber, seinem Text ist sie als Zeichen (für Charlotte von Stein) seit langem eingeschrieben. Dem folgt abschließend nach einigen Tagen die kühle Bilanz des letzten Jahres: »[...] fiel mir auf wie sich mein innres seit einem Jahr befestigt hat«.117 Seinen 30. Geburtstag kann Goethe »frey und froh« begehen, nachdem er sein dreißigstes Jahr zu einem umfassenden Wandlungsprozeß bestimmt und kurz vor seinem Geburtstag im Tagebuch den Abschluß seiner Jugend inszeniert und zelebriert hatte: Zu Hause aufgeräumt, meine Papiere durchgesehen und alle alten Schaalen verbrannt. Andre Zeiten andre Sorgen. Stiller Rückblick aufs Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit Wissbegierde der Jugend, wie sie überall herumschweift um etwas befriedigendes zu finden. Wie ich besonders in Geheimnissen, duncklen Imaginativen Verhältnissen eine Wollust gefunden habe. Wie ich alles Wissenschafftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen, wie eine Art von demütiger Selbstgefälligkeit durch alles geht was ich damals schrieb. Wie kurzsinnig in Menschlichen und göttlichen Dingen ich mich umgedreht habe. Wie des Thuns, auch des Zweckmäsigen Denckens und Dichtens so wenig, wie in zeitverderbender Empfindung und Schatten Leidenschafft gar viel Tage verthan, wie wenig mir davon zu Nuz kommen und da die Hälfte nun des Lebens vorüber ist, wie nun kein Weeg zurückgelegt sondern vielmehr ich nur dastehe wie einer der sich aus dem Wasser rettet und den die Sonne anfängt wohlthätig abzutrocknen. Die Zeit dass ich im Treiben der Welt bin seit 75 Oktbr. getrau ich noch nicht zu übersehen. Gott helfe weiter, und gebe Lichter, dass wir uns nicht selbst so viel im Weege stehn. 118
Im dreißigsten Jahr schließt Goethe das Archiv seiner Ich-Geschichte der Vorweimarer Zeit mit dieser radikalen Selbstabrechnung ab und inthronisiert zugleich ein neues Muster individueller Biographie: Die Lebensgeschichte als individuelle Entwicklungsgeschichte. Goethes psychologische Selbstanalyse am Ende seines dreißigsten Jahres formuliert das neue Muster einer selbständigen, auf innerer Entwicklung basierenden Individualität: die Bildungsgeschichte des bürgerlichen Individuums als kontinuierliche Persönlichkeitsentwicklung. Das Tagebuch wird zu ihrem Dokument. Nachdem es Goethe mit dem dreißigsten Jahr gelungen ist, seine eigene Entwicklungsgeschichte einer eigenen Gesetzmäßigkeit, Einteilung und Deutung zu unterwerfen, kann er sich losschreiben von dem alten äußerlichen Datum diarischer Selbstreflexion der rein additiven Ichgeschichten. Nach 1780 registriert Goethe seinen Geburtstag kaum noch im Tagebuch. 1781 heißt es unter dem Datum 2 6 -
116 117 118
Ebenda. Werke III, 1. S.45. Werke III, 1. S.93f.
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27. August: »In der Stille meist mit mir selbst zugebracht.«119 Am 28. notiert Goethe ausschließlich sein Tagesgeschäft. 1782 bricht das Tagebuch bereits im Juni ab. 2.3 »Roman« einer Bildungsgeschichte Was das Tagebuch seit 1776 mitteilt, ist die exemplarische Bildungsgeschichte eines tätigen bürgerlichen Individuums, dessen Ziel Goethe selbst mit der Aufgabe, den »Punckt der Vereinigung des mannigfaltigen zu finden«,120 beschreibt. Dieses Lebenskonzept bestimmt sich durch die harmonische Vereinigung von tätigem, eingreifendem Handeln in der Außenwelt und autonomer Selbstentwicklung. Goethe faßt dieses Ziel in seinem Tagebuch als Mahnung und Selbstvorschrift in ein Bild: »Ich darf nicht von dem mir vorgeschriebnen Weg abgehn, mein Daseyn ist einmal nicht einfach, nur wünsch ich dass nach und nach alles anmasliche versiege, mir aber schöne Krafft übrig bleibe die wahren Röhren neben einander in gleicher Höhe aufzuplumpen.«121 An diesem hochgesteckten Ideal arbeitet sich der Tagebuchtext ab. Der formulierte Wunsch kann seine Nähe zu den Bitten an Gott der religiösen Tagebuchschreiber nicht verleugnen. Imaginierte Selbstbilder und Wunschprojektionen, Zukunftsvisionen einer idealen Gesellschaft äußern sich im Tagebuch immer wieder als profanes Gebet eines sich selbst verantwortlichen Individuums. Auf einem nächtlichen Spaziergang richtet Goethe seine Bitte an die unbegriffene, seiner Mitwirkung entzogenen Entwicklung seiner Existenz: Heiliges Schicksaal du hast mir mein Haus gebaut und ausstaffirt über mein Bitten, ich war vergnügt in meiner Armuth unter meinem halbfaulen Dache ich bat dich mirs zu lassen, aber du hast mir Dach und Beschräncktheit vom Haupte gezogen wie eine Nachtmüzze. Laß mich nun auch frisch und zusammengenommen der Reinheit geniessen. Amen Ja und Amen winckt der erste Sonnenblick d. 14. Nov. 122
Zum symbolischen Ereignis wird im Tagebuch das Feuer von Apolda im Juli 1779. Mit diesem Feuer scheint die gesamte Problematik der Schreiberexistenz aufzulodern. Wie durch ein Fegefeuer geht der Schreiber am Ort des Geschehens, das nicht nur seine Pläne zunichte macht, sondern ihm gleichzeitig reinigende Einsicht und Erkenntnis in seine Existenz verleiht: ward den ganzen Tag gebraten und gesotten. [...] Verbrannten mir auch meine Plane, Gedancken, Eintheilung der Zeit zum theil mit. So geht das Leben durch bis ans Ende, so Werdens andre nach uns leben. Ich dancke nur Gott dass ich im Feuer und Wasser den Kopf oben habe, doch erwart ich sittsam noch starcke Prüfungen, vielleicht binnen vier Wochen. 123
119 120 121 122 123
Werke III, Werke III, Ebenda. Werke III, Werke III,
l . S . 131. l . S . 89. l . S . 52. l . S . 90.
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Seine Anstrengungen werden zum Ringen mit einem »unbekannten Engel«, die Naturkatastrophe zum Symbol für die Prüfungen und Widerstände der Realität gegenüber den selbstgesetzten Ansprüchen und Zielen. Nicht nur an dieser Stelle zeigen sich die Schwierigkeiten der Durchsetzung von Goethes sozialpolitischen Vorstellungen in seiner Amtsführung. Im Tagebuch heißt es dazu: »Meine Ideen über Feuerordnung wieder bestätigt. [..] Der Herzog wird endlich glauben.«124 Und mit einem Gebet schließt auch diese nüchterne Bilanz: »Es weis kein Mensch was ich thue und mit wieviel Feinden ich kämpfe um das wenige hervorzubringen. Bey meinem Streben und Streiten und Bemühen bitt ich euch nicht zu lachen, zuschauende Götter. Allenfalls lächlen mögt ihr, und mir beystehen.« 125 Eine strukturell ähnliche Passage schließt eine längere Selbstreflexion am 13. Mai 1780 ab: ich fühle nach und nach ein allgemeines Zutrauen und gebe Gott dass ichs verdienen möge, nicht wies leicht ist, sondern wie ichs wünsch. Was ich trage an mir und andern sieht kein Mensch. Das beste ist die tiefe Stille in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können. 126
Goethes Tagebuch verläßt immer dort den lakonisch, verknappten Kanzleistil und dehnt sich zu langen erzählenden Textpassagen aus, wenn der Schreiber über seine Entwicklung als gesellschaftlich tätiges Individuum spricht. Durch seine ungeliebte Aufgabe, Soldaten im Herzogtum zu rekrutieren, lernt er die sozialen Verhältnisse im Land durch eigene Anschauung kennen und befaßt sich eingehend mit der Verelendung der Strumpfweber und deren Ursachen. Daß er die Situation der Strumpfweber lange vor Gerhart Hauptmann im Tagebuch ausführlich schildert, zeugt von seinem Verantwortungsbewußtsein für alle sozialen und politischen Belange im Herzogtum. Hier interessieren ihn aber nicht so sehr die durch den Krieg ausgelösten Absatzschwierigkeiten dieser frühen Textilindustrie, sondern vielmehr das durch ausbeuterische Produktionsverhältnisse entstehende Elend der Strumpfweber: Apolda, amtsrath. Strumpw. liegen an 100 Stühlen still seit der neujahrs messe. Manuf. Coli, hilft nichts. - Armer Anfang solcher Leute leben aus der Hand in Mund der Verleger hängt ihnen erst den Stuhl auf, heurathen leicht. Sonst gaben die Verleger die gesponnene Wolle dem Fabrikanten iezt muss sie der Fabrikant spinnen oder Spinnen lassen und das Gewicht an Strümpfen liefern. Verlust daby an Abgang Schmuz und Fett denn die Strümpfe werden gewaschen. Kann sie der Fabrikant nicht selbst durch die seinen spinnen lassen wird er noch obendrein bestohlen Sonst wog man die Strümpfe überhaupt und ein Paar übertrug das andre, iezzo werden sie einzeln gewogen und das schweerere Paar nicht vergütet vom leichtern Paar aber abgezogen. Jezziger Stillstand Sie sagen der Krieg hindre nach Oesterreich Waaren zu schaffen Denn obgleich daselbst diese Waaren kontreband sind gehen sie doch in Friedenszeiten hin-
124 125 126 127
Ebenda. Werke III, 1. S.90f. Werke III, 1. S.118f. Werke III, 1,S.82.
