Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft [1. ed.] 9783518757642


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German Pages 403 Year 2018

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Table of contents :
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Informationen zum Buch
Titel
Impressum
Inhalt
Thomas Fuchs, Lukas Iwer
und Stefano Micali: Einleitung
I. Zur Philosophie und Kulturgeschichte von Überforderung
Hartmut Böhme: Müdigkeit, Erschöpfung und verwandte Emotionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Thomas Fuchs: Chronopathologie der Überforderung. Zeitstrukturen und psychische Krankheit
Stefano Micali: Depression in der unternehmerischen Gesellschaft
Cornelia Klinger: ›The selfie‹ – oder das Selbst in seinem Welt-Bild
Matthias Flatscher: Kommentar: Analyse und Kritik sozial bedingter Pathologien
II. Epidemiologie und Soziologie der Überforderung
Josua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi: Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand. Epistemologische Prämissen, epidemiologische Daten, transdisziplinäre Implikationen
Johannes Siegrist: Überforderung in der Arbeitswelt: Macht sie krank?
Vera King, Benigna Gerisch, Hartmut Rosa, Julia Schreiber und Benedikt Salfeld: Überforderung als neue Normalität. Widersprüche optimierender Lebensführung und ihre Folgen
Friedericke Hardering und Greta Wagner: Vom überforderten zum achtsamen Selbst? .Zum Wandel von Subjektivität in der digitalen Arbeitswelt
Sabine Flick: Kommentar: Arbeitsleid als soziales Leiden
III. Klinische Perspektiven aus Psychiatrie und Psychotherapie
Gerd Rudolf: Das Subjekt in Zeiten der Vernetzung: selbstreflexiv oder fremdgesteuert?
Marianne Leuzinger-Bohleber: Das »erschöpfte Selbst« in Zeiten des »Global Unrest«. Klinisch-psychoanalytische Überlegungen
Martin Heinze und Samuel Thoma: Soziale Freiheit und Depressivität
Rolf Haubl: Erwerbsarbeit und psychische Gesundheit
Lukas Iwer: Kommentar: Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven auf psychisches Leiden
Bildnachweise
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
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Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft [1. ed.]
 9783518757642

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Das überforderte Subjekt Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft Herausgegeben von Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali suhrkamp taschenbuch wissenschaft

In Philosophie und Sozialwissenschaften wird oft ein Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Gesellschaftsform und psychischen Krankheiten postuliert. Zwar ist es epidemiologisch umstritten, ob diesem als »Burnout« oder »Erschöpfungssyndrom« diskutierten Phänomen ein realer Anstieg psychischer Erkrankungen entspricht. Dennoch kommt im Begriff der Erschöpfung eine Dynamik von Beschleunigungsphänomenen zum Ausdruck, die ihm eine zeitdiagnostische Bedeutung verleiht. Indem sie die Phänomene von Überforderung und psychischer Krankheit aus interdisziplinärer Sicht untersuchen, liefern die Abhandlungen in diesem Band zugleich Beiträge zu einem Psychogramm der heutigen Gesellschaft. Thomas Fuchs ist Karl Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg. Lukas Iwer ist Psychotherapeut in Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut und promoviert am Universitätsklinikum Heidelberg. Stefano Micali ist Professor für Philosophische Anthropologie am HusserlArchiv der Katholischen Universität Löwen.

Das überforderte Subjekt Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft Herausgegeben von Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018 Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2252. © Suhrkamp Verlag Berlin 2018 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt eISBN 978-3-518-75764-2 www.suhrkamp.de

Inhalt Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali 7 Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   I. Zur Philosophie und Kulturgeschichte

von Überforderung

Hartmut Böhme Müdigkeit, Erschöpfung und verwandte Emotionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27 Thomas Fuchs Chronopathologie der Überforderung. Zeitstrukturen und psychische Krankheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   52 Stefano Micali Depression in der unternehmerischen Gesellschaft  . . . . . . .  80 Cornelia Klinger The selfie – oder das Selbst in seinem Welt-Bild  . . . . . . . . . .   115 Matthias Flatscher Kommentar: Analyse und Kritik sozial bedingter Pathologien   145 II. Epidemiologie und Soziologie

der Überforderung

Josua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand. Epistemologische Prämissen, epidemiologische Daten, transdisziplinäre Implikationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  159 Johannes Siegrist Überforderung in der Arbeitswelt: Macht sie krank?  . . . . . .   210 Vera King, Benigna Gerisch, Hartmut Rosa, Julia Schreiber und Benedikt Salfeld Überforderung als neue Normalität. Widersprüche optimierender Lebensführung und ihre Folgen  . . . . . . .  227

Friedericke Hardering und Greta Wagner Vom überforderten zum achtsamen Selbst? Zum Wandel von Subjektivität in der digitalen Arbeitswelt  . . . . . . . . . . . .  258 Sabine Flick Kommentar: Arbeitsleid als soziales Leiden  . . . . . . . . . . . . . .   279 III. Klinische Perspektiven aus Psychiatrie

und Psychotherapie

Gerd Rudolf Das Subjekt in Zeiten der Vernetzung: selbstreflexiv oder fremdgesteuert?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   291 Marianne Leuzinger-Bohleber Das »erschöpfte Selbst« in Zeiten des »Global Unrest«. Klinisch-psychoanalytische Überlegungen  . . . . . . . . . . .  310 Martin Heinze und Samuel Thoma Soziale Freiheit und Depressivität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   344 Rolf Haubl Erwerbsarbeit und psychische Gesundheit  . . . . . . . . . . . . . . .   368 Lukas Iwer Kommentar: Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven auf psychisches Leiden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   389 Bildnachweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  399 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . .   400

Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali Einleitung Erschöpfung, Entfremdung, Burn-out, Depression: In Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften wird häufig ein Zusammenhang zwischen unserer gegenwärtigen Gesellschaftsform und psychischen Krankheiten postuliert. Anlass dazu geben etwa die Statistiken der deutschen Krankenkassen über eine dramatische Zunahme von psychischen Störungen in den letzten Jahrzehnten ebenso wie die großen epidemiologischen Studien des Robert Koch-Instituts (Wittchen et al. 2010) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2008) zur Prävalenz depressiver Störungen. Danach ist zu erwarten, dass Depressionen in den westlichen Gesellschaften zur führenden Ursache für Behinderung und Arbeitsausfall aufsteigen und damit die kardiovaskulären Krankheiten ablösen werden.1 Als mögliche Ursachen werden Leistungsverdichtung, Intensivierung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse, fortschreitende Digitalisierung, steigende Mobilität und vermehrter Konkurrenzdruck bei gleichzeitig zunehmender Arbeitsplatzunsicherheit genannt. Auch wenn die epidemiologischen Befunde umstritten sind und eine brisante Debatte ausgelöst haben, so ist eine zunehmende Relevanz von »Überforderungserkrankungen« in Gesellschaft und Öffentlichkeit kaum zu bestreiten. Nun ist der in der Öffentlichkeit gebräuchlich gewordene Be1 So haben sich laut DAK-Gesundheitsreport (2016) die Fehltage aufgrund einer psychischen Erkrankung in den letzten zwanzig Jahren verdreifacht, laut AOKFehlzeitenreport (2017) in den letzten zehn Jahren um 79,3 Prozent. Bei Frauen sind psychische Krankheiten sogar die Hauptursache für Fehltage am Arbeitsplatz. Insgesamt geht die Burn-out-Diagnose seit 2010 wieder zurück, dafür nimmt aber die eher stigmatisierte Depressionsdiagnose (Bahlmann et al. 2013) in der gleichen Zeit deutlich zu (DAK-Gesundheitsreport 2016). Unabhängig vom Diskurs über eine Modediagnose »Burn-out« (Dornes 2016; Neckel/Wagner 2013) weisen diese Daten auf eine steigende subjektiv empfundene Belastung hin. Das Gleiche gilt für die eklatant gestiegene Verordnung von Antidepressiva – in Deutschland zwischen 1991 und 2016 auf das 7,5-Fache (Arzneiverordnungs-Report 2017). Zur kritischen Diskussion dieser epidemiologischen Daten vgl. den Beitrag von Handerer et al. in diesem Band.

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griff des Burn-out keineswegs neu. Er wurde 1974 von dem amerikanischen Psychoanalytiker Hans Freudenberger (1974) im Kontext von Helfer- und Pflegeberufen eingeführt. In Deutschland hat Wolfgang Schmidbauer (1977) das Syndrom der »hilflosen Helfer« bekannt gemacht. Das Ausbleiben von emotionaler Bestätigung bei gleichzeitig hohen Idealen, Nähe- und Wirksamkeitserwartungen führt zu chronischer Selbstüberlastung und Enttäuschung bis hin zum »Ausbrennen« der psychischen Reserven. Gerade der Enttäuschungsaspekt prädestiniert das Burn-out-Syndrom auch zur Leitdiagnose einer Gesellschaft, in der die Selbstverwirklichung in der Arbeit als besonders hohes Gut angesehen wird (Neckel/Wagner 2013). Allerdings sollte dann eher von einer Enttäuschungs- als von einer Erschöpfungsdepression gesprochen werden, wie sie mit dem Begriff des Burn-out suggeriert wird. Zumindest hat die Entstehung der Störung weniger mit einer zeitlichen Überlastung oder Arbeitsüberlastung zu tun – auch wenn diese Erklärung den Betroffenen ein Gefühl der Selbstrechtfertigung verschaffen mag – als vielmehr mit einem chronischen Missverhältnis zwischen Aufwand, Erwartung und Gratifikation (vgl. den Beitrag von Siegrist in diesem Band). Mit der Neurasthenie wurde bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ein psychopathologisch ähnliches Syndrom beschrieben, dem eine vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit zukam (Kury 2012). Es wird bis heute im psychiatrischen Diagnosesystem ICD-10 als psychische Störung klassifiziert, während »Burn-out« nur eine Zusatzdiagnose darstellt und somit gar nicht den eigentlichen psychischen Störungen zugeordnet ist (Berger et al. 2012). Wenn nun das in der Öffentlichkeit und den Sozialwissenschaften breit diskutierte Phänomen des Burn-out in den professionellen Klassifikationssystemen nur einen Nischenraum besetzt, stellt sich die Frage, was sich hinter der Debatte um die Anforderungen an die Subjekte in der Gesellschaft der Spätmoderne verbirgt. Ist diese Debatte nur Ausdruck eines unspezifischen Unbehagens oder spiegelt sich in der psychischen Vulnerabilität der Individuen und in einem ökonomisch relevanten Anstieg von krankheitsbedingten Arbeitsausfällen eine reale Überforderung wider? Könnte das Burn-out-Syndrom ein Anzeichen für eine Transformation der gesellschaftlichen Anforderungen an heutige Individuen darstellen? Um diese Fragen zu beantworten, ist es zunächst erforderlich, spezifische Merkma8

le der zeitgenössischen Gesellschaft zu identifizieren, die zu einer Überforderung beitragen könnten.

Anforderungen an das Subjekt Phänomene der Überforderung setzen offenbar steigende Anforderungen voraus, mit denen sich Individuen entweder konfrontiert sehen oder die sie sich selbst auferlegen. Zwischen beiden Möglichkeiten lässt sich freilich nicht scharf trennen: Für soziale Subjekte ist es nämlich charakteristisch, dass sie äußere Anforderungen häufig internalisieren, also in innere Gebote, Anpassungsbereitschaften oder auch eigene Motivationen und Wünsche umwandeln. Eine solche Internalisierung spielt, etwa im Motiv der »Selbstoptimierung«, gerade im gegenwärtigen Zeitgeist eine besondere Rolle (vgl. den Beitrag von King et al. in diesem Band). Ob nun die Anforderungen das Individuum eher von außen, von innen oder aus beiden Richtungen bedrängen – für die Überforderung ist kennzeichnend, dass es sich diesen Ansprüchen gegenüber nicht mehr als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt, sondern vielmehr als unterworfenes »subiectum« erfährt (vgl. den Beitrag von Klinger in diesem Band). Selbst internalisierte Anforderungen, mit denen sich das Individuum bislang identifizieren konnte, treten ihm nun als ein Fremdes gegenüber. Entsprechend sind Klagen über eine Entfremdung und Sinnlosigkeit des eigenen Tuns typisch für vom Burn-out betroffene Patienten. Überforderung stellt sich ein, wenn Subjekte trotz Mobilisierung aller Fähigkeiten und Ressourcen äußere und innere Anforderungen nicht mehr erfüllen können und zugleich diese Forderungen als fremd erfahren, ja sich ihnen ohnmächtig unterworfen fühlen. Diese Vorbemerkungen sind erforderlich, wenn wir uns nun der Vielzahl von Anforderungen an das zeitgenössische Subjekt zuwenden, die in Philosophie und Sozialwissenschaften beschrieben wurden. Sie sind nie rein als solche zu beurteilen, denn es geht immer auch darum, wie sich das Subjekt diesen Anforderungen gegenüber verhält, das heißt, in welchem Maß es sich mit ihnen identifiziert, sie womöglich in Erfolge umzusetzen vermag oder aber sich als ihnen unterworfen und fremdbestimmt erlebt. Beginnen wir mit Phänomenen der gesellschaftlichen Beschleu9

nigung. Schon vor drei Jahrzehnten prägte der Kulturtheoretiker Paul Virilio (1989) für die moderne kapitalistische Gesellschaft die Bezeichnung »Dromokratie«.2 Danach übt ihre sich fortwährend beschleunigende Dynamik bereits als solche eine Herrschaft über die Individuen aus. Sie ist charakterisiert durch eine zunehmende Auflösung des Raums und seiner identitätsstiftenden Orte, an denen man sich leiblich aufhalten und verweilen konnte. Dieser gelebte Raum löst sich auf zugunsten der ständigen Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation, aber auch von Produktion und Konsumtion, gipfelnd in der weltumspannenden Gleichzeitigkeit der virtuellen Medien- und Datenräume, in denen Bilder, Informationen oder Geldsummen in Sekundenbruchteilen über den Globus transferiert werden. Im Verlust des Raums und in der Verdichtung der Zeit liegt für Virilio das Schicksal der gegenwärtigen Kultur begründet: Entfremdung durch Geschwindigkeit, schwindende leibliche Gegenwart und zugleich »rasender Stillstand«. Die Thematik der Beschleunigung ist auch von anderen Autoren vielfach aufgegriffen worden (z. B. Geißler 1985; Han 2010; Rosa 2005). Wie den meisten kulturpessimistischen Zeitdiagnosen wird man auch Virilios These eine einseitige Zuspitzung nicht absprechen können. Falls sie aber zumindest Entwicklungstendenzen der westlichen Welt trifft – und das wiederum lässt sich kaum bestreiten –, so sollte sich dies in einem zunehmenden Unbehagen der Individuen in dieser Kultur niederschlagen. Freilich einem Unbehagen, das weniger wie zu Freuds Zeiten in sexuellem Triebverzicht begründet ist als in Erfahrungen der Desynchronisierung, des Zurückbleibens, der Entfremdung und der Erschöpfung  – auch wenn sich diese oft nur unterschwellig zu einer schleichenden Überforderung summieren. Nicht mehr das zügellose »Es«, sondern unsere leibliche Verfassung scheint sich gegen den neuerlichen Kulturfortschritt zu sträuben. Schließlich ist unser Leib mit seinen rhythmisch-zyklischen Zeiten, seiner Erholungsbedürftigkeit, seiner langsamen Fortbewegung und seiner Bindung an vertraute Umgebungen ein eher konservatives Gebilde, das mit ständiger Beschleunigung und Virtualisierung in Konflikt geraten muss. Gemessen am Stand unserer Beschleunigungstechniken, 2 Von griechisch drómos, der Lauf.

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so könnte man sagen, sind wir eigentlich schon anachronistische Wesen. Nun lässt sich ein solches Unbehagen, so verständlich es wäre, nicht leicht verlässlich diagnostizieren. Die wohl bekannteste Diagnose artikulierte der französische Soziologe Alain Ehrenberg (1998/2008) mit seiner These des »erschöpften Selbst« als Ursache gegenwärtiger Depressionen. Folgt man Ehrenbergs Argumentation, so resultiert das Unbehagen weniger aus leidvoller Trieb­ unterdrückung und aus Verdrängungsprozessen als aus den kompetitiven Anforderungen der heutigen Gesellschaftsform an die in ihr lebenden Subjekte. Die Depression bedeutet die Kapitulation vor diesen Anforderungen der Selbstbehauptung; sie wird zur Epidemie der Erschöpften, die sich ihr Zurückbleiben als mangelnde Flexibilität und Belastbarkeit, als individuelles Versagen zuschreiben. Ihnen steht auf der anderen Seite eine Schicht von Leistungsträgern gegenüber, die die manische Beschleunigung in allen Lebensbereichen vorantreiben. Aus dieser Sicht stellt die Beschleunigung allerdings nur eine unter verschiedenen Voraussetzungen dar. Ehrenberg zufolge sind heutige Subjekte insbesondere von der zunehmenden Freiheit hinsichtlich ihrer Lebensform und ihres Arbeitslebens überfordert. Die Wurzeln depressiver Erschöpfung seien in der Überlastung zu finden, die den Individuen durch den ständigen Zwang zur Selbstwahl und Selbstoptimierung auferlegt sei – wie schon im französischen Titel La fatigue d’être soi angedeutet. War früher der Konflikt mit gesellschaftlichen Normen die Hauptursache psychischer Störungen, so liegt sie für Ehrenberg heute in einem Gefühl peinlichen Ungenügens. Der Leitaffekt der Depression habe sich dementsprechend von der moralischen Schuld zur narzisstischen Scham verlagert: Der heutige Depressive schämt sich seines Versagens gegenüber den kulturellen Leitbildern von Jugend, Dynamik, Optimismus und Selbstverwirklichung. Freilich sieht auch Ehrenberg eine wichtige Quelle der Überforderung in der zeitlichen Dynamik und Mobilität kapitalistischer, zunehmend digitalisierter Gesellschaften, führt dies doch zu einem Herausfallen von Individuen sowohl aus beschleunigten Arbeitsprozessen wie auch aus sozialen Beziehungen. Sofern sie unvermeidliche Rückstände, Trennungen oder Verluste nicht in der knappen Zeit bewältigen, die dafür heute noch zugestanden wird, geraten sie in eine gesellschaftlich 11

nicht mehr akzeptable Remanenz: Sie bleiben zurück, fixiert auf die Vergangenheit, unfähig, am allgemeinen Fortschritt teilzunehmen (Fuchs 2002; Rosa 2005). Weitere, verwandte Zeitdiagnosen schließen sich an. So charakterisiert Zygmunt Bauman (2000/2003) die Gegenwart als »flüchtige Moderne«, in der alte soziale Strukturen immer schneller zerrinnen und es die Aufgabe der Individuen ist, ihre je eigene Lebensform stets neu zu gestalten. Dies erinnert durchaus an Ehrenbergs Diagnose der Depression als »Krankheit der Freiheit«. Ähnlich beschreibt Richard Sennett (1998) die zeittypische Persönlichkeitsstruktur als den »flexiblen Charakter«, der sich unentwegt den wechselnden Anforderungen des Marktes anzupassen habe, wobei aber die zunehmende Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitswelt zu einer kollektiven Angst führe. In der deutschsprachigen Soziologie spricht man angesichts dieser neuen Anforderungen an Arbeitnehmer vom »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007) oder vom »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/Weiß 2013). Dieser habe, so Byung-Chul Han (2010), die alte Ausbeutung durch den Unternehmer im Frühkapitalismus als Selbstausbeutung internalisiert. Axel Honneth (2002) zufolge handelt es sich hier um »Paradoxien der Individualisierung«, in denen die Selbstverwirklichung als das eigentliche Versprechen moderner Gesellschaften von der kapitalistischen Verwertungslogik des neoliberalen Systems angeeignet wurde. In dieser »organisierten Selbstverwirklichung« erfahren die Individuen eher eine Selbstentfremdung als eine Resonanz zwischen Selbst und Welt (Jaeggi 2005/2016; Rosa 2016).

Kritische Positionen in der Burn-out-Debatte So plausibel diese Sichtweisen erscheinen, so sehr wurden diese Analysen der heutigen Gesellschaftsform doch ihrerseits kritisiert. Die wohl wichtigste Kritik stammt aus der Epidemiologie, der zufolge der wahrgenommene Anstieg von Depressions- und Burn-out-Diagnosen nicht mit einer erhöhten Realprävalenz dieser Erkrankungen in Einklang steht. So bilden beispielsweise die Statistiken der Krankenkassen zwar einen Anstieg an diagnostizierten psychischen Störungen ab, dieser lasse sich jedoch in großen epidemiologischen Studien nicht bestätigen (Dornes 2016; Jacobi 2012; 12

Maske et al. 2016). Veränderungen der Krankheitsklassifikation, der Diagnosegewohnheiten, aber auch der Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems seitens der Betroffenen lassen unterschiedliche Interpretationen der Befunde zu – diese Fragen werden auch im vorliegenden Band diskutiert (siehe vor allem die Beiträge von Handerer et al. sowie Siegrist in diesem Band). So ist beispielsweise eine Tendenz zur Ausweitung psychiatrischer Diagnosen in der Neuauflage des amerikanischen Diagnosemanuals für psychische Krankheiten, DSM-5, unverkennbar. Kritiker monierten, dass Psychiatrie und Psychotherapie zunehmend dazu übergingen, normales menschliches Erleben beziehungsweise unvermeidliches Leiden zu »medikalisieren«, insbesondere im Hinblick auf depressive Störungen (Frances 2013; Heinz 2014; Horwitz/Wakefield 2007). In diesem Zusammenhang spielt auch der Umgang mit dem medial omnipräsenten Burn-out-Etikett eine Rolle. Es ermöglicht neuerdings vielen Menschen, die eigentlich an Depressionen, Angst- oder psychosomatischen Störungen leiden, ihr Leiden offen zu kommunizieren. Unter einem »Burn-out« zu leiden wirkt weniger stigmatisierend als andere psychische Störungen und kann im neoliberalen Zeitgeist unter Umständen sogar als Auszeichnung gelten. Allein der Begriffsgebrauch kann daher eine zunehmende Morbidität nahelegen, ohne dass dem eine reale Zunahme von krankheitswertigen Störungen entspricht (Bahlmann et al. 2013; Neckel/Wagner 2013; vgl. auch den Beitrag von Haubl in diesem Band). Axel Honneth hat darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang von individuellen Krankheiten und den in Philosophie und Sozialwissenschaften diskutierten »Pathologien des Sozialen«, wie beispielsweise den oben beschriebenen Beschleunigungsdynamiken, hoch komplexer Natur ist (Honneth 2014). So könne es durchaus eine Zunahme psychischer Krankheiten ohne das Vorliegen einer Pathologie des Sozialen im strengen Sinne geben – ebenso wie umgekehrt soziale Pathologien vorliegen können, die sich nicht in erhöhten Prävalenzen psychischer Störungen widerspiegeln. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es bei psychischen Störungen keinen »eigentlichen«, etwa biologisch definierten Kern der Erkrankung gibt, der sich unabhängig von soziokulturell überformten Krankheitsbegriffen herauspräparieren und dann epidemiologisch ein13

deutig erfassen ließe. Mit anderen Worten: Wie eine Gesellschaft und ihr Medizinsystem seelisches Leiden klassifizieren, interpretieren und behandeln, beeinflusst immer auch die Selbstinterpreta­ tion und das Leiden betroffener Menschen selbst. Schließlich sollte bei der einseitigen medialen Diskussion über das Burn-out-Phänomen nicht vernachlässigt werden, dass weitere Aspekte der Überforderung existieren, die über arbeitsbedingte Erschöpfung hinausgehen. So macht beispielsweise Hartmut Rosa deutlich, dass der von ihm diagnostizierte Resonanzverlust in der beschleunigten Gesellschaft neben depressiven Reaktionen auch autoaggressive und fremdaggressive Tendenzen fördern kann. In eine ähnliche Richtung argumentieren aktuelle psychoanalytische Arbeiten, die den Zusammenhang von Identitätskrisen in der Adoleszenz und heutigen sozialen Anforderungen thematisieren.3 USamerikanischen Untersuchungen zufolge nehmen depressive und suizidale Reaktionen bei Jugendlichen, insbesondere bei Mädchen, seit 2010 gegenüber den zwei Jahrzehnten zuvor sprunghaft zu, und zwar nachweislich in Relation zu ihrer Nutzung von sozialen Medien (Twenge et al. 2018). Autoaggressive Symptome wie Selbstverletzungen oder Suizidhandlungen, aber auch fremdaggressive, dissoziale Entwicklungen können insofern auch als Überforderungsphänomene unter den Bedingungen von erhöhtem sozialem und medialem Stress verstanden werden.

Zur Phänomenologie der Überforderung Nehmen wir nun die Grundfrage nach dem »überforderten Subjekt« wieder auf. Im vorliegenden Band versuchen wir, verschiedene Phänomene der Überforderung zu analysieren, um so einen Beitrag zu einem Psychogramm der gegenwärtigen Gesellschaft zu leisten. Eine Phänomenologie von Überforderungserfahrungen sowohl in präklinischen Situationen als auch in manifesten Erkrankungen bietet dafür eine wichtige Grundlage. Sie vermag nämlich die Mechanismen zu erhellen, in denen gesellschaftliche Veränderungsprozesse mit ihren wechselnden oder zunehmenden Anforderungen einerseits und individuelle Internalisierungen, An3 Vgl. Rosa 2016; 2017: 350 f.; Leuzinger-Bohleber 2016; Gerisch 2009.

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passungen, Bewältigungsversuche oder Überlastungen andererseits ineinandergreifen. Ein zentraler Ansatz der Phänomenologie liegt dabei in der Analyse von Chronopathologien – Leiden, die im weitesten Sinn aus dem menschlichen Grundverhältnis zur Zeit resultieren. Dazu gehören die Erfordernisse und Belastungen intersubjektiver Zeitabstimmung, das Leiden unter Stress und Beschleunigung, die Verlangsamung des Zeiterlebens in der Depression und nicht zuletzt das Leiden unter der begrenzten Lebenszeit. Auch in solchen Chronopathologien greifen individuelle und soziale Zeitordnungen und -dynamiken ineinander, wobei Konflikte zwischen zyklischen Eigenzeiten (etwa dem Wechsel von Verausgabung und Erholung, Wachen und Schlafen usw.) und der linear-homogenen Welt- oder Uhrzeit eine besondere Rolle spielen (vgl. den Beitrag von Fuchs in diesem Band). Überforderung lässt sich aus dieser Sicht als eine Desynchronisierung begreifen, in der Subjekte mit zeitlich verdichteten Anforderungen nicht mehr Schritt halten können und in eine zunächst psychosoziale, dann aber auch zunehmend physiologische Zeitentkoppelung geraten, die schließlich in die Depression münden kann. Auch die Anforderungen an die moderne Identität und damit verbundene psychopathologische Phänomene wurden in der Phänomenologie diskutiert. Sie kommen etwa im klassischen, von Hubertus Tellenbach beschriebenen »Typus Melancholicus« zum Ausdruck, einer Persönlichkeitsstruktur, die zur sozialen Konformität tendiert und gerade deswegen zur Remanenz, zum schuldhaft erlebten Zurückbleiben und schließlich zur Depression disponiert ist.4 Auch wenn inzwischen narzisstische Persönlichkeitsstrukturen für depressive Reaktionen eine größere Rolle spielen, kann Tellenbachs Begriff der Remanenz immer noch zu einem tieferen Verständnis der Überforderung beitragen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass auch neuere sozialphilosophische Arbeiten auf phänomenologische Erkenntnisse zurückgreifen (Honneth 2005/2015; Jaeggi 2005/2016), wobei die am deutlichsten von der Phänomenologie geprägte Konzeption Hartmut Rosas (2016) Resonanztheorie darstellt. Die phänomenologische Analyse von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der subjektiven Erfahrung von Überforde4 Tellenbach 1983; Fuchs 2002; Micali 2010; vgl. auch den Beitrag von Micali in diesem Band.

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rung kann eine besondere methodische Grundlage für den Dialog zwischen den Disziplinen Philosophie, Soziologie, Psychiatrie und Psychotherapie darstellen, den wir mit diesem Band fördern wollen.

Über dieses Buch Der vorliegende Band ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden kulturgeschichtliche und philosophische Aspekte von Phänomenen der Überforderung, Erschöpfung oder Beschleunigung behandelt. Die Beiträge versuchen insbesondere diese Phänomene vor dem Hintergrund der Genealogie und der Zeitlichkeit gegenwärtiger Subjektivität in einer beschleunigten Gesellschaft zu verstehen. Der erste Beitrag stammt von Hartmut Böhme. Für ihn ist offensichtlich, dass es der Aufstieg der industriellen Arbeit und der rationalen Verwaltung, die Verdichtung des Verkehrs und das Aufkommen großstädtisch hektischer Lebensformen mit all den damit verbundenen Modernisierungsschäden sind, die den Hintergrund für Verschiebungen in der Sozialpsychologie der Bevölkerung bilden. Dennoch fragt der Autor, ob Müdigkeit und Erschöpfung, längst eine durch alle Diskursebenen wandernde Erkennungsformel, überhaupt zu analytischen Begriffen werden können. Welche Diffusionen und sozialen Verteilungen sind zu beobachten? Welche Rolle spielen weiche Diskurse wie die Literatur, die mit diesen Phänomenen schon seit der Romantik beschäftigt sind? Wie hängen Signaturen des Fin de Siècle mit den Erschöpfungssyndromen zusammen, die heute von Psychologen, Arbeitswissenschaftlern und Medizinern diagnostiziert werden? Thomas Fuchs entwirft in seinem Beitrag anhand kulturhistorischer und phänomenologischer Überlegungen eine »Chronopathologie der Überforderung«. Auf der einen Seite entwickelt er die Konzeption einer zyklischen Zeit, die besonders die Prozesse des Lebens und des Körpers charakterisiert, die aber auch die Organisation der Gesellschaften in vormoderner Zeit prägte. Im Kontrast dazu stehe die lineare, beschleunigte Zeitdynamik der Moderne, die mit der zyklischen Zeit notwendig in Konflikt geraten müsse. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Depression dann als eine 16

Desynchronisierung von Körper und Umwelt wie auch von Individuum und Sozietät beschreiben, die unter den Bedingungen einer Beschleunigung und Intensivierung des Arbeitslebens eine erhöhte Gefahr darstellt. An die Frage nach der Zeitlichkeit der Depression anknüpfend, erörtert Stefano Micali die soziale Relevanz der Depression in der »unternehmerischen Gesellschaft«. Um die spezifische Form von Überforderung zu klären, die ihr zugrunde liegt, verbindet der Autor Dispositiv- und Diskursanalysen des Sozialen im Sinne Foucaults mit einer phänomenologischen Analyse der Depression. Dabei stellt er die These auf, dass ein Spiegelungsverhältnis zwischen der phänomenologischen Struktur der Depression einerseits und zeittypischen Remanenzerscheinungen in der »unternehmerischen Gesellschaft« andererseits existiere, die ein Erleben des schuldhaften Zurückbleibens begünstige. Cornelia Klinger entwickelt in ihrem Beitrag eine Genealogie des spätmodernen Selbst in drei Phasen, nämlich vom Subjekt über das Individuum zum Singulum. Die Entwicklung beginnt mit der Selbstaufstellung des souveränen Subjekts in der »Sattelzeit der westlichen Moderne« (1750-1830). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts jedoch überlässt das als Herr seines Geschicks letztlich untaugliche Subjekt den objektiven Apparaten Staat und Wirtschaft die anonyme Herrschaft der Sachzwänge, um als Individuum nur noch über die relative Freiheit der Privatsphäre zu verfügen. Mit dem Aufstieg der neoliberalen Ökonomie und der Informations- und Kommunikationstechnologien im ausgehenden 20. Jahrhundert mutiert das Individuum schließlich zum Singulum, das trotz scheinbarem Freiheitsgewinn durch Vereinzelung enger an die Systemmechanismen angeschlossen ist als je zuvor. (Selbst-)Überforderung ist demnach, so Klingers These, der Entwicklung des modernen Subjekts inhärent. Der Kommentar von Matthias Flatscher zeigt strukturelle Affinitäten ebenso wie Differenzen der Beiträge des Abschnittes auf. Am Ende seiner Überlegungen hebt Flatscher die Notwendigkeit hervor, Erschöpfung und Depression nicht nur als sozial bedingte Pathologien zu lesen, sondern die Phänomene von Selbstdisziplierung und Selbstoptimierung als durchaus kalkulierte Effekte des Neoliberalismus zu verstehen, um politisches Aufbegehren und ökonomische Systemveränderungen zu verhindern. 17

Im zweiten Teil des Buchs werden epidemiologische und soziologische Perspektiven auf das Phänomen der Überforderung dargestellt. Die Beiträge verbinden dabei theoretische Überlegungen mit soziologischen Untersuchungen. Zu Beginn stellen Josua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi die vermeintliche Zunahme insbesondere der »Volkskrankheit Depression« als Beleg für eine allgemeine Überforderung theoretisch und empirisch auf den Prüfstand. Nachdem sie die epistemologischen Prämissen und inhaltlichen Differenzen verschiedener Depressionsbegriffe herausgearbeitet haben, untersuchen sie methodenkritisch die Datenlage zur epidemiologischen Verteilung und Entwicklung klinisch definierter Depressionen. Da sich eine Zunahme der Depression empirisch nicht belegen lässt, diskutieren sie abschließend die naheliegende, aber nur selten gestellte Frage, warum die Häufigkeit von Depression trotz deren vermehrter Behandlung bisher nicht abgenommen hat. Die Frage, ob Überforderung in der Arbeitswelt krank macht, wird von Johannes Siegrist aus der Perspektive der empirisch-sozial­ epidemiologischen Forschung beantwortet. Demnach sind es durchaus spezifische, anhand theoretischer Modelle identifizierte Belastungen, die das Risiko stressbedingter Erkrankungen bei den Beschäftigten erhöhen. Hierzu zählen vor allem Arbeitsplätze mit hohem Leistungsdruck und eingeschränktem Kontroll- und Entscheidungsspielraum sowie Beschäftigungsverhältnisse, in denen der erbrachten Leistung keine angemessenen Gratifikationen (Gehalt, Arbeitsplatzsicherheit, Aufstiegschancen, Wertschätzung) entsprechen. Da diese Belastungen im Kontext wirtschaftlicher Globalisierung eher zunehmen, bietet die vorliegende wissenschaftliche Evidenz, so der Autor, klare Ansatzpunkte für verstärkte Investitionen in eine gesundheitsfördernde Arbeitswelt auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Der Beitrag von Vera King, Benigna Gerisch, Hartmut Rosa, Julia Schreiber und Benedikt Salfeld thematisiert Varianten einer kulturellen Normalisierung von tendenziell überfordernden Praktiken in Institutionen, Biographie und Lebensführung, die als Folgewirkungen spätmoderner Optimierungsanforderungen begriffen werden können. Die empirischen Befunde verdeutlichen, dass sich die Aufmerksamkeit beim Thema »Überforderung« nicht einfach nur auf definierte »Pathologien« richten darf. Für eine Analyse kultureller Entwicklungen sind vielmehr solche Prozesse von besonderem 18

Interesse, die (komplementär zum Begriff der »Pathologisierung«) als »Normalisierung« gefasst werden können. Normalisierung bedeutet hier also, dass destruktive, selbst- oder fremdschädliche Praktiken zur »normalen«, selbstverständlichen oder gar erstrebenswerten Praxis mutieren und dass dabei ihre sozialen und psychischen Kosten wie nicht zuletzt auch ihre zerstörerischen Potenziale ausgeblendet werden. Friedericke Hardering und Greta Wagner beschreiben die neu entstehende Subjektivierungsform des »achtsamen Selbst«, die sich als Antwort auf die vielfältigen Überforderungen im digitalen Kapitalismus lesen lässt. Auf der Grundlage von Ratgeberliteratur wird gezeigt, welche Selbstverständnisse und Praktiken in der modernen Arbeitswelt vorgeschlagen werden, um die allgegenwärtigen Reize und steigenden Wettbewerbsanforderungen handhabbar zu machen. Achtsamkeit und Abgrenzung von Arbeit stellen sich in diesen Kontexten nicht länger als Momente der Kritik am Kapitalismus dar, sondern werden selbst zu Vehikeln, um den Umgang mit entgrenzten Leistungsanforderungen zu individualisieren. In ihrem Kommentar beschreibt Sabine Flick die im epidemiologischen und soziologischen Teil dargestellten Überlegungen zur Überforderung als Form von sozialem Leiden und diskutiert anhand eigener Forschungen, welche Rolle soziales Leid und insbesondere Arbeitsleid heute in der Psychotherapie einnimmt. Im dritten Teil des Bands kommen dann Autoren aus Psychia­ trie und Psychotherapie zu Wort. Sie beschreiben aus psychoanalytischer und sozialpsychiatrischer Perspektive klinische Phänomene der Überforderung und diskutieren diese anhand von Fallbeispielen. Da jede Ausgestaltung menschlicher Gesellschaften Auswirkungen auf die Individuen hat, mit denen Psychiatrie und Psychotherapie sich therapeutisch beschäftigen, fragt Gerd Rudolf, was unsere heutige Gesellschaft für den Einzelnen und dessen Fähigkeit zur Selbstreflexion bedeutet. Ein reflexives Selbst, gebunden an Perspektivenübernahme und Sprache, ausbilden zu können, ist eine phylogenetisch jüngere Errungenschaft, die entwicklungspsychologisch intensive menschliche Beziehungen voraussetzt. Klinisch zeigen sich unter dem Einfluss der modernen Lebensbedingungen (»Vernetzung«) bei nicht wenigen Patienten deutliche Einschränkungen der für eine Persönlichkeitsentfaltung so wichtigen Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstverantwortung. An deren Stelle 19

treten, so der Autor, klischeehafte Gefühle der Überforderung und Erschöpfung oder auch Opferüberzeugungen. Im Blick auf moderne psychotherapeutische Erfahrungen und antike Techniken der cura sui wird vermehrte Aufmerksamkeit für diesen vernachlässigten Aspekt der selbstreflexiven Kompetenz empfohlen. Im Beitrag von Marianne Leuzinger-Bohleber wird ein weiterer, bislang wenig beachteter Zusammenhang zwischen Depression und Gesellschaft zur Diskussion gestellt. Vor allem Beobachtungen aus der großen multizentrischen LAC-Depressionsstudie legen nahe, dass das »erschöpfte Selbst« (Ehrenberg 1998/2008) nicht nur an den Anforderungen einer ständigen Selbsterfindung des Individuums in Zeiten des Neoliberalismus erkrankt, sondern auch auf die Unfähigkeit traumatisierter Menschen verweist, sich aufgrund ihrer lebensgeschichtlich bedingten Vulnerabilität gegen die Überflutung durch Informationen zum »global unrest« (Akhtar 2018) und zu menschlichem Elend durch man-made disasters innerlich abzugrenzen. Auch Martin Heinze und Samuel Thoma gehen den Zusammenhängen von Depression und Gesellschaft nach. Dabei argumentieren sie, dass depressives Leiden und Überforderungserleben vor allem aus einem gestörten Sozialisationsprozess des Einzelnen als konkreter Person hervorgeht. Dieser Sozialisationsprozess führe heute im Rahmen der neoliberalen Wirtschaft dazu, dass Menschen ihre individuelle Freiheit als absolut und losgelöst von ihren sozialen Bedingungen verstehen. Eine solche Überhöhung individueller Freiheit bedingt nicht nur die Zunahme depressiven Leidens, sondern häufig auch einen Ausschluss aus sozialen Prozessen. Praktisch folgern die Autoren daraus, dass psychiatrische Therapie vor allem die konkreten Bedingungen individueller Freiheit in den Blick nehmen sollte, um so neue Möglichkeitsräume gemeinschaftlichen Handelns zu schaffen. Ähnlich argumentiert auch Rolf Haubl, der einen neuen Sozialcharakter beschreibt, wie er durch den Aufstieg der neoliberalen Arbeitsgesellschaft hervorgebracht wird. Dieser verspreche viel Selbstbestimmung, spiele aber die psychosozialen Belastungen herunter, die bewältigen muss, wer mithalten will. Haubl bilanziert in seinem Beitrag die in der heutigen Arbeitswelt entstehenden Gesundheitsrisiken und rekonstruiert relevante Facetten des Burnout-Diskurses. Seine Überlegungen verdeutlicht der Autor anhand 20

von Ergebnissen eigener Forschungsprojekte zum Zusammenhang von Erwerbsarbeit und psychischer Gesundheit sowie anhand zweier Fallbeispiele aus der Coaching-Arbeit. Im Kommentar zum klinischen Teil fragt Lukas Iwer danach, welche Bedeutung Arbeit und sozialpolitischen Problemen in den theoretischen Überlegungen sowie in den Fallbeispielen der Autoren beigemessen wird, und betont die Bedeutung von sozialen Faktoren für das Verständnis individuellen Leidens. Die Beiträge dieses Bandes gehen zum großen Teil auf den Kongress Das überforderte Subjekt – Psychopathologie und beschleunigte Lebensformen im Oktober 2015 in Heidelberg zurück, der von der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) organisiert wurde. Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für die gelungene Zusammenarbeit bei der Erstellung des Bandes. Ebenso gilt unser Dank Eva Gilmer, Jan-Erik Strasser und Elke Habicht vom Suhrkamp Verlag für ihre hilfreiche Unterstützung des Projekts in jeder Phase. Schließlich bedanken wir uns besonders bei Rixta Fambach für ihre Mithilfe sowohl bei der Organisation des Kongresses als auch bei der Redaktion des Bandes sowie bei Mailin HebellDowth­waite, Damian Peikert, Daniel Vespermann und Sophia Wagenlehner für ihr gewissenhaftes Lektorat der Beiträge. Heidelberg, Frank­furt/M., Leuven, im April 2018 Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali

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I. Zur Philosophie und Kulturgeschichte

von Überforderung

Hartmut Böhme Müdigkeit, Erschöpfung und verwandte Emotionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert1 Einführung Unser Verständnis von Ermüdung und Erschöpfung ist aufs Engste mit der Arbeitsgesellschaft im 19. Jahrhundert verbunden und folglich mit dem Aufstieg der Moderne. Deren 24-Stunden-Rhythmus, ihre niemals erlahmende Dynamik und Mobilität, das ununterbrochene Strömen und Strahlen (vgl. Asendorf 1989) der Energien, Kräfte, Massen und Dinge, die Unruhe und Geschwindigkeit, die sich am konzentriertesten in der Megalopole und in den Fabriken darstellten, bezeichnen eine Gesellschaft ohne Ermüdung und Erschöpfung. Müdigkeit ist ein unerwünschtes Survival des vormodernen Körpers, der sich regelmäßig erholen muss, um wieder auf das Niveau der Maschinen zu kommen, die das Maß aller Dinge sind. Kein Wunder, dass in dieser Zeit die Strömungsphysik und die Thermodynamik aufkamen und mit ihnen eine kulturell erregte, gleichsam entropische Stimmung.2 Anson Rabinbach (1990/2001) beschreibt, dass der ideale Grenzfall der Arbeitsphysiologie des 19. Jahrhunderts der ermüdungsfreie Organismus war: Er stünde auf einer Höhe mit den Maschinen. Doch blieben die Kontrapunkte nicht aus: Die junge Arbeitswissenschaft, auf physikalischer (Neuro-)Physiologie beruhend, reüssierte vor allem als Ermüdungswissenschaft, die wiederum verknüpft war mit dem Zentralbegriff der Wachheit, nämlich mit dem neuen Konzept der Aufmerksamkeit. Die Großstadt ohne Schlaf und die Fabrik ohne Pause fanden ihren Gegenspieler in der ungeheuren Müdigkeit, die sich im Herzen der rastlosen Industriegesellschaft ausbreitete: als Entfremdung, Neurasthenie, chronische 1 Wiederabdruck von H. Böhme. 2015. »Das Gefühl der Schwere. Historische und phänomenologische Ansichten der Müdigkeit, Erschöpfung und verwandter Emotionen«, zuerst erschienen in: figurationen 16 (1): S. 26-49. © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. Weimar, Wien. Mit freundlicher Genehmigung. 2 Zu den ideologischen und kulturgeschichtlichen Hintergründen vgl. Neswald 2006.

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Erschöpfung, Depression. Dies waren Beschwernisse und Pathologien, die den Take-off der Mobilitätsgesellschaft behinderten. All das glauben wir heute wiederzuerkennen, wenn wir mit Byung-Chul Han (2010) von der Müdigkeitsgesellschaft (vgl. auch Ehrenberg 1998/2004; Sloterdijk 2011) sprechen: Die neurasthenischen Symptome wiederholen sich in den endemischen Depressionen und Burn-outs, denen man damals wie heute mit Sport und Lebensreform, aber auch mit Alkohol und Drogen, mit Psychopharmaka und Psychotherapie begegnet. Gewiss wird angesichts dieser peinigenden Müdigkeit auch eine andere, die tiefe, nämlich inspirierende Müdigkeit entdeckt, so bei Peter Handke (1989) – eine Müdigkeit der negativen Potenz, die das quälende »Um-zu« allen Handelns in ein ästhetisches »Nicht-zu« (Han 2010: 62) verwandelt. Nichts darf sein, was nicht eine Funktion hat; doch alles, was funktionslos ist wie diese herrliche Müdigkeit, hat Wert. Peter Handke schreibt: »Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, als was gelassen werden kann. […] Die Müdigkeit als das Mehr des weniger Ich« (1989: 74). Müdigkeit als Kunst des Gelassen-Seins, das heißt, dem Sein näher als dem Gestell und dem Gerede des Man zu sein, wie Heidegger sagen würde. Durchaus gilt, dass in solchen Kontrapunkten zur modernen Arbeitsgesellschaft ein romantisches und rousseauistisches Erbe nachwirkt. Der Diskurs darüber, dass die Kultur und ihre Fortschritte einen unerwarteten Preis kosten, wurde von Jean-Jacques Rousseau angestoßen: Sie schlagen auf die Gesundheit und Natürlichkeit des Menschen zurück. Und diese zerrüttende Denaturierung wird zum Kern des Diskurses zunächst über Degeneration und später über Dekadenz als Folgen der Zivilisation. Diese kulturkritische Strömung ist eine der Attitüden der Selbstbeobachtung des Bürgertums, das zu den Antreibern ebenjenes technisch-industriellen Fortschritts und jener großstädtisch-hektischen Lebensformen gehört, unter denen es dann zu leiden beginnt. Die Spaltung in Wirtschaftsbürgertum und Kulturbürgertum spiegelt die zumindest ambivalente Haltung dieser Klasse. Die Rousseau’sche Linie wurde, außerhalb der Politik und der Philosophie, vor allem in der literarischen Romantik und in der romantischen Medizin aufgenommen. Wesentliche Momente des Erschöpfungs- und Neurasthenie-Diskurses wurden hier vorgeprägt. Auch das kategoriale Inventar der zivilisationskritischen Diagno28

sen, nämlich das Paradigma der Nerven und das mit ihm sofort fusionierte Modell der Elektrizität, ist in der romantischen Medizin in direkter Koppelung mit der romantischen Ästhetik und Erzählkunst entwickelt worden. Wirft man einen Blick auf romantische Novellen – Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß, Der blonde Eckbert, Die Elfen, E. T. A. Hoffmanns Der goldne Topf, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, Das Marmorbild und viele andere mehr –, so bemerkt man, dass hier durchweg Jünglinge (kaum junge Frauen) geschildert werden, welche sich einer Integration ins bürgerliche Erwerbsund Berufsleben deswegen verweigern, weil ihre Bedürfnisse auf funktionslose Muße, schweifendes Phantasieren, ästhetische Expression und vor allem auf ein reiches Gefühls- und Liebesleben zielen – im Gegensatz zu den braven, trockenen, kalten, angepassten, arbeitsamen, aber eben auch langweiligen Gegenfiguren, mit denen die Künstlerjünglinge zumeist eine polare Paarung bilden, wie dies schon, modellbildend, mit Wilhelm und Werner in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre der Fall war. Erschöpfende Arbeitswelt und strenge Pflichtethik treten erstmals zu erfüllter Muße und arbeitsloser Phantasieaktivität in einen Widerspruch.3 Dieser ist für die Söhnegeneration der Aufklärungsväter charakteristisch und wird im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Epochenwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft. Viele Leitdifferenzen entspringen hier: Erfüllung versus Entfremdung, Muße versus Arbeit, Lust versus Pflicht, Liebe/Leidenschaft versus Ehe/Familie, Künstlerdasein versus Berufs(beamten)leben, volle, ereignishafte versus leere, repetitive Zeit, Phantasie versus Verstand usw. Von solchen Dualismen wurden auch die medizinischen und psychiatrischen Diskurse bestimmt. Je nach Position des Autors wurden die ruhelose Zivilisation und drückende Arbeitslast – als Überbordung des Subjekts – für die Psychopathologien und nervösen Krankheiten verantwortlich gemacht, oder es wurden umgekehrt die Künstler, Außenseiter, Bohemiens, Dandys, Flaneure, Arbeitsverweigerer, Drop-outs und Alkoholiker als degenerierte oder dekadente Subjekte stigmatisiert, von denen sich fernzuhalten jedem Bürgersohn und jeder höheren Tochter dringend angeraten wurde. Doch auch Nietzsche wendet sich gegen solche »Verkündiger 3 Vgl. dazu ausführlicher: Dischner 1980; Asholt/Fähnders 1991; Stumpp 1992; ­Fuest 2008.

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der grossen Müdigkeit« (1988a: 300). Für ihn ist diese dekadent, eine »andere Welt«, die ein »Synonym des Nicht-seins, des Nichtlebens, des Nicht-leben-wollens« (1988d: 354) ist, »die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines ›Willens zum Untergang‹, zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben« (1988c: 18 f.). Müdigkeit, Erschöpfung und Dekadenz sind bei Nietzsche fast austauschbar. Wenn früher die Religion die »zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere« (1988e: 378) bekämpfte, so sind es in der industriellen Arbeitsgesellschaft die Medizin und Psychiatrie. Freche Pamphlete wie Le droit à la paresse (1883/1966) von Paul Lafargue waren hingegen ein Anschlag auf die Primärtugenden der Gesellschaft, zu denen nicht das Recht auf, sondern die Pflicht zur Arbeit gehörte. Man muss sich klarmachen, dass Müdigkeit und Erschöpfung zwar zu allen Zeiten als Phänomene vorgekommen sein mögen. Ihr Aufstieg indes zur Epochensignatur zeigt in der Geschichte der physischen Befindlichkeiten, Emotionen und Mentalitäten dennoch eine Besonderheit. Das Zeitalter als eines der Nerven zu bezeichnen, ist historisch singulär.4 Für die zeitgenössischen Beobachter schwankte die Lebens- und Spannkraft permanent zwischen Überspannung und Erschlaffung, Überreizung und Reizarmut. Nichts war so sehr ein Resonanzraum der seelischen Erregungen und Stimmungen, der körperlichen Mühen und Lüste, der zivilisatorischen Anstrengungen und Vergnügungen wie das System der Nerven, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine beispiellose Karriere in der Medizin und in öffentlichen Diskursen gemacht hatten. Die Nerven reagierten sensibel oder irritiert auf die endogenen Prozesse von Körper und Seele ebenso wie auf die exogenen Impulse der Zivilisation. Sie waren wie nichts anderes geeignet, zur Leitmetapher der Zivilisationskrankheiten und damit zum Titel der Zivilisation selbst zu werden. Es ging nicht mehr um die Trägheit der notorischen Faulpelze, Vagabunden, Armen, Bettler, die Überarbeitung der gepressten Bauern, um Furcht und Zittern der armen Söldner, um die acedia der Mönche und die melancholia der Gelehrten und Dichter, nicht mehr um die blasierten Müdigkeiten der gelangweilten Hofadligen, nicht um die desperatio hochbegab4 Vgl. die große Studie von Radkau 1998; sowie Roelcke 1999; Worbs 1983; Diersch 1973; Eckart 1997.

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ter bürgerlicher Hofmeister oder die Erschöpfung zügelloser Libertins. Zweifellos hatten sie alle in der einen oder anderen Weise mit Müdigkeit und Erschöpfung zu tun. Doch diese alteuropäischen Müdigkeiten trugen eine andere soziale Physiognomie, erfuhren andere, nämlich metaphysische, moralische oder christliche Deutungen – oder sie versanken im Bauch jener Geschichte, von der keine Diskurse und Berichte Zeugnis geben, eine nichtsignifikative Masse von Bedeutungslosigkeit, in deren Stummheit sich Müdigkeit und Erschöpfung vermummt hatten. Müdigkeiten sind von einer solchen Trivialität, dass es besonderer Umstände der Geschichte bedarf, damit sie überhaupt in den Fokus von Diskursen treten. Wenn dies geschieht, dann allerdings erkennen wir, dass die Müdigkeit eines Gelehrten, Mönchs oder Bauern im Mittelalter etwas völlig anderes ist als die des Gymnasiasten (in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen, 1891), des Arbeiters (in Friedrich Engels’ Die Lage der arbeitenden Klassen in England, 1848) oder des Soldaten (in Georg Büchners Woyzeck, 1837). Die des Irdischen müde gewordene Seele Hildegards von Bingen ist nicht zu vergleichen mit der zwischen hysterischer Reizflut und Langeweile gespaltenen Neurasthenie einer mondänen Ehefrau in Wien oder Paris. Die moderne Müdigkeit ist im Kern ein Element der hochorganisierten Arbeit – dort taucht sie zuerst auf und formatiert die Diskurse über Neurasthenie, später dann über Stress, Burn-out und Depression. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo es stets um die effiziente Synthese von anorganischer (maschinaler) und organischer (körperlicher) Arbeit ging, war man über den Ersten Hauptsatz der Thermodynamik – Umwandlung und Erhaltung von Energie – ebenso entzückt wie zutiefst erschrocken über den Zweiten Hauptsatz, nämlich die irreversible Zunahme der Entropie. Die Moderne trat ins Zeichen einer Welt-Erschöpfung. Anson Rabinbach schreibt: Die endemische Unordnung der Ermüdung – die augenscheinlichste und hartnäckigste Mahnung an den halsstarrigen Widerstand des Körpers gegenüber unbegrenztem Fortschritt und Produktivität – begleitete die Entdeckung von Krafterhaltung und Entropie. Die Ermüdung wurde zur permanenten Nemesis eines Europas der Industrialisierung. (Rabinbach 1990/2001: 14)

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Mit der Ermüdung fand erstmals eine negative Kraft, eine Abwesenheit, Eingang in die Selbstbeschreibung der Moderne: die Abwesenheit von Frische, Aufmerksamkeit, Spannung, Aktivität, Kraft, Produktion. Diese ließen sich nur von ihren Grenzen in der Ermüdung her verstehen, ja, die Fortschrittsaspirationen des Jahrhunderts kippten sogar ins Gegenteil: Die entropische Müdigkeit, die Neurasthenie und die allgemeine Überreizung und Erschlaffung sind der Normalzustand gegenüber den Phasen manischer Arbeit, welche die Müdigkeit immer nur unterbrechen. Wie viele andere hatte auch Nietzsche dies erkannt, wenn er unter dem Titel »Musse und Müssiggang« schreibt und dabei, als hätte er George Miller Beards American Nervousness (1881) gelesen, die »athemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt« betont: Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Ueberlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, Etwas in weniger Zeit zu thun, als ein Anderer. Und so giebt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur »gehen lassen«, sondern lang und breit und plump sich hinstrecken. (Nietzsche 1988b: 556 f.)

Dem Druck und dem Tempo der Arbeitswelt korrespondiert nicht mehr die erfüllte Muße, sondern die Erschöpfung und, als eine Art passiven und semantisch leeren Widerstands, die Langeweile. Wo soll noch Erholung stattfinden? In den Megalopolen führt selbst die Zeit außerhalb der Arbeit, die ›Freizeit‹, zur Erschöpfung der Nerven.

Ermüdungswissenschaft Im Handbuch der Arbeitspsychologie, das 1927 vom Direktor des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie unter dem Titel Körper und Arbeit herausgegeben wurde, findet sich eine lange Abhandlung, »Die Theorie der Ermüdung« (1927), von Arnold Durig (1872-1961). Der österreichische Professor für Physiologie an der Universität Wien war hierfür bestens qualifiziert: Er hatte mehrere Forschungsexpeditionen, unter anderem ins Monte-Rosa32

Massiv, absolviert. In der Nachfolge des Galilei der Ermüdungswissenschaft, des Turiner Experimentalphysiologen Angelo Mosso (1846-1910), hatte Durig experimentelle Feldstudien über Ermüdungsverläufe in 4500 Metern Höhe durchgeführt, an ebenjenem höchsten italienischen Gipfel, wo Mosso seine spektakulären höhenklimatischen, ermüdungs- und atemphysiologischen Feldstudien vorgenommen hatte. Mosso hatte 1891 sein alsbald berühmtes Werk La fatica (1891/1892)5 publiziert, auf dem Höhepunkt der internationalen Forschung zur Physiologie der Ermüdung sowie zur Neurasthenie in Europa und den USA. Arnold Durig stand in dieser Tradition – doch sein Resümee fällt 1927 niederschmetternd aus, wenn er schreibt: »Sicherlich ist in neuerer Zeit die Bedeutung der experimentellen Ermüdungsforschung ganz wesentlich überschätzt worden. Es wird sich zeigen lassen, daß wir ein quantitatives Maß für die Bestimmung der Ermüdung überhaupt nicht besitzen« (1927: 199). Auch wenn sich im Zuge der experimentellen Physiologie des 19. Jahrhunderts die empirische, physiologische wie psychologische, statistische wie organisatorische Arbeitswissenschaft gebildet hatte: Die hochfliegenden Erwartungen hatten sich nicht erfüllt. Man hatte, wie Anson Rabinbach (1990/2001) in seiner fundamentalen Studie getitelt hatte, auf allen Ebenen den Menschen strategisch als Motor Mensch konzipiert. Mensch und Maschine wurden homogenisiert. Mithilfe der Gesetze der physikalischen wie physiologischen Mechanik sollte die Arbeitswelt organisiert werden. Dafür musste man nicht nur die Arbeitsvollzüge messen – ein großes Vorhaben des 19. Jahrhunderts –, sondern man musste auch den Energieverbrauch berechnen und die Verlaufskurven der Ermüdung ermitteln. Die Fabrik als ein Ensemble von Maschinen und Arbeitern war als ein gigantisches Energie-, Arbeits- und Stoffwechsel-Unternehmen konzipiert, in welchem alles und alle nur als mechanische Elemente der Produktionsflüsse berücksichtigt wurden. Und parallel galt dies etwa auch für das Heer oder die Schule. Angelo Mosso hatte noch angenommen, er könne das »Gesetz der Erschöpfung« (1892: 150-177) sowohl in der körperlichen wie in der geistigen Arbeit ermitteln. Es galt, die Anforderungen der Arbeitswelt – besonders der Industrie, aber auch der Schule und der 5 Der deutschen Übersetzung folgten sehr schnell englische und französische.

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intellektuellen Berufe – und das Interesse am Erhalt der Arbeitskraft auszugleichen. Dies sollte über die »Bioenergetik des Menschen« (Vatin 1998: 350) gelingen, die zwischen der physikalischen Arbeit, wie sie etwa die Dampfmaschine leistete, und der physiologischen Arbeit des Menschen eine Brücke zu bauen versprach. Ziel war es, nomothetische Regeln und praktische Handreichungen für die Organisation und Methoden der Arbeit anzubieten – zum Besten einer überlasteten Gesellschaft. Doch die Hoffnung trog. Die extrem vielen methodischen und empirischen Probleme, die sich bei den ergographischen Experimenten einstellten, weckten immer mehr Zweifel gegenüber so starken Annahmen wie denjenigen der Ermüdungsforscherin und Direktorin des Laboratoriums der Psychophysiologie der Universität Brüssel, Josefa Joteyko (1866-1928). Joteyko glaubte, eine mathematische Formel für die Ermüdungskurven gefunden zu haben, in der physikalische, muskuläre, intoxikatorische, nervöse Parameter berücksichtigt waren: Damit schienen die wesentlichen Faktoren der Energieumwandlungen bei der Arbeit, aber auch der Grenzwert der Erschöpfung der körperlichen Ressourcen erfasst werden zu können. Die Kluft, welche im neuen Zauberwort der ›Psychophysiologie‹ nur terminologisch überspielt wurde, war im Geiste einer »triumphierenden szientifischen Philosophie« (Vatin 1998: 360) geschlossen. Doch war immerhin der paradigmatische Übergang von der Physiologie zur Psychophysiologie der Arbeit und damit ins Zeitalter der Nerven vollzogen. Es gab, unabhängig von der Form der Arbeit, ob physisch oder geistig, nur noch eine einzige Ermüdungsart, nämlich die Erschöpfung der Nervenkraft. So war die Arbeits- und Ermüdungswissenschaft in den Bann der allgemeinen Neurasthenie geraten. Doch so wie in den 1920er Jahren niemand mehr von der Neurasthenie sprach, die vor 1914 als mal du siècle gegolten hatte, so war auch der positivistische, physikalisch bestimmte Physiologismus des 19. Jahrhunderts als Universalschlüssel zur Entzifferung körperlicher Prozesse und Belastungen untergegangen – jedenfalls in jener Weltbild generierenden Ausrichtung, für die Helmholtz, Du Bois-Reymond oder Ernst Mach, aber eben auch Angelo Mosso oder der junge Arnold Durig vor 1914 gestanden hatten. So schreibt Durig 1927, als er den epistemologischen wie ontologischen Bruch zwischen Physik und Physiologie und damit zwischen Maschinen und Menschen längst vollzogen hatte: 34

Vorläufig verfügen wir über kein einziges verläßlich quantitatives Verfahren, das imstande wäre, den Menschen gleich wie eine Maschine, der der eigene Wille fehlt, auf die Leistungsfähigkeit zu prüfen, und doch liegt dar­ in das Schwergewicht der ganzen Ermüdungsforschung zum Schutze des Arbeitnehmenden gegenüber frühzeitiger Abnutzung. (Durig 1927: 208)

Trotz dieser Skepsis spürt man noch bei Durig, was Ermüdungsforschung vor dem Weltkrieg gewesen war: Sie diente der Erkenntnis von Ermüdung als der komplementären Kategorie zur Arbeit, die zweifelsohne im Mittelpunkt des 19. Jahrhunderts stand – in der Physik sowohl wie in der Ökonomie. Erschöpfung ist eine Steigerung der Ermüdung, die ihrerseits »als etwas Zweckmäßiges« verstanden wird, nämlich als physische Rückkoppelung, die »allzu großer Beanspruchung vorbeugen oder eine Übermüdung verhindern soll« (Durig 1927: 201). Man hatte, wie Philipp Felsch bemerkt, entdeckt, dass Ermüdung nicht einfach die Negativform der mechanischen Arbeit ist, sondern als »eine Körpererscheinung von eignem Recht positiviert« werden muss (Felsch 2006: 112). Ermüdung ist ein eigenleiblicher, weder phänomenologisch noch chemisch durchschauter Prozess, der zwar zur allgemeinen »Thermodynamik des Lebens« (ebd.: 115) gehören mag, doch in seiner leiblichen Übersetzung, zum Beispiel als Ermüdung der Nerven, zu den elementaren Gegebenheiten des Subjekts gehört. Ermüdung wird darum jeder arbeitenden Person als natürliche Reaktion zugebilligt. Den Arbeits- und Ermüdungswissenschaftlern kommt es vor allem auf die zu kalkulierende »Spanne Zeit« an, die für »eine vollkommene Erholung« (Durig 1927: 208) nötig ist. Erschöpfung tritt hingegen ein, wenn »eine Leistung bis zum vollkommenen Versagen fortgesetzt« (ebd.: 209) wird und eine längere Zeit erforderlich ist, um die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen: für Fabrikherren oder Arbeiter, Schüler oder Lehrer, Schriftsteller oder Kellner gleichermaßen der Worst Case. Von beidem, Ermüdung wie Erschöpfung, ist das »Ermüdungsgefühl« als ein »Gemeingefühl« der Person zu unterscheiden. Das Ermüdungsgefühl muss nicht mit der »Größe der vollbrachten Leistung« (Durig 1927: 204) korrespondieren, sondern stellt eine subjektive Befindlichkeit dar. Diese ist ihrerseits reaktiv, nämlich ein Symp­tom der sozialen oder biographischen Bedingungen des Subjekts. During geht es indes weniger um diese emotionalen Impon35

derabilien als vielmehr um die apparativen »Methoden der Ermüdungsmessung« (Durig 1927: 217-246), worin er noch immer dem Erbe Angelo Mossos und seinem Messfetischismus, besonders dem Ergographen, anhängt. Dies ist bis heute der Megatrend in der Arbeits- und Sportphysiologie (vgl. Hoberman 1998), auch wenn Durig am Ende seiner auf den neuesten Stand der Technik gebrachten Sichtung des Apparateparks feststellen muss, »daß es überhaupt keine Methode gibt, mit welcher Ermüdung auch nur einigermaßen exakt gemessen werden könnte« (1927: 244). Dies ist eine betrübliche Feststellung, ging es doch darum, die Arbeit im doppelten Sinn zu optimieren: Zum einen sollte langfristig, gegen den Alterungsprozess, die »Lebensarbeitsmenge« (ebd.: 197) möglichst hoch gehalten werden. Zum anderen war ein möglichst ermüdungsfreies Leistungsniveau ohne Ermüdungsausfälle zu garantieren. Man erkennt die prekäre Stellung der Arbeitswissenschaftler zwischen tayloristischer Rationalisierung der Arbeit und der erschöpfenden Ausbeutung im Dienst der Rendite.

Phänomenologie Im Folgenden behandele ich die phänomenologische, aber auch die literarische Sicht auf Ermüdung und Erschöpfung. Gilles De­ leuze schreibt über die Filme Samuel Becketts, der in der Literatur gewiss einer der größten Ermüdungskünstler war (in dem Sinn, wie es Hungerkünstler à la Kafka gibt). Deleuze beginnt mit dem Satz: »Erschöpft sein heißt sehr viel mehr als ermüdet sein.« Und er fährt nach einem Zitat von Beckett fort: »Der Ermüdete verfügt über keinerlei subjektive Möglichkeit mehr, er kann also gar keine objektive Möglichkeit mehr verwirklichen. […] Der Ermüdete hat nur ihre Verwirklichung erschöpft, während der Erschöpfte alles, was möglich ist, erschöpft« (Deleuze 1992/1996: 51). Der Müde kann nichts mehr verwirklichen, auch wenn die Möglichkeit dazu objektiv bestünde: coniunctivus potentialis. In diesem Sinn ist Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften in Robert Musils gleichnamigem Roman, einer, der müde von allen Handlungsschablonen, Berufen und Eigenschaften ablässt, ein Mann, der sich, trotz seiner Handlungspotenziale, aufgrund der Ausgelaugtheit der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Welt bewusst für 36

einen Zustand des ›aktiven Passivismus‹ entscheidet. Der Erschöpfte hingegen kann nichts mehr verwirklichen, weil alles aktualiter bereits verwirklicht ist, selbst wenn er subjektiv die Möglichkeit, etwas zu verwirklichen, noch hätte: coniunctivus irrealis. Man erkennt den an Aristoteles, Leibniz und Spinoza geschulten Philosophen Deleuze. Wichtig ist hier die Unterscheidung von energeia und dynamis (ἐνέργεια und δύναμις), von actus und potentia. Beim Ermüdeten ist die dynamis, die potentia, also das Vermögen zur Verwirklichung von Möglichkeiten, erloschen – jedenfalls jetzt und hier. Jetzt geht nichts mehr, aber vielleicht morgen, nach einer Erholung des Vermögens; hier in den Armmuskeln geht nichts mehr, obwohl das Subjekt psychisch und mental noch zur Tätigkeit aufgelegt sein mag: Motivation, Wille, Wunsch mögen noch bestehen, die Potenz zur Verwirklichung aber ist in der Ermüdung zusammengesunken, sozusagen zur A-dynamis, zur Impotenz geworden. Anders steht es mit der Erschöpfung, die Deleuze einen »entschiedenen Spinozismus« nennt: »Es gibt nichts Mögliches mehr«, das als ›passive Potenz‹ sich zur Aktualisierung anböte: Das Wirkliche beziehungsweise das Verwirklichte hat die Möglichkeiten erschöpft (im Sinne von ›ausgeschöpft‹). In konkreten Situationen des Subjekts A angesichts der Wirklichkeit XYZ besteht indes eine Ungewissheit: »Erschöpft er das Mögliche, weil er selbst erschöpft ist, oder ist er erschöpft, weil er das Mögliche erschöpft hat?« (Deleuze 1992/1996: 51) Was heißt das? Im ersten Fall hat sich das Selbst erschöpft – und ebendarum hat es das ihm Mögliche erschöpft. Zum Beispiel: Aus dem Marmorblock habe ich die mir mögliche Form herausgeholt; und das erschöpft mich, aber nicht die objektive Möglichkeit beziehungsweise die ›passive Potenz‹ des Marmors zu mannigfaltigen Formen. Im zweiten Fall habe ich die im Marmorblock überhaupt nur mögliche Form herausgearbeitet – etwa als kanonisierte Form aller Formen, als klassische Idealform. Und diese Erschöpfung der passiven potentia in der hier und jetzt aktualisierten Form erschöpft zugleich die ›aktive Potenz‹ des Künstlers, da nichts bleibt, was von der dynamis noch in energeia transformiert werden könnte. Das ist eine Erschöpfung, die in der verwirklichten Welt vorliegen mag, als ihre objektive Form. Diese schneidet das Subjekt von jeder weiteren Aktualisierung ab, die nicht einmal mehr denkbar ist. 37

Wir erkennen darin diejenige Erschöpfung, in deren negative Faszination die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts geraten war, als man gemäß dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik die Entropie überall schon zur Verwirklichung drängen sah. Der Kältetod ist die universale Erschöpfung aller Möglichkeiten, eine exhaustierte Welt, die nicht mit der apokalyptischen Welt oder dem Memento mori zu verwechseln ist. Angesichts einer solchen Zeitstimmung sind nicht mehr Subjekte müde und erschöpft, sondern die Welt drängt ihrer finalen Erschöpfung zu, wenn diese nicht bereits eingetreten ist. Das ist die Stimmung der Neurastheniker um 1900: »Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern«, heißt es bei Hofmannsthal (1979b) in seinem Gedicht Manche freilich … von 1895. Subjektiv mag sich dies niederschlagen in der finalen Erschöpfung von Melvilles Bartleby (1853/2007; vgl. auch Deleuze 1989/1994; Agamben 1993/1998; Han 2010: 48-55), dessen maschinenhaft repetierter Satz »I would prefer not to« nicht einmal das kraftvolle Nein zu einer Möglichkeit enthält, weil es jenseits dieser noch andere, verlockendere Möglichkeiten gäbe. Sondern in diesem Satz stellt sich ein Verlöschen von Welt und Ich, von dynamis und energeia in einer grenzenlosen Erschöpfung dar. Das Maschinenhafte des »Motor-Menschen« Bartleby, der sich der Ödnis seiner entfremdeten Arbeitswelt entziehen will, wiederholt sich noch in der einzig ihm verbliebenen Sprachgeste. Seine Sprache eröffnet aber nicht mehr einen Raum des Möglichen, das zur Verwirklichung drängt. Vielmehr schrumpft Bartlebys Sprache zu einer leeren Negation, welche die totale Erschöpfung anzeigt und zwanghaft wiederholt, bis er schließlich als Human-Abfall entsorgt wird: Welt und Ich enden in ihrer Nichtmöglichkeit. Deleuze nennt solche Wiederholungen, die für Freud Anzeichen einer Zwangsneurose wären, »exhaustive, das heißt erschöpfende Serien«. »Aber nur der Erschöpfte kann das Mögliche erschöpfen, weil er auf alle Bedürfnisse, Vorlieben, Ziele oder Sinngebungen verzichtet hat« (Deleuze 1992/1996: 55). Darin erkennen wir Melvilles Bartleby und Becketts negative Helden wieder, niemals aber die unermüdlichen Helden Kafkas, die in der Illusion der noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten befangen sind. Die Melville’sche oder die Beckett’sche Erschöpfung sind etwas ganz anderes, als wenn wir im Vermögen der Möglichkeitsfül38

le stehen und jede Aktualisierung auch das dabei Nichtrealisierte wachruft. Dann werden wir zwar in dieser Endloskette neuer Möglichkeiten ermüden, aber niemals uns erschöpfen. Denn der Horizont der potentia wächst mit dem Horizont der actus, der Verwirklichungen und Verrichtungen, immer mit. ›Actus‹ heißt auch das Treiben, der sich aus der potentia realisierende Trieb. Und solange diese energeia nicht selbst erschöpft ist, ermüden wir zwar, aber wir erschöpfen uns nicht und wir erschöpfen auch nicht das Mögliche. Vergessen wir nicht, dass Bartleby auch das Symptom einer harten Arbeitswelt und sozialen Tristesse ist und dass die Bartlebys dieser Welt eine zentrale Herausforderung für die Ermüdungs- und Arbeitswissenschaftler des 19. Jahrhunderts waren. Ermüdung und Erschöpfung haben ihre sozialen Orte und sozialen Verteilungen. Das wusste auch der junge Hofmannsthal, wenn er in dem schon zitierten Gedicht Manche freilich … die Lebensmöglichkeiten schicksalhaft ausgeteilt sieht nach ›oben‹ und ›unten‹. Ganz aristotelisch ist das Unten mit der Schwere und dem Dunklen, das Oben mit dem Leichten und Lichten verbunden. Das Niederdrückende, Schwermütige, Depressive ist, wie in der klassischen Elementen- und Temperamentenlehre, das Erdhafte, über dem, wie es heißt, sich die Luft und das Reich der Sterne, der Sibyllen und Königinnen erhebt, freilich an das dunkle Schwere gebunden. Das lyrische Ich, ganz sicher eher ein Bewohner des oberen Schiffsdecks, ist gerade von dieser Schwere fasziniert und kann selbst das »stumme Niederfallen ferner Sterne« nicht von sich distanzieren. In die Melancholie des lyrischen Tons ist der Schrecken eingewoben über all das Nebeneinander und »Durcheinander« in der Textur des Daseins. Das Gedicht (das selbst eine »schlanke Flamme oder schmale Leier« ist) ist gestimmt auf den Ton der Schwermut, affiziert vom taedium vitae, vom mal du siècle, und doch in der Schlussvolte ausgerichtet auf ein unbestimmtes und vielleicht unsagbares »Mehr-als« (»mehr als dieses Lebens / Schlanke Flamme oder schmale Leier«): ein Mehrwert, der vom unerschöpflichen, ebenso antientropischen wie antidepressiven Leben garantiert zu sein scheint. Gewiss ist dies ein Einklang Hofmannsthals mit der Lebensphilosophie, welche um 1900 als Antidot gegen Neurasthenie, Melancholie, Neurose, gegen Dekadenz und auch gegen soziale Depravierung, kurz: gegen die erschöpfenden Momente von Gesellschaft und Kultur, aufgeboten wurde. Nietzsche fragte in seinem Plan zu 39

einem ungeschriebenen Buch über décadence: »Wohin gehört unsere moderne Welt, in die Erschöpfung oder in den Aufgang? – ihre Vielheit und Unruhe bedingt durch die höchste Form des Bewußtwerdens« (1988d: 418). Damit erfasst er klar den psychologischen Konnex von Reflexionsüberhang, Differenzierung und Unruhe. Der Arzt Philippe Tissié (1897) propagierte gegen die depressive Müdigkeit der Gesellschaft gymnastische Körperausbildung und Hygiene; andere fügten gesunde Ernährung, naturnahe Lebensform und kräftigende Arbeit als Heilsbringer hinzu. Für Literaten wie Huysmans und Wilde bis hin zu Hofmannsthal hingegen sollten die Künste und ihre Artefakte eine Sphäre von Preziosität und Unerschöpflichkeit sichern. Doch dann wurde im Innersten der Kunst die Lebensferne entdeckt, so dass gerade das Mittel und Medium, das gegen die Müdigkeit aufgeboten wurde, diese Müdigkeit bis zur Erschöpfung trieb. Dies war Thomas Manns großes Thema. In den Buddenbrooks schildert er die Exhaustierung von Lebenskraft über drei Generationen hin, im Tod in Venedig stellt er den Zusammenhang von Disziplin und Erschöpfung als Problem des alternden Künstlers dar. Mustert man die Wortfelder für Ermüdung, Erschöpfung usw., so fallen zwei semantische Achsen auf: die vertikale Bewegung von oben nach unten, der Gravitation folgend, worin die Schwere des Körpers leitend wird und vom Lebensgefühl temporär (episodisch) oder dauerhaft (rezidivierend) Besitz ergreift – im Gegensatz zu jenen leiblichen, ebenfalls vertikal ausgerichteten Gestimmtheiten, in denen Fröhlichkeit, Liebe, Erhabenheit, Ekstase antigrav erhebend wirken, nämlich Gefühle des Leichten, Aufwärtsdrängenden, ja Schwerelosen wecken. Der Ermüdete oder Erschöpfte spürt dagegen ein unwiderstehliches Niedersinken, ein Drängen in die horizontale Lagerung, gegen das schon die aufrechte Haltung, die uns als Homo erectus auszeichnet, eine fast zu große Anstrengung bedeutet. Mensch zu sein bedeutet, sich aufrecht halten, was eine Spannung und Anstrengung erfordert, worin sich aber auch eine Selbstmächtigkeit ausdrückt. Das wussten schon die antiken Autoren.6 Der Ermüdete hingegen sinkt nicht nur nieder, sondern auch in sich zusammen, hinunter auf die animalische, ja bloß vegetative Stufe des Lebens, die indes gerade die tiefe Phase der 6 Vgl. Platon 1992: 90a; Xenophon 2003: 1,4,11; Cicero 1996: II,140; Laktanz 1971: 14,1-3.

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Erholung und Regeneration einleitet. Der heute psychisch oder psychophysisch gemeinte Ausdruck ›Depression‹ enthält in seiner Herkunft von ›deprimere‹ (= niederdrücken) dasjenige, was wir im Deutschen auch die Niedergeschlagenheit, Bedrückung oder Gedrücktheit nennen: Zug und Druck nach unten, womöglich ins Bodenlose, Pression und Absturz zugleich, das Gegenteil der Verse Eichendorffs (1987): »Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus«, denn hier gewinnt das Selbstgefühl die Leichtigkeit der Vögel und der Luft (doch kann der Flug auch mit dem Tod assoziiert sein). Der schöne alte Ausdruck der ›Schwermut‹ entspricht der Melancholie, enthält aber nicht deren humoralpathologische Semantik, sondern die nach unten drückende Schwere der Seele, die sich nicht mehr aufraffen und erheben kann. Doch kannten schon die Alten das, was heute ›bipolare Depression‹ genannt wird, dass sich nämlich dunkle Gedrücktheit, quälendes Gefühlstief, affektive Leere und hoffnungslose Beschwernis mit manischen, agitierten, aber auch kreativ schöpferischen Phasen ablösen können. Den Affektqualitäten von schwer, dunkel, leer und tief entspricht die Gestimmtheit des Leichten, Hellen, Vollen und Erhobenen. Eine zweite semantische Achse ist die der Spannung, der komplementär die Entspannung, negativ indes die Erschlaffung entspricht. In der älteren Nerven- und Muskelforschung ist der Zustand der Spannung derjenige, aus dem heraus mentale Aufmerksamkeit und physische Arbeit erfolgen. Spannung heißt, voller Antrieb zu sein und über bereite Kraft zu verfügen, ja einen Drang, eine Spannkraft zur Tätigkeit zu spüren. Der ganze Mensch ›spannt‹, so wie – bei de Sade – der Phallus ›spannt‹, also potentia, dynamis zeigt, die zur Aktualisierung drängt. Diese Aktualisierung demonstriert Energie. Die ›Spannung‹ kann vormodern der Metaphorik des gespannten Bogens entnommen sein, von dem der Handlungspfeil auf ein Ziel hin schnellt. Oder die Spannung der Feder wird, mechanistisch gesehen, zur Quelle der gespannten Kraft, aus der wie beim Uhrwerk kontinuierlich ablaufende Bewegungsarbeit gewonnen werden kann. Unbedingt moderner ist die elektrische Spannung; sie ist ein Metaphern-Quellgebiet für die Sprache der Gefühle seit der Romantik.7 Der elektrische Strom, der im Falle der Liebe ebenso 7 Vgl. Benz 1971; Moiso 1985; Plitzner 1998; Hagen 1999; Hochadel 2003. – Natürlich gehört hierher auch das Gebiet des Mesmerismus sowie des Blitzschlages, vgl. Barkhoff 1995; Briese 1998; Schmenner 1998.