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D a ß G o e t h e sein E n g a g e m e n t am Weimarer H o f in d e m ersten Jahrzehnt als L e b e n s a u f g a b e und B e w ä h r u n g s p r o b e für seine Person begreift, A m t und L e b e n untrennbar miteinander verflochten sind, macht d e n Erfolg seiner A n s t r e n g u n g e n w i e die Problematik seiner Selbstbestimmungsversuche aus. Parallel zu seiner e i g e n e n Ausbildung z u m tätigen bürgerlichen Individuum arbeitet G o e t h e an der Fürstenerziehung d e s Freundes. Im Tagebuch protokolliert er mit G e n u g t u u n g d e n kontinuierlichen positiven Entwicklungsprozeß 1 2 8 d e s Herzogs: Sprachen wir unaussprechliche Dinge durch, er hatte gestern schon angefangen, über unser inner Regiments Verhältniss das äussere, meine Ideen einer Reise die ich vornehmen muss wie die Weinhändler auf ihre Art. Von dem Hof, der Frau, den andern Leuten, von Menschen kennen. Erklärt ihm warum ihm dies und das so schweer würde, warum er nicht so sehr im Kleinen umgreifen solle. Er erklärte sich dagegen und es ward eine grose interessante Umredung. 1 2 9 Seine Erziehungsfähigkeit unterscheidet den H e r z o g v o n seinen S t a n d e s g e n o s s e n und nähert ihn d e m Bürger G o e t h e an: » A b e r auch ausser d e m H e r z o g ist n i e m a n d im Werden, die andern sind fertig w i e D r e s s e l p u p p e n , w o h ö c h s t e n s n o c h der A n strich fehlt.« 1 3 0 D a m i t wird der Erziehungsprozeß d e s H e r z o g s z u m A b b i l d d e s eigenen. In der berühmten Wartburg-Passage d e s Tagebuchs, die e i n e Entsprechung in den B r i e f e n an Charlotte v o n Stein hat, drängt dieser Widerspruch bürgerlicher Existenz z u s a m m e n . D i e völlige B e a n s p r u c h u n g seiner g a n z e n Person durch das A m t steht s e i n e m Wunsch nach D i s t a n z und Selbstabschließung g e g e n ü b e r der H o f g e s e l l s c h a f t unvereinbar gegenüber: Die Klufft zwischen mir und denen Menschen fiel mir so grass in die Augen, da kein Vehikulum da war. Ich musste fort, denn ich war ihnen auch sichtlich zur Last. Ins Herzogs Zimmer! konnts nicht dauern, sah den Mond über dem Schlosse und herauf. Hier nun zum leztenmal, auf der reinen ruhigen Höhe, im Rauschen des Herbst winds. Unten hatt ich heute ein Heimweh nach Weimar nach meinem Garten, das sich hier schon wieder verliert. Gern kehr ich doch zurück in mein enges Nest, nun bald in Sturm gewickelt, in Schnee verweht. Und wills Gott in Ruhe vor den Menschen mit denen ich doch nichts zu theilen habe. Hier hab ich weit weniger gelitten als ich gedacht habe, bin aber in viel Entfremdung bestimmt, wo ich doch noch Band glaubte. [Der Herzog] wird mir immer näher und näher u Regen und rauher wind rückt die Schaafe zusammen. - Regieren!! 1 3 1
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Das Jahr 1779 liest sich deshalb auch wie ein Tagebuch der Erziehung des Fürsten. Vgl. dazu: »Der Herzog immer sich entwicklend und wenn sichs bey ihm mercklich aufschliesst, krachts, und das nehmen die Leute immer übel auf.« Werke III, 1. S.75. An anderer Stelle heißt es: »[Der Herzog] ist bald über die große Crise weg und giebt mir schöne Hoffnung dass er auch auf diesen Fels herauf kommen und eine Weile in der Ebne wandeln wird«. Werke III, 1. S.86. Und weiter unten: »[Dem Herzog] machte es ein Vergnügen die Rolle des Pylades zu lernen. E r nimmt sich auserordentlich zusammen, und an innrer Krafft, Fassung, Ausdauern, Begriff, Resolution fast täglich zu.« Werke III, 1. S.87. Werke III, l.S.92f. Werke III, l.S.88. Werke III, 1. S.50f. 273
Das vieldeutige Regieren, in das der Text den Herzog partiell mit einschließt, meint ebenso die Loslösung aus der Fremdbestimmung durch den Hof, den Wunsch nach Selbstbestimmung des Schreibers, wie den nach maßgeblicher Gestaltung der Weimarer Verhältnisse. Parallel dazu heißt es 1789: »Ich will doch herr werden. Niemand als wer sich ganz verläugnet ist werth zu herrschen, und kann herrschen.« 132 So schwankt das Tagebuch über Jahre bis 1779 zwischen Distanzierung, Entfremdung, Selbstrückzug, Assimilation und Integration, reflektiert diesen Konflikt bürgerlicher Existenz bis zu seiner inneren Synthese: »fortdauernde reine Entfremdung von den Menschen. Stille und Bestimmtheit im Leben und handeln. In mir viel fröliche bunte Imagination«. 133 Virulent wird dieser Konflikt insbesondere durch die im April aufkommende Kriegsgefahr, die den Herzog von Goethe entfernt und das Erziehungsprojekt zu gefährden droht: »Weiter vegetirt in tausend Gedancken an unsre Verhältnisse und unser Schicksaal. Unruhe des [Herzogs] erwachend Kriegsgefühl.« 134 Eissler beschreibt die Beziehung zwischen Goethe und dem Herzog mit den Worten: Viel von der Selbstdisziplin, die er sich selbst auferlegte, war auch als Beispiel für den Fürsten gemeint. Jetzt arbeitete er daran, die Finanzen des erschöpften Landes zu ordnen, und er schien das Debakel abwenden zu können. Der Herzog akzeptierte Goethe als Führer und hatte tatsächlich einige Veränderungen zu seinem Vorteil vollzogen. Er nahm an Goethes Begeisterung teil und interessierte sich sogar für Wissenschaft. Das Reich der hohen Politik sah er aber anscheinend als seine private Domäne an, und trotz langer Diskussionen bestand er auf seinem Entschluß, auf diesem Feld die Ambitionen zu verwirklichen. 135
Im Dezember 1778 äußert sich der Tagebuchschreiber in tiefer Resignation über die Entwicklung am Hof wie über seine eigene Situation: Ich bin nicht zu dieser Welt gemacht, wie man aus seinem Haus tritt geht man auf lauter Koth. und weil ich mich nicht um Lumperey kümmre nicht klatsche und solche Rapporteurs nicht halte, handle ich oft dum. - Viel Arbeit in mir selbst zu viel Sinnens, dass Abends mein ganzes Wesen zwischen den Augenknochen sich zusammen zu drängen scheint. Hoffnung auf Leichtigkeit durch Gewohnheit. Bevorstehende neue EckelVerhältn. durch die Kriegs Comiss. 1 3 6
1780 ist die Integration von Ich-Ansprüchen und einflußreicher, befriedigender Amtsausübung gelungen. Der Entwicklungsprozeß zum allseits ausgebildeten, tätigen bürgerlichen Individuum ist abgeschlossen, wie er ihn im »Wilhelm Meister«, an dem er in diesen Jahren arbeitet, 137 literarisiert hat. Eissler bemerkt zutreffend:
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Werke III, l . S . 118. Werke III, 1. S.62. Werke III, l . S . 64. Eissler. Bd. 2. S.1104. Werke III, 1. S.74f. A m 16. Februar 1777 findet sich die erste Erwähnung des »Wilhelm Meister« im Tagebuch. Vgl. auch 8. Juli 1777. Am 2. Januar notiert er ins Tagebuch: »Früh I B. Meisters geendigt.« Werke III, 1. S.59. Im Oktober 1779 verzeichnet er weitere Arbeiten am »Wilhelm Meister«. Werke III, 1. S.70.
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»Das Tagebuch hatte ihn aus seinem Klammergriff entlassen, und ihn freigemacht, um seine Autobiographie in Form eines Romans zu schreiben.«138 Im Frühjahr 1780 glaubt er, den »Gipfel des Glücks« erreicht zu haben: »Es glückt mir alles was ich nur angreife.«139 Bereits im Februar 1778 hatte er damit begonnen, im Tagebuch die Perspektive der aktuellen Tagesbilanz um die Reflexion seiner Entwicklung der Weimarer Jahre zu erweitern: Schöne Aufklärungen über mich selbst und unsre Wirthschafft, Stille und Vorahndung der Weisheit. Immer fortwährende Freude an Wirthschafft, Erspamiss. Auskommen. Schöne Ruhe in meinem Hauswesen gegen vorm Jahr. Bestimmteres Gefühl von Einschränckung, und dadurch der wahren Ausbreitung. 140
Am Ziel angekommen, reflektiert Goethe seinen Erziehungsprozeß in der sentenzenhaften Manier des Tagebuchstils in den »Wahlverwandtschaften« oder den »Maximen und Reflexionen«: Mannichfaltige Gedancken und Überlegungen, das Leben ist so geknüpft und die Schicksaale so unvermeidlich. Wundersam! ich habe so manches gethan was ich iezt nicht möchte gethan haben, und doch wenns nicht geschehen wäre, würde unentbehrliches Gute nicht entstanden seyn. 141
Seine eigene Entwicklung wird nun zum vorbildlichen Ideal verallgemeinert. Wuthenow spricht von der »aphoristischen Prägung« der Goetheschen Tagebücher: »Die persönliche Erfahrung geht auf ganz selbstverständliche Weise in eine allgemeine, in ihrer Deutlichkeit wiederum sprichworthafte aphoristische Prägung über.«142 Immer stärker tritt im Tagebuch das geschlossene Selbstbild einer allseits ausgebildeten Persönlichkeit in den Vordergrund, dessen Genese es nachzeichnet und reflektiert. Alles Disparate, Störende, Widersprüchliche tritt dahinter allmählich zurück, bis es endgültig aus dem homogenen Lebenstext verdrängt wird. In den immer häufiger auftretenden Lücken der Tagebuchführung hat es seinen Ort wie in seinen bewußten Ausgrenzungen aus dem Text. Nach halbjährigem Schweigen notiert Goethe ins Tagebuch: »Es thut mir leid daß ich bis her versäumt habe aufzuschreiben. Dies halbe Jahr war mir sehr merckwürdig. von heut an will ich wieder fortfahren.« 143 Den inneren Widerspruch und die Diskrepanz zwischen idealem Selbstbild und tatsächlicher Selbsterfahrung, von dessen Thematisierung das Tagebuch der Ichgeschichte lebt, drängt es ab 1780 immer mehr zurück. Das ideale Selbstbild, das Goethe sich im Tagebuchtext erschrieben hat, bedarf des diarischen Textes nicht länger, vielmehr wird er nun zum Störfaktor. Mit Goethes Umzug in die Stadt endet das Tagebuch seiner Ichgeschichte.
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Eissler. Bd. 2. S.808. Werke 111,1. S. 115. 140 Werke III, 1. S.61. 141 Werke III, 1. S. 112. 142 Ralph-Rainer Wuthenow: Goethes Tagebücher als Lektüre. In: Ders.: Das Bild und der Spiegel. Europäische Literatur im 18. Jahrhundert. München. 1984. S. 197. 143 Werke III, 1. S. 128.
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3. D a s ausgegrenzte Individuelle: G e o r g Christoph Lichtenbergs Tagebücher 1789-1799 Lichtenbergs Tagebücher der Jahre 1789-1799 markieren das Ende meiner Untersuchung. Sie sollen aufgrund der problematischen Textlage144 keiner umfassenden Einzelanalyse unterzogen werden, sondern als exemplarisches Tagebuch am Ende einer kurzen Gattungsgeschichte im 18. Jahrhundert Erwähnung finden. Ebenso wie Goethe hat Lichtenberg seine Tagebücher von jeder Publikation ausgenommen. Seine Eintragungen des letzten Lebensjahrzehnts in den »Königl. GrosBritannisch- und Churfürst. Braunschweig-Lüneburgschen Staatskalender« haben rein privaten Charakter und sind für kein Lesepublikum bestimmt. Ebensowenig zählt Lichtenberg dieses Tagebuch zu seinen literarischen Arbeiten. Es steht ähnlich wie bei Goethe als zweiter literarisch untergeordneter Text neben dem philosophisch-aphoristischen Grenzfall der Tagebuchliteratur, den Sudelbüchern. Die Diskrepanz zwischen beiden Texten ist Programm: hier das unmittelbare, private bis intime Journal des alltäglichen Lebens, dort der philosophisch-essayistische Aphorismenstil auf höchstem Reflexionsniveau. Lichtenberg vollzieht damit eine klare Trennung zwischen privater und öffentlicher Textproduktion, deren Nichtexistenz eine Voraussetzung für die Kultur des Tagebuchschreibens um Lavater wie für die allgemeine Literalisierung im 18. Jahrhundert war. Lichtenbergs Tagebücher markieren neben Goethes Tagebuchführung das Ende der selbständigen Gattung Tagebuch im 18. Jahrhundert. Nachdem das Private, das Themenset von Ehe, Familie, individueller Bildungsgeschichte durch den Roman im Literatursystem verankert worden ist, erlischt die Funktion des Tagebuchromans vom Ich als eigenständiger Literaturform. Das allgemeine Schreibprojekt von der autobiographischen Fiktionalisierung des Ich geht in der literarischen Fiktion »Roman« auf. Helmut Pfotenhauer hat in seinem Aufsatz über Lichtenbergs Sudelbücher darauf hingewiesen, daß Lichtenberg bewußt auf die Konstruktion eines kohärenten Ich aus dem Wissen um seine Fiktionalität verzichtet: Im unentwegten Schreiben ereignen sich die skeptisch erstellten Vorläufigkeiten, deren nur durch den Tod abschließbare Summe wir wahrhaft sind. Ein Schreiben ereignet sich, das ohne formalistisch - uninteressant zu sein, sich selbst zum Zweck wird und im Aufschieben des Sich-Findens die vertrackte Einheit des Autors schafft. 145
Als ausschließlich persönliche Chronik des alltäglichen Lebens folgen Lichtenbergs Tagebücher keiner Mitteilungsfunktion mehr und werden zum exklusiven 144
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Vgl. dazu: Franz H. Mauthner: Lichtenbergs ungedruckte Tagebücher. Bericht und Anfänge einer Deutung. In: Euphorion 51.1957. S. 36-41. Helmut Pfotenhauer: Sich selber schreiben. Lichtenbergs fragmentarisches Ich. In: Ders.: Um 1800. Tübingen 1991. S.23. Weiter heißt es dort über die Sudelbücher: »Er opponiert den sinnsüchtigen, voreiligen Synthesen, die auch noch das Widersprüchlichste an uns integrieren. Er mißtraut den eingebildeten enthusiastischen Selbstbeobachtern, die die Beschreibung ihrer Empfindungen entzückt, weil, wie er sagt, sie dabei »etwas Prose< zu kommandieren haben.« S. 18.
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persönlichen Archiv des Lebens für seinen Schreiber. In dem Maße, wie sich das Tagebuch ganz auf das private Leben konzentriert, das nur noch hier seinen Textort findet, wird die Verdrängung des Privaten aus dem öffentlichen Leben deutlich. Das ausschließlich Individuelle ist nicht länger literaturfähig und wird aus der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen. Im Tagebuch wird mit Lichtenberg dasjenige Leben zum Text, das im allgemeinen Diskurssystem keinen Ort mehr hat. Unterschiedlichste Ausgrenzungsstrategien steuern nun den öffentlichen Diskurs: Das Individuelle als Besonderes ohne allgemeinen Beispiel- oder Verweisungscharakter oder Bedeutungszusammenhang unterliegt ihnen. Als Banal-Alltägliches (Familienleben, Geschäfte) oder Pathologisches (Körper, Sexualität, Tod) wird das individuelle Leben disqualifiziert, im Tagebuchtext findet es seinen letzten, auf seinen Schreiber als gleichzeitig einzigen Leser begrenzten Ausdrucksort. Worüber Lichtenberg in seinem Tagebuch Chronik führt, sind jene aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzten Bereiche seiner Person. Damit restituiert das Tagebuch die durch Ausgrenzungsstrategien des öffentlichen Diskurses verlorene Totalität individuellen Lebens im Text. Zentrale Themen in Lichtenbergs Tagebüchern sind neben der genauen Beobachtung seines Körpers, die Chronik seines sexuellen Lebens, wie die Entwicklung seiner Familiengeschichte auf dem Hintergrund verstreichender Lebenszeit. Eingebunden wird dieses individuelle Leben als ablaufende Lebenszeit in den individuell erfahrbaren Kontext des Jahresverlaufs im sinnlichen Erleben des Jahreszeitenwechsels und der ihm akzidentiellen gleichwohl bedeutenden Ereignisse der europäischen Geschichte im Revolutionsjahrzehnt. So verzeichnet Lichtenberg im ersten Jahr seiner Tagebuchführung am 14. Juli kommentarlos ausschließlich das zentrale politische Ereignis: »Pariser Revolution«.146 Die Entwicklung der Revolution hat er aufs genaueste verfolgt,147 im Tagebuch spielt sie allerdings nur peripher eine Rolle und bleibt gegenüber dem individuellen Leben äußerlich. Angesichts der vorrückenden Franzosen vertraut er 1794 seinem Tagebuch an: »Voller Unmut und Furcht, nicht vor den Franzosen; sonder[n] etwas ganz anders.«148 Nur die Ermordung der königlichen Familie registriert er mit wortlosem Entsetzen 149 und nimmt ihren Todestag in die Reihe der Gedenktage auf, die ursprünglich seinen Familienangehörigen und Freunden vorbehalten sind: »Heute ein Jahr, daß der König von Frankreich hingerichtet worden.« 150 Bereits die Inhaftierung des Königs hatte er mit Schrecken aufgenommen: »Morgens sehr rheumatisch und Diarrhoe, fürchterliche Nachrichten vom Könige von Frankreich,
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Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe. Zweiter Band. Hg. von Wolfgang Promies. Darmstadt 1971. S. 697. Vgl. dazu im weiteren am 10. August: »Heute vermutlich Lärm in Paris!! Gott gebe endlich Ruhe.« Schriften II. S.788. Vgl. dazu auch den Tagebucheintrag vom 28.5.1794 : »Ich lese und besehe das Buch mit den franz. Grausamkeiten.« Schriften II. S.807. Schriften II. S.818. Schriften II. S.770. Schriften II. S.797.