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wie der Wut durch den Körper zuckt, ist der modernere Ausdruck gegenüber dem feurigen Temperament, das der antiken Elementenlehre entstammt. Die Affektsprache stellt sich mithin von den vier Elementen langsam um auf die Mechanik von Kräften, auf die Neurologie und auf die energetischen Metaphern der Thermodynamik. Hinsichtlich der Ermüdungsforschung ergab sich aus dem Verlust der Spannkraft und der Erschlaffung der Nerven und Muskeln ein Übergang zur Neurasthenie, welche die Modekrankheit des Fin de Siècle war. ›Neurasthenie‹ meint die Schwäche der Nerven (nervous exhaustion, so George M. Beard), die ihre Nervenkraft und damit die Fähigkeit verloren hatten, den Leib unter motorische Spannung zu setzen und zu Aktivitäten zu agitieren sowie den Geist und die Aufmerksamkeit auf Ziele hin zu konzentrieren. Kein Wunder, dass man Neurasthenie mit magnetischen und reizstromtherapeutischen Maßnahmen zu kurieren versuchte. In der Nachfolge von Albrecht von Haller und John Brown, aber auch von Johann Wilhelm Ritter oder Alexander von Humboldt sollten die Sensibilität beziehungsweise Irritabilität der Nerven gestärkt oder vor Überreizung und Überlastung geschützt werden. Gewiss gehören hierher auch die mesmeristischen und hypnotischen Kuren. Bei Brown und in der Romantik spielte die Asthenie (Schwäche, Erschöpfung) als somatopsychologische Erkrankung bereits eine Rolle. So notierte Novalis, der eine ganze Ästhetik aus den Brown’schen Kategorien der Sthenie und Asthenie entwarf: Die Nacht ist zweyfach – indirecte und directe Asthenie – Jene entsteht durch Blendung – Übermäßiges Licht – diese aus dem Mangel an hinlänglichen Licht. So giebt es auch eine Unbesonnenheit aus Mangel an Selbstreitz – und eine Unbesonnenheit aus Übermaaß an Selbstreitz – – dort ein zu grobes – hier ein zu zartes Organ. Jene wird durch Verringerung des Lichtes oder des Selbstreitzes – diese durch Vermehrung derselben gehoben – oder durch Schwächung und Stärckung des Organs. Die Nacht und Unbesonnenheit aus Mangel ist die Häufigste. Die Unbesonnenheit aus Übermaaß nennt man Wahnsinn. Die verschiedne Direction des übermäßigen Selbstreitzes modificirt den Wahnsinn. (Novalis 1960: 620)

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Neurasthenie und kein Ende Damit sind wir bei der Neurasthenie, in der sich die Müdigkeit und Erschöpfung des Fin de Siècle zu einem kollektiven Phantasma verdichteten. Die Robustheit der Industrie und der Technik, die Rationalität und die Wissenschaften, das Wachstum der Städte und des Verkehrs, die Macht von Staat und Militär, die Innovationskraft der Medien und die Verschaltung von allen und allem durch Netzwerke und logistische Infrastrukturen bildeten die starke, ja unwiderstehliche und dynamische Mitte der Gesellschaft des langen 19. Jahrhunderts, das bis 1914 andauerte. Doch diese Mitte wurde ständig von den Rändern her heimgesucht: durch Alkoholismus, Degeneration, Dekadenz, Neurasthenie, Hysterie, Psychosen, Nervenkrankheiten, durch soziale Verwahrlosung und »moralischen bzw. physiologischen Schwachsinn [des Weibes]« (moral insanity; Paul Julius Möbius 1900; Kathinka von Rosen 1904), »Entartung« (Max Nordau 1892/2012) und Kriminalität (Cesare Lombroso 1896), durch Überreizung oder Reizarmut, Spiritismus und Okkultismus, durch krankmachende Geschwindigkeit sowie durch endemische Krankheiten wie Cholera, Tuberkulose, Typhus, Bleichsucht, Syphilis und anderes mehr. Dieser für das 19. Jahrhundert eigentümliche Widerspruch aus stämmiger Robustheit und müder Schwäche ließ, als Moment der Moderne, die Kulturkritik entstehen und mit ihr die Reflexivität und Dialektik, die für die Moderne ebenso kennzeichnend sind wie Technik und Industrie. Ja, man kann sagen, dass es niemals zuvor eine Epoche gegeben hat, die in eins mit ihren unbestreitbaren Fortschritten und Gewinnen zugleich die eigenen Sozialpathologien und gesundheitlichen Kosten so radikal reflektierte wie das Fin de Siècle. In vieler Hinsicht ist die Neurasthenie vielleicht weniger eine wirkliche Krankheit als der genau rechtzeitig erfundene Spiegel, worin die triumphierende Arbeitsgesellschaft ihr erschöpftes Antlitz studieren konnte. In anderer Hinsicht ist die Neurasthenie eine unbestimmte, alle möglichen Symptomatiken inkludierende, weder nur physische noch nur psychische, weder nur neurologische noch nur soziale Krankheit, doch irgendwie ist sie alles zusammen. Wenn man im Warenhaus die glitzernde Schauseite der Warengesellschaft erblicken konnte (wie Émile Zola in Au bonheur des dames [1884/1988] schildert), dann darf man die Neurasthenie geradezu 43

als den Kramladen für die odds and ends des 19. Jahrhunderts bezeichnen. Die schön verpackten Frauen und literarischen Elegants, in Salons und auf Boulevards gleichermaßen zu Hause, mit müden Gesten und feinsinnigen Bonmots, in bleicher Schönheit, gelagert in weichen Fauteuils, die Huldigungen der Männer und die besorgten Blicke der Ärzte entgegennehmend – und auf der andere Seite die ausgelaugte Fabrikarbeiterin, bleichsüchtig mit fünf Kindern und einem aggressiven Alkoholiker in einer lichtlosen Zweizimmerwohnung lebend, und schließlich die jungen Burschen, die kraftlos ihrem stundenweise vermieteten Schlafplatz entgegenwanken: sie alle sind, mit Herman Bang (1857-1912) zu sprechen, Hoffnungslose Geschlechter (1880/2013). Sie müssen nicht wie Bangs Protagonist aus alter, vornehmer, aber bis ins Mark degenerierter Familie stammen oder wie Bang selbst das Leben eines literarischen Dandys führen, von Drogen zerrüttet und von Depressionen heimgesucht. William Hög und Bernhard Hoff, die Protagonisten Bangs, sind mit Jean Floressas des Esseintes (Huysmans 1884/1981) Brüder im Geiste des Verfalls und des Lebensüberdrusses. Aber alle sind mit Stil und Bewusstsein Neurastheniker, und sie gehören, ästhetisch wie moralisch gesehen, zur Elite der Dekadenz. Der 19-jährige Hofmannsthal schreibt im Essay über Gabriele D’Annunzio (Hofmannsthal 1893), dass die Väter »uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen« hätten: »hübsche Möbel und überfeine Nerven« (Hofmannsthal 1979a: 174). Der junge Dichter diagnostiziert die »unheimliche Willenlosigkeit« (ebd.: 177) seiner Generation und die »unheimliche Gabe zur Selbstverdoppelung« gerade bei Intellektuellen, deren schizoide Selbstreflexivität von dunkler Schwermut überschattet und vom Wärmestrom des Lebens abgeschnitten ist. »Wir schauen unserem Leben zu« (ebd.: 175): Heute scheinen zwei Dinge modern zu sein: die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben. Gering ist die Freude an Handlung, am Zusammenspiel der äußeren und inneren Lebensmächte, am Wilhelm-Meisterlichen Lebenlernen und am Shakespearischen Weltlauf. Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels; und modern ist die instinktmäßige, fast somnambule Hin-

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gabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine wundervolle Allegorie. (Ebd.: 176)

Lebensferne und Reflexionsüberschuss, die asthenische Schwächung des Willens und die Handlungsarmut, die nervöse Überreizung bei gleichzeitigem Ennui, die Abwehr der Wirklichkeit durch Flucht in die Imagination, der Schönheitskult wie auch die Zergliederungssucht jedweder Phänomene: Das sind durchweg Symptome, die zur Neurasthenie gezählt wurden. Indes, was gehörte nicht zu ihr? Missbefinden, Appetitlosigkeit, Schwäche, Schmerzen, Hysterie, Schlaflosigkeit, Hypochondrie, Kopfwehattacken, krankhafte Furcht, Empfindlichkeit der Kopfhaut, Tinnitus, das Pandämonium der Phobien von Agoraphobie bis Phobophobie, sexuelle Exzesse, quälende Enthaltsamkeit, Muskelkrämpfe, vorübergehende Lähmung, Fäulnis der Zähne, übermäßiges Gähnen, Frauenkrankheiten, Unbeherrschtheit, Reizbarkeit, Verzweiflung, Störungen des Urogenitalapparates, der Verdauung, des Herzens usw. Kein Wunder, dass George Miller Beard (1839-1883), der Inaugurator des Neurasthenie-Diskurses, dekretierte, dass diese Krankheit nicht logisch zu ordnen sei. Seit der Publikation A Practical Treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia) (1880) und vor allem nach dem Bestseller American Nervousness (1881) stilisierte sich Beard in grandioser Selbstinszenierung erst als den Eponymen, dann als Entdecker der Neurasthenie. »Neurasthenia […] ist das medicinische Central-Afrika – ein unerforschtes Land«, zitiert Esther Fischer-Homberger (2010: 40) eine plakative Selbstaussage Beards (1883) – vielleicht in durchaus ironischer Absicht, wenn man den Kontext mitliest, worin Fischer-Homberger zeitgenössische Urteile über Beard referiert, die ihn als Wanderzirkusunternehmer à la Barnum verspotten. Ein gewaltiger Diskurssturm rauschte durch die USA und Europa, in den alle Krankheiten und Sozialpathologien hineingesogen wurden, die überhaupt psycho- oder physiopathologisch verdächtig schienen. Beard, der die Neurasthenie durchaus mit der amerikanischen Utopie verband, weil diese Krankheit eine Reaktion auf die forcierte Moderne sei, der die USA ihre welthistorische Spitzenstellung verdanke, hatte einem neuen Phänomen, nämlich krank durch Zivilisation zu werden, einen Namen gegeben, der sich in rasendem Tempo – man kann sagen: typisch für die Medienmoder45

ne – ausbreitete und der Faszination der Mediziner für neurologische Pathologien einen Titel gab. Neurasthenie und Dekadenz sind für den ebenfalls vom Diskurs infizierten Nietzsche die Namen für »das niedersinkende Leben im jetzigen Europa«, »das VerfallsGebilde der Societät« (1988d: 238; Hervorh. im Orig.). Und er listet ganz im Stil der Symptomsammlungen Beards auf: Folgen der décadence. Das Laster, die Lasterhaftigkeit die Krankheit, die Krankhaftigkeit das Verbrechen, die Criminalität das Coelibat, die Sterilität der Hysterismus, die Willensschwäche, der Alkoholismus der Pessimismus der Anarchismus. (1988d: 255; Hervorh. im. Orig.)

Und zur »Theorie der Erschöpfung« notiert Nietzsche: Mit der Einsicht, daß alle unsere Stände durchdrungen sind von diesen Elementen, haben wir begriffen, daß die moderne Gesellschaft keine »Gesellschaft«, kein »Körper« ist, sondern ein krankes Conglomerat von Tschandala – eine Gesellschaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretieren, (1988d: 503 f.; Hervorh. im Orig.)

und darum alle schadhaften Stoffe in sich versammelt. Der Psychiater Wilhelm Erb (1840-1921) macht es 1893 nicht anders: Zu den verursachenden Faktoren der Neurasthenie zählt er den »ins Ungemessene gesteigerten Verkehr«, »die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons«, »Hast und Aufregung«, die Verwirrung von Tag und Nacht, der Druck, der selbst »Erholungsreisen« zu »Strapazen für das Nervensystem« macht, die politischen, industriellen, finanziellen Krisen, die sozialen Kämpfe, Parteiungen und Agitationen, das immer raffiniertere und unruhigere Leben in den großen Städten«. All dies sind »Gefahren in unserer modernen Culturentwicklung« (Erb 1893: 23 f.; siehe Kury 2012: 45; Ingenkamp 2012). Die hierdurch hervorgerufene Neurasthenie, die »reizbare Schwäche«, führt zu einer »pathologische[n] Steigerung und Fixirung der Ermüdung« (Erb 1893: 12). So hatte schon Beard, auf den sich Erb bezieht, die Großstädte, Dampfkraft, Presse, Telegraph, die Wissenschaften und die geistige Tätigkeit der Frauen für die Neurasthenie verantwortlich gemacht. 46

Es ist nachvollziehbar, dass eine eher konservative Kritik der Moderne sich mit der Medizin verbündet, um dem chaotischen Diskurs Gewicht und Ansehen zu verschaffen. Es ist aber auch klar, dass sich in den Sammelsurien von Symptomen diffuse Modernisierungsschäden Ausdruck und Beachtung verschafften, die in der Tat ernst zu nehmen waren, auch wenn sie in der ideologischen Fusion mit Theorien über allgemeine Degeneration, Dekadenz und – so bei Max Nordau – Entartung für heutige Leser schwer erträglich sind. Der medizinische Kern ist weitgehend identisch mit dem der Ermüdungswissenschaft: Der aufgrund der Modernisierung aller Lebensverhältnisse enorm angestiegene Verbrauch an Nervenkraft führt zu einer allgemeinen Erschöpfung der psychophysischen Substanz des Individuums, aber auch des Kollektivkörpers der Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Leiden führen zum Leiden an der Gesellschaft (vgl. Dreitzel 1972). Man ist müde, man ist der Gesellschaft müde, man ist des Lebens müde. Die Mikro- und die Makroebene wurden im Neurastheniediskurs zusammengeschaltet, so dass schließlich die erschlafften Subjekte sich im Gleichklang mit der Ermattung und Erschöpfung der ganzen Epoche befanden. Auch wenn die Terminologie und die wissenschaftlichen Ansprüche andere geworden sind: Die zirkulierenden Diskurse über den Stress, das Burn-out und die endemischen Depressionen laufen im Prinzip noch immer auf der kulturkritischen Schiene, auf welcher der Neurastheniediskurs so erfolgreich Fahrt aufgenommen hatte. Wir sind krank, weil die Gesellschaft krank ist: Das ist ein noch immer funktionierendes Erfolgsrezept.

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Thomas Fuchs Chronopathologie der Überforderung Zeitstrukturen und psychische Krankheit Einleitung Saturn und Melancholie – seit der Antike wurde die Depression als eine Erkrankung angesehen, die unter der Herrschaft des Chronos oder Saturn stand und somit auch eine Störung der Zeitlichkeit war (Klibansky et al. 2006). Dies stimmt überein mit dem klinischen Bild: Depressive Menschen leiden unter einer Verlangsamung und Entfremdung der subjektiv erlebten Zeit. Die Antriebskräfte erlahmen, und die Lebensbewegung kommt ins Stocken, in der schweren Depression bis hin zu einem Stillstand der Zeit. Die Möglichkeiten der Zukunft erscheinen verschlossen, und an ihre Stelle tritt ein stets drohendes, ja unausweichliches Verhängnis. Auf der anderen Seite drängen sich alle erinnerten Versäumnisse und Fehler in den Vordergrund und scheinen nicht wiedergutzumachen; Schuld und Last der Vergangenheit drücken den Depressiven buchstäblich nieder. Kurz, in der Depression errichtet die Zeit eine grausame und unerbittliche Herrschaft, die sich nicht mehr abschütteln lässt. Aber die Depression ist nicht nur eine Störung der individuellen Zeitlichkeit. Sie lässt sich auch als eine Entkoppelung von der gemeinsamen sozialen Zeit auffassen, das heißt als eine Desynchronisierung (Fuchs 2001; 2013a). Der Depressive vermag mit dem Fortgang der Ereignisse, den Anforderungen und Fristen nicht mehr Schritt zu halten. Unter diesem Aspekt gesehen, wird die Depression auch zu einem möglichen Indikator für eine Überlastung der Subjekte in beschleunigten Gesellschaften; sie wird – über den historisch weitgehend invarianten Anteil schwerer Depressionen hinaus – zum Ausdruck einer sozialen Patho­logie, zu einer »Zeitkrankheit« im kulturdiagnostischen Sinn. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass sich depressive Erkrankungen insbesondere als Reaktionen auf eine entfremdende Herrschaft der linearen Zeit begreifen lassen, die die beschleunigte Gesellschaft über die zyklische Zeit des Lebens und des gelebten Leibes errichtet. Diese 52

Herrschaft des linearen Zeitprinzips lässt den Individuen nur die Wahl, sich in vorauseilender Unterwerfung anzupassen und nach ständiger Mehrleis­tung zu streben oder aber in eine Desynchronisierung zu geraten und zu dekompensieren – eine derzeit populäre Bezeichnung dafür ist Burn-out, ein Syndrom, das schließ­lich in eine vollständige Depression münden kann. Betrachten wir zunächst einige Erfahrungen von Patienten. Der holländische Psychiater Piet Kuiper, der mit sechzig Jahren an einer Depression erkrankte, schreibt in seiner Selbstschilderung: Was geschehen ist, kann man nicht ungeschehen machen. Nicht nur die Dinge vergehen, auch Möglichkeiten verstreichen ungenutzt. Wenn man etwas nicht zur rechten Zeit tut, tut man es niemals mehr. […] Das eigentliche Wesen der Zeit ist untilgbare Schuld. (Kuiper 1991: 155, 162)

Zwei depressive Patienten unserer Klinik schilderten ihre Zeiterfahrung folgendermaßen: Meine innere Uhr ist stehen geblieben, während die Uhr der anderen weiterläuft. In allem, was ich tun müsste, komme ich nicht voran, ich bin wie gelähmt. Ich falle hinter meine Pflichten zurück. Ich stehle Zeit. Ich sitze zu Hause und merke, wie die Zeit sich quälend langsam voran­ schiebt. Wieder ein Moment, wieder ein Moment […]. Ich warte nur noch darauf, dass endlich wieder ein Tag zu Ende geht – ein sinnloser Tag, nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zu meinem Tod.

Solche Schilderungen machen deutlich, wie die Zeit in der Depression zu einer eigenständigen Macht, ja zu einer tyrannischen Herrscherin wird, der sich der Patient ohnmächtig ausgesetzt fühlt. Wenn wir diese Beschreibungen nun mit der charakteristischen Dynamik kapitalistischer Gesellschaften vergleichen, zeigt sich ein interessanter Zusammenhang: Die kapitalistische Ökonomie beruht auf der ständigen Ausdehnung von Möglichkeiten, die durch Technologie und Produk­tion erzeugt und im Konsum genutzt, also verbraucht werden müssen. Sie beruht ferner auf dem Prinzip des Kredits und der Verschuldung, also auf der ständigen Verschiebung anfallender Kosten und ihres Ausgleichs in die Zukunft. Wenn nun das Individuum in der Depression »Zeit stiehlt«, indem es die eigenen Möglichkeiten »ungenutzt verstreichen« lässt, bedeutet dies gewis­ser­maßen eine Kardinalsünde gegenüber den zentralen Geboten der modernen Gesellschaft. Und wenn in der Depression »das 53

Wesen der Zeit […] untilgbare Schuld« wird, wie Kuiper schreibt, dann ist die Analogie zum ökonomischen Prinzip der stets fortge­ schriebenen Verschuldung unschwer erkennbar. In zentralen Symptomen der Depression spiegeln sich damit auch die impliziten Anforderungen, denen sich die Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft ausgesetzt sehen. Der dunkle Spiegel der Depression macht dann sichtbar, was sonst unter dem Erfolgs- und Fortschrittsstreben verborgen oder verdrängt bleibt, nämlich den beständigen Druck, mit der allgemeinen Beschleunigung Schritt zu halten. Desynchronisierung, aus der gemeinsamen oder der Weltzeit herauszufallen, ist die latente Drohung, gegen die es fortwährend anzukämpfen gilt. In der Depression scheitern all diese Anstrengungen, das Individuum fällt hoffnungslos zurück, und die Entkoppelung von der intersubjektiven Zeit wird Realität. Doch gerade in der Erkrankung selbst manifestiert sich, wie wir noch näher sehen werden, erst recht die unerbittliche Herrschaft der linearen Zeit, der die Patienten nichts mehr entgegenzusetzen vermögen. Um diesen Zusammenhängen nachzugehen, werde ich im Folgenden zunächst die Prozesse der Synchronisierung, Desynchronisierung und Resynchronisierung untersuchen, die das biologische ebenso wie das soziale menschliche Leben charakterisieren. Diese Prozesse ermöglichen es dem Individuum einerseits, physiologische Zustände des Mangels oder der Erschöpfung regelmäßig auszugleichen, andererseits, in sozialer Hinsicht, sich an veränderte Umstände anzupassen, Rückstände aufzu­holen, mit vergangenen Geschehnissen abzuschließen und sich so immer wieder mit der Gegenwart zu verbinden. Beispiele für solche Resynchronisierungen sind Rege­ne­ration, Erholung und Schlaf auf der biologischen Ebene und Prozesse der Trauer, der Verlustbewältigung, der Versöhnung, des Nachholens oder des Ausgleichs auf der psychosozialen Ebene. Solche wiederkehrenden Prozesse resultieren, wie zu zeigen sein wird, insgesamt in einer rekur­renten oder zyklischen Zeit, die besonders die Prozesse des Lebens und des Leibes charakterisiert, die aber auch die Organisation der Gesellschaften in vormoderner Zeit prägte. Im Kontrast dazu werde ich dann die lineare oder beschleunigte Zeitdynamik beschreiben, die sich in der westlichen Gesellschaft seit der Neuzeit entwickelt hat und die mit der zyklischen Zeit notwendig in Konflikt geraten muss. Vor diesem Hintergrund 54

lässt sich die Depression dann als eine Desynchronisierung zwischen Körper und Umwelt ebenso wie zwischen Individuum und Sozietät beschreiben, die unter den Bedingungen einer Beschleunigung und Intensivierung des Arbeitslebens zumindest eine erhöhte Gefahr darstellt. Mit dem Versagen der Resynchro­nisierung, des zyklischen Ausgleichs, fällt das Individuum schließlich aus der gemeinsamen intersubjektiven Zeit heraus und unterliegt in der Depression der Herrschaft der reinen linearen Zeit. Abschließende Überlegungen gelten den möglichen Konsequenzen dieser Chronopathologie für eine »Resynchronisie­rungstherapie« im psychia­ trischen wie im politischen Sinn. Eine methodische Vorbemerkung zur Epidemiologie der Überforderung erscheint an dieser Stelle noch angebracht. Zahlreiche Studien aus den letzten Jahrzehnten weisen darauf hin, dass die Beschleunigungsprozesse in westlichen Gesellschaften tatsächlich eine erhöhte Prävalenz depressiver Störungen zur Folge haben.1 Auch ein deutlich früheres Ersterkrankungsalter und höheres Wiedererkrankungsrisiko lässt sich belegen (Wittchen/Jacobi 2005). Da der epidemiologische Nachweis allerdings unter anderem aufgrund von Komorbiditäten, Veränderungen in der ärztlichen Diagnosestellung und im Hilfesuchverhalten der Patienten schwierig ist, wurde eine reale Zunahme von Depressionen auch infrage gestellt, zuletzt nachdrücklich von Dornes (2016) (vgl. auch die Beiträge von Handerer et al. sowie Siegrist in diesem Band). Allerdings gehen solche kritischen Positionen häufig davon aus, dass es einen »eigentlichen Kern« psychischer Krankheiten gäbe, der sich unabhängig von sozialen Zuschreibungen und vom Selbstverständnis der Leidenden feststellen ließe. Wie besonders Ian ­Hacking (2000) gezeigt hat, ist dies jedoch bei psychischen Störungen gerade nicht der Fall: Wie eine Gesellschaft und ihre Medizinsysteme psychisches Leiden klassifizieren, interpretieren und behandeln, beeinflusst über »Loopingeffekte« auch die Selbstdefinition, Selbstinterpretation und das Leiden betroffener Menschen selbst. Eine davon unabhängige biologische oder neurobiologische Definition oder Diagnose der Depression ist nicht möglich. Wenn sich daher in Deutschland die Zahl der Krankheitstage aufgrund 1 Vgl. etwa Wittchen/Jacobi 2005; Kessler et al. 2003; 2009; Wittchen et al. 2011; Bromet et al. 2011.

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von Depression, Belastungsreaktionen und Burn-out in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdreifacht hat (DAK-Gesundheitsreport 2016) und wenn zugleich die Verordnung von Antidepressiva seit 1991 um das 7,5-Fache (!) angestiegen ist (Schwabe et al. 2017), dann belegt dies in jedem Fall auch eine entsprechend gestiegene Bedeutung depressiver Erkrankungen für die Individuen ebenso wie für die Gesellschaft. Depressionen sind aber, wie sich noch zeigen wird, in jedem Fall als Störungen der intersubjektiven Zeitlichkeit aufzufassen. Die folgenden Analysen gelten insofern der Chronopathologie der Depression insbesondere in der gegenwärtigen Gesellschaft; ihre Plausibilität ist aber nicht von den epidemiologischen Resultaten und ihrer Interpretation abhängig.

1. Zyklische Zeit Leben als zyklischer Synchronisierungsprozess Die zeitliche Struktur lebendiger Systeme ist durch zwei Aspekte charakterisiert: Synchronisierung und Zyklizität. Zum einen besteht eine fortwährende Resonanz zwi­schen organismischen und exogenen Rhyth­men oder Zeitgebern, nämlich eine Syn­chronisie­ rung mit der kos­mischen Periodik von Tag, Monat und Jahr. So ist der 24-stündige Schlaf-Wach-Rhythmus das Ergebnis einer Synchronisierung zwischen endogenen und exogenen Zeitgebern.2 Zum anderen sind die biologi­schen Prozesse des Metabolismus und der Erhaltung der Homöostase grundsätz­lich zyk­lischer oder rhythmischer Natur. Sie sind charakterisiert durch den perio­di­schen Wechsel von Aufnahme und Aus­schei­dung, von Ver­ausga­bung und Re­gene­ration, Wa­chen und Schlafen und die entsprechenden Hormon-, Tempera­tur- und Energiezyklen, einschließlich des weiblichen Menstruationszyklus. Periodischen Ausgleich finden wir auch in allen wieder­kehrenden Zuständen von Mangel, Bedürfnis, Trieb und Befriedigung, wie etwa in Hunger, Durst, Bewegungs- oder Sexualtrieb. All diese Phänomene zeigen, dass das pri­märe, vitale 2 Der freilaufende Rhythmus, wie er sich beispielsweise bei Experimenten mit mehrwöchiger Bunker-Isolation einstellt, beträgt etwa 25 Stunden. Die innere Uhr des Organismus geht also »etwas nach« und wird durch äußere Zeitgeber ständig vorgestellt.

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oder präreflexive Leben und Erleben nicht in einer linea­ren, sondern in einer zyklisch-periodischen Weise verläuft, solange dieses Erle­ben nicht von der expliziten, reflektierenden Bezugnahme auf die längerfris­tige Zukunft und die Vergangenheit überlagert wird. Kurz: Das Konzept der linearen Zeit entsteht erst mit der Refle­ xion.

Intersubjektive Synchronisierung und Desynchronisierung Gehen wir nun über zum Verhältnis des Menschen zu seiner sozialen Um­welt, so treffen wir auch hier auf vielfältige For­men der Synchronisierung. Bereits der alltägliche Kontakt zu den Anderen beinhaltet eine ständige Feinabstim­mung der emotionalen und leiblichen Kommunikation, ein »Mit­ schwin­ gen« oder eine Re­ sonanz (Fuchs 2000; 2017). Die Säuglingsforschung hat ge­zeigt, wie dieser zwi­ schenleibliche Kontakt das primäre Erleben des Kindes prägt: Die Kommu­nika­tion von Säugling und Mutter ist charakteri­siert durch rhythmisch-melodi­sche Inter­aktionen, wechselseitige Reso­nanz von Mimik und Ges­tik und wie­derkehrende Affektabstimmung (affect attunement; Stern 1998). Die Mikrody­ namik des alltägli­chen Umgangs be­deutet also von An­fang an eine habituelle Synchronisierung. Damit verbunden ist ein ele­mentares Empfin­den dafür, mit den Anderen in zeitlichem Einklang zu sein, mit ihnen in der gleichen, intersub­jektiven Zeit zu leben. Man kann mit Minkowski (1971) von einem »gelebten Syn­chronismus« sprechen oder auch von einer basalen Kontemporalität, die die gemeinsame Lebenswelt charakterisiert. Diese Resonanz und Kontemporalität beeinflusst selbst basale Lebens­prozesse. Spitz und Wolf (1946) und Bowlby (1969) haben beschrieben, wie schwer deprivierte Säuglinge in Heimen nach und nach in vollständige Apathie und Depressivität verfallen, abmagern und schließlich sogar an leichten Infektionen sterben können. Ohne jegliche emotionale und zwischenleibliche Reso­nanz verlieren sie auch die vitale Antriebsenergie, die sonst das Leben trägt, und verküm­mern. Dieser basale Antrieb, der auch in der Depression Erwachsener versiegt, ist demnach nicht nur eine individuell vorhandene Energie, sondern auch abhängig von erfüllenden sozialen Beziehungen. Kinder leben in eine verheißungsvolle Zukunft hinein, solange sie sich mit für­sorglichen, sie bestätigenden 57

Erwachsenen verbunden fühlen. Wir werden sehen, dass diese soziale Resonanz und Anerkennung auch für die Ent­wicklung von Burn-out-Syndromen von Bedeutung ist. Der grundlegenden Synchronie mit den Anderen werden wir freilich in der Regel kaum gewahr. Spürba­rer werden die Pro­zesse sozialer Syn­chronisie­rung in den vielfältigen Formen geregelter Zeitordnungen: in der Ta­ges- und Wochenregulierung, der Koordination von Tätigkeiten, in einem weiteren Sinn in allen wechsel­ sei­ti­gen Ver­pflichtungen und Absprachen, die mit­tels Normierung und Selbst­disziplinierung eingehalten werden. Diese seit der Neuzeit zunehmend etablierten und internalisierten Verkoppe­lun­gen der individuellen Eigenzeiten ermögli­chen schließlich die weitgehende Syn­chronisation aller Mitglie­der und Ab­läufe innerhalb der Industriegesell­schaft, ohne die sie bei ihrer Kom­plexität in ein funktionelles Chaos ver­sinken würde (Elias 1984: 116-122). Wie auf der biologischen Ebene sind auch die sozialen Syn­ chronisierungen je­doch kei­neswegs konstant, sondern durchlaufen wiederkehrende Phasen der De­synchro­nisierung, von denen sich zwei Formen unterscheiden lassen: ein »Zu-spät« und ein »Zufrüh« oder eine Retardierung und eine Akzeleration der Eigenzeit ge­genüber den sozialen Prozessen oder der Weltzeit (siehe Abb. 1). Synchronie

Retardierung

Akzeleration

Präsenz / Resonanz Zeitdruck, Stress

Warten, Langeweile

Krankheit Trauer / Schuld Depression

Ungeduld Getriebenheit Manie

Abbildung 1: Verhältnis von Eigenzeit und Weltzeit.

Die Übereinstimmung oder Synchronie von Eigen- und Weltzeit ver­mittelt das Wohlbefinden, die erfüllte Gegenwart, in der man ohne ei­gentliches Zeitbewusstsein verweilt, ganz dem eigenen Tun oder der Re­sonanz mit der Umgebung hin­gegeben: etwa einer ge58

schickt vollzogenen Tä­tigkeit (»Flow«-Erfahrungen), ei­nem intensiven Gespräch oder der Betrachtung eines Kunstwerks. Hinge­gen macht das »Zu-früh«, also die Akzeleration der Ei­genzeit ge­gen­über äußeren Ab­läu­fen das Warten er­forderlich und führt zu Lange­weile oder Ungeduld als Lei­den unter der Langsamkeit der äu­ßeren Ereignisse. Un­ruhe und Getrie­benheit als wei­tere Beschleunigung der Ei­gen­zeit können sich in patho­logi­schen Fällen bis zur ma­nischen Erregung stei­gern. Hier ent­koppelt sich die Zeit des Individuums weitge­hend von den natürli­chen und so­zialen Rhythmen, und wir können von einer De­synchro­nisierung spre­chen. Leidvoller als die Akzeleration wird in der Regel die Verspätung oder Retardierung der Ei­genzeit er­fahren. Als Pen­dant zum Warten er­gibt sich zu­nächst der »Zeitdruck« oder »Stress«, der aus einem auf­zuholenden Rück­stand resul­tiert. Unerfüllte Aufgaben und ungelöste Konflikte können sich anhäufen und das Weiterschreiten in die Zukunft hemmen. Auch Krankheit bedeutet ein Nicht-mehrKön­nen, einen partiellen Verlust der Teilhabe am sozialen Leben. In den Erfah­ rungen von Verlu­ sten, Trauer, Schuld oder auch Trauma ist das Individuum an eine Ver­gangenheit gebunden, die es nicht hinter sich lassen kann, während die soziale Zeit weiterläuft (Fuchs 2018). Eine mehr oder minder ausgeprägte Entkoppe­ lung oder Desyn­chroni­sie­rung von der ge­meinsamen sozialen Zeit kenn­zeichnet schließ­lich die Depres­sion. Zusammengefasst lässt sich die intersubjektive Zeitordnung als Beziehung von individuellen und sozialen Prozessen beschreiben, die durch wiederkehrende Abfolgen von Synchronisierungen und Desynchronisierungen charakterisiert sind. Diskrepanzen gegenüber der gemeinsamen Gegenwart erfordern spezifische Bewältigungs- und Resynchronisierungsprozesse, durch die die Individuen wieder Anschluss an die intersubjektive Zeit gewinnen. Während Resynchroni­sie­rungen auf der biologischen Ebene durch Erholung, Schlaf und Triebbe­friedigung erreicht werden, bestehen sie auf der psychosozialen Ebene im Aufholen von Rückständen, Nachholen von Versäumnissen, im Ausgleich oder in der Neu­verhandlung von Ansprüchen und im Abschließen von Unerledigtem, sei es durch Trauer, Reue, Versöhnung oder ähnliche Prozesse. Auch hier haben wir es häufig mit zyklisch wiederkehrenden oder auch ritualisierten Zeitformen zu tun. 59

2. Zyklische und lineare Zeit in der Geschichte Wir haben nun gesehen, dass die Zeitlichkeit des Organismus durch eine rhythmisch-periodische Struktur gekennzeichnet ist, dass aber auch die psychosoziale Zeitordnung periodische Wechsel von Synchronisierung, Desyn­chronisierung und Resynchronisierung durchläuft. Zusammen resultieren diese Prozesse auf unterschiedlichen Ebenen in einer zyklischen Zeit, die besonders die primären Lebensprozesse prägt. Nun ist die zyklische Zeitordnung und das entsprechende Konzept der Zeit charak­teristisch für vorneuzeitliche Kulturen. In ihnen sind die meisten sozialen Prozesse nach Tages-, Monats- und Jahresperioden organisiert, was sich auch in ihrer Kosmologie widerspiegelt. Traditionen, Rituale und Mythen betten die Gegen­wart in eine zyklisch wiederholte Vergangenheit und in eine übergreifende kollektive Zeitordnung ein, vom mythischen Uranfang oder der Schöpfung bis hin zur Wiederkehr des Anfangs in einer mythischen Zukunft. Damit erscheint aber auch die Zeit der Individuen nicht als eine lineare Flucht auf den Tod hin, sondern sie ist gleichermaßen eingebettet in die zyklischen Prozesse der Natur und in die gemeinsame Weltzeit.

Entwicklung des linearen Zeitprinzips Mit der Neuzeit entwickelt sich jedoch eine neue Zeitkonzeption, die seither die gesellschaftlichen Prozesse ebenso wie das Bewusst­ sein der Individuen in den westlichen Kulturen zunehmend bestimmt – der lineare »Zeitpfeil«. Ich will hier nur kurz die wichtigsten Ursachen für diese Entwicklung skizzieren: (1) Der Beginn der Kapitalakkumulation in den italienischen Städten und die Ausbreitung des Kreditwesens mit dem bis dahin noch verpönten Zins setzt eine neue Dynamik in Gang: Das kapitalistische Prinzip von Wachstum und Beschleunigung tritt zunehmend an die Stelle der traditionellen zyklischen Ökonomie und be­gründet die langfristige Zukunftsorientierung der Wirtschafts­ subjekte (Achtner et al. 1998: 90-94). (2) Die Einführung der öffentlichen Räderuhren ab 1350 erlaubt die rati­onal-lineare Organisation des sozialen Lebens in quantifi60

zierbaren Zeiteinheiten, etwa in Schule und Militär, in öffentlichen Institutio­nen, in der nach Zeit entlohnten Arbeit usw. (3) Auch in Naturwissenschaft und Technik wird seit Galilei die zyklisch-zielgerichtete, an Lebe­wesen orientierte Bewegung der aristotelischen Scholastik durch das Prinzip der linearen, gleichförmigen Bewegung ersetzt, die ohne Reibung unbegrenzt andauern kann. In ähnlicher Weise tritt später in der Newton’schen Physik die abstrakte, lineare und universale Weltzeit an die Stelle der zykli­ schen Zeitkonzeptionen des Mittelalters.3 (4) Schließlich ist es eine kollektive Todeserfahrung, nämlich die Pest um 1350, der etwa dreißig bis fünfzig Prozent der europäischen Bevölkerung zum Opfer fallen, die die Vergänglichkeit und Ungeborgenheit des Daseins wie nie zuvor ins kollektive Bewusstsein rückt. Die selbstverständliche Einbettung des Einzelnen in übergreifende Ordnungen und Zeitzyklen beginnt zu schwinden; das lineare »Sein-zum-Tode« wird un­abweisbar und unaufhebbar. Ge­rade dadurch fördert diese kollektive Er­fahrung einen Individualisierungsschub ebenso wie eine wachsende Hinwendung zum Diesseits in der nun beginnenden Re­naissance (Tuchman 1982: 124; Gro­nemeyer 1993). In ihrem Zusammenwirken führen diese und verwandte Entwicklungen zu einer zuneh­menden Entkoppelung der gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse von den Naturzyklen. Seit der Neuzeit etabliert sich damit das lineare Zeitprinzip so­wohl im kollektiven Bewusstsein wie in der Organisa­tion der sozialen und öko­nomischen Verhältnisse. Dieses grundlegende Prinzip der westlichen Kultur muss allerdings mit der zykli­schen Zeit der Lebensvorgänge in Konflikt geraten, auf denen das Funktionieren und der Fortbestand der Gesellschaft doch zugleich be­ruht – vom Wachen und Schlafen über Stoffwechsel und Fort­pflan­zung bis hin zu den zyklischen Wachstumsprozessen der Landwirtschaft. Das Verhältnis der beiden Zeitordnungen bleibt grundsätzlich prekär, denn im Unterschied zu linearen lassen sich rhythmisch-zyklische Prozesse 3 Dass diese lineare, homogene Zeit in der Folge zum alltäglichen Zeitbegriff aufsteigt und unser heutiges Zeitverständnis dominiert, hat grundlegend zum ersten Mal Bergson (1889/2006) kritisiert. Sein Begriff der Dauer (durée) als Zusammenschluss von heterogenen, qualitativen und einander durchdringenden Bewusstseinszuständen zur jeweiligen Gegenwart des Erlebens lässt sich durchaus den zyklischen Zeitkonzepten zuordnen.

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nicht be­liebig be­schleunigen. Immer wieder drohen Entkoppelungen von der Naturba­sis und ihren begrenzten oder nur zyklisch erneuerten Ressourcen, seien es die der biologischen Umwelt oder die der Individuen. Solche Entkoppelungen der Zeit­ordnungen manifestieren sich in ökologischen oder ökonomischen Kri­ sen ebenso wie in individuellen Überforderungen und Erkrankungen. Nicht zuletzt führen diese Entwicklungen zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen der begrenzten Zeit des eigenen Lebens und der unbegrenzt-linearen Dynamik der gesellschaftlichen Prozesse. Es entsteht der Konflikt zwischen Lebenszeit und Weltzeit, wie es Hans Blumenberg (1986) formuliert hat, mit all seinen gravierenden existenziellen Folgen. Erst jetzt wird das Leben »immer schon zu kurz«, und diese wahrgenommene Kürze ist eine der wichtigsten Triebkräfte der wachsenden Beschleunigung oder, anders gesagt: der kollektiven Flucht nach vorne. Denn in der linearen Zeitordnung wiederholt sich nichts, jede momentane Gegenwart ist im Grunde immer schon die letzte Gelegenheit. Durch Techniken der Selbstbeschleunigung versuchen die Individuen daher, Zeit zu gewinnen, nicht nur, um mit den äußeren Prozessen Schritt zu halten, sondern auch, um den Ertrag des Lebens vor seiner sich ständig nähernden deadline noch in die Höhe zu treiben. Steigerung des Lebenstempos heißt aber »Steigerung der Handlungs- und Erlebensepisoden pro Zeiteinheit« (Rosa 2005: 462), und damit wirken ökonomische und existenzielle Motive gleichsinnig zusammen. Angetrieben durch die kapitalistische Dynamik ebenso wie durch eine kollektive Torschlussangst, dreht sich das Rad von Innovation, Produktion und Konsumtion immer rascher.

Herrschaft der linearen Beschleunigung Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine Kultur, die Paul Virilio (1980) als »Dromo­kra­tie«, als »Herrschaft des Wettlaufs«, beschrieben hat – nämlich des Wettlaufs mit der Zeit. Die westliche Kultur kennt keinen Stillstand, kein Ver­weilen, keine Handlungs­ hemmung. Unentwegte Aktivität, technischer Fortschritt, wirtschaftliches Wachs­ tum und Steigerung des Konsums sind die obersten Gebote, der kapitalistischen Dynamik selbst inhärent. Die Zeitabläufe, die früher noch dem menschlichen Leib und den Lebens­prozessen angemessen waren, ha­ben sich ver­selbstständigt; 62

mit der Beschleunigung von Kommunikation und Fortbewegung erreichen sie eine neue Stufe. Digitale Medien etablieren eine Ubiqui­tät und Gleichzeitigkeit selbst der entferntesten Ereignisse, sozusagen einen vir­tuellen Weltaugenblick. Die Langsamkeit des Lebendigen wird abgelöst von der Lichtgeschwindigkeit des Unbelebten, nämlich der Daten, Bilder und Finanz­ströme, für die es keine Entfernungen, keine Verzögerungen mehr gibt. Zugleich führt die Explosion des Verkehrs zu einem Verschwinden des Raumes, in dem man ankommen, bleiben und verweilen kann. Es entsteht eine unruhige Aufent­haltslosigkeit, eine »ziel­strebige Ziello­sigkeit«, die den Psychiater an die Manie erinnert, die Antithese zur Depression (Fuchs 2002). Ein Symbol der Zeitentkoppelung ist New York, das sich rühmt, »die Stadt, die niemals schläft« zu sein, und an dessen zentralem Platz mit dem Namen »Times Square« unaufhörlich flimmernde Reklame­flächen die Nacht zum Tag machen. Freilich ist die Diskrepanz zwischen zyklischer und linearer Zeit keineswegs neu. Sie wurde bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahr­hundert er­kennbar, als die Dynamisierung von Fortschritt und Ge­schwindigkeit einen neu­en Höhepunkt erreichte, begleitet von zunehmender Sor­ ge und nostalgischer Rückwärtsgewandt­ heit. Das seelische Leiden unter der Hast der Zivilisation wurde zu einem vielfach behandelten Thema der medizinischen und kulturkritischen Diskurse. Besondere Beachtung fand die Zivi­ lisati­ onskrankheit der Nervosität, die »Neurasthenie«, von der der ameri­kanische Ner­venarzt George Miller Beard 1869 erstmals sprach. Auch Künstler und Intellektuelle nahmen die Veränderung der gesell­ schaftlichen Zeitökonomie frühzeitig wahr. Alfred Kubin schuf 1902 die Litho­graphie Der Mensch, in der die rasende Beschleunigung des begin­ nenden Jahrhunderts vorweg­ genommen ist (siehe Abb. 2). 1909 erschien das Futuristi­sche Ma­nifest des spä­ teren Faschisten Filippo Mari­netti. Es ist die manische Feier einer ent­fesselten Geschwindig­keit, Maschine­rie und Gewalt, in der die Technik ästhetisiert, ein Rennauto­mobil mit der Sie­gesgöttin Nike ver­glichen und die Vergangenheit kurzerhand zum Feind erklärt wird. So ruft Mari­netti schließlich dazu auf, Venedig, die wohl melancho­lisch­ste al­ler Städte, durch Überflutung zu zerstören, um so ihrem Vergangen­heitssog, dem verhassten passatismo, zu ent­ kommen (Mari­netti 1909/1986). 63

Abbildung 2: Alfred Kubin, Der Mensch, aus: R. Leopold, R. Schuler (Hg.), Alfred Kubin – aus meinem Reich: Meisterblätter aus dem Leopold-Museum Wien, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2003, S. 76.

Zur gleichen Zeit wird aber auch die Melancholie, die Gebrochenheit des modernen Subjekts zum verbreiteten Thema der Kunst und Literatur, etwa in den Werken von Edvard Munch (siehe Abb. 3). Zwischen 1913 und 1927 erscheint Marcel Prousts Roman Auf der Su­che nach der verlorenen Zeit, der schwermü­tige Ver­such der Wiedervergegenwärtigung einer Zeit, die doch nur noch in fernen Bil­dern der Erinnerung und in verborgenen leibli­chen Erfahrungen fortbesteht.

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Abbildung 3: Edvard Munch, Melancholie, aus: K. Schröder, A. Hoerschelmann (Hg.), Edvard Munch – Thema und Variation. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 216.

Wir treffen also zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf eine gleichsam bi­polare Befindlichkeit der Gesellschaft, die ihren wohl beklemmendsten Ausdruck in der anfänglichen Euphorie und der späteren nihilistischen De­pression des Ersten Welt­kriegs fand. Dieses manisch-depressive Schwanken zwischen enthemmter Eu­ phorie und Siegestau­mel einerseits und abgründiger Verzweif­lung und Todes­sehnsucht andererseits bestimmte über weite Strecken das Jahrhundert. Beide Pole erscheinen auf bestürzende Weise vereint in einem Bild des bekanntesten futuristischen Malers Tul­lio Crali, Sturzflug auf die Stadt (1939), das durchaus als Verherrlichung der Flugtechnik gemeint ist. Wohl nicht ganz zufällig, nämlich im Sinne einer historischen Signatur, erinnert es den heutigen Zeitgenossen an den 11. September 2001 – man könnte dieses Ereignis auch als die Zerstörung des Finanzzentrums der kapitalistischen Welt durch eines ihrer eigenen Er­zeugnisse verstehen, nämlich durch ungehemmte Geschwindigkeit.

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Abbildung 4: Tullio Crali, Sturzflug auf die Stadt, aus: M. Masau Dan (Hg.), Crali – il volo dei futuristi, Triest: Museo Revoltella 2003, S. 54.

3. Psychopathologie als Chronopathologie Wenden wir uns nach diesem Blick auf die Geschichte und den Konflikt von zyklischer und linearer Zeit nun wieder der Depression zu. Es dürfte inzwischen erkennbar geworden sein, dass diese Erkrankung in vieler Hinsicht den Schatten oder den düsteren Spiegel der Moderne darstellt. Wie wir noch näher sehen werden, manifestiert sich in ihr die Herrschaft der linearen Zeit, nicht nur in ihrer Auslösung durch ein Versagen der zyklischen Resynchronisierungsprozesse, sondern auch im Krankheitserleben selbst: Mit der Entkoppelung von der gemeinsamen Zeit und dem Verlust der sozialen Resonanz ist das Subjekt wehrlos dem Regime der linear vergehenden Zeit unterworfen. 66

Auslösende Situationen Bereits die typischen Auslösesituationen depressiver Erkrankungen lassen sich als Desynchronisierungen beschreiben. Der Heidelberger Psychiater Tellenbach sah ihr Signum in der Remanenz, im Zurückbleiben hinter Erwartungen anderer oder eigenen Ansprüchen ebenso wie im Unvermögen, notwendige Umstellungen und Rollenwechsel zu bewältigen (Trennungen, Wechsel des Arbeitsplatzes, Umzug, Berentung, Auszug der Kinder usw.). Remanenz bedeutet nach Tellenbach also, den Anforderungen der Situation etwas »schuldig zu bleiben«. Der von ihm so benannte »Typus Melancholicus«, also die klassische zu Depressionen disponierte Persönlichkeit, ist dementsprechend charakterisiert durch übermäßige Gewissenhaftigkeit, Ordentlichkeit, Überanpassung an soziale Normen und abhängige oder symbiotische Tendenzen in interpersonalen Beziehungen (Tellenbach 1983; Kraus 1987; Kronmüller et al. 2002). Die Depression resultiert aus exzessivem Schulderleben schon bei kleineren Fehlern und Versäumnissen oder aus dem schmerzlichen Verlust von Bindungen. Allerdings geht der Anteil vom Typus Melancholicus-Persönlichkeiten bei depressiv Erkrankten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbar zurück, während narzisstische Persönlichkeiten deutlich zunehmen.4 Bei ihnen bilden nicht mehr Schuld oder Verlust die Auslöser für Depressionen, sondern vielmehr das Versagen gegenüber hohen Erfolgsansprüchen. An die Stelle des Schulderlebens treten Insuffizienzgefühle und zunehmend hypochondrische Ängste hinsichtlich der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit. Dieser Wandel stimmt überein mit Ehrenbergs Zeitdiagnose des »erschöpften Selbst« (Ehrenberg 2004): Die Depression wird zur Krankheit einer Gesellschaft, deren Normen nicht mehr in erster Linie in Gewissen und Selbstdisziplin begründet sind, sondern im Ideal und zugleich im Gebot der Selbststeigerung. Auch hier geht es um eine Desynchronisierung, ein Zurückfallen; doch die zentrale Bedrohung ist nicht mehr die moralische Verfehlung und Schuld, sondern die Scham, die aus dem Scheitern des narzisstischen Selbstideals resultiert. Ein zentrales Motiv dieser Entwicklung bildet die Idee der 4 Vgl. Ronningstam 1996; Schröder 2005; Twenge/Campbell 2008; Twenge/Foster 2010.

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Selbstverwirklichung, die besonders mit der Humanistischen Psychologie in den 1960er Jahren einen Aufschwung erfuhr, auch wenn ihre Ursprünge bis zum frühen 19. Jahrhundert und zum romantischen Persönlichkeitskult zurückreichen (Schlette 2013). Das Streben nach individueller Selbstverwirklichung angesichts der allzu begrenzten Lebenszeit ist, wie wir sahen, letztlich ein Produkt der Moderne und der Dominanz des linearen Zeitprinzips. Doch dieses Streben wird zu einer Pflicht der »Arbeit am Selbst«, wenn es sich mit neoliberalen Idealen der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung verbindet. Die Gesellschaft schafft einen neuen Sozialcharakter, der nicht mehr wie der Typus Melancholicus an Konformität, sondern an Distinktion, nicht mehr an Eingebundenheit in soziale Zusammenhänge, sondern an Wettbewerb und herausragendem Erfolg orientiert ist: das »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007). Die Selbstperfektionierung teilt allerdings mit der linearen Zeit der Ökonomie die Eigenschaft, prinzipiell unbegrenzt zu sein und nie an ein Ziel zu gelangen. Auch das Selbst ist niemals perfekt oder vollständig, und gerade dies wird zum Motor unbegrenzter Selbstausbeutung. Gleichzeitig leiden die Individuen unter der latenten Angst, ihren sozialen Status zu verlieren, wenn sie den benchmarks nicht genügen – einer Angst, der sie durch Lerneifer, Selbstausbeutung und Techniken der Selbstvermarktung zu begegnen versuchen. Hier liegt eine der zentralen Ursachen für psychische Störungen, die früher Erschöpfungsdepressionen genannt wurden, heute aber die modischere und weniger stigmatisierende Bezeichnung »Burn-out« tragen. Sie sind geprägt von einer Spirale aus exzessiven Ansprüchen an sich selbst, steigender Anspannung und wachsender psychophysischer Erschöpfung.5 Am Beginn steht häufig eine Steigerung der Arbeitszeit oder -intensität mit dem Ziel, steigenden Anforderungen zu genügen, sozialen Abstieg zu vermeiden oder auch zu den »Leistungsträgern« zu gehören, die sich schließlich durch »heroisches Leiden« auszeichnen. Dies führt zu einem zunehmenden Verlust der Tagesstruktur und der natürlichen Rhythmik von Verausgabung und Erholung – mit anderen Worten, die lineare Zeit verdrängt die zyklische Zeit des Körpers und übernimmt die Alleinherrschaft. Trotz aller Willensanstrengung erleben die Be5 Berger et al. 2012; Rössler 2012.

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troffenen zunehmende Ineffektivität, gefolgt von Unzufriedenheit und Frustration, Enttäuschung und Verbitterung und schließlich innerer Leere und Erschöpfung. Im weiteren Verlauf kann dies in eine die Vitalität erfassende Depression münden. Wie sich zeigt, erschöpft das lineare Zeitprinzip tendenziell die Ressourcen des Individuums, die nur zyklisch regenerierbar sind. Das Burn-out-Syndrom lässt sich dann als ein Versagen der Resynchronisierungsprozesse auffassen, auf die der Organismus angewiesen ist. Allerdings geht es dabei nicht nur um physiologische Bedürfnisse, denn ein anhaltender Mangel an sozialer Resonanz spielt für die Entwicklung eines Burn-outs eine zentrale Rolle. Es gibt ja keinen fixen Betrag von psychophysischer Energie, der sich durch exzessive Arbeit gewissermaßen aufbraucht, wie die Patienten selbst oft klagen. Vielmehr besteht ein Missverhältnis zwischen dem investierten Engagement, der erwarteten sozialen Belohnung und dem tatsächlichen Ertrag, insbesondere bei ausbleibender Anerkennung durch Vorgesetzte oder Kollegen. Dieses Resonanzdefizit lässt sich nicht durch das Modell eines »Energieverbrauchs« fassen, sondern eher durch das Konzept der »Gratifikationskrise« (Siegrist 2015). So ist das Risiko, an einer Depression zu erkranken, um das Sechsfache erhöht, wenn zwischen Arbeitsanstrengung und Anerkennung eine dauerhafte Lücke klafft (Larisch et al. 2003). Ich habe zuvor bereits die vitale Erschöpfung und Apathie erwähnt, die sich bei emotional schwer deprivierten Säuglingen entwickeln kann. Dies lässt sich nun auf den Verlust von Energie, Antrieb und Motivation übertragen, die Menschen erleben, wenn ihr Engagement dauerhaft im Missverhältnis zur erwarteten sozialen Resonanz steht. Unabhängig davon, wie die verschiedenen Faktoren von prämorbider Persönlichkeit, Arbeitssituation und sozialer Resonanz zusammenwirken: Am Beginn von Burn-out und Depression steht letztlich immer eine Grenzsituation, wie Karl Jaspers sie genannt hat. Gemeint ist eine Situation, in der die bislang gehegten, meist impliziten Grundannahmen und Erwartungen an das Leben und die Welt sich mit einem Mal als Illusionen entpuppen. Solche Annahmen lassen sich auch als »existenzielle Abwehrmechanismen« auffassen, die das Individuum vor den schwer erträglichen Zumutungen der Existenz bewahren sollen (Fuchs 2013b). Für Menschen, die an Burn-out oder Depression erkranken, sind es meist Grundannahmen wie die folgenden: 69

– Die Welt ist grundsätzlich gerecht eingerichtet. – Solange ich mir nichts zuschulden kommen lasse, kann mir auch nichts Böses geschehen. – Wenn ich mich genügend anstrenge, wird das am Ende auch belohnt. – Mein Leben ist ein ständiger Aufstieg und meine Energie unerschöpflich. In der Grenzsituation lassen sich solche illusionären Grundannahmen nicht länger aufrechterhalten, nicht zuletzt aufgrund der psychophysischen Erschöpfung, die die Abwehrmechanismen der Person unterminiert. Letztlich ist es der eigene Leib, der allen Versuchen des Schritthaltens ein Ende setzt. Das Scheitern der üblichen Lösungsversuche, die meist nur dem gewohnten Muster verhaftet bleiben (noch mehr Leistungsstreben, noch mehr Anpassung usw.), und die nunmehr unausweichliche Einsicht, auf Sand gebaut zu haben, münden schließlich in die depressive Dekompensation. Ich gebe dafür ein Fallbeispiel: Ein 64-jähriger Patient erkrankte bald nach seiner Pen­sio­nierung an einer schweren Depres­sion. Er stammte aus einfachen Verhältnissen und aus einer über­wiegend kränkli­chen Familie, von der er selbst etwas verächt­lich berichtete. Er selbst hatte es durch härteste Arbeit und äußersten Ehrgeiz zum Personalleiter eines großen Unternehmens gebracht, dabei freilich Familie und Part­nerschaft immer hintangestellt. Er sei in 45 Berufsjahren nur 10 Tage krank gewesen. Schon mit der Berentung geriet er in eine Krise, die er zunächst durch ein rigides Tagesregime mit regelmäßigem Fitness­ training zu kompensieren versuchte. Unmittelba­rer Auslöser der Erkrankung war schließlich die notwendige Extraktion dreier Zähne. Die De­pression war ge­kennzeichnet vom Gefühl der Lähmung und des Zerfalls. Alle Kraft, so klagte der Pa­tient, sei ver­schwun­den, Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er habe Raub­bau an seiner Gesundheit betrieben, sich nicht um seine Familie ge­küm­mert und erhalte nun die Quittung dafür. Das Leben sei für ihn zu Ende. Der Todesschweiß stehe ihm schon auf der Stirn: Man solle ihn doch in ein Leichenzimmer im Keller fahren und dort sterben lassen.

Der Lebensentwurf des Patienten war durch eine rigide Leistungsorientie­rung charakterisiert, um den Preis der Vernachlässigung mitmenschlicher Beziehungen. Darin spiegelt sich nicht zuletzt das Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft, nämlich fortwährendes Wachstum um den Preis ständig wachsender Verschul70

dung. Die Pensio­nierung beendete jedoch die lebenslang verfolgte narzisstische Aufwärtsbewegung, und die Zahnentfernung brachte dem Patienten mit einem Mal die immer ver­drängte und an anderen verachtete Verletzlichkeit der Existenz zu Bewusstsein. In dieser Grenzsituation erwies sich das lineare Prinzip der Selbststeigerung auf Kosten resonanter Beziehungen als Illusion, und diese Desillusionierung mündete in den depressiven Zusammenbruch. Doch in der wahnhaften Todeserwartung des Patienten triumphiert noch das lineare Zeitprinzip, das ihn, ungehemmt durch zyklisch-präsentisches Zeiterleben, gleichsam in den Tod vorausstürzen lässt. Es sei hinzugefügt, dass es nach Behandlung der akuten Depression im Verlauf einer längeren Psychotherapie gelang, die Grenz­ situation als Umkehrpunkt zu nutzen, um eine Neuorientierung und Entwicklung des Patienten zu mehr Beziehungs- und Genussfähigkeit in der ihm nun reichlich zur Verfügung stehenden Gegenwart in Gang zu bringen.

Chronopathologie der Depression Damit sind wir bereits bei der Analyse der Depression selbst unter chronopathologischem Aspekt angelangt. Versagen in der Grenz­ situation die Bewältigungsleistungen, so wird ein psychophysischer Mechanismus ausgelöst, der in einer weitgehenden Blockade und Lähmung besteht. Die Depression lässt sich dann als eine generelle Desynchronisierung zwischen Organismus und Umwelt begreifen (Fuchs 2001; 2013a). Auf der physiologischen Ebene manifestiert sie sich in Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, der täglichen Hormon-, Temperatur- und Aktivitätsperiodik ebenso wie in Antriebs-, Appetit- und Libidoverlust. Zugleich verwandelt die psychophysische Hemmung den eigenen Leib in ein entfremdetes Objekt, das sich von der Umwelt abschließt und allen zukunftsgerichteten Handlungsimpulsen Widerstand entgegensetzt. Die Desynchronisierung betrifft aber auch die intersubjektive Zeit. De­pressive stehen nicht mehr rechtzeitig auf, ziehen sich von sozialen Verpflichtungen zurück und geraten in ein permanentes Gefühl des Zurückbleibens und des Ausgeschlossenseins. Der schwere und erstarrte Körper verliert auch seine leiblich-affektive Resonanz: Die Patienten sind nicht mehr in der Lage, von anderen Personen oder emotionalen Situationen berührt und affiziert zu 71

werden. Sie klagen über eine quälende Gefühllosigkeit, in der sie nicht einmal mehr fähig seien, für ihre nächsten Angehörigen etwas zu empfinden. In einem autobiographischen Bericht beschreibt Solomon seine Depression als »[…] einen Verlust des Fühlens, eine Taubheit, die alle meine menschlichen Beziehungen infiziert hatte. Liebe, Beziehungen, meine Arbeit, meine Familie, meine Freunde – all das bedeutete mir nichts mehr« (Solomon 2001: 45, Übers. T. F.). Mit fortschreitender Hemmung kommt schließlich die Lebensbewe­gung zum Erliegen. Der Depressive fällt aus der gemeinsamen Zeit heraus; er lebt buch­stäblich in einer ande­ren, zähflüssigen Zeit, während die äußere, lineare Zeit an ihm vorüberzieht, wie es die Patientenberichte zu Beginn bereits gezeigt haben. Solche Störun­gen der Zeiterfahrung lassen sich auch ex­perimentell belegen: Da ihre Eigenzeit zurückbleibt, erleben Depressive generell eine Zeit­dehnung, das heißt, sie schätzen vorge­ge­bene Zeitintervalle deutlich länger ein, als es der tat­sächlich gemes­senen Zeit ent­spricht (Kitamura/Kumar 1982; Mundt et al. 1998). Doch gerade weil depressive Patienten nicht mehr an der gemeinsamen Zeit teilnehmen, sich nicht mehr synchronisieren und die Zeit nicht mehr gestalten können, verfallen sie der reinen, unumschränkten Herrschaft der linearen Zeit. Kann die Zeit nicht mehr zyklisch erlebt und nicht mehr aktiv vollzogen werden, dann gerät sie, wie bereits Bergson zeigte, zu einer leeren Sukzession, einer homogenen Abfolge von Momenten, die sich gleichgültig und unaufhaltsam abspult (Bergson 1889/2006; Theunissen 1991). Diese Herrschaft der linearen Zeit erstreckt sich auf Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen, wie eine weitere Selbstschilderung von Kuiper illustriert: Es ängstigte mich, daß Symphonien ein Ende haben. Wie ein Musik­stück sich nach einer inneren Logik auf sein Ende zubewegt und sogar da­rauf zueilt, in un­umkehrbarer Abfolge – so hatte sich mein Leben abge­spielt, und was in der Vergangenheit gesche­hen war, ist unveränderlich, unwiderruflich. (Kuiper 1991: 168)

Die reine, monolineare Zeit verwandelt das Leben in eine mechanisch determinierte Bewegung, die unablässig auf den Tod zuläuft. Es ist diese Flucht der linearen Zeit, die das von latenter Todesangst getriebene moderne Individuum gleichsam schon im Nacken spürt 72

und der es paradoxerweise gerade durch Beschleunigung zu entgehen versucht – also durch eine Flucht nach vorne. In der Depression jedoch kommt diese Flucht zum Erliegen; ohnmächtig sieht sich das Subjekt der leeren Sukzession der Zeit ausgesetzt: Ich muß unaufhörlich denken, daß die Zeit vergeht. Wenn ich jetzt mit Ihnen spre­che, denke ich bei jedem Wort: vorbei, vorbei, vorbei. Die­ser Zustand ist unerträglich und erzeugt ein Gefühl von Gehetztheit. […] Wassertropfen sind unerträglich und ma­chen mich rasend, weil ich immer denken muß: Jetzt ist wieder eine Sekunde vergan­gen, jetzt wieder eine Sekunde. Ebenso wenn ich die Uhr ticken höre. – Immer wieder: vorbei, vorbei […] der Gedanke, daß alles vergeht und daß das Leben immer kürzer wird, macht mir Angst. (Gebsattel 1954: 2 f.)

Eigenzeit und Weltzeit sind entkoppelt; da die Patientin die Zeit nicht im Fluss ihres spontanen Werdens mitleben, nicht mehr mitvollziehen und gestalten kann, erlebt sie sie nur noch als äußerlich, fragmentiert und regist­riert zwang­haft jeden Augenblick. Das Jetzt ist für sie nicht mehr eine qualitativ erfüllte Gegenwart, sondern nur noch ein »Vorbei« – das leere Vorüberziehen der linearen, quantitativen Zeit, die damit in ihrer reinen Form erscheint und herrscht.

Resümee Wir haben gesehen, dass Burn-out und Depression grundsätzlich aus einem Zurückbleiben, aus einer Desynchronisierung zwischen Eigen- und Weltzeit resultieren. In ihrer Auslösung wirken Selbstüberforderung, illusionäre Erwartungen und unzureichende Resynchronisierungsfähigkeiten der Individuen vielfach zusammen mit der Chronopathologie einer ständig beschleunigten Gesellschaft. Zweifellos ist die Depression als solche nicht ein Produkt der Moderne – die Herrschaft von Chronos oder Saturn ist alt, und die Krankheit der Melancholie war der Antike wohlbekannt. Doch gerade als eine grundlegende Störung der menschlichen Zeitlichkeit spiegelt die Depression wie keine andere psychische Krankheit den Konflikt wider zwischen der primären, zyklischen Struktur der Lebensprozesse und der Herrschaft der linearen Zeit, die sich seit der Neuzeit in der westlichen Kultur etabliert hat. 73

In diesem Konflikt ist der dynamische Pol grundsätzlich im Vorteil. Sowohl aus psychiatrischer wie aus sozialpolitischer Sicht scheint es daher erforderlich, gegen die manische Beschleunigung Strategien der Retardie­rung und Hemmung zu entwickeln und mit den Ressourcen des Leibes ebenso sorgsam umzugehen wie mit Ressourcen der Natur. Eine der wichtigsten Strategien ist die Rhythmisierung des Lebens. In der stationären ebenso wie in der ambulanten Behandlung von Burn-out und Depression gehört die Restrukturierung des Tages durch Aktivitäts- und Ruheperioden zu den wichtigsten therapeutischen Maßnahmen.6 Denn die zyklische, zielgerichtete und im Ziel sich erfüllende Zeitlichkeit wirkt der leeren Sukzession der linearen Zeit entgegen, die den Patienten beherrscht. Doch Rhythmisierungen wären auch ein Mittel der Hemmung gegen die ungebremste Dynamik des globalisierten Finanzkapitalismus. Ein Beispiel mag dies erläutern: Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008, als die internationale Finanzwelt buchstäblich vor dem Abgrund stand, nutzten die Finanzminister in ihren verzweifelten Bemühungen um Konsolidierung besonders die Wochenenden, nämlich als die einzige Zeit, in der potenziell rettende Beschlüsse ohne sofortige Kursschwankungen getroffen werden konnten, bevor die Börsen dann am Montag wieder öffneten. Somit war es die uralte Rhythmisierung des sozialen Lebens nach den kosmischen Perioden, die eine Möglichkeit bot, die schrankenlose Herrschaft des linearen Zeitprinzips zu konterkarieren, das freilich in diesem Fall nicht unablässigen Aufstieg bedeutete, sondern eine Spirale in den drohenden Abgrund. Worum es ginge, wäre demnach der Widerstand gegen die Entrhythmisierung des Lebens, die sich mit der inhärenten Dynamik der kapitalistischen Ökonomie immer mehr auf alle Bereiche der Gesellschaft ausbreitet. Daher sind etwa 24-Stunden-Öffnungszeiten ebenso wie die immer lauteren Rufe nach verkaufsoffenen Sonntagen die natürlichen Feinde einer zyklisch-leiblichen und damit auch menschlichen Zeit. Wenn »Zeit Geld ist«, dann bedeutet dies: Das ökonomische System hat als solches keine inhärenten Widerstände, keine eingebauten Hemmungen, die die schrankenlose Beschleunigung und die Homogenisierung der Zeit aufhalten 6 Cujpers et al. 2007; Fuchs 2014.

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könnten. Nicht nur drosselnde Maßnahmen wie eine Finanztransaktionssteuer, sondern auch der systematische Widerstand gegen die Quantifizierung und Homogenisierung der Zeit gehören daher zum Ausgleich zwischen zyklischer und linearer Zeit, der auf die Dauer für eine lebensgemäße Organisation der Gesellschaft unabdingbar ist. Unsere Gesellschaft kämpft mit allen Mitteln gegen die Depression an, und die Psychiatrie ist ein Teil dieses Kampfes – bis zu dem Punkt, wo schwer depressive Patienten mit Tiefenhirnstimulation behandelt werden, also einen Hirnschrittmacher implantiert erhalten, der das verlangsamte und entfremdete Subjekt wieder resynchronisieren soll. Keineswegs soll die Notwendigkeit medizinischer ebenso wie psychotherapeutischer Behandlungen infrage gestellt werden. Doch sollten sich Psychiater und Psychologen vielleicht auch fragen, inwieweit sie sich nicht auch in den Dienst einer kollektiven Manie der Gesellschaft stellen. Ihr gegenüber eine gewisse Skepsis zu bewahren wäre nicht zuletzt ein Zeichen der Solidarität mit ihren Patienten. In der krampfhaft optimistischen Kultur der univer­sellen Kommunikation und Konsumtion könnte es schließlich auch darum gehen, eine Hal­tung der Melancholie zu kultivieren, als einer Kultur der Langsamkeit, der Erinnerung, ja sogar der Trauer, die ja der Depression durchaus entgegengesetzt ist. Melancholie bedeutet nicht De­pressivität, sondern vielmehr ein zwar schmerzliches, aber nicht pathologi­sches Lebensgefühl, das freilich in der Regel nicht in den Vorstandseta­ gen zu Hause ist; ein Le­ bensgefühl, das die Erinnerung an die Vergangen­heit, auch an die Opfer der Fortschrittsge­schichte wachhält; das der Natur als einer zu be­wah­ ren­den Gegenwelt eingedenk bleibt und das die Bedächtigkeit gegenüber der Beschleunigung, die Skepsis gegenüber der Euphorie des Fortschritts fest­hält, ohne deshalb in Kulturpessimismus und Fortschritts­feindlichkeit zu verfallen.

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Stefano Micali Depression in der unternehmerischen Gesellschaft Vorbemerkung Im folgenden Beitrag geht es um die soziale Relevanz der Depression in der zeitgenössischen Gesellschaft und damit um soziale Dynamiken, die uns alle betreffen. Der Dringlichkeit dieser Frage entspricht allerdings auch ihre Schwierigkeit und Komplexität. Um die Frage nach der spezifischen Form der Überforderung, die sich in unserer Gesellschaft zeigt, adäquat zu behandeln, verbinde ich im Folgenden soziale Dispositiv- und Diskursanalysen im Sinne Foucaults mit einer phänomenologischen Analyse der Depression als Gefühl der Gefühllosigkeit. Der Text gliedert sich in vier Abschnitte: Im ersten werde ich die Frage nach dem Zusammenhang von spätkapitalistischer Gesellschaft und der Verbreitung der Depression kritisch erörtern. Eine solche Erörterung erfordert auch einige Reflexionen über den Begriff der ›psychischen Störung‹ (I). Im zweiten Abschnitt werde ich wichtige Merkmale unserer »unternehmerischen« Gesellschaft1 diskutieren (II). Im dritten Abschnitt werde ich eine Phänomenologie der Depression entwickeln, in der wesentliche Charakteristika des depressiven Affekts dargestellt werden (III). Schließlich werde ich den Begriff der Remanenz untersuchen, um den spezifischen Zusammenhang zwischen der unternehmerischen Gesellschaft und der Depression näher zu bestimmen (IV). I. Zur Verbreitung der Depression

Ehrenbergs Arbeiten haben den inneren Zusammenhang zwischen unserer auf das Leistungsprinzip und individuelle Verantwortung ausgerichteten Gesellschaft und der Depression hervorgehoben (Ehrenberg 1991; 2008; 2011). Vor Kurzem wurde Ehrenbergs Grund­ 1 Mit diesem Ausdruck beziehe ich mich auf Bröcklings Terminologie. In seiner Monographie Das unternehmerische Selbst (2007) hat Bröckling versucht, wesentliche Tendenzen und Paradigmen unserer neoliberalen Gesellschaft zu beleuchten.

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gedanke eines solchen Zusammenhangs im Lichte epidemiologischer Forschungen allerdings infrage gestellt (Dornes 2016): Wenn man die statistischen Studien ohne ideologische Vorurteile betrachte, könne man keine relevante Zunahme von depressiven Erkrankungen in unserer heutigen westlichen Gesellschaft finden. Es sei zu unterscheiden zwischen einer veränderten Diagnosepraxis und einer realen Zunahme von Depressionen: »Man muss zeigen, dass Depressionen wirklich vermehrt auftreten und nicht nur aufgrund veränderter Diagnosegewohnheiten oder genauerer Erhebungsmethoden häufiger diagnostiziert werden.«2 Aus epidemiologischer Perspektive hängt die Zunahme von diagnostizierten Fällen von unterschiedlichen Faktoren ab. Sie reichen von der wachsenden Sensibilisierung für psychische Probleme über die Abnahme ihrer Stigmatisierung bis hin zur Pathologisierung des Gefühlslebens: Eine Befindlichkeitsstörung wird heute gegenüber früher leichter als Krankheit aufgefasst (Dornes 2016). Darüber hinaus lässt sich vermuten, dass viele Erkrankungen in der Vergangenheit unter­ diagnostiziert wurden (Mauz/Jacobi 2008: 350; Jacobi et al. 2014). Gleichzeitig findet heute eine Ausdehnung des Krankheitsbegriffes statt, nicht zuletzt durch den Einfluss des amerikanischen Diagnosemanuals DSM (DSM-5 2015). Epidemiologische Studien haben ihren unbestreitbaren Wert;3 dennoch können auch sie nicht als rein objektiv betrachtet werden, so als stellten sie eine unmittelbare Widerspiegelung der Wirklichkeit dar.4 Um die Frage nach der Verbreitung der Depression in 2 Dornes 2016: 14, Hervorh. im Orig.; siehe auch Kessler et al. 2005; Jacobi et al. 2014; Jacobi et al. 2015. 3 Da die epidemiologischen Studien eine exakte und standardisierte Untersuchung der Prävalenz und Inzidenz von gesundheitsbezogenen Zuständen und Ereignissen in der Bevölkerung ermöglichen, spielen sie eine unersetzliche Rolle für das Gesundheitswesen. 4 Meines Erachtens kann Dornes’ Position eine therapeutische Wirkung angesichts eines verbreiteten Kulturpessimismus entfalten. Sein Werk liefert einen wichtigen Beitrag, um antikapitalistische ›Reflexe‹ bestimmter soziologischer und philosophischer Traditionen kritisch zu hinterfragen. Nichtsdestoweniger erscheint problematisch, dass die epidemiologischen Studien für Dornes einen deutlichen Vorrang genießen, ohne dass er deren Geltungsbereich aus epistemologischer Sicht eingrenzt (vgl. Fußnote 5). In seinem Buch Macht der Kapitalismus depressiv? (2016) ist zudem der Zusammenhang zwischen den verschiedenen (soziologischen, psychoanalytischen, epidemiologischen) Methoden nicht klar definiert.

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der (spät)kapitalistischen Gesellschaft genauer zu fassen, ist es zunächst erforderlich, sowohl diese Gesellschaftsform (a) als auch die Depression (b) zu definieren, was bekanntermaßen keine geringe Aufgabe darstellt. Darüber hinaus ist dann zu klären, inwiefern von einer Zunahme der Depression gesprochen werden kann (c).

(a) Spätkapitalismus Was ist unter ›Spätkapitalismus‹ zu verstehen? Auf welcher Ebene der sozioökonomischen Ordnung unserer Gesellschaft sind die für die Verbreitung der Depression maßgeblichen Faktoren zu verorten? Geht es vor allem um eine wirtschaftliche Ordnung, in der die Güterproduktion unter der Bedingung des Privateigentums an den Produktionsmitteln steht und Unternehmen auf Profitmaximierung abzielen? Oder muss man sich vielmehr auf die Veränderungen im Sinne einer unauffälligen Sozialdisziplinierung beziehungsweise einer Mikrophysik der Macht (im Sinne Foucaults) konzentrieren? Mit der Beantwortung dieser Fragen werden zugleich einige forschungsstrategische Vorentscheidungen getroffen. Nur ein Beispiel dafür: Sind die epidemiologischen Studien für alle westlichen Länder gleichwertig? Ist es nicht offensichtlich, dass die Vereinigten Staaten für die Verbreitung der neoliberalen, »unternehmerischen« Gesellschaft die treibende Kraft gewesen sind (Harvey 2005)? Müssten die epidemiologischen Studien in den Vereinigten Staaten dann nicht relevanter für unsere Frage sein als diejenigen, die in anderen westlichen Ländern durchgeführt worden sind? Würde man aber dann nicht Gefahr laufen, lokale Eigenschaften mit strukturellen sozioökonomischen Merkmalen zu verwechseln?

(b) Depression Auf welcher Definition der Depression beruhen die epidemiologischen Studien? Horwitz und Wakefield haben zu Recht argumentiert, dass die Definition des Phänomens der archimedische Punkt für die epidemiologische Forschung ist. Weder die besten klinischen Fallberichte und diagnostischen Interviews noch die beste Stichprobenauswahl und statistische Datenanalyse wären von zuverlässigem Wert, wenn die Definition der Störung nicht dem Phänomen entspräche: 82

Archimedes rühmte sich bekanntermaßen: »Gebt mir einen Hebel, der lang genug, und einen Angelpunkt, der stark genug ist, dann werde ich die Welt bewegen.« In der modernen Psychiatrie bewegen Definitionen das Behandlungs- und Forschungsfirmament, und moderne Kliniker können mithilfe einer unzulässig weiten Definition eine diagnostizierte Störung praktisch auf jedes gewünschte Niveau verschieben, besonders wenn sie es mit einer Störung wie der Depression zu tun haben, die Symptome wie Traurigkeit, Schlaflosigkeit und Erschöpfung aufweist, welche auch unter nicht psychopathologisch beeinträchtigten Menschen weit verbreitet sind.« (Horwitz/Wakefield 2007: 8; Übers. S. M.)

Der selbstverständliche Bezugspunkt für diese Studien sind die internationalen Diagnosemanuale DSM und ICD.5 Ich möchte hier nicht die Unterschiede zwischen den beiden Manualen erörtern, die zu verschiedenen diagnostischen Ergebnissen führen können (Fulford/Stanghellini 2008). Es ist hier auch nicht möglich, die Frage nach der phänomenologischen Prägnanz der DSM-Auffassung von Depression zu behandeln, die aus methodologischen Gründen offensichtlich unterbestimmt ist.6 Vielmehr beschränke ich mich auf eine kurze Bemerkung zur Definition der Depression im DSM. Operiert man mit dem Begriff der ›Depression‹ aus dem DSM, dann muss man berücksichtigen, wie sich die Definition der Depression (sowie die Bestimmung der Dauer der Störung) im Laufe der Jahre geändert hat und welche weitreichenden Folgen diese Veränderungen für die epidemiologischen Studien haben. Horwitz und Wakefield heben hervor, dass die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Depression und Trauer seit der Veröffentlichung von DSM-III zu einer Überdiagnostizierung dieser Störung geführt hat (Horwitz/Wakefield 2007). Zu berücksichtigen ist auch, dass die Verwendung des DSM im Kontext des in der Psychiatrie dominierenden biologischen 5 Ingo Engelmann hat Dornes vorgeworfen, dass in seinem Buch keine klare Definition von Depression geliefert wird (Engelmann 2015). In seiner Antwort auf Engelmann schreibt Dornes: »Die Frage, mit welchem Konzept von Depression ich arbeite, ergibt sich aus meinen Ausführungen: mit denen [sic] der internationalen Diagnosemanuale ICD und DSM, die in der epidemiologischen Forschung verwendet werden« (Dornes 2015: 1098). 6 Die DSM-Definition wird wesentlichen Aspekten des Phänomens (wie der Störung des Zeiterlebens) nicht gerecht. Darüber hinaus verweist sie auf Begriffe wie »depressive mood«, die nicht deutlich definiert sind (Ratcliffe 2015: 5).

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Paradigmas stattfindet. Obwohl die Positionen der biologisch ausgerichteten Psychiatrie im Laufe der Zeit in ihrem Erklärungsanspruch zurückhaltender geworden sind (Rose/Abi-Rached 2013), bleibt dieser Ansatz durch folgende Voraussetzungen (und Erwartungen) gekennzeichnet: (1) Psychische Störungen werden als distinkte Entitäten angesehen. (2) Psychische Störungen haben biologische (genetische und neurobiologische) Ursachen und sind daher in erster Linie durch Psychopharmaka zu behandeln. (3) Die Wirkungsweise der psychopharmakologischen Behandlung soll durch komplexe Untersuchungen (wie randomisierte kontrollierte Studien) empirisch getestet und wissenschaftlich gesichert sein (Aragona 2010). Das Ideal dieses Ansatzes besteht darin, eine Diagnostik zu eta­ blieren, die Zuverlässigkeits- und Objektivitätsansprüchen so weit genügen kann, dass die subjektive Seite der Psychopathologie damit entbehrlich wird.7 In Anbetracht dieses Ideals schadet es nicht, daran zu erinnern, dass die psychiatrische Forschung eine eigentümliche Disziplin ist, die notwendigerweise auf eine Pluralität von Herangehensweisen angewiesen ist (Jaspers 1959): (1) Der Ausgangspunkt der psychiatrischen Forschung ist nicht die Feststellung von objektiven Daten, sondern das Erleben des Patienten, das von seinem normalen Befinden leidvoll abweicht. Keine psychische Krankheit kann unabhängig von der subjektiven Erfahrung des Patienten beschrieben und diagnostiziert werden. Die Beschreibung der erlebten Erfahrung bleibt der unersetzliche 7 Dieses Ideal oder diese Utopie der Forschung kommt exemplarisch in den Worten von Steven Hyman, dem ehemaligen Vorsitzenden des NIMH (National Institute of Mental Health), zum Ausdruck: »Durch die Kombination von Neuro­ imaging mit genetischen Studien werden Ärzte möglicherweise in der Lage sein, psychiatrische Diagnosen schließlich aus dem Bereich der Symptomchecklisten in das Gebiet objektiver medizinischer Tests zu überführen. Gentests von Patienten könnten zeigen, wer gefährdet ist, eine Störung wie Schizophrenie oder Depression auszubilden. Ärzte könnten dann das Neuroimaging bei Hochrisikopatienten anwenden, um festzustellen, ob die Störung tatsächlich eingetreten ist. Ich möchte nicht zu optimistisch klingen – die Größe der Aufgabe ist einschüchternd. Aber die gegenwärtige Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung verheißt Gutes für den Fortschritt« (Hyman 2003: 100; Übers. S. M.).

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Bezugspunkt empirischer Studien. Selbst die Wirkung von Psychopharmaka beruht auf dem (positiven oder negativen) Erleben der Patienten. (2) Zu betonen ist weiter der grundlegende Unterschied zwischen Symptom und Merkmal, der besonders von der phänomenologischen Psychopathologie hervorgehoben wurde. DSM und ICD listen verschiedene ›Symptome‹ der Depression auf, wie etwa Interesseverlust oder den Verlust von Freude an Aktivitäten, die sonst als angenehm erlebt wurden. Dahinter steckt ein erkenntnistheoretischer Fehler (Blankenburg 1980; Müller-Suur 1958), denn es wird der Begriff ›Symptome‹ verwendet, obwohl eigentlich von ›Merkmalen‹ der Depression die Rede ist. ›Symptom‹ ist ein medizinischer Begriff mit dem kategorialen Status eines Zeichens, das sich auf eine zugrundeliegende Krankheit (wie etwa Diabetes) bezieht (Wyrsch 1946). Im Gegensatz dazu bezieht sich das Merkmal nicht auf etwas anderes: Der Verlust von Freude und Interesse ist kein Symptom, sondern eine primäre Manifestation der Störung als solcher; er ist die Störung selbst (Kraus 1991; Tatossian 1978). Neurobiologische Korrelate des Erlebens sind zweifellos ein wichtiger Aspekt der psychiatrischen Forschung. Sie rechtfertigen aber nicht den genannten Kategorienfehler, der eine reduktionistische Auffassung psychischer Störungen impliziert. (3) In der Psychiatrie steht das psychische Leiden eines einzelnen Patienten im Fokus, das durch klinische Begrifflichkeiten erfasst werden soll. Doch entsteht damit unvermeidlich ein Missverhältnis zwischen der einzigartigen Erfahrung des Patienten und den allgemeinen Begrifflichkeiten, da diese der Erfahrung in ihrem vollen Sinne nicht gerecht werden können. Eine ideale Psychiatrie wäre daher das Paradoxon einer »Wissenschaft der Einzigartigkeit«. (4) Eine philosophisch-kritische Haltung stellt die Idee eines atheoretischen Wissens, das die objektiven Daten angeblich nur zur Kenntnis nehmen würde, radikal infrage.8 Die Idee einer Wissenschaft von reinen Tatsachen, die auf keine Theorie oder Interpretationen angewiesen ist, stellt einen Widerspruch dar, der mit der Vorstellung einer Wahrnehmung ohne Leib vergleichbar ist. 8 Man hat immer wieder auf dem atheoretischen Charakter des DSM insistiert, der vor allem im Rahmen einer biologischen Psychiatrie irreführende reduktionistische Interpretationen zulässt.

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– Kein wissenschaftliches Datum ist eine neutrale Gegebenheit der Wirklichkeit, sondern es setzt ein theoretisches Paradigma voraus, das über seinen Sinn, seine Bedeutung und seine Relevanz entscheidet (Kuhn 1980). Man kann zum Beispiel in einer bestimmten Bevölkerung die Prävalenz der Schizophrenie nur unter der Bedingung feststellen, dass man über die entsprechende diagnostische Kategorie verfügt. Diese Kategorie ist nicht natürlich gegeben, sondern verweist auf eine komplexe ideengeschichtliche Genealogie, die unter anderem mit den Namen Kraepelin und Bleuler verbunden ist (Aragona 2010). – Darüber hinaus hat ein empirisches Datum seine wissenschaftliche Relevanz nur im Rahmen einer bereits etablierten diskursiven Ordnung, die eine spezifische Konfiguration von Macht und Wissen voraussetzt (Foucault 1976; 1978). Der Begriff der ›Depression‹ kann also nur verstanden werden, wenn man sowohl die Ordnung der Diskurse als auch die sozialen Dispositive in Betracht zieht, in denen diese Begrifflichkeit entstanden ist.

(c) Verbreitung der Depression Wie bereits erwähnt, neigen epidemiologische Studien dazu, die These einer dramatischen Zunahme der Depression infrage zu stellen. Gleichzeitig können diese Ergebnisse nicht als eindeutig gelten (vgl. Handerer et al. in diesem Band).9 In diesem Kontext ist es wichtig, einen kategorialen Unterschied zwischen der sozialen Relevanz einer psychischen Störung und ihrer aus epidemiologischer Sicht objektiven Zunahme einzuführen. Denn die Relevanz eines Phänomens deckt sich nicht mit der objektiven Feststellung seines Vorhandenseins (Honneth 2014). Dies gilt insbesondere in einer Mediengesellschaft. Man denke zum Beispiel an Furedis Studien zur Angst, die zeigen, dass die Angst genau dann anwächst, wenn es keinen objektiven Grund dafür gibt (Furedi 1997). Die gestiegene soziale Relevanz der Depression zeigen beispielsweise folgende Indikatoren: (1) Zunahme der Verschreibung von Antidepressiva: Die Tagesdosen von Antidepressiva (OECD 2017) sind deutlich angestiegen. 9 Zu den bekanntesten Studien, die eine Zunahme von Depressionsfällen zeigen, gehören die von Üstün et al. 2004, Wittchen et al. 2010 und Hidaka 2012.

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In den Vereinigten Staaten ist die Zahl der verschriebenen Antidepressiva bei Jugendlichen und Erwachsenen zwischen 1988 und 1994 sowie 2005 und 2008 um fast 400 Prozent gestiegen. (2) Anstieg der Kosten der Depression: Schätzungen zufolge kosteten Depressionserkrankungen die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten in den Jahren 2005 bis 2010 jährlich bis zu 210,5 Milliarden Dollar (2000 waren es 83,1 Milliarden Dollar; Greenberg et al. 2015). (3) Wissenschaftliche Publikationen zur Depression: 2005 ­wur­den 8677 wissenschaftliche Aufsätze über Depression veröffentlicht – zwölfmal mehr als 1966 (Horwitz/Wakefield 2007: 5). (4) Medienaufmerksamkeit: Depressionen werden in unzähligen Fernsehserien, Radiosendungen, Zeitungen usw. thematisiert (Ehrenberg 2008; Reavley/Jorm 2012; Tobin/Lyddy 2014). Untersucht man die soziale Relevanz der Depression, so ist es sicherlich notwendig zu fragen, welche verschiedenen Faktoren zu einer Zunahme der diagnostizierten Fälle beigetragen haben. Sie reichen von einer veränderten Diagnosepraxis über die gesteigerte Sensibilisierung der Bevölkerung für psychische Störungen bis hin zu dem nicht zu unterschätzenden Einfluss geschickter Strategien zur Kunden- und Patientengewinnung seitens der pharmakologischen Unternehmen (Frances 2013; Healy 2004; 2012). Darüber hinaus ist der enge Zusammenhang zwischen der Dichte spezialisierter psychiatrischer Einrichtungen und dem quantitativen Ausmaß der (Über-)Diagnostizierung zu berücksichtigen: Die Versorgungsverbesserung generiert eine angebotsinduzierte Nachfrage (Dornes 2016). Gleichzeitig darf man aber auch die subjektiven Folgen einer diagnostizierten Depression nicht außer Acht lassen. Wird jemand als depressiv diagnostiziert, hat diese Diagnose (sogar wenn sie unbegründet ist) zweifelsohne gravierende Auswirkungen auf das psychische Erleben. Das Selbstverhältnis des Patienten hat sich durch die medizinische Kennzeichnung ›Depression‹ grundlegend geändert, selbst wenn diese Bezeichnung nur den administrativen Daten der Krankenkasse dient. Die Fremdzuschreibung einer Störung wird zu einer Selbstzuschreibung, welche bis zu einem gewissen Grad die Integrität der eigenen Identität antastet. Selbst wenn es sich nur um eine Zunahme der Depression aufgrund einer inflationären diagnostischen Praxis handelt, ist eine solche Zunahme 87

soziologisch ein äußerst relevantes Phänomen, das nicht als Scheinphänomen zu bagatellisieren ist. Dies gilt insbesondere, wenn man vor Augen hat, dass depressive Störungen mit psychotropen Medikamenten behandelt werden, die nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Patienten haben. Um nun die Zusammenhänge zwischen der unternehmerischen Gesellschaft und der Depression zu verstehen, ist es notwendig, beide Begriffe zu erläutern. Die folgenden Analysen haben einen explorativen Charakter: Sie versuchen eine phänomenologische Herangehensweise mit einer Analyse sozialer Dispositive in Einklang zu bringen. II. Leistungskult in der unternehmerischen Gesellschaft

(a) Disziplinäre und postdisziplinäre Gesellschaften Wir leben in einer brisanten und spannenden Zeit mit unerhörten technologischen und medialen Veränderungen, die unser Zusammenleben neu gestalten. Jede Identifizierung von relevanten Merkmalen unserer Gesellschaft kann nur einen idealtypischen Charakter im Sinne Webers haben und impliziert deshalb unvermeidlich eine gewisse Verzerrung der hohen Komplexität unseres sozialen Systems. In den letzten zwei Jahrzehnten haben soziologische und philosophische Arbeiten bestimmte Aspekte wie Dromokratie (Virilio 1980), Beschleunigung (Rosa 2005), Simulacra (Baudrillard 1981), »digital identities« oder »postpanopticon societies« (Lyon 2006; 2007) in den Blick gebracht. Um die soziale Transformation in ihrem Verhältnis zur Depression zu beschreiben, konzentriere ich mich auf ein Merkmal, das im Titel einer Studie von Alain Ehrenberg zum Ausdruck kommt: Der Leistungskult (Ehrenberg 1991; Le culte de performance). Die Optimierung der Leistungsfähigkeit steht auch im Zentrum seines späteren und einflussreichen Buches Das erschöpfte Selbst (2008). Darin entwickelt Ehrenberg eine Genealogie der Depression, indem er die Diskurse über diesen klinischen Begriff analysiert. Seine Untersuchungen sind von Foucaults Perspektive stark beeinflusst. Um die neue Bedeutsamkeit der Depression zu begreifen, muss das Paradigma des unternehmerischen Handelns und der Eigenver88

antwortung anhand der Krise der Disziplinargesellschaft verstanden werden. Die Disziplinargesellschaft ist eine Konfiguration sozialer Strukturen, die auf der Disziplin, Herrschaft und Kontrolle der Individuen beruht (Foucault 2008). Das Individuum wird geformt durch mehrere Dispositive, die eine spezifische Form der Kontrolle über sein Verhalten ausüben: Die Herausbildung der Individualität hängt wesentlich mit Formen der ständigen Überwachung, mit kontinuierlichen Übungen und mit der Einführung von standardisierten Prüfungen zusammen, die die Form seines Wissens und seiner Fähigkeiten bestimmen. Ein wesentliches Merkmal disziplinärer Gesellschaften ist die Herausbildung von Subjektivität in einem geschlossenen Milieu. Mit Verweis auf Foucaults Idee vom geschlossenen Milieu hat Deleuze die Abfolge der institutionellen Lebensphasen des Individuums plastisch dargestellt: »Zuerst die Familie, dann die Schule (›du bist hier nicht zu Hause‹), dann die Kaserne (›du bist hier nicht in der Schule‹), dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, möglicherweise das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin« (Deleuze 1993: 254). Die verschiedenen sozialen Strukturen (Familie, Schule, Universität, Kaserne, Fabrik, Klinik, Gefängnis) waren imstande, dem Individuum durch Vorschriften, Verbote und Maßnahmen eine langfristige Orientierung zu geben. Die Disziplinargesellschaften zeichnen sich somit durch einen gründlichen und detaillierten Normalisierungsprozess aus. In Überwachen und Strafen zeigt Foucault die entscheidende Rolle standardisierter Prüfungen, um die Position des Individuums im Rahmen einer jeweiligen Ordnung zu bestimmen und seine Aktivitäten innerhalb einer hierarchischen Struktur zu beurteilen (Foucault 2008). Zugleich schränken diese Strukturen die Spielräume der Freiheit eines Individuums und seiner Initiative ein. Der Normalisierungsprozess mit seiner charakteristischen Mikrophysik der Macht erzeugt geordnete Verhaltensweisen und fördert auch spezifische Anomalien, die wiederum zu korrigieren oder zu bestrafen sind. Foucaults Studien zeigen, dass disziplinäre Gesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten. In der Mitte dieses Jahrhunderts lassen sich die ersten Anzeichen einer Krise beobachten, die seit den 1970er Jahren dramatischer wird. Eine solche Krise lässt sich anhand verschiedener Aspekte beobachten: (1) Die geschlossenen Milieus tendieren dazu, sich zu öffnen 89

(Gefangene erhalten die Möglichkeit, außerhalb des Gefängnisses zu arbeiten; psychiatrische Einrichtungen werden nicht mehr als geschlossene Räume begriffen usw.; Deleuze 1993; Bauman 2005). (2) Die Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Institutionen – zum Beispiel zwischen Schule und Unternehmen, zwischen Freizeit und Arbeitszeit – beginnen zu verschwinden. Eine Entgrenzung der Arbeit setzt sich durch (Gottschall/Voß 2003; Kratzer 2003). (3) In postdisziplinären Gesellschaften werden Subjekte durch Dispositive bestimmt, die einen volatileren Charakter haben und eine präzisere und kontinuierlichere Kontrolle ausüben können. Die Kontrolle findet nicht mehr in geschlossenen Räumen statt, sondern ist gewissermaßen freischwebend. Man kann hierbei an Systeme der Videoüberwachung denken.10 Auch die Kontrolle der Arbeitsleistung nimmt neue Formen an: Obwohl die »direkte Detailsteuerung« abnimmt, »um die gewünschte ›Selbstorganisation‹ und ›Selbstverantwortung‹ der Arbeitenden zu ermöglichen«, nehmen »sogenannte ›indirekte‹ Steuerungen zu: Zielvereinbarungen, strikte Ergebnis- und Qualitätskontrollen, harter Termindruck, Ressourcenbegrenzungen […]« (Voß/Weiß 2013: 32 f.). (4) Der Imperativ der permanenten Innovation eines unternehmerischen Selbst setzt sich durch. Durch die implementierte Strategie des project management (Litke 2004) gelingt es dem Paradigma der »permanenten Weiterbildung«, die verschiedensten Kontexte zu dominieren und beständige Innovation einzufordern (Deleuze 1993). Für unsere Thematik ist vor allem der letzte Aspekt von Bedeutung: der Innovationsimperativ des unternehmerischen Selbst.

(b) »Innovate or perish« Unter den Bedingungen des globalisierten Wettbewerbs muss sich der Einzelne in einen Kontext einfügen, der sich so schnell ändert, dass jegliche Anpassung schwierig wird. Postdisziplinäre Gesell10 Diese Systeme ermöglichen die Omnipräsenz einer Instanz, die zuschaut, ohne selbst beobachtet werden zu können: Sie halten das kontrollierte Subjekt in vollkommener Freiheit, aber erlauben (besonders durch Videoaufnahmen) eine Überwachung, die keinem der Vorgängerdispositive bekannt war (Lyon 2006; 2007).

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schaften erfordern deshalb eine große individuelle Flexibilität. Bauman definiert den flüchtigen Charakter unserer Gesellschaft als Unmöglichkeit des Individuums, sich an einen Rahmen anzupassen, der durch permanente Transformationen und einen zwanghaften Rhythmus von Veränderungen charakterisiert ist: »Flüchtigmodern ist eine Gesellschaft, in der sich die Bedingungen, unter denen ihre Mitglieder handeln, schneller ändern, als es Zeit benötigt, um Handlungsweisen zu Gewohnheiten und Routinen zu verstetigen« (Bauman 2005: 1; Übers. S. M.). Die Verhaltensweisen ändern sich so schnell, dass der Einzelne seinen in der Vergangenheit erfolgreich eingesetzten Strategien nicht mehr trauen kann. Diese Umstände verpflichten ihn dazu, seine Kompetenzen in möglichst viele Richtungen zu entwickeln. Bröckling (2007) untersucht vier Schlüsselkonzepte der unternehmerischen Gesellschaft, die das individuelle Handeln leiten: Kreativität, Empowerment, Qualität, Projekt. Im Folgenden gehe ich vor allem auf den Begriff der ›Kreativität‹ ein, wobei freilich die vier Aspekte eng miteinander verflochten sind. Die kreative Innovation findet in einem Kontext statt, in dem die Qualitätskontrolle der Leistungen und der Produkte immer weiter optimiert wird. Innovationen entstehen in einer Projektkultur, in der die »Sequenzialisieung der Arbeit (und letztlich des gesamten Lebens) in zeitlich befristeten Vorhaben« mit einem »spezifischen Modus der Kooperation (Projektteams)« (ebd.: 17) kombiniert wird. Innova­ tion und Kreativität werden nicht nur erwartet, sondern gefordert: Neues zu schaffen wird zum Gebot. In der technologischen und medialen Gesellschaft zielt die Innovation darauf ab, Bedingungen zu schaffen, die vom sozialen System aufgenommen werden, mit deren Hilfe es revolutioniert wird und in deren Folge neue Spielräume für das Zusammenleben, neue Formen der Interaktion und neue Verhaltenstendenzen entstehen können.11 Der Anspruch auf Innovation setzt die Fähigkeit voraus, anders zu denken, Risiken zu suchen und Wege einzuschlagen, die von anderen nicht eingeschlagen werden. Der Schlüssel zum Erfolg in postdisziplinären Gesellschaften hängt nicht mehr davon ab, sich etablierten und stabilen Arbeitsmodellen anzupassen, sondern er setzt die Fähigkeit voraus, in einem Kontext kontinuierlicher und hochgradig volatiler 11 Soziale Medien wie Facebook stellen die auffälligsten Beispiele für solche Formen von sozialen Transformationen dar.

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Variabilität handeln zu können. Kreativität wird zwar gefordert, gleichwohl hängt der Erfolg auch in hohem Maße von Faktoren ab, die sich nicht kontrollieren lassen. Hier ist es interessant, den Börsenhandel als Paradigma dieser gewandelten Form des Kreativitätsbegriffes zu betrachten: Erfolgreiche Investoren müssen wagemutig, risikofreudig und dazu bereit sein, im Gegensatz zu anderen Investoren zu entscheiden. Wenn sie eine unpopuläre Aktie oder Anlage kaufen, mag man sie als töricht ansehen. Gelangt diese Anlage aber in den Ruf einer guten Investition, steigt rasch ihr Preis und man kann sie nicht länger zu günstigen Konditionen erwerben. Der vermeintlich Törichte erscheint nun als vorausschauend. Ähnliches läßt sich für kreative Leistungen feststellen. (Sternberg/Lubart 1991: 1)

Der Wert des Handelns basiert auf einer Kombination von verschiedenen Faktoren: (1) einer hohen Kompetenz auf dem eigenen Gebiet (wie zum Beispiel einer soliden und rationalen Analyse von Daten); (2) einer risikofreudigen Haltung und dem Mut, anders zu denken und zu handeln; (3) einem positiven Resultat auf dem Markt, das nur im Nachhinein zu erfahren ist. Bröcklings Defini­ tion der Kreativität ist in diesem Sinn einleuchtend: »Kreativ ist das Neue, das sich durchsetzt«12 (Bröckling 2007: 169). Das Unternehmen wird zum anthropologischen Paradigma. Das Individuum muss in seine eigenen Kompetenzen investieren, als wäre es ein Unternehmen, das zu einem unendlichen Prozess der Selbstoptimierung berufen (oder verdammt) ist: Die Person muss für sich selbst zum Unternehmer werden, sie muss sich selbst als fixes Kapital betrachten, das seine ständige Reproduktion, Modernisierung, Erweiterung und Verwertung erfordert. Sie darf keinem äußeren Zwang unterworfen sein, sie muss vielmehr ihr eigener Hersteller, Arbeitgeber und Verkäufer werden und genötigt sein, sich die Zwänge aufzuerlegen, die zur Lebens- und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens, das sie ist, erforderlich sind. (Gorz 2003: 25)

Die Forderung nach ständiger Innovation, die zu einer Optimierung der Leistungen, der Produkte und des Profits führen soll, hat einen klaren Nachteil: Ein solches Übermaß an Anforderungen er12 Das Neue zu schaffen, ist nicht nur ein erstrebenswertes Ziel und eine erlernbare Kompetenz, sondern auch das Normale in Canguilhems Sinn: Es ist normativ im Sinne des Normsetzenden (Canguilhem 1974).

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zeugt beim Individuum ein Gefühl intrinsischer Insuffizienz und letztlich des Sich-schuldig-Fühlens. Es ist interessant, dass verschiedene Ansätze – wie die von Ehrenberg (2008), Deleuze (1993), Bauman (2005), Gorz (2003), Bröckling (2007) und Lazzarato (2012) – das Phänomen des Schuldigseins (sowohl im Sinne der culpa als auch des debitum) als Charakteristikum für das Individuum postdisziplinärer Gesellschaften begreifen, in denen eine individuelle Überverantwortlichkeit zum Leitmotiv geworden ist.13 Auf diese Weise bestätigen diese Ansätze einen zentralen Aspekt von Walter Benjamins Kapitalismusanalysen: Das wesentliche Charakteristikum des Kapitalismus besteht darin, dass er »ein verschuldender Kultus ist« (Benjamin 1991: 101).14 Dieses Gefühl des »Schuldens« oder »Zurückbleibens« (Remanenz; siehe dazu Abschnitt IV) wird vom engen Zusammenhang von Leistung und Selbstverwirklichung entscheidend begünstigt. Die Identifikation mit den eigenen Arbeitsleistungen wird erwartet: Arbeitsethos wird zu einem Arbeitsenthusiasmus. Die Arbeitsstelle wird der Ort, an dem die eigene Identität und Kreativität authentisch und vollständig zur Entfaltung kommen. Autoren wie Behrens (1984), Sennett (1998) und Honneth (2002) sehen hier deutlich die Gefahr von Entfremdungsprozessen: Die Angestellten und die Arbeiter »müssen [sich] um ihrer zukünftigen Beschäftigungschancen willen fiktiv nach dem Muster der Selbstverwirklichung organisieren […]« (Honneth 2002: 153). Das moderne Ideal einer authentischen individuellen Selbstverwirklichung verkehrt sich durch seine Umwandlung in solche Formen von »Instrumentalisierung, 13 »Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch« (Deleuze 1993: 256; vgl. auch Lazzarato 2012). 14 Im letzten Jahrzehnt stand ein kurzes, aber äußerst dichtes Fragment von Benjamin im Mittelpunkt der philosophisch-politischen Diskussion in Italien (Giorgio Agamben und Roberto Esposito), in Deutschland (Dirk Baecker, Peter Sloterdijk) und in Frankreich (Michael Löwy): »Kapitalismus als Religion«. Nach Benjamins Ansicht ist der Kapitalismus nicht nur, wie Max Weber glaubte, ein religiös bedingtes Phänomen, sondern er ist im Wesentlichen eine religiöse Erscheinung, die »essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben«, dient (Benjamin 1991: 101). Der Kapitalismus sei eine reine Kultreligion, die permanent zelebriert: »Es gibt da keinen ›Wochentag‹«, »keinen Tag, der nicht Festtag« ist (ebd.).

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Standardisierung und Fiktionalisierung« in ein bedrohliches »Anspruchssystem«, das den Menschen mehr unter Druck setzt als befreit (ebd.: 154). Das Individuum muss sich mit der unglücklichen Alternative zwischen »vorgespielte[r] Authentizität oder Flucht in die depressive Erkrankung, zwischen aus strategischen Gründen inszenierte[r] Originalität und krankhafter Verstimmung« abfinden (ebd.: 156). In dieser Passage verweist Honneth ausdrücklich auf Ehrenbergs These. Ehrenberg bekräftigt, dass der »Leistungskult« eine Voraussetzung für die Depression ist: »Verantwortung, Fähigkeit, Projekte zu entwickeln, Motivation und Flexibilität: das ist eine neue Liturgie des Managements« (2008: 247). Diese neue Liturgie sei »das Vorzimmer« der Depression (ebd.). Die Transformation des Depressionsbegriffes ist eng mit dieser Transformation der Subjektivität verbunden. Ehrenberg selbst fasst die Ergebnisse seiner komplexen Untersuchung am Ende seines Buches folgendermaßen zusammen: Es ist die Geschichte der Depression, die uns geholfen hat, diese gesellschaftliche und geistige Kehrtwende zu verstehen. Ihr unaufhaltsamer Aufstieg durchdringt die zwei Dimensionen von Modifikationen, die das Subjekt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgemacht hat: die psychische Befreiung und die Unsicherheit der Identität, die persönliche Initiative und die Unfähigkeit zu handeln. Diese beiden Dimensionen machen einige anthropologische Risiken deutlich, die darin liegen, dass der neurotische Konflikt in die depressive Unzulänglichkeit in der Psychiatrie kippt. […] Diese Geschichte ist am Ende sehr einfach. Die Emanzipation hat uns von den Dramen der Schuld und des Gehorsam befreit, sie hat uns aber ganz sicher diejenigen der Verantwortung und des Handelns gebracht. So hat die depressive Erschöpfung die neurotische Angst überflügelt. (Ehrenberg 2008: 300)

Die Struktur der ›Depression‹ hat sich daher grundlegend geändert. Während in Disziplinargesellschaften die Depression auf einem psychischen Konflikt beziehungsweise auf der Internalisierung des Gesetzes beruhte, hat sie sich heute mit dem Gefühl der Insuffizienz angesichts der eigenen unendlichen Möglichkeiten verbunden, die umzusetzen von uns buchstäblich erwartet wird. Die moralische Schuld ist in ein Schuldigsein gegenüber den eigenen Leistungen und Optimierungsprozessen übergegangen.15 15 Ehrenberg betont zugleich einen anderen Aspekt, der in meiner Analyse jedoch unterbeleuchtet ist. Die Depression ist auch durch einen Überschuss an Freiheit

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Die oben dargestellte genealogische Rekonstruktion postdisziplinärer Gesellschaften wird häufig als zu einseitig kritisiert, da sie sich nur auf die negativen, entfremdenden Aspekte konzentriere. Ist es ein Zeichen voreiligen Urteilens, wenn man alle Vorteile unerwähnt lässt, die diese soziale Umwandlung mit sich gebracht hat? Autoren wie Anthony Giddens und Alain Touraine haben immer wieder auf die ›Bereicherungen‹ dieser Gesellschaft verwiesen, die in den von Kulturpessimismus geprägten soziologischen Studien zu oft vernachlässigt werden. In dieser Gesellschaft haben soziale Zwänge aufgrund institutioneller Normierungen deutlich abgenommen, was ein höheres Maß an individueller Freiheit ermöglicht. Zu den Vorteilen kann man auch die folgenden Aspekte zählen: Zuwachs an Chancen zur Selbstverwirklichung16 aufgrund der Pluralisierung von Wahlmöglichkeiten und Lebenswegen; Infragestellung illegitimer Autorität, einhergehend mit einer zunehmend gleichberechtigten Kooperation innerhalb der verschiedenen sozialen Systeme; Erweiterung des Interaktionshorizontes; emanzipatorischer Charakter der Arbeitsflexibilität (zum Beispiel Möglichkeiten, an der Arbeitsstelle neue Kompetenzen zu erwerben); steigende Mobilität; Auflösung klassenspezifischer Zugehörigkeit usw. Tendieren die oben dargestellten Analysen von Bauman, Bröckling und anderen nicht dazu, die gegenwärtige Lage zu dramatisieren? Bröckling beschränkt sich nicht darauf, zu behaupten, dass Kreativität und Innovation ein »gouvernementales Regime, ein Modus der Selbst- und Fremdführung« (Bröckling 2007: 153) geworden sind, sondern er behauptet auch, die Imperative des unternehmerischen Handelns seien totalitär.17 Honneth spricht von einer (ausweglosen) Alternative zwischen vorgespielter Authentizität und depressiver Verstimmung. Sind solche Thesen stichhaltig? bedingt. Das Individuum ist nicht fähig, mit den unbegrenzten Möglichkeiten, seine Identität zu gestalten, zurechtzukommen. 16 In Bezug auf die Polysemie des Begriffs der ›Selbstverwirklichung‹ verweise ich auf die Ausdifferenzierung von Magnus Schlette (2013). 17 »Die Anrufungen des unternehmerischen Selbst sind totalitär. Ökonomischer Imperativ und ökonomischer Imperialismus fallen darin zusammen. Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte« (Bröckling 2007: 283).

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Es ist nicht meine Absicht, auf diese uferlose Debatte einzugehen. Es genügt hier zu betonen, dass sich an vielen Stellen in der von Foucault beeinflussten Rekonstruktion der postdisziplinären Gesellschaft Zuspitzungen zeigen, die die Ambivalenz und Reichhaltigkeit unseres gegenwärtigen Zusammenlebens verzerren. Dennoch vermögen diese Analysen Risikofaktoren und potenzielle Überforderungsdynamiken zu identifizieren, die neue Formen der Verletzlichkeit des Subjektes bedingen können.18 III. Depression aus phänomenologischer Perspektive

Während eine Diskurs- und Dispositivanalyse die Differenzen betont, die dem Begriff ›Depression‹ innewohnen, versucht eine phänomenologische Analyse die Verformung der gelebten Erfahrung in der Erkrankung genau zu beschreiben. Sicherlich bestimmen die Sprache und die Kategorisierung der Störung wesentlich deren Erfahrung (Hacking 1998). Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass sich einige Tendenzen des depressiven Erlebens (wie die Verschließung der Zukunft oder der Verlust der Resonanzfähigkeit des Leibes) gleichermaßen in verschiedenen Kontexten und in verschiedenen Kulturen zeigen. Es ist hier von grundlegender Bedeutung, das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden genau zu bestimmen: Man darf weder von der Idee einer (nur künstlich herzustellenden) allgemeinen Identität ausgehen (das heißt zu behaupten, es gebe dieselbe Depression bei allen Individuen und in allen Kulturen), noch ist die These einer radikalen Differenz haltbar, nach der jede mögliche Konvergenz zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen apriori nur als Äquivokation zu betrachten wäre.19 Entscheidend ist, durch eine präzise Beschreibung des 18 Mit anderen Worten: Im Zentrum des vorliegenden Sammelbandes steht das Phänomen der Überforderung in unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Mein Fokus hat sich deswegen primär auf die entfremdenden Aspekte gerichtet, die eigentümlich für unser Zusammenleben sind und neue Herausforderungen für die psychische Stabilität darstellen. 19 Für die Ethnologie sei es, so Merleau-Ponty, notwendig, »laterale Universalien« zu finden (anstelle von vertikalen). »Der Apparat unseres sozialen Seins kann durch Reisen entstellt und wiederhergestellt werden, ähnlich wie wir fremde Sprachen sprechen lernen. Hier eröffnet sich ein zweiter Weg zum Universalen, nicht mehr zum vertikalen Universalen, wie wir es bei einer streng objektiven

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Erlebens die möglichen Konvergenz- und Fluchtlinien ausfindig zu machen, welche die Verflechtung zwischen dem Eigenen und dem Fremden erhellen könnten. Mithilfe eines integrativen Verfahrens, das die Dispositivanalyse im Sinne Foucaults mit einer phänomenologischen Beschreibung kombiniert, hoffe ich, den dramatischen Gegensatz sichtbar werden zu lassen zwischen dem von unserer Gesellschaft fortwährend eingeforderten Anspruch auf Innovation und der Verformung der Welt in der Depression, mit der typischen Fixierung auf die schuldhafte Vergangenheit, dem leidvollen Erleben einer leeren Gegenwart sowie der Verschließung der Zukunft. Der phänomenologisch-anthropologische Psychiater Jürg Zutt (1963) hebt hervor, dass depressive Patienten nicht traurig sind, sondern unter einem unerträglichen Gefühl der Leere, des inneren Todes leiden. Nichts kann die depressive Person affizieren. Nichts weckt ihre Interessen oder kann sie ansprechen: Es ist diese Glaswand, die uns vom Leben, von uns selbst trennt, die das wahrhaft Beängstigende in der Depression ist. Es ist ein schreckliches Gefühl unserer eigenen, überwältigenden Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, von der wir wissen, dass sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, die wir einmal kannten. Und von der wir annehmen müssen, dass wir ihr nie entkommen werden. Es ist so, als würde man in einem Paralleluniversum leben, aber in einem Universum, dem es derart an vertrauten Lebenszeichen mangelt, dass wir verloren sind. (Brampton 2008: 171; Übers. S. M.)

Ein Satz von Th. H., einer Patientin von Hubertus Tellenbach, lässt den Abgrund dieser Umwandlung des Gefühlslebens erahnen: »Das Gefühl ist innerlich tot. Wenn zum Beispiel eines meiner Kinder stirbt, werde ich es nicht einmal bemerken« (Tellenbach 1956: 14). In seiner Studie Depression und Melancholie hat der PsychoMethode finden, sondern gleichsam zu einem lateralen Universalen, wie wir es durch die ethnologische Erfahrung erwerben, die unaufhörlich das Selbst durch den Andern und den Andern durch das Selbst erprobt. […] Die Ethnologie ist keine Spezialität, die durch einen Sondergegenstand definiert wäre: die ›primitiven‹ Gesellschaften; sie ist eine Denkweise, die sich aufdrängt, wenn der Gegenstand ein ›anderer‹ ist und uns eine Wandlung unserer selbst abverlangt. Auch werden wir zu Ethnologen der eigenen Gesellschaft, wenn wir ihr gegenüber auf Distanz gehen. […] Eine einzigartige Methode: Es geht darum zu lernen, wie man das, was unser ist, als fremd, und das, was uns fremd war, als unsriges betrachtet« (Merleau-Ponty 2007: 171). Vgl. ebenfalls Ginzburg 2017.

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analytiker Stavros Mentzos auf die Mehrdeutigkeit des Terminus ›Depression‹ aufmerksam gemacht (Mentzos 1995). Der Verlauf und die individuelle Ausformung der Krankheit hängen mit der Reaktion des Patienten auf die Störung zusammen. In seiner Untersuchung unterscheidet Mentzos fünf verschiedene Formen der Depression: (1) Schulddepression mit Selbstvorwürfen; (2) agitierte Depression mit einer kritisierenden Haltung gegenüber den Anderen; (3) anaklitische Depression mit extremer Anhänglichkeit; (4) selbstzerstörerische Depression; (5) leere Depression.20 Trotz dieser vielfältigen Ausprägungen ist es nach Mentzos gerechtfertigt, in allen Fällen von einem depressiven Affekt zu sprechen.21 In der psychiatrischen Literatur kommt der Frage nach der Spezifität des depressiven Affektes seit Langem eine zentrale Bedeutung zu: Zeigt sich ein qualitativer oder nur ein quantitativer Unterschied zwischen einem akuten, aber nicht pathologischen Zustand der Niedergeschlagenheit und der depressiven Verstimmung? Ist die Depression als ein ›normales‹ Leiden anzusehen, das nur dadurch gekennzeichnet ist, wesentlich länger als ein normales Gefühl anzudauern? Aus phänomenologischer Perspektive erweist sich eine solche Interpretation als illegitime Vereinfachung eines viel tiefer greifenden depressiven Phänomens. Dörr-Zegers und Tellenbach (1980) oder auch Kraus (2001) haben in verschiedenen Studien die spezifische Qualität der depressiven Verstimmung hervorgehoben. Diese Ansätze sind maßgeblich von Kurt Schneider beeinflusst, der vier Merkmale als kennzeichnend für die depressive Verstimmung herausgearbeitet hat: (1) Die depressive Verstimmung ist kein reaktives Phänomen, da sie nicht als eine unmittelbare Reaktion auf eine vergangene oder eine gegenwärtige Situation verstanden werden kann, vielmehr entsteht sie ohne unmittelbar erkennbaren Grund. (2) Sie hat einen irresponsiven Charakter. Weder äußere Umstände noch menschlicher Kontakt können das Gefühlsleben des Patienten beeinflussen oder erreichen. 20 Die larvierte Depression könnte hinzugefügt werden (diese Auflistung könnte ohne Mühe fortgesetzt werden). 21 Es ist hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass Mentzos eine klare Unterscheidung zwischen dem depressiven Affekt und dem depressiven Syndrom trifft (Mentzos 1995).

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(3) Sie verbindet sich nicht »mit den anderen reaktiven Stimmungen« (Schneider 1973: 64). Sensu stricto kann der depressive Patient reaktive Gefühle (wie Freude oder Traurigkeit) nur in einer schwachen, oberflächlichen Form empfinden, aber er kann sie nicht wirklich erleben. Diese Gefühle erreichen ihn nicht. (4) Die depressive Verstimmung betrifft die Dimension der Vitalität. Der Patient fühlt sich nicht mehr lebendig.22 All diese Aspekte des depressiven Affektes können integriert werden, wenn man sie auf die folgende, paradoxe Kategorie zurückbezieht: das Gefühl der Gefühllosigkeit. Die Depression betrifft dabei alle Dimensionen der Subjektivität: Leiblichkeit, Selbstverhältnis, Intersubjektivität, Zeitbewusstsein und religiöse Haltungen werden einer radikalen Transformation unterworfen. Der eigene Leib verliert seine selbstverständliche und ›stille‹ Vermittlungsfunktion, die die Begegnung mit dem Anderen mitbestimmt. Man spricht in der phänomenologischen Literatur von einem »Korporifizierungsprozess«, der in verschiedener Weise verstanden wurde.23 Dieser Prozess zeigt sich auch in der Verlangsamung der Bewegungen.24 Darüber hinaus ist die leibliche Erfahrung in der Depression durch ein umfassendes Schweregefühl gekennzeichnet (Kraus 1977; 2001). Nicht nur die Objekte werden als schwerer empfunden, sondern sogar der eigene Körper muss getragen, fast geschleppt werden (Tatossian 1979).25 Zugleich verlieren die Objekte der Wahrnehmung ihre affektive Relevanz. Für den depressiven Patienten scheint es so, als hätten die Objekte ihr jeweiliges Wesen verloren. Offensichtlich geht es hier nicht um die kognitive Identifizierung, vielmehr können die Objekte die depres22 Bestimmte Aspekte bleiben in Schneiders Theorie unterbeleuchtet: Die depressive Grundstimmung ist zum Beispiel auch nicht von Verbalisierungsprozessen und reflexiven Akten unmittelbar beeinflussbar. 23 Die depressive Korporifizierung ist verschieden interpretiert worden (Micali 2013): Korporifizierung als Verlust des medialen Charakters des Leibes (Fuchs 2001), Korporifizierung als Rückzug in eine immanente Sphäre (Borgna 2001), Korporifizierung als Mangel an intersubjektiver Gegenseitigkeit (Dörr-Zegers/ Tellenbach 1980). 24 Depressive Patienten zeigen eine verminderte Ganggeschwindigkeit und vermehrte Standphasen (Wendorff et al. 2002). 25 »Es ist, als müsste ich auf zwei gebrochenen Beinen gehen« (Borgna 2001: 34).

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sive Person nicht affizieren, so dass sie ihr nichts mehr sagen: Sie verlieren ihren eigentümlichen Aufforderungscharakter. Ich konnte also einen Tisch sehen, und ich wusste, dass das ein Tisch war, aber gleichzeitig hatte er eine ratlos machende und gleichgültige Qualität, die für mich verwirrend und desorientierend war. Es ist ein Tisch, aber was ist ein Tisch? Was kann man mit einem Tisch machen? Die Welt hatte ihre einladende Qualität verloren. Es war keine bewohnbare Erde mehr. […] Du weißt, dass du das Leben selbst verloren hast. Du hast eine bewohnbare Erde verloren. Du hast jene Einladung zu leben verloren, die das Universum in jedem Moment an uns richtet. Du hast etwas verloren, von dem die Leute nicht einmal wissen, dass es so etwas gibt. Deshalb ist es so schwer zu erklären. (Hornstein 2009: 222 f.; Übers. S. M.) Diese Weltlosigkeit muss hier im Sinne des Gefühls der Gefühllosigkeit interpretiert werden. Es ist interessant, dass dieser Patient sie als Kernmerkmal der depressiven Störung begreift (Hornstein 2009: 222).

In der Depression zeigt sich auch eine Transformation der Intersubjektivität. Die depressiven Patienten beschreiben plastisch den Verlust ihrer Fähigkeit, »beim Anderen« (Merleau-Ponty 1966) zu sein. Sie können ihn weder erreichen noch von ihm erreicht werden: Schrecklich tot ist die Beziehung zu meinem Mann und meinen Kindern – darum habe ich so furchtbare Angst vor dem Zusammensein mit ihnen, Angst, sie könnten es merken. Dieses entsetzliche Gefühl des nicht Reagieren-Könnens. Man rennt mit dem Kopf gegen eine Wand, um die Beziehung herzustellen, aber es geht nicht. Der Besuch der Meinen, das ist ein Nachtspuk, schemenhaft, die Kinder so blaß – so wunschlos von meiner Seite.26 (Gebsattel 1954, 24 f.)

Ex negativo kommt hier deutlich eine Beschreibung der intersubjektiven Nähe zum Vorschein: »Die Leere füllt den Zwischenraum zwischen mir und meinem Mann, so daß ich nicht hinüberkomme; statt zu leiten, hält der Zwischenraum mich ab« (ebd.: 25). Wir haben die Abwandlung von verschiedenen basalen Dimensionen der Subjektivität kurz skizziert: Leiblichkeit, Gegenstandswahrnehmung und Intersubjektivität. Hinzu kommt nun aber eine 26 In einem anderen Kontext habe ich eine weitere Störung des chiasmatischen Verhältnisses zwischen dem depressiven Patienten und dem Anderen anhand der Husserl’schen Kategorie der Außen- und Innenleiblichkeit aufgegriffen (Micali 2013).

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Dimension der Subjektivität, die in der phänomenologischen Psychopathologie eine herausragende Rolle spielt: die Zeitlichkeit. Die Störung des Zeiterlebens wird als Kernmerkmal der depressiven Verstimmung anerkannt.27 Diese Transformation nimmt eine spezifische Form an: »In der Depression kann sich dem Menschen der Zukunftsaspekt des Daseins gänzlich verschließen. Er tritt qualvoll auf der Stelle. Die Vergangenheit drängt sich ihm ausschließlich als Last und Belastung auf« (Blankenburg 2007: 255). An dieser Stelle möchte ich auf die Verwandlung der Gegenwart eingehen. Von Henri Bergson, William James und Edmund Husserl wissen wir, dass die Gegenwart nicht als ein (mathematischer) Punkt, sondern vielmehr als ein Präsenzfeld betrachtet werden muss. Um die komplexe Struktur dieses Präsenzfeldes näher zu bestimmen, hat Husserl die Begriffe ›Retention‹, ›Protention‹ und ›Urimpression‹ eingeführt. Als wesentlich erscheint mir hier vor allem ein Aspekt der Urimpression: »Die Urimpression ist der absolute Anfang dieser Erzeugung, der Urquell, das, woraus alles andere stetig sich erzeugt. Sie erwächst nicht (sie hat keinen Keim), sie ist Urschöpfung« (Husserl 1966: 100). ›Urimpression‹ bezeichnet das lebendige, immer wieder hervortretende und bewusstseinsfremde Neue. Das Neue gehört nicht sensu stricto zur Zukunft: Es ist die lebendige Gegenwart, die von der Zukunft her auf uns zukommt.28 In der Depression findet eine Transformation des inneren Zeitbewusstseins statt, die zur Folge hat, dass nichts Neues oder Überraschendes mehr geschieht – »Nichts passiert« (Micali 2011). In der schweren Depression zeigt sich eine Störung der Urimpression als einer Affektion, die uns sonst von außen her zustößt und ein unvorhersehbares, neues Situiertsein erschließt. Dies manifestiert sich auch in verschiedenartigen strukturellen Veränderungen des Zeiterlebens, die typisch für die depressive Störung sind, wie etwa die Fraktionierung der Zeit. 27 Binswanger 1960; Fuchs 2001; Gebsattel 1954; Kraus 2001; Maldiney 1991; Melges 1982; Micali 2011; Minkowski 1971; 1972; Pauleikhoff 1986; Straus 1960; Theunissen 1991. 28 Lévinas schreibt in diesem Sinn: »Das ›Wirkliche‹, das dem Möglichen vorausgeht und es überrascht – sollte das nicht exakt die Definition der Gegenwart sein, die nach dieser Beschreibung zwar gleichgültig wäre gegenüber der Protention (›die Erzeugung hat keinen Keim‹), aber deswegen nicht weniger ihr Bewußtsein?« (Lévinas 1992: 84)

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Die Zeit vergeht erbarmungslos und es drängt sich immer deutlicher auf, daß ›aus ihr nichts wurde‹. Nichts macht einen Unterschied. Alles ist egal. Als die Schwester heiratete, habe ich mir ausgerechnet: in einem Jahr, in zwei, in drei Jahren komme ich dran. Ich komme dran, wie eben auch die anderen Frauen drankommen. Das erscheint mir so sinnlos. […] Das war zeitweilig so stark, daß ich gar nichts mehr tun konnte, gar nicht aus dem Bett aufstehen, gar nicht mich anziehen konnte, weil doch alles egal ist. (Gebsattel 1954: 3 f.)

Wenn die Zukunft verschlossen und die Gegenwart leer ist, zeigt sich die Vergangenheit vor allem als Schuld, wie dies etwa Piet Kuiper in einer autobiographischen Darstellung seiner Depression schildert: »Ich begreife, daß die Zeit zwar vergangen, die Vergangenheit als Anklage aber noch gegenwärtig ist« (Kuiper 1991: 156). Kuipers Vorstellung des Jüngsten Gerichts ist das Bild für die Irreversibilität von Zeit und Schuld: »Das Jüngste Gericht könnte darin bestehen, dem Menschen einen Film zu zeigen, der sein Leben in allen Einzelheiten wiedergibt. Die Strafe wohnt dem Versagen inne« (ebd.: 155). Die äußerste Strafe besteht in der erzwungenen Wiederholung der eigenen Existenz, ohne die Möglichkeit, irgendwelche Änderungen vorzunehmen. Die Momente des Versagens, der Selbstanklage und der Strafe sind untrennbar miteinander verbunden. IV. Das Gefühl der Remanenz in der unternehmerischen Gesellschaft

Im zweiten Abschnitt meines Beitrags habe ich spezifische Dynamiken der unternehmerischen Gesellschaft hervorgehoben. Im dritten Abschnitt habe ich versucht, die Erfahrung der Depression aus einer phänomenologischen Perspektive zu analysieren. Ist es nur eine tragische Ironie, dass in einer Gesellschaft, die auf Flexibilität, Innovation und kontinuierlicher Beschleunigung von Performances beruht, die Bedeutung der Depression so virulent wird? Ist Depression eine Nebenwirkung postdisziplinärer Gesellschaften? Oder hängt die soziale Relevanz der Depression mit unseren Sorgen zusammen, nicht mehr wettbewerbsfähig sein zu können und deswegen ›zurückgelassen‹ zu werden? In diesem Fall würde die Depression als Verkörperung der tiefsten Ängste unserer Gesell102

schaft, als ein Phantasma im psychoanalytischen Sinne, fungieren. In diesem letzten Abschnitt versuche ich das Verhältnis zwischen der auf Innovation ausgerichteten unternehmerischen Gesellschaft und dem Phänomen der Depression im Lichte des Gefühls der Remanenz näher zu untersuchen. Wie bereits erwähnt, führen die epidemiologischen Studien über die Zunahme der Depression zu keinem eindeutigen Ergebnis. Dennoch kann festgehalten werden, dass die Verbreitung der Depression trotz der verbesserten und in größerem Umfang verfügbaren Behandlungsmethoden und -einrichtungen zumindest nicht geringer geworden ist; so verweisen Handerer, Thom und Jacobi (in diesem Band) unter anderem auf Studien, denen zufolge die sozialen Stressoren in Kanada (1994-2014), Australien (1995-2011) und in den Vereinigten Staaten (1997-2009) nicht zugenommen, zugleich aber die Bewertungen der eigenen psychischen Gesundheit in der Bevölkerung sich verschlechtert haben (Patten et al. 2014; Jorm/Reavley 2012; Mojtabai 2011). Um die soziale Relevanz der Depression zu bewerten, erscheint es nicht sinnvoll, sich auf eine starre Alternative zwischen einer Zunahme sozialer Stressoren und einer veränderten sozialen Bewertung psychischer Störungen (Pathologisierung des Gefühlslebens, Destigmatisierung der psychischen Krankheit usw.) festzulegen. Die negative Bewertung des Einflusses der Stressoren auf die psychische Gesundheit spiegelt vielmehr auch veränderte Selbstverhältnisse im Rahmen der unternehmerischen Gesellschaft wider. Zu den verschiedenen Faktoren, die zur Relevanz der Depression in unserer Zeit beitragen, muss meines Erachtens deshalb auch die Verbreitung des Phänomens der Remanenz gezählt werden (Micali 2010). Es ist, so die These, eine immanente Dynamik der postdisziplinären Gesellschaft, die die Entstehung des Remanenzgefühls begünstigt. Ich verwende das Konzept der Remanenz in jenem klinischen Sinn, wie ihn Tellenbach definiert hat. Meines Erachtens sind seine Forschungen zum Typus Melancholicus richtungsweisend, um das komplexe Verhältnis zwischen unternehmerischer Gesellschaft und der Relevanz der Depression zu erhellen. In seiner maßgeblichen Monographie Melancholie steht der Typus Melancholicus im Zentrum der Untersuchungen, die sich auf die prädepressiven Haltungen und Konstellationen konzentrieren. 103

Der melancholische Persönlichkeitstypus situiert und gestaltet seine Umgebung nach spezifischen und typischen Ordnungen, wobei Tellenbach als zwei Charakteristika Inkludenz und Remanenz hervorgehoben hat: »Wir werden nunmehr die prämelancholische Situation als solche einer näheren Betrachtungsweise unterziehen – und zwar im Hinblick darauf, in welchen für die Pathogenese der endogenetischen Abwandlung entscheidenden Konstellationen sie sich darstellt« (Tellenbach 1983: 126). Inkludenz und Remanenz kennzeichnen diejenigen charakterologischen Merkmale, welche die pathogenetische Transformation in den depressiven Zustand verständlich machen. Diese Konstellationen sind jedoch nicht als Ursachen, sondern als Vorbedingungen der Depression aufzufassen.29 ›Inkludenz‹ bedeutet eine Überidentifizierung mit sozialen Rollen und den herrschenden sozialen Werten. In ihr zeigt sich die Tendenz, sich in bereits vorgegebene Ordnungen einzugliedern, ohne davon abweichen zu können. Für unseren Kontext ist aber vor allem die Remanenz einschlägig, nämlich das intensive Gefühl, hinter den eigenen Ansprüchen zurückzubleiben, insbesondere in Bezug auf die eigenen Pflichten, Aufgaben und Leistungen: »Das Essentielle eines solchen Zurückbleibens hinter dem Selbstanspruch ist in allen Fällen ein Schulden: ein Schulden gegen die Forderung an das eigene Leisten – oder ein Schulden gegen den Anspruch der mitmenschlichen Liebe-Ordnung im Sein-für-andere […]« (Tellenbach 1983: 136; Hervorh. im Orig.). Der Typus Melancholicus ist also durch »einen überdurchschnittlich hohen Anspruch an das eigene Leisten« charakterisiert. Das Leisten betrifft sowohl die Qualität als auch die Quantität (ebd.: 66). Einerseits kann »nichts vertagt werden« (ebd.: 136), und die Bewältigung der Aufgaben darf nicht mit den jeweiligen Deadlines in Konflikt geraten. Andererseits widerspricht eine andere Tendenz dieser Anforderung, und zwar der Anspruch an die höchste Qualität eigener Leistungen, die größtmögliche Akkuratesse in der eigenen Arbeit. Aus dem Konflikt zwischen diesen beiden kontra­ diktorischen Tendenzen entsteht die Gefahr, in eine Spirale des Schuldens zu geraten: 29 »Konstelliert sich die Situation des Typus dergestalt, daß es zur Selbstwidersprochenheit der Persönlichkeit kommt, so sind pathogene Situationen entstanden […]« (Tellenbach 1983: 36).

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Eine Contradictio zu der Unbedingtheit des Hinter-sich-Bringens muß es auch genannt werden, wenn das Sollen so angesetzt wird (»die Arbeit hört nie auf«), daß dadurch das Ankommen am Tagesziel erschwert wird (wie z. B. im Nicht-abschalten-Können). Dergestalt bewegt sich ein solches Dasein immer in der Nähe des Schuldens, und das heißt: immer in der Möglichkeit von Remanenz. (Ebd.: 135)

Diese beiden kontradiktorischen Tendenzen setzen die Person ständig der Gefahr aus, »in einen Status von Selbstwidersprochenheit zu geraten« (ebd.: 135 f.). Wir haben gesehen, dass die schwere Depression durch ein Gefühl der Gefühllosigkeit charakterisiert ist, in dem nichts mehr geschieht. Die depressive Person kann sich nicht mehr in eigenen Entwürfen und Handlungen entfalten: Die Zukunft ist verschlossen. Was sind die Bedingungen eines Hineingeratens in die depressive Verstimmung? In der Remanenz werden Formen einer Selbstwidersprochenheit sichtbar, »welche die Erstreckung des Daseins verlangsamen und in die Nähe der Stagnation bringen kann« (Tellenbach 1983: 136): Das Studium der klinischen Fälle zeigt deutlich, wie groß beim Typus Melancholicus »die Sensibilität für ein Schulden jeglicher Art ist – sowohl hinsichtlich eines quantitativen Nichtgenug als eines qualitativen Nicht-gut –, wie ein Schulden sogleich die Gestalt von Schuld annimmt, wie debet bereits culpa ist« (ebd.: 137; Hervorh. im Orig.). Der Typus Melancholicus zielt deswegen darauf ab, jede mögliche Schuldigkeit aufzuheben.30 Ein solches Unterfangen ist jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt.31 Hier zeigt sich eine Spannung zwischen den hohen Ansprüchen an die Qualität (die Leistung muss perfekt sein), der begrenzten Zeit (man darf den Abgabetermin nicht verpassen) und der (möglicherweise) begrenzten Verfügbarkeit über die nötigen Ressourcen der ständigen Selbstoptimierung: »Aus drückendem Schulden wird unversehens lastende Schuld. Wie das Leisten hat auch das dem 30 »Der melancholische Typus gleicht einem Menschen, der alle mögliche Schuld vorwegtilgen will, der gleichsam vorwegbezahlt, was er noch gar nicht erstanden hat, und der sich schon im Rückstand sieht, wenn das nicht geschehen kann« (Tellenbach 1983: 138). 31 »Er will nicht sehen, daß der Mensch dem Dasein immer etwas schuldig bleibt – sei es ›daseins-immanente Schuld‹ (Binswanger 1957), ›ein Zurückbleiben des Daseins hinter seinen Seinsmöglichkeiten‹ (ebd.: 464), sei es daseinstranseunte. Dem Dasein nichts schuldig zu bleiben, ist das Unmögliche« (Tellenbach 1983: 141; Hervorh. im Orig.).

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Leisten antagonistische Schulden diese Tendenz, sich auszubreiten. Leisten und Schulden sind repräsentative Aspekte dieses Daseins« (ebd.: 137). Es ist unvermeidlich, dass die Schuld gerade dann ubiquitär wird, wenn man jede Form von Schuld vermeiden will.32 Je höher die Selbstansprüche sind, desto akuter wird das Gefühl des Schuldigbleibens. Dies gilt vor allem dann, wenn ein zusätzliches negatives Ereignis wie eine Krankheit auftritt.33 Wenn wir nun die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Konstellation der Remanenz nicht von Natur aus gegeben ist, sondern Subjektivität sich durch soziale Dispositive herausbildet, können wir ein neues Licht auf die Relevanz der Depression in unserer Gesellschaft werfen. Die unternehmerische, postdisziplinäre Gesellschaft führt offensichtlich zu einer Zunahme der Remanenz, die sich in einem verbreiteten Gefühl der Belastung und Überforderung manifestiert. Im grundsätzlich nicht begrenzbaren Prozess der Selbstoptimierung muss die eigene Leistungsfähigkeit die bisherigen Ergebnisse immer wieder überbieten können. Dieses Modell tendiert dazu, sich allmählich auf andere Lebensbereiche auszuweiten, bis das gesamte Leben des Individuums wie ein Unternehmen geplant wird. Das Individuum ist einerseits zu immer besseren Leistungen ›berufen‹, andererseits ist es vom Gefühl be32 Selbst wenn einem etwas Negatives widerfahren ist, fühlt man sich schuldig, da man nicht auf alles Mögliche bereits vorbereitet war: »Wo immer Schicksalhaftes seine Ordnungen bedrängt, da drängt sich ihm die Frage auf: Womit habe ich das verschuldet?« (Tellenbach 1983: 141)

33 Es ist hier nicht möglich, den endokinetischen Prozess genau zu analysieren. Dennoch möchte ich auf zwei Aspekte hinweisen: (1) Die Selbstwidersprochenheit der Remanenz führt zur Verzweiflung. Verzweiflung muss nicht im Sinne eines Mangels an Hoffnung verstanden werden, sondern als »ein Hin und Her, ein Alternieren, so daß eine endgültige Entscheidung nicht erreichbar ist« (Tellenbach 1983: 153). Das Spezifische der depressiven Verzweiflung ist »nun das Festgehaltenwerden in diesem Alternieren. Der Verzweifelnde gleicht hier einem Menschen, der versucht, gleichzeitig an zwei Orten zu sein« (ebd.). Das Selbst ist nicht mehr in der Lage, die sich widersprechenden Tendenzen, die der Konstellation der Remanenz innewohnen, zu ertragen. (2) Nach Tellenbach sind Remanenz und Inkludenz nötige, aber nicht hinreichende Bedingungen der Depression. Zwei Bedingungen müssen erfüllt werden, um die Depression entstehen zu lassen: »die provozierende Konstellation [Remanenz und Inkludenz] und das, was sich provozieren läßt« (ebd.: 160): die endokinetische Transformation des leiblichen Individuums.

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herrscht, nicht genug zu tun und vor allem nicht genug getan zu haben. Mit Blick auf den Leistungsdruck des unternehmerischen Selbst34 haben Voß und Weiß zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es immer schwieriger wird einzuschätzen, »[…] wann es ›genug‹ ist: Wann ist die erbrachte Leistung ›ausreichend‹, so dass man mit sich selbst zufrieden ist […]?« (Voß/Weiß 2013: 36) Auch Zygmunt Bauman hat eine treffende Beschreibung dieses diffusen Gefühls der Remanenz gegeben. Das flüchtige Leben ist von der Sorge überschattet, zurückgelassen zu werden: Die akutesten und hartnäckigsten Sorgen, die ein solches [flüchtiges] Leben heimsuchen, stellen die Befürchtungen dar, beim Schlummern erwischt zu werden; es nicht zu schaffen, den Anschluss an die rasant vorbeiziehenden Ereignisse zu halten; zurückgelassen zu werden; Verfallsdaten zu übersehen; mit Besitztümern belastet zu sein, die nicht mehr länger begehrenswert sind; jenen Moment zu verpassen, der eine Kursänderung verlangt, bevor der Punkt erreicht ist, an dem es kein Zurück mehr gibt. Das flüchtige Leben ist eine Abfolge neuer Anfänge – dennoch sind es genau aus diesem Grund die schnellen und schmerzlosen Abschlüsse, ohne die Neuanfänge undenkbar wären, die dazu neigen, deren herausforderndste Momente zu sein und das erschütterndste Kopfzerbrechen zu bereiten. (Bauman 2005: 1; Übers. S. M.)

Das unternehmerische Selbst mit seinem Anspruch auf ständige Innovation und Selbstoptimierung ist somit ein »gouvernementales Regime« (Bröckling 2007) geworden, das dazu neigt, die psychische Belastung der Remanenz hervorzubringen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dieses neue Regime durch Ambivalenzen gekennzeichnet ist. Es generiert nicht nur entfremdende Effekte, sondern erschließt auch positive Herausforderungen, die neue und unerwartete Formen der Selbstrealisierung ermöglichen. Auf der anderen Seite übt dieses Regime seinen Druck auch auf diejenigen aus, die von einer aktiven Teilnahme ausgeschlossen sind. Es ist vielleicht auch gar nicht so überraschend, dass epidemiologische Studien vermehrt Fälle von Depression bei marginalisierten Personen und Gruppen feststellen, die ärmeren und weniger gebildeten Schichten der Bevölkerung angehören, wie 34 Voß und Weiß verwenden die Kategorie der Selbstorganisation. Sie heben drei Merkmale des neuen Paradigmas der »Selbstorganisation« hervor: (1) Selbstkon­ trolle, (2) Selbstökonomisierung und (3) Selbstrationalisierung (Voß/Weiß 2013).

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etwa arbeitslose und alleinstehende Menschen (vgl. Handerer et al. in diesem Band). Personen, die diesen Schichten angehören, leiden nämlich primär unter der Negativität der unternehmerischen Dispositive: Auch sie sind verantwortlich für ihren eigenen Misserfolg, weil die Idee vorherrscht, der soziale Erfolg hänge von der eigenen Initiative ab. Es ist sicherlich ein gewagtes Unternehmen, den Zusammenhang zwischen Depression und unternehmerischer Gesellschaft zu thematisieren. Doch bietet ein solches Unternehmen auch die Gelegenheit, den Dialog zwischen verschiedenen Disziplinen, Herangehensweisen und Denktraditionen zu befördern – einen Dialog, der sowohl in unserem spezialisierten Wissenschaftsdiskurs als auch im Hinblick auf die gegenwärtigen sozialen Dispositive ein emanzipatorisches Potenzial besitzt.

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Cornelia Klinger The selfie – oder das Selbst in seinem Welt-Bild 1. Die Selbst-Aufstellung des Menschen als Subjekt Die Überforderung des Selbst ist ein epochales Thema der westlichen Moderne, das sich paradigmatisch mit der Selbst-Aufstellung des Menschen als Subjekt bei Descartes manifestiert. »Subjekt zu sein, wird jetzt die Auszeichnung des Menschen als des denkendvorstellenden Wesens« (Heidegger 1972: 81). Das Selbst setzt sich in das Zentrum seiner Welt. Dieser unerhörte Vorgang der Subjektwerdung des Menschen seit Ende des Mittelalters resultiert aus einer grundlegend ambivalenten Situation: auf der einen Seite der Verlust der Einheit überlieferter Glaubensüberzeugungen und Gewissheiten in erbitterten Religionskriegen; auf der anderen Seite der Gewinn von Wissen und Handlungsmacht durch die Entwicklung von Wissenschaften und Technologien auf der Grundlage der Zahl anstelle des Wortes. Ohne Rückhalt in einer Ordnung, die höhere Wahrheit, Heil und Sinn verbürgt, in der Ambivalenz zwischen Verlust und Gewinn, ist der Mensch zur Selbstbehauptung genötigt, werden Selbstbesitz und Selbsttätigkeit, das Eigen-Tum und das Eigen-Tun zum Leitfaden in allen Dimensionen des Denkens und Wissens, des Seins und Handelns. In seiner ersten Gestalt meint das Selbst als Subjekt keineswegs einen einzelnen Menschen in seiner Partikularität oder die vielen Menschen in ihrer Pluralität, sondern die gottanaloge Einheit und Allheit von Alpha und Omega, von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem in der Idee DES Menschen im Universalsingular, im Gattungssingular Menschheit: (1) Der Vorstellung von Transzendenz am nächsten steht das transzendentale Ich. Das ›Ich-denke‹ wird zum letzten Anker des Erkennens und zur Grundlage der Wissensordnung: Selbst-Gewissheit. (2) Der Mensch ›schlechthin‹ als Vernunftwesen rückt in das Zentrum der weltlichen Rechtsordnung und Moral. Die zurechnungsfähige, mündige Person, die hier steht und nicht anders kann, übernimmt Selbst-Verantwortung. (3) Das Konzept der kapitalistischen Wirtschaftsordnung setzt 115

den Menschen nicht mehr als Vernunftwesen, sondern als den seine Eigeninteressen verfolgenden homo oeconomicus voraus und unterstellt allen Menschen diese Art von egoistischer Rationalität, Orientierung auf Effizienz und Profit, Kostenminimierung und Gewinnmaximierung. Das unternehmerische Selbst übernimmt die Schlüsselfunktion des self-made man, des »sujet qui marche tout seul« (Althusser 1976: 133): Selbst-Ständigkeit. (4) Der Idee der politischen Selbstbestimmung liegt ursprünglich der Gedanke der volonté générale und die Vision des Universalsingulars Menschheit im Sinne des frühen Kosmopolitismus zugrunde. Vielleicht ist die Enttäuschung dieser Menschheitshoffnung besonders früh und scharf in Erscheinung getreten. Zwar basiert politische Ordnung, die sich allmählich zur Demokratie ausbildet, auf der gemeinsamen Willensbildung und Entscheidung der selbstgewissen, selbstverantwortlichen, selbstständigen Akteure: auf Selbst-Bestimmung als Selbst-Gesetzgebung (Autonomie) auf der Grundlage von Verträgen und Verfassungen – aber das Prinzip reduziert sich von globaler Einheit auf nationalstaatliche Vielheit. (5) Im neu entstehenden Gebiet des Ästhetischen kulminiert das Prinzip Selbst als Selbst-Ausdruck und Selbst-Darstellung (Expressivität) des Künstlers für und vor Publikum. Es spannt sich ein Bogen von der Selbst-Findung (Authentizität) bis zur Selbst-Erfindung (Kreativität). Dieser Höhepunkt der Subjektstellung in der Kunst bildet den Wendepunkt, an dem das Subjekt in den Prozess der Subjektivierung und Individualisierung eintritt. Denn das ästhetische Subjekt rekurriert auf eine Innerlichkeit, die von den höchsten Höhen der Kreativität des Geistes bis in die Tiefen der Kreatürlichkeit (Sinnlichkeit) hinabreicht. In der Figur des Künstlers als Natur-Genie hat das Individuum seinen ersten Auftritt in einer Exklusivitätsindividualität. Die Ausnahmeerscheinung des großen Künstlers steht außerhalb der Regeln und Normen der Gesellschaft (Alterität). In der Abfolge dieser fünf Bestimmungen des Selbst deutet sich bereits an, dass die Subjektstellung für ein nicht mehr als Ebenbild im Angesicht Gottes stehendes Geschöpf, für ein unter den Bedingungen von Raum und Zeit existierendes Lebewesen, ein zufälliges und hinfälliges ›Tier‹, unmöglich ist. Denn auch wenn es dies vermeinen möchte, ist das Selbst nicht der Souverän. Das »denkend-vorstellende Wesen« entwickelt von seinem beliebigen und 116

bedingten, das heißt kontingenten Standpunkt aus eine bestimmte Sicht auf die Welt, eine Weltanschauung. Umgekehrt heißt das, dass die Welt zum Bild wird, indem sie in der Zentralperspektive vom Augenpunkt ausgehend auf einen unendlichen Fluchtpunkt zuläuft. Die Situation des modernen Subjekts ist keine ontologische, sondern eine ästhetische Position. Obwohl es die Welt nicht von Anbeginn an schafft und bis zum Ende umfasst, nimmt dieses Subjekt an Gott Maß; es maßt sich die Gottposition und die Weltanschauung Gottes an. Nach alter, antiker oder christlicher Auffassung wäre das ὕβρις oder Sakrileg. Da jedoch kein höheres Strafgericht eintritt, muss die Anmaßung nicht gebüßt oder korrigiert werden. Vielmehr entsteht eine Dynamik, in deren Folge der erste Versuch der Selbst-Aufstellung des Menschen als Subjekt im Universalsingular, also in der über allem stehenden, transzendenten Gottstellung und zugleich in der allem zugrunde liegenden Substanzposition (υποκειµενον) vielfach abgewandelt wird. Das große, perennierende Subjekt tritt in die Zeit ein; es durchläuft einen Prozess fortschreitender Subjektivierung. Der Weg führt über verschiedene Kollektivsubjekte (Nation, Klasse, Rasse, Geschlecht und andere) zum Individualsubjekt, das heißt vom universalen Subjekt über die partikularen Subjekte zum Einzelnen, das Individuum oder Atom sein soll: unteilbar. Während die Illusion unteilbarer Materie auf verhängnisvolle Weise – durch eine Technik zur Kernspaltung – beiseitegesetzt wird, setzt sich die Selbst-Überhebung des modernen Menschen in verschiedene Arten von Überforderung um. Die Geschichte der westlichen Moderne kann als die Geschichte von Versuchen erzählt werden, der ebenso unmöglichen wie unausweichlichen Anforderung der Selbst-Aufstellung des Menschen als Souverän irgendwie zu genügen, sie anzunehmen, abzumildern, umzuschichten, aufzuteilen, abzuwälzen. Aus dieser Situation heraus entstehen enorme Fortschritte: Menschliches Wissen, technisches Können, politische Macht und gesellschaftlicher Reichtum wachsen in vorher nie gekanntem Umfang, jedoch ohne die Harmonie einer Ordnung zu erlangen, vielmehr unter dem Vorzeichen des auf Dauer gestellten Wachstums als der permanenten Überforderung bis an den Rand der Erschöpfung des Einzelnen und an die Grenze der Selbst-Zerstörung des Ganzen. 117

2. Vom Subjekt zum Individuum Der Mensch taugt nicht zum Subjekt. In allen fünf Hinsichten geht die Einheit und Ganzheit des Subjekts in die Brüche, so dass die Partikularität und Pluralität in Erscheinung treten kann, die in der Endlichkeit aller Dinge liegt und also auch in den Menschen: (1) Das transzendentale Ich ist vom empirischen verschieden. (2) Das Vernunftwesen ist mit dem Sinnenwesen uneins. (3) Das Eigeninteresse des homo oeconomicus, das allen Menschen als gleicher Antrieb unterstellt wird, ist nach dem Selbstbildnis des bürgerlichen, weißen Mannes konzipiert. Und gerade indem auf der Grundlage des modernen Universalitätsanspruchs auch alle anderen Menschen das Recht haben, ihre Interessen anzumelden, kommen Differenzen zwischen Klassen, Geschlechtern und Kulturen zum Vorschein. (4) Das Universalsubjekt der volonté générale diversifiziert sich zu Kollektivsubjekten, die sich in Länder und Ethnien, Lager und Parteien spalten. (5) In der ästhetischen Theorie seit Kant über die Romantik bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts erhebt das große ästhetische Subjekt als Genie sich und seinen Führungsanspruch über die kleinen, alltäglichen Einzelnen. Ist die Positionierung als Subjekt im Universalsingular ›Mensch schlechthin‹ und im kosmopolitischen Gattungssingular Menschheit von Anfang an unmöglich, so scheitern auch die verschiedenen Versuche, den Menschen im Kollektivsingular in die Subjektposition zu erheben; die wichtigsten Kandidaten für diesen Versuch sind die Nation oder die Partei. Noch verhängnisvoller ist es, einen Einzelnen als überlebensgroßen Führer, als ›Weltgeist zu Pferde‹, in die Subjektstellung emporreiten zu lassen. Alle Operationen, die Subjektposition auf personalen, kollektiven oder individuellen Macht-, Autoritäts- und Führungsansprüchen aufzubauen, stoßen auf den erbitterten Widerstand anderer Kollektive und Individuen, die prinzipiell dieselben Aspirationen entwickeln können. Daher müssen solche Versuche auf Gewalt rekurrieren; sie führen zu Konflikten und Kriegen; sie enden blutig in Totalitarismus und Terror. Aussichtsreicher erscheinen Ansätze, die Bürde der Subjektstellung vom Menschen-Selbst auf von Menschen geschaffene Einrichtungen abzuwälzen. Unter den Bedingungen des westlichen 118

Modernisierungsprozesses entsteht kein neues, auf Wort und Bild gegründetes Glaubensgebäude, sondern auf abstrakten Zeichen und Forme(l)n, auf Zahl und Kalkül basierende Funktionssysteme. An die Stelle der Vorstellung eines ›lebendigen Gottes‹ tritt – bildlich gesprochen und grob vereinfachend – eine Maschine, genauer gesagt sind es zwei: zum einen die System-Maschine des Staatsapparats mit einer nach militärischem Vorbild organisierten Bürokratie zur Verwaltung von Menschen und Sachen; zum anderen das Maschinen-System des industriekapitalistischen Betriebs zur Produktion von Gütern am Fließband. Gegenüber dem volatilen, sterblichen Lebewesen Mensch in seiner Fragilität, Fragmentierung und Fraktionierung versprechen die leb- und todlosen Apparaturen den Vorteil größerer Zuverlässigkeit und Beständigkeit. In den Institutionen und Betrieben herrscht die Neutralität und Anonymität von Prozessen, Prozeduren und Verfahren ›ohne Ansehung der Person‹. Das bedeutet nicht nur eine Befreiung von der Härte personaler Herrschaft-Knechtschaft, sondern darüber hinaus lässt sich von der anonymen und neutralen Sachlichkeit, von Sachgesetzen und Sachzwängen auch eine Befriedung des ewigen Streits zwischen Menschen erhoffen. Die Problematik der Subjektstellung des Menschen soll in der Unterwerfung unter Bürokratie und Technokratie eine Lösung finden. Indem Menschen zu Apparatschiks, Sports›Kanonen‹ oder anderen Cyborgs mutieren, soll die Überforderung durch das »Zerbrechen der Individuation« (Nietzsche 1980: 73) an den Maschinen bewältigt werden. Die System-Maschinen und Maschinen-Systeme sind zwar »nicht nach dem Maß des Menschen gebaut« (Luhmann 1989: 258), doch werden sie vom Menschenhirn erdacht und von Menschenhand gemacht. Die von ihnen zunehmend dominierten sozialen Verhältnisse sind mit allen Macken und Mucken der Menschlichkeit behaftet. Es sind Wunsch-Maschinen im Dienst der Erfüllung menschlicher Visionen in ihrer ganzen Bandbreite, von den Träumen vom Fliegen bis zu den Alpträumen von Gewaltorgien. Es gibt indessen einen, vielleicht nur einen einzigen Wunsch, den die Maschinen nicht erfüllen können: Sie geben keine Regeln oder Gesetze für die gerechte Einrichtung der Gesellschaft und das gute Leben der Menschen miteinander. Es sind Funktionssysteme, die keine Zwecke oder Ziele kennen, keinen Sinn stiften und folglich keine Ordnung herstellen können. Die Automaten sind ›Zauber­besen‹, 119

die ohne menschliche Akteure alsbald aus den Fugen geraten und Chaos anrichten, bevor sie stehenbleiben. Abhängig von den menschlichen Akteuren sind die Produktivkräfte keineswegs neutral, sondern gleichsam pfadabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie entstehen, bestehen und stehenbleiben. Kurzum, die zum Zweck von Kontingenzbewältigung geschaffenen Systeme bleiben am Ende ihrerseits kontingent. Letztlich sind Versuche, den als Subjekt untauglichen Menschen durch von ihm geschaffene Systeme zu substituieren, ebenso zum Scheitern verurteilt wie die Projekte der Erhöhung kontingenter Kollektive oder Einzelner zum Souverän. Sei es durch die Vergöttlichung weniger, sei es durch die Verdinglichung aller, sind beide Ansätze erkauft um den hohen Preis der Knechtschaft von Menschen unter Willkürherrschaft oder Sachzwang. Beide Male wird aus dem Menschen ein subiectum im Sinne des Unterworfenen. Vor dem Hintergrund des relativen Scheiterns der Subjektwerdung des Menschen und der Probleme, die mit der unvermeidlich weiter voranschreitenden Übertragung der Subjektstellung auf die großen Handlungssysteme des Nationalstaates und der kapitalistischen Ökonomie einhergehen, stellt es eine gewisse Entlastung dar, wenn das havarierte Subjekt in dem, was vom ›alten Haus‹ (οἶκος) übrig bleibt, Unterschlupf findet. »Die Welt der ›Subjekte‹ kann nicht direkt an dieser Welt teilhaben und zieht sich in private und innere Formen des Trostes zurück.«1 Indem das Haus im Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozess seine angestammten politischen und ökonomischen Aufgaben an die beiden großen Systeme abgibt, gestaltet es sich zur modernen Privatsphäre um. Aus dem entmachteten Haus wird eine neue Welt der Menschen in ihren ›naturbelassenen‹ sozialen Nahbeziehungen. Die spezifisch moderne Sphäre des Privaten und Intimen bildet gleichsam den Kokon und einen Kordon um den Menschen als kontingentes Lebewesen herum. In dieser neuartigen Trennung zwischen den beiden Apparaten auf der einen Seite und der Privatsphäre, die auf der anderen Seite lebensweltliche Funktionen übernimmt, findet eine Depotenzierung der Subjektstellung statt – zum wechselseitigen Schutz von 1 »The world of ›subjects‹ cannot participate directly in this world and withdraws in private and interior forms of consolation« (Ferguson 2000: 193; Übers. C. K.).