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daß er im Turme sitzt und keine Kleider hat. Was will das werden! !«151 Im Tagebuch vermischen sich die privaten Probleme mit dem politischen Ereignis, so daß nicht eindeutig zu entscheiden ist, wem das häufig geäußerte, formelhafte »Was will das werden!« eigentlich gilt. Vielmehr scheint hier Heterogenstes unter dem subjektiven Empfinden von Zukunftsangst beide Krisensituationen zu vereinen. Im Mai 1792 registriert er im Tagebuch preußische Truppenbewegungen im Zusammenhang mit der »Campagne in Frankreich«: Trotz meiner Schmerzen und dicken Backens fahre ich um 5 Uhr des Morgens auf den Garten um die Preußische Artillerie passieren zu sehen. Der Kanonen waren nur 12 große und eine kleine und 4 Haubitzen allein 70 Pontons, jeder mit 6 Pferden bespannt und noch eine Menge andere Wagen. 152
Ein paar Tage später kommentiert er in einem Brief an seinen Bruder die französischen Verhältnisse: »Ich an meinen Bruder über die Schwierigkeiten Frankreich zu bändigen«,153 und am 4. August vermerkt er im Tagebuch: »Ich lese das fürchterliche Manifest des Herzogs von Braunschweig gegen Frankreich, das den 25ten Julii zu Koblenz datiert ist«,154 und läßt noch einen weiteren Kommentar an seinen Bruder folgen.155 Ende Oktober verzeichnet er im Tagebuch ohne weiteren Kommentar die Belagerung von Mainz.156
3.1 Das verdrängte Private In den vielen scheinbar ephemeren Beobachtungen und Ereignissen des Tagebuchs kommt dagegen das individuelle Leben zu seinem Recht, indem der Text es in der Totalität seiner vielfältigen, oft widersprechenden, disparaten Einzelbereiche Ernst nimmt und ihm damit Bedeutung und Sinn verleiht. Lothar G. Müller spricht von der »mikroskopischen Psychologie« Lichtenbergs, deren Interesse sich auf das kleinste, Unscheinbarste und Unbedeutendste richte und »in der Innenwelt beobachtender Weltaneignung die Produktivität und Aktivität des Tatenlosen«157 entdeckt. Lichtenberg gliedert im Tagebuch wie andere Tagebuchschreiber auch individuelle Lebenszeit, indem er persönliche Daten setzt und über die Jahre hinweg kommentiert. Dazu gehören die eigenen Geburtstage sowie die seiner Kinder, die Ster-
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Schriften II. S.759. Vgl. dazu auch: »Der junge Baron Dietrich erzählt mir von der Flucht und Gefangennehmung des Königs von Frankreich.« S.723. Schriften II. S.755. Vgl. S.753f. Schriften II. S.756. Schriften II. S.757. Vgl. Schriften II. S.758. Vgl. Schriften II. S.764. Lothar G. Müller: Mikroskopie der Seele. Zur Entstehung der Psychologie aus dem Geist der Beobachtungskunst im 18. Jahrhundert. In: Gerd Jüttemann (Hg.): Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Weinheim 1986. S.203.
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betage seiner Eltern, des Bruders und der »Stechardin«, aber vor allen Dingen Naturbeobachtungen, Anzeichen für den Wechsel der Jahreszeiten. So verzeichnet er jedes Jahr, wann er die erste Schwalbe gesehen, den Gesang der ersten Nachtigall gehört, die ersten Erdbeeren und kurz darauf die ersten Kirschen gegessen hat. Besonderheiten der Witterung gehören ebenso zu zentralen Daten des Tagebuchs, wie der Essensplan der Familie, von dem ersten Salat aus dem eigenen Garten bis zu verschiedensten, zumeist geschenkten Genußgütern. Bezeichnenderweise ist es das Leben im Haus oder häufiger noch das in seinem Garten, das im Tagebuch im Vordergrund steht. Die Abfolge dreier Tage im Mai 1790 mag hier für viele andere stehen: Den lten Mai mit meiner 1. Frau und dem Jungen im neuen Schlafrock auf den Garten gefahren, göttliche Baum-Bliith. Den 2ten 3ten 4ten auf dem Garten geblieben abends den 4ten herein, den 4ten den türkschen Weizen gepflanzt. Den 8[ten] säte meine liebe Frau den Schnitt-Kohl und die Spelz. Die Soldaten kanonieren an der Leine und hinter dem Berge zur Übung [...] Den 25[ten] General-Revüe. Ich von der Diarrhoe befallen, meine 1. Frau den ganzen Tag auf dem Garten bei mir. zum lten Male Salat gegessen. 158
Natur- und Selbsterfahrung korrespondieren in Lichtenbergs Tagebuch häufig. Immer wieder gestaltet er wortreich die Entsprechung von Witterung, Klima und Selbstwahrnehmung. So sehnt er jedes Jahr den Frühling herbei, wartet auf seine ersten Anzeichen, um ihn euphorisch zu begrüßen. Bleibt er länger aus, so gerät er in Depressionen, wie im Mai 1793: Eine höchst traurige Witterung. Es wird rotes Präcip[itat]. auf mein Bein gelegt, welches schmerzt. Was will das endlich werden. Ich hänge Pickels Thermometer am nördlichen Fenster des Gartenhauses auf. Nie waren noch die Nachtigallen so selten. Es ist eine traurige Jahrszeit! (auf dem Garten geschrieben um 6 Uhr abends). 159
Aber schon am nächsten Tag kann er den ersten Sonnenaufgang beobachten, den er in einer Zeichnung festhält. Neben dem naturwissenschaftlichen Interesse, das Lichtenberg mit der Beobachtung des Sonnenverlaufs verbindet, wird die Sonne im Tagebuch zu einem Symbol des Lebens, einer allmächtigen und unendlichen, Leben erschaffenden und erhaltenden Kraft: Diesen Morgen 1/4 nach 4 Uhr sehe ich [die Sonne] zum zweitenmal in diesem Jahre aufgehen, und zwar so: erst sehe ich sie neben der Clausberger Kirche zwischen dem Turm und dem Baum bei a blitzen; auf einmal sähe ich das Tach bei b etwas leuchten und plötzlich kam der majestätische Bogen hervor so daß ich also vorher im dicksten Halbschatten der Kirche observierte. Alles dieses sah ich durch das Perspektiv an. Es war unbeschreiblich groß und schön. 160
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Schriften II. S.701. Schriften II. S.780. Schriften II. S.781.