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Mensch und Maschine: Die Sachbereiche von Staat und Wirtschaft werden einigermaßen vor der Willkür, dem Mutwillen und den Schwächen des menschlich-persönlichen Regiments bewahrt, während umgekehrt das menschliche Leben von den mächtigen, stampfenden und dröhnenden Maschinen wenigstens halbwegs verschont bleibt. In seiner Privatheit wird das absolute Subjekt subjektiviert, humanisiert, mit seiner ›Natur‹, das heißt der Endlichkeit der conditio humana, beinahe versöhnt. In der Verkleinerung des All-Anspruchs, des Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit umfassenden überlebensgroßen Ich auf das Maß der Einzelheit, wird die Ungeheuerlichkeit der Anmaßung der Subjektposition aufgegeben. Und doch verlieren die fünf Selbst-Prinzipien ihre Geltung nicht; im Gegenteil, in der dezentrierten, extrasozietalen Position des zum Individuum gewordenen, entmachteten Subjekts entfalten sie sich erst wirklich: (1) Aus dem Streben nach Selbst-Gewissheit wird das selbstsichere, kecke Selbst-Bewusstsein, das die Einzelnen aus der Distanz zu kritischen Beobachtern der Gesellschaft qualifiziert und zugleich auch zur Selbst-Reflexion befähigt – bis hin zu Selbst-Kritik und Selbst-Ironie. (2) Aus der Selbst-Verantwortung des Rechtssubjekts wird in der vom unmittelbaren Kampf ums Dasein entlasteten privaten Situation die innere Freiheit der individuellen Moral oder Ethik in kritischer Distanz zu religiösen Geboten ebenso wie zu gesellschaftlichen Normen und Konventionen, die auf dem eigenen Standpunkt beharrende Selbst-Gerechtigkeit des ›Gutmenschen‹. (3) Der Selbst-Ständigkeit des Unternehmers und Produzenten als Berufsmensch korrespondiert die aktive Selbst-Tätigkeit des Heimwerkers und der passive Selbst-Genuss des Fernsehers und der KonsumentInnen. Was der Produzent im harten Erwerbsleben einnimmt, darf im privaten Konsum spielend ausgegeben werden. Das Individuum mit seinem Joystick ist homo ludens. (4) Indem das Individuum, von der strengen Pflicht zu rationaler Selbst-Bestimmung entlastet, seinen Gefühlen freien Lauf lassen, seine Emotionalität in Lust und Liebe ausleben darf, wird aus Autonomie erst ›richtig‹ Freiheit; aus Selbst-Gesetzgebung wird Selbst-Entfaltung. (5) Schließlich kulminiert das Prinzip des authentischen SelbstAusdrucks und der kreativen Selbst-(Er-)Findung in der – zeitlich 121

und räumlich begrenzten – Selbst-Verwirklichung des Individuums in den vier Wänden seiner Privatsphäre. Das Individuum, das sich im Zuge des Modernisierungsprozesses mit der Situation seiner »Exklusion aus dem societalen Diskurs« (Hahn 2000: 194) abfinden muss, richtet sich in seiner »extrasozietalen« Situation (Willems/ Hahn 1999: 17) ein, indem es nach dem Muster der Exklusivitätsindividualität des Künstler-Genies seine »Exklusionsindividualität« (vgl. Hillebrandt 1999) ausgestaltet. Nach den Vorgaben der Künstler und Kunstgewerbler, die ihre Produkte auf dem Markt anbieten, statten die Privatleute ihre aparte Individualität aus und richten ihr Interieur als Spiegel ihres inneren Selbst ›geschmackvoll‹ ein. Der ironische Unterton, der sich hier in die Darstellung der Transformation der fünf Selbst-Prinzipien eingeschlichen hat, ist unangebracht. Tatsächlich ist die Entdeckung der Individualität des Individuums als Subjekt en miniature im Windschatten der großen Systeme Staat und Ökonomie eine genuine, vielleicht sogar die wichtigste Leistung der westlichen Moderne. In der Liberalität gegenüber dem kleinen Selbst in seinem Eigen-Sinn, gegenüber dem Erwerb von Privat-Eigentum und Eigen-Tun im Eigen-Heim ist der gewalttätigen Willkür der großen Diktatoren (die doch auch nur kleine Menschen sind) ebenso Einhalt geboten, wie dem unerbittlichen, aber ziel- und sinnlosen Lauf der Maschinen ein Zweck gesetzt und Sinn gegeben wird. Ein höheres Ziel als den Wohlstand und das Wohlergehen der Individuen kann die moderne Gesellschaft nicht (an)erkennen. Je mehr sich die Aussichten auf die Menschheit als universales Subjekt ihres Geschicks und ihrer Geschichte verdunkeln, je konflikthafter und gefährlicher die Kollektivsubjekte und ihre Führer auftreten, während die Apparate automatisch laufen, aber doch ohne die menschlichen Akteure alsbald zu Bruch gehen würden, desto eher scheint ausgerechnet die kleinste Einheit, das Individuum, geeignet, das »Ungetüm der Moderne« zu reiten (juggernaut of modernity; Giddens 1990: 138 f.) und sein Leben so zu führen, dass aus den private vices public benefits werden können. Die Differenz, wenn nicht überhaupt der Gegensatz zwischen den Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Systeme funktionieren, und den Pfaden, denen die Individuen scheinbar von selbst, in ihrem ›naturwüchsigen‹ Privat-Egoismus folgen, scheint faute de mieux noch am ehes122

ten geeignet, eine gewisse Harmonie im Prozess der Gesellschaft zu gewährleisten. Den Prozessen der Rationalisierung, Versachlichung und Verrechtlichung im Öffentlichen stehen im Privaten Prozesse der Sentimentalisierung, Moralisierung und Ästhetisierung gegenüber, die nicht zuletzt im notwendigen Zusammenhang zwischen Produktion und Konsumtion eine systemförmige Klammer finden. In der Ausprägung, die das Konzept des quasi universalen liberal-autonomen Einzelnen im 19. Jahrhundert erhält, ist es in zwei wichtigen Hinsichten, nämlich im Hinblick auf Klasse und Geschlecht, beschränkt. Es ist der männliche citoyen und bourgeois, der nicht zuletzt deswegen als vollgültiger Staats- und Wirtschaftsbürger politisch mitbestimmend und ökonomisch eigeninitiativunternehmerisch agieren kann, weil er in seiner Privatsphäre und namentlich durch seine Familie mit den dafür notwendigen Voraussetzungen Begabung, Bildung, Besitz und Beziehungen ausgestattet wird. Für sein Pendant, die bürgerliche Frau, bringt der Strukturwandel der Moderne eine Anpassung ihrer angestammten häuslichen Rolle an die neuen Ideale und Aufgaben der zu den System-Betrieben gegenläufigen und zugleich passförmigen, das heißt komplementären Privatsphäre mit sich. Unter den Leitideen Freiheit – Liebe – Bildung wird dieser Minderheit von Frauen eine neue Art von Kultur und Kultivierungsaufgabe zugeordnet, weil sie außerhalb des cash-nexus und jenseits der Betriebe angesiedelt sind. Im Zuge der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (Hausen 2012) findet eine Naturalisierung und Emotionalisierung, eine Ästhetisierung und Moralisierung von Weiblichkeit statt, die die Idealfrau gewissermaßen als Individuum par excellence erscheinen lässt, obwohl oder eigentlich gerade weil sie vom Status des Subjekts, von der selbstständigen Teilhabe an Staat und Wirtschaft ausgeschlossen ist. Während der in seiner privaten Existenz jenseits der Betriebe von Staat und Wirtschaft von seinen Pflichten und Aufgaben als citoyen und bourgeois entlastete bürgerliche Mann zu Hause homme – Mensch – sein, sich entfalten und sein Leben führen darf, ist die bürgerliche Frau als Hausfrau in die Privatsphäre eingeschlossen, um für das gute und schöne Leben zu sorgen. Vereinfachend gesagt, der bürgerliche Mann hat eine Privatsphäre als Refugium und Resort; die von seiner öffentlichen politischen und ökonomischen Position abhängige Frau ist femina privata, sie verkörpert die Privatsphäre, sie stellt die gesellschaftliche Ressource 123

Mensch her. Die private Sphäre erscheint als Reservat der Natur, des bloßen, nackten, kontingenten Lebens, als Resort und Refugium des Humanen in seinen höheren Werten und ist gerade in dieser Entgegensetzung zu den Mechanismen des Systems seine wichtigste Ressource. Es liegt nun auf der Hand, dass das Geschlechtsprivileg des bürgerlichen self-made man zugleich ein Klassenprivileg darstellt. Auf der Voraussetzung von Besitz, Vermögen oder Einkommen basierend, hat der Kompromiss zwischen Maschinen-System/SystemMaschine und privater Selbstentfaltung für Männer und Frauen unterhalb der bürgerlichen Klasse und außerhalb der bürgerlichen Kultur kaum Gültigkeit. Aber trotz der berechtigten Kritik, die vonseiten der Frauen- und Arbeiterbewegung an diesem Konzept des privat-egoistischen Individualismus geübt worden ist und noch geübt wird, ist es grosso modo leitbildgebend und fast alternativlos für alle Geschlechter und Klassen der modernen Gesellschaft geworden. Seit den 1960er Jahren finden weiter gehende Individualisierungsprozesse statt, die den Individualismus demokratisieren, so dass die Einschränkungen im Hinblick auf Klasse und Geschlecht zwar nicht aufgehoben, aber nivelliert werden.

3. Von der Zeit des Weltbildes zur Zeit des Selfies oder: Vom Individuum zum Singulum Virginia Woolf hat einen Gestaltwandel des menschlichen Akteurs, den sie gegen Ende des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beobachtete, ebenso dramatisch wie poetisch auf den Punkt gebracht: »in or about December, 1910, human character changed« (Woolf 1967: 320). Mit Woolfs Kühnheit ließe sich behaupten: in or about January, 1984, human character changed again – »Was wir heute erleben, ist, dass dem modernen Individualismus als dem Ethos selbstbestimmter Lebensführung vollends die Substanz entzogen wird. Wir sehen die Endmoräne des individualistischen Zeitalters und des Zeitalters der Individualisierung« (Müller 2014: 18). Müllers ungewöhnliches Bild von der »Endmoräne« ist gut gewählt. Denn das Prinzip Selbst endet mit dem individualistischen Zeitalter genauso wenig, wie es im Übergang vom großen Subjekt zum kleinen Individuum auf124

gehört hat. Im Gegenteil, es setzt sich fort und scheint abermals eine Steigerung, vielleicht seine definitive Übersteigerung zu finden – so wie der Gletscher aus lebendigem Wasser und gefrorenem Eis mit der Endmoräne einen Wall aus Gestein aufhäuft. Wären Neologismen nicht per se problematisch, so wäre es sinnvoll, dem abermaligen Wandel des menschlichen Charakters terminologisch Rechnung zu tragen. Der einzelne Mensch, der im Geröll der Endmoräne des Individualisierungsprozesses auftritt wie ein steinerner Gast, könnte Singulum genannt werden (vgl. Reckwitz 2017). Wie in der Transformation des Menschen vom Subjekt zum Individuum gehen die Bestimmungen des Selbst nicht verloren, sondern sie gehen erneut in einen anderen ›Aggregatzustand‹ über. Die fünf Grundstellungen der Subjektposition mitsamt den ins Individuelle transponierten Bestimmungen kumulieren im Singulum. Aus der Addition resultiert der Eindruck einer weiteren Steigerung. Die Bestimmungen des Selbst als Subjekt plus Individuum rekapituliert das Singulum in umgekehrter Reihenfolge: (5) Von Anfang an tendiert das Prinzip Selbst ins Ästhetische. Wenn der Mensch sich als Subjekt aufstellt und ins Zentrum rückt, so tritt er nicht als Schöpfer, sondern als Beobachter und Weltanschauer auf die Mittelachse der Zentralperspektive. Im fortschreitenden Individualisierungsprozess wird das Prinzip Selbst in der Authentizität und Expressivität des kreativen Künstlers wirksam. Diesem korrespondiert die Selbstfindung, Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung der ästhetisch gebildeten Rezipienten, die ihre Privatsphäre als Spiegel ihrer Persönlichkeit entwerfen (lassen). Für das Singulum werden diese Vorgaben zum Projekt, »aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen« (Foucault 1984; vgl. Klinger 2004: 228). Das Singulum ist berechtigt, oder vielmehr: es wird dazu aufgefordert, sich selbst zu formen, zu stilisieren, sein Ich, das im Universalen oder Kollektiven immer weniger (In-)Halt findet, in Form und Stil zu suchen, im self-styling einen exklusiven oder alternativen life-style zu entwickeln, sein Leben als (Erfolgs-) Geschichte zu erzählen und to build the body. Das ästhetische Prinzip wird selbstreferenziell: zum Selbst-Entwurf einer festen Ich-Identität. Tatsächlich ist das ein weiterer Wendepunkt im Konzept des Menschen als Subjekt, das ursprünglich mit der Idee der Emanzipation von vorgesetzten Autoritäten verbunden war. Während sich diese Idee im Fortgang des Subjektivierungs- und Individualisie125

rungsprozesses noch zu steigern vermag, nämlich zur Vorstellung von der Freiheit des extrasozietalen homme von der Gesellschaft in seiner Freizeit, wird das Singulum auf seine einmalige, unverwechselbare Identität mit »Lichtbild« in der carte d’identité, im Personalausweis, festgelegt und nummeriert. Beim Singulum verschwimmen die zuvor nach Lebenssphären getrennten privaten und öffentlichen Motive: Geht es einerseits darum, besser dazustehen, das heißt, als Konsumentin oder Konsument den eigenen gesellschaftlichen Status zu demonstrieren oder den des male breadwinner zu repräsentieren, so geht es für das Selfie andererseits gleichzeitig darum, sich auf dem Markt besser darzustellen und zu verkaufen als andere. Das Exklusivitätssubjekt Künstler (Genie) als männlicher Produzent und die bürgerliche Exklusionsindividualität der in erster Linie als weiblich adressierten Konsumentin fließen ineinander. Dabei konvergieren die traditionell-modernen Geschlechterrollen und noch darüber hinaus die Stellungen von Subjekt und Objekt. Das neoliberale Businessund Management-Konzept des ›Alleinstellungsmerkmals‹ verlangt Singularität vom Produkt (Objekt) genauso wie vom Produzenten (Subjekt). Beim Singulum wird die Individualität zum Produkt, das es selbst ist: self-branding meint, sei besonders – oder du wirst ausgesondert: »Denk an mein Mantra: Sei anders oder stirb.«2 Das verlängert die bereits bekannte Drohung ›publish or perish‹, insofern es nicht mehr nur um eine bestimmte Sachleistung, die Veröffentlichung eines Textes, die Anmeldung eines Patents geht, sondern um das Selbst-Sein in einer Art verallgemeinertem, zur Norm werdendem und immer strenger industriegenormt verpacktem E ­ xhibitionismus. In der neuen Lebenskunstkultur fallen im Schaffensprozess Subjekt/Künstler und Objekt/Werk in eins. Nicht mehr nur die Arbeitskraft, die Produktivität, sondern der Produzent als ganzer, mit Haut und Haar, mit Leib und Seele, wird Ware, und zwar selbsttätig; er trägt sich anscheinend von selbst und von sich aus zu Markte, ohne dass irgendwo die Knute eines Herrn oder ein Zuhälter zu sehen wäre. (4) Das Prinzip Selbst soll als Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung (Autonomie) in Debatte und Deliberation mit anderen Standpunkten im rechtsstaatlich-demokratischen Prozess 2 »Remember my mantra: distinct … or extinct.«, Tom Peters 〈https://www.brai nyquote.com/authors/tom_peters〉; vgl. Edger/Hughes 2016.

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die Grundlage des Gemeinwesens bilden; aber erst im – von den Mühen der nur in Grenzen möglichen Verständigung mit anderen entlasteten – Refugium des Privaten kann es sich zu voller SelbstVerwirklichung entfalten, indem es über Vernunft und Rationalität des Subjekts hinaus auch für Körper und Seele des Individuums Geltung beanspruchen darf. Für das Singulum werden Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zur Wahlpflicht, zum permanenten Entscheidungsund Abstimmungszwang. Voten (like – not like) müssen abgegeben und als die eigene Meinung in eine Öffentlichkeit hinausgetwittert werden, die eben dadurch den Charakter des Öffentlichen verliert, in der das Selbst sich präsentieren oder andere repräsentieren und sich einer öffentlichen Meinungsbildung stellen müsste. (3) Das Prinzip Selbst bildet als Selbstständigkeit des freien Unternehmers und im Nachrang auch des freien Arbeiters und der Arbeiterin den Kern der Ideologie der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Ihr Pendant findet sie im freien Spiel, in der Selbstbildung und Selbsttätigkeit des konsumtiven Privatlebens; ihre Ressource hat sie in der nicht unmittelbar in den cash-nexus integrierten sogenannten unbezahlten häuslichen Reproduktionsarbeit. Das Singulum als Humankapital-Besitzer verbindet die Rollen des souveränen Arbeitskraft-Unternehmers, des prekären Kreativarbeiters und der eigenen Reproduzentin (Versorgung und Vorsorge) in Personalunion in einer Ich-AG, im Selbst-Betrieb des selfventure capitalism und in der Selbst-Sorge des Lebensführers (vgl. Foucault 1986). In diesem Geschäft verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit ebenso wie die zwischen Produktion und Reproduktion. Dabei nähert sich das Singulum dem neutralen Status, den das Subjekt und das Individuum grammatisch innehaben, weiter an. Wenigstens oberflächlich lässt sich das Singulum nicht mehr nach Klasse oder Geschlecht differenzieren. Unter dem Vorzeichen allseitig entfesselter Produktivkräfte gibt es weder die Position des Kapitalisten noch die des Proletariers, noch die Differenz zwischen männlich konnotierter Produktion und weiblich konnotierter Reproduktion. Mit der Nivellierung der Grenzen zwischen Produktion und Konsumtion, die in der Bezeichnung des Singulums als Prosumenten (prosumer) Ausdruck findet, schwindet auch die Unterscheidung zwischen Verausgabung und Erholung, Kreativität 127

und Rekreation, Wachen und Schlafen. Der Stress – bis hin zur Erschöpfung – resultiert weniger daraus, dass das Singulum rund um die Uhr bis zum Umfallen arbeiten müsste – das mussten Menschen in anderen gesellschaftlichen Konstellationen auch und unter größeren Gefahren für Leib und Leben –, als vielmehr daraus, dass Berufs-, Geschäfts- und Privatleben unter derselben Art von Druck auf Leistung und unter Konkurrenzzwang stehen. Das Singulum muss seinen Genuss optimieren, sich fast zu Tode amüsieren und ›wellnessen‹ mit dem Ziel, neue Energie aufzubauen, seine ›Batterien‹ aufzuladen. Konsum, Muße und Genuss in der Freizeit des Privatlebens mutieren zur Investition in die marketability des Selbstproduzenten. Die Freiheit wird zum Zwang ständiger Verbesserung des Produkts, zum Selbstzwang zur Selbstoptimierung des Produzenten – wobei, von einem affective turn getrieben, Rationalität und Emotionalität, Kalkül und Gefühl, Berechnung und Sentimentalität sich ständig in- und umeinander drehen, wenn knallhart kalkulierende Selbstgeschäftsleute die Orakel befragen und neben den Börsenberichten das Tageshoroskop studieren. (2) Das Prinzip Selbst, das als Selbst-Verantwortung das Rechtssubjekt mündig und straffähig macht und in der privaten Gewissensethik mit dem Individuum streng ins Gericht geht, verengt und steigert sich für das Singulum. Vollkommen frei auf sich gestellt, mit allen Insignien von Marktmacht und einem mächtigen Maschinenpark ausgestattet, gibt es für das Singulum nichts und niemanden, keinen Gott oder kein Schicksal, keine Gesellschaft oder Gemeinschaft, um ihm die Verantwortung für sich abzunehmen oder zu erleichtern. Für sein eventuelles, permanent drohendes Versagen oder Scheitern ist das Singulum allein verantwortlich. Zugleich mit der Lizenz zur Entfaltung, der Aufforderung zur Entfesselung der Selbst-Tätigkeit wird der Akteurin die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Handelns in höherem Maße aufgebürdet als je zuvor: Wer in diesem allseits freiheitlichen, das Leben feiernden, alle Energien entfesselnden und Talente freisetzenden System nicht reüssiert, hat, nein, der hat nicht nur, sondern ist ›selbst schuld‹. Selbst-Schuld ist die sechste Figur, auf welche die fünf großen Selbstprinzipien der Moderne zusteuern. (1) Das erste und letzte Selbst-Prinzip, das Selbst-Bewusstsein des Ich-denke und Ich-will im Streben nach Selbstgewissheit und 128

Selbstermächtigung (empowerment) bis hin zur Möglichkeit der Dis­ tanzierung davon in privater Reflexion und Selbstreflexion, bildet den Mittelpunkt des Projekts der westlichen Moderne. Für das Singulum wird das cogito ergo sum zu video ergo sum. Im Selfie fällt die absolute Selbst-Präsenz mit Selbst-Objektivierung in eins, wird die Selbst-Reflexion zum Reflex. Das Prinzip Selbst triumphiert im Selbst-Auslöser, den das Singulum in seinem Smartphone nicht nur hat, sondern zu dem es selbst wird – als ästhetisch-apparatives Surrogat der causa sui zwischen eye and I, dem Augen-Ich des Gottsuchers und Weltanschauers. Braucht bereits die moderne, liberale Gesellschaft das Individuum, qui marche tout seul, so braucht das neoliberale, postdemokratische, ultramoderne System erst recht ein Einzelnes, qui marche, das heißt, das läuft und funktioniert, ein Perpetuum mobile, einen sich ständig bewegenden, absoluten Selbstbeweger – der Uhrmacher-Gott als Rädchen (subiectum) im Getriebe. Vielleicht kommt beim Selfie am Ende des Weges zum Vorschein, was schon von Anfang an den Hintergrund bildete, nämlich […] dass die Subjektivität (die den Kern des Humanismus ausmacht) ein Effekt des perspektivischen Dispositivs ist, denn der Fluchtpunkt hat in manchen Perspektive-Traktaten als ›Subjektpunkt‹ firmieren können, und in Bezug auf die Projektionsfläche, die das Gemälde ist, besteht zwischen Fluchtpunkt und Blickpunkt ein Symmetrieverhältnis. Der Blickpunkt auf die Welt, die Objektivierung sind nicht das Werk einer Kontrolle durch ein bereits konstituiertes Subjekt (der Mensch Albertis, das cartesianische ›Ich‹ im klassischen Sinn), sondern die Konsequenz des Apparats selbst. In Gestalt des Fluchtpunkts […] ist das Subjekt bereits im Gemälde, bevor es als Blickpunkt aus dem Gemälde hinausprojiziert wird. Es ist ein apparatbedingter Effekt. (Déotte 2006: 22 f.)

Am Ende sieht das Singulum im Selfie kein Bild von der Welt, sondern sein eigenes Spiegelbild im Blitzlicht der Selbst-Verblendung. Wenn also bereits das cogito eigentlich video war, wenn die Subjektposition des Selbst ursprünglich und ursächlich durch Technologie getrieben wurde, so gilt für das Singulum erst recht, dass es »ein apparatbedingter Effekt« ist. Also hätte sich nicht eigentlich der (ewig) menschliche Charakter verändert, sondern die Apparate, deren er sich bedient, sind präzisere, noch enger auf das Ich und sein Auge bezogene Maschinen geworden. Dahinter stehen gewaltige gesellschaftliche Triebfedern: Seit den 129

1970er Jahren rollt eine neue Welle der industriellen Revolution in den Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnologien sowie in der Reproduktionstechnologie und Medizin ganz nah an Seele und Leib des Menschen heran, indem sie die Produktion, Reproduktion und Distribution von Zeichen (σῆμα) und Körpern (σῶμα) betrifft und die Bedingungen von Kontingenz, das RaumZeit-Gefüge nachhaltig verändert. In engem Zusammenhang mit den grundstürzenden technologischen Innovationen findet ein Wechsel in der Stellung des hegemonialen Handlungssystems statt. Unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus übernimmt die Marktwirtschaft in den 1980er Jahren die Rolle des gesellschaftlichen Leitsystems, wie sie die kapitalistische Ökonomie in der Phase des Hochliberalismus bereits einmal innehatte, um sie über weite ­Strecken des 20. Jahrhunderts, in der Zeit vom Imperialismus bis zum Abbau des Wohlfahrtsstaates in den 1970er Jahren, an die Politik abgeben zu müssen. Anders als das Regime hegemonialer Politik im Zeichen des Nationalstaates zielt die zur Vorherrschaft gelangende neoliberale Ökonomie nicht auf Ausbeutung durch strenge Kontrolle, nicht auf Unterdrückung und à la limite Eliminierung von Leben. Auf der Basis weiter fortgeschrittener technologischer und administrativer Kontingenzbewältigung strebt die konsum- und dienstleistungsorientierte Marktwirtschaft nach noch systema­ tischerer Ausbeutung auf dem entgegengesetzten Weg, nämlich durch Befreiung und Entfaltung, ja geradezu Entfesselung und Exponierung des kontingenten Lebens: »Der Markt verlangt […] eine gewisse Anstrengung zur Enthemmung seiner Subjekte, […] sich der Kraft ihrer Begierden und Interessen [zu] überlassen« (Vogl 2010: 46). Der Fortschritt von der Subjektstellung der Menschheit hin zur Subjektivität der zu Individuen sozialisierten Akteure, wie er in den Individualisierungsprozessen der letzten Jahrzehnte Breitenwirksamkeit erlangt hat, wird nun zur nahezu vollständigen Befreiung von den letzten Resten sozialer Bindungen. Als Singulum ist der, die, das Einzelne wenigstens tendenziell klassen- und geschlechtslos geworden und soll ohne soziale Vermittlungsinstanzen an die staatliche Betriebsmaschinerie und den privatkapitalistischen Maschinenbetrieb angeschlossen werden. Anders als auf früheren Etappen der industriellen Entwicklung frisst die jüngste technologische Revolution ihre Kinder nicht, sondern füttert sie. Denn nach the birth 130

of the cool ist weniger die Anpassung von Lebewesen an die leb- und todlosen Mechanismen erforderlich; vielmehr passen sich umgekehrt die life-sciences & technologies im Zusammenschluss von Mikroelektronik und Mikrobiologie unter dem Vorzeichen der neoliberalen Spaßökonomie dem Leben an. Die Maschinen dringen in Körper und Seele ein, um das Leben lebendiger zu machen, es unendlich zu verlängern, zu verbessern, zu verschönern – enhancement ist angesagt. Die epochale Selbst-Überschätzung, die mit der Selbst-Aufstellung des Menschen zum Subjekt beginnt, wird in den Prozessen der Subjektivierung, Individualisierung und Singularisierung zwar transformiert, die Subjektposition wird verkleinert, aber dennoch wird sie nicht grundsätzlich revidiert, im Gegenteil – sie verhärtet sich. Das neoliberal reformierte System bedarf des absolut Einzelnen wie Hegels Staat des Monarchen: als Punkt auf dem i (Hegel 1820/1980, § 280 Zusatz). Als Ich-i-Punkt-Singulum ist der Kunde König – der Textildiscounter KiK hat das Motto des Konsumkapitalismus zu seinem Marken-Namen gemacht.

4. Krankheit als Metapher: Cocooning und Hikikomori als Sozialpathologien des Singulums? Dieser Beitrag versucht den Weg nachzuzeichnen, der mit der Selbst-Aufstellung des Menschen als Subjekt an der Schwelle der westlichen Moderne beginnt. Bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts tritt das Selbst in einen Prozess der Subjektivierung ein, in dessen Folge das als Herr seines Geschicks und seiner Geschichte untaugliche überlebensgroße Subjekt den objektiven Apparaten, das heißt der politischen System-Maschinerie staatlicher Verwaltung (Bürokratie) und dem ökonomischen Maschinen-System kapitalistischer Produktion (Industrie), die neutrale, anonyme Herrschaft der Sachzwänge überlässt. Im Gegenzug dürfen die auf diese Weise entlasteten Menschen in der relativen Freiheit der Privatsphäre ihre Individualität entwickeln und sich selbst verwirklichen, während sie gleichzeitig den von ihnen geschaffenen Handlungssystemen von Staat und Wirtschaft als Ressource dienen, ihren Betrieb führen, ihre Maschinen betätigen und ihre Produkte konsumieren müssen. Dabei ist gerade die Gegenläufigkeit der Gesetze, nach denen die mechanischen und die menschlichen Teile der Gesellschaft 131

funktionieren, die Bedingung für ihren Zusammenhang. Mit dem Eintritt in ein drittes Stadium, in dem das Individuum zum Singulum mutiert, scheinen einerseits gravierende Mängel dieser Konstellation, namentlich die beträchtlichen Asymmetrien im Hinblick auf Klasse und Geschlecht, wenn schon nicht behoben, so doch gemildert zu werden. Andererseits resultieren aus der Schwächung der problematischen sozialen Lage neue Probleme: Während Individuen im Prozess der Singularisierung weiter an Freiheit von personalen Bindungen gewinnen, finden sie sich zugleich enger an die Mechanismen der Systeme angeschlossen als je zuvor. Für den letzten Teil des Essays ergeben sich daraus zwei miteinander verbundene Fragen. Zum einen, ob aus der Selbst-Aufstellung des Menschen – die in der Perspektive der antiken und christlichen Denktraditionen als Selbst-Überhebung zu verurteilen gewesen wäre und im Horizont des säkularen modernen Denkens zwar kein Vergehen oder Verfehlen, aber doch eine Selbst-Überforderung darstellt – in weiterer Folge eine Pathologie der Gesellschaft und möglicherweise à la longue die Erschöpfung des Subjekt-Paradigmas resultieren könnte. Zum anderen stellt sich die Frage, ob infolge der Transformationsprozesse vom Subjekt übers Individuum zum Singulum aus der Selbst-Überforderung des Ganzen auf eine Überforderung von Einzelnen geschlossen werden darf, so dass am Ende einige oder viele, à la limite alle Individuen erschöpft zurückbleiben würden. Kurz zusammengefasst, fragt es sich, ob die moderne Gesellschaft als ganze krank sein beziehungsweise ob sie eine mehr oder weniger große Anzahl von Menschen krank machen könnte. Die Vorstellung der Möglichkeit einer insgesamt kranken Gesellschaft oder von bestimmten Sozialpathologien, die auf das Befinden von Individuen Einfluss nehmen könnten, entsteht überhaupt erst mit den modernen empirischen Wissenschaften und ist selbst Ausdruck oder – um terminologisch näher zu bleiben – ›Symptom‹ der Moderne und ihrer Wendung auf das Selbst. Seit dem 19. Jahrhundert werden verschiedene gesellschaftlich induzierte Pathologien zur Diskussion gestellt. Die Reihe reicht von der Hysterie über die Neurasthenie zur Anorexie, von der ›Volkskrankheit‹ Depression zum elitären Burn-out. Die Krankheitsbilder wechseln, aber der Rekurs auf das Konzept Krankheit bleibt konstant. Im Folgenden soll ein Krankheitsdiskurs erörtert werden, der erst neuerdings aufgekommen ist und an dem die Figur des Sin132

gulums als Symptomträger pointiert in Erscheinung tritt. Unter Bezeichnungen wie Hikikomori oder Cocooning werden seit einigen Jahren neue Formen extremer Vereinzelung, ja von Verinselung thematisiert. Die meist jugendlichen ›Betroffenen‹ ziehen sich vor den Erfordernissen der Realität im Allgemeinen (dem Erwachsenwerden) oder vor bestimmten Anforderungen der Gesellschaft nicht nur periodisch zur Erholung in eine Privatsphäre zurück, sondern die nun so genannten post-modern hermits retirieren noch weiter: Sie kappen auch die privaten und intimen Bindungen und kapseln sich langfristig innerhalb des Eigen-Heims der Eltern im EinzelZimmer ab. Das Spektrum der Phänomene, die von der Forschung als Ursachen oder Auslöser in Betracht gezogen werden, ist breit. In Japan hat die spezifische Sozialpathologie des Singulums den Namen Hikikomori erhalten und erfährt dort besondere wissenschaftliche, publizistische und politische Aufmerksamkeit, denn immerhin sollen bis zu einer Million Menschen davon betroffen sein. Die japanische Forschung macht die in den 1990er Jahren auf sehr hohem Niveau eingetretene und inzwischen jahrzehntelang andauernde Stagnation der gesamten Wirtschaft und Politik des Landes für die Hoffnungslosigkeit der jüngeren Generation verantwortlich. Ferner stehen das rigide japanische Bildungs- und Schulsystem sowie besonders ausgeprägte Formen der Mutterbindung (amae) unter Verdacht. Nun verbinden sich aber auch in anderen avancierten und reichen Industrieländern schwindende sozioökonomische Fortschritts- und Wachstumserwartungen und, daraus resultierend, enttäuschte individuelle Karrierehoffnungen mit wachsendem Konkurrenz- und Leistungsdruck auf dem Ausbildungssektor und Arbeitsmarkt. Und auch in diesen Ländern sind die spät- oder postpatriarchalen familialen Verhältnisse von weiblicher beziehungsweise mütterlicher Dominanz geprägt (in den USA wurde dafür schon vor langer Zeit das Label momism gefunden). Daher ist es nicht überraschend, dass ähnliche Phänomene, wie sie in Japan als Hikikomori diagnostiziert werden, auch in anderen Ländern zu beobachten sind. Die unter dem trendigen Namen Faith Popcorn firmierende US-amerikanische Trendforscherin hat bereits in den 1980er Jahren einen Trend zum Cocooning ausgemacht, der bis heute anhält. Ob das Rückzugsphänomen in dieser Gestalt in die Nähe der seit Langem erhobenen Forderung nach Rückkehr 133

zu family values tritt, sei dahingestellt; jedenfalls trägt diese Art der solipsistischen Retirade etwas gemütlichere und weniger pathologische Züge. Das Durchgangsstadium des Einspinnens in einen Kokon lässt sich werbe- und konsumstrategisch anders anzielen (zum Beispiel neuerdings dänisch als »hygge«) als das Krankheitsbild Hikikomori, das mit dem Asperger-Syndrom verbunden und in die Nähe von Autismus gerückt, dafür aber mit dem Nimbus von Hochintelligenz in Form von »Inselbegabung« umgeben wird (»Nerds«). Nicht nur wissenschaftliche, sondern auch literarische und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema sind aus verschiedenen Ländern bekannt (in Japan beispielsweise Mangas). In Deutschland hat ein junger Autor, Kevin Kuhn, für seinen Debütroman Hikikomori als Titel gewählt (Kuhn 2012). Damit kehrt die Frage nach möglichen Verbindungen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, dem Leiden an der Welt und dem individuellen Leid an jenen Ort zurück, an dem diese Suche seit Goethes Leiden des jungen Werthers am Beginn des westlichen Modernisierungsprozesses ihren locus classicus gefunden hat: in den Roman. Kuhn erzählt die – nach rund 200 Seiten mit dem mysteriösen Verschwinden des Protagonisten endende – Geschichte des Rückzugs eines Jungen in sein Zimmer in der elterlichen Wohnung in der Nähe der Einkaufsstraße am Popperbrunnen3 in einer nicht namentlich genannten deutschen Stadt. Die Erzählung beginnt mit der Kränkung, die Till Tegetmeyer erleidet, weil er nicht zum Abitur zugelassen wird, also mit einer Frustration im Schulsystem, wie sie als Ursache oder Auslöser der Krankheit Hikikomori genannt wird. In dem »blauen Brief« verlangt die Klassenlehrerin, der schwierige Schüler solle »sein Ich neu orientieren« (Kuhn 2012: 14). Trotz der Empörung über die »ungerechte« Entscheidung der Lehrerin sind sich alle Angehörigen und Freunde einig, dass Till nicht etwa eine Phase der Erholung zur Vorbereitung auf eine Nachholungsprüfung brauche, sondern eine »Auszeit«4 (vgl. ebd.: 16, 41), 3 Es darf offenbleiben, ob der studierte Philosoph Kuhn dem Ort der Handlung absichtlich den Namen des Autors der Schrift Die offene Gesellschaft und ihre Feinde gegeben hat. 4 Die beste Definition von Auszeit gibt die »Selbst-Akademie«, die betreute Auszeiten als Produkt auf dem Internet-Markt anbietet. »Das Wort Auszeit kennen viele Menschen nur als Timeout vom Sport, wenn man ein Spiel unterbricht, um neue

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um den Auftrag zu erfüllen, in sich sein besonderes, einzigartiges Selbst zu entdecken. Die Entwicklung der Individualität ist die Bedingung für die moderne adulte Lebensführung, und darüber hinaus ist die Herausbildung von Singularität, von »Inselbegabung«, die Grundlage des neoliberalen Humankapitals und seiner »Exzellenz«. Jedes Kind hat Talente, die es unter Beweis stellen muss. Besonders Tills Mutter Karola ist überzeugt von dieser Mission und der einmaligen, quasi genialen Begabung ihres Sohnes: »Du weißt, in dir steckt etwas Besonderes, etwas Einzigartiges, du weißt, das nicht jeder hat. Dies zu fördern, ist unser Anliegen, ist uns wichtiger als irgendwelche Leistungsnachweise« (ebd.: 15). Auch Till ist überzeugt: »Es ist etwas in mir, das Raum braucht, einen großen, etwas, das nie in vorgefertigte Boxen passen wird. Und ich muss es sein, der diesen Raum erschafft … ich allein« (ebd.: 29). Dieser Gedanke ist der eines Klassikers aus der Epoche der Selbst-Aufstellung des Menschen-Subjekts: Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild […] zusammenstellt. Alles außer uns ist nur Element; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns […] dargestellt haben. (Goethe 1988: 405)

Der junge Till steht in dieser Tradition des Subjekt- und Subjektivierungsprinzips (5): des selbstschöpferischen, kreativen SelbstAusdrucks des Ausnahme-Subjekts Künstler und der leicht resignativen, aber entlastenden, verkleinernden Wendung, die das Konzept auf der Stufe der Subjektivierung im Verlauf des 19. JahrSpielzüge und Strategien mit den Mitspielern zu besprechen, oder einen Spieler austauscht. Die Auszeit, die man sich persönlich nimmt oder gibt, hat im Grunde eine ähnliche Bedeutung und Funktion: Man unterbricht das laufende Spiel und bespricht neue Strategien mit einem Coach, der viele Spiele gespielt hat, die klassischen Spielzüge und auch die typischen Mitspieler kennt. Eine betreute Auszeit verhilft einem wieder zu sich selbst zu kommen, klar zu sehen und seine Kraft zu erneuern, damit sie im Anschluss wieder zielgerichtet eingesetzt werden kann«, 〈http://www.selbstakademie.org/betreute-auszeit-nehmen〉, letzter Zugriff am 28. 02. 2018.

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hunderts auf dem Weg ins bürgerliche Interieur genommen hat: »Man muss nur die Tür hinter sich zuziehen, und schon ist man auf einer Schwelle zu einer anderen Welt. Zu der Welt, die man in sich trägt, die von der Außenwelt unterdrückt wurde …« (Kuhn 2012: 133). In Kuhns Darstellung ist evident, dass Till mit seinem Entschluss zum Rückzug ins Kinderzimmer das Individualitätsbeziehungsweise Singularitätsgebot der Gesellschaft im Allgemeinen erfüllt und im Besonderen die Forderungen seiner in dieser Gesellschaft erfolgreichen spätbürgerlichen Familie, die sich solche Extravaganzen ökonomisch leisten kann – genauer gesagt, die ihren Wohlstand der Tatsache verdankt, ebendiesem Konzept zu folgen. Vater Oskar verdient ein Vermögen als plastischer Chirurg, der die individuellen Züge seiner Patientinnen, den unverwechselbaren »kantigen« Charakter, durch operative Eingriffe zum Vorschein bringen will. Das Raumschaffungsprojekt, in dem Till seine klare CharakterKante zeigen, sich zum Singulum bilden soll und will, beginnt mit der Entleerung seines Zimmers. Mit dem Satz: »Möbel sind überbewertet« (ebd.: 10) geht der brave Rebell in die von ihm erwartete Opposition gegen das bürgerliche Interieur des 19. Jahrhunderts, das Walter Benjamin »wohnsüchtig« genannt hat (Benjamin 1983: 292). Später wird Till sein Verdikt gegen die Möbel erweitern: »unsere Körper sind überbewertet, längst aus der Mode« (Kuhn 2012: 112). Die wenigen Objekte, die an den Wänden des leeren Zimmers hängen bleiben, zählt der Autor auf: der Flachbildschirm, das Bücherregal und eine gerahmte Kohlezeichnung (ebd.: 10) – das Porträt von Till, das seine Freundin Kim skizziert hat und das seine Mutter in Anerkennung des besonderen künstlerischen Talents des Mädchens rahmen ließ. Im weiteren Verlauf der Handlung wird Till einen von ihm erstellten screenshot von Kim neben diese Zeichnung hängen (ebd.: 26); das Bücherregal samt Inhalt wird er hin­auswerfen (ebd.: 69). Dagegen wird der Flachbildschirm später durch einen neuen Rechner unterstützt (ebd.: 150), mit dem für Till die eigentliche Arbeit der Selbstwerdung und Weltbildung beginnt. Sie wird mit dem Ausfall der IT-Anlage infolge der unterbrochenen Stromversorgung seines Zimmers am Schluss des Romans enden. Nachdem Till sich in der ersten Zeit seines Rückzugs mit dümmlichen Kriegs-Videospielen wie Medal of Honor oder EGO-Shooter (vgl. ebd.: 131 u. a.) vergnügt hat, die allesamt auf den militaristi136

schen Hintergrund der Singularisierung hinweisen, erreichen seine Bemühungen um Kreativität mit der Installation von Mine­craft eine neue Dimension:5 Dieses ebenfalls auf die Ego-Perspektive angelegte Spiel liefert dem homo ludens Goethes »zufällige Naturmassen« in »würfelförmigen Blöcken von einem virtuellen Meter Seitenlänge«. Ab Version 1.7.9 ist das virtuelle Gestell zwar »auf einen Rahmen von 60 Millionen Blöcken Breite begrenzt, […] man kann die Welt aber trotzdem als unendlich ansehen« (vgl. Wikipedia: Minecraft 2018). Diesen unendlichen Raum mit unbegrenzten Mengen von virtuell »vorgefertigten Boxen« nutzt der junge Gott, um daraus »in weniger als sieben Tagen« (Kuhn 2012: 152) ein vermeintlich »in seinem Geiste entsprungenes Urbild« (Goethe 1988: 405) zusammenzustellen. Seine urtümliche Welt tauft er auf den Namen 0. Es ist eine Art Paradies, in dessen Mitte sich ein einzelner Brokkoli6-Baum erhebt wie die Weltesche in der Mythologie der Germanen (Kuhn 2012: 153). Was Till erfindet und erschafft, entspricht den Vorgaben des Spieleherstellers, der sein Produkt in verschiedenen Versionen über 144 Millionen Mal verkauft haben soll: Das Hauptaugenmerk liegt auf der Erkundung der von Höhlen und Dungeons durchzogenen Spielwelt sowie dem Bau eigener Gebäude und Vorrichtungen. Der Spieler kann Rohstoffe abbauen (»Mine«), diese zu anderen Gegenständen weiterverarbeiten (»Craft«) und gegen Monster kämpfen […]. Das begehbare Terrain besteht aus Bergen, Wäldern, Meeren, Ebenen und Höhlen. Die Welt ist bislang in 15 verschiedene Biome unterteilt, die von Wüsten über Ozeane und Urwälder bis zu Schneefeldern reichen. Das Spiel besitzt einen zwanzigminütigen Tag-Nacht-Rhythmus. Dem Spieler begegnen unterschiedliche Nicht-Spieler-Charaktere wie Tiere, Dorfbewohner und Monster. (Wikipedia: Minecraft 2018)

Ganz ohne Möbel, allein durch die schöpferische Kraft der neuesten Kommunikationstechnologien trifft Tills Welt die Definition der »Phantasmagorien des bürgerlichen Interieurs«, die Walter Benjamin im Passagen-Werk in drei Sätzen zusammenfasst: »Es [das Interieur, C. K.] stellt für den Privatmann das Universum dar. In 5 Meine Kenntnisse über Minecraft stammen aus dem Internet (Wikipedia: Mine­ craft 2018). 6 Ausgerechnet Brokkoli – die erste neuerdings patentierte Pflanze: vgl. 〈https:// www.agrarheute.com/pflanze/europaeisches-patentamt-erlaubt-patent-brokko li-445501〉, letzter Zugriff am 28. 02. 2018.

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ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater« (Benjamin 1983: 52). In Benjamins Erinnerungen an die eigene Berliner Kindheit um Neunzehnhundert erscheint der erwachsene Privatmann als das Kind im Kokon des Kinderzimmers. Hier stellt Benjamin die Verbindung zwischen dem Cocooning, den Herzwurzeln der Innerlichkeit auf der Suche nach Ferne und Vergangenheit im Welttheater, und den technologischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts klar heraus. Es ist das Gaslicht: In den »Laterna-magica-Apparaten der bürgerlichen Kinderzimmer« erzeugt es Fernweh und beleuchtet zugleich die vertrauten häuslichen Tätigkeiten des Kindes, die Schularbeiten, die Hausaufgaben. Das sonderbare Gefühl, dass die ferne Welt nicht immer fremd und daß die Sehnsucht […] bisweilen jene lindere nach einer Rückkehr ins Zuhause war: Das […] ist vielleicht das Werk des Gaslichts gewesen, das so sanft auf alles fiel. Und wenn es regnete … trat [ich] ins Innere und fand nun dort in Fjorden und auf Kokospalmen dasselbe Licht, das abends bei den Schularbeiten mir das Pult erhellte. (Benjamin 1980: 240)

Andernorts heißt es: »Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite, sondern ins Innere führt, so lagen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, Tromsö und Transvaal in meinem Innern« (ebd.: 275). An einer Stelle ist noch ein Nachhall dieser Gemütlichkeit auch in Tills Zimmer zu spüren: »Die Heizung gluckst, unter dem Tisch säuselt beruhigend das Computergebläse« (Kuhn 2012: 24). »Es sei denn, ein Defekt in der Beleuchtung erzeugte plötzlich jene seltene Dämmerung, in der die Farbe aus der Landschaft verschwand« (Benjamin 1980: 240). Diese Abhängigkeit der Innerlichkeit und Individualität in den privaten und intimen Räumen des Eigenheims erkennt Till am Ende: »Strom ist unser Grundstoff« (Kuhn 2012: 181, 191, 197). Im Handlungsverlauf des Romans treten die pathologischen Elemente dieser Lebensweise zunehmend deutlicher in den Vordergrund. In seinem verdunkelten Zimmer sitzend, stellt Till sich dieses als Krebszelle vor: Es muss ein strahlend heller Spätsommertag sein. Da ist der Popperbrunnen, umringt von einigen Schülern, die ihre Wasserpistolen bis zum Anschlag aufziehen. Dort schieben sich Autos in langsamen Kolonnen durch die Stadt. Die Boxen der Menschen sind hell ausgeleuchtet […]. – Nur

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mein Zimmer fällt heraus. Ein schwarzes Karzinom, das von dem restlichen gesunden Gewebe abgestoßen, von den Experten jedoch nicht aus den Augen gelassen wird (ebd.: 149).

Der erste Experte, der eine Krankheit diagnostiziert, ist sein Mediziner-Vater Oskar: »Till hat Asperger« (ebd.: 82). Die titelgebende Krankheit: »›Hikikomori‹, sagt die Schwester Anna-Marie mit einem Anflug von Stolz« (ebd.: 145). Strikt gegen alle Krankheitsvermutungen wehrt sich die Mutter Karola: »Diese ganze InternetDiagnose-Scheiße! Würde da auch nur ein Hundertstel zutreffen, könnten wir uns gleich erschießen« (ebd.: 145). Wie es sich für tigeroder dragon-moms gehört, hält sie beharrlich am Glauben an ihren Sohn und seiner exzeptionellen Begabung fest. Allenfalls konzediert sie »simple Erschöpfungszustände« (ebd.: 82) und empfiehlt: »Ruh dich einfach weiter aus, lass dir nichts einreden. Du bist etwas ganz Besonderes« (ebd.: 84). Sie gelangt zu einem Moment des resignativen Mitgefühls: »In deinem Alter und in einer so fordernden Welt, die euch wirklich viel abverlangt, hätte ich bestimmt das Gleiche getan. Ja, die Tür hinter sich zuziehen, sich nicht mehr nach dem Außen richten zu müssen, das ist es doch« (ebd.: 145). Wenig später verliert aber auch sie die Geduld (ebd.: 147). Es gelingt Kevin Kuhn zu zeigen, dass alle nicht erkrankten Figuren des Romans nicht weniger gestört sind als der Protagonist Till. Das gilt für die wie zufällig beobachteten »Schüler, die ihre Wasserpistolen bis zum Anschlag aufziehen« (ebd.: 149) und damit draußen am Popperbrunnen nicht weniger egomanisch waffenbesessen sind als Till mit seinem Star Wars-Kameraden, dem »Tapferen Sniperlein«. Besonders gilt es für seine Schwester Anne-Marie, die eher noch mehr als weniger kommunikationsmediensüchtig ist und ein kaum weniger isoliertes Leben in ihrem Einzelzimmer führt als ihr Bruder. Als Mädchen steht sie jedoch nicht unter dem gewaltigen Leistungsdruck, ihre singuläre Kreativität unter Beweis stellen zu müssen; der tradierten Frauenrolle entsprechend, darf sie einfach nur konsumieren, mit ihren Freundinnen kommunizieren und konkurrieren, ohne dafür – außer in Gestalt üppiger Weihnachtsgeschenke – besondere Beachtung zu finden. Entsprechendes gilt für die bis zur Karikatur gehende satirische Charakterisierung der beiden Elternteile: Für den Vater, der seine markigen Sprüche über die Entwicklung des kantigen Ichs zwar zu einer profitablen Geschäftsidee entwickelt, aber nicht imstande ist, die Ent139

wicklung des Sohnes zum gewünschten Erfolg zu führen. Es ist die Mutter, die in Tills Darstellung den Zusammenhang zwischen der Innerlichkeits- und der Hightech-Ideologie auf den Punkt bringt: Für Mutter sind wir eine hochwertige Familie. Man könnte aus jedem von uns Einzelteile herauslösen, sagt sie, und als High-End-Produkte irgendwelchen Forschern oder Karosserie-Bauern anbieten: Made in Germany, handverschraubt, Ecken fein abgeschliffen, galvanisierte Oberflächen. Und hochwertige Familien brauchen ein hochwertiges Umfeld […]. Das Innere des Menschen müsse sich im Außen der Umgebung spiegeln können, oder mehr noch: Das Außen müsse das im Innern Verborgene hervorrufen, evozieren. ›Humanize!‹ prangt als Leitmotiv über dem Eingang ihrer Wirkungsstätte. (Ebd.: 94)

Diese Wirkungsstätte ist ein Design-Schauraum für die begüterten Damen in ihrer Umgebung (ebd.: 137-141), den der aufmerksame Gatte ihr zum vierzigsten Geburtstag schenkt, nachdem ihr Vorhaben, »zielgerichtetes Einrichten« in ihrem eigentlichen Wirkungskreis, der Familie, zu realisieren, gescheitert ist. Auf der einen Seite stimmt Kuhns Roman mit den zeitdiagnostischen Analysen überein, die international ein geschlechtsspezifisch männliches sowie ein klassenspezifisch an bürgerliche Lebens- und Einkommensverhältnisse gebundenes Krankheitsbild entstehen sehen – wohl kaum zufällig zeitgleich mit der besonders von Japan ausgehenden rasanten Entwicklung der ego-zentrischen Kommunikationstechnologien seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert. Auf der anderen Seite wird in seiner Erzählung, die bis hin zum PeterPan-Motiv am Ende in der Tradition des Bildungsromans steht, die Herkunft aus den vorangehenden Konstellationen der bürgerlichen Kultur mit ihren verschiedenen Etappen und Figuren des SelbstPrinzips sichtbar. Abschließend ist es geboten, vom literarischen Exkurs zur Ausgangsfrage zurückzukehren. Ist die Selbst-Aufstellung des Menschen als Subjekt, die zweifellos eine Selbst-Überforderung darstellt, eine Sozialpathologie, die sich durch die Transformation des Subjekts zum Individuum fortsetzt, um sich am Symptomträger Singulum als der Wahnsinn zu zeigen, dem die Gesellschaft als Ganzes anheimfällt? Obwohl diese Ableitung lückenlos aussieht, stimmt sie nicht. Gegenüber jedem Zirkelschluss zwischen gesellschaftlichen Ver140

hältnissen und individuellem Befinden und Befindlichkeiten unter dem Vorzeichen von Pathologie ist Skepsis angebracht. Sowohl ein physikalischer Körper als auch ein lebendiger Leib sind einzeln da, es sind Entitäten auf der Realebene. Dagegen sind kollektive Körper oder Seelen per se corpora mystica oder figments of the mind. Sie gehören in die Sphäre der symbolischen Ordnungen; sie existieren in Bildern und Sprachen, in der Architektur von Denk- oder Glaubensgebäuden. Selbst wenn vermutete Sozialpathologien und feststellbare individuelle psychophysische Erkrankungen in der conditio humana, im Leiden an der Kontingenz ihre letzte Ursache und also einen gemeinsamen Nenner haben sollten, spielen sie in zwei verschiedenen Registern. In der einen Richtung bedeutet die Frage nach den »Krankheiten der Gesellschaft« eine »Annäherung an einen nahezu unmöglichen Begriff« (Honneth 2014). Von Krankheit kann in Bezug auf Gesellschaft nur im Sinne von Metapher oder Analogie gesprochen werden. Zwar sind Bilder und Vergleiche sinnvolle Mittel der Verständigung, aber Krankheit als Metapher gesellschaftlicher Zustände und die Analogie zwischen einzelnen und kollektiven Körpern gehen fehl. In der Perspektive auf menschliche Gesellschaft gibt es keine überzeitliche und transkulturelle Norm, die als Maßstab für die Gesundheit des Gesellschaftskörpers Geltung beanspruchen könnte. Entsprechend unmöglich ist die Position des Arztes oder Therapeuten. Nach dem Theorem des situated knowledge ist, hat und nimmt jede Beobachterin teil, ›krankt‹ also potenziell an der Gesellschaft, die sie diagnostizieren oder therapieren soll. Ein jeder Versuch, einen festen Punkt zu suchen, um die Gesellschaft gleichsam von außen wie im Arzt-Patient-Verhältnis diagnostisch zu begutachten und gegebenenfalls Medikamente oder Behandlungen zu verordnen, erliegt der Versuchung der Metaphysik und wiederholt die verhängnisvollen Irrtümer der westlichen Theologie und Philosophie, die Ratschlüsse eines Gottes oder das Seinsgeschick deuten zu wollen. Die Naturalisierung gesellschaftlicher Problemstellungen ist ein ebenso häufiger wie verhängnisvoller Irrtum. Der Versuch, die historisch eingetretene und seither globale Dimensionen erreichende Selbst-Aufstellung des Menschen als Pathologie zu klassifizieren, bedeutet ein Ausweichen vor gesellschaftlicher Verantwortung. Nach der anderen Richtung ist die Frage, ob eine Gesellschaft 141

einzelne oder bestimmte, womöglich besonders anfällige, sensible Menschen überfordern, erschöpfen und krank machen könnte, aus pragmatischen Gründen müßig. Zum einen liegen zwischen der ›Konstitution‹ der Gesellschaft und dem Befinden einzelner Körper beziehungsweise den Befindlichkeiten ihrer Seelen zu viele Variablen, zahllose Faktoren, Aktanten oder Resilienzen, um eine Kausalkette zweifelsfrei feststellen zu können. Zum anderen wäre es problematisch, die Behandlung der Leiden Einzelner von einer günstigen Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen abhängig machen zu wollen. Für den Fall, dass ein ›Kranker‹ selbst meint, dass es bestimmte gesellschaftliche Gegebenheiten oder Faktoren sind, die ihn kränken und krank machen, ist der Patient gut beraten, »sein Bett zu nehmen« (Neues Testament, Johannes 5,8) und gegen diese Verhältnisse aufzustehen, statt auf einen Arzt zu warten.

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Matthias Flatscher Kommentar: Analyse und Kritik sozial bedingter Pathologien Die vier Beiträge von Teil I »Zur Philosophie und Kulturgeschichte der Überforderung« verfolgen, wenn auch aus differenten Perspektiven und mit unterschiedlich gelagerten Akzentuierungen, ein gemeinsames Anliegen: Sie alle warnen davor, Fragen rund um den Themenkomplex von Depression und Erschöpfung vorschnell und vereinfachend zu beantworten. In expliziter Abgrenzung zu plakativen oder monokausalen Erklärungsversuchen insistieren sie auf einer – dem Phänomenfeld angemessenen und notwendigen – differenzierten Herangehensweise. Hierfür richten sie ihr Augenmerk auf geschichtliche Transformationsprozesse, um dadurch gegenwärtige Entwicklungen adäquater beschreiben und treffender interpretieren zu können. Zudem überschneiden sich die einzelnen Zugänge methodisch darin, dass sie – mehr oder weniger stark – Anleihen bei einer phänomenologisch informierten Philosophie nehmen, um in einem Dialog mit Nachbardisziplinen wie Psychiatrie, Soziologie, Kulturwissenschaft oder den Gender Studies die Konturen eines komplexeren Verständnisses von Überforderung, Erschöpfung und Depression herauszupräparieren. In den Beiträgen von Hartmut Böhme, Thomas Fuchs, Stefano Micali und Cornelia Klinger wird deutlich, dass sich depressive Erkrankungen nicht ausgehend vom einzelnen Individuum begreifen lassen, sondern in ihrer Einbettung in gesamtgesellschaftliche Prozesse gesehen werden müssen. Im Vordergrund der Texte steht dabei vor allem der diagnostisch-deskriptive Blick auf die Möglichkeitsbedingungen und die Genealogie der Depression als einer sozial bedingten Pathologie.1 In seinem Beitrag »Müdigkeit, Erschöpfung und verwandte Emotionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert« nimmt Hartmut Böhme Müdigkeit und Erschöpfung aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive in den Blick. Mit seiner genealogischen Analyse 1 Den Begriff der Sozialpathologie diskutiert Honneth (2014) in differenzierter Weise.

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möchte er zum einen einer kulturpessimistischen Betrachtungsweise einen Riegel vorschieben und zum anderen der heute inflationären Verwendung von Burn-out, Depression oder Neurasthenie eine historische Tiefendimension geben (vgl. Ehrenberg 2008). Seiner These zufolge bilden Phänomene wie Erschöpfung oder Müdigkeit die Kehrseite einer am Arbeitsimperativ ausgerichteten Moderne, in deren Zerrspiegel die Mobilitätsgesellschaft geradezu die eigenen sozialpathologischen Auswüchse ablesen kann. Das Kippbild von rastloser Betriebsamkeit und restloser Verausgabung begreift Böhme daher als bezeichnend für unsere Epoche; es lässt die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft offenbar werden: Obwohl sich die Resistenz des Körpers zunächst der nahtlosen Einordnung in Funktionszusammenhänge verwehrt und – wie sich anhand prämoderner Konzepte wie zum Beispiel der Muße oder Phantasie in literarischen Werken der Romantik dokumentieren lässt – aktiv gegen Formen der Produktivität rebelliert, verliert dieser Kontrapunkt mit dem Fortschreiten der Moderne sukzessive an Strahlkraft und wird im Industriezeitalter immer mehr seiner Eigenständigkeit beraubt. Der Entfremdung durch die Arbeitswelt korrespondieren nicht mehr davon abgegrenzte Weisen der Erfüllung; Formen des Sinnverlusts wie Müdigkeit, Erschöpfung, Langeweile oder Depression machen sich breit. Wie Böhme im Rückgriff auf die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende »Ermüdungswissenschaft« zeigen kann, verlieren die pejorativ betrachteten Phänomene jedoch nicht an Irritationspotenzial. So muss von medizinischer Seite mehrfach ernüchternd konstatiert werden, dass es keine wissenschaftliche Methode der Quantifizierung gibt, um Müdigkeit oder Erschöpfung messbar zu machen. Vielmehr wird in diesen Studien deutlich, dass sich die Phänomenbereiche einem berechenbaren Exaktheitsideal entziehen und auf eine subjektive Erfahrungsdimension verweisen, die verstärkt biographische und soziale Zusammenhänge mit in den Blick nehmen muss. Substanziellere Differenzierungsmöglichkeiten erblickt Böhme – wie im Anschluss an ihn auch Fuchs und Micali – in einer Phänomenologie der infrage stehenden Grundbegriffe. So unterscheidet er mit Deleuze zwischen Müdigkeit und Erschöpfung: Während Erstere ihre Verwirklichung erschöpft habe, könne Letztere nichts mehr erschöpfen, da alles bereits verwirklicht sei. Um diesen Umstand zu verdeutlichen, greift Böhme 146

auf zahlreiche Belege der Literatur und Philosophie des fin de siècle, aber auch auf Melville und Beckett zurück. Dabei wird ersichtlich, dass Ermüdung und Erschöpfung auf eine soziale Situiertheit und eine spezifische soziale Distribution verweisen. Die Stärke von Böhmes Beitrag liegt in seiner historischen Tiefenschärfe und den vielfältigen Verknüpfungen, mit denen er leichtfüßig Verbindungen zwischen naturwissenschaftlichen Diskursen und Belegen aus der Kunst sowie der Philosophie herzustellen vermag. Ausgehend von der zentralen These, dass die Erschöpfung als soziales Phänomen gefasst werden muss, drängen sich hier weiterführende Überlegungen zur ungleichen Verteilung von Erschöpfungspotenzialen auf, die in der gegenwärtigen Gesellschaft allerorten sichtbar wird und womöglich zu einer Zerstörung des sozialen Bandes zu führen droht. Diese Thematik stellt ein Desiderat der Forschung dar. Ebenso ergänzungsbedürftig bleibt in den Ausführungen, inwiefern Böhmes Diagnose, die sich explizit von kulturkritischen Ansätzen distanziert, diesen auch positiv etwas entgegensetzen kann oder möchte, indem etwa – ohne ganz in einen resignierenden Ton zu verfallen, der insbesondere das Ende des Beitrags dominiert – subjektive Handlungsspielräume und politische Gestaltungsmöglichkeiten neu ausgelotet werden.2 Thomas Fuchs versteht in seinem Text »Chronopathologie der Überforderung« Depression von ihrer inhärenten Zeitlichkeit her, mit der sowohl eine Entfremdung von der subjektiv erlebten Zeit als auch der Verlust einer mit anderen geteilten Zeit einhergeht. Die Sicht auf depressive Erkrankungen unter temporalen Vorzeichen und ihre Verstrickung mit individuellen und sozialen Aspekten ­illustriert Fuchs dabei anschaulich mit Belegen aus der klinischen Praxis. Damit verbindet er psychiatrische Einsichten mit philosophischen Reflexionen, die im Fortlauf der Überlegungen zusätzlich mit kulturgeschichtlichen Materialien angereichert werden. Als heuristisches Analyseraster der Chronopathologie dienen Fuchs zwei miteinander konfligierende Zeitauffassungen: Während die (gleichsam natürliche) zyklische Zeit mittels wiederkehrender Phasen der Intensität individuellen und sozialen Halt verleiht (zum Beispiel Wachen und Schlafen, Begehren und Befriedigung, aber auch Streit und Versöhnung), unterliegt die lineare Zeit dem 2 In instruktiver Weise ist Butler (2001) der Frage der politischen Handlungsfähigkeit in Machtdiskursen nachgegangen.

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Diktat einer lebenszersetzenden, rastlosen Beschleunigung und fortschreitenden Entfremdung (vgl. auch Jaeggi 2016; Rosa 2005). Dieses Zeitregime unterbindet laut Fuchs nicht nur die für den menschlichen Organismus notwendigen Ruhe- und Erholungsphasen, sondern zerschneidet auch das soziale Band einer gemeinsam erlebten Zeit, ohne die dem einzelnen Subjekt die notwendige Erfahrung intersubjektiver Resonanz vorenthalten bleibt. Die historische Genese der linearen Konzeption der Zeit verortet Fuchs in den neuzeitlichen Ausprägungen der westlichen Zivilisation: Das Zusammenspiel des beginnenden Kapitalismus, der aufkommenden Disziplinardispositive, der Verabsolutierung des szientistischen Methodenuniversalismus sowie der kollektiven Erfahrung des Todes im Anschluss an Massenepidemien hat dazu beigetragen, die zyklische Zeitauffassung zugunsten einer linearen Konzeption in den Hintergrund treten zu lassen. Verstärkt wurde dieser Paradigmenwechsel durch den in der Moderne in den Vordergrund rückenden Imperativ von Fortschritt und Innova­ tion. Dadurch werden Selbstoptimierung und Selbstvermarktung des Individuums zum obersten Gebot, wobei diese Praktiken sich bis hin zur Selbstausbeutung und Selbstzerstörung steigern können. Das Zurückbleiben hinter eigenen und fremden Erwartungen scheint in dieser Konstellation gleichsam vorprogrammiert zu sein und führt nach Fuchs zwangsläufig zu einer Ausbreitung depressiver Erkrankungen. Mit Tellenbach beschreibt er – wie im Anschluss daran auch Micali – diese negative Erfahrung als ›Remanenz‹, die sich nicht bloß auf das einzelne Subjekt beschränkt, sondern die Struktur der gesamten Gesellschaft kennzeichnet. Um diesen Entwicklungen entgegenzusteuern, plädiert Fuchs aus einer therapeutischen Perspektive für eine Rerhythmisierung und Restrukturierung des Lebens, die Aktivitäts- und Ruheperioden berücksichtigt. In diesen Maßnahmen erblickt der Autor auch ein politisches Instrumentarium, um dem Wildwuchs der Ökonomie Einhalt zu gebieten. So soll etwa der Forderung nach 24-Stunden-Öffnungszeiten und verkaufsoffenen Sonntagen nicht nachgekommen werden. Fuchs verschränkt in seinen Überlegungen nicht nur die psychiatrische Analyse mit philosophischen Reflexionen, sondern führt die Frage der Depression anschaulich auf das Register der Zeit zurück. Sein binäres Analyseraster von einem zyklischen und linea148

ren Zeitregime erweist sich dabei in vielerlei Hinsicht als hilfreich, um aktuelle Entwicklungen in den Fokus zu rücken. Dabei gilt es, nicht das zyklische Zeitverständnis der Prämoderne zu idealisieren und eine bestimmte Leiberfahrung zu hypostasieren, ohne diese auf etwaige Restriktionen oder essenzialistische Implikationen hin zu befragen. Wie Hartmut Böhme möchte sich auch Stefano Micali gegen jede kulturpessimistische Tendenz verwahren. Zugleich greift er Argumentationslinien von Fuchs in Hinblick auf die Verschränkung von Depression und Zeitlichkeit auf, treibt diese jedoch in eine andere Richtung weiter: Mit seinem Text »Zur sozialen Relevanz der Depression« unternimmt er den Versuch, diskursanalytische und phänomenologische Überlegungen in ein produktives Verhältnis zu bringen. Dabei zeigt der Autor zunächst auf, dass die Frage, ob die Depression in spätkapitalistischen Gesellschaften eklatant zugenommen habe oder nicht, in dieser simplifizierten Form nicht zu beantworten sei; vielmehr müssen die standardisierten ­Diagnosemanuale, die als selbstverständlich akzeptierter Maßstab für Aussagen dieser Art fungieren, selbst noch einmal genauer auf ihre inhärenten Voraussetzungen hin analysiert werden. Denn eine Perspektive, die sich einseitig an diesen Richtlinien orientiert, bringt die subjektive Komponente zum Verschwinden und nivelliert die Einzigartigkeit der jeweiligen Ausprägungen. In diesem Zusammenhang verweist Micali auch auf die historisch kontingenten Voraussetzungen und die Wandelbarkeit des wissenschaftlichen Zugangs (Kuhn) sowie das intrinsische Verhältnis von Wissen und Macht (Foucault). Bemerkenswert ist dabei insbesondere Micalis Charakterisierung der Psychiatrie des »Paradoxons einer Wissenschaft der Einzigartigkeit«. Vor diesem Hintergrund zeigt Micali schlüssig auf, dass sich das soziale Dispositiv der Depression – und in diesem Aspekt folgt ihm Klinger – in den letzten Jahrzehnten massiv gewandelt hat: Das Gefühl des Überfordertseins resultiert nicht mehr aus dem Scheitern an sozialen Vorgaben, wie es noch bei disziplinären Gesellschaften der Fall war, sondern daraus, dass den eigenen Möglichkeiten nicht Genüge getan werden kann. Doch auch bei dieser Nachzeichnung einer Transformation hin zu einer postdisziplinären »unternehmerischen« Gesellschaft möchten Micalis Überlegungen nicht stehen bleiben. So macht er wie zuvor Fuchs und Böhme zusätzlich An149

leihen bei der Phänomenologie, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass das reichhaltige Beschreibungsvokabular, das aus einer phänomenologisch geschulten Psychiatrie überliefert ist, wesentlich zu einer Konturbildung des Themenfeldes beitragen kann. Vor allem (wiederentdeckte ältere) Autoren wie von Gebsattel, Tellenbach oder Blankenburg werden herangezogen, um unterschiedliche Ausgestaltungen der Depression in den Blick zu nehmen. Berücksichtigt werden in diesem Zusammenhang Verstrickungen der Depression mit der Eigenleiberfahrung, der Weltwahrnehmung, der Intersubjektivität sowie – auch im Anschluss an die Überlegungen von Fuchs – der Zeitlichkeit. Dabei gerät die subjektive Erfahrung eines Umsichgreifens von Leere und Gefühllosigkeit ebenso in den Blick wie das schmerzlich empfundene Unvermögen, auf andere (re)agieren zu können, und die Fixierung auf eine vermeintlich schuldhafte Vergangenheit. Micali interpretiert hier Depression nicht lediglich als Nebenprodukt einer »unternehmerischen« Gesellschaft, sondern als das Andere ihrer selbst. Diesen zentralen Aspekt verdeutlicht er – ebenso wie bereits Fuchs – mit dem von Tellenbach entlehnten Begriff der Remanenz. In seinen abschließenden Ausführungen macht der Autor deutlich, dass mit diesem Begriffsraster einerseits das Gefühl, permanent hinter den eigenen Ansprüchen der Selbstoptimierung zurückzubleiben, und andererseits die Sorge, den gesellschaftlichen Herausforderungen des Innovationsimperativs nicht nachzukommen und gleichsam zurückgelassen zu werden, prägnant umrissen werden können. Micalis Ausführungen zeichnen sich durch die breite Rezep­ tion unterschiedlicher Theorietraditionen und die facettenreiche Durchleuchtung der Depression unter den Bedingungen der Gegenwart aus. Vor allem die Verbindung einer soziologischen Diskursanalyse mit der Phänomenologie erweist sich als vielversprechend. Weitere Untersuchungen in dieser Richtung werden zeigen müssen, welche Vor- und Nachteile ein solcher Zugang mit sich bringt. Zudem wären die methodologischen und deskriptiven Elemente noch mit einer sozialkritischen Stoßrichtung zu ergänzen. Deren Potenzial wird von Micali mit seinen Verweisen auf Benjamin, Lazzarato oder Bröckling zwar immer wieder angedeutet, sie müsste jedoch insbesondere in Hinblick auf den für ihn zentralen Aspekt der Remanenz noch entschiedener thematisiert werden. 150

Eine andere, nicht minder einprägsame Akzentuierung des Phänomenbereichs Erschöpfung nimmt Cornelia Klinger vor. In sowohl historischer als auch systematischer Perspektive erörtert sie in ihrem Aufsatz »The selfie – oder das Selbst in seinem Welt-Bild« unterschiedliche Etappen von Subjektivierungsprozessen von der frühen Neuzeit bis hin zur Gegenwart. Dabei spannt sie einen Bogen von der Kritik am cartesianischen Verständnis des »Subjekts« über die Gewinnung eines neuen Begriffs von »Individualität« vor dem Hintergrund negativer Freiheitsrechte des (männlichen) Bürgertums sowie deren verdeckten Exklusionen bis hin zum rezenten Zwang der Selbstdarstellung eines »Singulums« mittels neuer Technologien und ihren negativen Auswirkungen in postindustriellen Gesellschaften. In dekonstruktiver Anlehnung an Heideggers Kritik am modernen Subjektverständnis zeigt die Autorin in einem ersten Schritt auf, dass sich der Mensch mit dem Verlust metaphysischer Deutungsmuster und transzendenter Ordnungskategorien gerade durch den rasanten Fortschritt von Wissenschaft und Technik in einer grundlegend neuen Weise als Bezugsmitte alles Seienden begreift. Klinger arbeitet nicht nur die Spezifität dieses Subjektivierungsprozesses anhand unterschiedlicher Facetten entlang epistemischer, ethischer, ökonomischer, juridischer und ästhetischer Kategorien heraus, sondern macht auch deutlich, dass sich eine Idee vom Menschen als Universalsingular zu etablieren versucht. Doch diese Konzeption ist ihrer Auffassung nach ab ovo zum Scheitern verurteilt, da die Erfahrung der Kontingenz, Pluralität und Endlichkeit das neuzeitliche Weltbild durchkreuzt. Damit rückt Klinger in einem zweiten Schritt die Faktizität des Menschen in den Mittelpunkt der Überlegungen. Die Position des Selbst erweist sich dabei nicht mehr als eine ontologische, sondern vielmehr als eine ästhetische, die die jeweilige Situierung im Weltgeschehen nolens volens mitzuberücksichtigen hat. Indem sie auf die hybride und widerstreitende Konzeptualisierung des Subjektbegriffs verweist (zum Beispiel transzendentales vs. empirisches Ich oder die Einschränkung des homo oeconomicus auf den bürgerlichen, weißen Mann), der sich einer planen Einordnung in die Kategorie der Universalität verwehrt, schlussfolgert die Autorin: »Der Mensch taugt nicht zum Subjekt.« Zwar hat die Eta­blierung von Verwaltungs-, Institutionen- und Staatsapparaten zum Teil 151

zur Entlastung des überforderten Selbst geführt, indem der Subjektstatus auf große Handlungssysteme übertragen wird, allerdings bleiben auch sie aufgrund ihrer historischen Situierung im Versuch der Bewältigung von Kontingenz wiederum in kontingenten Zusammenhängen gefangen. Das cartesianische subiectum, das als Voraus- und Zugrundeliegendes im Sinne eines fundamentum inconcussum veritatis seinen Siegeszug antreten wollte, erweist sich als ein Unterworfenes. Ein Ausweg aus dieser Sackgasse zeigt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts darin, dass dem Selbst eine unveräußerliche Privatheit zugestanden wird, die sich dem Register der Apparaturen entzieht und zugleich das Selbst in seiner conditio humana ernst nimmt. In diesem Bereich des Privatimen kann es sich nach seiner façon moralisch oder ästhetisch entfalten und entdeckt so seine spezifische Individualität. Diese Inanspruchnahme liberaler Freiheitsräume bleibt jedoch laut Klinger auf das bürgerlich-männliche Subjekt beschränkt. In einem dritten Schritt macht Klinger deutlich, dass auch diese Form der Subjektivierung sukzessive abgelöst wird. Den neuen Aggregatzustand des Selbst bezeichnet sie in Anlehnung an Reckwitz und Foucault als singulum. In den Fokus der Aufmerksamkeit rücken Praktiken, die das eigene Leben und den eigenen Körper als gestaltbares Kunstwerk begreifen, und der inhärente Zwang, sich permanent einer medialen Öffentlichkeit feilzubieten. Dadurch bleibt der Leistungsdruck nicht mehr auf den beruflichen Alltag beschränkt, sondern umfasst sämtliche Lebensbereiche; wettbewerbsfreie Orte – und in dieser Diagnose würden Fuchs und Micali ihr zustimmen – gibt es nicht mehr. In diesem Umstand erblickt Klinger nun auch die Ursache für umfassende Erschöpfungszustände. Der Imperativ der Selbstoptimierung wird in neoliberalen Zusammenhängen dadurch gesteigert (vgl. Brown 2015), dass es keine verbindlichen ethisch-politischen Richtlinien mehr gibt und das Selbst – wie paradigmatisch am Selfie sichtbar wird – gänzlich mit Technologien verschmilzt, ja sich letztlich als Effekt von Apparaturen begreift. Pointiert bringt Klinger diese Einsicht auf den Punkt: »Im Selfie fällt die absolute Selbst-Präsenz mit Selbst-Objektivierung in eins, wird die SelbstReflexion zum Reflex.« Die völlige Entäußerung des Selbst vollzieht sich nicht mittels eines Unterdrückungsregimes, sondern – so 152

Klingers ernüchternde Einschätzung – dank der widerstandslosen Akzeptanz der Hegemonie des Marktes. Reflexe gegen diese Tendenz der Selbstentäußerung verortet die Autorin in Phänomenen wie Hikikomori oder Cocooning, indem sie anhand literarischer Belege eine radikale Vereinzelung von Jugendlichen nachzeichnet, wie sie gerade in postindustriellen Gesellschaften um sich greift. Einer ganzen Generation wird die Hoffnung auf eine leb- und gestaltbare Zukunft genommen, so dass allein der Rückzug aus sozialen Zusammenhängen ins Kinderzimmer der elterlichen Wohnung als vermeintlicher Ausweg bleibt. Am Ende ihrer Überlegungen vollzieht Klinger mit der Frage, ob das Subjektparadigma selbst mit dieser Entwicklungslinie ausgereizt ist und Individuen erschöpft zurückbleiben, eine kritische Selbstreflexion. Die Klassifikation von sozialen Pathologien kann höchstens per analogiam verstanden werden. Nicht nur gibt es keine zeitenthobenen und transkulturellen Richtlinien, die eine solche aus der Medizin kommende Einschätzung zuließen, sondern es gibt auch keinen archimedischen Punkt außerhalb der Gesellschaft, der ein Urteil dieser Art ermöglichen würde. Klinger warnt daher – und dies markiert eine deutliche Abgrenzung zu den Überlegungen von Fuchs – vor einer Naturalisierung der Gesellschaftskritik und plädiert dezidiert für die Inblicknahme von Singularitäten zugunsten allgemeiner Erklärungsmodelle. Erst hier verortet sie die Möglichkeit und die Notwendigkeit von Verantwortung sowie von Widerstand. Die Ausführungen von Klinger bestechen in ihrer historischen und zugleich heuristischen Fokussierung unterschiedlicher Stadien von Subjektivität. Auch wenn bei der groben Skizze vieles nur angedeutet bleibt und weiterführende Belege vermisst werden, vermittelt der Aufsatz einen starken Eindruck möglicher Entwicklungslinien, der auch neueste Erscheinungen einbezieht. Klinger verknüpft damit den klassischen philosophischen Diskurs mit der aus der Politischen Theorie stammenden feministischen Kritik an formalen Rechtsauffassungen und einer aktuellen Medienanalyse sowie rezenter Gesellschaftskritik. Vor diesem Hintergrund müsste auch der biblische Appell am Ende, selbstständig Widerstandspotenziale zu nutzen und sich gegen verhärtete Verhältnisse aufzulehnen, noch einmal hinterfragt werden: Wer soll sich – und mit welchen Mitteln – gegen diese Fehlentwicklungen stemmen, zumal die 153

diskursanalytische Herangehensweise das traditionelle Verständnis des Subjekts als Urheber seiner Handlungen dekonstruiert? Aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchten die vier Autorinnen und Autoren das Thema der Depression. Dabei geht es ihnen weniger darum, endgültige Antworten zu liefern, als darum, die Reichhaltigkeit und Komplexität des Phänomens aufzuzeigen. Sie verstehen ihre Beiträge daher wohl nicht als den Abschluss einer Debatte, sondern vielmehr als eine verstärkte Zuwendung zu unterschiedlichen Aspekten. Ein wesentlicher Punkt scheint jedoch bei allen vier Beiträgen unterbelichtet zu bleiben: Zwar heben sie jeweils hervor, dass depressive Erkrankungen strukturell aus den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhängen begriffen werden müssen, die von den Herrschaftsmechanismen einer neoliberalen Logik bestimmt sind und daher nicht bloß als marginale oder partikulare Folgeerscheinungen abgetan werden können; Erschöpfung wird so als intrinsischer, aber zugleich nicht beabsichtigter Effekt dieser hegemonialen Maschinerie interpretiert. Doch es stellt sich die Frage, ob die in den Beiträgen beschriebenen Phänomene – die Dislozierung des sozialen Bandes, der Zwang der Selbststeigerung bis hin zur Selbstausbeutung, das unausweichliche Zurückbleiben hinter Erwartungen usw. – nicht ein wohlkalkuliertes Moment des rezenten kapitalistischen Diskurses darstellen (vgl. Bourdieu 1997), um Subjekte in prekären (Anstellungs-)Verhältnissen gefügig zu machen und ihre Ausbeutung voranzutreiben. Denn sobald Subjekte jeweils solitär ums nackte Überleben kämpfen, scheint die Gefahr einer gemeinsamen Parteiergreifung und eines Kampfes um alternative Formen des Zusammenlebens ab ovo gebannt. Um nicht selbst in ein apolitisches Fahrwasser zu gelangen, müssten sozialpathologische Diskurse stärker eine gesellschaftskritische Stoßrichtung in den Vordergrund rücken und ihre eigenen Ausführungen auf Fragen nach der Veränderbarkeit verhärteter politischer Verhältnisse hinlenken, um dem Protest gegen die zerstörerischen Tendenzen der vorherrschenden Ökonomie Raum zu geben und emanzipativen Praktiken einen Ort zuzubilligen (vgl. Marchart 2013).

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Literatur Bourdieu, P. (Hg.) 1997. Das Elend der Welt. Konstanz: UVK. Brown, W. 2015. Die schleichende Revolution: Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Berlin: Suhrkamp. Butler, J. 2001. Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung. Frank­ furt/M.: Suhrkamp. Ehrenberg, A. 2008. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frank­furt/M.: Suhrkamp. Honneth, A. 2014. »Die Krankheiten der Gesellschaft. Annäherung an einen nahezu unmöglichen Begriff«. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 11 (1): S. 45-60. Jaeggi, R. 2016. Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Berlin: Suhrkamp. Marchart, O. 2013. Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung. Bielefeld: transcript. Rosa, H. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frank­furt/M.: Suhrkamp.

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II. Epidemiologie und Soziologie

der Überforderung

Josua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi1 Die vermeintliche Zunahme der Depression auf dem Prüfstand Epistemologische Prämissen, epidemiologische Daten, transdisziplinäre Implikationen2 1. Vorbemerkung Kann man an der Gesellschaft erkranken? Ist das moderne Subjekt überfordert? Leben wir vielleicht sogar in einem Zeitalter der Depression? Wie der vorliegende Band eindrücklich illustriert, gibt es zu diesen Fragen eine Vielzahl widersprüchlicher Theorien, die noch dazu aus ganz unterschiedlichen Disziplinen mit je eigenen Forschungstraditionen, Begrifflichkeiten und Methoden stammen. Das Bedürfnis, die Debatte um Ursprung und Wesen der Depression mittels epidemiologischer Daten auf den Boden empirischer Tatsachen zu holen – sie dadurch vielleicht sogar abschließend zu klären? –, ist daher zwar verständlich, bei genauerer Betrachtung aber gleichwohl problematisch. Zum einen sind die in der Debatte vertretenen Standpunkte und Theorien aufgrund unterschiedlicher Begriffsverwendungen und konträrer epistemologischer Prämissen nicht selten inkommensurabel und damit im Wortsinn »ohne gemeinsames Maß«. Zum anderen hat die Debatte rund um die seelische Gesundheit inzwischen eine gesellschaftspolitische Dimension, die über ein rein akademisches Erkenntnisinteresse weit hinausgeht. Sie kann und sollte daher nicht allein aufgrund empirischer Befunde entschieden werden. Wie der französische Soziologe Alain Ehrenberg betont, befinden wir uns vielmehr »in der Nähe der moralischen Debatten«, für die, genau wie für politische Dispute, gilt: »Keine Disziplin und keine Methode können zu einem Konsens wissenschaftlicher Art führen, auch wenn sie sich noch so sehr auf die Wissenschaft berufen« (Ehrenberg 2011: 33). Da die unterschiedlichen Konzeptualisierungen psychischer 1 Geteilte Erstautorenschaft. 2 Danksagung: Dieser Beitrag wurde gefördert von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

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Störungen und die ethischen Implikationen dessen, was wir seelische Gesundheit nennen, bei der Interpretation epidemiologischer Befunde oft nicht genügend berücksichtigt werden, soll die Datenlage zum Phänomen Depression im Folgenden nicht nur möglichst objektiv und differenziert dargestellt werden; um interdisziplinären und/oder politischen Missverständnissen vorzubeugen, soll darüber hinaus versucht werden, das epidemiologischen Studien zugrunde liegende Verständnis von Depression (selbst)kritisch zu verorten. Der Beitrag gliedert sich dementsprechend in vier Teile: (1) Im ersten Teil werden die epistemologischen Prämissen verschiedener Depressionskonzepte und deren Implikationen für epidemiologische Befunde grob skizziert und kontrastierend zueinander in Bezug gesetzt. Unterschieden wird dabei zwischen der Depression als klinischem Störungsbild, der Depression als Kulturund Zeitkrankheit und der Depression als Diskursphänomen. (2) Im Anschluss daran wird über die epidemiologische Datenlage zum Störungsbild Depression berichtet und deren Interpretierbarkeit angesichts methodischer Limitationen kritisch erläutert. Während im ersten Teil eine metatheoretische Außenperspektive auf das Phänomen Depression eingenommen wird, spiegelt dieser Teil die Innenperspektive empirisch-epidemiologischer Forschung wider. (3) Anstelle der vieldiskutierten Frage, warum depressive Störungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben (was empirisch nicht belegt werden kann), wird in der Diskussion der Befunde der deutlich seltener gestellten, dafür aber empirisch begründeten Frage nachgegangen, weshalb die Prävalenzen depressiver Störungen trotz deren zunehmender psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung nicht abgenommen haben. In diesem Zusammenhang werden drei in der Debatte vertretene Hypothesen diskutiert, deren epistemologische Prämissen und (wissenschafts)politische Interessen den drei eingangs skizzierten Depressionskonzepten entsprechen. (4) Das abschließende Fazit unternimmt den Versuch, aus der Epistemologie und Epidemiologie depressiver Störungsbilder phi­ lo­ sophische, versorgungspolitische und gesellschaftspolitische Schluss­folgerungen abzuleiten.

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2. Epistemologische Prämissen 2.1 Die Depression als klinisches Störungsbild Anders als für die meisten somatischen Erkrankungen gibt es für psychische Störungen wie die Depression kein allgemein anerkanntes Störungsmodell, das deren Entstehung (Ätiologie) und Verlauf (Pathogenese) erklären könnte. Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM) und der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wird daher bewusst auf eine theoretische Herleitung der darin klassifizierten Störungsbilder verzichtet. Stattdessen erfolgt deren Definition seit der Veröffentlichung des DSM-III im Jahr 1980 anhand rein deskriptiver Symptomlisten (Vanheule 2017).3 Je nach Klassifikationssystem ist eine »klassische« Depression, die in der ICD als »depressive Episode« und im DSM als »Major Depression« bezeichnet wird, seitdem durch zehn (ICD) beziehungsweise neun (DSM) Symptome definiert, von denen für eine Diagnosestellung über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen mindestens vier (ICD) oder fünf (DSM) »in klinisch bedeutsamer Weise« vorliegen müssen.4 Zu den aufgeführten Symptomen, die sich in DSM und ICD weitgehend entsprechen, zählen dabei, neben einer depressiven Verstimmung, Freud- und Interesselosigkeit, Antriebsmangel und erhöhter Ermüdbarkeit, unter anderem eine verminderte Konzentrationsfähigkeit, ein verminderter Selbstwert, Schuld- und Insuf3 Da psychiatrische Diagnosen in der Regel weder eine bestimmte Schadensverursachung noch einen spezifischen Schadensmechanismus voraussetzen, sind sie als Erklärungen psychopathologischer Symptome meist zirkulär: »Sie zeigen die Symptome a, b und c, weil Sie die Störung xy haben – die Sie haben, weil Sie die Symptome a, b und c zeigen.« Sowohl die Auswahl der Symptome als auch deren Bündelung zu Störungsbildern basieren dabei auf Aushandlungsprozessen. Die in den Klassifikationssystemen enthaltenen Symptomlisten haben sich somit nicht zwingend aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben, sondern basieren auf einem – zwar naturwissenschaftlich informierten, aber nicht streng empirisch abgeleiteten – Expertenkonsens. 4 Robert Spitzer, der als der Vorsitzende der DSM-III-Kommission die moderne Psychiatrie entscheidend prägte, hat auf die Frage, wie man auf den diagnostischen Schwellenwert von fünf Symptomen gekommen sei, einmal die lakonische – und wissenschaftlich wenig überzeugende – Antwort gegeben: »Weil vier einfach zu wenig erschienen. Und sechs zu viel« (zitiert nach Carlat 2010: 53; Übers. J. H.).

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fizienzgefühle, Schlafstörungen und Suizidalität. In Abhängigkeit von der Anzahl der Symptome und dem zeitlichen Verlauf ihres Auftretens kann dabei zwischen verschiedenen Schweregraden und Verlaufstypen unterschieden werden. Darüber hinaus bieten beide Klassifikationssysteme neben der Möglichkeit der Mehrfachdia­ gnosen (zum Beispiel zusätzliches Vorliegen einer Angststörung) eine Reihe von Zusatzkodierungen (zum Beispiel »Depressive Episode mit psychotischen Symptomen«) und Differenzialdiagnosen (zum Beispiel »Substanzinduzierte depressive Störung«) an. Von der Depression im Singular zu sprechen ist angesichts dieser Vielfalt problematisch, zumal trotz der zunehmenden Differenzierung psychiatrischer Diagnostik selbst die gleiche Diagnose in aller Regel auf unterschiedlichen Symptomkombinationen basiert. Anders als die vermeintlich eindeutige Kodierung psychischer Störungen nahelegt, ist deren klinisches Erscheinungsbild daher äußerst variabel. So gibt es nach den Vorgaben des DSM-5 und den Gesetzen der Kombinatorik nicht eine ›Major Depression‹, sondern mindestens 227 mögliche Varianten.5 Aufgrund dieser Heterogenität kann die betreffende Diagnose theoretisch an zwei Personen vergeben werden, die nur ein einziges, in ihrer subjektiven Wahrnehmung womöglich sogar nebensächliches Symptom gemeinsam haben. Die Diversität, die sich aus der subjektiven Bewertung, der dimensionalen Ausprägung, der fallspezifischen Ätiologie und Genese sowie dem funktionalen und zeitlichen Zusammenhang der einzelnen Symptome ergibt, wird von den Klassifikationssystemen dabei noch nicht einmal berücksichtigt, sondern aufgrund ihres atheoretischen Vorgehens bewusst aus der Anleitung zur Diagnosestellung ausgeklammert und allenfalls in ergänzenden Erläuterungen kommentiert.6 Sowohl intra- als auch interindividuell ist die wahre Varianz psychischer Störungen damit ungleich höher, als die Diagnosesysteme ohnehin schon nahelegen. Hinzu kommt, dass das, was in der Logik der Klassifikationssysteme eigentlich die Ausnahme sein sollte, nämlich das Vorliegen von Symptomen aus unterschiedli5 Durch die diversen Zusatzkodierungen, die das DSM-5 ermöglicht (z. B. Depression »mit Melancholischen Merkmalen«), wird diese Anzahl noch einmal um ein Vielfaches erhöht. 6 Das über 1000 Seiten umfassende DSM enthält neben der Auflistung diagnostischer Kriterien eine Vielzahl ergänzender Angaben (etwa zu prognostischen und Risikofaktoren), die für die Diagnosestellung aber nicht bindend sind.

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chen Störungskategorien, im klinischen Alltag die Regel ist. Die in der Theorie unterschiedenen Störungsbilder decken sich insofern nur bedingt mit dem, was sich in der Praxis beobachten lässt, was dazu führt, dass die Komorbiditätsrate (Häufigkeit von Mehrfachdiagnosen) bei psychischen Störungen auffallend hoch ist. Die psychiatrische und klinisch-psychologische Diagnostik steht damit vor einer Reihe von Problemen: Sie hat es überwiegend mit Krankheiten zu tun, die in ihrem Erscheinungsbild hochvariabel sind, sich in der Praxis stark überlappen und, anders als die meisten allgemeinmedizinischen Erkrankungen, weder über ein eindeutiges, die Diagnose bestimmendes biologisches Korrelat noch über eine einheitliche Ätiologie und Pathogenese verfügen (Heinz 2015). Darüber hinaus sind die meisten psychischen Störungen weniger durch die Art als durch das Ausmaß der mit ihnen verbundenen Symptomatik von gesunden Zuständen beziehungsweise ›normalem‹ Leiden zu unterscheiden, was ein Grund dafür ist, dass in DSM und ICD explizit nicht von »Krankheiten«, sondern von »Störungen« gesprochen wird. Mit Recht wurde und wird in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, ob es so etwas wie eine Depression im Sinne einer eindeutig identifizierbaren Krankheit überhaupt gibt (etwa Szasz 1961/2013). Nicht nur die Kritikerinnen und Kritiker der Klassifikationssysteme, auch deren Herausgeberinnen und Herausgeber betonen, dass die Gültigkeit (Validität) der darin definierten Syndrome fraglich ist: Während das DSM zweifellos ein Meilenstein für eine substantiell verbesserte Reliabilität von Diagnosen psychischer Störungen gewesen ist, sind sich die American Psychiatric Association (APA) und die breite Scientific Community, die sich mit psychischen Störungen beschäftigt, darin einig, dass unsere bisherige wissenschaftliche Forschung noch nicht hinreichend gereift ist, um vollständig validierte diagnostische Einheiten abzuleiten, d. h., konsistente, eindeutige und objektive wissenschaftliche Validierungsmaße für einzelne DSM-Störungen bereitzustellen (DSM-5: 5).7

Die in DSM und ICD definierten Störungsbilder sind demzufolge nichts anderes als vorläufige Konstruktionen. Sie dürfen nicht 7 Die rituell wiederholte, aber nur selten überprüfte Behauptung, dass durch die Weiterentwicklung der Klassifikationssysteme deren Zuverlässigkeit (Reliabilität) kontinuierlich verbessert worden sei, ist bei genauerer Betrachtung ebenso fraglich wie deren Validität (vgl. Vanheule 2017: 52-70).

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mit den Realitäten, die sie abbilden wollen, verwechselt werden, sondern sind als das zu betrachten, was sie im wahrsten Sinne des Wortes sind: Störungs-Bilder, deren Bezug zur vielfältigen Wirklichkeit psychischen Leids entweder aufgrund fehlender Erkenntnisse noch offen ist oder aus erkenntnistheoretischen Gründen immer offenbleiben wird. In der klinischen Forschung und Praxis, deren Mainstream an den Idealen exakter Naturwissenschaft orientiert ist, wird diese Offenheit zwar nicht geleugnet, aber meist ignoriert. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Fachkreisen werden psychische Störungen daher häufig in einem essenzialistischen Sinn missverstanden (Vanheule 2017). Begünstigt wird dieses Missverständnis auch und vor allem durch die gängigen Klassifikationssysteme, deren kategoriale Einteilung psychischer Störungen in der Tat den Schluss nahelegt, dass es sich bei diesen Pathologien um diskrete und ontologisch vorhandene Entitäten handelt, die sich nicht nur eindeutig von Gesundheit und anderen Störungen unterscheiden lassen, sondern denen darüber hinaus so etwas wie eine gemeinsame Essenz zukommt (Strand 2011). Da in der Psychiatrie nicht zuletzt aus berufs- und wissenschaftspolitischen Gründen ein großes Interesse daran besteht, das eigene Fach an die medizinische Tradition zurückzubinden, wird diese Essenz dabei vor allem in der Biologie gesucht (und von manchen Kritikerinnen und Kritikern nicht zuletzt auf Einflüsse der Pharmaindustrie zurückgeführt; zum Beispiel Frances 2013). Deutlich wird dies unter anderem auch daran, dass in den Klassifikationssystemen sowohl dem subjektiven Erleben der Symptome als auch deren kontextueller Einbettung und kultureller Prägung vergleichsweise wenig Raum gegeben wird. Zwar gibt es im DSM ein »Glossar kulturgebundener Leidenskonzepte«, in dem eingeräumt wird, dass es kulturelle Einflussfaktoren gibt, die menschliches Erleben und daher auch die Erscheinungsformen psychischer Störungen auf vielfältige Weise prägen (DSM-5 2015: 1139-1146). Daran, dass es sowohl im DSM als auch in der ICD eine eigene Kategorie für »kulturabhängige Syndrome« gibt, wozu aus westlicher Sicht exotisch anmutende Störungen wie »Koro«8 gezählt werden, 8 »Koro« bezeichnet eine insbesondere in Südostasien, Südchina und Indien vorkommende psychische Störung, die durch die Furcht gekennzeichnet ist, dass sich der eigene Penis in den Körper zurückzieht (Dilling/Freyberger 2013: 351-359).

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wird jedoch offenbar, dass kulturellen Faktoren in Bezug auf alle anderen Störungen, die natürlich genauso in einem historischen und geographischen Kontext stehen, bestenfalls ein moderierender Einfluss zugestanden wird (Mezzich et al. 1999). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass psychische Störungen im Allgemeinen und die Depression im Besonderen im psychia­ trischen und klinisch-psychologischen Diskurs zwar als vorläufige Konstruktionen gelten, durch ihre kategoriale Einteilung aber häufig mit natürlichen Entitäten verwechselt werden. Auch wenn sich im klinischen Fachdiskurs offiziell ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell durchgesetzt hat, lässt sich dabei die Tendenz beobachten, biologischen Faktoren gegenüber anderen den Vorzug zu geben. Umso wichtiger erscheint es, mit Karl Jaspers zu betonen, dass die zugrundeliegende Annahme, psychische Störungen seien »eigentlich« biologisch bedingt, auf einem »somatischen Vorurteil« (1913/1973: 15) basiert, das philosophisch nur schwer zu begründen ist und für das es trotz der rasanten Fortschritte der Neuro- und Biowissenschaften in den letzten Jahrzehnten bis dato keinen überzeugenden Beleg gibt (Hasler 2013). Für ein tieferes Verständnis psychischen Leidens haben Klassifikationssysteme insofern allenfalls »heuristischen Wert« (Heinz 2015: 137). Empirisch gestützte Alternativen existieren und sind in Entwicklung begriffen, wie zum Beispiel die »Hierarchical Taxonomy of Psychopathology« (HiTOP; Kotov et al. 2017), in denen einige der hier genannten Limitationen der Klassifikationssysteme DSM und ICD überwunden werden. In HiTOP werden einzelne Symptome gemäß ihrer empirischen Kovariation zu diagnostischen Einheiten zusammengefasst, diagnostische Einheiten entsprechend ihrer Breite auf verschiedenen Hierarchieebenen angeordnet und individuelle Unterschiede in der Ausprägung von diagnostischen Einheiten dimensional modelliert. Dies erhöht die Validität gegenüber »künstlicher« kategorialer Klassifikation. Für die Kommunikation unter Expertinnen und Experten und die Integration der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in das Gesundheitssystem sind DSM und ICD derzeit dennoch unerlässlich, zum Beispiel als Grundlage standardisierter Erhebungsinstrumente, ohne die eine reliable und international vergleichbare Forschung etwa im Feld der Epidemiologie schlichtweg nicht möglich wäre. 165

2.2 Die Depression als Kultur- und Zeitkrankheit Spätestens seit der Romantik, die den Wahnsinn als Befreiung und Ausbruch aus den engen Fesseln der bürgerlichen Verhältnisse zelebrierte, hat sich neben dem medizinischen Diskurs ein Sprachspiel etabliert, das psychische Störungen nicht als Verlust evolutionär erworbener Fähigkeiten, sondern als Rückgewinnung und authentischen Ausdruck unserer »eigentlichen« Natur begreift (Dörner 1995). Anders als im medizinischen Diskurs, dessen Krankheitsmodell zur Erklärung psychischer Störungen vorwiegend auf biologische Defekte verweist, wird in diesem Diskurs vor allem nach soziologischen Erklärungen gesucht und dabei entweder explizit oder implizit auf das Modell der Entfremdung verwiesen (Heinz 2015: 73-97). Krank ist nach diesem Modell nicht das Individuum, das leidet, sondern die Gesellschaft, die dieses Leiden verursacht. Die gewohnte Zählweise der Epidemiologie wird dadurch radikal auf den Kopf gestellt: »Krank« sind die vielen, die sich an die Gesellschaft anpassen, und »gesund« die wenigen, die in ihr als ver-rückt gelten (zum Beispiel Fromm 1953/2016). Auch die Bedeutung, die sozialen Faktoren und damit kulturellen und historischen Einflüssen zuerkannt wird, ist eine andere: Während diese im medizinischen Krankheitsmodell vorwiegend als moderierende Variablen in Erscheinung treten, gilt Kultur im Rahmenmodell der Entfremdung als die eigentliche Ursache psychischer Störungen. Indem sie den Menschen auf vielfältige Weise daran hindert, sich entsprechend den eigenen Anlagen zu entfalten, korrumpiert sie dessen natürliche Entwicklung und macht krank. Genau wie das medizinische Paradigma erheben Entfremdungstheorien damit den Anspruch, psychische Störungen kausal zu erklären, greifen zu diesem Zweck aber nicht auf eine biologische, sondern auf eine philosophische Anthropologie zurück. Die philosophische Frage nach der »wahren« Natur des Menschen ist dabei ebenso umstritten (und ideologisch aufgeladen) wie die Frage, welche Gesellschaftsform dieser Natur am ehesten gerecht wird.9 Das Urteil darüber, welche sozialen Faktoren und gesamt9 Sofern Entfremdungstheorien von einer zeitlosen Natur des Menschen ausgehen, die zwar von der Kultur korrumpiert, aber nicht durch diese konstituiert wird, erweisen sie sich als genauso ahistorisch wie medizinische Krankheitsmodelle. Zu Recht warnt Heinz (2015: 94-97) in diesem Zusammenhang vor einer Idealisie-

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gesellschaftlichen Entwicklungen als pathogen zu werten sind und welche nicht, kann daher – je nach anthropologischer und politischer Überzeugung – sehr unterschiedlich ausfallen: Neben einem allgemeinen Werteverfall (Rieff 1966/2006) wurden und werden unter anderem eine fortschreitende Individualisierung (Bellah et al. 1985/1993), die »Tyrannei der Intimität« (Sennett 1977/2008), eine sich ausbreitende Selbstbezogenheit (Lasch 1978/1982), Selbstausbeutung (Han 2016) und Beschleunigung (Rosa 2016) diskutiert. Die Hypothesen, die in Entfremdungstheorien zur Erklärung psychischer Störungen formuliert werden, sind demnach so vielfältig wie widersprüchlich. Gemeinsam ist ihnen oft nur die Tendenz, die beobachteten Veränderungen als Symptome eines fortschreitenden gesellschaftlichen Verfalls zu werten. Während der klinische Diskurs von dem optimistischen Glauben an den medizinischen Fortschritt getragen wird, ist Entfremdungstheorien damit fast immer eine pessimistische Sicht der Gegenwart und eine zumindest latente Verklärung der Vergangenheit eigen (Dornes 2016). Wo psychische Störungen als Kultur- und Zeitkrankheiten angesprochen werden, geschieht dies meist im doppelten Wortsinn: Einerseits wird davon ausgegangen, dass die so bezeichneten Störungen durch Kultur hervorgerufen werden, andererseits wird nahegelegt, dass sie die Kultur selbst betreffen. Dieselben Störungsbilder, die im klinischen Diskurs dazu dienen, homogene Gruppen aus der Gesamtbevölkerung herauszufiltern, können so zur Charakterisierung ganzer Gesellschaften (»Burn-out-Gesellschaft«) und/oder Epochen (»Zeitalter des Narzissmus«) genutzt werden. Sie fungieren dann nicht mehr als kategoriale Filter, sondern als ambige Kippbilder: Indem sie den Einzelnen und die Gesellschaft gleichzeitig ansprechen, ermöglichen sie ein flexibles Oszillieren zwischen diesen beiden Polen und wirken dadurch nicht selektierend, sondern verbindend. Während es im klinischen Diskurs um möglichst präzise und eindeutige Definitionen geht, ist der Sprachgebrauch in kulturkritischen Diskursen also bewusst vieldeutig und eher metaphorisch-symbolischer Art. An einem Autor wie Byung-Chul Han, dessen zeitkritischer Essay Müdigkeitsgesellschaft rung des Entfremdungsbegriffs, der Ende des 19. Jahrhunderts noch synonym mit »Entartung« verwendet wurde und bis heute sowohl für emanzipatorische als auch für repressive Zwecke genutzt werden kann.

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zu einem internationalen Bestseller geworden ist, lässt sich das gut veranschaulichen: Jedes Zeitalter hat seine Leitkrankheiten. […] Das beginnende 21. Jahrhundert ist, pathologisch gesehen, weder bakteriell noch viral, sondern neuronal bestimmt. Neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder Burnout-Syndrom (BS) bestimmen die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte […]. (Han 2016: 7)

Wie unschwer zu erkennen ist, werden in diesem Absatz nicht nur die genannten Störungsbilder, für die der Autor zum Teil idiosynkratische Abkürzungen erfindet und zwischen denen er bezeichnenderweise keinen Unterschied macht, sondern auch alle anderen aus dem medizinischen Diskurs entlehnten Begriffe nicht in ihrem ursprünglichen, streng naturwissenschaftlichen, sondern in einem eher literarisch-essayistischen Sinn verwendet. Gerade weil die aufgeführten Störungen nicht näher definiert, sondern als vieldeutige Metaphern und Symbole ins Spiel gebracht werden, lassen sie dabei Raum für Assoziationen und bieten der Leserschaft so eine möglichst breite Projektionsfläche für eigene Erfahrungen. In einem ganz anderen Sinn als dem vom Autor vermutlich gemeinten erweisen sie sich damit in der Tat als »Leitkrankheiten«. Indem sie dem Einzelnen eine Schablone liefern, das eigene Unbehagen politisch zu deuten, verleihen sie diesem Unbehagen einen überindividuellen Sinn. Auf diese Weise können sie einerseits zur Entpathologisierung und gesellschaftlichen (Re-)Integration beitragen, andererseits zu subversiver Solidarisierung einladen, indem sie die Möglichkeit eröffnen, sich (zusammen mit Gleichgestimmten) von gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen zu distanzieren. Wenn man so will, bilden klinische Störungsbilder, die als Kulturkrankheiten konzeptualisiert werden, damit ein komplementäres Gegenstück zu kulturellen Leitbildern. Aufgrund ihrer sprachlichen Vieldeutigkeit und moralistischen Intention versteht Alain Ehrenberg kulturkritische Pamphlete wie dasjenige Byung-Chul Hans als eine quasiliterarische Gattung, die er als moderne Jeremiade bezeichnet (2011: 41-44). In seiner ursprünglichen Wortbedeutung meint der Begriff »Jeremiade« ein biblisches Klagelied, das den gesellschaftlichen Verfall kritisiert 168

und dessen rhetorischer Stil im 17. Jahrhundert vor allem von puritanischen Priestern Neuenglands aufgegriffen wurde, »um die Gesellschaftskritik mit der spirituellen Erneuerung, die private mit der öffentlichen Identität und die […] ›Zeichen der Zeit‹ mit bestimmten Symbolen, Themen und Metaphern zu verbinden« (Bercovitch, zitiert nach Ehrenberg 2011: 43). Anders als klassische Jeremiaden, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse aus religiösen Gründen kritisiert werden, sind moderne Jeremiaden laut Ehrenberg allerdings nicht durch eine theologische, sondern durch eine vorwiegend psychologische Argumentation gekennzeichnet. Den Zustand der Gesellschaft an der seelischen Gesundheit der Individuen festzumachen und politische Missstände auf psychische Störungen zurückzuführen ist in diesem Zusammenhang zu einem feststehenden Topos geworden: »Das psychische Leiden und die seelische Gesundheit sind heutzutage der soziologische Test, der den Grad des Niedergangs misst« (Ehrenberg 2011: 20). Die für moderne Jeremiaden typische Vermischung von Psycho- und Gesellschaftsanalyse basiert dabei auf einer Denkfigur, die Ehrenberg als »funktionalistischen Kulturalismus« (ebd.: 182) bezeichnet und wie folgt charakterisiert: »Diese Konzeption basiert auf dem Postulat, dass es eine individuelle und eine kollektive Psyche gibt, eine Psychologie des Individuums und eine Psychologie der Gesellschaft« (ebd.: 181). Erst diese epistemologisch fragwürdige Annahme ermöglicht es, bestimmten Störungsbildern eine exemplarische Bedeutung beizumessen. Sie fungieren dann nicht mehr als Störungsbilder im eigentlichen (eine Ausnahme markierenden) Sinn, sondern eher als repräsentative Typen im Sinne Max Webers und beschreiben als solche eben nicht nur das psychische Leid Einzelner, sondern vor allem die angenommene »psychologische Tonart« aller (ebd.: 181). Das erste Störungsbild, das in diesem Sinn Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden hat, ist im ausgehenden 19. Jahrhundert die Neurasthenie, eine allgemeine »Nervenschwäche«, die aus einem damaligen Unbehagen gegenüber der Moderne unter anderem mit der »Dampfkraft, regelmäßig erscheinenden Zeitungen, Telegraphen, den Wissenschaften und der geistigen Aktivität von Frauen« in Verbindung gebracht wurde (Beard 1880/1881: VI). War die Neurasthenie noch um die Jahrhundertwende herum »zusammen mit dem Wort Fahrrad einer der gebräuchlichsten Begriffe 169

der Zeit« (Fleury 1898, zitiert nach Ehrenberg 2011: 14), wurde die psychologische Tonart aller in den 1960er Jahren insbesondere im Narzissmus und ab den 1980er Jahren in der Depression gesucht. Den vorläufigen End- und Höhepunkt dieser Entwicklung bildet das sogenannte »Burn-out-Syndrom«, das im klinischen Fachdiskurs bezeichnenderweise gar nicht als psychische Störung anerkannt wird, dafür aber im öffentlichen Diskurs seit einigen Jahren einen umso breiteren Raum einnimmt, weshalb Bröckling zu dem Schluss kommt, dass das Phänomen der Zeitkrankheit mit dem Burn-out »selbstreferentiell« (2013: 179) geworden sei: Es wird nicht nur dauernd darüber geredet und geschrieben, sondern wenn darüber geredet und geschrieben wird, dann immer schon als Zeitkrankheit. Burnout bezeichnet niemals bloß individuelles Leiden, sondern stets auch gesellschaftliche Pathologie; der Burnout-Patient ist nicht nur medizinischer Fall, sondern vor allem Sozialfigur. (Bröckling 2013: 179)

Die Rede von Kultur- und Zeitkrankheiten impliziert neben einer engen Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft einen fließenden Übergang zwischen Pathologie und Normalität. Der enge Zusammenhang zwischen einzelnen Störungsbildern und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen wird daher meist nicht nur mit der vermeintlichen Häufigkeit der betreffenden Pathologien, sondern darüber hinaus mit deren empirisch nur schwer überprüfbaren, da vorwiegend symbolisch gedachten Ähnlichkeit zur Psychologie »normaler« Individuen begründet (Ehrenberg 2011: 179). Aus wissenschaftlicher Perspektive sind die vielfältigen Entfremdungsthesen damit nicht nur aus empirischen, sondern auch aus erkenntnistheoretischen Gründen zu kritisieren. Wie gezeigt, basieren sie häufig auf unzulässigen Kausalitätsannahmen, fragwürdigen Verallgemeinerungen und metaphorischen Vergleichen. Wie Ehrenberg zu Recht betont, handelt es sich bei ihnen daher weniger um wissenschaftliche als um »symbolische Analysen«: »Wir lernen nichts, wenn wir diese Texte lesen, und sie wurden nicht geschrieben, um uns zu informieren, sondern um uns betroffen zu machen« (ebd.: 337; Hervorh. im Orig.). Als eine genuin moderne Form, das eigene Unbehagen in der Kultur zum Ausdruck zu bringen, erfüllen sie dennoch eine wichtige Funktion: Indem sie dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnen, gleichzeitig über sich selbst und die Gesellschaft zu sprechen, überbrücken sie die in in170

dividualistischen Kulturen auf besondere Weise spürbar gewordene Kluft zwischen Individuum und Kollektiv. Sie erlauben es, individuelle Erfahrungen in einen politischen Kontext zu stellen und dadurch nicht nur persönliche, sondern auch kollektive Interessen im privaten wie im öffentlichen Kontext anschlussfähig zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinn sind sie, wie Ehrenberg zu Recht bemerkt, »keine philosophischen oder soziologischen Irrtümer, sondern Notwendigkeiten unseres Soziallebens« (ebd.: 32).

2.3 Die Depression als Diskursphänomen Arbeiten, die eine Zunahme depressiver Störungen beklagen, beziehen sich meist auf Alain Ehrenbergs modernen Klassiker Das erschöpfte Selbst. Die darin vertretenen Thesen werden dabei häufig im Sinn der eben skizzierten Kulturkritik (miss)verstanden und auf die einfache Formel gebracht, die moderne Leistungsgesellschaft mache depressiv. Ehrenberg selbst hat sich gegen diese Interpretation ausdrücklich verwahrt: Die Vorstellung, dass gesellschaftliche Entwicklungen psychische Störungen hervorrufen, ist aus seiner Sicht eine »gesellschaftliche Idee«, die vor allem in individualistischen Kulturen verbreitet ist und daher von kritischen Beobachtern nicht einfach übernommen, sondern selbst zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden sollte (Ehrenberg 2011: 22).10 Auch die Depression wird von Ehrenberg in diesem Sinn als eine gesellschaftliche und damit historisch kontingente Idee verstanden. Anders als in den beiden zuvor beschriebenen Diskursen wird sie von ihm daher nicht als psychopathologische Entität, sondern als genuin modernes Diskursphänomen in den Blick genommen. Wenn er der Frage nachgeht, »warum sich die Depression als die am weitesten verbreitete psychische Störung durchgesetzt« (ebd.: 13) hat, interessieren ihn insofern weder die psychosozialen Ursachen noch die epidemiologische Verteilung des mit diesem Begriff bezeichne10 In seiner Arbeit Das Unbehagen in der Gesellschaft räumt Ehrenberg ein, durch Das erschöpfte Selbst womöglich »unwillentlich zu dieser Vorstellung beigetragen« zu haben (2011: 323), und bemüht sich daher um eine Richtigstellung: Die Verwendung psychologischen Vokabulars zur Beschreibung gesellschaftlicher Zustände wird von ihm hier als Symptom einer »individualistischen Soziologie« entlarvt, der er sein eigenes Konzept einer »Soziologie des Individualismus« als Alternative gegenüberstellt (ebd.: 20).

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ten Phänomens, sondern die ideengeschichtlichen Voraussetzungen und Konsequenzen des Begriffs selbst. Erkenntnisleitend ist für ihn die Frage, wie und warum dieser Begriff, den er als »semantischen Attraktor« (Ehrenberg 2008: 133) versteht, in der modernen Psychiatrie und Gesellschaft eine so zentrale Bedeutung bekommen hat. Um dem Bedeutungswandel auf die Spur zu kommen, der zur heutigen Bedeutsamkeit der Depression geführt hat, rekonstruiert Ehrenberg anhand von Texten, wie sich sowohl deren öffentliche Wahrnehmung als auch deren professionelle Beschreibung und Behandlung im Lauf des letzten Jahrhunderts historisch entwickelt haben. Neben auflagenstarken Magazinen untersucht er zu diesem Zweck insbesondere die psychiatrische und soziologische Fachliteratur. Er nimmt damit genau die Diskurse in den Blick, deren divergierendes Depressionsverständnis in den beiden vorangegangenen Abschnitten charakterisiert wurde. Während diese ihren Gegenstand, die Depression, direkt beobachten, beobachtet Ehrenberg somit deren Beobachtung und stellt damit konsequent um auf Beobachtungen zweiter Ordnung (von Foerster 1981). Dieses Vorgehen kann wissenssoziologisch, diskursanalytisch oder kulturhistorisch genannt werden.11 Kennzeichnend dafür ist die sozialkonstruktivistische Annahme, dass sich menschliches Erleben und Handeln im Wesentlichen durch Sprache konstituieren: »Persönliches und Subjektives gibt es nur«, heißt es dazu bei Ehrenberg, »weil es zunächst eine Welt von kohärenten, unpersönlichen Bedeutungen gibt, ohne die die Subjektivität schlichtweg nicht artikulierbar wäre« (2011: 20). Versteht man Kultur als die Welt dieser Bedeutungen, lässt sie sich weder von außen beobachten noch auf einzelne Bedeutungen reduzieren. Anders als im psychiatrischen Fachdiskurs und den meisten Entfremdungstheorien wird Kultur daher von Ehrenberg nicht als einzelne Variable, sondern als bedeutungsgebender (und damit alle denkbaren Variablen umfassender) Kontext verstanden. Anstatt 11 Neben Ehrenberg gibt es eine Reihe weiterer Autoren, die diese Perspektive auf kulturelle und psychische Phänomene einnehmen und sich dadurch nicht in die Gattung der oben geschilderten Jeremiaden einordnen lassen. Zu nennen sind hier aus jüngerer Zeit vor allem Niklas Rose (1998), Eva Illouz (2009) sowie Ulrich Bröckling (2007), der neben psychologischen insbesondere ökonomische Diskurse analysiert und mit dem »unternehmerischen Selbst« gewissermaßen die Kehrseite zu Ehrenbergs »erschöpftem Selbst« beschreibt.

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individuelles und kollektives Leid in einem naturwissenschaftlich kausalen Sinn zu verursachen, ermöglicht sie dessen Artikulation und gibt damit gleichzeitig den Rahmen vor, innerhalb dessen dieses Leid interpretiert und erlebt werden muss. Sprache und Wirklichkeit, Kultur und Psyche, Individuum und Gesellschaft sind dabei aus sozialkonstruktivistischer Sicht dialektisch aufeinander bezogen. Da Menschen auf die Beschreibung ihres Verhaltens reagieren und ohne eine solche Beschreibung gar nicht imstande wären, überhaupt in irgendeiner Weise zu handeln, bleiben sie von den Theorien und Konzepten, die ihnen die Kultur dafür zur Verfügung stellt, nicht unberührt, sondern verändern sich in Wechselwirkung mit diesen. Der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking hat diesen Zusammenhang am Beispiel verschiedener humanwissenschaftlicher Kategorien eindrücklich illustriert und dafür den Begriff des »Loopingeffekts« geprägt: Neue Kategorien zur Klassifikation von Menschen zu kreieren bedeutet zugleich, die Art und Weise zu verändern, in der wir über uns selbst nachdenken können, es bedeutet, unser Selbstwertgefühl und sogar die Art und Weise zu verändern, in der wir unsere eigene Vergangenheit erinnern. Das wiederum generiert einen Loopingeffekt, weil Menschen, die in diese Kategorien fallen, sich anders verhalten und dadurch anders sind. (Hacking 1995: 369; Übers. J. H.)12

Derselbe Effekt gilt aus kulturwissenschaftlicher Sicht für die Depression. Wenn Ehrenberg den »Wandel in der psychiatrischen 12 Die Annahme, dass menschliches Erleben durch seine Beschreibung beeinflusst wird, ist nicht nur eine Grundprämisse moderner Wissenschaftstheorie, sondern bildet die Grundlage jedweder Psychotherapie. Dass therapeutische Praktiken und Konzepte, über das übliche Einzel- und Gruppensetting hinausgehend, auch eine kulturelle Wirkung auf menschliches Erleben und Handeln haben, insofern sie Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die ohne sie gar nicht denkbar wären, wird dagegen (zumindest disziplinintern) nur selten reflektiert. Nimmt man diese Wirkung als eine zwar nicht intendierte, aber unvermeidliche und die Gesellschaft als Ganzes betreffende Nebenwirkung ernst, werden psychische Störungen durch therapeutische Theorien und deren Anwendung nicht nur kuriert, sondern im umfassenden Wortsinn kultiviert. Ein Autor, der diesen Zusammenhang schon früh luzide beschrieben hat, ist Karl Jaspers: »Die Praxis wird […] ein Mittel der Erkenntnis. Sie bewirkt nicht nur das jeweils Beabsichtigte, sondern auch Unerwartetes. So züchten therapeutische Schulen unwillkürlich Erscheinungen, die sie heilen« (1913/1973: 662; Hervorh. J. H.).

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Betrachtungsweise der Depression« in einen größeren historischen Kontext stellt und zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug setzt, geht er daher zumindest implizit davon aus, damit gleichzeitig etwas über die historische Entwicklung der menschlichen Subjektivität und die »aktuelle Erfahrung der Person« (Ehrenberg 2008: 20) auszusagen. Seine wichtigsten Thesen lauten dabei wie folgt: Durch die beiden großen Revolutionen der modernen Psychiatrie, die Entdeckung der Psychopharmaka in den 1950er Jahren und die Entwicklung des DSM-III in den 1970er Jahren, sei die psychoanalytische Annahme, psychische Störungen würden durch Konflikte hervorgerufen, durch ein medizinisches »DefizitModell« verdrängt worden (ebd.: 139). Die Transformation der psychiatrischen Begrifflichkeiten, die sich vor allem an der Ablösung der »Neurose« durch die »Depression« ablesen lasse, vollzieht sich dabei laut Ehrenberg in einem gesamtgesellschaftlichen »Kontext sich wandelnder Normen« (ebd.: 140) und korrespondiert im Besonderen mit dem Übergang von einer Disziplinar- zu einer Leistungsgesellschaft. Erst das »Zusammentreffen der Dynamik der Emanzipation […] und der internen Wandlungen der Psychiatrie« bedingt somit das, was Ehrenberg einen »gewandelten Stil der Verzweiflung« (ebd.: 214) nennt und als ein Gefühl der Insuffizienz beschreibt: »Die neurotische Schuld ist offensichtlich kaum verschwunden, sondern hat die Gestalt der depressiven Unzulänglichkeit angenommen« (Ehrenberg 2011: 17). Die gesellschaftlichen Anforderungen und psychischen Belastungen haben demnach nicht zu- oder abgenommen, sondern lediglich ihre Gestalt verändert. Wie Ehrenberg zu zeigen versucht, sind moralische Imperative dabei durch Leistungsimperative und Schuldgefühle durch Insuffizienzgefühle verdrängt worden. Ehrenbergs vielzitierte These, die Depression sei eine Krankheit der Moderne, erweist sich damit als deutlich komplexer, als ihre Rezeption mitunter vermuten lässt. Da sie nicht von einem quantitativen, sondern von einem qualitativen Wandel psychischen Leids ausgeht und diesen Wandel vor allem auf die »Geschichte […] der psychiatrischen Kategorien« (2008: 25) zurückführt, lässt sie sich mittels epidemiologischer Daten, die bekanntlich selbst Teil dieser Geschichte und für qualitative Veränderungen einzelner Symptome blind sind, weder belegen noch widerlegen. Epidemiologische 174

Studien, wie sie im Folgenden beschrieben werden, spielen in Ehrenbergs Argumentation dementsprechend nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden von ihm nicht als Beleg für den von ihm beschriebenen Wandel, sondern eher als ein vieldeutiges Symptom desselben verstanden: Zeigen diese Zahlen eine Zunahme der Depression? Oder die Tendenz, bei psychischen Problemen häufiger den Arzt aufzusuchen? Oder eine Veränderung in der Diagnostik? Nur eines ist all diesen epidemiologischen und statistischen Untersuchungen gemeinsam: Sie betonen die Bedeutung des gesellschaftlichen Wandels. (2008: 146)

Die psychologischen und soziologischen Auswirkungen dieses Wandels sind aus Ehrenbergs Sicht so vielfältig wie ambivalent. Anders als in den zuvor beschriebenen Entfremdungstheorien wird der Wandel von ihm daher nicht als Verfall, sondern als umfassende Transformation verstanden. Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, das Erleben der Einzelnen sowie die wissenschaftliche Beschreibung und Behandlung dieser Phänomene in den jeweiligen Fachdisziplinen gehen im Zuge dieser Transformation Hand in Hand. Sie lassen sich weder eindeutig voneinander trennen noch kausal aufeinander zurückführen, sondern bedingen und spiegeln sich wechselseitig und bilden insofern ein komplexes Gefüge, das, zumindest aus einer wissenssoziologischen und diskursanalytischen Perspektive, nur als Ganzes betrachtet werden kann.

3. Empirische Daten Nachdem bisher aus einer metatheoretischen Außenperspektive verschiedene Depressionskonzepte skizziert wurden, die in den einschlägigen Debatten häufig miteinander vermengt werden, wird die Depression im Folgenden als klinisches Störungsbild behandelt und aus der Binnenperspektive epidemiologischer Forschung in den Blick genommen. Ausgangspunkt der Betrachtung sind Daten der Sozialversicherungen (administrative Daten), die den öffentlichen Diskurs um die Zunahme depressiver Störungen im Wesentlichen stimulieren. Die Auswertungen zur Häufigkeit von Depressionen im Versor175

gungsgeschehen, assoziierten Fehlzeiten sowie Frühberentungen werden jedoch häufig über- oder fehlinterpretiert, da ohne Berücksichtigung der Methodik dieser Erhebungen und der Validität der Daten diskutiert wird. Epidemiologische Feldstudien dagegen erlauben Bewertungen des zeitlichen Trends von Prävalenzen13 in der Bevölkerung, auch wenn hier gemischte Ergebnisse referiert werden und Schlussfolgerungen ebenfalls vorsichtig gezogen werden müssen. Erstaunlich konsistent, und zwar in beiden Datenquellen übereinstimmend, sind die Befunde zu soziodemographischen Korrelaten von Depressionsdiagnosen: Bezeichnenderweise porträtieren sie dabei ganz andere Bevölkerungsgruppen als diejenigen, die in kulturkritischen Diskursen meist mit Depression und Burnout in Verbindung gebracht werden. Um die Hypothese einer Zunahme depressiver Störungen zu un­tersuchen, muss die bisher geführte Diskussion der epistemologischen Prämissen verschiedener Depressionskonzepte daher um (a) die Heterogenität der empirischen Befundlage14 und (b) deren begrenzte Aussagekraft beziehungsweise Vieldeutigkeit ergänzt werden.

3.1 Administrative Daten Die jährlich erscheinenden Reporte von Krankenkassen und Rentenversicherungen dokumentieren seit rund zwanzig Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs von Depressionsdiagnosen. Ihr Erscheinen wird daher regelmäßig von einem Medienecho begleitet, in dem die vermeintlich alarmierende Rolle der Depression bei der 13 Mit dem Begriff der Prävalenz wird in der Epidemiologie die Häufigkeit eines betrachteten Ereignisses in einer umschriebenen Population a) zu einem beschriebenen Zeitpunkt oder b) innerhalb eines beschriebenen Zeitraumes bezeichnet. Im Folgenden wird vorrangig die 12-Monats-Prävalenz betrachtet. Die Kennzahl gibt den prozentualen Anteil der betrachteten Gruppe an, bei dem das untersuchte Ereignis mindestens einmal in den letzten 12 Monaten vor der Messung aufgetreten ist, beispielsweise den Anteil an gesetzlich Krankenversicherten mit einer kodierten Depressionsdiagnose im Laufe eines Jahres. 14 Die Darstellung konzentriert sich vorrangig auf die Situation in Deutschland und beschränkt sich auf die erwachsene Bevölkerung. In der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen müssten andere Datenquellen und Depressionsmaße betrachtet werden, wodurch die Komplexität der Ergebnisse nur noch schwer darzustellen wäre.

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Verursachung von Arbeitsunfähigkeit gepaart mit dem Verweis auf die so entstehenden volkswirtschaftlichen Schäden referiert und das Versagen des Versorgungssystems moniert wird. Die empirische Basis bilden hier administrative Daten, das heißt die im Versorgungsalltag gestellten Diagnosen, die im Abrechnungsprozess von den ambulanten und stationären Leistungserbringenden, vorrangig in Haus- und Facharztpraxen sowie Krankenhäusern, gemäß ICDSchlüssel kodiert und an die Krankenkassen übermittelt werden. Angaben zum Fehlzeitengeschehen werden aus den Arbeitsunfähigkeitsmeldungen von Versicherten und Behandelnden an die Krankenkassen abgeleitet. 3.1.1 Administrative Prävalenzen und Fehlzeiten depressiver Störungen Rund 30 Prozent der Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erhalten innerhalb eines Jahres die Diagnose einer psychischen Störung, 9 bis 13 Prozent aller Versicherten aufgrund von Depressionen.15 Bei Frauen wird die Diagnose ungefähr doppelt so häufig gestellt wie bei Männern. Für beide Geschlechter zeigt sich ein typisch zweigipfliger Altersverlauf, in dem die Dia­ gnosehäufigkeiten depressiver Störungen zunächst ansteigen, im Renteneintrittsalter leicht absinken und schließlich ein Maximum im hohen Alter erreichen. Im 85. Lebensjahr erhalten damit mehr als 25 Prozent der Frauen und zirka 15 Prozent der Männer eine Depressionsdiagnose in der Versorgung. Auch wenn die Diagnose häufig ist, sind es Fehlzeiten aufgrund von Depressionen nicht. Nur ungefähr einem Fünftel der Versicherten mit kodierter Depressionsdiagnose wird infolge dessen auch Arbeitsunfähigkeit bescheinigt (Techniker Krankenkasse 2015). Damit weist nur die geringe Zahl von 1,6 Prozent aller Erwerbspersonen innerhalb eines Jahres Fehlzeiten aufgrund einer Depressionsdiagnose auf. Die herausragende Bedeutung der Depressionen für erkrankungsbedingte Arbeitszeitausfälle resultiert also nicht aus einer hohen Fallzahl, sondern maßgeblich aus den langen Krankschreibungszeiten je Fall, die im Mittel bei 64 Tagen 15 Barmer GEK 2014; BKK 2015; Erhart/Stillfried 2012; Gerste/Roick 2014; Jacobi et al. 2015; Melchior et al. 2014.

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liegen. Das Bild wird darüber hinaus durch einzelne sehr lange Krankheitsverläufe geprägt. Angesichts der gängigen Gegenwartskritik an den zu hohen Anforderungen der Leistungsgesellschaft ist das ein erstaunliches Ergebnis: Auch mit Depressionen scheint die berufliche Funktionsfähigkeit selten schwer eingeschränkt zu sein. Besonders betroffen von der Störung sind Frauen und Menschen jenseits des Erwerbsalters. Am häufigsten sind Depressionsdiagnosen sogar bei Erwerbslosigkeit: Mehr als zwanzig Prozent der erwerbslosen Personen erhalten eine Depressionsdiagnose (Barmer GEK 2014), verglichen mit erwerbstätigen Versicherten werden sie deshalb mehr als viermal so häufig arbeitsunfähig gemeldet (BKK 2015). Damit erscheint Berufstätigkeit primär als Ressource psychischer Gesundheit. Wenn die moderne Arbeitswelt als pathogen diskutiert werden soll, interessiert vor allem der Vergleich beruflicher Branchen der Versicherten. So treten die meisten Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von Depressionen bei Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen auf, gefolgt von den Wirtschaftsfeldern der öffentlichen Verwaltung und Sozialversicherung sowie Sicherheits- und Überwachungsberufen (BKK 2016). Besonders viele Arbeitsunfähigkeitsfälle gibt es unter Callcenter-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern. Mit nur zirka einem Prozent finden sich die geringsten Prävalenzen unter anderem im Hoch- und Tiefbau, in der Informations- und Kommunikationstechnologiebranche sowie der Land-, Tier- und Forstwirtschaft. Bei Versicherten in Führungs- oder Leitungspositionen sind in Bezug auf alle Diagnosen, darunter auch Depressionen, weniger Arbeitsunfähigkeitsfälle zu verzeichnen als bei Erwerbspersonen ohne Leitungsfunktion (Techniker Krankenkasse 2015). Insgesamt erhalten Personen mit höherem Einkommen seltener eine Depressionsdiagnose (Bramesfeld et al. 2007). Wie für alle Korrelate gilt, dass Zusammenhänge nicht kausal als Ursachen von Störungen und Fehlzeiten interpretiert werden dürfen. Vielmehr muss die Bidirektionalität von Morbidität und beispielsweise Berufstätigkeit berücksichtigt werden: Im klinischen Vulnerabilitäts-Stress-Modell der Ätiologie psychischer Störungen stellen Arbeitsbedingungen einerseits Stressoren dar, die Auslöser von Depressionen sein können. Andererseits verharren psychisch vulnerable, belastete oder erkrankte Personen häufiger in benachteiligenden Bedingungen oder steigen in diese 178

ab.16 Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass sich gesundheitliche Ungleichheit schon vor Beginn der Erwerbstätigkeit zeigt, denn Depressionsdiagnosen und Fehlzeiten sind bereits mit geringer schulischer und beruflicher Bildung assoziiert (Techniker Krankenkasse 2015). Die Frage der Kausalität ist gleichermaßen offen für Zusammenhänge mit dem Familienstand: Personen, die nicht in einer Partnerschaft, die allein im Haushalt leben oder alleinerziehende Eltern sind, erhalten häufiger eine Depressionsdiagnose.17 Bildungsferne, Einsamkeit, Erwerbslosigkeit beziehungsweise prekäre Beschäftigung oder Tätigkeit in Pflege oder Callcenter, Armut und hohes Alter – sind es diese Lebenswelten, in denen kulturkritische Diskurse das überforderte Selbst beheimatet sehen? 3.1.2 Zeitliche Trends administrativer Depressionsdiagnosen und Fehlzeiten Das bemerkenswerteste Ergebnis von Routinedatenanalysen liegt in der Betrachtung des zeitlichen Trends. Etwa seit der Jahrtausendwende werden stetige Zuwächse der Zahl administrativer Depressionsdiagnosen dokumentiert. Auch in kurzen Zeiträumen berichten mehrere Kassen über deutliche Zunahmen, die BKK beispielsweise von 8,2 Prozent im Jahr 2009 auf 13,6 Prozent im Jahr 2013,18 wobei der Trend sowohl leichte, mittelgradige als auch schwere Episoden betrifft. Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit einer Krankschreibung aufgrund von Depressionen. Zusammen mit der wachsenden Häufigkeit der Diagnose liegt der Anstieg bei den Fehlzeiten damit je nach Kasse und Vergleichszeitraum bei 70 bis weit über 200 Prozent.19 In Bezug auf die Summe der Arbeitsunfähigkeitstage rangieren Depressionen damit inzwischen unter den drei Diagnosen mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen (ebd.). In jüngerer Vergangenheit zeigt sich vereinzelt jedoch auch ein Stagnieren dieses 16 Neben diesen beiden Wirkrichtungen – überfordernde Arbeitsbedingungen begünstigen psychische Störungen und psychische Störungen begrenzen die beruflichen Möglichkeiten – wird drittens unter dem Titel »Person-Environment-Fit« diskutiert, dass berufliche Anforderungen nie an sich pathogen seien, sondern nur bei fehlender Passung zur Person (WHO 2001; Linden 2016). 17 Bramesfeld et al. 2007; Maske et al. 2016. 18 Gerste/Roick 2014; IGES 2012; Jacobi et al. 2015. 19  BKK 2015; DAK 2013; Techniker Krankenkasse 2015.

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Trends. So berichtet die Techniker Krankenkasse von einem leichten Rückgang (vor allem bei Frauen) 2016 gegenüber dem Jahr 2015 (Techniker Krankenkasse 2017). Auf der Suche nach Erklärungen für diese Entwicklung zeigen weiter gehende Analysen der Kassendaten, dass die beobachteten Trends weder allein in einer möglicherweise über die Jahre zunehmenden Chronifizierung von Depressionen bestehen noch auf Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur (wie zum Beispiel den demographischen Wandel) zurückzuführen sind (Gerste/Roick 2014). Stattdessen scheint es vielmehr eine Veränderung in der Gesamtheit des Diagnosespektrums gegeben zu haben. Die stetige Zunahme von Fehlzeiten aufgrund von psychischen Diagnosen geht mit einem Rückgang von Fehlzeiten aufgrund von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und der Atemwege einher (DAK 2013). In gleicher Form haben sich die Erwerbsminderungsrenten begründenden Diagnosen seit den 1990er Jahren verschoben, mit einem stetigen Anstieg der psychischen Diagnosen auf das Doppelte bei gleichzeitiger konstanter Abnahme in allen anderen Diagnosehauptgruppen, unter anderem den Erkrankungen des Bewegungsapparates (Deutsche Rentenversicherung Bund 2016). Die Rentenversicherung selbst interpretiert dies als begrüßenswerte Abnahme der Stigmatisierung psychischer Störungen (Deutsche Rentenversicherung Bund 2014). Zugleich reflektiert diese Entwicklung die unter dem Begriff »neue Morbidität« zusammengefasste historische Verschiebung von der Dominanz der akuten und Infektionskrankheiten hin zu den nicht übertragbaren, häufig chronischen Erkrankungen. Sie wird im Zusammenhang mit veränderten Lebensbedingungen und -gewohnheiten, dem medizinischen Fortschritt und einer höheren Lebenserwartung gesehen (Robert Koch-Institut 2015). Im Gegensatz zu dieser positiven Deutung steht die Annahme, dass vielmehr ein Wandel der Arbeitswelt psychische Störungen zunehmend im Versorgungssystem sichtbar werden lässt. Sofern in der modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft anstelle von handwerklichen oder körperlichen Fähigkeiten vermehrt »Soft Skills«, Emotionsarbeit, Multitasking oder lebenslanges Lernen gefordert werden und so eine stabile psychische Gesundheit vorausgesetzt wird, schränken psychische Störungen wie Depressionen die berufliche Funktionsfähigkeit in stärkerem Maße ein 180

(Jacobi/Linden, im Erscheinen). Moderne Arbeitsanforderungen sind damit weniger tolerant gegenüber psychischer Beeinträchtigung, bieten ihr seltener Nischen und lassen sie damit schneller in Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung münden. Unter dieser Prämisse ist ein Wandel der (Arbeits-)Gesellschaft nicht an sich pathogen, resultiert aber in einer stärkeren Krankheitslast psychischer Störungen, da diese heute gravierendere Einschränkungen darstellen. 3.1.3 Interpretation administrativer Daten Die betrachteten Routinedaten der GKV bilden das professionelle Behandlungsgeschehen ab und liefern dadurch einen unverzichtbaren Beitrag zur Versorgungsepidemiologie. Für die wissenschaftliche Analyse mit epidemiologischem Erkenntnisinteresse haben sie Vorteile, die vorrangig mit der umfassenden Verfügbarkeit für die gesamte gesetzlich krankenversicherte Bevölkerung verbunden sind (Geyer/Jaunzeme 2014). Berücksichtigt man allerdings das Zustandekommen, den Zweck und die Qualität dieser Daten, muss ihre Aussagekraft im Allgemeinen und in Bezug auf psychische Störungen im Speziellen eingeschränkt werden. Aufgrund der folgenden Limitationen eignen sie sich nicht als Beleg für eine mögliche Epidemie der Depression: (1) Voraussetzung von Versorgungsangeboten: Eine Kontaktaufnahme zum Versorgungssystem setzt voraus, dass Patientinnen und Patienten wohnortnah Zugang zu Versorgungsangeboten haben, doch die Erreichbarkeit und Dichte der spezialisierten fachärztlichen Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen variiert in Deutschland erheblich zwischen Regionen, ohne dass dies durch entsprechende regionale Unterschiede in der epidemiologischen Häufigkeit psychischer Störungen legitimiert wäre (Albrecht et al. 2016; Jacobi et al. 2016a). Da aber Zusammenhänge zwischen der regionalen Dichte von Nervenärzten sowie Psychotherapeuten und der Zahl administrativer Diagnosen von psychischen Störungen bestehen,20 ist zu erwarten, dass die Morbidität in schlecht versorgten Regionen in den Kassendaten nicht erfasst und damit unterschätzt wird. Gleichermaßen ist plausibel, dass sich der in den 20  BKK 2015; Erhart/Stillfried 2012; Melchior et al. 2014.

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vergangenen dreißig Jahren erfolgte Ausbau von Versorgungskapazitäten (siehe Abschnitt 4, Hypothese 1), durch den mehr Patienten gesehen und Diagnosen kodiert werden können, ebenfalls in steigenden Diagnosehäufigkeiten niederschlägt, so dass diese nicht als Ausdruck einer wachsenden Morbidität gedeutet werden dürfen. (2) Voraussetzung von Inanspruchnahme: Alle Personen, die trotz des Vorliegens einer Erkrankung oder Störung keine oder professionelle Hilfe jenseits des GKV-Leistungskataloges in Anspruch nehmen, werden in den Routinedaten nicht abgebildet. Als Beleg des treatment gap wird die geringe Übereinstimmung zwischen Depressionsdiagnosen, die in Bevölkerungsstudien standardisiert erhoben werden, und den im Versorgungsalltag real vergebenen Diagnosen gedeutet. So gibt nur jede dritte Person mit Depressionsdiagnose im klinischen Interview einer epidemiologischen Feldstudie an, deswegen auch Kontakt zum Versorgungssystem aufgenommen (Mack et al. 2014) beziehungsweise eine ärztliche Depressionsdiagnose erhalten zu haben (Maske et al. 2017). Im Zeitverlauf zeichnet sich für Deutschland zwischen 1998 und 2010 nur eine leichte Zunahme im Hilfesuchverhalten ab (Brandstetter et al. 2017). (3) Wahrnehmung und Bewertung von Symptomen bei Behandelnden: Administrative Diagnosen bilden nur die Morbidität ab, die Behandelnde als solche bewerten und in der Praxissoftware kodieren. Zur Erklärung des treatment gap wird daher auch die Qualität ärztlicher Diagnostik im Behandlungsalltag kritisch hinterfragt. So werden in der Primärversorgung rund fünfzig Prozent der Patienten, die gemäß standardisierten Screening-Instrumenten oder klinischen Interviews die Kriterien einer Depression erfüllen, von Behandelnden nicht als depressiv diagnostiziert.21 Gleichzeitig wird ein Teil der Patienten in dieser Logik falsch positiv diagnostiziert, denn die Diagnose im Versorgungssystem bestätigt sich bei weniger als vierzig Prozent der Fälle auch anhand der DSM-IV-Kriterien (Maske et al. 2017). Die Zunahme administrativer Diagnosen kann sich vor diesem Hintergrund auch daraus erklären, dass Behandelnde aufmerksamer für depressive Symptome geworden sind, zum Beispiel durch zunehmende Berücksichtigung psychischer Störungen in ärztlichen Weiterbildungscurricula.22 Auch eine im Zuge der 21 Becker/Abholz 2005; Mitchell et al. 2009; Sielk et al. 2009. 22 Dies mag auch durch berufsständische Konkurrenz angeregt werden, aufgrund deren die Ärzteschaft die Versorgung der Psyche nicht allein der noch recht jun-

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Enttabuisierung beziehungsweise -stigmatisierung psychischer Störungen wachsende Bereitschaft, eine Diagnose tatsächlich schriftlich zu fixieren, kann sich in Kassendaten niederschlagen. In den GKV-Daten werden folglich andere Personen als depressiv beschrieben als mittels bevölkerungsrepräsentativer standardisierter Diagnostik. In dieser Diskrepanz spiegeln sich damit die oben als konzeptuelle Frage diskutierten Unterschiede diskordanter Depressionsbegriffe in Versorgung und Forschung wider (siehe auch Tyrer 2009). So weisen qualitative Arbeiten auch empirisch darauf hin, dass vor allem Hausärztinnen und Hausärzte das psychosoziale Lebensumfeld ihrer Patientinnen und Patienten deutlich stärker einbeziehen, als die Logik der Diagnosemanuale dies eigentlich vorsieht. In Gegenwart plausibler Auslöser werden psychische Symptome von ihnen daher oft nicht als pathologisch, sondern als »normale« Reaktionen gedeutet und es wird keine Diagnose vergeben, auch wenn die Kriterien für eine solche nach DSM oder ICD eigentlich erfüllt wären.23 Darüber hinaus würden Behandelnde auch dann von einer Diagnosestellung absehen, wenn die Beschwerden keine unmittelbare Behandlung indizieren oder den Präferenzen der Patienten entgegenstehen (Kendrick et al. 2005). Gleichzeitig werden umgekehrt Diagnosen häufig auch dann gestellt, wenn psychisches Leiden und »Hilfebedarf« wahrgenommen werden, aber die diagnostischen Kriterien nicht vollständig erfüllt sind (siehe Abschnitt 4, Hypothese 1). (4) Eingeschränkte Datenqualität und -validität: Inwiefern administrative Diagnosen von verschiedenen Leistungserbringenden und Institutionen nach einheitlichen Kriterien kodiert werden, ist retrospektiv nicht überprüfbar. Studien zur Kodierqualität von Depressionsdiagnosen werfen – je nach Perspektive – entweder Zweifel an den diagnostischen Kompetenzen der Praktiker oder aber am praktischen Nutzen der Klassifikationssysteme auf. Diese Ergebnisse lassen bilanzierend »bezweifeln, dass auf Basis dieser Datengrundlage hinreichend valide und zuverlässige Rückschlüsse auf die tatsächliche Morbiditätsentwicklung der GKV-Bevölkerung gezogen werden können« (IGES 2012: 177).24 gen Profession der Psychologischen Psychotherapeuten überlassen will (Thom/ Ochs 2013). 23 Abholz/Schmacke 2014; Becker et al. 2009; Pilars de Pilar et al. 2012. 24 So werden beispielsweise die Hälfte bis zwei Drittel aller Depressionsdiagnosen

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(5) Abrechnung als Erhebungszweck: Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Routinedaten der Dokumentation von Leistungen dienen und deren Honorierung legitimieren. Folglich können sich auch Reformen des Vergütungssystems in GKV-Daten niederschlagen, beispielsweise die Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (mRSA) im Jahr 2009 (Hillienhof 2017). So erhalten die Krankenkassen seitdem je kodierter Depressionsdia­ gnose einen Zuschlag aus dem Gesundheitsfonds, der sich jährlich auf tausend Euro pro Fall summieren kann (Scherff 2016). Möglicherweise hat dies sowohl ein Right-Coding bisher nicht diagnostizierter (weil übersehener oder anders verschlüsselter) Depressionen als auch ein Up-Coding nicht eigentlich krankheitswertiger Symptomatiken stimuliert (Bauhoff et al. 2017). Zusammengefasst: Auch wenn administrative Daten fast schon erstaunlich wenig über Morbidität im Sinne der Störungsdefinition in ICD oder DSM aussagen, so reflektieren sie doch die grundlegende Debatte um das Wesen der Depression und ihre wachsende Bedeutung im öffentlichen und fachlichen Diskurs und Versorgungsgeschehen.

3.2 Epidemiologische Feldstudien Epidemiologische Feldforschung sieht ihre primäre Aufgabe in der Beschreibung der Häufigkeit sowie der räumlichen und zeitlichen Verteilung von Erkrankungen in der Bevölkerung und liefert damit Beiträge zu klinischer Forschung, Public Health und Versorgungsplanung (Jacobi et al. 2016b). In diesen Studien zum zeitlichen Trend der Depressionsprävalenz sollen die beschriebenen Schwächen von Analysen der administrativen Daten überwunden werden. Voraussetzung dafür ist eine möglichst präzise und standardisierte Erfassung des Untersuchungsgegenstandes. Seit Einführung des DSM-III im Jahr 1980 kann das Störungsbild zu diesem Zweck anhand der darin formulierten Symptomkriterien in Form in den Restkategorien des ICD unter »sonstige« (F32.8, F33.8) oder »nicht näher bezeichnete« Episoden (F32.9, F33.9) kodiert, die per definitionem nicht das Vollbild der depressiven Episode erfüllen (siehe auch Gaebel et al. 2013; Gerste/ Roick 2014). Die Aussagekraft administrativer Prävalenzangaben wird durch diesen hohen Anteil unklarer Syndrome geschmälert.

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verschiedener Erhebungsinstrumente (Fragebögen, klinische Interviews) operationalisiert und seine Häufigkeit so auch zwischen verschiedenen Messzeitpunkten verglichen werden. 3.2.1 Epidemiologische Prävalenzen depressiver Störungen Für Deutschland liegen mit der »Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS1) und ihrem Zusatzmodul »Psychische Gesundheit« (DEGS1-MH) repräsentative Daten zur Häufigkeit psychischer Störungen in der Bevölkerung vor. Mehr als 5000 Studienteilnehmende wurden zwischen 2009 und 2012 mit dem klinischen »Composite International Diagnostic Interview« (CIDI) untersucht. Durch Beantwortung von dreißig einzelnen Fragen zum Vorliegen der neun Symptome eines depressiven Syndroms unter Berücksichtigung von Ein- und Ausschlusskriterien depressiver Störungen (gemäß DSM) wurden Diagnosen durch geschultes Studienpersonal abgeleitet. Auf der Basis dieser Daten wird die 12-Monats-Prävalenz der Depression in der Bevölkerung auf 6,8 Prozent geschätzt, bei Frauen auf 9,5 Prozent und bei Männern auf 4,0 Prozent (Jacobi et al. 2014). Für die dysthyme Störung wird eine 12-Monats-Prävalenz von 1,7 Prozent genannt (ebd.). Im Vergleich zu den administrativen Daten zeigen die Depressionsdiagnosen in der Bevölkerungsstudie eine auffällig gegenläufige Verteilung über die Altersgruppen: Die meisten Diagnosen werden in den jüngsten Altersgruppen gestellt (zum Beispiel bei 18 Prozent der Frauen zwischen 20 und 29 Jahren). Ab dem zirka fünfzigsten Lebensjahr fallen die Häufigkeiten ab und liegen in den höheren Altersgruppen deutlich unter jenen in der Versorgung (ebd.). Abgesehen davon zeigen sich in beiden Datenquellen erstaunlich übereinstimmend die gleichen Merkmale mit einer Depressionsdiagnose assoziiert: Auch wenn die Störung standardisiert und unabhängig von der Inanspruchnahme eines Versorgungsangebots erfasst wird, geschieht dies häufiger bei Menschen mit geringem sozioökonomischen Status (das heißt Bildung, Einkommen und Berufsstatus), ohne feste Partnerschaft und beim Vorliegen chronisch somatischer Erkrankungen; Zusammenhänge mit Erwerbslosigkeit sowie ein häufigeres Auftreten in urbanen gegenüber ländlichen Räumen bestehen ebenfalls, fallen jedoch nicht so stark aus wie in 185

den GKV-Daten.25 Wenn man all diese Korrelate als Risikofaktoren von Depressionen interpretiert, könnte ihre Zunahme – das heißt eine steigende soziale Ungleichheit, zunehmende Vereinzelung, Anstieg chronischer Erkrankungen – auch zu einer Ausweitung depressiver Morbidität führen. 3.2.2 Zeitliche Trends von Depressionsdiagnosen in Feldstudien Erste Gegenüberstellungen zwischen der genannten deutschen Studie DEGS1-MH und der Vorgängerstudie, dem Bundesgesundheitssurvey (BGS98), legen nahe, dass sich an der Gesamtprävalenz affektiver Störungen zwischen den Erhebungszeiträumen 1997-1999 und 2009-2012 nichts verändert hat (Jacobi et al. 2014). Vergleichbare internationale Studien belegen seit den 1990er Jahren ebenfalls eine stabile Häufigkeit von Depressionen, beispielsweise in den USA (Kessler et al. 2005; Mojtabai/Jorm 2015) und Kanada (Patten et al. 2016; Simpson et al. 2012). Möglicherweise ging dem zwischen den 1940er und 1970er Jahren ein Anstieg voraus, der später jedoch stagnierte, wie Daten aus Schweden (Mattisson et al. 2005; Nilsson et al. 2007), den USA (Murphy et al. 2000) und Finnland (Lehtinen et al. 1996) zeigen. Eine Studie beobachtet gar eine sinkende Ersterkrankungsrate und schließt von dieser auf eine über die Jahre zunehmende Chronifizierung von Depressionen (Eaton et al. 2007). Auch reine Fragebogenstudien zu depressiven Symptomen oder psychischer Belastung ergaben vermehrt eine Stabilität. In den Niederlanden lässt sich angesichts zwischenzeitlicher Fluktuationen kein eindeutiger zeitlicher Trend feststellen (Meertens et al. 2003), aus Australien wird in einer anderen Studie sogar von einem Rückgang berichtet (Shi et al. 2011). Doch die Datenlage ist widersprüchlich. So existieren auch Analysen, die in verschiedenen Vergleichszeiträumen zwischen 1981 und 2014 in den USA, in Frankreich, Griechenland und Großbritannien Zuwächse in der Prävalenz von Depressionen registrieren, wenn zum Teil auch nur geringfügige oder allein bei Frauen.26 Ein ähnlicher zeitlicher Trend wird für depressive Symptome und psychi25 Jacobi et al. 2015; Maske et al. 2016. 26 Compton et al. 2006; Eaton et al. 2007; Kovess-Masfety et al. 2009; Economou et al. 2013; McManus et al. 2016.

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sche Gesundheitsprobleme (in Vergleichszeiträumen zwischen 1998 und 2013) auch aus Australien (Goldney et al. 2010), Frankreich (Kovess-Masfety et al. 2009), Dänemark (Andersen et al. 2011) und Großbritannien (Katikireddi et al. 2012) berichtet. Die in diesen Arbeiten dargestellten Zuwächse fallen jedoch nicht annähernd so markant (oder gar dramatisch) aus, wie die administrative Datenlage es vermuten lässt. Systematische Reviews kommen auf der Basis von etwa achtzig Originalarbeiten zu folgendem Fazit: Für den Zeitraum ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute kann weder für psychische Störungen im Allgemeinen noch für Depressionen im Speziellen ein Anstieg der Prävalenzen belegt werden (Richter/Berger 2013; Richter et al. 2008). Die Assoziation von Morbiditätsentwicklung mit makrosozialen Veränderungen oder historischen Ereignissen wird als »eher lose« bewertet (Becker/Sartorius 1999). Nur eine Arbeit bilanziert eine Zunahme »depressiver Phänomene« als plausiblen Befund, schränkt aber ein, dass diese vermutlich deutlich geringer sei als häufig angenommen (Fombonne 1994). In nur scheinbarem Gegensatz dazu stehen die Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die epidemiologische Daten zur Schätzung der globalen Krankheitslast (global burden of disease) nutzen und zu denen die im Feld der Public Mental Health wohl meistzitierten Arbeiten gehören (zum Beispiel Üstün et al. 2004; Wittchen et al. 2011). Depressionen nehmen in diesen Studien seit 2015 den Spitzenplatz unter den Erkrankungen ein, die weltweit zu den meisten gesundheitlich eingeschränkten Lebensjahren führen (Institute for Health Metrics and Evaluation 2017). Das liegt zwar tatsächlich an einem weltweiten Anstieg der Depressionsfälle, lässt aber dennoch nicht auf eine Epidemie schließen: Die Zunahme erkläre sich nach Ferrari und Kollegen (2013) allein aus dem globalen Bevölkerungswachstum und der steigenden Lebenserwartung; eine Zunahme von Depressionsfällen stellt sich in diesem Begründungszusammenhang gar als Folge von Zivilisationsgewinnen einer gesteigerten Lebenserwartung dar. Die zum Teil inkonsistenten Ergebnisse erlauben somit bislang vor allem eine Schlussfolgerung: Die epidemiologischen Prävalenzen von Depressionen scheinen in den vergangenen Dekaden nicht gesunken zu sein. 187

3.2.3 Interpretation epidemiologischer Feldstudien Die zentralen Stärken epidemiologischer Forschungsansätze bestehen darin, erstens Morbidität auch für Gesundheitsstörungen abbildbar zu machen, die zu geringer Inanspruchnahme oder ärztlicher Diagnostik beziehungsweise Kodierung führen, zweitens Erkrankungen standardisiert und mit nahezu beliebiger Detailtiefe zu erfassen sowie drittens durch Angaben zum Beispiel zu Lebensqualität, Einschränkungen oder Beschwerden auch die subjektive Seite von Gesundheitserleben untersuchbar zu machen. Will man anhand der Ergebnisse von Bevölkerungsstudien Aussagen über eine mögliche Zunahme depressiver Störungen treffen, muss ihr Geltungsbereich ebenfalls eingegrenzt werden, wenn auch in anderer Form als für administrative Daten: (1) Selektive Nichtteilnahme an Studien: Epidemiologische Studienergebnisse liefern tendenziell konservative Schätzungen von Morbidität. Zum einen werden bestimmte Personengruppen systematisch von der Studienteilnahme ausgeschlossen, in DEGS1-MH beispielsweise Personen, die jünger als 18 und älter als 79 Jahre waren, für die Befragung unzureichende Deutschkenntnisse aufwiesen oder nicht in Privathaushalten, sondern etwa in Institutionen wie Pflegeheimen oder ohne Wohnsitz leben. Zum anderen ist die Teilnahmebereitschaft an Untersuchungs- und Befragungsstudien selten hoch und scheint über die Jahre zu sinken (Geyer/Jaunzeme 2014). Problematisch ist an beiden Selektionseffekten, dass sie mit dem Gesundheitsstatus zusammenhängen, denn Personen mit Beschwerden, Erkrankungen und Einschränkungen sind seltener zur Studienteilnahme bereit und dadurch in den Ergebnissen unterrepräsentiert (Hansen et al. 2001). So könnte die Häufigkeit von Depressionen anhand der Feldstudien unterschätzt werden, möglicherweise über die Jahre sogar zunehmend. (2) Abhängigkeit von Erfassung und Kriterien von Diagnosen: Eindeutige Schlüsse zur Entwicklung von Depressionsprävalenzen lassen sich auch deshalb nur schwer aus der Vielzahl epidemiologischer Studien ziehen, da diese – insbesondere bis in die 1980er Jahre hinein – verschiedene Erhebungsinstrumente einsetzen oder aus den (selbst von denselben Instrumenten gewonnenen) Rohdaten auf unterschiedliche Weise Diagnose-Indikatoren konstruieren. Grundlegender noch wird die Frage diskutiert, ob die DSM-Krite188

rien und damit ihre Operationalisierung in den Studien, zum Beispiel in Form klinischer Interviews, eher typisch weibliches Erleben und Verhalten abbilden und so eine männerspezifische Ausprägung der Depression nicht erfassen, die eventuell stärker durch Irritabilität und Hochrisikoverhalten gekennzeichnet ist (Rodgers et al. 2014). Gleichermaßen wird für Menschen im hohen Alter angenommen, dass sich die Phänomenologie der Depression im Altersgang ändert und depressive Symptome sich vermehrt somatisch manifestieren sowie häufiger als subklinische Fälle auftreten (Hegeman et al. 2012). Distanziert man sich auf diese Weise von der Annahme, dass das Störungsbild der Depression ein konsistentes sei, muss man schlussfolgern, dass Bevölkerungsstudien nach den geltenden diagnostischen Kriterien nur einen Teil dessen abbilden können und so zu Unter- und Überschätzungen der Ausprägung von Depressionen in bestimmten Bevölkerungsgruppen führen. (3) Verzerrungen durch Erinnerungseffekte: Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen können auch durch Einflüsse des Gedächtnisses verzerrt sein. So ist die retrospektive Einschätzung etwa von Häufigkeit, Schwere und zeitlichem Beginn depressiver Episoden fehleranfällig (Recall-Bias) (Simon/Von Korff 1995). Sie wird durch die gegenwärtige psychische Gesundheit, das Alter der Befragten sowie eine Vielzahl weiterer Faktoren beeinflusst, darunter möglicherweise auch die sich kulturell wandelnde Bedeutsamkeit psychischer Gesundheit für die Selbstbeschreibung. Trendaussagen, die sich auf retrospektive Angaben beziehen, sind hiervon beeinflusst, darunter auch prominente Arbeiten, die jüngeren Geburtskohorten ein angeblich erhöhtes Depressionsrisiko attestieren (Weiss­ man/Klerman 1992). (4) Verzerrungen durch Antworttendenzen: Studienteilnehmende können sich darin unterscheiden, ob und in welcher Form sie ihr tatsächliches Erleben und Verhalten auch in der Befragungssituation berichten. So können Befragte geneigt sein, aufgrund von Annahmen zur sozialen Erwünschtheit beziehungsweise aus Angst vor Stigmatisierung gewisse Angaben zu belastenden psychischen Symptomen zu vermeiden (Tourangeau et al. 2000). Noch grundlegender wird der Bericht über Symptome und Störungen dadurch beeinflusst, dass die Befragten nur in sehr unterschiedlichem Maß über Konzepte psychischer Störungen verfügen, um diese wahrnehmen und dann gegebenenfalls benennen und beschreiben zu kön189

nen. Sofern sich diese über die Jahre verändern, führen wiederholte Messungen zu mehrdeutigen Ergebnissen: Hat sich die Häufigkeit von Depressionen oder deren Kommunikation verändert? Dieses Problem, das disziplinintern unter dem Stichwort »ReportingBias« diskutiert wird, öffnet die epidemiologische Forschung für grundlegende Veränderungen in der Kultur, wie sie beispielsweise Ehrenberg beschreibt. Epidemiologische Studien leisten zu diesen Veränderungen möglicherweise selbst einen Beitrag. Zusammengefasst: Epidemiologische Feldstudien liefern Ergebnisse, in deren Zusammenschau ein klarer Prävalenzanstieg unwahrscheinlich erscheint. Sofern sich Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Datenerhebungen über die Jahre verändern, wie beispielsweise die Teilnahmebereitschaft in der Bevölkerung oder deren Wahrnehmung, Erinnerung und Kommunikation von psychischem Erleben, bilden Befunde zur Häufigkeit von Depressionen, allerdings auf nicht differenzierbare Weise, auch diese Prozesse ab.