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Dem entsprechend verbindet sich der Sonnenuntergang mit dem Tod, dessen Wahrnehmung Lichtenberg zu »artifiziellen Betrachtungen« anregt und die sich ihm nachhaltig ins Gedächtnis eingraben: »Soeben schleppt man Michälisens Sarg vorbei, er glänzt in der Abend-Sonne wie Feuer selbst, so daß ich das Bild davon noch lange in meinen Augen sah.«161 Am Ende steht die Natur als Metapher für den nahen eigenen Tod des Schreibers: »In Hemmelmanns Laube, und schicke meiner 1. Frau eine Blume aus bunten abgefallnen Herbst-Blättern, ganz mein Ebenbild!! Gerechter Gott! herrliches Wetter.«162 Im Hause dominieren die Wechselfälle der ehelichen Beziehung 163 den Text neben der genauen Chronik über Geburt und Entwicklung der Kinder, an der Lichtenberg intensiv emotionalen Anteil nimmt. Mit verstecktem Stolz vertraut er englisch (!) seinem Tagebuch an: »The little booby laughd at me.«164 Trotz des verknappten Stils äußert sich hier immer wieder ungeschützt seine emotionale Beteiligung am Leben der Kinder, die in kurzer Folge nacheinander geboren werden. Im Text werden sie in der Entwicklung ihrer eigenen Individualität wahrgenommen. Von seinem zweiten Sohn hält er sowohl die ersten Schritte165 als auch die ersten sprachlichen Versuche fest: »Vorige Nacht der Junge im Garten Lüte! Lüte! gerufen.« 166 Parallel dazu heißt es am 22. Oktober 1793: »Wilhelmchen Burztag. Gedicht von mir.«167 Im Tagebuch werden die Kinder zu Gleichberechtigten, der Erwachsene eignet sich mit Empathie ihre Perspektive an, scheint selbst noch einmal zum Kind zu werden. Den 14. Januar beschließt er mit den Worten: »Abends die Kinder Häuser gebaut mit Stühlen.«168 Die Kinder spielen so eine bedeutende Rolle im Leben des Schreibers. Nicht nur ihre Krankheiten 169 werden mitleidend und sorgenvoll registriert, sondern Lichtenbergs Beschäftigung mit ihnen 170 wie seine Erziehungskonflikte, in de-
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Schriften II. S.728. Schriften II. S.791. Vgl. dazu: Mauthner. S.31f. Schriften II. S.732. »Der kleine Wilhelm läuft zum erstenmal.« Schriften II. S.771. Vgl. auch S.708. Über eine seine Töchter bemerkt er: »Mimi säumt ein Schnupftuch sehr schnell und gut.« S.855. Schriften II. S.833. Schriften II. S.792. Schriften II. S.769f. Vgl. auch: »Dem Kleinen sind die Augen zugeschwollen.« Schriften II. S.703 und am 23. 9.1790 heißt es: »Der kleine Junge abscheulig gefallen.« S. 707. Am 30. April 1792 notiert er: »Den Nachmittag mit m. 1. Frau nach dem Ellershäuser Holz. Göttlich schön! wahrer Genuß des Lebens, der kleinste Junge wird uns entgegen getragen ! Schade, daß ich Rückenschmerzen hatte. Überall Nachtigallen Guguck und Blüten. Der arme kleine Junge sehr taub!!« S. 750. »Das kleine Mädchen sehr wund.« S. 766. Zur Krankheit Wilhelms: Vgl. S. 777ff. Das Ende der Krankheit hält Lichtenberg mit den Worten fest: »Der kleine liebe Junge (Wilhelmchen) sehr vergnügt bei mir.« S. 780f. Die Krankheit einer seiner Töchter kommentiert er durch seine Reaktion: »Abends Schrecken wegen Minchens Ruhr, aber panisch.« S. 815 Über seinen ersten Sohn berichtet er: »Dem Kleinen einen Regenbogen gezeigt.« Schriften II. S.703. Wenige Tage später verzeichnet Lichtenberg: »Der kleine Junge die Eidexe in den Händen gebracht.« S.708.
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nen er sein eigenes Verhalten kritisch kommentiert, werden im Tagebuch thematisiert. Am 2. Juli 1794 notiert er: »Den ältesten Jungen zum ersten Mal geschlagen. Er jammert mich nachher sehr.«171 Formelhafter und emotionsloser archiviert das Tagebuch die Beziehung zur Ehefrau, die sich von wenigen Ausnahmen abgesehen über eheliche Auseinandersetzungen und die wertende Dokumentation ihrer sexuellen Kontakte und ihrer Folgen herstellt. Der Körper seiner Frau wird zum Gegenstand seiner genauen Beobachtung, wenn es darum geht, ihren Zyklus zu verfolgen. Bleibt die Schwangerschaft als ungewünschte Folge des Sexuallebens der Partner aus, vermerkt Lichtenberg dies mit Erleichterung: »Rot! Rot! Thanks to God Almighty.«172 Bereits zu Beginn seiner Ehe hält Lichtenberg eine diesbezügliche Warnung aus seinem Freundeskreis mit ironischem Unterton fest: »Dietrich bringt von Richter die Erinnerung mit, ich soll mich im Ehebette in 8 nehmen. Etwas aber nicht viel.«173 Mit derselben direkten Unmittelbarkeit kommt die Existenzangst des Schreibers durch die materielle Belastung der ständig anwachsenden Familie im Tagebuch zum Ausdruck: »1. März, filia nata um 3 Uhr des Morgens alles recht gesund. Brod! Brod. Ich wenigstens ziemlich leidlich den ganzen Tag. Die Wöchnerin auch.«174 Die fünfte und vorletzte Schwangerschaft seiner Frau kündigt er dagegen im Tagebuch mit den Worten an: »Die Uhr nach dem Datum gerichtet morgens um 8. meine 1. Frau sehr übel wahrscheinlich wieder guter Hoffnung. Heaven assist us!!!«175 Der verzweifelte Hilferuf angesichts der erneuten Schwangerschaft wandelt sich wie bei allen vorigen in Freude und Erleichterung bei der Geburt. Im Tagebuch begrüßt er das neue Kind und nimmt es als Vater an: »Morgens um 3/4 auf 3 Uhr auf. M. 1. Frau eine KLEINE TOCHTER abends um 3/4 auf 6. Ich nach der Stadt. Alles befindet sich recht wohl.«176 Im Tagebuch wird der unbedeutende einzelne Tag durch die Totalität der individuell wahrgenommenen, sinnlich konkreten Einzelheiten zu einem bedeutsamen, der sich als unverwechselbar einzigartiger aus dem monotonen Ablauf der Tage und Jahre durch das im Text gesetzte Signum heraushebt. So setzt sich die Signatur jeden Tages aus vielen, disparaten Einzelheiten zusammen, durch deren Beziehung und Wirkung untereinander der Schreiber sich täglich neu definiert. Der stetigen Erneuerung der Natur im Jahresrhythmus steht die Lebensgeschichte des Schreibers kontrastierend gegenüber. Wo der harmonische Einklang zwischen Natur- und Selbsterfahrung gestört wird, beide in eine Dissonanz zueinander geraten, wird diese Diskrepanz schmerzhaft bewußt: »So eben komme ich auf dem Garten an al-
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Schriften II. S.812. Schriften II. S.845. Schriften II. S.703. Schriften II. S.772. Schriften II. S.817. Vgl. dazu auch: »Rot ist zu Ende vorigen Monats ausgeblieben!!« S.757. »Kein Rot, du großer Gott!! [...] Meiner lieben Frau seit einigen Tagen übel (!!!)« S.850f. Schriften II. S.826.
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les in Blüte, warm, Wohlgeruch. O wenn doch innerlicher Friede da wäre! Sehr schöne, göttliche Zeit! Blüten-Schnee.«177 Am darauffolgenden Tag heißt es: »Himmelfahrt. Alles voller Blüte und schön nur in mir selbst nicht.«178 Noch zwei weitere Tage hält die Krise an: »Blüten und Tulpen aber innerlich alles versteinert. Kopf und Herz.«179 Es ist eine Entwicklung zum Tode, ein stetiger körperlicher Verfallsprozeß, den das Tagebuch beschreibt. Das Kontingente, Zusammenhanglose, je Einzigartige der einzelnen Tage, die das Tagebuch hintereinanderreiht, wird zusammengehalten durch die konsequente Beobachtung des kontinuierlichen Alterungsprozesses des Schreibers, seiner Annäherung an den Tod, die sich wie ein roter Faden durch das Tagebuch zieht. Im Tagebuch findet der Kampf gegen den eigenen Tod, gegen die Todesangst, ihren Artikulationsraum. Diffuse Ängste bedrängen den Schreiber, deren Herkunft er sich nicht erklären kann: »Ich einen fürchterlichen Anfall von ängstlicher Empfindlichkeit!!« 180 Diese unkontrollierten Ängste verfolgen ihn bis in den Schlaf: »Wenn ich schlummern will, erwache ich allemal mit Angst.«181 Zuletzt besetzen sie seine Träume: »vorige Nacht den Traum, ich sollte mich zu dem gehenkten Kerle ins Bette legen. Abends einen fürchterlichen Blitz durch den Kopf.«182 Plötzlich und unvorhersehbar meldet sich schmerzhaft die verdrängte Todesangst und erzeugt Schrecken. Zu Beginn der Tagebuchführung steht die genaue Beobachtung der eigenen Gesundheit und einzelner Körperreaktionen im Vordergrund, die der Schreiber akribisch dokumentiert. Im fortschreitenden Schreibprozeß treten offene Bekenntnisse über die eigene psychische Verfassung hinzu, die ihre Herkunft von der meist unausgesprochenen Gewißheit des nahen eigenen Todes herschreiben. So steht das Schreiben im Zeichen des Todes. Seine Geburtstage nimmt Lichtenberg in den letzten Jahren als vorweggenommene Todestage wahr: »Mein Geburtstag!!! Wie lange wirds währen!!!«183 schreibt er am 1. Juli 1795 und ein Jahr später: »Natalis dies, wahrscheinlich der letzte! !«184 Mit ähnlichen Gedanken kommentiert er den Jahreswechsel 1792: »Ende!!! Wo werde ich heute über ein Jahr sein!!!«185 Im Verlauf der Tagebuchführung vermehren sich die Todeszeichen, das Tagebuch wird zum Dokument eines schrittweisen, symbolischen Sterbens. Lichtenberg beginnt den Bericht seines langsamen Sterbens mit der Eintragung vom 30. Oktober 1790: »Heute ein Jahr, daß ich krank geworden bin und geheiratet habe.«186 Im weiteren beobachtet er mit äußerster Genauigkeit den langsamen Ver-
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Schriften Schriften Ebenda. Schriften Schriften Schriften Schriften Schriften Schriften Schriften
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II. S.777. II. S. 778. II. II. II. II. II. II. II.
S.725. S. 775. S. 767. S. 811. S.845. S. 769. S. 708.
fallsprozeß seines Körpers: »Ich sehe aus wie ein 70jähriger Mann.«187 Oder aber: »Ich finde eine starke Veränderung in meinem Gesicht auf der linken Seite. Alter vielleicht!«188 Schon vorher hatte er das Nachlassen seiner mentalen Kräfte verzeichnet: »Ich verspüre starke Abnahme an Gedächtnis!!!«189 Von »Todeskälte«190 wird sein Körper befallen: »Aber abscheulig kalte Füße wie der Tod, anhaltend. Ich esse allerlei durch einander, fast aus Verzweiflung, und werde den Abend so äußerst elend, daß ich glaube es wäre am letzten mit mir.«191 Noch einmal glaubt der Schreiber dem Tode nahe zu sein: »Ich fahre vor 4 Uhr nach dem Garten, sehr elend und MATT, mehr als fast je!!! Niemals habe ich mehr an meinen Tod gedacht als jetzt und ich hab es Ursache.« 192 Der Erfahrung des langsamen physischen Sterbens versucht der Tagebuchtext durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die vielfältigen, sexuellen Aktivitäten des Schreibers zu begegnen. Zum Ende des Tagebuchs hin nimmt die verschlüsselte Chronik des Sexuallebens Lichtenbergs 193 einen immer größeren Raum ein. Am ersten Tag seines Todesjahrs, 1796, weist er selbst auf diesen Zusammenhang zwischen Eros und Thanatos in einer Todesahnung hin: »Gestern Abend fürchterlich lange Latte. Es geht ans Leben dieses Jahr.«194 Lichtenbergs Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod unterscheidet sich damit erheblich von der früherer Tagebuchschreiber. Die schonungslose Dokumentation des eigenen körperlichen Verfallsprozesses und der individuelle Kampf gegen den Tod durch die Mobilisierung der letzten vitalen Funktionen überschreiten die Grenzen des öffentlichen Diskurses über den Tod. Mit naturwissenschaftlichem Interesse verfolgt Lichtenberg die langsame Zerstörung seines Körpers, ohne die Erfahrung des nahenden Todes durch eine heilsgeschichtliche Hoffnung zu mildern oder zu kanalisieren: »Gestern abend wieder Rheumatismus aber heute morgen wieder besser gar nichts Merkwürdiges.«195 Angesichts des Todes wird der Tagebuchtext zum Repräsentanten des Körpers und seiner Geschichte, die nur er bewahrt. Als endliche Körpergeschichte wird das Tagebuch zur individuellsten Selbstrepräsentanz seines Schreibers.
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Schriften Schriften Schriften Schriften Ebenda. Schriften Vgl. dazu Schriften Schriften
II. II. II. II.
S.800. S. 807. S.759. S. 767.
II. S.791. Mauthner. S.36ff. II. S. 854. II. S.856.
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X. Zusammenfassung
Die Tagebücher aus vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, mit denen sich die Untersuchung befaßt hat, stehen im Brennpunkt zweier eng miteinander verknüpfter Entwicklungsstränge, der Individualisierung und Literalisierung der Gesellschaft um 1800. Die Kultur des Tagebuchschreibens, ergänzt durch die Briefkultur, markiert seit der Mitte des 18. Jahrhunderts den letzten Entwicklungsschritt des Übergangs von einer überwiegend mündlich geprägten zu einer allgemein literalisierten Gesellschaft. Eingeübt werden diese neuen Paradigmen durch die Forderung der aufklärerischen Gemeinschaftskultur zur diarischen Selbstbeschreibung. Individualität, dies ist die These der Untersuchung, ist ein Produkt von Schriftlichkeit. Die Kultur des Tagebuchschreibens entsteht aus der Simulation mündlicher Kommunikationssituationen. Abzulesen ist dies an der dialogischen Konstruktion der Tagebücher als Gebet (Haller, Geliert), als Gespräch mit dem anderen (Lavater, Pfranger, Goethe), zuletzt als Selbstdialog (Recke) wie an der Praxis ihrer Veröffentlichung vom Lesen des Adressaten über das Vorlesen im engen Freundeskreis bis zur Publikation für ein allgemeines Lesepublikum. Am Ende dieses Prozesses steht die ausgeprägte individuelle Schrift, die Selbstkommunikation, die keiner Legitimation für und vor dem anderen mehr bedarf, die literarische Selbsterfindung unter Ausschluß einer überwachenden Öffentlichkeit, sprich des allgemeinen Lesepublikums (Goethe, Lichtenberg). Textproduktion wird zum Selbstzweck, während vorher Individualitätskonzepte ausschließlich als Selbstplausibilisierungen für den konkreten anderen als Repräsentanten der Gesellschaft strukturiert waren. Das eigene Ich, so das diskursive Muster, wird in seiner Relation zu dem anderen entworfen und legitimiert, erst mit zunehmender Literalisierung entsteht eine unabhängige Textindividualität unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Konstruktionen des anderen, vor denen sich die Tagebuchschreiber selbst entwerfen und rechtfertigen, tragen den Namen Gott, Geliebte[r], Freund, Sohn und sind nichts anderes als das fiktive ideale alter ego, das der Text entwirft, um sich in ihm selbst zu spiegeln. Immer ist dieser andere der stumme, abwesende Partner, nicht von ungefähr vielfach der Tote, mit dem die Schreiber ihren Selbstdialog führen. In der Identifikation mit dem Toten (Lavater) vollzieht sich die erste Erfahrung des eigenen Selbst. Selbstkonstitution im Tagebuchtext entsteht zunächst als Entwurf für und durch die Spiegelung am fiktiven alter ego, dem von der Schreiberperson getrennten IchIdeal. Das Bild dieses anderen ist konkret und eindeutig identifizierbar, es hat einen Namen und einen Körper. Hier formuliert der Schreiber im Namen des idealen anderen sich selbst. Dieses Modell des unselbständigen Ich-Entwurfs im Spiegel des konkreten anderen wird im Laufe zunehmender Literalisierung durch den Text ab284
gelöst. Spätestens mit Goethes und Lichtenbergs Tagebüchern konstituieren sich Tagebuchschreiber im und durch den Text. Der Text hat den konkreten anderen abgelöst. Er ist zum einzigen und ausschließlichen Medium der Selbstkonstitution geworden. Nicht mehr vor dem konkreten oder fiktiven anderen legitimieren und erklären sich nun die Schreiber, sondern ausschließlich für sich selber und vor dem Text. D. h. was der einzelne ist, manifestiert sich im Schreiben. Das sich selbst erzeugende Individuum ist sein Text: Individualität ein Textprodukt. Mit diesem Modell der individuellen Selbstkonstitution entstehen neue Beschreibungsparameter. Das Tagebuch wird zum Bestandteil in dem großen, übergreifenden Projekt des Entwurfs einer individuellen Lebensgeschichte. Als minutiöses Archiv einer Geschichte des Ich arbeitet das Tagebuch an der Dokumentation von Lebenszeit. Es wird zum Medium des Erinnerns, zum nach außen verlagerten Gedächtnis einer individuellen Biographie, die am Ende Rechenschaft ablegen soll über die genutzte Lebenszeit. In der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde bisher einstimmig davon ausgegangen, daß die Entstehung der Kultur des Tagebuchschreibens im 18. Jahrhundert ursächlich mit der Ausprägung individuellen religiösen Erlebens im Pietismus verbunden ist. Diese These konnten meine Untersuchungen nicht bestätigen. Zunächst ergaben größere Quellenrecherchen zu dem Bestand pietistischer Tagebücher, daß sowohl für den stärker auf das individuell affektive Erleben ausgerichteten Herrnhuter Pietismus als auch für den eher rationalen, außenorientierten Halleschen Pietismus die Tagebuchführung der Gemeindemitglieder eine geringe bzw. eine begrenzte, eindeutig zweckorientierte Rolle spielte. Im Kreis der Pietisten finden sich keine Tagebücher, deren Führung dem vorrangigen Motiv der Selbstbeschreibung folgt. Vielmehr entstehen sie zumeist als reine Rechenschafts- oder Arbeitsberichte des äußeren Lebens (Typus Missionsberichte im Halleschen Pietismus) bzw. des Lebens und Wirkens in der Gemeinde (Herrnhut, Schwaben, Westfalen). Sowohl Zinzendorfs als auch Franckes Tagebücher sind alles andere als Modelle religiöser Selbsterfahrung; für die Entstehung und Entwicklung der Gattung Tagebuch kann ihnen keine Bedeutung zugerechnet werden. So sind auch spätere Tagebücher von Vertretern des Pietismus wie ζ. B. die Tagebücher von Collenbusch oder Rauschenbusch und sogar das Tagebuch Jung-Stillings keine Tagebücher einer inneren Ichgeschichte. Ihnen fehlt das entscheidende Motiv des Tagebuchschreibers, sich im und durch das Schreiben selbst zu konstituieren. Vielmehr entstehen Tagebücher als Selbstbeschreibungen erst dort, wo Schreiber, die bereits im aktiven Umgang mit literarischen Texten geschult sind, (Haller, Geliert, Lavater) individuelle Selbstbeschreibungen auf dem Hintergrund religiöser Selbsterfahrungsmodelle entwerfen. Die Übernahme und Einarbeitung von pietistischen Versatzstücken der religiösen Erfahrung, (Erweckung, Wiedergeburt, Gnadenstand) wie auch die Adaption des Diskurses der Empfindsamkeit bleiben zwar für lange Zeit Modelle der Selbstbeschreibung, können aber nicht als Motiv des diarischen Schreibflusses angesehen werden. Dagegen bildet den ursprünglichen Schreibanlaß für das Tagebuch bei den oben genannten Autoren nicht die Er285