4. Transdisziplinäre Diskussion Im Gegensatz zur vermeintlichen Zunahme depressiver Störungen, die sich empirisch nicht überzeugend begründen lässt, ist ein anderer Trend absolut unstrittig: der Ausbau von Versorgungsangeboten und deren wachsende Inanspruchnahme. Die Zahl der ambulant und stationär tätigen Fachärztinnen und Fachärzte im Fachgebiet Psychiatrie hat sich zwischen 2000 und 2016 mehr als verdoppelt, und auch die in den 1990er Jahren neu geschaffene Fachrichtung Psychosomatische Medizin verzeichnet markante Zuwächse (Des­ tatis 2017). Nach der Zulassung der Psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuteninnen und -therapeuten im Jahr 1999 ist auch deren Zahl erheblich gestiegen und umfasst heute 41 657 niedergelassene oder in Einrichtungen tätige Fachkräfte (Stand 31. 12. 2016; Destatis 2017). Die Behandlungsplätze in psychiatrischen und psychosomatischen Fachkliniken wurden zwischen 2005 und 2012 von 47,1 auf 52,6 Betten je 100 000 Einwohner angehoben (Destatis 2017). Eine große deutsche Krankenkasse (TK) berichtet von einem Anstieg verordneter Tagesdosen von Antidepressiva um das 2,7-Fache 190

zwischen 2000 und 2013 (Techniker Krankenkasse 2015), der auch international registrierbar ist (OECD 2017). Da sich das Behandlungsangebot quantitativ derart verbessert hat, wäre – unter der Voraussetzung, dass die angebotene Behandlung auch therapeutisch wirksam ist – eigentlich nur ein epidemiologischer Befund plausibel: Die Anzahl derer, die an Depressionen leiden, müsste sinken, was, wie die berichteten Befunde zeigen, nicht der Fall ist. Die Mehrheit der Studien berichtet stattdessen von stabilen, eine Minderheit sogar von steigenden Prävalenzen, weshalb nicht wenige Epidemiologinnen und Epidemiologen ihre Ergebnisse selbst als unerwartet bezeichnen.27 Der paradoxe und zumindest in der Öffentlichkeit nur selten diskutierte Befund, dass die Prävalenzen depressiver Störungen trotz deren vermehrter Behandlung vergleichsweise konstant geblieben sind, kann je nach epistemologischen Prämissen und (wissenschafts)politischen Interessen ganz unterschiedlich erklärt, gedeutet und bewertet werden. In der Literatur finden sich dazu im Wesentlichen drei Hypothesen (siehe Jorm et al. 2017 mit einem Überblick), die in bemerkenswertem Zusammenhang zu den drei eingangs unterschiedenen Depressionskonzepten stehen und sich logisch aus deren jeweiligen Denkstilen ergeben. Hypothese 1: Die Prävalenzen sinken nicht, weil die Versorgung ineffektiv ist. Wie geschildert, werden psychische Störungen in der Behandlungspraxis, besonders aber in der psychiatrischen und klinischpsychologischen Forschung meist analog zu somatischen Erkrankungen konzeptualisiert. Zumindest implizit wird daher davon ausgegangen, dass ihnen eine gemeinsame Essenz zugrunde liegt, die von gesellschaftlichen und historischen Einflüssen weitgehend unabhängig ist. Darüber hinaus wird argumentiert, dass ihre Behandlung möglichst standardisiert erfolgen und evidenzbasierten Leitlinien entsprechen sollte, um erfolgreich zu sein. Die Tatsache, dass depressive Störungen trotz deren zunehmender Therapie nicht seltener geworden sind, wird aus der Logik dieses Denkens heraus meist darauf zurückgeführt, dass die Versorgung bisher nicht effek27 Goldney et al. 2007; Jorm/Reavley 2012; Jorm et al. 2017; Mojtabai/Jorm 2015; Patten et al. 2016.

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tiv war oder zumindest nicht effektiv genug ist. Die gleichbleibenden Prävalenzen werden in diesem Zusammenhang als ein Indiz für fehlgesteuerte Ressourcen (Behandlung der »Falschen« durch eine fehlerhafte Diagnostik), eine minderwertige Behandlungsqualität (etwa durch ein nicht leitliniengerechtes Vorgehen) oder eine zu geringe Behandlungsbereitschaft auf Seiten der Patientinnen und Patienten (mangelnde Compliance) gedeutet. Wie oben beschrieben, zeigt tatsächlich eine Reihe von Studien, dass zwischen den im Versorgungsalltag gestellten Diagnosen und den auf standardisierten Erhebungen basierenden epidemiologischen Befunden nur eine vergleichsweise geringe Übereinstimmung besteht. Der scheinbar widersprüchliche Befund wachsender Inanspruchnahme bei gleichbleibender Prävalenz könnte daher auf einem ökologischen Fehlschluss beruhen und sich auf Entwicklungen in distinkten Personengruppen und Kohorten beziehen. Darüber hinaus gibt es Befunde, die darauf hindeuten, dass auch Fälle, die im Sinne der operationalisierten Diagnostik korrekt kodiert werden, oft keine leitliniengerechte Behandlung erhalten und vor allem medikamentöse Therapien auch an einer zu geringen Compliance auf Seiten der Patientinnen und Patienten scheitern können (beispielsweise Sansone/Sansone 2012). Dass der enorme Ausbau des Versorgungsangebotes in den letzten Jahrzehnten dadurch so gut wie wirkungslos geblieben sein soll, erscheint dennoch wenig plausibel, zumal wenn die Verantwortung dafür ausschließlich auf Seiten der Behandelnden und/oder Patientinnen und Patienten gesucht wird. In wissenschaftspolitischer Hinsicht erweist sich die betreffende Hypothese damit eigentlich nur für eine naturwissenschaftlich orientierte Forschung als attraktiv. Einerseits erlaubt sie es ihr, an einem medizinisch orientierten Krankheitsverständnis festzuhalten, andererseits bietet sie ihr die Möglichkeit, trotz oder gerade wegen vermeintlich geringer Behandlungserfolge die eigene Relevanz gegenüber der Praxis zu betonen und entsprechend auf diese einzuwirken. Hypothese 2: Die Prävalenzen sinken nicht, weil ein sozial bedingter Morbiditäts­ zuwachs die Erfolge einer effektiven Versorgung maskiert. Wer die Depression im eingangs skizzierten Sinn als Kultur- und Zeitkrankheit versteht, geht davon aus, dass deren Verbreitung 192

aufgrund sozialer Stressoren in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger drastisch zugenommen hat. Wie dargelegt, lässt sich eine solche Zunahme empirisch nicht belegen. Da die Prävalenzen depressiver Störungen trotz deren vermehrter Behandlung vergleichsweise konstant geblieben sind, kann eine solche Zunahme aber auch nicht ausgeschlossen werden. Geht man im Gegensatz zur oben genannten Hypothese davon aus, dass das bestehende Versorgungsangebot dazu beiträgt, die Chronifizierung von Depressionen erfolgreich zu verhindern, könnten die Prävalenzraten nämlich auch deshalb stabil geblieben sein, weil parallel zur Behandlung der Depression deren Verbreitung zugenommen hat. Die Erfolge einer zunehmend effektiven Versorgung würden in diesem Fall durch eine in ähnlichem Ausmaß wachsende Morbidität maskiert. Empirisch lässt sich diese Hypothese weder bestätigen noch falsifizieren. Ihr entspricht die ätiologische Annahme, dass die Häufigkeit von Depressionen auch und vor allem von gesellschaftlichen Risikofaktoren abhängt, von denen es – zumindest aus kulturpessimistischer Perspektive – heute mehr als früher zu geben scheint. Auch wenn die Epidemiologie in ihrer Operationalisierung der Depression bewusst auf ätiologische Annahmen dieser Art verzichtet, können deren Befunde zu soziodemographischen Korrelaten dabei durchaus zur Inspiration und kritischen Prüfung solcher Annahmen genutzt werden. Je nachdem, welche Zusammenhänge und Korrelate untersucht werden, kann sich damit auch die epidemiologische Forschung einem Begriff von Depression als Kulturkrankheit annähern.28 Die Befunde zu Korrelaten administrativer Depressionsdiagnosen, von denen wir berichtet haben, machen auf erhöhte Risiken im Rentenalter, in sozialen, Gesundheits- und Verwaltungsberufen sowie bei Mitarbeitenden ohne Leitungsaufgaben aufmerksam. In Übereinstimmung mit Korrelaten aus epidemiologischen Feldstudien sind Depressionen häufiger zu verzeichnen bei Frauen, alleinlebenden Menschen sowie bei Personen mit geringem Bildungsniveau, Einkommen und Berufsstatus, darunter ganz besonders bei 28 Kausale Effekte von Risikofaktoren (wie etwa Langzeitarbeitslosigkeit) können zwar nur in Längsschnittanalysen exploriert und überprüft werden, querschnittliche Korrelate können jedoch als Hinweise auf besonders betroffene Bevölkerungsgruppen und diesbezüglichen Forschungsbedarf zum Wirkungszusammenhang dienen.

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erwerbslosen Menschen. Inwiefern sich diese Risikofaktoren im Lauf der letzten Jahrzehnte quantitativ und qualitativ verändert haben, müsste je eigens geprüft werden und wird von verschiedener Seite infrage gestellt (Dornes 2016). Ganz unabhängig von ihrer historischen Entwicklung stehen die genannten Korrelate zudem in erstaunlichem Widerspruch zu den in den einschlägigen Überforderungstheorien porträtierten Depressiven beziehungsweise »Ausgebrannten«, denen ja in der Regel ein Zuviel an Arbeit, Freiheit und anderen Ressourcen attestiert wird, während in den referierten Daten insbesondere ein Zuwenig an sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital als pathogen erscheint. Hypothese 3: Die Prävalenzen sinken nicht, weil (Lebens-)Probleme heute nicht nur häufiger psychologisch behandelt, sondern auch als solche interpretiert und erlebt werden. Auch Ehrenberg (2008) geht davon aus, dass sich heute mehr Menschen als depressiv erleben als früher. Im Gegensatz zu Vertretern der zuletzt genannten Hypothese führt er diese Entwicklung aber nicht auf eine Zunahme sozialer Stressoren zurück, sondern betrachtet sie als Teil eines umfassenden kulturellen Wandels, der sich auch und besonders im wachsenden Einfluss psychologischer Theorien und Praktiken bemerkbar macht. Sowohl der Ausbau des Versorgungssystems als auch die angenommene Zunahme depressiven Erlebens wurzeln aus dieser Perspektive in einer zunehmenden Psychologisierung menschlicher Lebenswirklichkeit. Da psychologisches Wissen und die dazugehörigen Techniken zumindest in westlichen Kulturen spätestens seit dem »Psychoboom« der 1960er Jahre in immer mehr Lebensbereiche diffundieren, prägen sie unser Welt- und Selbstverständnis inzwischen wie kaum ein anderer Diskurs (zum Beispiel Rose 1998; Illouz 2009). Laut der Kultursoziologin Eva Illouz hat der therapeutische Diskurs dadurch unmittelbaren Einfluss auf unser Verhalten und Erleben: »Wie die Religion bietet der therapeutische Diskurs Symbole, die eine mächtige Erfahrungswirklichkeit erzeugen und die Natur des Handelns selbst verändern« (2009: 27). Auf kultureller Ebene trägt der therapeutische Diskurs dadurch zur Erzeugung genau derjenigen Störungen bei, um deren Heilung es ihm auf indivi194

dueller Ebene geht. Wie professionssoziologische Analysen zeigen, schafft sich das therapeutische Angebot auf diese Weise – wohl nicht zuletzt aus berufsständischen und ökonomischen Interessen heraus – seine eigene Nachfrage (De Swaan 1990). Die vermehrte Behandlung und Thematisierung depressiver Störungen und deren gleichbleibende (beziehungsweise verdeckt zunehmende) Prävalenz stehen aus dieser Perspektive nicht in Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich im Sinne eines Loopingeffekts wechselseitig. Die Hypothese, dass therapeutisches Wissen nicht nur heilsam wirken kann, sondern die Phänomene, auf die es sich bezieht, zum Teil selbst hervorruft, findet sich, wenngleich in erkenntnistheoretisch anders gelagerter Form, auch in der Versorgungsforschung und Epidemiologie wieder. Sie eignet sich daher wie keine andere dazu, die unterschiedlichen Sichtweisen verschiedener Disziplinen miteinander zu verbinden. Darüber hinaus kann sie sich inzwischen auf eine Vielzahl empirischer Befunde stützen. Wie die berichteten administrativen Daten zeigen, werden heute deutlich mehr Depressionsdiagnosen gestellt als noch vor zwanzig Jahren. Laut Krankenkassenberichten (zum Beispiel DAK 2013) lässt sich dieser Befund dabei am ehesten mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber depressiven Symptomen erklären. Durch eine verstärkte Fortbildung der Ärzteschaft und die mediale Präsenz psychischer Störungen, die auch in wissenssoziologischen Argumentationen eine wichtige Rolle spielt, habe sich sowohl die Sensitivität auf Seiten der Behandelnden als auch die Sensibilität auf Seiten der Betroffenen in den letzten Jahrzehnten derart erhöht, dass depressive (und andere psychische) Störungen inzwischen häufiger als solche erkannt würden. Innerhalb des epidemiologischen Paradigmas werden die Zunahme administrativer Diagnosen sowie der scheinbare Widerspruch zwischen steigender Behandlungsdichte und konstanten Prävalenzraten mit dem Konzept der Mental Health Literacy erklärt. Letztere ist definiert als das Wissen über den Erhalt und die Förderung psychischer Gesundheit sowie über psychische Störungen und deren Behandlung. Damit assoziiert sind nichtstigmatisierende Einstellungen gegenüber psychisch Kranken sowie Kompetenzen im eigenen Hilfesuchverhalten (Wei et al. 2015). Das Konzept der Literacy versteht »Wissen« dabei, anders als diskursanalytische Ansätze, nicht als Macht, sondern als Bestand objektiver Fakten und 195

ist insofern normativ, als es von einem »richtigen« Verständnis und »adäquaten« Verhalten ausgeht, das von den Behandelnden vermittelt und von den Betroffenen gelernt werden muss. Trotzdem eröffnet das Konzept eine interessante Perspektive auf den in den Kulturwissenschaften diskutierten Einfluss psychologischer Diskurspraktiken. Wie inzwischen eine Vielzahl von Studien zeigt, hat die Mental Health Literacy in den letzten Dekaden nämlich in fast allen westlichen Ländern deutlich zugenommen.29 Bezeichnenderweise schreibt die Epidemiologie diesem Wandel dabei eine ambivalente Rolle zu. Einerseits soll Mental Health Literacy als Gesundheitskompetenz gestärkt werden, da sie unter anderem zur Vorsorge und zu einer bedarfsgerechten Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten führen kann.30 Andererseits wird davon ausgegangen, dass durch das zunehmende Wissen um psychische Störungen die Bereitschaft erhöht wird, das eigene Erleben pathologisch zu deuten und entsprechend zu erfahren. Die zunehmende psychologische Bildung der Bevölkerung steht damit in einem Zielkonflikt, da sie möglicherweise nicht nur zu gesundheitsförderlichem Verhalten, sondern auch zu einer negativeren Bewertung des eigenen Gesundheitszustandes führt, was die gleichbleibenden Prävalenzraten möglicherweise besser erklärt als eine Zunahme sozialer Stressoren. Empirische Hinweise darauf geben internationale Studien, die zeigen, dass, obwohl die Bevölkerung seit Mitte der 1990er Jahre von einer gleichbleibenden oder gar rückläufigen Belastung durch Stress berichtet, sich die subjektive Einschätzung der psychischen Gesundheit verschlechtert31 und ein Zuwachs der Mental Health Literacy mit einer höheren Depressionsprävalenz assoziiert ist (Goldney et al. 2010). Aus Sicht der Autoren zeigen diese Befunde, dass belastende Lebensereignisse offenbar zunehmend auf Störungen der psychischen Gesundheit zurückgeführt werden. Die Befunde offenbaren demnach eine Tendenz zu vermehrter Introspektion sowie eine erhöhte Bereitschaft, (Lebens-)Probleme in psychologischen Termini zu konzeptualisieren und zu kommunizieren (Kovess-Masfety et al. 2009). Wie die positive Korrelation zwischen Mental Health Literacy und Depressionsprävalenz zeigt, 29 Goldney et al. 2005; Jorm et al. 2005; Schomerus et al. 2012. 30 Andersen et al. 2011; Goldney et al. 2010; Mojtabai/Jorm 2015. 31 Patten et al. 2014, Jorm/Reavley 2012; Mojtabai 2011.

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hat diese Tendenz dabei offenbar Rückwirkungen auf das tatsächliche Erleben der Bevölkerung (Goldney et al. 2010).

5. Fazit 5.1 Philosophische Implikationen Epistemologische Überlegungen wie diejenigen Hackings, historische Studien wie diejenigen Ehrenbergs und empirische Befunde wie die zur Mental Health Literacy deuten darauf hin, dass die Art menschlichen Leidens und die Art seiner Behandlung sich wechselseitig bedingen und sich daher historisch parallel zueinander entwickeln. Durch den Umstand, dass die Depressionsraten trotz vermehrter Behandlung nicht abnehmen, scheint diese Annahme empirisch bestätigt zu werden. Medizinische und/oder politische Visionen einer rundum gesunden beziehungsweise paradiesischen, weil nicht entfremdeten Gesellschaft erweisen sich vor diesem Hintergrund als das, was sie sind: Utopien, die zwar im Sinne regulativer Ideen notwendig sind, um die medizinische Versorgung auszubauen und soziale Veränderungen zu motivieren, die in der Praxis aber wohl niemals erreicht werden – und wurden. Bei allen kurz- und langfristigen zeitlichen Trends scheinen sich damit sowohl menschliches Leiden als auch dessen Bewältigung – unabhängig davon, wie und in welchen Bevölkerungsgruppen sie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in Erscheinung treten – als anthropologische Konstanten zu erweisen.

5.2 Versorgungspolitische Implikationen In der klinischen Forschung und Praxis, die sich mit psychischem Leid freilich nicht abfinden kann, werden aus den berichteten Befunden versorgungspolitische Forderungen abgeleitet, die im Kern um die Auslegung des Depressionsbegriffes ringen. Zwischen dem epidemiologischen Verständnis von Depression gemäß klassifikatorischer Diagnostik und dem klinischen Depressionsbegriff im Behandlungsalltag könnte eine verbindliche Definition von Behandlungsbedarf vermitteln (Andrews/Henderson 2000). Erst wenn konsensuell operationalisiert ist, ob ein Erfüllen diagnosti197

scher Kriterien auch Behandlung implizieren soll, können Versorgungsstrukturen und -prozesse in Hinblick auf Über-, Unter- oder Fehlversorgung evaluiert und Maßnahmen initiiert werden. Eine solche verbesserte Effektivität von Versorgung könnte beispielsweise durch eine stärkere Morbiditätsorientierung in der ambulanten Bedarfsplanung (Jacobi et al. 2016a) oder durch Flexibilisierung des Zugangs und der Behandlungsformen erreicht werden, wie sie durch das Versorgungsstärkungsgesetz 2016 und die Reform der Psychotherapie-Richtlinie 2017 aktuell verfolgt werden. Der Begriff des Behandlungsbedarfs könnte auch die Weiterentwicklung von Diagnosesystemen stimulieren; diese stellen eine nützliche, doch provisorische Hilfskonstruktion dar und könnten beispielsweise um eine stärkere Berücksichtigung der subjektiven Psychopathologie im Sinne von Kontext, Verlauf und Bedeutung von Symptomen ergänzt werden (Mulder 2008). In dieser Stoßrichtung könnten im Feld der Prävention »Aufklärungskampagnen« dazu beitragen, Toleranz gegenüber psychischen Symptomen als Teil »normalen« Erlebens zu vermitteln, sowohl in der Bevölkerung als auch unter Behandelnden (Goldney et al. 2010).

5.3 Gesellschaftspolitische Implikationen Das nachvollziehbare Anliegen, aus epidemiologischen Daten nicht nur versorgungs-, sondern auch gesellschaftspolitische Schlussfolgerungen zu ziehen, ist aus zweierlei Gründen problematisch: Zum einen sind die Zusammenhänge zwischen sozialen Einflussfaktoren und psychischem Befinden alles andere als eindeutig (und vermutlich in hohem Maß von deren subjektiver Bewertung und Verarbeitung abhängig), zum anderen sind politische Fragen per definitionem Interessensfragen. Sie lassen sich daher durch empirische Daten nicht eindeutig beantworten, sondern müssen immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht sind kulturkritische Thesen – selbst wenn sie sich auf epidemiologische Daten stützen können – daher mit Skepsis zu betrachten. Als gesellschaftliches Sprachspiel haben sie dennoch ihre Berechtigung: Indem sie dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnen, das eigene Unbehagen und das Unbehagen anderer aufeinander zu beziehen und in einen gemeinsamen politischen Kontext zu stellen, ermöglichen sie »den sozial geregel198

ten Ausdruck der Klage« (Ehrenberg 2011: 23) und eröffnen damit Sprachräume für politische Mobilisierung und Solidarisierung. Die von Ehrenberg als moderne Jeremiade gekennzeichnete Gattung kulturkritischer Klagelieder erfüllt in diesem Sinn eine wichtige gesellschaftspolitische und moralische Funktion, und der darin behauptete Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und gesellschaftlichen Missständen kann und darf politisch wie therapeutisch ernst genommen werden. Gerade weil kulturkritische Diskurse auf politische Veränderung abzielen und häufig von einem Bedürfnis nach Solidarisierung und Integration getragen werden, erscheint es an dieser Stelle wichtig, auf einen Zusammenhang hinzuweisen, der in diesen Diskursen bislang auffallend wenig Beachtung findet. Wie die von uns dargestellten epidemiologischen Daten zeigen, hängt Depression auch und vor allem mit Deprivation zusammen. Betroffen sind insofern in besonderer Weise erwerbslose, einsame und kranke Menschen. Thesen wie die Hans, depressive und andere Störungen seien eine Folge des Überflusses und der »Positivität«, deren Gewalt »nicht privativ, sondern saturativ, nicht exklusiv, sondern exhaustiv« (Han 2016, 17) sei, müssen angesichts dieser Befundlage geradezu als zynisch erscheinen. Unbeabsichtigt weisen sie auf ein Problem hin, das auch in wissenssoziologischen Arbeiten nur selten bedacht wird: Da therapeutische Sprachspiele nicht allen Gesellschaftsschichten in gleicher Weise zugänglich sind, verfügt nur eine Minderheit über die nötigen diskursiven Mittel, das eigene Unbehagen in der inzwischen verbindlich gewordenen psychosoziologischen Form moderner Jeremiaden zum Ausdruck zu bringen. Die meisten Kulturkritiken rund um die seelische Gesundheit im modernen Kapitalismus spiegeln dementsprechend insbesondere die Lebenswirklichkeit und Probleme der Eliten wider. Indirekt tragen sie damit zur Ausgrenzung und Marginalisierung genau der Gruppen bei, die eine Solidarisierung und Artikulation ihrer politischen Interessen vermutlich am nötigsten hätten. Epidemiologische Daten können hier als notwendiges Korrektiv wirken und daran erinnern, dass die unter dem Schlagwort »Burn-out« vielzitierten Manager, Hochleister und Selbstausbeuterinnen und -ausbeuter zumindest nicht die einzigen Opfer des modernen Kapitalismus sind. Darüber hinaus können sie zur Entdramatisierung besonders wehmütiger Klagelieder beitragen, indem sie zeigen, dass sowohl 199

die psychischen als auch die sozialen Veränderungen meist deutlich dezenter (und komplexer!) ausfallen, als von kulturpessimistischer Seite gerne behauptet wird.

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Johannes Siegrist Überforderung in der Arbeitswelt: Macht sie krank? 1. Einleitung Betrachtet man die zahllosen Ratgeber, Coaching-Seminare und Medienberichte zu Themen wie ›Überforderung in der Arbeitswelt‹, ›Stress am Arbeitsplatz‹, ›Erschöpfung‹ oder ›Burn-out‹, dann fällt auf, in wie starkem Maße sie sich auf die arbeitenden Menschen konzentrieren und wie wenig Beachtung die ihnen möglicherweise zugrunde liegenden strukturellen und organisatorischen Bedingungen der modernen Arbeitswelt finden. Im Zentrum steht das Bemühen, Menschen in ihren Fähigkeiten zu unterstützen, die an sie gestellten beruflichen Anforderungen erfolgreich zu meistern. Stärkung von Selbstvertrauen, Selbstbehauptung, Selbstwirksamkeit und Stressresistenz sind wichtige Ziele. Hilfreich hierbei ist die Einübung von Verfahren der Emotionsregulation und mentalen Distanzierung, der psychophysischen Entspannung und der Schulung von Achtsamkeit. Während eine steigende Zahl Erwerbstätiger über Leistungsverdichtung klagt und die aus der Arbeitsintensivierung resultierenden Unternehmensgewinne sprudeln, ist es die jeweils individuelle arbeitende Person, welche dem auf ihr lastenden Druck standhalten soll. Vielleicht ist es kein Zufall, dass im Zeichen einer zunehmenden Individualisierung moderner Gesellschaften die Ermächtigung der einzelnen Person, ja sogar ihre Heroisierung, zu einer wichtigen Zielvorstellung geworden ist. Vielleicht ist es aber auch die Resignation vor der Übermacht wirtschaftlicher Zwänge, die zu der beobachteten Verengung und Verlagerung eines strukturellen Problems auf die individuelle Ebene beigetragen hat. Natürlich soll hier nicht bestritten werden, dass manche der angepriesenen und praktizierten Formen individueller Stressbewältigung hilfreich sein können und Leiden zu lindern vermögen. Die Frage ist nur, ob sie ohne eine Ergänzung durch Maßnahmen der Organisations- und Personalentwicklung und ohne Einbeziehung von Fragen des Arbeitsschutzes, der Tarifpolitik sowie bestimmter arbeitsmarktpolitischer Programme eine nachhaltige Wirkung er210

zielen können. Wer dies fordert, sieht sich zugleich mit wohlbekannten Argumenten konfrontiert. So wird beispielsweise behauptet, es gebe keine gesicherten Erkenntnisse über eine Zunahme der Arbeitsintensivierung während der vergangenen Jahrzehnte und erst recht nicht über ihren Einfluss auf die Entwicklung psychischer Störungen. Deren Ursachen seien vielmehr auf Merkmale der Persönlichkeit und des privaten Lebens zurückzuführen. Und es wird argumentiert, wir befänden uns – zumindest in den wirtschaftlich fortgeschrittenen westlichen Ländern – auf dem Weg in eine Freizeitgesellschaft, in der die Dominanz der Arbeitswelt zunehmend schwinde (Kholin/Blickle 2015; Robbins/Wilner 2004; Schulze 2005). Dies ließe sich beispielsweise an der Abnahme der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit in den vergangenen Jahren und dem wachsenden Anteil von Teilzeitbeschäftigungen erkennen. Heute seien beispielsweise in Deutschland nur noch sechs von zehn Beschäftigten in Vollzeit erwerbstätig, während es noch vor gut zwanzig Jahren etwa acht von zehn waren. Überforderung durch die Arbeit sei daher zwar für bestimmte Beschäftigtengruppen nach wie vor ein Problem, nicht aber für die überwiegende Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Lassen sich solche Argumente entkräften? Und wieweit stehen hierzu Erkenntnisse aus der Forschung zur Verfügung? Es erscheint zunächst hilfreich, den Begriff der Überforderung im Kontext der Erwerbsarbeit näher zu erläutern, da er durchaus mehrdeutig ist. Erstens kann man Überforderung verstehen als die über eine Norm oder über eine übliche Verausgabung hinausreichende Anforderung von außen. Hierbei wird das Leistungsvermögen der arbeitenden Person möglicherweise dauerhaft bis an seine Grenzen strapaziert. Langfristige Folgen können Erschöpfungskrisen, psychophysische Störungen und der Ausbruch stressbedingter Erkrankungen sein, die im schlimmsten Fall zu Karōshi, zum Tod durch Überarbeitung, führen. Von Überforderung spricht man zweitens jedoch auch, wenn die Bewältigung beruflicher Anforderungen daran scheitert, dass die Person hierzu nicht ausreichend qualifiziert ist oder nicht über die erforderliche Befähigung verfügt. Hierbei geht es somit um eine mangelnde Passung zwischen den von außen gestellten Aufgaben und der zu ihrer Lösung erforderlichen Eignung der Person. Schließlich macht es einen gewichtigen Unterschied, ob ein Zu211

stand der Überforderung auf die erwähnten, von außen auferlegten Zwänge zurückgeführt werden kann oder ob er durch die arbeitende Person selbst herbeigeführt wird, indem sie sich selbst über das übliche Maß verausgabt. Wir alle kennen Menschen, die sich durch ihren besonderen Einsatz auszeichnen wollen, die bestrebt sind, besonders erfolgreich zu sein und besondere Achtung und Anerkennung zu finden, und die zu diesem Zweck ihre Energie scheinbar grenzenlos mobilisieren. Angesichts dieser Mehrdeutigkeit eines zentralen Begriffs wird es schwierig, eine einfache Antwort auf die gestellte Frage zu finden: Macht Überforderung in der Arbeitswelt krank? In dem hier entwickelten Ansatz bildet die Beschreibung bestimmter, weit verbreiteter Anforderungen der modernen Arbeitswelt den Ausgangspunkt zur Beantwortung der Frage. Inwieweit diese Anforderungen zu einer Überforderung der ihnen ausgesetzten Menschen führen, wird anhand der Folgen für deren Gesundheit beurteilt, welche längerfristig aus einer entsprechenden Exposition resultieren. Um zu entscheiden, welche Aspekte der modernen Arbeitswelt hierbei besonders kritisch sind, wird ein theoretisches Modell benötigt. Seine Aufgabe besteht darin, innerhalb der Vielgestaltigkeit und Komplexität von Erscheinungen der modernen Arbeitswelt jene Dimensionen zu identifizieren, die aufgrund ihrer besonderen Qualität oder Intensität ein Risiko für die Gesundheit der von ihnen betroffenen Menschen darstellen. Bevor nachfolgend zwei sich ergänzende theoretische Modelle erörtert werden, anhand deren der Einfluss krankmachender Arbeitsbedingungen untersucht werden kann, ist es sinnvoll, jene Grundzüge einer globalisierten und durch tiefgreifende technologische Neuerungen gekennzeichneten Arbeitswelt zu skizzieren, die den bestimmenden Hintergrund beider theoretischen Modelle bilden.

2. Der Kontext wirtschaftlicher Globalisierung Es ist oft beschrieben worden, wie in den Hochlohnländern der westlichen Welt nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums folgte, die nicht nur zur Ausweitung von Produktivität und Wohlstand führte, sondern ebenso, infolge zunehmender Technisierung und Automa212

tisierung industrieller Produktion, zu einer Verlagerung des Großteils der Erwerbspersonen vom sekundären in den wesentlich durch Dienstleistungs- und Verwaltungstätigkeiten bestimmten tertiären Sektor. Während in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit die wirtschaftliche Entwicklung noch in starkem Maße durch nationale Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken und entsprechende Regulierungen geprägt war, breitete sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine grenzüberschreitende, durch neoliberale Prinzipien bestimmte Wirtschaftspraxis aus. Sie führte, unterstützt durch bahnbrechende Neuerungen der mikroelektronischen Informations- und Kommunikationstechnologie, zu einer ungeahnten Expansion des transnationalen Flusses an Waren, Kapital und Arbeitskräften. Dieser als wirtschaftliche Globalisierung bezeichnete Prozess ist durch die auf globalen Märkten operierenden Großkonzerne beschleunigt worden, unterstützt durch internationale Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation, sowie durch einen rasch wachsenden, deregulierten – und gefährlich operierenden – Finanzmarkt. Heute zeigt sich, dass von dieser wirtschaftlichen Globalisierung nicht nur positive Wirkungen auf Beschäftigung und Wachstum ausgehen, die allerdings in den verschiedenen Wirtschaftsregionen der Erde unterschiedlich ausfallen, sondern dass aus ihr ebenso weitreichende negative Folgen resultieren. Diese Folgen zeigen sich auf verschiedenen Ebenen, am deutlichsten im Bereich der Gefährdung und Zerstörung der natürlichen Umwelt sowie in der Erschütterung des gesellschaftlichen Zusammenhalts großer Teile der Weltbevölkerung durch raschen sozialen Wandel, Urbanisierung sowie durch erzwungene umfangreiche Migrationsprozesse. Weniger sichtbar, jedoch ebenfalls gravierend sind diese negativen Folgen im Bereich der Erwerbstätigkeit in den Hochlohnländern. Hier hat sich, wie der Soziologe Arne Kalleberg gezeigt hat, durch räumliche Restrukturierung von Produktion und Arbeitskräften ein transnationaler Arbeitsmarkt gebildet, der zu einer signifikanten Veränderung von Arbeitsbedingungen und -beziehungen geführt hat (Kalleberg 2009). So verschärfte sich durch eine verstärkte Arbeitsmigration aus wirtschaftlich schwachen Regionen die Konkurrenz um Lohnkosten, wodurch der Druck zu einer Intensivierung der Arbeit und einer Rationalisierung der Beschäftigung anwuchs. Unternehmen reagieren darauf typischerweise mit 213

organisatorischer Restrukturierung und Personalabbau, mit Unternehmenszusammenschlüssen sowie mit der Auslagerung ineffizienter Leistungsbereiche. Sowohl in der Privatwirtschaft wie auch in Sektoren öffentlicher Beschäftigung folgte daraus eine deutliche Arbeitsverdichtung. Auf der Ebene vertraglicher Arbeitsbeziehungen hat die zunehmende Flexibilisierung der Beschäftigung nicht nur zu räumlicher Mobilität, sondern vor allem zu einer weitreichenden Aufweichung des traditionellen arbeitsrechtlichen Typus zeitlich unbegrenzter, gesicherter Anstellung im Rahmen einer kontinuierlichen Vollzeitbeschäftigung geführt. Diese wird zunehmend durch atypische, nicht oder zumindest geringer gesicherte Beschäftigungsformen ersetzt. Während sich damit einerseits Autonomie- und Freiheitsgrade der Arbeitsgestaltung vergrößern, erfolgt zugleich eine grundlegende Verunsicherung der Beschäftigungskontinuität. Arbeitsplatzunsicherheit hat sich zunächst besonders in den Randbezirken des Arbeitsmarktes bei prekär Beschäftigten manifestiert, inzwischen jedoch breitet sie sich auch in Kernbelegschaften und bei höher Qualifizierten aus. Verschiedene europaweite Panelstudien haben diese beiden Megatrends einer globalisierten Wirtschaft in Hochlohnländern – eine zunehmende Arbeitsintensivierung und eine zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit – im Verlauf der letzten zwei oder drei Jahrzehnte belegt (Gallie 2013; Eurofound 2016). Unterstützt wurden entsprechende Befunde durch Daten aus Längsschnittstudien bei erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen (z. B. Ferrie et al. 2008; Vahtera et al. 2004; Westerlund et al. 2004). Allerdings sind die verschiedenen Erwerbssektoren und Berufsgruppen nicht in gleicher Weise von diesen Belastungen betroffen. Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich feststellen, dass Verausgabungszwänge und Arbeitsplatzunsicherheit umso höher sind, je niedriger der Bildungsgrad und die berufliche Position sind (Marmot 2015). Von dieser Regel gibt es jedoch einige bedeutsame Ausnahmen, so insbesondere Angehörige höher qualifizierter Berufe, die personenbezogene Dienstleistungen erbringen (Knesebeck et al. 2010). Nun stellt sich die Frage, ob diese beiden weit verbreiteten Belastungen eine ausreichende Intensität besitzen, um bei Beschäftigten in größerem Umfang negative gesundheitliche Folgen auszulösen, so zum Beispiel Burn-out-Krisen oder klinisch bedeutsame depres214

sive Störungen. An dieser Stelle erweist sich der Rückgriff auf die sogenannte Stresstheorie und die an ihr orientierten Modelle kritischer Arbeitsbelastungen als hilfreich. Die wissenschaftliche Stressforschung unterscheidet hierbei grundsätzlich zwei Aspekte, zum einen die von außen auf die Person einwirkenden Anforderungen (Stressoren), zum andern die dadurch bei der Person ausgelösten Stressreaktionen. Als Stressor wird jede Form einer bedrohlichen Herausforderung bezeichnet, welche die Person zu bewältigen hat, ohne ihr ausweichen zu können. Bedrohlich wird diese Herausforderung dadurch, dass sie die Möglichkeit des Scheiterns in sich birgt und damit einen Kontrollverlust der handelnden Person herbeiführen kann. Soziale Stressoren rufen in der Regel besonders starke Kontroll­ ängste hervor, da das Nichterfüllen wichtiger sozialer Rollennormen – hier der Erwerbsrolle – nicht nur einschneidende Sanktionen nach sich zieht, sondern auch Selbstwertgefühl und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit nachhaltig beeinträchtigt. Befürchtungen und Erfahrungen bedrohter Kontrolle und versagter Belohnung angesichts fortgesetzter Verausgabung rufen in der betroffenen Person intensive Reaktionen hervor, nämlich auf der Ebene kognitiver Bewertung der Situation und eigenen Handlungsmöglichkeiten, auf der affektiven Ebene negativer Gefühle wie Angst oder Ärger und auf der Ebene physiologischer Aktivierung von Anpassungsreaktionen des Organismus. Letztere versetzen den Organismus in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft (sogenannte Kampf- und Fluchtreaktionen), indem über zentralnervöse Prozesse tief verwurzelte Stressachsen mobilisiert werden. Sie bewirken über neuronale und hormonelle Pfade einen raschen Anstieg von Stoffwechsel, Muskelspannung, Atmung und Herz-Kreislauf-Tätigkeit. Diese Stressreaktionen können kurzfristig von Vorteil sein und zur Überwindung gefährlicher Situationen verhelfen. Werden sie jedoch über längere Zeit immer wieder hervorgerufen, dann beeinträchtigen sie das Funktionsniveau der fein abgestimmten körpereigenen Regulationen und bahnen Fehlanpassungen den Weg. Nach Monaten oder Jahren fortgesetzter Fehlregulationen entwickeln sich typische, mit chronischem Stress assoziierte psychische und physische Störungen. Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind besonders prominente, intensiv erforschte Beispiele (Rensing et al. 2006; Siegrist 2015). 215

3. Arbeitsstressmodelle und ihre Erklärung stressassoziierter Erkrankungen An dieser Stelle sollen zwei theoretische Modelle beschrieben werden, deren Aufgabe es ist, jene bedrohlichen Herausforderungen der Arbeitswelt zu identifizieren, die wiederkehrende und nachhaltige Stressreaktionen auslösen und damit das Risiko einer stress­ assoziierten Erkrankung erhöhen: das Anforderungs-KontrollModell und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Was diese beiden Modelle von manchen anderen theoretischen Entwicklungen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie in größerem Umfang im Rahmen epidemiologischer Längsschnittstudien überprüft worden sind, in denen sie zur Erklärung des Auftretens klinisch relevanter gesundheitlicher Störungen beitragen konnten. Das Anforderungs-Kontroll-Modell konzentriert sich auf zwei Merkmale von Tätigkeitsprofilen, ohne die arbeitende Person in das Konzept einzubeziehen: (1) die quantitative Ausprägung von Aufgaben, so zum Beispiel die Menge der unter Zeitdruck zu erbringenden Leistungen, und (2) das Ausmaß an Entscheidungsspielraum und Kontrolle, das dem die Aufgabe Ausführenden zur Verfügung steht. Stresstheoretisch bedeutsam sind jene Tätigkeiten, die durch ein Zusammenwirken von hohen Anforderungen und geringem Kontrollspielraum gekennzeichnet sind. Typische Beispiele solcher Tätigkeitsprofile sind Industriearbeiter am Fließband oder im Akkord, Beschäftigte in Callcentern oder Dienstleistende in der Gepäckabfertigung, aber auch am Computer mit einfachen Dokumentationsaufgaben betraute Beschäftigte. Hohe Arbeitsverdichtung ist zwar auch ein Kennzeichen statushoher Berufe, etwa bei Führungskräften in Großbetrieben oder bei Ärztinnen und Ärzten in leitenden Positionen, aber ihre Tätigkeit eröffnet Spielräume der Entscheidung, Kontrolle und eigenen Arbeitsgestaltung und damit zugleich Optionen positiver Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Autonomie (zusammenfassend Karasek/Theorell 1990). Während dieses bereits Ende der 1970er Jahre entwickelte Modell noch stark an der damals vorherrschenden industriellen Produktion orientiert war, wird mit dem jüngeren, in meiner Arbeitsgruppe entwickelten Modell beruflicher Gratifikationskrisen die arbeitsvertragliche Beziehung ins Zentrum gerückt (zusammenfassend Siegrist 2015). Da Arbeit im Kern ein vertraglich geregelter 216

Tauschprozess zwischen geforderter Leistung und gewährter Belohnung ist, kommt der Befolgung des Prinzips der Tauschgerechtigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Wird dieses Prinzip verletzt, indem einer hohen Verausgabung keine angemessene Gegenleistung entspricht, entsteht eine ›Gratifikationskrise‹. Dadurch, dass gegen den Grundsatz der Reziprozität von Geben und Nehmen in einer Nutzen bringenden Tätigkeit verstoßen wird, rufen Erwartungsenttäuschungen auf Seiten der arbeitenden Person nicht nur negative Emotionen der Verärgerung und Frustration hervor, sondern aktivieren zusätzlich die oben beschriebenen psychophysischen Stressreaktionen. In dem theoretischen Modell werden drei Dimensionen der Belohnung unterschieden: (a) Lohn und Gehalt, (b) beruflicher Aufstieg und Arbeitsplatzsicherheit sowie (c) Anerkennung und Wertschätzung erbrachter Leistung. Zudem werden Bedingungen genannt, unter denen die zu erwartende Gegenreaktion einer angemessenen Gratifikation besonders häufig ausbleibt. Dies ist der Fall, wenn der arbeitenden Person keine Alternative auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht oder wenn sie ihre Position gegen harte Konkurrenz behaupten muss. Schließlich kann sie selbst zu einer Perpetuierung gratifikationskritischer Erfahrungen beitragen, indem sie mit einer übersteigerten Verausgabungsneigung ihr Leistungsvermögen strapaziert. Dies kann einem bewussten oder unbewussten Streben nach besonderer Sichtbarkeit oder einem hohen Kontrollbedürfnis entspringen, kann jedoch auch eine Reaktion auf erfahrenen Gruppendruck sein. Indem diese motivationale Komponente mittels eines eigenständigen Messansatzes in das Modell integriert wird, analysiert dieses Modell das Wechselspiel von belastender Situation und handelnder Person. Mit seiner Betonung von Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitsverdichtung und unfairer Bezahlung erscheint das Modell geeignet, weit verbreitete Arbeitsbelastungen einer globalisierten Wirtschaft zu erfassen, wie sie oben skizziert worden sind. Die beiden genannten theoretischen Modelle ergänzen sich, da sie unterschiedliche thematische Schwerpunkte besitzen, und jedes leistet einen eigenständigen Beitrag zur Erklärung des Auftretens stressassoziierter Erkrankungen, wie dies in einer größeren Zahl epidemiologischer Studien, insbesondere am Beispiel depressiver Störungen, belegt worden ist (siehe den folgenden 4. Abschnitt). Wie dieser Brü217

ckenschlag zwischen theoretischen Modellen und dem Krankheitsgeschehen infolge beruflicher Überforderung gelingen kann, soll nachfolgend erörtert werden.

4. Burn-out oder Depression? Im Bewusstsein der Öffentlichkeit wird die Vorstellung, dass moderne Arbeit krankmachen kann, überwiegend mit dem Begriff Burn-out in Verbindung gebracht. Dieses Ausgebranntsein durch Arbeit bezeichnet einen Zustand tiefer psychophysischer Erschöpfung und Leistungsminderung, und aufgrund seiner weiten Verbreitung und der durch lange Arbeitsunfähigkeit verursachten Kosten steht Burn-out im Zentrum der öffentlichen, medial aufgeladenen Aufmerksamkeit (Burisch 2006). In seltsamem Kontrast zu dieser prominenten Stellung des Konzepts in der allgemeinen Wahrnehmung steht die wissenschaftliche Evidenz bezüglich eines ursächlichen Zusammenhangs von Arbeitsstress und Burn-out. Denn weder besteht in der Forschung eine Einigkeit im Hinblick auf die Messung des Konzepts und seine Abgrenzung zu klinisch bedeutsamen Krankheitsbildern wie der Depression, noch liegen konsistente Ergebnisse aus umfangreichen epidemiologischen Längsschnittstudien dazu vor (Kahl/Winter 2017). Anders stellt sich die Forschungslage hinsichtlich der Auswirkungen von Arbeitsbelastungen auf die Entwicklung einer depressiven Erkrankung dar. Zwar gilt Burn-out als möglicher, aber keineswegs zwangsläufiger Vorbote einer Depression; wenn es jedoch um die Beurteilung des Stellenwerts beider Störungen für den Gesundheitszustand ganzer Bevölkerungen geht, ist die Depression zweifellos von größerer Bedeutung. Nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen neben den koronaren Herzkrankheiten bis zum Jahr 2030 weltweit zu den führenden Ursachen eines vorzeitigen Todes und der durch Behinderung eingeschränkten Lebensjahre zählen (Mathers/Loncar 2006). Entsprechend dieser Schwere des Gesundheitsproblems hat die internationale Forschung in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten umfangreiche Studien zur Rolle von Arbeitsstress bei depressiven Erkrankungen durchgeführt. Wenn hierbei auch verschiedene Konzepte überprüft worden sind, kommt den beiden be218

schriebenen Stressmodellen aufgrund des Umfangs und der Konsistenz der hierzu vorliegenden Befunde ein gewisser Vorrang zu. Dies soll nachfolgend verdeutlicht werden. Für das Verständnis dieser Thematik ist die folgende methodische Vorbemerkung wichtig: Will man in einem Forschungsgebiet, das sich mit Beobachtungen in der Alltagswelt und nicht mit Laborexperimenten befasst, Einsichten in eine mögliche UrsacheWirkungs-Beziehung gewinnen, dann ist man darauf angewiesen, eine sogenannte prospektive Kohortenstudie durchzuführen. Der als Goldstandard dieser Forschung bezeichnete Untersuchungsplan sieht vor, eine umfangreiche Gruppe arbeitender Menschen zur Teilnahme an einer Längsschnittstudie zu bewegen, wobei alle Personen ausgeschlossen werden, die bereits an dem interessierenden gesundheitlichen Problem – hier der depressiven Störung – erkrankt sind. Zu Beginn wird gemessen, ob und in welcher Ausprägung Arbeitsstress vorhanden ist, und in den nachfolgenden Jahren wird sodann überprüft, ob depressive Neuerkrankungen in der Gruppe mit hohem Arbeitsstress häufiger auftreten als in der Gruppe mit geringem oder keinem Arbeitsstress. Hierzu wird ein Maß bestimmt, das man als relatives Risiko (auch Odds Ratio) bezeichnet. Es besagt, um wie viel höher die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Krankheitsereignisses bei beruflich Belasteten gegenüber nicht Belasteten ist. Ein relatives Risiko von 2.0 bedeutet beispielsweise, dass doppelt so viele Personen mit im Vergleich zu Personen ohne Arbeitsbelastungen erkranken. Solche Kohortenstudien sind zeitaufwendig und kostspielig, und dennoch liegen bis heute zu jedem der beiden Arbeitsstressmodelle Ergebnisse aus etwa einem Dutzend entsprechender Untersuchungen vor. In einer kurzen Zusammenfassung können diese Ergebnisse wie folgt beschrieben werden: Nach dem Anforderungs-KontrollModell leiden sowohl Männer wie auch Frauen in erhöhtem Maß an einer Depression, wenn ihre Tätigkeiten durch hohe Arbeitsverdichtung in Kombination mit eingeschränkter Kontrolle und begrenzter Steuerung des Arbeitsablaufs gekennzeichnet sind. Die relativen Risiken schwanken zwar zwischen den einzelnen Studien, lassen sich im Mittel jedoch mit einem um etwa sechzig Prozent erhöhten Risiko beziffern (Theorell et al. 2015). Diese Risikoerhöhung erscheint auf den ersten Blick als relativ gering. Bedenkt man jedoch, dass in diesen Studien jede vierte Erwerbsperson von .

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Arbeitsstress nach diesem Modell betroffen ist, und fügt man die Tatsache hinzu, dass die Häufigkeit der in einem Jahr auftretenden Depressionen, die sogenannte 12-Monats-Prävalenz, bei neun Prozent der erwachsenen Bevölkerung liegt, dann ergibt sich daraus eine bedeutsame Last psychischen Leidens. Selbstverständlich hat dieses Krankheitsbild der Depression mehrere Ursachen, und es wäre abwegig, hierbei von einer Monokausalität auszugehen. Es lässt sich jedoch anhand der epidemiologischen Ergebnisse errechnen, welcher Anteil den psychosozialen Arbeitsbelastungen im gesamten Risikospektrum depressiver Erkrankungen zukommt. Demnach lässt sich rein rechnerisch jede siebte Depression maßgeblich auf Arbeitsstress zurückführen (Sultan-Taïeb et al. 2011). Vermutlich ist diese Schätzung zu niedrig, da sie lediglich auf dem genannten Anforderungs-Kontroll-Modell basiert. Bereits die weltweit erste Studie, welche gleichzeitig das ergänzende Modell beruflicher Gratifikationskrisen überprüft hat, die englische White­ hall-II-Studie an mehreren Tausend Regierungsbeamten, kam zu dem Ergebnis, dass beide Modelle unabhängig voneinander und in vergleichbarer Stärke das Depressionsrisiko vorhersagen (Stansfeld et al. 1999). Inzwischen ist dies in mehreren Studien bestätigt worden, die im Übrigen nicht nur in westlichen Industrieländern Europas oder Nordamerikas, sondern auch im asiatischen Raum, in Japan und China, durchgeführt wurden (Siegrist 2015). Eine neuere systematische Literaturübersicht kommt zu dem Ergebnis, dass das Depressionsrisiko bei Vorliegen einer beruflichen Gratifikationskrise zwischen 50 und 130 Prozent höher liegt als bei nicht belasteten Erwerbstätigen (Rugulies et al. 2016). Interessant ist ferner, dass jede der drei kritischen Belohnungskomponenten (Arbeitsplatzunsicherheit, unfaire Bezahlung, fehlende Anerkennung) in vergleichbarer Weise zum Erkrankungsrisiko beiträgt (Siegrist 2015). Und ergänzende Studien, die lediglich die Verausgabungskomponente untersucht haben, beispielsweise indem sie das Depressionsrisiko bei Beschäftigten ermittelten, deren wöchentliche Arbeitszeit über Jahre hinweg bei mehr als fünfzig Stunden lag, bestätigen die erwähnten Befunde (Virtanen et al. 2012). Kann man jedoch den Ergebnissen aus diesen prospektiven Kohortenstudien, die stets auf statistischen Analysen umfangreicher Daten beruhen und damit über das individuelle Schicksal wenig aussagen, genügend vertrauen? Die Frage ist sicherlich berechtigt, 220

umso mehr, als die Forschung einige ergänzende Kriterien definiert hat, die erfüllt sein müssen, um von einer belastbaren Ursache-Wirkungs-Beziehung zu sprechen. Ein wichtiges Zusatzkriterium ist die Untermauerung der statistischen Befunde durch experimentelle und klinische Daten, die wichtige Mechanismen der Krankheitsentwicklung abbilden. Die Verursachung depressiver Störungen ist nach wie vor Gegenstand intensiver Forschung, auch wenn umfangreiche Erkenntnisse zu einer neurobiologischen Fehlsteuerung vorliegen, die durch chronischen Stress begünstigt wird (Rugulies et al. 2016). Zu den Hormonen, die aufgrund ihrer vermehrten Bildung zu dieser Fehlsteuerung beitragen, zählt das Cortisol. Veränderte Ausscheidungsmuster von Cortisol beeinflussen nicht nur die emotionale Befindlichkeit, sondern tragen auch zu einer Schwächung der Immunabwehr und zu vermehrter körpereigener Entzündungsaktivität bei. Daher sind experimentelle und quasiexperimentelle Studien bedeutsam, welche belegen, dass Personen mit ausgeprägtem Arbeitsstress gemäß den beiden erwähnten Modellen gegenüber nicht belasteten Kontrollpersonen einen veränderten Cortisolspiegel, eine verminderte Immunabwehr und eine erhöhte Entzündungsaktivität aufweisen (zusammenfassend Siegrist 2015). Eine Studie an 347 Beschäftigten einer pharmazeutischen Firma in Japan ist in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert. Hierbei wurden Anzahl und Wirkungsgrad der in weißen Blutkörperchen gemessenen natürlichen Killerzellen in zwei Gruppen, mit und ohne Vorliegen von Stress infolge hoher Verausgabung und niedriger Belohnung, untersucht. Dabei zeigte sich, dass bei den gestressten Männern die Zahl dieser Killerzellen um etwa zwanzig Prozent niedriger war als bei Männern ohne entsprechende Belastung. Dieser Unterschied entsprach in etwa demjenigen zwischen rauchenden und nicht rauchenden Männern. Bei Frauen zeigte sich eine ähnliche Tendenz, die jedoch nicht das statistische Signifikanzniveau erreichte (Nakata et al. 2011). Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Überforderung bei der Arbeit, gemessen anhand der genannten, stresstheoretisch fundierten Modelle, zur Ausbreitung depressiver Störungen in der Erwerbsbevölkerung in relevantem Umfang beiträgt. Dies gilt in gleicher Weise für Männer wie für Frauen, und es betrifft ein weites Spektrum untersuchter Berufsgruppen, wobei Beschäftigte 221

mit geringerer Qualifikation beziehungsweise in niedrigeren beruflichen Positionen im Allgemeinen stärker gefährdet sind als Beschäftigte in privilegierteren Positionen. Schließlich ist im Kontext der Ausbreitung ökonomischer Globalisierung bedeutsam, dass diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht auf hoch entwickelte Länder begrenzt sind, sondern auch in Schwellenländern gelten. Damit stellt sich die Frage nach praktischen Konsequenzen aus der vorliegenden wissenschaftlich dokumentierten Evidenz.

5. Praktische Folgerungen und Ausblick Zu Beginn habe ich auf die Dominanz der auf die individuelle Ebene begrenzten Formen der Stressbewältigung nicht nur im öffentlichen Bewusstsein, sondern auch bei den etablierten Verfahren betrieblicher Gesundheitsförderung hingewiesen. Folgt man den in diesem Beitrag dargestellten Erkenntnissen, dann drängt sich eine systematische Erweiterung durch die gesundheitsfördernde Gestaltung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf. Strukturelle Verbesserungen betreffen nicht nur bereits etablierte ergonomische und arbeitsmedizinische Maßnahmen zur Verhütung von Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Vielmehr stehen dabei Verfahren der Organisations- und Personalentwicklung im Vordergrund. Aus beiden dargestellten Arbeitsstressmodellen lassen sich spezifische präventive Maßnahmen ableiten. Im Vordergrund des Anforderungs-Kontroll-Modells stehen Programme, die dazu führen, den Umfang und die Intensität von Arbeitsanforderungen bei Berufsgruppen mit hohen Belastungen zu senken und Handlungsspielräume bei der Festlegung von Tätigkeiten zu erweitern. Begrenzung von Regelarbeitszeiten und Überstunden, Vermeidung exzessiver Arbeitstakte, zeitliche Befristung der Bindung an stark belastende Arbeitsplätze, Anreicherung der durch Monotonie gekennzeichneten Tätigkeitsprofile und autonome Gestaltung von Arbeitsabläufen, Modelle der Teamarbeit, Angebote von Mischarbeitsplätzen, Querschnittstätigkeiten und Teilzeitbeschäftigung (insbesondere bei älteren Erwerbstätigen) sind Beispiele entsprechender Bemühungen. Einige dieser Maßnahmen werden durch gesetzliche Vorgaben und betriebsinterne 222

Vereinbarungen abgesichert. Jedoch eröffnet sich unterhalb dieser offiziellen Schwelle ein weites Spektrum von Gestaltungsoptionen (Karasek/Theorell 1990). Gleiches gilt für eine gesundheitsfördernde Gestaltung von Gratifikationen. »Angemessene Anerkennung für erbrachte Leistung zu gewähren ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern eine lohnende Investition in die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten« (Siegrist 2015: 135)! Diese Erkenntnis setzt sich erst langsam in den Personal- und Finanzvorständen von Unternehmen durch, wobei auch hier ein breites Spektrum von Maßnahmen zur Verfügung steht. Es reicht von Verbesserungen innerbetrieblicher Kommunikation und Partizipation sowie der Erweiterung von Mitspracherechten der abhängig Beschäftigten über verbesserte Führungsstile bis hin zum Ausbau monetärer und nichtmonetärer Gratifikationen sowie zur systematischen Förderung inner- und überbetrieblicher Qualifikation und damit verbundener beruflicher Aufstiegschancen. Primärpräventive Programme sind schließlich durch theoriebasierte Maßnahmen der sekundären Prävention, der beruflichen Wiedereingliederung nach Krankheit oder anderen Formen erzwungener Unterbrechung, zu ergänzen. Angesichts von Gefahren einschneidender Rationalisierungs- und Restrukturierungsentscheidungen sind Arbeitgeber angehalten, besonders gefährdete Beschäftigtengruppen mit gezielten, von geschultem Betreuungspersonal durchzuführenden Kriseninterventionen zu unterstützen. So wichtig die betriebliche Ebene gesundheitsfördernder Gestaltung von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ist, so sehr bedarf sie der Ergänzung und Verfestigung durch übergeordnete Aktivitäten. Hierzu zählen spezifische arbeits- und sozialpolitische Programme, die Bestandteil staatlicher Wohlfahrtssysteme sind und von denen eine direkte Wirkung auf die Qualität von Arbeit und Beschäftigung zu erwarten ist. Von besonderer Bedeutung sind hierbei aktivierende und integrationsfördernde Maßnahmen mit dem Ziel, möglichst viele erwerbsfähige Personen in eine regulär bezahlte Beschäftigung zu bringen. Dabei werden bildungspolitische Investitionen durch den Ausbau medizinischer und beruflicher Rehabilitation ergänzt. Um den Anteil prekär Beschäftigter zu senken, sind verstärkte Bemühungen um eine angemessene Lohn- und Tarifpolitik und eine Absicherung gegen fundamenta223

le Existenzrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Altersarmut erforderlich. Selbst in den fortschrittlichen westlichen Ländern bestehen noch immer große Unterschiede bei der Festlegung und Kontrolle arbeits- und sozialpolitischer Programme. So zeigt beispielsweise eine neue Studie bei älteren Befragten aus 13 europäischen Ländern, dass eine lineare Beziehung besteht zwischen dem Umfang der von einem Staat implementierten Programme zur Arbeitsmarktinte­ gration und der Höhe des durchschnittlichen Niveaus von Arbeitsstress bei den befragten Beschäftigten des entsprechenden Landes. In Ländern wie Italien, Griechenland und Polen, in denen die staatlichen Integrationsleistungen am geringsten ausgeprägt waren, wurden die höchsten Werte von Arbeitsstress beobachtet, während diese in Ländern wie Dänemark, den Niederlanden und Deutschland mit ihrer vergleichsweise weit entwickelten Sozialpolitik am niedrigsten waren (Wahrendorf/Siegrist 2014). In Zeiten einer zunehmenden Deregulierung der Arbeitswelt und einer gefährlichen Übermacht der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft sowie wachsender sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten auch innerhalb moderner Staaten scheint es angezeigt, an die wichtige Schutzfunktion staatlicher Programme der Arbeits- und Sozialpolitik zu erinnern. Wie sonst lassen sich die freien Kräfte des Marktes in ihrer bedrohlichen Dynamik begrenzen? Diese zuletzt aufgeworfene Frage führt allerdings in eine viel grundsätzlichere Betrachtung der Zukunftsfähigkeit des vorherrschenden, heute weltumspannenden privatwirtschaftlichen Systems. Es zeigt sich nämlich, dass in Staaten, in denen wirtschaftlicher Eigennutz mächtiger Eliten das Gemeinwohl der Bevölkerung schmälert und die soziale Ungleichheit verschärft, das Wachstum stärker gehemmt wird als in Staaten, die durch Maßnahmen der Umverteilung, der Steuerpolitik und der Entwicklung eines vor Verelendung schützenden sozialen Netzes zur Angleichung der Lebenschancen ihrer Bewohner beitragen (Ostry et al. 2014). Es ist daher vordringlich, die Vormacht des Prinzips Eigennutz im wirtschaftlichen Denken und Handeln und bei der Priorisierung politischer Programme zu schwächen und dem Grundsatz der Tauschgerechtigkeit auf allen Ebenen wirtschaftlichen und sozialen Handelns – und ganz besonders in der Arbeitswelt – zu mehr Geltungsmacht zu verhelfen. 224

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Vera King, Benigna Gerisch, Hartmut Rosa, Julia Schreiber und Benedikt Salfeld Überforderung als neue Normalität Widersprüche optimierender Lebensführung und ihre Folgen 1. Einführung: Pathologie und Normalität in der Gegenwart Zeitgenössische Debatten und Untersuchungen kultureller Entwicklungen befassen sich damit, ob und in welcher Weise gesellschaftliche Bedingungen zu einer Zunahme von sogenannten ›Burn-out-‹ oder ›Erschöpfungssymptomen‹ und zu einem Anstieg von psychischen Erkrankungen wie der Depression geführt haben könnten. Eine Analyse des Zusammenhangs zwischen sozialen Verhältnissen und Psychopathologien wirft jedoch eine ganze Reihe herausfordernder konzeptioneller und methodologischer Fragen auf – insbesondere besteht die Gefahr einer Vereinfachung der komplexen Vermittlungen zwischen Kultur und Psyche. So bedarf es differenzierter theoretischer und empirischer Zugänge, um etwa den Wechselwirkungen von kulturellen oder institutionellen Bedingungen einerseits und intrapsychischen Dynamiken andererseits auf die Spur zu kommen. Anknüpfend an Befunde eines transdisziplinären Forschungsprojekts mit dem Titel »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« wird in diesem Beitrag unter anderem anhand von biographischen Rekonstruktionen aufgezeigt, auf welche Weisen sich gesellschaftliche Anforderungen in individuelle Muster der Lebensführung übersetzen können. Mit dem Begriff des ›Übersetzens‹ wird betont, dass es – aufgrund der Eigenlogiken des Sozialen wie des Psychischen – keine eindimensionalen Niederschläge von ›äußeren‹ Bedingungen in ›innere‹ psychische Entwicklungen und Strukturen geben kann, also auch keine reduktionistischen Analogien zwischen gesellschaftlichen und individuellen psychischen Veränderungen angenommen werden können (King 2013). Zusammenhänge zwischen Sozialem und Psychischem sind aufgrund dessen vielmehr gegenstandsbezogen präzise zu rekonstruieren. 227

Weiterhin verdeutlichen gerade die Befunde empirischer Untersuchungen, wie wir sie in diesem Projekt vorgenommen haben, dass die Aufmerksamkeit sich nicht bloß auf definierte ›Pathologien‹ konzentrieren darf. Für eine Analyse kultureller Entwicklungen sind vielmehr gerade solche Prozesse von besonderem Interesse, die als ›Normalisierung‹ (komplementär zum Begriff der ›Pathologisierung‹, mit dem bezeichnet ist, dass ›Normales‹, ›Gesundes‹ oder ›Übliches‹ nun als ›krank‹ gilt) gefasst werden können. Normalisierung bedeutet hier also, dass destruktive, zum Beispiel sich selbst oder anderen schadende Praktiken zur ›normalen‹, als selbstverständlich oder gar erstrebenswert erachteten Praxis mutieren und dabei die sozialen und psychischen Kosten sowie die zerstörerischen Potenziale ausgeblendet werden. Solche Prozesse der Normalisierung finden sich in kulturellen oder institutionellen Diskursen, aber auch im individuellen Selbstverständnis, wenn etwa stetiges Ringen um Selbstverbesserung hochgradig affirmiert oder bagatellisiert und damit verbundene Überforderungen negiert werden. Im Lichte dieser Überlegungen steht im Zentrum dieses Beitrags nicht die Zunahme von Pathologien wie der ›Depression‹, verstanden als eine nosologisch definierte Abweichung von dem, was als ›gesund‹ und ›normal‹ erachtet wird. Gegenstand der Analyse sind vielmehr Varianten einer kulturellen und subjektiven Normalisierung gerade auch von tendenziell überfordernden Praktiken in Institutionen, Biographie und Lebensführung, die als Folgewirkungen spätmoderner Optimierungsanforderungen begriffen werden können. Im Gegensatz zu simplifizierenden Thesen, die eindimensionale Zusammenhänge zwischen sozialem Wandel und individuellen Pathologien behaupten und bei denen schlicht von äußeren Bedingungen (etwa Beschleunigung oder Optimierungsdruck) auf Befindlichkeiten der Subjekte geschlossen wird (Erschöpfung, Burn-out usw.) – wie sie häufig gerade im Rahmen der Rezeption von Ehrenbergs Konzept des »erschöpften Selbst« formuliert wurden (Ehrenberg 2004) –, schlagen wir daher Differenzierungen auf unterschiedlichen Ebenen vor: erstens hinsichtlich der Komplexität der Vermittlung von sozialen Bedingungen und interindividuellen bis hin zu intrapsychischen Dynamiken; zweitens in Bezug auf die in vielerlei Hinsicht subjektiv affirmierten oder auch bagatellisierten, gleichwohl potenziell destruktiven Folgen von Optimierung; 228

sowie drittens mit Blick auf Überforderung als normalisierte Praxis – als eine ›neue Normalität‹, bei der versucht wird, Leiden und zerstörerische Potenziale eher zu negieren, zu übergehen oder zu verschleiern.

2. Gesellschaftliche Bedingungen optimierender Lebensführung Ausgangspunkt für unsere Überlegungen ist zunächst der Befund, dass sich moderne Gesellschaften westlichen Typs nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, das heißt, dass sie zur Reproduktion ihrer institutionellen Struktur systematisch auf Wachstum, Steigerung sowie auf stetige (Produkt- und Prozess-)Innovationen angewiesen sind, was zur Folge hat, dass sich die Modi der Effektivitätssteigerung und des Umgangs mit Zeit verändern. Dynamisches Wachstum impliziert die Beschleunigung sozialer Prozesse und erfordert eine permanente Optimierung sozialer Praxis in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und Lebensbereichen. Dadurch erhöhen sich die Anforderungen an Integrations- und Adaptationskapazitäten in der individuellen Lebenspraxis. Denn die teils auch strukturell entgegengesetzten Optimierungslogiken in verschiedenen Teilbereichen müssen auf der Ebene individueller Lebensführung in die Balance gebracht werden. Soziale Teilhabe wird zunehmend abhängig von der eigenverantwortlichen, erfolgreichen Positionierung in verschiedenen Märkten. Das stete Bemühen um Steigerung – etwa darum, immer noch besser, schneller, kreativer, effektiver zu werden – bildet sich dann sowohl in individuellen Formen der Positionierung im Wettbewerb als auch in der Bearbeitung entsprechender Anforderungen und Übergänge im Lebenslauf ab, aber ebenso in der Bewältigung von Abstiegs- und Ausschlussängsten. In Verbindung mit kulturellen Perfektionierungsnormen werden Optimierungsanstrengungen somit auf unterschiedlichen Ebenen zu Leitlinien der Lebensgestaltung, die den Individuen mehr und mehr abverlangen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass bei erhöhten Anforderungen zugleich stabilisierende Ressourcen erodieren können, wenn etwa die institutionelle Einbettung und Absicherung in Erwerbs- und Familienbiographien brüchiger wird oder Freundschaftsnetze zerbrechen. Umso mehr fragt sich, auf welche Weise Optimierungsanforderungen aufgenommen und gestaltet 229

werden, welche Auswirkungen Steigerungspraktiken insbesondere auf soziale Beziehungen, Körper- und Selbstverhältnisse haben und wie Verbesserungsbestrebungen motiviert sind. Optimierungsmotive einzig mit der simplen Übernahme äußerer Anforderungen zu erklären wird der Komplexität dieses Phänomens nicht gerecht. Optimierungspraktiken werden schon von den Individuen selbst nicht zwangsläufig als Anpassung an äußere Anforderungen aufgefasst, sondern auch als Möglichkeit der Selbstverwirklichung und als Chance zur Teilhabe. Sie resultieren nicht nur aus sozioökonomischen Bedingungen, die bestimmte Lebensweisen und Anpassungsprozesse erzwingen oder funktional erscheinen lassen. Vielmehr müssen Formen optimierender Lebensführung, wie sich zeigen wird, darüber hinaus ›passförmig‹ sein für spezifische individuelle Motivlagen und psychische Bedürfnisse, um subjektiv bedeutsam zu werden. Diese Zusammenhänge sollen in unserem Beitrag anhand von Befunden und Fallbeispielen aus dem erwähnten transdisziplinären Forschungsprojekt »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« veranschaulicht werden. In diesem Projekt wurden sowohl Männer und Frauen mit der Diagnose Burn-out oder Depression als auch Personen ohne solche Diagnosen untersucht – wobei wir in diesem Beitrag als Beispiele für normalisierte Überforderung drei Frauen schildern, die gerade nicht aus dem Sample der Patientinnen (beziehungsweise der Personen mit Diagnosen) stammen. Blicken wir vorab auf die unterschiedlichen Perspektivierungen, so zeigt sich, ganz abgesehen von der umstrittenen empirischen Datenlage, insbesondere für die Diagnosegruppen ›Depression‹ und ›Burn-out‹, dass der medizinisch-gesundheitspolitische Diskurs – vor allem aufgrund der gestiegenen Behandlungskosten – primär die Frage geeigneter Heilungsmethoden und Präventionskonzepte fokussiert (vgl. Shaw/Creed 1991). Bezogen auf die Arbeitssoziologie wurde die »Leerstelle« einer »Perspektive auf das Eingebettetsein des Subjekts« moniert (Flick 2013: 18), während die Arbeitspsychologie, als Teilbereich der Wirtschaftspsychologie, psychophysische Belastungen vorwiegend deskriptiv-quantitativ in Bezug auf Einflussfaktoren wie Arbeitsaufgaben, -mittel und -umgebung, Arbeitsorganisation und Arbeitsplatz zu operationalisieren versucht (vgl. Joiko et al. 2010). 230

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wiederum werden Symptome der Überforderung im Kontext des gesellschaftlichen Wandels verhandelt und zeitdiagnostisch in Form von Sozialtypisierungen beschrieben. Den Diskurs dominierte lange Zeit die These Richard Sennetts (1998) vom entwurzelten »flexiblen Menschen«, aber eben auch das »erschöpfte Selbst« von Alain Ehrenberg (2004) oder das Modell des »Arbeitskraftunternehmers« (vgl. Pongratz/Voß 2003), dem die Notwendigkeit zur Selbstökonomisierung und »subjektivierten Professionalität« (vgl. Voß/Handrich 2013) inhärent ist, insofern Marktanforderungen und damit verbundene Widersprüche in hohem Maße von individuellen Akteuren ausbalanciert werden müssen. Bröckling (2007) hat vor diesem Hintergrund das »unternehmerische Selbst« beschrieben, in dem die von Mayer und Thompson (2013) identifizierte Doppelstruktur von (Pseudo-)Autonomie einerseits und Unterwerfung unter wechselnde Anforderungen und Ansprüche andererseits verdichtet zum Ausdruck kommt. Gouvernementalitätstheoretisch ausgerichteten Untersuchungen wie den letztgenannten kommt es somit auch auf die Verschränkung von dominanten gesellschaftlichen Diskursen und individuellen Orientierungen an. Sie konzentrieren sich auf das Verhältnis von Macht und Subjektivität – wobei der Frage, »wie die Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist« (Foucault 1993: 203), insbesondere über diskursanalytische oder praxeologische Zugänge nachgegangen wird. Das Einbeziehen psychischer Dispositionen und Bewältigungsformen kann darüber hinaus – etwa für das Verständnis der Dynamiken von Anpassung und ihrer subjektiven Bejahung – weitere Aufschlüsse bieten. Bislang, so lässt sich insgesamt festhalten, mangelt es an systematisch-qualitativen Rekonstruktionen des Zusammenspiels von soziokulturellen Bedingungen, Diskursen und individuellen Verarbeitungsweisen, die auch psychische Prozesse und Abwehrformen differenziert in den Blick nehmen. Ebenso bedarf es einer empirischen Untersuchung der spezifischen Bedingungen für Symptomkonstellationen, bei der Zusammenhänge zwischen psychischen Dispositionen einerseits und sozialen Anforderungen wie Steigerungs- und Perfektionierungszwängen andererseits fokussiert werden. 231

3. Die Logik der Steigerung und steten Grenzüberschreitung Fortwährendes Ringen um Optimierung kann als eine der gegenwärtig bedeutsamsten kulturellen Leitvorstellungen gelten: Ständige Leistungssteigerung und Selbstverbesserung werden als notwendig erachtet, um im niemals stillstehenden Wettbewerb mithalten zu können. Die französische Sozialwissenschaftlerin Nicole Aubert verweist vor diesem Hintergrund auf historische Wandlungen im kulturellen Verständnis von Vervollkommnung, wobei die gegenwärtigen Ideale dadurch charakterisiert seien, dass die Grenzen der Welt und des Selbst stets aufs Neue zu überschreiten versucht würden (Aubert 2009: 97 f.). Diese Selbstüberschreitung sei jedoch erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts – mit dem Beginn des digitalen Zeitalters, den damit verbundenen Veränderungen der globalen Ökonomie und der wachsenden Bedeutung des Finanzkapitalismus, die zu einer weiteren enormen Beschleunigung und Ökonomisierung beitrugen – von einem kulturellen Ideal zur kaum hintergehbaren und zugleich eigenverantwortlich zu erfüllenden Norm geworden. Seitdem werde dem Menschen »eingeschärft, immer weiter, immer schneller […] voranzuschreiten […], um der Beste zu sein« (ebd.: 98) und Grenzen stetig zu verschieben. Da Ökonomisierung und Wettbewerb sich in immer mehr Bereichen des Sozialen verbreiten, wirkt sich der Druck zur Verbesserung und Effizienzsteigerung – oder zur stetigen, instrumentellen Weltreichweitenvergrößerung (Rosa 2016: 690-699) – nicht nur im Beruf aus, sondern auch in der Familie, in Eltern-Kind- und Paarbeziehungen, im Verhältnis zu Körper und Selbst, im Öffentlichen und im Privaten. Es gibt kaum noch Facetten der Lebensführung (von den Berufs- und Familienpraktiken über Gesundheits- und Sexualpraktiken oder Sport bis hin zum Schlafverhalten), in denen der verschärfte Beschleunigungs- und Wettbewerbsdruck nicht permanente Steigerung und erhöhte Verbesserungsanstrengungen zu erzwingen oder zu befördern scheint (Wagner 2017). Eine sowohl theoretisch-konzeptionell als auch empirisch noch offene Frage ist indes, wie ausgeführt, auf welche Weisen und mit welchen Motiven Individuen sich Steigerungs- und Effizienzdruck zu eigen machen – auch mit Blick darauf, dass Selbstverbesserung in vielen Hinsichten von vielen als erstrebenswert und nützlich er232

achtet beziehungsweise als sinnvoll und befriedigend erlebt wird. So gilt es, wie eingangs betont, die Art der Übersetzung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und psychischen Bewältigungsformen konzeptionell adäquat zu fassen und empirisch zu rekonstruieren. Dazu gehört zunächst die sorgfältige Analyse institutioneller und organisationaler Kontexte und Praxiszusammenhänge (Rosa et al. 2018), aber auch kultureller Diskurse, in denen Optimierungsnormen relevant sind. Darauf aufbauend können dann Muster der Lebensführung nachgezeichnet werden, die einerseits Reaktionen auf gesellschaftliche Wandlungen und damit verbundene institutionelle Praktiken und Diskurse abbilden, andererseits aber auch Ausdruck von spezifischen biographischen Dispositionen und psychischen Verarbeitungsformen sind. Die Voraussetzungen, Auswirkungen und Aporien einer an Optimierung ausgerichteten Lebensführung lassen sich erst auf diese Weise genauer in den Blick nehmen. Sie zu analysieren war Ziel des Projekts »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« (APAS).1 Das Projekt beschäftigte sich mit steigenden Optimierungszwängen und Perfektionierungsbestrebungen im Kontext der gesellschaftlichen Dynamisierung von Wettbewerbs- und Anerkennungsstrukturen. Dabei wurden Konsequenzen für soziale Beziehungen, Selbstentwürfe und Körperverhältnisse untersucht. Ferner ging es um die Fragen, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den erhobenen biographischen Entwicklungen (Frauen und Männer, Eltern und Nichteltern zwischen 25 und 40 Jahren ohne Diagnosen) und ›pathologischen‹ Entwicklungen von Personen (Frauen und Männer zwischen 25 und 40 Jahren mit Diagnosen) auftreten, inwieweit zeittypische Störungsbilder als Ausdruck der für die Subjekte bestehenden Optimierungs- und Perfektionierungsanforderungen zu deuten sind und welche praktischen oder diskursiven Veränderungen sich in den Relationen von ›Normalität‹ und ›Pathologie‹ abzeichnen.2 1 Das Projekt wird von der VolkswagenStiftung (2012-2017) gefördert und von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa geleitet. Zu Forschungsdesign und ExpertInnen-Interviews vgl. Fußnote 3. 2 In der APAS-Studie wurden sowohl ExpertInnen-Interviews zu Optimierungsanforderungen als auch biographisch narrative Interviews mit 25- bis 40-jährigen Männern und Frauen sowie mit Patientinnen und Patienten erhoben. Die

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4. Organisational und medial vermittelte Optimierungsdiskurse Das Projekt befasste sich makroperspektivisch mit der Analyse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf institutioneller und diskursiver Ebene, insbesondere mit organisational und medial vermittelten Optimierungsanforderungen. Durch die Befragung von Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen3 sowie durch Diskursanalysen populärer Zeitschriften (Leitmedien) wurden jene institutionellen Erwartungen im Kontext von Optimierung sowie Perfektionierung herausgearbeitet, die gegenwärtig an die Subjekte gerichtet werden. Wie die Analyse der ExpertInnen-Interviews ergab, wurden in nahezu allen Teilbereichen der untersuchten Institutionen und Beratungsfelder die ›Klientinnen‹ oder ›Klienten‹ explizit oder implizit aufgefordert, sich institutionellen und weiteren lebenspraktischen Veränderungen anzupassen. Es zeigte sich, dass und wie neue Optimierungsnormen praktisch bedeutsam werden, die zugleich widersprüchliche Folgen haben. Die in der soziologischen Literatur formulierte, aber empirisch kaum untersuchte These einer sich zuspitzenden Individualisierung von Optimierungsanstrengungen ließ sich teils untermauern, teils differenzieren und erweitern mit Blick auf bereichsspezifische Variationen und praktische Widersprüche. Die Analyse von insgesamt 43 Artikeln des Jahres 2013 aus SpieExpertInnen-Interviews wurden in Anlehnung an Meuser und Nagel (2002) ausgewertet, die biographischen Interviews wurden im Sinne der Sequenzanalyse unter Einbezug von Interaktionsdynamiken analysiert. Die Triangulation dieser Auswertung ermöglicht die Herausarbeitung institutioneller Anforderungen und deren Bearbeitung im Kontext der individuellen Lebensführung. 3 Im Einzelnen handelt es sich um folgende Bereiche und ExpertInnen-Gruppen: (a) Institutionen der Informations-, Wissens- und Technologiegesellschaft (ExpertInnen der Bildungsberatung, der Erwachsenenpädagogik und der Medienpsychologie), (b) Institutionen der Arbeit und des Wohlfahrtsstaates (FallmanagerInnen der Arbeitsagenturen, VertreterInnen der Krankenkassen, ExpertInnen des Unternehmensmanagements), (c) Familien- und Erziehungsinstitutionen (Paar- und FamilienberaterInnen, VertreterInnen der Jugendämter, LeiterInnen von Kindertagesstätten), (d) Institutionen des politischen Gemeinwesens und der kulturell normativen Integration (VertreterInnen von NGOs, VertreterInnen von Ethikkommissionen, AmtsrichterInnen).

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gel, Focus und Stern, die die Lebensführung im Hinblick auf Selbst, Körper und Beziehungen zum Thema hatten, konnte darüber hinaus zeigen, dass im Mittelpunkt medialer Diskurse vor allem die Optimierung des individuellen Wohlbefindens stand. Hier zeichnet sich der Appell ab, Optimierung so zu betreiben, dass Selbstbestimmung wieder zum ›wahren Quell der Selbstverwirklichung‹ werden könne. Die Artikel verstanden sich als Lebenshilfe zum Umgang mit Überforderungsszenarien, wirkten zugleich aber auf weitere Optimierungsstrategien jenseits des Arbeitskontextes hin. Dabei zeigt die Analyse, dass die empfohlenen Maßnahmen gegen berufliche Überforderung mit genau jener Flexibilisierungs- und Veränderungsrhetorik arbeiten, die selbst als Ursache der Überforderung kritisiert wurde (vgl. Lindner 2016). Im Kern empfiehlt der dominante mediale Lebensführungsdiskurs den Subjekten die selbstbestimmte Optimierung ihres Umgangs mit als unvermeidbar dargestellten Optimierungsdilemmata. Übergreifend zeichnet sich ab, dass organisational und medial vermittelte Optimierungsanforderungen zwar verschiedenen Zielsetzungen folgen, dabei jedoch mit einer ähnlichen rhetorischen Figur verbunden sind. Das Anforderungsprofil dieser Figur ist ambivalent, teilweise paradox: Es impliziert einerseits, nicht nur das Verhältnis zur Umwelt, sondern auch zu sich selbst als Anforderungstableau zu fassen. Zu diesen (externen) Anforderungen soll das Subjekt andererseits, folgt man den Diskursen, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse ins Verhältnis setzen. Optimierungsdiskurse tragen in diesem Sinne bereits konstitutiv eine Spannung in sich, insofern sie auf individueller Ebene eine unablässige Berücksichtigung der beiden Anforderungspole – hohe Ansprüche an sich und zugleich sensible Selbstfürsorge – einfordern.