fiillung eines pietistischen Biographiemodells, sondern die Erfahrung des Todes und damit diejenige der Endlichkeit und Einmaligkeit der eigenen Existenz, die zur Selbsterschreibung zwingt. Gegen die Pietismus-These bisheriger Untersuchungen setzt die vorliegende Arbeit die These von der zentralen Erfahrung des Todes als Auslöser und Motiv von Selbstkonstitutionen im Tagebuchtext. Parallel und in Abhängigkeit zu der Ausdifferenzierung von Individualitätskonzepten wandelt sich in der Tagebuchliteratur die Bedeutung des Todes: Von der täglich präsenten Perspektive auf den eigenen Tod (Haller, Geliert) über die Selbstbeobachtung und -erziehung im Mitvollzug des Sterbens der anderen (Lavater) und das Leiden über den Verlust der bedeutsamen anderen, die eigene Krankheitserfahrung in der modernen Trauerarbeit (La Roche) und die narzistische Selbstspiegelung im erfahrenen Verlust (Recke) bis zur Verdrängung des Todesthemas aus dem Text als seine implizite Voraussetzung für die Ausdifferenzierung individueller Entwicklungsgeschichte im Kontext endlicher Lebenszeit (Goethe, Leisewitz, Lichtenberg). Die Tagebücher Hallers und Gellerts thematisieren das eigene Leben als endliches Durchgangsstadium zu einer anderen, vollkommeneren Existenz. Auf dem Hintergrund der im Text ständig wachgehaltenen Todesgewißheit, zwischen deren extremen Polen, Todessehnsucht und Todesfurcht, der Text hin und her schwankt, entwerfen sich die Schreiber im Dialog mit dem idealen alter ego Gott als unselbständige Produkte ihres Schöpfers. Die Tagebuchführung dient nicht dem Ausdruck von Individualität, sondern vielmehr der Annäherung an das ferne Ideal, der eigenen Selbstvergewisserung als Geschöpf Gottes, dem Sichtbarmachen der Existenz Gottes in der eigenen Person durch das Schreiben. Daher sucht das Tagebuch die Nähe zu seinem idealen Vorbild, dem Heiligen Text. Es wird zu dessen Nachschrift, versucht den Urtext durch Lektüre und Gebet zum eigenen Lebenstext zu machen. Das Tagebuch als dialogischer Gebetstext wird zum Gespräch mit dem fremden anderen, dem Gott in der eigenen Person. Lavaters erstes publiziertes Tagebuch bildet nicht nur wegen seiner großen Beachtung, die es beim Publikum fand, ein wenn auch spätes Modell des literarischen Tagebuchs, auf das sich fast alle nachfolgenden Schreiber kritisch beziehen. Mit diesem Tagebuch verfolgt der Autor die Literalisierung eines Modells religiöser Selbsterfahrung. Als literarischer Text wird das Tagebuch zu dem, was es immer ist, zu einem fiktionalen Text, d. h. zur fiktionalen Selbstkonstitution des Schreibers im Text. Als »Roman des Gewissens« konzipiert, versammelt Lavater in diesem Tagebuch alle entscheidenden biographischen Ereignisse im Leben eines Christen, um an ihnen Modelle des Selbsterlebens zu erschreiben. Auch in diesem Text steht an zentraler Stelle die Erfahrung des Todes (das Sterben des Freundes Felix Hess), die zum entscheidenden Motor der Selbstreflexion im Schreiben wird. Während Lavater in seinem ersten Tagebuch noch darauf abzielte, einen beispielhaften Ausschnitt aus der Biographie eines Christen als Erbauung für seine Leser zu konstruieren, schreibt er sich im zweiten Tagebuch von diesem normativen Persönlichkeitsideal los. Entscheidend wird dabei Lavaters neues Text Verständnis. Entgegen Tagebuchschreibern wie Haller und Geliert rekurriert Lavater nicht mehr 286
auf die Heilige Schrift als oberster Textautorität, der es nachzuleben und -schreiben gilt, sondern stellt das Einzelindividuum ins Zentrum seines Interesses, das er als den neuen, »heiligen« Text begreift, den es zu entschlüsseln und mitzuteilen gilt. Damit bekommt das Tagebuch eine neue Funktion: Als individueller Lebenstext verleiht es dem Schreiber erst seine Existenz. Im Schreiben erschafft sich der einzelne selbst, konstituiert seine unverwechselbare Lebensgeschichte. In diesem Sinne kann Lavater im Tagebuchschreiben seinem Leben Bedeutung zuweisen, wenn er biographische Daten und Ereignisse seiner Familie, wie Geburts- und Hochzeitstage, im Text fixiert. Mit seinem Tagebuch für seinen in Göttingen studierenden Sohn Heinrich setzt Lavater sein begonnenes Tagebuchprojekt konsequent fort. Nicht von ungefähr löst bei Lavater der fiktive Dialog mit dem abwesenden Sohn den Dialog zwischen Tagebuchschreiber und dem unerreichbaren Vatergott früherer Schreiber ab. Das Ideal der Vater-Sohn-Beziehung, das Lavater im Text-Dialog zu realisieren versucht, ist nicht nur pädagogisches Konzept, sondern zugleich Ausdruck eines Selbstverständnisses, das sich nur im Dialog, der Spiegelung im verstehenden anderen realisieren kann. Individualität ist hier keine in sich abgeschlossene, selbstreferentielle Qualitität des einzelnen, vielmehr bedarf sie des anderen. Nur im Spiegel des anderen kann der einzelne sich selbst erfahren; so vielen Spiegeln er gegenübertritt, so viele Dimensionen seiner Person erfährt er. In Beziehung zu anderen treten, heißt damit, die endlose Anstrengung des wechselseitigen Austauschs von Texten und Bildern zu unternehmen. Leben wird zu einem unausgesetzten Prozeß der Selbstproduktion und Interpretation seiner selbst und des anderen d. h. zur Kommunikation zwischen Texten und Bildern. Bedroht wird diese endlose Tätigkeit der Selbstproduktion nur durch den Tod. Gegen das Verlöschen von Individualität im Tod setzt Lavater den Text seiner Lebensgeschichte, den er dem Sohn im Tagebuchdialog einzuschreiben versucht, um sich so ein Weiterleben nach dem Tod im anderen zu sichern. Tod und Schreiben sind auch bei Albertine Pfranger wie bereits bei Lavater aufs engste miteinander verknüpft. Der endgültigen Trennung von ihrem Lebenspartner durch den Tod begegnet Pfranger im Schreiben ihres Tagebuchs, dem fiktiven Dialog mit dem geliebten Partner. Dem Mangel an konkreter, direkter Kommunikation wird der fiktive Dialog im Schreiben als endliche Überbrückung der Trennung entgegengesetzt. Im Text wird die Vergegenwärtigung des verlorenen Partners zur Feier der Gemeinsamkeit, einer idealen Gemeinschaft, die der Realität mangelt. Das Tagebuch bekommt bei Pfranger wie bereits bei Lavater die Funktion, ein neues Muster der Identitätsbildung zu institutionalisieren, das individuelle Lebensentwürfe auf der Grundlage familialer Kontinuität konstruiert. Das Ideal des eigenständigen, geschlossenen Systems der Familie, in das sowohl die Lebenden als auch die Toten gleichberechtigt einbezogen sind und an dem sie dauerhaft teilhaben, entwirft Pfranger zuletzt mit dem Vermächtnis ihres Tagebuchs als einzigem Erbe an ihre Kinder.