5. Wahrnehmung und Bewältigung von Optimierungsanforderungen – empirische Analysen Vor diesem Hintergrund wurde durch eine Fragebogenerhebung quantitativ untersucht, wie die (ambivalenten) Optimierungsanforderungen von den Individuen wahrgenommen, bewertet und eingeordnet werden. Dafür wurde im Rahmen des Projekts ein Fragebogen entwickelt, der geeignet ist, den Zusammenhang von 235

Beschleunigungs-, Optimierungs- und Perfektionierungsanforderungen, die darauf bezogenen Lebenspraktiken sowie die Folgen für Körper- und Selbstverhältnisse zu erfassen. Die quantitative Erhebung umfasste tausend Befragte im Alter von 25 bis 40 Jahren und wurde entlang den Faktoren Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss und Elternschaft quotiert, um sich möglichst einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage anzunähern.4 Die Auswertung der erhobenen Daten zeigt, dass die subjektiv empfundene Beschleunigung des Alltags und des sozialen Wandels mit wahrgenommenem Optimierungsdruck, hoher Leistungsbereitschaft und Perfektionsstreben korreliert. Zugleich findet sich das Erleben von Überforderung, Versagensängsten und ein Gefühl der Ausweglosigkeit verstärkt überall dort, wo Menschen in höherem Maße das Gefühl haben, beschleunigten Zeitstrukturen ausgesetzt zu sein. Je höher der wahrgenommene Optimierungsdruck, desto größer ist auch die Angst vor dem Scheitern. Dabei werden die hohen Eigenansprüche verstärkt auch auf die nachfolgende Generation übertragen: Der von der Hälfte der Befragten geäußerte Wunsch, ihr Kind möge bereits von Beginn an zu den Besten gehören, korreliert mit hohen selbstbezogenen Perfektionierungsansprüchen und Selbstwirksamkeitserfahrungen, einer erhöhten Angst vor dem persönlichen Versagen sowie einer grundsätzlich starken instrumentellen Orientierung in Beziehungen. Eine bemerkenswerte Beobachtung zeigte sich auch im Rahmen der schichtspezifischen Analyse: Obwohl die Befragten in vergleichbarer Weise Optimierungsanforderungen ausgesetzt zu sein scheinen, wurden diese sehr unterschiedlich wahrgenommen. Während gesellschaftliche Anforderungen in den einkommensschwächeren Schichten tendenziell als Druck von außen empfunden und eher von Überforderungsgefühlen begleitet werden, neigen Personen mit höherem Einkommen oder höheren Bildungsabschlüssen stärker dazu, sie als Chance zur Selbstverwirklichung aufzugreifen und entsprechende Eigenansprüche zu formulieren, deren Bewältigung auch mit Hochgefühlen verbunden sein kann. Während anhand der Diskursanalyse, der Auswertung der 4 Die Befragung erfolgte online mittels einer repräsentativen Quotenstichprobe, bei der die Auswahl der Befragten sich an der Verteilung der Merkmale Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss und Elternschaft in der deutschen Gesamtbevölkerung (Mikrozensus 2010) orientierte.

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ExpertInnen-Interviews sowie der Fragebogenerhebung vor allem Optimierungsanforderungen und -diskurse sowie ihre individuelle Wahrnehmung erfasst werden konnten, stand im Mittelpunkt der qualitativen Studie primär die Wirkung der ›Normalisierung‹ von kontinuierlich hohen beziehungsweise steigenden Erwartungen und einer daran ausgerichteten optimierenden Lebensführung auf Selbstverhältnisse, Körperpraktiken und Beziehungsgestaltungen, insbesondere auch auf Fürsorgebeziehungen und Bedingungen des Aufwachsens der Kindergeneration. Dazu wurden 100 Interviews mit Männern und Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren durchgeführt, von denen etwa die Hälfte einer der Gruppen ›Depression‹, ›Burn-out‹, ›Bulimie‹ oder ›Schönheitsoperation‹ angehörte, und narrativ-sequenzanalytisch beziehungsweise psychodynamisch (cross)ausgewertet. Depression und Burnout sind Diagnosen, bei denen Erschöpfungsaspekte, mitunter auch in Relation zu Perfektionierungsidealen, explizit eine wichtige Rolle spielen; bei Schönheitsoperationen und bestimmten Varianten der Bulimie geht es um unterschiedliche Formen der körperbezogenen Optimierung, aber auch um konkretistische Formen der ›Indienstnahme des Körpers‹, die wiederum durch mediale Diskurse unterstützt werden. Die Fallanalysen folgten zugleich der Hypothese, dass die ›äußere Welt‹ in Bezug auf psychische Erkrankungen (wie etwa kulturelle Diskurse und institutionelle Anforderungen) Schablonen liefern kann, in denen intrapsychische Konflikte unbewusst und camoufliert reinszeniert werden können. Insgesamt zeigte sich, dass und auf welche Weise äußere Anforderungen, individuelle psychische Dispositionen und verschiedene Bewältigungs- und Abwehrstrategien passförmig ineinandergreifen. Die Varianten optimierungsbezogener Bewältigungsmuster wurden anhand der narrativ-sequenzanalytischen und psychodynamisch ausgerichteten Analysen der Interviews typologisch differenziert. In Wechselwirkung mit (insbesondere elterlichen beziehungsweise primären) Zuwendungserfahrungen lassen sich Unterschiede identifizieren hinsichtlich (a) der Intensität der Optimierungsbestrebungen, (b) der Wahrnehmung daraus resultierender schädigender Potenziale für Selbstverhältnisse und Fremdbeziehungen und (c) der Möglichkeiten, sich gegenüber Optimierungsanforderungen abzugrenzen. Muster optimierender Lebensführung werden demnach von zwei Seiten hervorgebracht und aufrechterhalten: Auf der 237

einen Seite resultieren sie aus sozioökonomischen Bedingungen, die bestimmte Lebensweisen und Anpassungsprozesse erzwingen oder funktional erscheinen lassen. Auf der anderen Seite müssen sie für psychische Bedürfnisse ›passförmig‹ sein, um subjektiv bedeutsam zu werden. Optimierungszwänge befördern die instrumentelle Gestaltung von Beziehungen und (Körper-)Selbstverhältnissen und können auf diese Weise negative Zirkel von Bindungsverlusten und einer Verminderung der Sorge für sich und andere auslösen. In diesem Sinne kann Optimierungsdruck passförmige (aber unter Umständen schädigende) Lebensführungsmuster und psychische Tendenzen verstärken und fürsorgliche oder bindungsbezogene Muster destabilisieren. Ausgehend von den Optimierungsanforderungen, die im Rahmen der Diskursanalyse und der Auswertung der ExpertInnen-Interviews identifiziert wurden, ließen sich Bewältigungs- und Abwehrmechanismen gegenüber dem Optimierungsdruck rekonstruieren.

6. Fallrekonstruktionen Im Folgenden skizzieren wir exemplarisch drei Fälle aus dem biographieanalytischen Teil der APAS-Studie, in denen sich die Interviewten den Druck zur Selbstverbesserung auf unterschiedliche Weise zu eigen machten. Da es uns an dieser Stelle vordringlich um die Identifizierung von Mechanismen der ›normalisierenden‹ Anpassung im Kontext von Optimierung und insbesondere um die Arten des Ineinandergreifens von gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Motiven geht, haben wir dafür Fälle aus dem nichtklinischen Sample gewählt. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei der instrumentellen Logik der Selbstverbesserung, entsprechenden Beziehungsgestaltungen sowie den mit Perfektionierung verbundenen Aporien und ihren kontraproduktiven oder destruktiven Potenzialen.5 Aufgrund der Auswahl von drei weiblichen Interviewten wollen wir kurz einige erwartbare, gleichwohl aber bedeutsame geschlechtsspezifische Befunde unserer Studie skizzieren: (1) Die Vereinbarkeit von Ehe/Familie und Beruf/Karriere ist 5 Vgl. dazu auch King et al. 2014; King/Gerisch 2015; Beerbom et al. 2015; Schreiber et al. 2015; Salfeld-Nebgen et al. 2016; Uhlendorf et al. 2016.

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für Frauen nicht nur eine faktische Herausforderung, die häufig mit erheblichen Verzichtsleistungen auf der einen oder anderen Seite verbunden ist, sondern sie wird von den Probandinnen mitunter auch als unlösbares (Optimierungs-)Dilemma erlebt. (2) Die meisten Frauen nehmen beim Thema Körper gleichsam reflexhaft auf Schönheit/Aussehen Bezug; bei Männern hingegen tritt der Körper eher als Leistungsinstrument, als Träger (lustvoll-) sportiver Erlebnisse oder aber als Symptomträger in Erscheinung. Frauen sehen sich somit tendenziell einer doppelten Optimierungsanforderung (Leistung und Schönheit) ausgesetzt. Bei geplanter oder bereits bestehender Elternschaft kommt hier oft noch eine weitere (aporetisch wirkende) Komponente hinzu, nämlich den Körper auch noch möglichst fürsorglich für die optimale Erfüllung dieser Rolle zu behandeln beziehungsweise ihn zu optimieren. (3) Freundschaften bilden bei beiden Geschlechtern häufig den Lebensbereich, in dem (zumindest nach Eintritt in die Berufstätigkeit und bei Partnerschaft/Familie) als Erstes Abstriche gemacht werden. Frauen nehmen gleichwohl eher wahr, dass aufgrund der Fokussierung auf andere Lebensbereiche die Freundschaften leiden. Männer geben sich hier stärker dem phantasmatischen Ideal von Freundschaften hin, die auch ohne große Pflege für immer halten werden, beziehungsweise messen die Qualität einer ›guten Freundschaft‹ daran, dass man (erst dann) zugegen ist, wenn wirklich ›Not am Mann‹ ist. Auch sind es häufig die Partnerinnen, die in Beziehungen im Wesentlichen die Pflege der gemeinsamen sozialen Kontakte übernehmen. Vorsichtig interpretiert: Hier sind die Frauen (wenn auch vielfach leidend-scheiternd) tendenziell die ›faktisch-realen‹ und Männer eher die ›delegierend-illusionären‹ Perfektionierer. Streben nach steter Leistungssteigerung – Bagatellisierung des Leidens (Nina Baumgartner)6 Die zum Zeitpunkt des Forschungsinterviews 27-jährige Nina Baumgartner7 wächst als Tochter eines Akademikerpaars zusammen mit ihrem älteren Bruder auf. Um sich ihren Kindern mög6 Vgl. dazu ausführlich auch Salfeld-Nebgen et al. 2016. 7 Die in den folgenden Fallbeschreibungen dargestellten Personen wurden anonymisiert.

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lichst uneingeschränkt widmen zu können, hat Ninas Mutter ihre eigenen beruflichen Ambitionen viele Jahre lang aufgegeben und engagiert sich umso mehr für die Förderung ihrer Tochter: Ab dem Alter von dreieinhalb Jahren bis zum Abitur erlernt Nina Baumgartner mehrere Musikinstrumente, nimmt fortwährend an zunächst musikalischen, später sportlichen Wettbewerben teil. Nach dem erfolgreichen Jurastudium in einem universitären Kontext, aus dem, wie sie selbst sagt, »so die Highflyer rauskommen«, tritt sie eine Stelle in einem Großunternehmen an und arbeitet seither fünfzig bis sechzig Stunden die Woche. Sie ist Single und wünscht sich eine eigene Familie. Im Zentrum der Erzählungen von Nina Baumgartner stehen ihre Leistungen. Sie entfaltet im biographischen Interview (bei dem nicht nach Optimierung gefragt wurde) eine überaus eindrucksvolle Erzählung ihrer Kindheit und Jugend, ihrer Bildungs- und Berufsbiographie sowie ihrer zahlreichen Fähigkeiten und Erfolge. Ihr Leben ist geprägt von vielen von ihr als genussvoll geschilderten Anstrengungen, sich in Wettbewerben zu bewähren – von der Erfahrung, immer wieder zu siegen, zu den Besten zu gehören. In diesen Hinsichten erscheint ihr Leben – ihre Lebensleistung – als sehr gelungen. Zugleich berichtet sie von Situationen, in denen sie an die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit geraten ist oder diese überschritten hat – einmal bereits während der Adoleszenz, als sie an mehreren Wettbewerben gleichzeitig teilnahm, dann in der gegenwärtigen, sehr anstrengenden Arbeitssituation, die ihr kaum Zeit für Erholung lässt: Also (.) ich bin momentan auch sehr unter Strom [ja] und ich merk’s weil mir die Haare aus-gehn … (lacht) und ich hab/ hab auch tatsächlich Magenprobleme [mhm] also das ist auf jeden Fall Stressgastritis, das hab ich a/ habe ich auch schon ewig das [ja] das kenn/ das kenn ich ganz genau was das ist [mhm] ähm (2) also insofern ist es momentan sicher so, dass mein Kör-per son bisschen schreit also [mhm] der der sagt mir schon eigentlich (.) komm mal wieder runter [mhm] aber ich würd jetzt (.) rational würde ich behaupten, das is also dass es sicher nicht in so ne Richtung Burnout geht, weil ähm (2) also dazu bin ich noch viel zu fröhlich als in/ in der Grundeinstellung, also es gibt viele Dinge, die mich massiv stören und wo ich mir auch viele Sorgen mach und und wo die Arbeit einfach zum Teil einfach (.) gefühlt zu viel is [mhm] (.) aber (2) es ist also ich/ ich bin da glau-

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be zu rational dafür, dass ich sagen würde ich ich bin jetzt depressiv oder ähm (3) ich weiß nich (.) dis (3) in gewisser Weise gehörts auch irgendwie dazu also ich habe mir das ausgesucht mit der Branche und und auch dass ich ähm sonst in der Freizeit viel mach (2) und deswegen ist es jetzt halt auch einfach so (lacht kurz) [mhm] …

Nina Baumgartner schildert körperliche Stress-Symptome und denkt darüber nach, ob sie an Burn-out leidet; zugleich betont sie, dass die Anstrengungen in Kauf zu nehmen wichtig ist, um erfolgreich zu bleiben und weitere Karriereschritte machen zu können. Das Thema Freundschaften und vor allem Partnerschaft spricht sie nicht von sich aus an, und es scheint, so notiert die Interviewerin in ihrem Protokoll, für die Interviewte eher unangenehm zu sein: Ich finds aber auch f/schwierig genauso wie/ wie/ wie jetzt einfach nur Freunde kennen zu lernen es ist auch schwierig Partner zu kennen zu lernen [ja] … das is/ ist halt, wenn man ar-beitet, nicht mehr so ganz einfach [ja] und in der Kollegschaft also (beide lachen) ts keine gute Idee (lacht) aber es stimmt, also ich war jetzt rückblickend war ich immer in meinem Leben sehr beziehungslos (.) was Partnerschaften angeht (.) ähm fand ich ne ganz Zeit lang voll okay (.) also [mhm] wollte ich auch so (1) und ähm mittlerweile finde ich s nicht mehr so okay…

Das Verhältnis zum Körper ist instrumentell getönt; sie spricht darüber wie eine Leistungssportlerin, die die Qualität des eigenen physischen Materials kommentiert: Mhm (2) ahm (.) das Verhältnis zu meinem Körper (1) ich bin der Meinung, dass der ziemlich viel kann und das war bisher auch immer der Fall, dass/ dass ich mich da drauf verlassen konnte [mhm] also ich war noch nie so richtig verletzt also ich hatte halt so Kapselrisse oder irgendwelche Kleinigkeiten [mhm] vom Sport … aber (.) grundsätzlich (1) macht der schon immer das was ich will (lacht).

Paradigmatisch für Nina Baumgartners Lebenssituation und Entwicklung zeigt sich in diversen Interviewpassagen eine deutliche Spannung zwischen einerseits ihren beruflichen Ambitionen sowie andererseits den Wünschen nach Bindung und Familiengründung, aber auch den körperlichen Symptomen, die eine hohe Belastung bis hin zur Überforderung indizieren. Sie ist in einem hohen Maß mit den äußeren Anforderungen in ihrem Berufsalltag identifiziert, 241

denen sie durch ein optimiertes Zeit- und Leistungsmanagement gerecht zu werden versucht. Dabei nimmt sie nicht nur den in ihrer Branche geforderten Flexibilisierungs-, Mobilitäts- und Zeitdruck in Kauf, den sie gleichwohl als »son bisschen das Coole an meiner Arbeit« rationalisiert, da dadurch »kein Tag wie jeder andere ist«. Vielmehr zeigen sich, auch wenn sie am Wochenende für ein ebenso optimiertes, durchgetaktetes sportliches Ausgleichsprogramm sorgt, inzwischen gravierende körperliche Symptome, die sie zwar durchaus auf das enorme Arbeitspensum zurückzuführen vermag, aber fast im selben Atemzug wieder bagatellisiert. Sie relativiert und ›normalisiert‹ psychosomatische Körpersymptome, Haarausfall und Gastritis, damit auf eine Weise, die man im psychoanalytischen Sinne als Abwehrmechanismus der Rationalisierung verstehen könnte. Es fällt überdies auf, dass sie nichts an ihrem Lebensstil ändern möchte, obwohl sie sich der Ursachen ihrer Leiden durchaus bewusst ist. Für ein »Burn-out« oder um »depressiv« zu sein, sei sie einfach zu »fröhlich« und »rational«. Aufschlussreich erscheint zudem, wie sie unter Bedingungen erheblicher Fremdbestimmung und Überforderung im Beruflichen vor sich selbst eine Souveränität zu behaupten vermag, indem sie darauf hinweist, dass sie sich »das ausgesucht« hat. Allein die subjektiv für valide gehaltene Erklärung für ihr Verhalten reicht dazu aus, die leidverursachenden Bedingungen als »einfach so« gegeben zu akzeptieren. Brüchiger, auch für sie selbst, wird ihre Haltung, wenn es um das Thema Partnersuche und Familiengründung geht. Denn während sie körperliche Beeinträchtigungen noch leichter bagatellisieren kann, bereiten ihr das Leben ohne Partner und die Vorstellung, eventuell nicht Mutter zu werden, größere Sorgen. Sie betont den Konflikt zwischen beruflichem Erfolg und zukünftiger Elternschaft in ihrer jetzigen Lebenssituation: Und ich weiß, dass das tatsächlich nicht vereinbar is mit richtig richtig hohen Positionen also diejenigen, die zumindest in meiner Firma hoch oben sind, die ham keine Kinder (.) und alle, die Kinder haben, sind so in ein/ in der Hälfte der Karriereleiter stehen geblieben und die sind halt/ die sind halt gestiegen gestiegen, ham dann ihre Kinder gekriegt und sind seitdem auf der gleichen (.) Ebene.

Sollte sich ihr Wunsch nach einer eigenen Familie nicht realisieren – »sollte das sich nicht ergeben, wenn ich keine Kinder krieg 242

und wenn ich nich heirate« –, so kann sie dies nur für sich gelten lassen, wenn sie dafür ihr »Leben lang/ Leben lang Karriere« macht. In ihren Ausführungen zeichnet sich ein Abwägen verschiedener Zukunftsszenarien ab, die in einem aporetischen Verhältnis zueinander stehen: Sie wünscht sich zuallererst eine Familie, doch fürchtet sie, auch aufgrund ihrer aktuell verfolgten Karriereambitionen, keinen geeigneten Partner zu finden. Sich auf ihre familienorientierten Wünsche zu konzentrieren, vermag sie jedoch nicht, weil sie so ihre Karriere riskieren würde, die wiederum als Kompensation dienen müsste, falls sie keine Kinder bekommt. Dass ihr Wunsch nach Mutterschaft durch den Aufschub aufs Spiel gesetzt wird und ihr Körper zugleich erste Erschöpfungssymptome zeigt, blendet sie aus. Bereits in den Ausführungen über ihre frühe Kindheit wird eine erhebliche Leistungsbezogenheit deutlich, die sie durchweg als intrinsisch motiviert – also nicht von ihren Eltern auferlegt – beschreibt und zugleich hinsichtlich ihres Ausmaßes relativiert. So wirft sie bezüglich ihrer ambitionierten musikalischen Früherziehung bagatellisierend ein, dass das »natürlich auch fast jedes Kind macht«. Dabei wird deutlich, dass hohe Leistung zu erbringen als Selbstverständlichkeit erwartet wurde – dass die Zuwendung der Mutter, die für sie ihre eigene berufliche Karriere aufgegeben hatte, gewissermaßen an ihr Funktionieren als tüchtige, erfolgreiche Tochter geknüpft zu sein schien. So wird die Mutter ausschließlich in Kontexten thematisiert, in denen Nina beschreibt, wie sie von ihr gefördert und bei Wettbewerben unterstützt wurde; bereits in den Kindheitsschilderungen erscheint sie eher wie eine Art ›Trainerin‹. Auch ihre einzige Liebesbeziehung hatte Nina Baumgartner bezeichnenderweise zu einem (Sport-)Trainer. Insgesamt werden Beziehungen in erster Linie unter Wettbewerbsgesichtspunkten geschildert: als Beziehungen entweder zu Personen, mit denen sie in Wettbewerben konkurriert, oder zu Personen, die sie im Konkurrenzkampf unterstützen.

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Selbstoptimierung im Kontext befristeter Zugehörigkeit (Beate Meier)8 Beate Meier, Ende dreißig, arbeitet in einer großen Stadt in Süddeutschland. Sie kann als eine typische ›Projekt-Arbeiterin‹ im Sinne von Bröckling (2007) verstanden werden, und auch ihre Lebensführung folgt hochgradig einer Logik anpassungsbereiter Optimierung. Seit vielen Jahren hat sie befristete Arbeitsverhältnisse, auf die sie flexibel, verantwortungsbewusst und leistungsbereit reagiert. Um ihre berufliche und ökonomische Zukunft zu sichern, unternimmt sie viele Anstrengungen. Nach einem technischen Studium hat sie einschlägige Weiterbildungen absolviert. Sie ist lebenspraktisch in vielerlei Hinsicht überaus beweglich und darauf ausgerichtet, sich an neue Optionen und Situationen rasch und entschlossen anzupassen. Von außen betrachtet und mit Blick auf ihre Lebensumstände kann ihr Fall zunächst einmal als eindrückliches Beispiel für die ›Subjektivierung der Arbeit‹, für den optimierungsbereiten flexiblen Menschen genommen werden, als Beispiel für ein ›Projekt-Ich‹. Die biographische Rekonstruktion zeigt jedoch, auf welche Weise zugleich durchaus ›unflexible‹, rigide Muster der Bewältigung biographischer Erfahrungen für die Anforderungen des Arbeitsmarkts funktional werden. Es zeichnet sich außerdem eine konstante Lebenslogik ab, die von einer Mischung aus der Hoffnung, ›doch noch‹ unersetzbar zu werden, und Resignation geprägt ist. So lässt sich am Fall Beate Meier exemplarisch das passförmige Ineinandergreifen von spezifischen biographischen Dispositionen und gesellschaftlichen Erfordernissen der fortlaufenden Optimierung auf verschiedenen Ebenen verdeutlichen. Für Beate Meier steht die Arbeit an sich selbst, insbesondere an der eigenen Leistungsfähigkeit, im Mittelpunkt. Außen vor bleiben Zeit für Beziehungen, Ruhe oder Muße. Aufgrund zeitlicher Nöte strukturiert sie ihren Alltag penibel. Dabei gerät sie nicht selten an die Grenzen ihres körperlichen und mentalen Leistungsvermögens  – und betäubt damit offenbar auch negative Gefühle, Verlust- und Zukunftsängste. So äußert sie über eine charakteristische Lebensphase: »Das heißt, ich hab sämtliche Wochenenden und 8 Vgl. dazu ausführlich auch King et al. 2014.

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Abende mit Lernen verbracht, ja? also arbeiten, Weiterbildung, bisschen Sport, schlafen, essen – also das war – äh – eine ganz äh extreme Zeit, so nach dem Motto, bloß nich’ nachdenken, bloß beschäftigt sein.« Obgleich Beate Meier mit ihrer Weiterbildung auch eine Erweiterung ihrer Ressourcen im Sinne einer Anpassung an den Arbeitsmarkt anstrebte, gelingt es ihr in den folgenden Jahren nicht, beruflich dauerhaft Fuß zu fassen: Der überwiegende Teil ihrer Arbeitsverhältnisse ist befristet. In der Hoffnung auf eine Entfristung ringt sie um die ständige Optimierung ihrer Leistung und Effizienz: »so und das müssn Sie organisiern – und dann versuchen Sie halt alles zu optimiern … dann hier um sich irgendwelche Freiräume zu schaffn – das war schon ganz schön – heftig«. Dass ihre Kalkulation nicht aufgeht, auf ihre Arbeitsleistungen also nicht zwangsläufig Anerkennung folgt, verdeutlicht sich im wiederholt beklagten Ausbleiben von positivem Feedback und Entfristung. Dennoch bleibt Beate Meier dieser Logik verhaftet: Auch in ihrer gegenwärtigen, wiederum befristeten Stelle, bei der der Arbeitsdruck weniger ausgeprägt ist als im vorigen Projekt, ist sie konstant bemüht, ihre Tätigkeiten zu optimieren. Aufträge erledigt sie etwa stets vor den abgesprochenen Abgabeterminen, und so steigert sie ihren Zeitdruck selbst. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Arbeitsmarktlogiken steht ihr Fall beispielhaft für die Inkorporation von Fremdzwängen, die sogar als lustvoll wahrgenommen werden: Beate Meier treibt sich nicht nur selbst zur Steigerung ihrer Leistung an, sondern beschreibt sich überdies als eine Person, die mit Vergnügen organisiert: »Alles, was mit Organisation zu tun hat, find ich superaufregend.« So besuchte sie zahlreiche Selbst- und Zeitmanagement-Seminare. Ihr damit verbundener »Spaß an Herausforderungen« resultiert in dem Versuch, sich fortlaufend selbst zu übertreffen und im Wettlauf mit sich selbst die zeitliche Strukturierung der Abläufe immer weiter zu optimieren. Die Arbeit nimmt dabei nicht nur eine finanziell existenzsichernde Funktion ein – wie sie häufig betont, kommt sie mit dem Einkommen gerade so zurecht –, sondern sie dient ihr auch als »Kompensation für andere Defizite«. Analog zu ihren Beschreibungen der Arbeit sind auch die Darstellungen des Beziehungsalltags durchgängig von einem technisierenden Optimierungsvokabular geprägt. Die Begegnungen mit 245

dem Partner werden, wie sie sagt, genau geplant und effizient gestaltet: Wir wohn ja nich zusamm, wir pendeln und das is organisatorisch … also das müssen Sie alles irgendwie planen un’ organisiern, das ist so aufwendig, dann äh, nicht jeder Haushalt hat das Gleiche, F. hat keinen Entsafter, das heißt, wenn wir Saft machen müssen, muss ich den mit mitnehem…, dafür hat F. eine Espresso-Maschine, die ich aber nich’ besitze, das heißt, F. bringt die Maschine dann wiederum mit zu mir, das sind nur so Kleinigkeiten, aber Sie könn’ sich, damit (klopft auf den Tisch) irgendwie, also es is’ so, wir setzen uns einmal in der Woche hin mit unseren Planern.

Auf ähnliche Weise beschreibt Beate Meier ihre insgesamt hochgradig durchstrukturierte Freizeit. In Hinblick auf ihre früheren Beziehungen erzählt sie von schmerzhaften Trennungen und leidvollen Verletzungen, die sie erlebt hat. Die Erzählung des gegenwärtigen Beziehungslebens ist geprägt von organisatorischen Erwägungen, die offenbar Sicherheit geben, diffuse Ängste zu bannen helfen oder gar zur Abwehr depressiven Erlebens instrumentalisiert werden. Den Sog rastloser Planung und Effizienzsteigerung erlebt Beate Meier als überlebensnotwendig, ohne dass die Gefahr damit gänzlich in Schach gehalten werden könnte: »Stillstand ist der Tod und andererseits (3 Sek. Pause) – ne? Vielleicht lauert der Tod auch um die Ecke, wenn man sich bewegt.« Dieses Bild des Immer-in-Bewegung-sein-Müssens nimmt buchstäblich Gestalt an im Bereich des Sports, der seit ihrer Kindheit eine wesentliche Rolle in ihrem Leben spielt. Beate Meier treibt gleichsam ihren Körper an und erlebt sich in diesem Terrain auf eine Weise als selbstwirksam, die ihr in anderen Bereichen verwehrt bleibt, so dass der getrimmte Körper auch als »Ersatzobjekt« (Gerisch 2009) fungiert. Sportliche Wettkämpfe ermöglichen es ihr, die eigene Leistung anzuerkennen und von anderen anerkannt zu wissen. Die Verminderung der Leistungsfähigkeit im Zuge des Älterwerdens bedroht umso mehr die für sie wichtigen körperbezogenen Selbstwirksamkeitserfahrungen. Der imperfekte, schwächer werdende Leib verkörpert drohende Auflösung, Verlorenheit und Endlichkeit, die bei ihr eine spezifische biographische Bedeutung haben. So lässt sich Beate Meiers Erleben übergreifend anhand des Musters einer ›befristeten Zugehörigkeit‹ verstehen, das ihre Bio246

graphie seit ihrer Kindheit in Variationen prägt: Gemäß ihren Schilderungen hat dieses Muster eine erste Ausgestaltung in den frühen Beziehungen erfahren, insofern sie sich weder von ihrer Mutter noch vom Vater richtig angenommen fühlte. Sie beschreibt die Mutter als mit sich selbst und dem eigenen Leid beschäftigt, als distanziert und wenig fürsorglich. Eine umso gewichtigere Rolle spielte lange Zeit die Beziehung zu ihrem Vater, der in ambivalenter Weise sowohl idealisiert als auch gefürchtet wurde und um dessen Zuwendung sie ebenfalls kämpfen musste. Mit der Scheidung der Eltern steigerte sich das Erleben, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein: Für die neunjährige Tochter begann eine Phase des Hin- und Herziehens und Geschobenwerdens zwischen beiden Elternhäusern. Dies scheint einer Art aufgezwungener, äußerlich bleibender, pseudoautonomer Selbstständigkeit Vorschub geleistet zu haben, bei der sie innerlich umso mehr vom Vater abhängig blieb. Ihre Versuche, ihn für sich zu gewinnen und zu halten, werden in eindrücklichen Schilderungen deutlich, wie sie versuchte, ihm ein ›perfektes Kind‹ zu sein. Die Folgsamkeit gipfelte in ihrer Studienwahl, bei der sie sich dem Wunsch des Vaters fügte. Trotz ausgeprägter Anpassung kam es später zum Zerwürfnis. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Konstellation zieht sie sich bis heute immer wieder auf sich selbst und ihre ›Selbsttechniken‹ als einzige Sicherheiten zurück. Beate Meier scheint auch als Erwachsene im Muster einer befristeten Zugehörigkeit gefangen zu bleiben. Indem sie die damals passiv erlittene Erfahrung eines hin- und hergeschobenen Kindes in der Gegenwart gewissermaßen (unbewusst) reinszeniert und gleichsam kultiviert, versucht sie offenbar, Herrin der eigenen Lage zu werden, ganz im Sinne einer Wendung des Passiven ins Aktive. Überaus flexibel reagiert sie auf sich verändernde Situationen und versucht, sich selbst beliebig formen und anpassen zu können. Die sich in vielen Bereichen ihres Lebens immer neu einstellenden Befristungen hinterlassen Gefühle der Ersetzbarkeit, Austauschbarkeit und Bedeutungslosigkeit, die sich in dem von ihr beklagten Mangel an Anerkennung manifestieren. Der Versuch, unentbehrlich zu werden, treibt sie zu immer neuen Perfektionierungsanstrengungen, die wiederholt unbeantwortet bleiben und sie ihre Zugehörigkeit immer wieder infrage stellen lassen. Im Muster des ständigen Wechsels reproduziert Beate Meier aktiv ihre in Kindheit und Ju247

gend vorwiegend passiv erlittenen Erfahrungen limitierter Zugehörigkeit – und hält sich zugleich, als ihre spezifische Form der Absicherung gegen Verluste, stets möglichst viele Optionen offen. Während ihre Flexibilität auf den ersten Blick als eine Anpassungsleistung an gegenwärtige gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen erscheint, entpuppt sie sich auf den zweiten Blick auch als Rezidiv eines Musters aus Kindheit und Jugend. So greifen gesellschaftliche Anforderungen und biographische Dispositionen auf eine Weise ineinander, die Beate Meier für ebendieses Erfordernis der fortschreitenden Selbstoptimierung und Flexibilisierung empfänglich machen – dem sie aufgrund ihres persistenten biographischen Musters der befristeten Zugehörigkeit und ihres daraus resultierenden Bemühens, unersetzbar zu werden, nicht zu entfliehen vermag. Leben wie im Hamsterrad (Sarah Vossmann)9 Während Nina Baumgartner die an sie gerichteten Optimierungsanforderungen als selbstbestimmtes Handeln erlebt und zugleich Leiden und Überforderungen umdeutet oder bagatellisiert, soll an einem weiteren Fall verdeutlicht werden, wie marktwirtschaftliche Bedingungen vor allem als externe Anforderungen mit (potenziell) destruktiven Folgen für die eigene Lebensführung erfahren werden: »Aber ich glaub mh – heute is es schon wichtiger, dass man – dass man wirklich ganz genau auslotet, eben was hat man für Chancen auf ’n auf ’n Arbeitsmarkt.« Sarah Vossmann, die zum Zeitpunkt des Interviews 38 Jahre alt und als Honorardozentin an einer Schule tätig ist, wird in der ehemaligen DDR als einziges Kind eines Installateurs und einer Werkstofftechnikerin geboren. Bei den Schilderungen aus ihrer Kindheit betont sie gleich zu Beginn des Interviews die häufige Abwesenheit der Mutter, die eine leitende Position in einer anderen Stadt innegehabt habe und unter der Woche selten zu Hause gewesen sei. Das Thema der vielbeschäftigten, von Sarah als abwesend erlebten Mutter wird im Fortgang ihrer biographischen Erzählung immer wiederaufgegriffen. Die Art und Weise, in der sie in ihren Schilderungen diese emotionale Leerstelle – die Mutter, die für das 9 Vgl. dazu ausführlich auch Schreiber et al. 2015.

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Kind im Alltag nicht präsent war – umkreist, erzeugt das Bild einer Mutter-Kind-Beziehung, die durch Frustration und eine ungestillte Sehnsucht nach Zuwendung und Anerkennung geprägt ist. Zugleich beschreibt Sarah Vossmann ihre Mutter hinsichtlich ihrer berufsbezogenen Anforderungen an sich selbst jedoch auch als zentrales »Vorbild« und Maßstab ihres Handelns. Mobilitäts- und Trennungsanforderungen werden nach der Wende auch für Sarah Vossmann selbst bedeutsam: So wechselt sie von der Polytechnischen Oberschule zunächst auf eine Realschule, später auf ein Fachgymnasium in einer von ihrem Heimatort weiter entfernten Stadt und ist fortan selbst gezwungen – dem Beispiel der Mutter folgend – zu pendeln; sie erlebt eine Mobilität, die sie als ebenso unvermeidbar wie leidvoll wahrnimmt. Hier deutet sich bereits an, was auch für Sarah Vossmanns weiteres Berufsleben kennzeichnend ist: die Bereitschaft, sich zu überwinden und an das aus ihrer Sicht gesellschaftlich oder ökonomisch Erforderliche anzupassen, in der (vergeblichen) Hoffnung, sich im Kampf um ein stabiles Arbeitsverhältnis optimal zu positionieren. So ist auch ihre Entscheidung für ein Studium weniger an persönlichen Interessen als an wirtschaftlichen Erfordernissen oder zumindest an entsprechenden Empfehlungen ausgerichtet: Ihren Wunsch, Philosophie zu studieren, ordnet sie der Empfehlung der Berufsberatung unter, »eher was was Unverfängliches sozusagen äh zu wählen«, und beginnt ein Politikstudium. Ihre Hoffnung, sich durch die Wahl ihres Studiums möglichst breit aufzustellen und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu steigern, wird jedoch jäh enttäuscht: Es war dann eben doch relativ schnell nach’m Studien-Abschluss klar, dass ich mich halt irgendwie umorientieren muss, weil man eben mit’m geisteswissenschaftlichen Magister-Abschluss ja doch nich so gut leider beraten war auf ’m Arbeitsmarkt und – es wurde damals eben ziemlich heftig hier in Bundesland A beworben ähm Lehramtsstudium sozusagen auf ’n n Quereinstieg zu machen […] es waren eigentlich mehr pragmatische Gründe sag ich mal also es war jetz nich mehr so’n – Herzenswunsch eigentlich wie die die Philosophiesache.

Sarah Vossmann macht auf schmerzliche Weise die Erfahrung, ihren »Herzenswunsch« in der Hoffnung auf ein stabiles Arbeitsverhältnis aufgegeben zu haben, ohne tatsächlich die Sicherheit und 249

Anerkennung zu erlangen, die sie sich davon versprochen hat. Obgleich sie auch während des Studiums bemüht ist, ihre Fähigkeiten durch praktische Erfahrungen zu erweitern (das heißt, sich im Sinne der marktwirtschaftlichen Erfordernisse zu steigern), vermag sie nicht beruflich Fuß zu fassen. Anders als ihre Mutter, die nach der politischen Wende eine Umschulung zur Erzieherin absolvierte und in diesem Beruf erfolgreich tätig ist, macht Sarah Vossmann bereits vor dem Einstieg ins Berufsleben die Erfahrung des Scheiterns. Eine stabile Positionierung auf dem Arbeitsmarkt gelingt ihr auch nach der Entscheidung für ein wenig geliebtes Lehramtsstudium nicht. Getrieben von hohen Leistungsanforderungen und demotiviert durch mangelnde Selbstwirksamkeits- wie Anerkennungserfahrungen, erlebt sie das Referendariat umso mehr als Martyrium. Sie findet keine Erfüllung in ihrer Arbeit und verliert auch in dieser Hinsicht den – in ihrem Erleben stets quälend präsenten – Vergleich mit der Mutter, die in ihrer erzieherischen Tätigkeit aufgeht. Sarah Vossmann fühlt sich mehr und mehr als »kleinstes Rädchen im Getriebe« und leidet unter körperlichen wie psychischen Erschöpfungssymptomen – bis sie schließlich an der Belastung durch die nicht erfüllende und zugleich kräftezehrende berufliche Situation beinahe zu zerbrechen droht. Sie hält erst inne, als der Körper vollkommen »streikt« und ihr Grenzen aufzeigt (vgl. Gerisch 2009): Du hängst da auch so in diesem Hamsterrad drin […] naja das das war einfach (2 Sek. Pause) dieses dieses Ausgewogene zwischen beruflich un privat war in der Phase einfach nich gegeben […] is halt einfach irgendwie – ja ging dann die die Jalousie sozusagen runter (3 Sek. Pause) […] also ich hatte Phasen drin, wo wirklich sa/so – wenn du irgendwie an dem Tag nur drei Mal geheult hast, war’s eigentlich schon fast n guter Tag.

Trotz verschiedener Versuche gelingt es ihr aufgrund ökonomischer Zwänge nicht, sich dieser von ihr als »Hamsterrad« beschriebenen Lebenssituation und den entsprechenden Erfordernissen zu entziehen: »Naja irgendwie hat man ja dann schon so die Erwartungshaltung an sich selbst un – man denkt dann, oh da stehste ja total blöd da irgendwie – wenn de dann sagst so, och naja ich hab da kurz vorm vorm Torschuss sozusagen s Handtuch geworfen.« So bringt sie das Referendariat zu Ende, nimmt einen Job als Honorardozen250

tin in einer entfernten Stadt an und pendelt trotz Erschöpfung und Überforderung mehrmals die Woche zu ihrem Arbeitsplatz. Das heißt: Entgegen ihrem Vorsatz verstärkt Sarah Vossmann ihre prekäre Situation noch durch die mit Ungewissheiten verbundene freiberufliche Tätigkeit und die geforderte Mobilität. Zeit für den Partner, Familie und Freunde wie auch für sich selbst bleibt nach ihren Schilderungen kaum. Die Arbeit absorbiert alle Ressourcen, ohne als befriedigend erlebt zu werden. Sarah Vossmann läuft gewissermaßen auf »rutschenden Abhängen« (Rosa 2005: 176194) – einzig mit dem Ziel, den Status quo zu erhalten. Dabei ist es nicht nur die Stressbelastung, die ihr Leiden an der gegenwärtigen beruflichen Situation hervorbringt, sondern auch die fehlende (finanzielle wie soziale) Anerkennung ihrer Leistung: Man kriegt vielleicht mal über’n paar Ecken mit ach ja da äh – suchen se wieder Honorarkräfte – und äh – ja im Endeffekt man man kriegt dann eben – sozusagen n Satz, den die zahlen wollen, an Kopf geworfen und ja – Vogel friss oder stirb – un insofern naja – ich sag mal so, ich fühl mich dann manchmal schon irgendwie n bisschen ausgenutzt.

Die durch Arbeit ersehnte Anerkennung bleibt aus, da sie keine feste Anstellung erreicht, in der sie, so ihre Hoffnung, zur Ruhe kommen könnte: Ja ich ich würde s eben schon – schöner finden irgendwie was was Festes zu haben […] äh ja einfach wie gesagt, dass man n bisschen Planbarkeit hat, dass man auch wieder auch äh pf sich mehr zur Ruhe kommt is vielleicht – s falsche Wort aber – ja also schon irgendwie Planbarkeit – un und ich sag mal so, grade wenn man eben doch – viel – Zeit und auch viele Nerven in die Ausbildung investiert hat ähm – is es vielleicht auch so – so ne Frage der Fairness find ich, dass man dann auch sagt, ich ich möcht jetz auch irgendwie – endlich ne adäquate Stelle mit ner adäquaten Bezahlung auch einfach haben.

Ihr Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit wird umso dringlicher, je mehr sie sich dem Strudel der Flexibilisierung hingibt. Sie träumt davon, »den richtigen Schlag im Lotto zu landen«, von einem »normalen Leben«, in dem sie über ausreichend finanzielle Sicherheiten verfügen wird, um zu heiraten oder – irgendwann – ein Kind zu bekommen. Insbesondere Letzteres verweist auf eine eigentümliche Verortung in der Zeit, insofern eine Schwangerschaft angesichts 251

ihres Alters kaum in eine ferne Zukunft projiziert werden kann. Diese beinahe utopisch anmutende Lebensplanung offenbart ihr Scheitern in doppelter Hinsicht: Ungeachtet ihrer immensen Anpassungs- und Verzichtsleistungen vermag sie es weder, eigenen Wünschen und Träumen nachzukommen, noch, ihr Streben nach Aufmerksamkeit und Anerkennung zu befriedigen. Paradoxerweise ist es gerade die unrealistisch anmutende Hoffnung auf einen unbefristeten sicheren Arbeitsplatz und eine damit verbundene Planbarkeit, die ihre flexible Anpassung an marktwirtschaftliche Erfordernisse noch befördert. In dieser biographischen Sackgasse und beständigen Bedürfnisfrustration kommen zum einen die Folgen einer prekären Berufssituation – des flexibilisierten Arbeitsmarkts für selbstständige Lehrende – zum Ausdruck, in der sie als Honorarkraft stets aufs Neue um ihre Absicherung kämpfen und sich daher umso mehr engagieren und flexibel bleiben muss. Zum anderen scheint darin biographisch immer wieder das frühe Verfehlungserleben und die ungestillte Sehnsucht nach Anerkennung durch die Mutter reinszeniert zu werden. Beide Aspekte – ihre ungünstige Positionierung auf dem Arbeitsmarkt und ihre psychische Disposition – verstärken sich insofern gegenseitig.

7. Fazit: Muster optimierender Lebensführung und die Normalisierung von Überforderung Die im beruflichen Kontext als bedeutsam erachteten Optimierungsanforderungen und -diskurse verlangen es, so wurde ausgeführt, marktwirtschaftliche Erfordernisse frühzeitig zu erkennen und die eigene Berufsbiographie daran auszurichten. Kontinuierliche Weiterbildung, lebenslanges Lernen und ein Erwerb mannigfaltiger Kompetenzen sind demgemäß zu Leitbildern und Ideologemen moderner Erwerbsbiographien geworden. Anhand der geschilderten Fälle zeigen sich überdies exemplarische Muster der individuellen Übernahme von Optimierungsanforderungen. Dabei handelt es sich um Individuen, die sich den Druck zur Selbstverbesserung in verschiedenen, durchaus auch schädigenden Varianten angestrengter Anpassung zu eigen gemacht haben – bagatellisierend, rationalisierend, teils hochaffirmativ, teils resignativ. 252

Bei Nina Baumgartner zeigt sich, dass der Drang zu Hochleistung und Steigerung auch in überwiegend erfolgreichen Verläufen Widersprüche hervorbringen kann und überdies stets das Moment des Umschlagens in Selbstschädigung enthält, wenn versucht wird, die eigenen mentalen, emotionalen und körperlichen Grenzen bei der Suche nach Selbstverbesserung in forcierter Weise auszublenden. Bei Beate Meier und Sarah Vossmann geht es vor allem darum, sich bestmöglich auf externe Anforderungen auszurichten. Sowohl Nina Baumgartner als auch Beate Meier und Sarah Vossmann haben das Ziel, das ›Beste‹ zu geben, um ihr Leben und ihre berufliche Entwicklung optimal zu gestalten. Zugleich bietet auch maximale Anpassung keine Garantie für Erfolg. So zeichnen sich alle drei Frauen durch eine hohe Anpassungsleistung und ein auf Flexibilisierung und Mobilisierung gerichtetes Handeln aus. Auch sind ihre Biographien durch Weiterbildungen, Berufswechsel und Neuorientierungen bestimmt. Sie übernehmen das von den ExpertInnen formulierte doppelbödige Postulat der selbstverantwortlichen Steigerung im Kontext von Erwerbsanforderungen, das vor Erfahrungen des Scheiterns bewahren soll. Arbeit ist faktisch das zentrale Moment ihres Lebens, dem Alltag und Beziehungsgestaltung umfassend untergeordnet werden. Rationalisierung und Effizienzsteigerung gehören dabei zu den leitenden Handlungsmustern dieser Frauen, die sich nicht nur auf berufliche Tätigkeiten, sondern auf sämtliche Lebensbereiche erstrecken. Dabei sind Beate Meier und Sarah Vossmann nur bedingt, allenfalls phasenweise beruflich erfolgreich. Alle drei Frauen verfolgen unterschwellig ein illusionär erscheinendes Zukunftsprojekt: irgendwann – kraft eigener Anstrengungen – ein besseres, höheres und sicheres Lebensniveau zu erreichen. Die Optimierungsbestrebungen folgen in diesem Sinne auch einer Fiktion, dass das Leben noch einmal ein ›ganz anderes‹ werden könnte. Ihr Leiden versuchen sie zu kompensieren, indem sie bagatellisierende und normalisierende Umdeutungen vornehmen. Die Fälle imponieren als Exemplare eines »unternehmerischen Selbst« im Sinne Bröcklings (2007). Zugleich wird deutlich, dass die sozialen Anforderungen, Optimierungspraktiken und -diskurse, die jeweils in ihnen zum Ausdruck kommen, eine intensive Dynamik entfalten und gleichsam die Person als Ganzes ergreifen, weil sie biographisch und psychodynamisch funktional sind. Die 253

eingangs ausgeführten konzeptionellen Fragen wiederaufgreifend, zeigt sich, wie die erwähnte Übersetzung von marktbezogenen Erfordernissen in subjektive Motive funktionieren kann: Die Verschmelzung von äußeren gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Bestrebungen wirkt gerade dort nachhaltig, wo sich äußerer Flexibilisierungs- und Optimierungsdruck mit konstanten inneren Dispositionen verbindet und wo die Subjekte somit Gewinn aus der Anpassung ziehen können. Der institutionell verankerte Diskurs der Optimierung kann dementsprechend an psychische Motive anknüpfen, die ihn subjektiv bedeutsam und wirksam werden lassen. Den untersuchten Individuen gelingt es wiederum gerade deshalb nicht, sich den potenziell schädigenden Aspekten von Optimierungsansprüchen zu entziehen, obgleich ihr Handeln durchaus mit negativen Folgen für die Beziehungen zu Körper und Selbst, aber auch zu anderen verbunden ist. Auf diese Weise unterminieren autonomieorientierte Optimierungsbestrebungen zugleich die Bedingungen ihrer Ermöglichung: Sie labilisieren soziale Beziehungen und erschöpfen die eigenen Ressourcen im Verhältnis zum Selbst und zu anderen. So nimmt mit den Optimierungsstrategien und Perfektionierungsansprüchen auch die potenzielle Überforderung zu. Nicht allein konfligieren Optimierungsansprüche offenkundig in unterschiedlichen Lebensbereichen, da niemals gleichzeitig und gleichermaßen intensiv Körper und Geist, Selbst und Beziehungen, Privates und Berufliches oder auch nur verschiedene Aspekte des Beruflichen optimiert werden können. Darüber hinaus wird deutlich, dass instrumentell ausgerichtete Effektivierungs- und Perfektionierungsbestrebungen den Erfordernissen sozialer Beziehungen und produktiver Selbst- und Weltverhältnisse strukturell nicht gerecht werden können und diese somit zu beschädigen drohen. Die geschilderten Fallanalysen bringen in diesem Sinne exemplarisch zum Ausdruck, welche potenziell leidvollen Folgen Mobilitäts-, Flexibilisierungs-, Optimierungs- und Perfektionierungsanforderungen haben: Sie können Bedingungen für Bindung und Verlässlichkeit, Sorge für sich und andere destabilisieren, während sie umgekehrt aber durchaus eine verführerische Projektionsfläche für narzisstische Omnipotenzphantasien bieten. Anforderungen einer optimierten Lebensführung befördern dann gerade solche biographischen Muster und Bewältigungsformen, die 254

sich einschränkend oder gar destruktiv auf die sozialen und individuellen Ressourcen auswirken. Die konzeptionellen Ergebnisse der Studie stellten – im Verhältnis zu vereinfachenden Thesen über eindimensionale Zusammenhänge zwischen sozialem Wandel einerseits und individuellen Pathologien andererseits – Differenzierungen auf unterschiedlichen Ebenen dar: Exemplarisch wurden erstens einige typische Varianten vorgestellt, in denen sich soziale Anforderungen in individuelle Bewältigungsformen und Muster der Lebensführung übersetzen; zweitens zeigten sich charakteristische Aporien der Perfektionierung, insofern auch subjektiv affirmierte Optimierungsbestrebungen gleichwohl destruktive Folgen haben können. Schließlich wurde drittens deutlich, in welcher Weise Überforderung als normalisierte Praxis zum Ausdruck kommen kann. Die drei in diesem Beitrag dargestellten Beispiele (aus dem Sample der Personen ohne Diagnose) verweisen auf Verschiebungen im Verhältnis von ›Normalität‹ und ›Pathologie‹ im Sinne einer Normalisierung von Überforderung.10 Denn Optimierungspraktiken bieten zum einen die Möglichkeit, psychische Konflikte nicht mittels definierter Krankheitsformen, sondern anhand erwünschter kultureller Praktiken zu verarbeiten, die ähnliche Bewältigungsfunktionen übernehmen können, aber mit destruktiven Risikopotenzialen einhergehen. Zum anderen kann durch hohen Anpassungs- und Wettbewerbsdruck Überforderung schleichend zur Normalität und in der Folge gar nicht mehr als Leiden wahrgenommen und artikuliert werden. Literatur Aubert, N. 2009. »Dringlichkeit und Selbstverlust in der Hypermoderne«, in: Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung, hg. von V. King, B. Gerisch. Frank­furt/M.: Campus Verlag, S. 87-100. 10 In der APAS-Studie wurden überdies Interviews mit ›gesunden‹ ProbandInnen (formal definiert als Personen ohne Diagnose) – wie sie hier exemplarisch anhand von drei Fällen vorgestellt wurden – mit Interviews mit PatientInnen verglichen, die bereits eine Diagnose wie ›Burn-out‹, ›Depression‹ oder ›Bulimie‹ erhalten hatten; vgl. dazu z. B. die Fallanalysen und -vergleiche in Gerisch et al. 2018; Salfeld-Nebgen et al. 2016; Uhlendorf et al. 2016.

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Beerbom, C., K. Busch, B. Salfeld-Nebgen, B. Gerisch, V. King. 2015. »Körperoptimierung im Kontext zeitgenössischer Muster der Lebensführung. Exemplarische Analyse psychischer und biographischer Bedeutungen schönheitschirurgischer Eingriffe«. Psychosozial 38 (3): S. 4356. Bröckling, U. 2007. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frank­furt/M.: Suhrkamp. Ehrenberg, A. 2004. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frank­furt/M.: Campus Verlag. Flick, S. 2013. Leben durcharbeiten. Selbstsorge in entgrenzten Arbeitsverhältnissen. Frank­furt/M.: Campus Verlag. Foucault, M. 1993. Technologien des Selbst. Frank­furt/M.: S. Fischer. Gerisch, B. 2009. »Körper-Zeiten. Zur Hochkonjunktur des Körpers als Folge der Beschleunigung«, in: Zeitgewinn und Selbstverlust. Folgen und Grenzen der Beschleunigung, hg. von V. King, B. Gerisch. Frank­furt/M.: Campus Verlag, S. 123-143. Gerisch, B., B. Salfeld, V. King. 2018. »›Ich will’s halt allen immer recht machen‹: Zur Reziprozität von erschöpften Subjekten und angegriffenen Institutionen«. Wirtschaftspsychologie, Sonderausgabe, hg. von T. Kretschmar, M. Senarclens de Grancy. Joiko, K., M. Schmauder, G. Wolff. 2010. Psychische Belastung und Beanspruchung im Berufsleben: Erkennen und Gestalten. 5. Aufl. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. King, V. 2013. »Die Macht der Dringlichkeit. Kultureller Wandel von Zeitgestaltungen und psychischen Verarbeitungsmustern«. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry 164 (7): S. 223-231. King, V., B. Gerisch (Hg.) 2015. Psychosozial: Schwerpunktthema: Perfektionierung und Destruktivität. 38 (3). Gießen: Psychosozial Verlag. King, V., D. Lindner, J. Schreiber, K. Busch, N. Uhlendorf, C. Beerbom, B. Salfeld-Nebgen, B. Gerisch, H. Rosa. 2014. »Optimierte Lebensführung – wie und warum sich Individuen den Druck zur Selbstverbesserung zu eigen machen«, in: Jahrbuch für Pädagogik 2014: Menschenverbesserung – Transhumanismus, hg. von S. Kluge, I. Lohmann, G. Steffens. Frank­furt/M.: Peter Lang, S. 283-299. Lindner, D. 2016. »Institutionalisierung von Optimierung. Organisationen als intermediärer Ort der Fortschrittsgestaltung«. Psychosozial 39 (1): S. 25-38. Mayer, R., C. Thompson. 2013. »Inszenierung und Optimierung des Selbst«, in: Inszenierung und Optimierung des Selbst. Zur Analyse gegenwärtiger Selbsttechnologien, hg. von R. Mayer, C. Thompson, M. Wimmer. Wiesbaden: Springer VS-Verlag, S. 7-28. Meuser, M., U. Nagel. 2002. »ExpertInneninterviews – vielfach erprobt,

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wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion«, in: Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung, hg. von A. Bogner, B. Littig, W. Menz. Opladen: Leske + Budrich, S. 71-93. Pongratz, H. J., G. G. Voß. 2003. Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin: Edition sigma. Rosa, H. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frank­furt/M.: Suhrkamp. Rosa, H. 2016. Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. Rosa, H., D. Lindner, J. Oberthür. 2018. »The Missing Link: How Organisations Bridge the Gap between Dynamic Stabilisation and Individual Optimisation«, in: Lost in Perfection. Impacts of Optimisation on Culture and Psyche, hg. von V. King, B. Gerisch, H. Rosa. London: Routledge. Salfeld-Nebgen, B., B. Gerisch, C. Beerbom, V. King, D. Lindner, H. Rosa. 2016. »Bagatellisierung als Idealtypus – Über ein Muster der Lebensführung in Zeiten der Perfektionierung«. Psychoanalyse im Widerspruch 55 (1): S. 9-30. Schreiber, J., N. Uhlendorf, D. Lindner, B. Gerisch, V. King, H. Rosa. 2015. »Optimierung zwischen Zwang und Zustimmung – Institutionelle Anforderungen und psychische Bewältigung im Berufsleben«. Psychosozial 38 (3): S. 27-42. Sennett, R. 1998. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag. Shaw, J., F. Creed. 1991. »The Cost of Somatisation«. Journal of Psychosomat­ ic Research 35: S. 307-312. Uhlendorf, N., J. Schreiber, V. King, B. Gerisch, H. Rosa, K. Busch. 2016. »›Immer so dieses Gefühl, nicht gut genug zu sein‹: Optimierung und Leiden«. Psychoanalyse im Widerspruch 55 (1): S. 31-50. Voß, G. G., C. Handrich. 2013. »Ende oder Neuformierung qualitätsvoller und professioneller Arbeit«, in: Riskante Arbeitswelten. Zu den Auswirkungen moderner Beschäftigungsverhältnisse auf die psychische Gesundheit und die Arbeitsqualität, hg. von R. Haubl, B. Hausinger, G. G. Voß. Frank­furt/M.: Campus Verlag, S. 107-139. Wagner, G. 2017. Selbstoptimierung. Praxis und Kritik von Neuroenhancement. Frank­furt/M.: Campus Verlag.

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Friedericke Hardering und Greta Wagner Vom überforderten zum achtsamen Selbst? Zum Wandel von Subjektivität in der digitalen Arbeitswelt Einleitung Eine Vielzahl von Beschreibungen der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft stellt Gefühle der Erschöpfung und Überforderung als zentrale Merkmale heraus. Auch medizinische Diagnosen, in denen Erschöpfung eines der vorrangigen Symptome ist, wie Depression, Burn-out1 oder das chronische Müdigkeitssyndrom, werden immer häufiger gestellt (Neckel et al. 2017). Zwar macht die Arbeit besonders dann krank, wenn Beschäftigte bereits vulnerabel sind, doch entgrenzte oder prekäre Arbeitsverhältnisse, in denen Arbeitszeit verdichtet ist und Abläufe einem häufigen Wandel unterliegen, nehmen zu und zerren am Kräftehaushalt der Individuen. Mit der Ausbreitung instabiler Beschäftigungsverhältnisse geht eine Verunsicherung einher, die bereits breite gesellschaftliche Schichten erfasst hat (Nachtwey 2016). Sowohl die Leistungssteuerung innerhalb der Betriebe als auch der Rückbau von Arbeitsplatzsicherheit verweisen auf eine Logik, in der die Verantwortung für Leistung und Erschöpfung, für Erfolg und Scheitern im Individuum verortet wird. Soziologinnen und Soziologen führen die Zunahme von Burnout und Erschöpfung auf soziale Ursachen zurück und deuten sie als Effekt gesellschaftlicher Beschleunigung und mangelnder Resonanzbeziehungen (Rosa 2005; 2016), als Folge der Neoliberalisierung der Sozialordnung (Neckel/Wagner 2013; 2017), als Ergebnis einer zunehmenden Reflexivierung von Sinnfragen in der Arbeitswelt (Hardering 2017), als soziale Pathologie der Selbstverwirklichung (Honneth 2002) oder als Unterminierung von Selbstsorge in entgrenzten Arbeitsverhältnissen (Flick 2013). Dennoch hat sich in der öffentlichen Diskussion, so scheint es, weithin eine andere 1 Burn-out wird im ICD-10 nicht als Krankheit, aber als »Problem mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung« geführt (ICD-10).

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Deutung der um sich greifenden Erschöpfung durchgesetzt: Wer an Erschöpfung, Überforderung und Burn-out leidet, scheitert daran, selbstständig Grenzen zwischen dem Privatleben und der Arbeit zu ziehen, überschätzt die eigenen Ressourcen oder schafft es nicht, die eigenen Kräfte zu regenerieren (Flick 2017). Zur Bewältigung dieser Erschöpfungskrise mehren sich dementsprechend seit einiger Zeit Programme, Manuale, Ratgeber und Coachings, die allesamt darauf abzielen, die subjektiven Fähigkeiten zur Grenzziehung zwischen Arbeit und Nichtarbeit sowie die Fähigkeit zur Achtsamkeit zu fördern. ›Achtsamkeit‹ beziehungsweise mindfulness sind zentrale Begriffe eines schnell wachsenden Marktes, in dem Lernprogramme für einen schonenden Umgang mit den eigenen Ressourcen mithilfe mentaler und emotionaler Distanzierung angeboten werden. Nicht nur hat sich so ein neues Feld innerhalb des Coachingmarktes entwickelt, sondern es bieten auch Unternehmen wie Google, SAP oder Intel ebenso wie verschiedene Krankenkassen mittlerweile Kurse an, die das Abgrenzen von der Arbeit ermöglichen sollen. Durch ein achtsames Selbstverhältnis, beständige Grenzziehung und damit auch durch ein emotional distanzierteres Verhältnis zur Arbeit soll so das Ausbrennen der Beschäftigten verhindert werden. Wir argumentieren in diesem Beitrag, dass sich die Allgegenwart von Ratgebern zur Entspannung und Förderung der Resilienz, von Yoga-, Achtsamkeits- und ähnlichen Kursen als Hinweis auf ein neues Subjektideal in der Arbeitswelt lesen lässt. Damit ist eine neue Subjektivierungsform angesprochen, die in Gestalt eines Leitbildes Vorstellungen einer idealen Arbeitssubjektivität prägt und normative Erwartungen an Beschäftigte strukturiert. Die Subjektivierungsform des achtsamen Selbst lässt sich als Deutungsfolie begreifen, die Menschen hilft, sich selbst zu verstehen, und zudem externe Erwartungen an Subjekte bündelt.2 Das achtsame Selbst verfügt über Fähigkeiten des souveränen Umgangs mit Belastungen, indem es klare Grenzziehungen zwischen Arbeit und Nichtarbeit und zwischen augenblicklich Relevantem und Nichtrelevantem leistet. Dem achtsamen Selbst gelingt der geschmeidige Wechsel zwischen Zuständen höchster Konzentration während der Arbeit und einer radikalen mentalen Distanzierung von der Arbeit in ar2 Konzeptionell orientieren wir uns an Bröckling (2007: 10).

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beitsfreien Zeiten. Zudem leistet es hocheffizientes Grenzmanagement an den Übergängen von Arbeit und Privatleben. Das achtsame Selbst ist damit von vorherigen Subjektidealen abzugrenzen, die die wechselseitige Durchdringung von Arbeit und Subjektivität als Merkmal des idealen Selbst herausgestellt haben. Angelegt findet sich diese Durchdringung bei Figuren wie dem Arbeitskraftunternehmer (Voß/Pongratz 1998) oder dem unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007: 10), in denen in je unterschiedlicher Weise die Entgrenzung von Arbeit und Privatleben sowie die Zentralstellung der Arbeit im Leben als Lösung für die Herausforderungen des modernen Kapitalismus beschrieben werden.3 Ziel unseres Beitrags ist, die Subjektivierungsform des achtsamen Selbst sowie dessen Genese und Merkmale nachzuzeichnen. Dazu beschreiben wir in einem ersten Schritt die Konturen des achtsamen Selbst und gehen auf die konzeptionell-methodologische Verortung unseres Vorgehens ein. Anschließend untersuchen wir die Programme des achtsamen Selbst. Spuren des Appells, ein achtsames Selbstverhältnis zu entwickeln, dokumentieren sich in ganz unterschiedlichen Formen in Seminaren und Kursen sowie in Apps, die die Achtsamkeit und Abgrenzung von Arbeit befördern sollen. Als wesentliche Triebkraft lässt sich die Karriere-Ratgeber­ literatur nennen, die Empfehlungen für ein erfolgreiches, stressfreies und glückliches Arbeiten bereithält. Um die Quellen des achtsamen Selbst zu verstehen, konzentrieren wir uns in unserer Analyse auf zwei paradigmatische Diskursfelder der Ratgeberliteratur, die in verdichteter Form Programme des achtsamen Selbst beinhalten. Dabei handelt es sich um den engeren Diskurs über achtsames Arbeiten, in dem Vorschläge für die Nutzung von Achtsamkeitsübungen im Berufsalltag unterbreitet werden. Allerdings finden sich Programme des achtsamen Selbst nicht nur im engeren Mindfulness-Diskurs, sondern auch in jüngeren Debatten, die wir hier unter dem Stichwort der neuen Abgrenzung von Arbeit verhandeln. Damit ist ein Diskursfeld angesprochen, das seinen Niederschlag in der Ratgeberliteratur zu kon3 Diese Idee der intensiveren Verschränkung von Arbeit und Subjektivität wurde in der Diskussion über die Subjektivierung der Arbeit verhandelt (Moldaschl/Voß 2002). Hier wurden die Ambivalenzen der Anforderung an Beschäftigte offengelegt, ihre Arbeit als Selbstverwirklichungsprojekt ausweisen zu müssen. Siehe auch Honneth (2002); Kocyba (2000).

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zentriertem Arbeiten wie auch in Ratgebern findet, die ein produktiveres und zugleich emotional distanzierteres Verhältnis zur Arbeit nahelegen. Zur Analyse der beiden Diskurse haben wir die Inhalte zentraler Werke des jeweiligen Ratgeber-Diskurses untersucht und zu thematischen Clustern verdichtet. Abschließend fragen wir nach den Chancen wie auch nach möglichen Zumutungen des achtsamen Selbst: Inwieweit lässt sich dieses Identitätsangebot als Bereicherung des eigenen Identitätsentwurfs verstehen, und welche Fallstricke weist das Konzept auf? Damit fragen wir nach den Ambivalenzen, die durch das achtsame Selbst hervorgerufen werden. Wir zeigen, dass neben vielfältigen Chancen der Ermächtigung durch ein achtsames Selbstverständnis dieses Leitbild vor allem dann problematisch zu werden droht, wenn es als Anforderung an die Gesundheitsorientierung der Mitarbeitenden seitens der Organisation formuliert wird. Die vielfältigen positiven Implikationen eines achtsamen Selbstverständnisses drohen in überfordernde Zumutungen umzuschlagen, sobald sie als individuelle Lösungen für strukturelle Probleme der Leistungssteuerung in Unternehmen eingefordert werden.

Das achtsame Selbst als Subjektideal Wie auch andere Subjektideale ist das achtsame Selbst ein Leitbild. Es steht für die Aufforderung an Subjekte, achtsam mit sich selbst, das heißt mit den eigenen Ressourcen und der eigenen Gesundheit, umzugehen. Mit der Konzeption des achtsamen Selbst als Subjektivierungsform wird zunächst keine Aussage über ein empirisch beobachtbares achtsames Handeln von Akteuren getroffen. Ob Beschäftigte sich also tatsächlich achtsamer verhalten, lässt sich auf der Basis der Analyse eines Subjektideals nicht ermitteln. Der Fokus liegt damit wie bei Ulrich Bröcklings »unternehmerischem Selbst« und anderen Analysen in der Tradition der governmentality studies zunächst auf dem Verständnis eines »Regimes der Subjektivierung« (Bröckling 2007: 10) und nicht auf den realen subjektiven Praktiken der Aneignung oder Auseinandersetzung mit diesem Regime. Wie in der Subjektivierungsforschung angemerkt wurde, erzeugt eine solche Beschreibung systematische Blindstellen (Bührmann 261

2012; Amling/Geimer 2016). Ergänzende Studien zu der Frage, wie Akteurinnen mit dem Subjektideal des achtsamen Selbst umgehen, bilden damit einen wichtigen Schritt zum tieferen Verständnis von Subjektivierungsprozessen, der im Rahmen weiterer Subjektivierungsanalysen zu leisten ist.4 Wenngleich also die Beschreibung eines Subjektideals lediglich eine Dimension von Subjektivierungsprozessen beleuchtet, kommt ihr eine wichtige Funktion zu: Als Deutungsangebot zum Verständnis gegenwärtiger Trends und Fingerzeig auf relevante soziale Konstellationen ermöglicht sie es, die ambivalenten Dynamiken im Kontext der Achtsamkeit in den Blick zu nehmen. Damit steht das achtsame Selbst in der Tradition anderer Subjektideale und Identitätsmuster wie dem des »flexiblen Menschen« (Sennett 1998) oder des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007), die den Wandel der Arbeit anhand dominanter Subjektivierungsformen beschreiben. Was sind nun die Kennzeichen des achtsamen Selbst? Mit dem Begriff der ›Achtsamkeit‹ wird im Gegensatz zu anderen Subjekt­ idealen, die unmittelbare Anforderungen aus der Erwerbssphäre wie Flexibilität oder Unternehmergeist übernommen haben, ein Konzept mit lebensweltlichen Wurzeln und Implikationen ins Zentrum gestellt. Das Konzept der Achtsamkeit hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht: Achtsamkeitsübungen haben Eingang in psychosoziale Beratungsstellen und psychiatrische Kliniken gefunden, sind ein populäres Thema im Genre der Ratgeberliteratur und Gegenstand von Workshops im Bereich der Personalentwicklung. Wer seinen Alltag achtsam bestreitet, gilt als entspannter, aufmerksamer, konzentrierter, effektiver, selbstbewusster und gesünder. Bei Achtsamkeit handelt es sich zunächst um einen Bewusstseinszustand, bei dem die jeweils gegenwärtige Situation bewertungsfrei wahrgenommen wird. Wer achtsam lebt, so heißt es auf der Seite des Deutschen Fachzentrums für Achtsamkeit, »stellt fest, dass sein Empfinden von Glück und Lebensfreude nicht von äußeren Bedingungen abhängig ist. Er entwickelt einen klaren, stabilen Geist, der es ihm erlaubt, auch in schwierigen Lebenszeiten und Situationen mit der Kraft seiner inneren Ressourcen verbunden zu sein« (Kirch 2017). Achtsamkeit ist ein Element aus der buddhisti4 Bezüge auf ein achtsames Selbstverhältnis finden sich beispielsweise bei GründerInnen sozialer Start-ups, siehe Hardering (im Erscheinen).

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schen Lehre und wurde seit den 1970er Jahren zunehmend aus seinem religiösen Kontext herausgelöst und zu einem Programm der Stressreduktion transformiert. MBSR-Trainings – die Abkürzung steht für »Mindfulness Based Stress Reduction« – bestehen aus einem Set von Übungen zur Wahrnehmung des Körpers, Atem- und Meditationsübungen sowie dem Erlernen einer veränderten, bewertungsfreien Wahrnehmung von Situationen – häufig mit dem Ziel einer Situationsumdeutung (Kabat-Zinn 2013). Jenseits dieser engen Definition hat sich in den letzten Jahren ein weiteres Verständnis des Begriffs entwickelt, welches Achtsamkeit als Bewusstsein für eigene körperliche und mentale Bedürfnisse begreift. Damit soll zugleich einer Kultur der Achtlosigkeit gegenüber Gesundheitsthemen entgegengewirkt werden, die besonders durch eine ergebnisorientierte betriebliche Leistungspolitik forciert wird (Badura/Steinke 2012; Jürgens et al. 2017). Achtsamkeit steht damit für eine nachhaltige Form der Arbeitskraftverausgabung sowie für eine Praxis der Selbstfürsorge. Mit der Rede vom achtsamen Selbst beziehen wir uns auf dieses erweiterte Achtsamkeitsverständnis, das über die bewertungsfreie Wahrnehmung des Hier und Jetzt hinausgeht und auf eine grundlegende Achtsamkeit für sich selbst zielt, auf die Wahrnehmung eigener Ziele, Bedürfnisse und Grenzen. Das achtsame Selbst soll sich dort abgrenzen, wo seine Regenerationsfähigkeit überschritten wird, und es soll rücksichtsvoll mit seinen Ressourcen und seiner Gesundheit umgehen. Zudem soll es die seitens der Organisation angebotenen Tools und Techniken der Achtsamkeitsregulation nutzen, die eine dauerhafte Sicherung der Leistungsfähigkeit versprechen. Ebenso sollen die leicht verdaulichen Angebote der Achtsamkeitsindustrie, die »McMindfulness«Produkte, konsumiert werden, die kurzfristige Stressreduktion mit fragwürdiger Nachhaltigkeit versprechen.5 Fragt man danach, wie das Achtsamkeitskonzept in die organisationale Umwelt einwandern konnte, lassen sich Parallelen zu Boltanskis und Chiapellos (2006) Überlegungen zur Etablierung neuer kapitalistischer Rechtfertigungsordnungen finden. In ihrer Untersuchung zeigen sie auf der Grundlage von Managementliteratur den Wandel des kapitalistischen Geistes, der sich in den 1990er Jahren herausbildete. Der Kapitalismus bedient sich stets ihm äu5 Mit dem Begriff ›McMindfulness‹ wird die Warenförmigkeit von Achtsamkeitsangeboten kritisiert, vgl. Safran (2014).

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ßerlicher Rechtfertigungsordnungen, um sich zu legitimieren und zu erneuern, indem er die Kritik vereinnahmt, die an ihn gerichtet wird. Boltanski und Chiapello zeigen, dass sich die neue Rechtfertigungsordnung der 1990er Jahre vor allem aus einer Form der Kritik an Entfremdung und Inauthentizität speist. In dieser Form der Kapitalismuskritik, die in den 1960er und 1970er Jahren populär war, steht nicht das Anprangern von Ausbeutung und Ungleichheit im Zentrum, sondern die durch starre hierarchische Organisationen verhinderte Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung.6 Diese Kritik wurde von Unternehmen und Märkten aufgenommen, und es entstanden Arbeitsverhältnisse, die Selbstverwirklichung versprachen. Dieses Versprechen aber macht die Arbeitssubjekte auch vulnerabel. Sie laufen Gefahr, sich im Dienste ihrer Selbstverwirklichung zu verausgaben. Übertragen auf die gegenwärtige Situation lässt sich die Nutzung des Achtsamkeitskonzepts im organisationalen Kontext als Anpassung des Kapitalismus an die Herausforderungen der Erschöpfungskrise lesen (Neckel/Wagner 2013). Achtsamkeit und Distanzierung von der Arbeit waren zunächst Praktiken der Kritik an einer überfordernden Arbeitswelt; sie werden nun vereinnahmt, um zum Motor eines Kapitalismus zu werden, der seine Nebenfolgen selbst zu heilen weiß.

Die Programme des achtsamen Selbst Welchen Herausforderungen der Arbeitswelt widmet sich nun die Figur des achtsamen Selbst? Wie sich anhand verschiedener Programme zeigt, bietet das achtsame Selbst neue Lösungen für altbekannte Konfliktlinien: Angesprochen werden Fragen der richtigen Balancierung und Grenzziehung ebenso wie der Um6 Boltanski und Chiapello bezeichnen diese Art von Kritik als »Künstlerkritik«. Hiermit ist die Problematisierung von Arbeitsformen gemeint, in denen Arbeit vorstrukturiert ist und weder Kreativität noch die Nutzung von Autonomiespielräumen zulässt. Diese Kritik wird als »Künstlerkritik« bezeichnet, weil die »Aufhebung der Trennung zwischen Arbeitszeit und Nicht-Arbeitszeit, zwischen persönlichen und beruflichen Beziehungen, zwischen einer Arbeit und der Person, die sie erledigt«, alles Merkmale sind, »die seit dem 19. Jahrhundert die Künstlerexistenz prägten und ihre ›Authentizität‹ belegten« (Boltanski/Chiapello 2006: 453).

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gang mit Emotionen. Auf der Basis beider Diskurse, des engeren Mindfulness-Diskurses sowie des Diskurses über die Abgrenzung von Arbeit, lassen sich vier Felder identifizieren, innerhalb deren mit dem achtsamen Selbst neue Lösungen für bestehende Herausforderungen der Arbeitswelt gefunden werden: (1) Grenzen ziehen, (2) Lebensprioritäten setzen, (3) Emotionen bezähmen und (4) Potenziale ausschöpfen.

(1) Grenzen ziehen und Fokussieren Eine Folge der zunehmenden Digitalisierung in der Arbeitswelt ist die erhöhte raumzeitliche Flexibilität: Immer neue digitale Arbeitsund Kommunikationsformen ermöglichen, dass überall und zu jeder Zeit gearbeitet werden kann. In der Arbeitssoziologie wurde das zunehmende Ineinandergreifen von Arbeit und Freizeit durch die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle, in vielen Betrieben auch von Telearbeit, sowie durch die Zunahme der Solo-Selbstständigen, die souverän über ihre Arbeitszeiten bestimmen, als Entgrenzung von Arbeit beschrieben und schon früh problematisiert (Kratzer 2003). Obgleich die flexiblen Arbeitszeiten für Eltern und alle, die Angehörige pflegen, eine große Erleichterung des Alltagslebens darstellen, gehen mit diesen Spielräumen auch Zumutungen einher. Arbeitssoziologische Beiträge betonten, dass nun jede und jeder Einzelne die Aufgabe habe, sich von der Erwerbsarbeit abzugrenzen, und dass diese Abgrenzung auch gegen die Interessen des Arbeitgebers durchgesetzt werden müsse. So heißt es 2007 in einem Schwerpunktheft zur Entgrenzung von Arbeit und Leben, es sei »absehbar, dass bei der Vergabe von Arbeitsplätzen diejenigen besser zum Zuge kommen werden, die sich mit ›Haut und Haaren‹ zur Verfügung stellen« (Belwe 2007: 2). Sicher trifft dies auch noch heute zu, nur scheint es eben nicht nur zur Anforderung geworden zu sein, mit »Haut und Haaren« zur Verfügung zu stehen, sondern gleichermaßen, dafür zu sorgen, dass die Grenze vorhandener Ressourcen dabei nicht überschritten wird und eine langfristige intensive Arbeitskraftnutzung gesichert ist. Die Entgrenzung der Arbeit äußert sich in der Auflösung fester Arbeitszeiten und in der Erosion fixer Berufsrollen. Wer in einem Café oder im Wohnzimmer sitzt und am Laptop arbeitet, muss nicht nur zeitlich die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit selbst 265

ziehen, sondern auch verhindern, immer wieder Tabs zu öffnen, die nicht der Arbeitsaufgabe dienlich sind. Es steigt die Zahl derer, die im Erwerbsleben mit erhöhten Anforderungen an die eigene Selbststeuerung konfrontiert sind. Die Achtsamkeitsliteratur reagiert auf dieses Problem und hält dazu an, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit bewusst zu ziehen. Um das Ausbrennen zu vermeiden, sollen Anfang und Ende eines Arbeitstages im Vorhinein festgelegt werden (Ellard 2016). Da in der modernen digitalisierten Arbeitswelt beständig verschiedene Informationen auf die Subjekte einströmen, steigt die Anforderung, Quellen der Ablenkung auszublenden, das gegenwärtig Wichtige zu identifizieren, den eigenen Fokus darauf auszurichten und vor allem fokussiert zu bleiben (Hunter 2016). In Gelassen arbeiten. Wie Achtsamkeit den Berufsalltag erleichtert lernt man die »Achtsamkeitsregeln für effizientes Arbeiten«, die darin bestehen, bei der Sache zu bleiben, für die man sich entschieden hat, und nur nach bewusster Entscheidung einer bestimmten Ablenkung nachzugeben (Siepmann 2016: 50 f.). »Unser Gehirn ist sehr anfällig für alle Arten von Zerstreuung, Fragmentierung und Selbstvergessenheit, wie sie vom Internet gefördert werden. Treffen Sie daher bewusste Entscheidungen, wann, wie lange und zu welchem Zweck Sie diese Technik nutzen wollen« (ebd.: 66). In Achtsamkeit in Beruf und Alltag wird sogar zu regelmäßigem Verzicht auf digitale Medien geraten: Gönnen Sie sich mehrfach am Tag Zeitblöcke, in denen Sie bewusst keine Informationen »konsumieren«, z. B. keine E-Mails checken. Schauen Sie vor dem Schlafengehen nicht noch einmal Ihre Mails oder Ihre Nachrichten an, um Ihrem Geist zu helfen, zur Ruhe zu kommen. Verabschieden Sie sich von der Einstellung, ständig up to date sein zu müssen. Verbringen Sie einen Tag im Monat oder in der Woche ohne Internet, Fernsehen, Zeitschriften und soziale Medien. (Hehn/Hehn 2015: 81 f.)