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Reisen als Aufbruch in eine unbekannte Innenwelt des Subjekts unternehmen Sophie La Roche in ihren zwei Schweizreisen und Goethe mit seinem »Tagebuch der Italienischen Reise« für Charlotte von Stein. Sophie La Roches Reisen in die Schweiz von 1787 und 1793 stehen in einem engen Zusammenhang miteinander. Verbunden werden sie durch den Tod des Sohnes, der sie auf der ersten Reise begleitet hatte. Die zweite Reise unternimmt sie kurze Zeit nach seinem Tod. Damit wird das an die Töchter adressierte Tagebuch zur erinnernden Trauerarbeit, die Vergangenheit und Gegenwart im Zeichen des Todes neu interpretiert. Nach dem Tod ihres dreiundzwanzigjährigen Sohnes unternimmt La Roche den Versuch, die individuelle Bedeutung des Verlustes durch das Aufsuchen der abrupt beendeten gemeinsamen Geschichte zu erfahren und wachzuhalten. Die Reise in die Geschichte der Gemeinsamkeit prägt nicht nur die Struktur des Erinnerns, sondern auch die Erfahrung der Gegenwart aus. Reisen wird hier zu einer Metapher des Todes, in der nicht nur die Erfahrung des Todes des anderen eingeht, sondern die des eigenen vorweggenommen wird. Wie La Roches Schweizreisen bekommt auch Goethes erste Italienreise die Bedeutung einer Lebensreise. Goethe begreift seine Italienreise des Jahres 1786 als bewußt herbeigeführten Bruch innerhalb seiner Lebensgeschichte. Dem abrupten Aufbruch in die unbekannte Welt ist die Hoffnung auf einen Identitätswechsel beigegeben. Dieses Selbstexperiment mit offenem Ausgang ist für den Reisenden nicht ohne Gefahr, da er mit ihm den Verlust seines alten Bezugssystems riskiert. Daher löst der herbeigesehnte Tod der alten Identität im Reisenden zugleich Verlustängste aus. Sein Tagebuch für Charlotte von Stein ist der Versuch, zwischen altem und neuem Ich zu vermitteln, der Geliebten die eigene Veränderung erfahrbar zu machen, sich ihrer Nähe zu versichern, indem er sie im Schreiben am eigenen Wandlungsprozeß teilnehmen läßt. Im Text ist die Partnerin des alten Ich ständig präsent, der Reisende leiht ihr im Text sein Auge, läßt sie mit seinen Augen den Blick auf die fremde Welt werfen. Gleichzeitig wird sie zum Fixpunkt, Gradmesser und Korrektiv seiner Veränderung, wenn er mit ihren Augen sich selbst in der neuen Welt betrachtet. Die Reise wird bei Goethe zur Metapher einer befreienden Entgrenzung. Mit dem Aufbruch nach Italien entsteht die Konzeption eines anderen idealen Ich als Reise zurück in die Kindheit und Jugend, um in Venedig verändert wiedergeboren und in Rom als Jugendlicher initiiert zu werden. In den Tagebüchern der Elisa von der Recke vollzieht sich ein entscheidender Entwicklungsschritt innerhalb der Gattung des literarischen Tagebuchs. Wie bei Lavater und Pfranger bildet auch bei Elisa von der Recke das ursprüngliche Motiv für den Beginn der Tagebuchführung der Verlust gleich mehrerer bedeutender Kommunikationspartner (Tochter, Bruder, Freundin). Entscheidend aber ist, daß sie entgegen Lavater und Pfranger ihr Tagebuch nicht mehr als fiktiven Dialog mit den verlorenen Freunden konzipiert, sondern von Anfang an ausschließlich mit sich selbst kommuniziert, d. h. das Tagebuch zu einem Dialog mit dem zweiten Ich macht und damit das Modell eines selbständigen und unabhängigen Ich-Entwurfs im Text schafft, der nicht mehr an den fiktiven, idealen anderen gebunden ist. Seit Elisa von 288
der Reckes Tagebüchern kommunizieren Tagebuchschreiber ausschließlich mit dem Text, auch wenn sie ihr Tagebuch auf einen konkreten Leser hin schreiben. Die Konstitution eines unabhängigen Ich aus dem selbstreflexiven Dialog wird zur vorrangigen Aufgabe aller weiteren Schreiber. Selbstkonstitution im Text wird bei Recke zur einer quasi »autoerotischen« Selbstabschließung. »Seelenergießungen« nennt sie ihre Aufzeichnungen, mit denen sie ihre Person hermetisch gegen die Außenwelt abschließt. Andenken und Erinnern kennzeichnen ihre Selbsterfahrung im Text. Während Reckes erstes erhaltenes Tagebuch ganz dem Andenken gewidmet ist, in dem sie einsame Gedenkfeiern für die Toten zelebriert, wird in ihren späteren Tagebüchern das Erinnern zum zentralen Motiv der Tagebuchführung. Erinnern steht bei Recke unter dem Vorzeichen der Erfahrung des individuellen Scheiterns und wird zum Ausdruck des Wunsches, die eigene Lebensgeschichte noch einmal neu schreiben zu können. Ihr Tagebuch wird zur modernen psychologischen Krankheitsstudie, oszillierend zwischen narzißtischen Selbstfeiern und hysterischem Lustgewinn am selbst erzeugten Leiden. Die Tagebuchliteratur nach Elisa von der Recke folgt dem Ziel, Geschichten des Ich zu schreiben. Als andere Geschichte innerhalb der Geschichte kennzeichnet sie den Versuch, gegen das Verlöschen von Individualität anzuschreiben, sich selbst als Individuum im lebensgeschichtlichen Schreibprozeß zu konstituieren. Tagebücher werden daher zunehmend zu Chroniken des individuellen Alltagslebens, in dessen Aufschreiben sich die Tagebuchschreiber als existent erfahren. Geschichte wird in diesen Tagebüchern zur zentralen Metapher der Selbstkonstitution. Nur wer sich selbst eine eigene kontinuierliche, lückenlose Lebensgeschichte zuschreiben kann, kann zu einem Bewußtsein seiner selbst gelangen, das zur unabdingbaren Voraussetzung für die Konstruktion personaler Identität wird. Leisewitz' Tagebücher der Jahre 1779 bis 1781 entstehen nicht nur in dem Bewußtsein, sich eine eigene Geschichte erschreiben zu müssen, sondern viel stärker noch unter dem Diktat von permanenter individueller Entwicklung. Das Tagebuch wird zur Tagesbilanz über die Diskrepanz zwischen dem zukunftsorientierten Selbstentwurf und seiner Realisation in der Praxis. Normative Selbstvorschriften als Projekt einer autonomen Selbsterziehung dominieren das Tagebuch, das in der ständigen Selbstlektüre zum Dokument individueller Unzulänglichkeiten und der nie endenden Arbeit der Korrektur von Selbstentwürfen wird. Biographische Selbsterschaffung nach dem Muster bürgerlicher Lebensentwürfe (Beruf, Familie) sucht das Tagebuch unter dem allmächtigen Gesetz der Zeit zu erfüllen. Das entscheidend Neue an Goethes Tagebüchern der Jahre 1776-1782 ist, daß sie für keinen Leser mehr geschrieben werden, vielmehr sogar durch Techniken der Verschlüsselung, der Andeutung und Verkürzung an seinem Ausschluß arbeiten. Während noch Leisewitz sein Tagebuch auf eine begrenzte Kommunikationsgemeinschaft hin bzw. für eine konkrete Leserin, seine Braut, entwarf, führt Goethe sein Tagebuch ausschließlich für sich selbst als Archiv individueller Ich-Geschichte. Das Tagebuch wird hier zum nach außen in den Text verlagerten Gedächtnis seines Schreibers, zum Material für nachträgliche autobiographische Erinnerungsarbeit eines sich selbst historisch gewordenen Individuums. Unter der Prämisse der konti289
nuierlichen individuellen Entwicklungsgeschichte, entsteht in Goethes frühen Tagebüchern parallel zum »Wilhelm Meister« der persönliche Roman einer exemplarischen Entwicklungsgeschichte bürgerlicher Individualität um 1800. Lichtenbergs Tagebücher markieren das Ende der literarischen Gattung Tagebuch im 18. Jahrhundert. Wenn Goethe noch Individualität als exemplarische in seinen Tagebüchern konzipierte, so vollzieht sich mit Lichtenbergs Tagebüchern, die er ausschließlich für sich selbst führt und von jeder Publikation ausgenommen hat, der Übergang vom Privaten mit allgemeinem Verweisungscharakter zur radikalen Intimität. Unverwechselbare Individualität, die nicht mehr an der Konstruktion einer geschlossenen, widerspruchsfreien Identität interessiert ist, sondern vielmehr auf das Disparate, Kontingente setzt, findet bei Lichtenberg ihren Fluchtort im Text. Der Text wird zum Schutzraum, in dem das einzig für den Schreiber Bedeutende, nicht Kommunizierbare, seine Individualität, aufgehoben wird. Damit verläßt Lichtenberg das Terrain des kulturell durchgesetzten Identitätsparadigmas und opponiert mit seinem Tagebuch untergründig gegen den Zwang zur Ausbildung eines geschlossenen Selbstentwurfs.
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