Stress induzierendes Multitasking, ressourcenverschwenderische Vermischungen beruflicher und privater Tätigkeiten und die unbegrenzte Aufnahme von Informationen gelten als Gefährdungen eines achtsamen Selbstverhältnisses. Da das Ziel von Achtsamkeitsübungen darin besteht, mit seiner vollen Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment zu sein, muss durch Grenzziehungen auch in jedem Moment eindeutig sein, welche Tätigkeit gerade ausgeführt 266

wird. Die Ratgeber appellieren daran, sich von externen Reizen abzugrenzen und die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit klar zu definieren, um den eigenen Kräftehaushalt effektiv zu nutzen.

(2) Lebensprioritäten setzen Mit der Idee von Achtsamkeit und Abgrenzung ist nicht nur das Versprechen verbunden, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Arbeit gesund und nachhaltig gestaltet werden kann, sondern auch darauf, wie Zufriedenheit in der Arbeit und im Leben durch die Klärung eigener Prioritäten hergestellt werden kann. Das bisherige Credo der spätmodernen Arbeitsgesellschaft lautete: Finde einen Job, der dich glücklich macht! Zufriedenheit im Leben wurde als Folge einer Arbeit betrachtet, die Selbstverwirklichung und Erfüllung bietet. Arbeit und Subjektivität sollten, gerade um den Gefahren der Entfremdung und Entzauberung der Arbeit zu entgehen, wieder enger miteinander verbunden werden, und Leidenschaft und Begeisterung sollten Bestandteil des Emotionshaushaltes während der Arbeit sein. Arbeit nahm damit eine Schlüsselfunktion zur Ermöglichung eines glücklichen Lebens ein. Die neue Perspektive hingegen, die sich gerade in der Literatur zur Abgrenzung von der Arbeit zeigt, geht einen anderen Weg und entlarvt die Idee der Traumjobs als gesellschaftliche Großillusion (Ferriss 2011; Newport 2016). So schreibt Tim Ferriss (2011: 19) in Die 4-Stunden Woche, dass »der perfekte Job derjenige ist, der am wenigsten Zeit beansprucht«. Kritisiert wird in diesem Kontext auch die Idee, bei der Berufswahl eigenen Leidenschaften zu folgen, indem man seinen »Traumjob« sucht (Newport 2016). So spricht Volker Kitz in Feierabend! Warum man für seinen Job nicht brennen muss (2017) von einem problematischen Leidenschaftszwang in der modernen Arbeitswelt. Hinter dieser Entromantisierung der Arbeit steht die Idee, die Zentralität der Arbeit auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Liebe dein Leben und nicht deinen Job lautet dem­entsprechend der Titel des Bestsellers von Frank Behrendt, der in seinem Buch Ratschläge für ein erfolgreiches und zugleich spielerisch-distanziertes Verhältnis zur Arbeit erteilt (2016). In der Mindfulness-Literatur wird der Weg zum glücklichen Arbeiten über eine andere Qualität der Aufmerksamkeit gesucht. Hier werden weder das Leidenschaftsdogma noch die Zentralität 267

der Arbeit kritisiert; stattdessen wird der Bereich der Erwerbsarbeit dem Lebensprinzip der Achtsamkeit untergeordnet, und für die Arbeit werden die gleichen Prinzipien der Aufmerksamkeit gefordert, die auch im Privaten gelten. Dadurch werden Kriterien und Erfolgsmaßstäbe der Arbeit zunächst abgewertet und die Relevanz der Erwerbssphäre und ihrer Logiken begrenzt. Für die Klärung von Prioritäten wird in beiden Diskursen die Bedeutung von Morgenroutinen hervorgehoben (Ferriss 2016; Hanh 2013). Demzufolge soll der Tag mit einer Meditation beginnen, anschließend seien eigene Wünsche für den Tag, Hoffnungen und Absichten zu klären. Hier geht es einerseits um die Priorisierung von Aufgaben, noch elementarer ist aber andererseits, die eigenen tiefen Bedürfnisse aufzuspüren (Hanh 2013). Dadurch wird der Tag bewusst eigenen Lebenszielen entlang gerahmt, um blindes Abarbeiten einer überlangen To-do-Liste zu verhindern. Mit der Frage nach eigenen Prioritäten, die über Ziele in der Arbeit hinausgehen, rütteln beide Diskurse so an den Basisannahmen der modernen Arbeitswelt.

(3) Emotionen bezähmen Die Analyse soziologischer Klassiker, wie sie von Weber und Simmel vorgelegt wurden, denen zufolge der Kapitalismus zu einer nüchternen Rationalisierung des Gefühlslebens geführt habe, kann für die Gegenwartsgesellschaft neueren Studien zufolge nicht bestätigt werden. Eva Illouz, die von einem »emotionalen Kapitalismus« ausgeht, zeigt, wie die kapitalistische Entwicklung auch mit einer kulturellen Dynamik intensivierter Emotionalität einhergeht, in der Gefühle zunehmend selbst zu Waren werden (Illouz 2007). Zwar behaupten Emotionssoziologinnen und -soziologen nicht, dass jede Gefühlsäußerung in Wert gesetzt wird, jedoch betonen sie die Herausbildung branchenspezifischer »Gefühlsregeln« (Hochschild 2006: 73 f.) sowie die Anforderung, eigene Gefühle zu optimieren und an Markterfordernisse anzupassen (Neckel 2005; Wagner 2015). Dennoch gelten Emotionen insgesamt als zentrales Moment bei der Kommodifizierung der eigenen Persönlichkeit. Auch die Studien zur Subjektivierung der Arbeit, die in den 1990er und 2000er Jahren erschienen sind, betonen die zentrale Bedeutung des emotionalen Erlebens und emotionalen Ausdrucks für beruflichen Erfolg (Lohr 2003; Moldaschl/Voß 2002; Schöneberg/Springer 2003). 268

In der Literatur zu mindfulness deutet sich hier eine Verschiebung an, denn Emotionen in ihrer unmittelbaren Form gelten als potenziell problematisch für ein achtsames Selbstverhältnis. Emotionale Reaktionen sollen zunächst bewusst wahrgenommen, dann hinterfragt und gegebenenfalls durch eine Situationsumdeutung verändert werden. Ein Beispiel hierfür ist, wie Achtsamkeitsübungen beim Umgang mit Stress helfen sollen. Dabei geht es weniger darum, Quellen von Stress zu minimieren, als vielmehr um eine Änderung der emotionalen Reaktion auf Stress (Alidina 2016). Durch ein zunächst bewertungsfreies Beobachten der körperlichen Reaktionen soll die Wahrnehmung von Stress als etwas Negativem aufgebrochen und emotional neu besetzt werden. Bei dem Versuch, Emotionen zu bearbeiten, handelt es sich auch deshalb um einen besonders interessanten Fall der Selbstoptimierung, weil Emotionen als leibgebundene Reaktionen auf gegebene Situationen gelten, man ihnen eine gewisse Unverfügbarkeit unterstellt und sie dem »Modus der Widerfahrnis« (Neckel 2014: 119) gehorchen. Diese Unverfügbarkeit wird nun in den Ratgebern als ineffektiv und dysfunktional dargestellt. Angestrebt wird eine möglichst weitreichende Kontrolle über die eigenen Empfindungen mit der Absicht, sie gesteckten Zielen unterzuordnen. Der größte Achtsamkeitsvernichter unter den Emotionen scheint den Ratgebern zufolge Ärger zu sein: »Machen Sie sich klar: Wem schaden Sie, wenn Sie sich ärgern? Sich über andere zu ärgern ist, wie selbst Gift trinken in der Hoffnung, dass sich dabei der andere vergiftet. Das Bewusstsein darüber kann heilsam sein« (Hehn/ Hehn 2015: 76). Das Ziel der Achtsamkeitsratgeber ist eine größtmögliche emotionale Unabhängigkeit von äußeren Situationen.7 Dies setzt voraus, äußere Umstände zunächst zu akzeptieren und nicht dem Wunsch nachzuhängen, dass die Realität anders aussähe. Jedes Herbeiwünschen einer anderen Realität mache unflexibel in der Reaktion auf das Gegebene: Wenn wir Dinge, Menschen, eigene Erfahrungen nicht so nehmen, wie sie sind, halten wir fest. Wir halten an unseren Vorstellungen darüber fest, 7 Stefanie Duttweiler, die Glücksratgeber erforschte, kommt zu einem ähnlichen Schluss, wenn sie schreibt: »[…] Kummer, Frustration und Enttäuschung, Ärger und Aggressionen machen die Abhängigkeit von äußeren Umständen buchstäblich schmerzlich bewusst und werden als Schwäche des Regimes des autonomen Selbst interpretiert« (2007: 193).

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wie etwas sein sollte. Wir halten an unseren Sehnsüchten, Hoffnungen und Aversionen fest. Wir halten an unseren Gedanken und Gefühlen fest. Je fester wir halten, desto fester werden wir im Körper und im Geist. Bis alles so festgefahren ist, dass nichts mehr geht. Das ist dann der Burnout. (Siepmann 2016: 87)

Nach dieser Vorstellung sind es gerade nicht der dauernde Wandel und die Unterdrückung eigener Wünsche und Gefühle, die zur Erschöpfung und Überforderung führen, sondern die Unfähigkeit, feste Vorstellungen ziehen zu lassen und die immer anderen Bedingungen zu akzeptieren. In Buddha@Work. Den Berufsalltag gelassen und achtsam meistern wird die Leserin dazu aufgefordert, den Wandel explizit zu begrüßen: Setzen Sie Ihre Energie und Ihre Zeit für Veränderungen und Lösungen ein. Verharren Sie nicht in festgefahrenen Mustern und Gewohnheiten. Vergeuden Sie keine Kraft mit Nörgeln, Schimpfen und Vergleichen. Blockieren Sie ihren Lebensfluss nicht mit Festhalten, Klammern und Anhaften. Hadern Sie nicht mit der Gegenwart. Je schneller Sie in der Lage sind, den Ist-Zustand wirklich anzunehmen und zu akzeptieren, desto rascher werden Sie ihn loslassen können. Jetzt haben Sie Zugriff auf Ihr ganzes Potential. (Shimu 2014: 65 f.)

In den Achtsamkeitsratgebern wird vor allem negativen Emotionen unterstellt, Ressourcen unnütz zu verbrauchen. Durch ablehnende Gefühle wie Ärger werde die Akzeptanz des Gegebenen gestört, so dass solche Gefühle als dysfunktionale Fehlleistungen der eigenen Aufmerksamkeit verstanden werden. Emotionen wie Empörung und Wut haben aber eine wichtige Funktion für die Veränderung sozialer Umstände.8 Sie können dazu motivieren, den Status quo zu hinterfragen. Notwendig dafür, dass negative Gefühle ihr transformatives Potenzial entfalten, ist jedoch, dass diese Gefühle mit anderen geteilt werden, die ähnlich fühlen, und dass sie auf diese Weise zu Formen der Gemeinschaftsbildung beitragen. Achtsamkeitsübungen aber, wie sie in populären Ratgebern beschrieben werden, zielen darauf, den Status quo anzunehmen und negative Gefühle individuell zu bearbeiten. Damit mögen Angestellte aus8 So schreibt Axel Honneth: »[…] die negativen Gefühlsreaktionen, die die Erfahrung von Mißachtung psychisch begleiten, können genau die affektive Antriebsbasis darstellen, in denen der Kampf um Anerkennung motivational verankert ist« (Honneth 1994: 219).

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geglichener ihren Arbeitsalltag meistern, aber vielleicht versuchen sie nicht, ihn gemeinsam mit anderen zu verändern.

(4) Potenziale ausschöpfen Das vielleicht umfassendste Versprechen, welches sich in der Literatur über Achtsamkeit und die Abgrenzung von der Arbeit finden lässt, ist das Versprechen der Ausschöpfung eigener Potenziale. Dieses Versprechen war bisher eng mit einer Steigerungslogik verknüpft: Wer immer mehr in immer kürzerer Zeit schafft, vermag so die eigenen Potenziale besser zu nutzen. Anders verhält es sich im Falle des achtsamen Selbst, denn dem aufgeräumten Geist offenbaren sich durch Selbstakzeptanz, Innehalten und Fokussierung neue Möglichkeiten, die eigene Lernfähigkeit zu schulen, mentale Lernblockaden abzubauen und Fähigkeiten zu kultivieren, die der eigenen Erfolgsfähigkeit zuträglich sind. Das Versprechen der Distanzierung, welches zunächst ein Fluchtweg aus dem Hamsterrad der Optimierung zu sein scheint, entlarvt sich bei näherem Blick als neue Optimierungschance. Als Schlüssel zur Nutzung eigener Potenziale wird in Mindfulness-Ratgebern die Fähigkeit zur Selbstakzeptanz genannt. Sich selbst mit den eigenen Stärken und Schwächen zu akzeptieren ermögliche, negative Selbstkritik einzudämmen. Selbstakzeptanz wird als Grundlage persönlicher Entwicklung begriffen und damit nicht als Ausweg aus den Anforderungen der Selbstoptimierung, sondern vielmehr als ein Weg, sie zu realisieren (Alidina 2016). Erst indem man seine Schwächen annehme, könne man sie überwinden – vorausgesetzt, man betrachtet sich selbst als ein Wesen mit unendlichem innerem Reichtum und Potenzial. Die Menschheit sei unterteilt in Menschen mit fixed mindset, also solchen, die davon ausgehen, dass ihre Talente und ihre Intelligenz determiniert sind, und Menschen mit growth mindset, die ihre Talente nur als Ausgangspunkt für viele verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Mindfulness soll helfen, ein growth mindset auszubilden, also das Selbstbild des erfolgreicheren Teils der Menschheit (Alidina 2016). Nach dieser Vorstellung existieren endliche Ressourcen nur außerhalb des Selbst. Das geistige Innenleben jeder Einzelnen wird dagegen als Reich unerschöpflichen Potenzials verstanden. Die Annahme ungenutzter Potenziale bildet auch in anderen 271

Ratgebern den Ausgangspunkt für Vorschläge, wie die eigene Fokussierung und damit Erfolgsfähigkeit verbessert werden kann. Wem es gelingt, Konzentration und Fokussierung effektiv einzusetzen, der kann auf Erfolg und Anerkennung in der Erwerbssphäre hoffen. Dem Feindbild der Potenzialentfaltung, den digitalen Medien, stellt Cal Newport die Idee der deep work entgegen (Newport 2016). Mit deep work bezeichnet Newport Tätigkeiten, die in einer ablenkungsfreien Atmosphäre erfolgen und in denen die geistige Kapazität voll ausgeschöpft wird. Gerade bei modernen Wissensarbeitenden sieht er die Gefahr, dass der Wert konzentrierten Arbeitens in Vergessenheit gerät. Er beschreibt in seinem Buch, wie die Fähigkeit zu deep work kultiviert werden kann. Dazu gehört, sich des eigenen Arbeitsstils bewusst zu werden und seinen Arbeitstag entlang von Deep-work-Phasen zu strukturieren. Newports Botschaft besteht darin, die eigene Konzentration aktiv durch die Setzung von Rahmenbedingungen und die Nutzung von Ritualen zu fördern. Strukturiertheit, angemessene Prioritätensetzung und mentale Hygiene ermöglichen es dann, die Arbeitsleistung zu steigern und erfolgreich zu sein, ohne die Anzahl der Arbeitsstunden auszudehnen. Statt auf stressinduzierendes Multitasking und Beschleunigung zu setzen, wird die Potenzialentfaltung gerade in der Fokussierung und Begrenzung gesehen.

Schluss Die Arbeitswelt, die in der Mindfulness-Literatur beschrieben wird, ist voller Kontingenzen: Beständig ändern sich die Marktanforderungen, immer wieder bilden sich neue Teams für neue Projekte; verschiedene Deadlines fallen zeitlich zusammen und erzeugen Termindruck; per E-Mail treffen minütlich neue Anfragen und Anforderungen ein, und dann ärgert man sich noch über den Kollegen oder die Chefin. Das Subjekt ist in dieser Art von Literatur von den häufig auch widersprüchlichen Anforderungen überfordert. Es kann nicht alle Deadlines einhalten und gleichzeitig den Vorgesetzten und die Mitarbeiter zufriedenstellen, weil gegensätzliche Ansprüche zu vereinbaren sind. Den Mindfulness-Ratgebern zufolge ist dieses Subjekt aber nicht von den überfordernden Umständen beherrscht, sondern von einer 272

ressourcenverschwenderischen Sicht auf die Dinge und von seinen eigenen emotionalen Reaktionen auf gegebene Situationen. Die Achtsamkeitsübungen lehren zwar nicht, wie man seine Zeit effektiver organisiert oder besseres Multitasking betreibt, sie sollen aber verhindern, dass ein solcher Arbeitsalltag krank macht. Die Aufmerksamkeit soll von der hektischen Umgebung mit ihren widersprüchlichen Erfordernissen und den unzähligen Quellen der Ablenkung nur auf das augenblicklich Relevante gelenkt werden. Die gegenwärtige Situation bewertungsfrei wahrzunehmen heißt, sie zunächst zu akzeptieren und keine zusätzlichen Ressourcen auf destruktive Gefühle wie Ärger zu verschwenden. Das heißt außerdem, die eigene Zeit maximal effektiv zu nutzen, denn Achtsamkeitsübungen lassen sich durchführen, während man in der Schlange steht, Zug fährt oder sein Kind zu Bett bringt. Programme zur Erlangung eines achtsamen Berufsalltags enthalten keine Anregungen, die eigene Arbeit mit Leidenschaft zu füllen, sie helfen nicht dabei, mehr Begeisterung für die eigene Tätigkeit zu empfinden. Achtsamkeitsübungen bieten vielmehr Strategien des Umgangs mit einer Arbeitswelt, die in hohem Maße von Selbstzuständigkeit, Unplanbarkeit und ständiger Erreichbarkeit geprägt ist und deshalb erschöpfend wirkt. Das achtsame Selbst kalkuliert genau, worin es Ressourcen investiert, und spart bei Quellen der Zerstreuung ebenso wie bei unnützen Gefühlen. Es achtet auf diese Weise vor allem auf seine eigene langfristige Leistungsfähigkeit. Sowohl die Ratgeber zu mindfulness als auch die zur Abgrenzung von Arbeit tragen eine Ambivalenz in sich. Auf der einen Seite halten sie ihre Leserinnen dazu an, zu reflektieren, was ihnen wichtig ist, und stellen dabei die Zentralität der Erwerbsarbeit infrage. Ihr erklärtes Ziel ist es, vor Überlastung durch Arbeit, Überstunden und vor Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit zu schützen. Sie rufen dazu auf, den Habitus des Dauerbeschäftigtseins abzulegen und stattdessen die Arbeitszeit effektiv zu nutzen und klar zu begrenzen. Durch verbesserte Konzentration während des Arbeitens können Aufgaben schneller erledigt werden und der Feierabend kann früher beginnen. Dadurch wird es möglich, Zeit mit Freundinnen und Familie zu verbringen und ihnen dabei die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Die Ratgeber transportieren damit vielfältige Versprechen von Handlungsmacht, Kontrolle und Autonomie. Mit dem achtsamen 273

Selbst als Leitbild bieten sie so die Blaupause für ein Arbeitssubjekt, das seine mentalen und körperlichen Ressourcen schützt. Von Meditationsübungen über Techniken der Prioritätensetzung bis hin zu festen Morgen- und Abendroutinen liefern sie ein Strukturierungsangebot für Subjekte, die durch die Kontingenzen und die Beschleunigung ihres Arbeitsalltags auszubrennen drohen. Diese werden durch die Ratgeber ermächtigt, weil sie lernen, ihre Interessen und Leidenschaften nicht in einer Erwerbssphäre zu verschwenden, wo diese keine Anerkennung erfahren. Auf der anderen Seite sind die meisten dieser Ratgeber implizit noch immer dem Ziel der Leistungssteigerung verpflichtet. Achtsamer zu arbeiten heißt, nicht nur gesünder, sondern auch fokussierter zu sein. Konzentriert zu arbeiten ermöglicht nicht nur einen früheren Feierabend, sondern ermöglicht es auch, produktiver zu sein. Sich abzugrenzen von der Arbeit heißt damit nicht nur, mehr Freizeit zu haben, sondern auch erholter und deshalb effektiver zu arbeiten. Auch bei der Aussicht auf beruflichen Erfolg ohne zeitliche Dauerbelastung handelt es sich sicherlich um ein attraktives Versprechen. Problematisch an diesem Versprechen aber ist seine Unabschließbarkeit: Wie bei anderen Optimierungsversprechen ist das achtsame Selbst dazu angehalten, immer achtsamer zu werden, immer präsenter und fokussierter zu sein und immer besser eigene Prioritäten zu strukturieren. Neben der potenziellen Unerfüllbarkeit dessen wird die Einzelne zudem dafür verantwortlich gemacht, dass diese Techniken schließlich auch aufgehen. Wem es nicht gelingt, sich abzugrenzen und seine Ressourcen effektiv einzusetzen, der ist für dieses Scheitern selbst verantwortlich. Die Appelle von Achtsamkeit und Abgrenzung werden zwar auch auf organisationaler Ebene gefördert und kommuniziert – was nicht selten im Dienste der Imagepflege des Unternehmens geschieht –, sie setzen aber am Individuum an. Unternehmen können so die betriebliche Leistungspolitik unberührt lassen und darauf hoffen, dass die Beschäftigten selbst Lösungen für entgrenzte Arbeitsansprüche finden. Weder müssen Unternehmen also den Arbeitsumfang ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begrenzen noch mehr Personal einstellen oder auf die Einhaltung von Pausen achten. Die alleinige Verantwortung für das effektive Management subjektiver Ressourcen liegt beim Individuum, das nicht einfach überfordert ist, sondern überfordert 274

wird und das dieser Überforderung nur durch Arbeit an sich selbst begegnen kann. Diese Logik entspricht dem Prinzip der Individualisierung organisationaler und gesellschaftlicher Problemlagen, die dazu führt, dass der Druck des Gelingens und der Umgang mit Überforderung in der alleinigen Verantwortung der Einzelnen liegt (Kratzer 2016). Auf diese Weise wird eine kollektive Kritik an gegenwärtigen Strategien der Arbeitskraftvernutzung untergraben. Die sich im Durchgang durch die Ratgeber offenbarende Figur des achtsamen Selbst erweist sich somit als höchst ambivalent und kann als Quelle der Ermächtigung oder der Zumutung Wirksamkeit entfalten. Es bleibt empirisch zu klären, in welchen Kontexten Subjekte diese neuen Identitätsnormen als Chancen der Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebenssituation oder als unerfüllbare externe Erwartung erfahren, mit der sie nunmehr konfrontiert sind. Strukturell bleiben Selbstzurechnung und Überforderungspotenziale auch dem achtsamen Selbst eingeschrieben, weshalb es, wie auch das unternehmerische Selbst, langfristig der Gefahr ausgesetzt ist, zu einem erschöpften Selbst zu werden. Literatur Alidina, S. 2016. »10 Ways to Be More Mindful at Work«. Mindful. Taking Time for What Matters 〈https://www.mindful.org/10-ways-mindfulwork/〉, letzter Zugriff 12. 02. 2018. Amling, S., A. Geimer. 2016. »Techniken des Selbst in der Politik – Ansatzpunkte einer dokumentarischen Subjektivierungsanalyse«. Forum Qualitative Sozialforschung 17 (3): Art. 18. Badura, B., M. Steinke. 2012. Die erschöpfte Arbeitswelt. Durch eine Kultur der Achtsamkeit zu mehr Energie, Kreativität, Wohlbefinden und Erfolg! Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Behrendt, F. 2016. Liebe dein Leben und nicht deinen Job. 10 Ratschläge für eine entspannte Haltung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Belwe, K. 2007. »Entgrenzung von Arbeit und Leben«. Aus Politik und Zeitgeschichte 34 〈http://www.bpb.de/apuz/30285/editorial〉, letzter Zugriff 12. 02. 2018. Boltanski, L., E. Chiapello. 2006. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Bröckling, U. 2007. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frank­furt/M.: Suhrkamp.

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Sabine Flick Kommentar: Arbeitsleid als soziales Leiden Die Beiträge des vorliegenden Teils widmen sich aus unterschiedlichen Zugängen der Frage, inwiefern sich zeitdiagnostische, empirische und epidemiologische Studien zur Überforderung verbinden lassen und welche Erkenntnisse man aus diesen abschließend ziehen kann. Dabei stehen verschiedene Formen des seelischen Leidens und seiner Bearbeitung im Zentrum. Im folgenden Kommentar möchte ich diese Leiden als psychische Varianten sozialen Leidens an der Arbeit vorstellen, nach einer kritischen Lektüre der jeweiligen Beiträge diese zusammenfassend diskutieren und auf eigene Forschungen hinweisen. Leitend wird dabei die Frage sein, welche Folgen sich aus der jeweiligen Perspektive für die Behandlung sozialer Leiden als Arbeitsleid ergeben. Von seelischem als sozialem Leiden zu sprechen bedarf zunächst der Erklärung, ist doch schließlich jedes Leiden sozial und findet immer in Gesellschaft statt. Soziales Leiden als Konzept umfasst zweierlei: zum einen kollektiv erfahrenes Leiden, beispielsweise infolge von Krieg oder Naturkatastrophen, zum anderen individuelles Leiden, das vor allem gesellschaftliche Gründe hat. Es wird mit sozialem Leiden also betont, dass das Leiden selbst durch strukturelle Bedingungen hervorgerufen und wiederum in diese eingebettet ist. Es ist ein Leiden an der Gesellschaft und in ihr (Renault 2010). Mit Blick auf die rezenten Debatten um soziales Leiden lassen sich drei Blickrichtungen ausmachen: Soziales Leiden in Verbindung mit sozialer Ungleichheit ist die durch Bourdieu und andere in dem Band Das Elend der Welt vorgelegte, sicherlich prominenteste Perspektive (Bourdieu 1998). Daneben etabliert sich im medizinanthropologischen Feld derzeit eine Theorie sozialen Leidens, die ihren Fokus auf den Umgang von Gesellschaften mit kollektiv erfahrenem Leiden wie Armut, Krankheit und Gewalt richtet (Kleinman et al. 1997; Wilkinson 2005). Schließlich diskutieren diejenigen soziales Leiden, die sich mit den psychischen Kosten heutiger kapitalistischer Arbeitsverhältnisse beschäftigen, also mit Arbeitsleid (Dejours 2012; Flick 2016). Davon handeln auch die Beiträge des hier kommentierten Teils. 279

Den Auftakt macht der Beitrag von Josua Handerer, Julia Thom und Frank Jacobi. Vor dem Hintergrund des gestiegenen Interesses an der Diagnose Depression argumentieren die AutorInnen, dass es einer sowohl epistemologischen als auch epidemiologischen Überprüfung der Annahme bedürfe, Depressionen nähmen zu, um nicht vorschnell einer zeitdiagnostischen Steigerungsthese zu folgen. Im Resultat drehen sie dann die Perspektive um und fragen danach, warum die Zahlen der Depressionsdiagnosen stagnieren und nicht gesunken sind. Der Beitrag ist entsprechend in einen epistemologischen und einen epidemiologischen Teil gegliedert, wobei in ersterem verschiedene kulturtheoretische und zeitdiagnostische Beiträge als »Entfremdungstheorien« vorgestellt werden. Was genau hier mit Entfremdung gemeint ist, wird nicht skizziert, und so wirkt die Zuordnung der AutorInnen ein wenig beliebig. Es mutet auch verwirrend an, wenn Zeitdiagnosen wie der von Rosa (Beschleunigung) oder Han (Müdigkeit) unterstellt wird, sie würden einen direkten Kausalzusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und psychischen Störungen herstellen, wohingegen Ehrenberg (Erschöpfung) als Vertreter der Diskursanalyse aufgeführt wird. Eine etwas ausführlichere Darlegung, was hier unter Entfremdung zu verstehen ist, und auch aktuelle Varianten der Entfremdungstheorie, wie etwa diejenige von Jaeggi (2005), die nicht einem dieser Theorie stets aufs Neue vorgeworfenen Essentialismus anheimfallen, findet die LeserIn nicht. Der Text zeigt seine Stärke vielmehr in seinem epidemiologischen Abschnitt und darin insbesondere durch einen äußerst originellen Perspektivenwechsel für den gesamten hier kommentierten Teil. Bei allen Widrigkeiten der Diagnose der Depression und der Erhebung ihrer Verbreitung kann man nämlich zumindest eines klar sagen: Die Zahlen der Depressionsdiagnosen stagnieren – warum sinken sie nicht, obwohl sich doch ein gestiegenes Behandlungsangebot verzeichnen lässt? Zu dieser Frage bietet der Beitrag – neben einer kritischen Diskussion der vorliegenden epidemiologischen Studien (selektive Nichtteilnahme an Studien; geschlechtsspezifische Diagnosestellung; Erinnerungseffekte und Antworttendenzen sowie insgesamt iatrogene Effekte) – drei mögliche Antworten an: (1) Die Versorgung sei nicht effektiv; (2) ein an sich wirksamer Behandlungseffekt halte die Prävalenz trotz Berechtigung der Kulturkritik auf gleichem Niveau; (3) die Psychologisie280

rung der Lebenswelt trage zum Stagnieren der Prävalenz trotz oder gerade wegen zunehmender psychotherapeutischer Behandlungen bei. Alle drei Erklärungen erscheinen hilfreich und plausibel, wobei aus professionssoziologischer Sicht insbesondere die dritte plausibel ist (Abbott 1988): Tragen nicht gerade die Psychotherapieprofessionen mit zu einer zunehmenden Etablierung des psychopathologischen Leitbilds des überforderten Subjekts bei? Johannes Siegrists knapper und darin äußerst gehaltvoller Text setzt den eher epidemiologisch ausgerichteten Blick des Teils fort. Er versucht die Frage zu klären, ob belastende Arbeitsbedingungen nachweislich in depressive Störungen münden können und worin die Belastung eigentlich besteht. Siegrists Beitrag liefert somit eine Antwort auf die Frage, ob die »strukturellen und organisatorischen Bedingungen der modernen Arbeitswelt« zur rezenten Überforderung der Subjekte beitragen. Diese Antwort beruht auf zwei Modellen und diversen empirischen, vor allem prospektiven Kohortenstudien: Überforderung bei der Arbeit trägt zur Ausbreitung depressiver Störungen bei; geringer qualifizierte Beschäftigte und Beschäftigte in niedrigeren Positionen sind dabei häufiger betroffen. Angesichts der Diskursfiguren des Arbeitskraftunternehmers oder des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) ist besonders relevant, dass bei beiden angeführten theoretischen Modellen, dem Anforderungs-Kontroll-Modell wie dem Modell beruflicher Gratifikationskrisen, die ausbleibende Selbstgestaltung der Arbeitsabläufe das Problem darstellt, nicht, wie vielerorts vermutet, eine zunehmende Autonomie. Es sind also gerade nicht die Selbstverantwortung, -kontrolle und -ökonomisierung, die zur Erschöpfung beitragen (Voß/Pongratz 1998), sondern es ist die Kombination aus hohen Anforderungen und mangelnden Handlungsspielräumen. Darüber hinaus zeigt das Modell der Gratifikationskrisen in drei Dimensionen der Gratifikation (Lohn/Gehalt, Sicherheit/Karrierechancen und Anerkennung/Wertschätzung), dass vor allem aus solchen Gratifikationskrisen gesundheitliche Beeinträchtigungen resultieren. Als Maßnahmen gegen Überforderung schlägt Siegrist daher zum einen vor, den Umfang und die Intensität von Arbeit zu senken und die Handlungsspielräume für die Ausübung der Tätigkeit zu erweitern; zum anderen zielt er auf eine gesundheitsförderliche Gestaltung von Gratifikationen. Führungskräfte und Perso281

naler stehen hier im Fokus. Dabei wären meiner Ansicht nach auch die Psychotherapieprofessionen in den Blick zu nehmen. Nicht zuletzt sieht Siegrist aber auch die Schutzfunktion der Arbeits- und Sozialpolitik in der Pflicht. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts von Vera King, Benigna Gerisch, Hartmut Rosa, Julia Schreiber und Benedikt Salfeld folgen auf Siegrists Beitrag und stellen den Übergang zu den eher soziologischen Beiträgen dar. Diese facettenreiche und vielschichtige Studie widmet sich dem Thema der Optimierungsanforderungen; ins Zentrum stellen die AutorInnen dabei den Aspekt der »Normalisierung von Überforderung«. Anstelle einer weiteren Behauptung von immer neuen Pathologien der Gegenwart konstatieren sie vielmehr einen generellen Trend zur Normalisierung überfordernder Praktiken, die letztlich zu Praktiken der Selbstschädigung werden. Sie rekurrieren dabei auf Ergebnisse ihrer Studie zu den »Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne« und heben hervor, mit dieser einer reduktionistischen Perspektive auf den Zusammenhang von gesellschaftlichen Verhältnissen und Psychopathologien entgegenwirken zu wollen. Vielmehr soll es um die »Komplexität der Vermittlung von sozialen Bedingungen und interindividuellen bis hin zu intrapsychischen Dynamiken« gehen. Sie zeigen dies anhand dreier Fälle, alles Frauen, die jeweils eine Variante der Affirmation oder Bagatellisierung und somit Normalisierung von selbstschädigender Arbeitsorientierung vorstellen. Liest man dazu Siegrists Ausführungen (siehe oben), gerade zur Dimension der Anerkennung und Wertschätzung mit ihrem salutogenen Potenzial, so lassen sich auch die Befunde der Fallvignetten von King und KollegInnen zusammenfassend als Anerkennungskrisen beschreiben (Flick 2013). Die Stärke der Perspektive des Projekts, nämlich die Vermittlung von Optimierungsanforderungen und inneren Prozessen zu beleuchten, gerät in der Darstellung der Fälle allerdings ein wenig zur Schwäche, wenn die AutorInnen letztendlich die Befunde dahingehend interpretieren, dass eine Kompensation für die ausgebliebene Anerkennung durch die Mutter immer wieder in der Arbeit gesucht wird. So entsteht der Eindruck, die familialen Bedingungen, unter denen die drei Frauen aufwuchsen, seien überwiegend »schuld« an ihrer jetzigen Bereitschaft, sich so leistungsorientiert zu zeigen. Diese Folie bietet zwar eine erklärende Deutung 282

an, warum die Subjekte so agieren, lässt aber meiner Ansicht nach zu sehr außer Acht, unter welchen Bedingungen sie dies tun und tun müssen. Somit kippt die Analyse in ihr Gegenteil und trägt in der Lesart womöglich unbeabsichtigt zu einer Responsibilisierung und Familiarisierung der überforderten Subjekte bei. Ließen sich die drei Fälle nicht auch als Beispiele für geschlechtsspezifische Ungleichverteilung von Gratifikationen lesen, und ließen sich damit nicht stärker die strukturellen Geschlechterverhältnisse, in die die Fälle eingebunden sind, in den Blick nehmen? Eine konsequente geschlechtersoziologische Analyse der Arbeitsbedingungen der drei Frauen könnte die Perspektive auf Optimierungsanforderungen ebenso bereichern wie eine Untersuchung der konkreten Arbeitsbedingungen und der Möglichkeiten des alternativen Umgangs mit ihnen. Das Konzept der Arbeitssituation als Verbindung von belastenden Arbeitsbedingungen sowie subjektiven Dispositionen und Verarbeitungen böte hier sicherlich eine hilfreiche Ergänzung (Voswinkel 2017). Schließlich wird im Beitrag von Friedericke Hardering und Greta Wagner auf ein empirisch noch näher auszulotendes Phänomen hingewiesen, in dem sie ein »neues Subjektideal in der Arbeitswelt« vorfinden: das achtsame Selbst. Analog zu der von Bröckling formulierten Sozialfigur des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007: 10) wird hier weniger auf eine bereits existente Handlungsweise von ArbeitnehmerInnen hingewiesen als vielmehr auf ein sich in Diskursen etablierendes Leitbild. Achtsam sein heißt, Grenzen zu ziehen und sich über die inneren Gefühle und Empfindungen ohne Bewertung klar zu werden. Wie bei allen Studien, die sich Subjekt­ idealen widmen, bleibt freilich auch hier die Frage offen, wie sehr sie die Subjekte tatsächlich formen, welche Paradoxien diese Ideale begleiten und welche »oppositionellen Lesarten«, um es mit Hall zu formulieren, sie auslösen (Hall 1980: 130). Spannend scheint daher für die Gesamtschau der in diesem Teil versammelten Beiträge die Frage, inwiefern sich die Deutungsfolie des »achtsamen Selbst« mit den Optimierungsanforderungen, wie sie im Beitrag von King und KollegInnen beschrieben werden, verbindet und so zur Anforderung gerinnt, und vor allem, ob dies auch für diejenigen Beschäftigten Wirkung entfaltet, die tatsächlich in überfordernden und prekären Arbeitsverhältnissen tätig sind und in diesen bisher wenig mit solchen Diskursen in Berührung kommen. 283

Die Perspektive auf die Profession, wie sie im Beitrag von Handerer und KollegInnen angerissen wurde, möchte ich zum Anlass nehmen, knapp aus meiner aktuellen eigenen Forschung zu berichten. Es stellt sich vor dem Hintergrund der hier kommentierten Beiträge die Frage, ob, wie und von wem die Ergebnisse der Sozial- und Epidemiologieforschung eigentlich aufgenommen werden. Wie schlägt sich der Bezug zu Arbeitsbedingungen im Feld der Psychotherapieprofessionen nieder, die zunehmend mit den überforderten Subjekten zu tun haben, wie auch der Beitrag von Handerer und KollegInnen zeigt? Im Rahmen einer qualitativen Fallstudie wurden PatientInnen interviewt, die vor der Aufnahme in eine psychosomatische Klinik einen Zusammenhang zwischen ihrer psychischen Erkrankung und ihrer Erwerbsarbeit thematisierten und nach dortiger Behandlung wieder in die Arbeitswelt und ihren Alltag zurückzufinden versuchten. Zu drei Zeitpunkten wurden thematisch fokussierte biographisch-narrative Interviews durchgeführt: vor Beginn und am Ende der Therapie sowie einige Monate später (Alsdorf et al. 2017). Darüber hinaus wurde mithilfe von Interviews und Supervisionsprotokollen die Perspektive der behandelnden TherapeutInnen einbezogen: ihr Blick auf die PatientInnen und deren Krankheitsgeschichte und ihr professionelles Selbstverständnis (vgl. Flick 2016; 2017). TherapeutInnen stehen angesichts von PatientInnen, die in der Arbeit eine Ursache ihrer Krise sehen, vor einem vierfachen Problem: (1) Abgesehen von Zusatzdiagnosen wie zum Beispiel Z73 Burn-out stehen ihnen keine Diagnosen mit Arbeitsbezug zur Verfügung; (2) in der Theoriebildung zur Krankheitsätiologie wird Erwerbsarbeit weder als pathogener noch als salutogener Faktor erwähnt. (3) Die TherapeutInnen haben keinen Einfluss auf den jeweiligen Arbeitskontext ihrer PatientInnen; (4) es entstehen Zuständigkeitsprobleme an der Schnittstelle aufgrund unterschiedlicher Kostenträger (Kranken- vs. Rentenversicherung). Wovon im therapeutischen Setting also auszugehen ist, sind zumindest zu Beginn der Behandlung existierende gegenseitige nichtkongruente Erwartungen bis hin zu möglichen Deutungsmusterkonflikten zwischen PatientInnen und BehandlerInnen. Die subjektiven Krankheitstheorien der PatientInnen treffen auf die Expertentheorie der BehandlerInnen und werden als Patientenleiden in den 284

diagnostischen Rahmen »übersetzt« und dadurch behandelbar gemacht. Fasst man den therapeutischen Prozess als Kommunikationsraum, in dem Deutungskonflikte ausgetragen werden, lässt sich das Deuten durch die TherapeutInnen ebenso als Umdeuten fassen und kommt damit einer Übersetzung in das Gesundheitssystem gleich (Flick 2017). In der Analyse der Supervisionen und Experteninterviews wurden drei Deutungen des Erwerbskontextes identifiziert.1 Erstens eine Dethematisierung des Erwerbsbezugs als letztlich irrelevant: Zum Beispiel werden von PatientInnen als belastend geschilderte Arbeitssituationen infrage gestellt, oder arbeitsbezogene Inhalte der Gespräche werden als nicht relevant für die Behandlung gedeutet. Zweitens eine Biographisierung des Leidens, die eine Personalisierung und Familiarisierung beinhaltet, indem frühkindliche Beziehungserfahrungen als Erklärung für die psychische Belastung herangezogen werden. Erwerbsarbeit wird so zur Bühne, auf der all die ›tatsächlich‹ vorhandenen Selbstwert- und Beziehungsprobleme lediglich aufgeführt werden. Selbst wenn die Arbeit als hochgradig belastend gedeutet wird, ist die therapeutische Konsequenz, so ein Zitat, »wer dann bleibt, ist krank«. Drittens findet sich eine Normalisierung der Belastung und Responsibilisierung der Subjekte, die sich mit dem Zitat einer Therapeutin: »Arbeit ist belastend, man muss sich eben abgrenzen können«, gut beschreiben lässt. Grenzziehung wird demzufolge als Königsweg beschrieben, ohne dabei gleichzeitig mögliche Folgen einer Grenzziehung mit zu berücksichtigen. Hier findet sich womöglich eine Verbindung zu dem im Beitrag von Hardering und Wagner beschriebenen neuen Subjektleitbild des achtsamen Selbst: Dieses Bild verstärkt eine Individualisierung der belastenden Arbeitssituation. Auf diese Weise geraten strukturelle und kollektive Belastungen der Arbeitssituation leicht aus dem Blickfeld. Insgesamt wird deutlich: Der Erwerbsarbeitsbezug verschwindet im Deutungs- und Umdeutungsprozess der TherapeutInnen, und dies ist in der Logik der Profession selbst begründet. Angesichts des oben aufgeworfenen vierfachen Problems, dem sich die Professionellen angesichts arbeitsbezogener Leiden gegenübersehen, lässt 1 Die Ergebnisse können hier nur ganz verdichtet dargelegt werden, ausführlicher finden sie sich unter anderem in Flick 2017.

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sich dieses Verschwinden womöglich professionssoziologisch erklären. Den Prozess der Deutung durch den Psychotherapeuten kann man somit als Praxis der professionellen Aneignung des jeweiligen Falles beschreiben. In der Deutung beziehungsweise Umdeutung der Leiden wird eine Beschreibung des Leidens hergestellt, die die Behandlung durch einen Psychotherapeuten legitimiert (Abbott 1988). Dadurch findet sich also eine ähnliche Umdeutung oder Vernachlässigung struktureller Bedingungen, in welche die überforderten Subjekte eingebettet sind, die auch im Leitbild des »achtsamen Selbst« negiert werden. Bewertet man die Beiträge und ihre sozialtheoretischen, zeitdiagnostischen, empirischen und epidemiologischen Ergebnisse abschließend hinsichtlich ihrer Positionierung zur Überforderungsthese, so lässt sich bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge feststellen, dass sie einen Zusammenhang zwischen Arbeitsbedingungen, Optimierungsanforderungen und seelischen Leiden selbst für diejenigen Subjekte konstatieren, bei denen sich das Leiden nicht klinisch manifestiert. Es geht also zusammenfassend um soziales Leiden als Arbeitsleid. Arbeitsleid als Konzept umfasst dabei ein Leiden, das sich an und in der Arbeit manifestiert und dabei in strukturelle Verhältnisse eingebettet ist, die die Arbeit wiederum prägen. Im Lichte dieser Ergebnisse lassen sich abschließend zwei Gedanken formulieren: Soziologische und epidemiologische Beiträge zum Komplex der Erschöpfung und Überforderung der Subjekte leisten erstens einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der Zusammenhänge von kollektiven und individuell erfahrenen strukturellen Bedingungen, unter denen heute gearbeitet und angesichts deren heute diagnostiziert wird. Mit strukturellen Bedingungen sind diejenigen Bedingungen gemeint, die, wie Geschlechterverhältnisse, den Arbeitsalltag prägen und in Anerkennungskrisen münden können und die ferner die Arbeitsteilung im Privaten vorgeben. Auch soziale Ungleichheiten, die bestimmte Bildungschancen er- und verunmöglichen, können sich wiederum in gering qualifizierter Beschäftigung niederschlagen, die, folgt man Siegrist, in Überforderung und Belastung münden kann. Dabei sind diese Beschäftigungsverhältnisse gleichzeitig in spezifische Migrationsregime eingelassen, die entscheiden, welche sozialen Gruppen in solchen Beschäftigungsverhältnissen zunehmend prekär überfordert 286

werden. Schließlich verweisen die strukturellen Bedingungen auch darauf, wer es habituell vermag, »achtsam« mit sich umzugehen. Der zweite Gedanke zielt auf die Psychotherapieprofessionen und deren zukünftig nötige, aber bisher nur mangelhaft ausgebildete spezifische Kompetenz, strukturelle und soziale Aspekte des Leidens, ebenjenes Leidens an Arbeit, wie es hier im Fokus steht, in den Blick zu nehmen. Neben der transkulturellen Kompetenz, die sich langsam als Selbstverständlichkeit etabliert, bedarf es also auch einer strukturellen Kompetenz. Die sich im Kontext der medical anthropology gerade etablierenden Structural Competency Networks könnten dafür einen ersten vielversprechenden Weg weisen (Metzl/ Hansen 2014). Literatur Abbott, A. 1988. The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago: University of Chicago Press. Alsdorf, N., U. Engelbach, S. Flick, R. Haubl, S. Voswinkel. 2017. Erwerbsarbeit und psychische Erkrankung. Analysen und Ansätze zur therapeutischen und betrieblichen Bewältigung. Bielefeld: transcript. Bourdieu, P. (Hg.) 1998. Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK (Orig. La misère du monde, 1993). Bröckling, U. 2007. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frank­furt/M.: Suhrkamp. Dejours, C. (Hg.) 2012. Psychopathologien der Arbeit. Frank­furt/M.: Brandes & Apsel. Flick, S. 2013. Leben durcharbeiten. Selbstsorge in entgrenzten Arbeitsverhältnissen. Frank­furt/M., New York: Campus. Flick, S. 2016. »Treating Social Suffering? Work-related Suffering and Its Psychotherapeutic Re/interpretation«. Distinktion. Journal for Social Theory 17 (2): S. 149-173. Flick, S. 2017. »Das würde mich schon auch als Therapeutin langweilen. Deutungen und Umdeutungen von Erwerbsarbeit in der Psychotherapie«, in: Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt, hg. von N. Alsdorf, U. Engelbach, S. Flick, R. Haubl, S. Voswinkel. Bielefeld: transcript, S. 215-237. Hall, S. 1980. »Encoding/Decoding«, in: Culture, Media, Language: Work­ ing Papers in Cultural Studies 1972-1979, hg. von S. Hall, London/New York: Routledge, S. 128-138.

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Jaeggi, R. 2005. Entfremdung. Zur Aktualisierung eines sozialphilosophischen Problems. Frank­furt/M.: Campus. Kleinman, A., V. Das, M. M. Lock. (Hg.) 1997. Social Suffering. Berkeley: University of California Press. Metzl, J. M., H. Hansen. 2014. »Structural Competency: Theorizing a New Medical Engagement with Stigma and Inequality«. Social Science & Med­icine 103: S. 126-133. Renault, E. 2010. »A Critical Theory of Social Suffering«. Critical Horizons 11 (2): S. 221-241. Rosa, H. 2012. Weltbeziehung im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp. Voswinkel, S. 2017. »Psychisch belastende Arbeitssituationen und die Frage der ›Normalität‹«, in: Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt. Analysen und Ansätze zur therapeutischen und betrieblichen Bewältigung, hg. von N. Alsdorf, U. Engelbach, S. Flick, R. Haubl, S. Voswinkel. Bielefeld: Transcript, S. 59-93. Voß, G. G., H. J. Pongratz. 1998. »Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?« Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1): S. 131-158. Wilkinson, I. 2005. Suffering: A Sociological Introduction. Cambridge: Pol­ ity Press.

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III. Klinische Perspektiven aus Psychiatrie

und Psychotherapie

Gerd Rudolf Das Subjekt in Zeiten der Vernetzung: selbstreflexiv oder fremdgesteuert? Einführung Die komplexe Thematik der Überforderung des Subjekts lässt sich von verschiedenen Disziplinen aus erschließen; im Folgenden will ich sie aus einer psychodynamischen Perspektive betrachten. Ich werde zunächst die Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit in Grundzügen skizzieren, ergänzt um phylogenetische Aspekte, um so darzustellen, wie es zur Struktur der Selbstreflexivität kommt. Es wird sich zeigen, dass die Entstehung eines »seelischen Binnenraumes« möglicher Reflexion nur aus den sozialen Beziehungen des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen heraus zu verstehen ist. Im Weiteren werde ich die Frage diskutieren, welche zeittypischen Bedingungen eine Überforderung für menschliche Subjekte bedeuten können und in welchen Anzeichen beziehungsweise Krankheitszeichen diese zum Ausdruck kommt. Anschließend will ich der Frage nachgehen, welche prophylaktischen beziehungsweise therapeutischen Möglichkeiten es gibt, der Überforderung des Subjekts zu begegnen. Zu allen Zeiten hat die schöpferische Phantasie der Ärzte, Psychiater und Psychologen für krankheitswertige seelische Zustände von Menschen Begriffe gefunden, die meist metaphorisch, latinisiert oder bildhaft und anschaulich gestaltet waren. Ein Blick in alte Psychiatriebücher lässt aber auch erkennen, wie rasch die meisten dieser Begriffe wieder aus der Mode kamen. Offenbar bleibt ihre metaphorische Eindrücklichkeit nicht über längere Zeit erhalten, und die einst pathologisch gemeinten Begriffe gehen in der Alltagssprache auf. Wörter wie ›toll‹, ›irre‹, ›wahnsinnig‹, ›verrückt‹ verweisen schon lange nicht mehr auf krankhafte Zustände, sondern lediglich auf ein intensives Erleben. Noch schwerer sind Normalzustände in Worte zu fassen. Am einfachsten ist es, psychische Fähigkeiten zu substantivieren: Menschen können denken und sprechen, folglich wird das Denken oder die Sprache zum Gegenstand der wissenschaftlichen Refle­ 291

xion. Menschen sprechen von sich als »ich«, also gibt es »das Ich«, das sich als »Subjekt« erlebt. Sein Gegenpol, der Andere, wäre demnach ein »Objekt«. Und wie lässt es sich in Worte fassen, dass ich mich als Subjekt erlebe und zugleich mein Selbst gewissermaßen zum Objekt nehmen, in mich hineinschauen kann? Vielleicht durch den Begriff »das selbstreflexive Subjekt« oder nur »das Selbst«. Noch schwieriger wird es, wenn ich als Subjekt in Verbindung zu Anderen trete, zum Gegenüber, zum »Objekt«, und erfahre, dass auch der Andere sich subjekthaft erlebt. Dann lässt sich von »Intersubjektivität« sprechen oder, wenn es um den Austausch von Mitteilungen geht, von »Kommunikation«, wenn Absichten im Spiel sind, von »verschränkter Intentionalität« und, wenn wir emotionale Regeln des Miteinander entwickelt haben, von »Beziehungen«. Die psychoanalytisch begründete Therapie arbeitet gerne mit solchen Begriffen. Es geht dabei um die emotionale Erfahrung des Ich-Selbst und sein Erleben von vitalen Impulsen und Affekten, von Lebendigkeit und mitmenschlicher Bezogenheit. Im Nachdenken über sich selbst tauchen dann bestimmte Fragen auf: Wer bin ich selbst? Was macht meine Identität aus? Wie gut verstehe ich mich selbst? Wie gut kann ich die Anderen verstehen und ihr Handeln nachvollziehen? – Der Versuch zu verstehen führt schließlich zu Sinnfragen und Wertüberlegungen: Was ist richtiges Handeln? Wie weit reicht meine Verantwortung für mich, meine Mitwelt, das soziale Ganze? Letztlich nehmen alle Fragen der Wissenschaft, der Philosophie, der Religion oder der Ethik ihren Ausgang von der menschlichen Fähigkeit, in einem inneren seelischen Raum sich selbst und die Gegebenheiten der Welt zu denken, das heißt, sie in sprachlichen Begriffen zu reflektieren, aber auch bildhaft und emotional auszudrücken. Wenn wir in einem klinischen, das heißt diagnostischen oder therapeutischen Kontext mit diesen Begriffen umgehen, müssen sie wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Die Begriffe sollten hinsichtlich ihrer Normzustände und dysfunktionalen Normabweichungen klar definiert und übereinstimmend gehandhabt werden können. Mit diesem Ziel hat die Arbeitsgruppe Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) in den 1990er Jahren begonnen, psychodynamisch relevante Begriffe zu definieren, zu operationalisieren und mit den so gewonnenen Instrumenten klinische 292

Stichproben und Normpopulationen zu untersuchen und Therapiestudien durchzuführen. Schließlich konnte 2006 ein Manual für Diagnostik und Therapieplanung zusammengestellt werden, das aktuell in der dritten Auflage vorliegt (Arbeitskreis OPD 2014). Von besonderem Interesse für die Beschreibung des selbstreflexiven Subjekts und seiner Beziehungen zu anderen Menschen ist die OPD-Achse »Struktur«. Sie definiert eine Vielzahl von psychischen Funktionen, die benötigt werden, um eine Beziehung zu anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten, aber auch um innerhalb des eigenen Selbst differenzieren, regulieren, integrieren zu können. Dieses Modell greift Aspekte auf, wie sie von Kernberg (1977) beschrieben wurden, geht aber in seiner diagnostischen Differenzierung deutlich darüber hinaus. So etwa erlaubt die »Struktur-Checkliste« (Rudolf et al. 1998) mit ihren 24 Merkmalen eine differenzierte Beschreibung psychodynamischer Merkmale bei einzelnen Patienten und deren Entwicklung im Verlauf von Psychotherapien. Damit kann das »Strukturniveau« einer Persönlichkeit in ihren Kompetenzen und Einschränkungen reliabel erfasst werden (Rudolf/Doehring 2012).

Die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur Wenn es sich nun tatsächlich so verhält, dass das heutige Subjekt in besonderer Weise überfordert ist und dass die heutigen Bedingungen des Lebens spezifische psychische Funktionen – die selbstreflexiven in besonderer Weise – außer Kraft zu setzen drohen, so müssen wir vorab einen Blick auf deren Entwicklungsgeschichte werfen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie das Selbst und seine selbstreflexiven Funktionen im lebensgeschichtlichen Kontext entstehen und durch welche Bedingungen sie gefördert oder beschädigt werden. Die Entwicklungspsychologie ist eine moderne Wissenschaft, die das Heranreifen psychischer Funktionen in den frühkindlichen, kindlichen und jugendlichen Altersstufen auch empirisch erfassen kann. Dabei lassen sich die Normalentwicklungen ebenso beobachten wie typische Fehlentwicklungen unter dem Einfluss belasteter und defizitärer Familiensysteme. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Hirnforschung: Dank der heu293

tigen Kenntnis von neurobiologischen Aspekten der psychischen Entwicklung müssen Verfügbarkeit oder Störung seelischer Funktionen (beispielsweise eine Bindungsstörung oder Regulierungsstörung) nicht mehr diffus der »Seele« oder dem »Unbewussten« zugeschrieben werden, sondern lassen sich Reifungsvorgängen in spezifischen Hirnarealen zuordnen (Roth/Strüber 2014). Von besonderem Interesse in der frühen psychischen Entwicklung ist dabei die Wechselbeziehung zwischen »Wir« und »Ich«. Im Gegensatz zu früheren Annahmen beginnen Menschen ihr Dasein nicht als Einzelwesen, um sich allmählich zur Welt der Beziehungen hin zu öffnen. Vielmehr vollzieht sich ihr Leben bereits intrauterin in einem »physiologischen Wir«, das sich nach der Geburt in den ersten Lebensmonaten in dichter körperlicher und emotionaler Bezogenheit zu einem »interpersonellen Wir« entwickelt. Säuglinge entdecken in diesen frühen Beziehungen, dass es Andere ihresgleichen, in psychoanalytischer Terminologie »Objekte«, gibt, die emotional zunehmend bedeutsam werden. Diese Objekte ermöglichen ihnen eigene Erfahrungen wie zum Beispiel Beruhigung, Sättigung oder auch Ängstigung. In wachsendem Maße werden die auf die Objekte gerichteten Bedürfnisse als ichhaft erfahren. Kognitive Fähigkeiten reifen heran im Zusammenhang mit der Hirnentwicklung und im Kontext eines kontinuierlichen emotionalen und sprachlichen Angebots der erwachsenen Bezugspersonen. Diese verbalisieren im Kontakt mit dem Kind unablässig, was es tut, was es vermutlich empfindet oder möchte, was es sagen würde, wenn es sprechen könnte, und wen es sieht, hört und erlebt. Mit anderen Worten: Die Eltern verbalisieren, wer das Kind ist, wer sie sind und welche Art von Beziehung zwischen ihnen besteht. Sie wecken damit die emotionale und intentionale Gerichtetheit des Kindes und fördern die Entwicklung einerseits von Objektvorstellungen, andererseits des Ich-Erlebens. Es entsteht eine starke emotionale Beziehung und Bindung zwischen ihnen, die zugleich ein intensives Training interaktioneller und verstehender Fähigkeiten ermöglicht (Fonagy et al. 2002). Die Hirnreifung ermöglicht schließlich eine nächste Phase der Entwicklung, nämlich die sprachlich-begriffliche Benennung all dieser Aspekte. Bekanntlich sind es wenige Wörter, die am Anfang dieser Entwicklung stehen; sie benennen bruchstückhaft den eigenen Namen und den der Eltern, betonen mit Wörtern wie »nein« 294

und »selber« ihre eigenen Absichten und sprechen ab dem zweiten Lebensjahr auch in der »Ich«-Form. Hier entsteht ein Ich, das in der Beziehung zu wichtigen Anderen zeigt, was es selbst will und nicht will, und dabei heftige Affekte entwickelt. Erst im nächsten Entwicklungsschritt, etwa mit vier bis fünf Jahren, wenn die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sich im Zuge der Reifung kortikaler Hirnstrukturen weiter differenziert haben, gelangen wir zu dem Begriff, der uns hier beschäftigt: dem Selbst. Der kleine Mensch lernt den Blick reflexiv auf die eigene Person zu wenden und festzustellen: »Das bin ich selbst«, und zwar nicht nur in diesem Moment, sondern überdauernd, als ein Wesen mit bestimmten Eigenschaften und einer Geschichte. So wird ein Selbstbild erkennbar, das Kontinuität und Kohärenz zeigt, woraus in der Adoleszenz ein Erleben der eigenen Identität wird (Rudolf 2016). Die Metapher des »seelischen Binnenraumes« soll veranschaulichen, dass das Kind nun psychische Abläufe in der eigenen Person registrieren kann, etwa Vorstellungen, Absichten, Gefühle, Erinnerungen oder Phantasien, und dass es all dies zunehmend in sprachlichen Begriffen ausdrücken und kommunizieren kann. Mit diesem Selbstverständnis wächst zugleich die Fähigkeit, sich einfühlend in Andere hineinzuversetzen, also die Empathie. Der Begriff der »Mentalisierung« beschreibt diesen Reifungsvorgang ebenso wie die Fähigkeit, sich fortan selbst mental und emotional zu erleben, sich in sprachlichen Begriffen dieses eigenen Selbst bewusst zu werden. Von großer Bedeutung ist die Fähigkeit, die besonders wichtigen anderen Menschen in diesen seelischen Binnenraum zu integrieren, quasi als innere Objekte. Diese Integration in den seelischen Binnenraum mitsamt der eigenen emotionalen Bezogenheit bedeutet wohl, jemanden lieben zu können. Der internalisierte Andere kann im eigenen Inneren beruhigend und stabilisierend wirken. Die regulativen Funktionen der psychischen Struktur haben sich entwickelt.2 Wenn sich jedoch unter ungünstigen sozialen Entwicklungsbedingungen der seelische Binnenraum nur unzureichend entwickeln kann, fehlen die inneren Repräsentanzen bedeutsamer Beziehungen, was als eine innere Leere erfahren wird. Den Anderen gibt es 2 Vgl. im Überblick Rudolf 2002.

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dann nur als realen Anderen, an den große und in der Regel unerfüllbare Erwartungen gerichtet werden. Ein reflexives Erleben des Selbst ist beim Vorliegen struktureller Störungen ebenso erschwert wie dessen Regulierung (Rudolf 2013). Die Skizzierung der frühen Entwicklungsschritte der Persönlichkeitsstruktur soll verdeutlichen, dass das Selbst keineswegs eine monadische, narzisstisch auf sich selbst bezogene Struktur darstellt, sondern von Beginn des Lebens an verwoben ist mit bedeutsamen Anderen, mit der eigenen Familie, und mit der soziokulturellen Gemeinschaft, in der die Familie lebt. Das Subjekt ist von Anfang an Teil des sozialen Ganzen. Das erklärt auch den später erkennbaren großen Einfluss der Gesellschaft auf das Erleben des individuellen Selbst und seine psychischen Funktionen.

Phylogenetische Entwicklungsaspekte Unter phylogenetischem Aspekt kann man fragen, wie weit in die Entwicklung des Menschen das selbstreflexive Subjekt zurückreicht, so wie es sich heute im Verlauf einer langen Kindheit und Jugend herausbildet. Das Selbst, so wie wir es heute kennen, mag vielleicht seit einer Million Jahren, seit 10 000 Jahren oder noch kürzerer Zeit bestehen – zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich darüber wenig mehr als spekulieren. Zur möglichen Entstehung der Sprache gibt es verschiedene Hypothesen. Tomasello (2014) präferiert die Idee, dass das gemeinsame Jagen von Wild die frühen Menschen darin geübt hat, sich in die Intentionen ihrer Stammesangehörigen einzufühlen und Wörter zu entwickeln, die ein gemeinsames Handeln ermöglichten. Ferner liegt es nahe anzunehmen, dass die intensive soziale Beziehung in kleinen Gemeinschaften und speziell zwischen Eltern und Kindern die Entwicklung der geteilten Intentionalität und der sprachlichen Benennung befördert hat. Das beginnt mit der gemeinsamen Nahrungssuche und -zubereitung, dem gemeinsamen Essen und setzt sich fort in der gemeinsamen Nachwuchsversorgung, bei der interessanterweise die Großmütter eine wichtige unterstützende Rolle spielen (Hawkes 2010). Und schließlich kann man phantasieren, wie solch ein früher Mensch beginnt, in Begriffen zu denken, wenn er zum Beispiel am Fluss sitzt, am jenseitigen Ufer die Sonne untergeht und er die 296

Vorstellung entwickelt, dass ein verstorbenes Familienmitglied an »jenem Ort« weiterlebt. Da erscheint es angemessen, ihm für das Leben in der jenseitigen Welt nützliche und wertvolle Dinge mitzugeben – Grabbeigaben für Verstorbene gehören bekanntlich zu den frühesten Zeichen kultureller Entwicklung beim Menschen. Deutliche Belege für die Art, wie Menschen denken und sprechen, besitzen wir freilich erst aus den Zeiten, in denen sie eine Schrift entwickelten und sich darin mitteilen konnten. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass wir in den frühen schriftlichen Zeugnissen der Antike, das heißt vor knapp 3000 Jahren, Hinweise finden, dass das menschliche Selbsterleben in mancher Hinsicht anders ausgeprägt war als das heutige. Bei Homer beispielsweise können wir lesen, wie die Menschen seiner Epoche mit speziellen Situationen als Subjekte umgingen. Sie hatten im Unterschied zu den heutigen Menschen nicht die Vorstellung, Handlungen aus sich heraus zu vollziehen, sondern es war ihnen ganz evident, dass sie diese im Einklang mit dem Willen der Götter realisierten. Ob und wie eine Handlung glückte, war also den Göttern zu verdanken und keinesfalls den eigenen Fähigkeiten (Dreyfus/Kelly 2014). Der antike Mensch erlebte Handlungsimpulse als Reaktionen auf äußere Ereignisse, als sich einstellende affektive Spannungen, die ein bestimmtes Tun erforderten, und wenn es darum ging, sich diese affektiven Spannungen zu erklären, war von den Göttern die Rede, die den Menschen auf ein bestimmtes Verhalten hin einstimmten. Die Götter entschieden, ob und wie zu handeln war. Dabei waren es jeweils bestimmte Götterfiguren, die sich um einzelne Menschen bevorzugt kümmerten und die jeweils bestimmte Einstimmungen erzeugten: Ares auf die kriegerische Auseinandersetzung, Aphrodite auf den erotischen Glanz, Athene auf die vernünftige Abwägung usw. Seit jenen Zeiten ist offensichtlich eine deutliche Veränderung im Erleben des Selbst eingetreten. In monotheistischen Religionen wie dem Christentum wurde zunächst eine quasi vertragliche Regelung zwischen der die Normen setzenden Gottheit und dem handelnden Menschen angenommen, der nun selbst die Verantwortung für sein Handeln zu tragen hatte. Mit dem zunehmenden Wegfallen des Gottesglaubens in der Moderne verlagert sich dann die moralische Verantwortung ganz in das Selbst des Menschen. Er muss in seinem seelischen Binnenraum abwägen und entscheiden, 297

wie er handeln soll, ohne dass Göttliches ihn leitet. Er beansprucht für sich die unbedingte Freiheit im Handeln und Entscheiden. Dabei stützt er sich freilich auf lebensgeschichtlich frühe empathische Erfahrungen gemäß der Logik: »Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu« (Rudolf 2007).

Das selbstreflexive Subjekt Selbstreflexion bedeutet die Fähigkeit, sich der eigenen Person und der eigenen inneren Vorgänge bewusst zu werden. Dieser Vorgang wird in der Antike als cura sui (Selbstsorge) verstanden, wobei man dabei heute vorwiegend an Sorge um sich selbst oder sogar Fürsorge denkt (Breyer 2017). Gemeint ist aber eher: »Du musst dich um deine Seele kümmern.« Das heißt im Sinne von Foucault (2004), es geht um die grundsätzlichen Einstellungen und Wertüberzeugungen: »Du musst für dich entscheiden, worauf es im Leben ankommt, und dir Zeit nehmen, darüber nachzudenken, zum Beispiel in Techniken der Selbstbesinnung oder in Gesprächen mit Menschen, die die Funktion von Mentoren haben.« So zeigt sich Selbstreflexion als eine von Beginn an wachsende psychische Fähigkeit des Subjekts, aber auch als eine kulturell verankerte Technik, die als Ergebnis sozialer Entwicklungsprozesse zustande gekommen ist. Welche Bedingungen braucht ein reflexives Selbst, nachdem es sich phylogenetisch und biografisch-individuell entwickelt hat? Es braucht situative Möglichkeiten, um sich selbst zu reflektieren, das heißt, in ruhigen Momenten zu sich selbst zu kommen und seiner selbst bewusst zu werden. Wenn wir mit einem bestimmten, etwa alexithymen Typus von Patienten arbeiten, merken wir, dass er diese Gewohnheit und Möglichkeit nicht besitzt und stattdessen auf äußere Geschehnisse fixiert ist. Da wird permanent berichtet, wer was gesagt und wer was getan hat und welche Hoffnungen, Missstimmungen oder Ängste der so erzeugte Druck in der eigenen Person ausgelöst hat, aber eine sich selbst betrachtende Position kann nicht eingenommen werden. Um sich selbst zu reflektieren, muss man aus diesem Ereignisstrom heraustreten und einen Zusammenhang zwischen der inneren Verfassung und der äußeren Situation herstellen können. 298

Selbstreflexion kann aktiv gesucht werden, indem das eigene Ich und seine aktuelle Situation in den Blick genommen werden. Sie kann aber auch passiv erfahren werden, insbesondere in Momenten der gleichförmigen Tätigkeit, zum Beispiel beim Zurückschneiden der verblühten Pflanzen im Garten, beim Aufräumen des Schrankes oder wenn man mit dem Hund die immer gleiche Runde geht. In solchen Momenten kann es sich ereignen, dass ein Zustand der Selbstvergessenheit entsteht. Wilhelm Schmid (2012) verweist auf die Gelassenheit, die ebendort entsteht, wo wir lernen zu warten, ohne auf etwas Bestimmtes zu warten, und dadurch eine überraschende Offenheit des Denkens erfahren. Die Selbstvergessenheit in einer entschleunigten körperlichen Betätigung ist häufig jener Moment, da uns etwas Wichtiges zur eigenen Person und ihrer Situation einfällt. Bekanntlich werden repetitive Bewegungen in vielen meditativen Techniken bis zur körperlichen Ermattung eingesetzt, um eine Veränderung des Bewusstseins herbeizuführen. Der Bericht über die Selbstwahrnehmung beginnt vielleicht mit dem Wort »eigentlich«: »Eigentlich hatte ich mir noch gar nicht klargemacht, dass ich jetzt, wo die Kinder weggezogen sind, in einer ganz anderen Situation bin.« Es wird eine selbstreflexive Bestimmung der eigenen Situation möglich, und zwar ausdrücklich bezogen auf das Hier und Jetzt. In diesem Jetzt laufen Entwicklungslinien zusammen und eröffnen eine Blickrichtung, die es bislang nicht gegeben hatte. Es gleicht der Überraschung des Wanderers, der lange in sich selbst versunken vor sich hin gegangen ist und nun zu seiner Überraschung feststellt, wohin er mittlerweile gelangt ist – vielleicht in ein gefährliches Gelände, vielleicht aber auch nahe an das erstrebte Ziel. Goethe beschreibt bekanntlich Situationen seiner italienischen Reise als solche glücklichen Überraschungsmomente. Nach langer mühevoller Fahrt ist er im sonnigen Sizilien angekommen, er liest in seinem Homer und schaut auf die erhalten gebliebenen Bauwerke der griechischen Antike. Dabei taucht er so sehr in diese Welt seiner Ideale ein, dass er sich völlig verändert und am Wendepunkt seines Daseins fühlt (Jaeger 2014). Die Momente des Selbsterlebens können also aktiv gesucht werden, aber gerade auch aus einer gewissen Selbstvergessenheit – begünstigt durch körperliche Erschöpfung – erwachsen. Dabei unterscheidet sich das Selbsterleben deutlich von jenem intensivierten Ich-Erleben, in dem die eigene körperliche und geistige Vitalität 299

mit narzisstischem Stolz erfahren wird. Im Gegensatz dazu ist das Selbsterleben leise, gleichsam verwundert über die Tatsache, wie deutlich die eigene existenzielle Situation erfahren werden kann. Das Bewusstwerden des eigenen Seins kann schmerzlich ergreifend sein, wenn die eigene existenzielle Notlage unvermittelt vor Augen tritt. Sie kann aber auch mit tiefer Freude einhergehen und für lange Zeit als eindrückliches Ereignis im Gedächtnis bleiben. Ein Patient berichtete eine solche Erfahrung: Aus gesundheitlichen Gründen musste er auf eine ersehnte Urlaubsreise verzichten und beschränkte sich darauf, einige Tage nach Köln zu fahren, um die dortigen romanischen Kirchen anzusehen. Für ihn war die Romanik schon immer eine faszinierende Epoche gewesen, in der das christliche Abendland das römische Erbe aufgriff und weiterentwickelte. Er besichtigte die römischen Ausgrabungen, das Römisch-Germanische Museum und mehrere der romanischen Kirchen. Mehr und mehr war er fasziniert von dem ältesten zugänglichen Teil der Bauwerke, der Krypta, unter der christlichen Kirche gelegen und ihrerseits häufig auf einem römischen Gebäude oder Friedhof errichtet. In der zuletzt besuchten Krypta war er von der Klarheit der Linienführung besonders beeindruckt. Er saß auf einer Holzbank in dem durch einzelne Fenster erleuchteten Raum, hinter sich die römischen Ausgrabungen, über sich die romanische Kirche, neben sich seine vertraute Partnerin, und erinnerte sich an seinen Vater, der einst in dieser Stadt studiert hatte. Er empfand, sagte er, so viel Gegenwart wie nur selten. Die Erinnerung an Verstorbene hatte nichts Trauriges, die Vorstellung von weit zurückliegenden Epochen nichts Fremdes, alles schien ihm lebendig und gegenwärtig und hinterließ ein tief empfundenes Gefühl des Existierens in dieser Welt.

Gesellschaftliche Einflüsse auf die Fähigkeit zur Selbstreflexion Welche Einflüsse üben die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen auf das Selbsterleben aus? Zu Zeiten von Alexander Mitscherlich diskutierte man als gesellschaftsbedingte Störung den autoritären beziehungsweise autoritätshörigen Charakter, der jegliche Verantwortung an die Eltern oder Elternimagines delegiert hatte. Ein solcher Charakter erlebt daher keine Schuld und Scham im 300

Hinblick auf das eigene Handeln und bleibt ohne Mitgefühl und Solidarität für Andere, im Grunde unfähig, Gefühle wie Trauer oder teilnehmende Freude zu erleben. Im Mittelpunkt dieses Charakterbildes stand eine Beziehungspathologie der Unterordnung unter mächtige, fordernde, strenge Instanzen, die dem Individuum Entscheidung und Verantwortung abnehmen. So entstand das Bild des Befehlsempfängers, der selbst keine moralische Verantwortung trägt, allerdings auch auf individuelle Selbstentwicklung und -verwirklichung verzichten muss. Die Sicht, dass jede Gesellschaft ihr eigentümliche soziale Pathologien hervorbringt (Mitscherlich 1966), wurde bekanntlich handlungsleitend in der antiautoritären Bewegung, die ein Gegenideal von selbstverwirklichten Subjekten zu etablieren und durchzusetzen versuchte. Speziell für die familiäre Situation, die schulische Erziehung sowie für die sich verbreitende psychoanalytische Therapie wurde das Thema »Krankheit als Konflikt« zu einem zentralen Gegenstand. In den folgenden Jahrzehnten erfolgte eine Popularisierung und enorme Ausbreitung psychotherapeutischen Denkens. Dabei wurden auch die familiären und sozialen Entwicklungsbedingungen kritisch in den Blick genommen. Das vertiefte Verständnis frühkindlicher Entwicklung weckte bei vielen Menschen Zweifel, ob die eigenen Entwicklungsbedingungen oder auch diejenigen Anderer ausreichend günstig waren oder ob nicht emotionale Belastungen und Defizite nachhaltig wirksam wurden (›Was hat man dir, du armes Kind, getan?‹). Viele gelangten so zu der Selbsteinschätzung, sie seien überfordert, »ausgebrannt«, schonungs- und behandlungsbedürftig oder gar basal beschädigt, traumatisiert. Im Unterschied zu dem einige Jahrzehnte früher vorherrschenden Thema des autoritären Charakters überwogen nun Opfer-Überzeugungen, die zunehmend intensivere Therapien erforderten. Die epidemiologischen Daten zeigten zwar keine tatsächliche Zunahme der Häufigkeit psychischer Krankheitsbilder. Aber die Krankenkassenstatistiken, Krankschreibungen und Berentungen aufgrund dieser im weitesten Sinne als depressiv verstandenen Zustände, die subjektive Opferüberzeugungen zum Ausdruck bringen, nahmen rapide und in allen Altersgruppen zu (Rudolf 2012). Eine zunehmende Anzahl an Traumatherapeuten zeigte die Tendenz, sich mit dieser speziellen Klientel zu identifizieren und für sie auch einen besonders hohen Therapieaufwand zu erkämpfen. 301

Störungsbilder in vernetzten Lebenssituationen Wir nehmen nun ein drittes Bild in den Blick, das heute im klinischen Bereich immer deutlicher hervortritt: die strukturelle Störung der Persönlichkeit, die sich mit dem oben genannten Instrument der OPD erfassen lässt und die als therapeutische Aufgabe eine immer größere Rolle spielt. Die strukturelle Störung ist im Kern eine Mentalisierungsstörung, das heißt eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Selbstreflexion und emotionalen Selbstregulierung. Das Denken ist dann von Freund-/Feindvorstellungen, illusionären Erwartungen und paranoiden Befürchtungen beherrscht, was unter Umständen jedoch hinter einem ausgeprägten sozialen Rückzug verborgen bleibt. Wie wir im Folgenden sehen werden, sind Personen mit solchen strukturellen Störungen besonders vulnerabel für die gegenwärtigen Tendenzen einer zunehmenden Vernetzung und Medialisierung der Gesellschaft. Wenn wir die heutige Lebenssituation untersuchen, beobachten wir – im Sinne Hartmut Rosas (Rosa/Kodalle 2008) – eine hochgradig beschleunigte Welt und registrieren die Vernetzung von jedem mit jedem und von allem mit allem. Es ist die Vernetzung des Einzelnen mit dem Ganzen, die dauerhafte Kommunikation mit Medien aller Art und eine dadurch ausgelöste emotionale Daueranspannung, die es erschwert, ruhige Momente der Selbstreflexion zu finden. Menschen verschmelzen geradezu mit ihren Geräten, denn sie können Funktionen auslagern und gewinnen zugleich Informationen über sich und die Welt, teilweise sogar hochspezielle Informationen über Körpervorgänge. Über ihre Smartphones pflegen sie Kontakte zu zahllosen Anderen, wobei sie nicht mehr nur sprachliche Mitteilungen, sondern auch vornehmlich Selfies, das heißt Bilder des eigenen Selbst, austauschen. Für den gegenwärtigen Menschen werden die Mitteilungen der Medien, mit denen er vernetzt ist, zunehmend invasiv, da sie ihm nicht absichtslos begegnen, sondern ihn packen und nicht mehr loslassen. Ihre Inhalte werden immer mehr in Schwarz und Weiß unterteilt, um so die mühelose Verarbeitung und Unmittelbarkeit der Botschaft zu gewährleisten. Gemeint sind zunächst vor allem die hochgradig idealisierten Bilder, wie sie die Welt der Werbung anbietet. Da gibt es das ideale Gute und Schöne, das Gesunde und Perfektionierte, das vollkommene Glück, das mühelos Erreichba302

re, all dies mitsamt der ständigen Aufforderung, es zu »erwerben« und damit zur Gemeinschaft der Glücklichen zu gehören. Es ist im Grunde eine kindlich-narzisstische Phantasie am Werk, die zwar ahnen lässt, dass das alles so doch nicht stimmen kann, die aber dennoch eine nachhaltige emotionale Wirkung ausübt, indem sie Inseln des Illusionären schafft, auf denen sich Erschöpfte und Frustrierte ausruhen können. Zu diesen idealen Bildern gesellen sich die vielfältigen Programme der Perfektionierung und Optimierung des eigenen Selbst, das, mit Flexibilität, Effektivität und einer entsprechenden Gewinnermentalität ausgestattet, abgerundet durch die Verachtung für die Verlierer, von dieser Gemeinschaft der Glücklichen nur einen Schritt entfernt zu sein scheint. Es ist die narzisstische Selbstidealisierung von Leistungsfähigkeit und Härte, wie eine neoliberale Wirtschaft sie fordert. The winner takes it all, und zwar mit allen Mitteln; der Verlierer verdient kein Mitgefühl. Eine andere, verwirrende emotionale Facette der ständigen Informationen bieten die Nachrichten über Katastrophen, empörende Skandale, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten, welchen Menschen an anderen Orten ausgesetzt sind. Diese Schilderungen sind geeignet, Angst, Wut und Empörung zu mobilisieren, und fordern zu Protest und kämpferischen Aktivitäten auf. Politische Gruppierungen greifen entstehende Besorgnisse auf und warnen populistisch vor den betrügerischen Eliten, die beseitigt werden sollten. Für den Einzelnen wird es immer schwieriger, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten, so dass die Tendenz wächst, sich kämpferischen Subgruppen anzuschließen oder aber sich ganz auf das Private zurückzuziehen. Einen letzten Aspekt der invasiven Medienwelt bietet das ständige Angebot des Fiktionalen auf allen Kanälen, der Filme, Serien oder virtuellen Spiele, die ebenfalls beständig Identifikationsangebote unterbreiten, wie das Subjekt sich und die Welt sehen könnte. Sie vermitteln häufig kindlich-naive Perspektiven mit aggressiven oder pornographischen Aspekten oder mit ideologischen Sichtweisen. Der Umsatz für entsprechende Computerspiele beläuft sich in Deutschland auf 1,7 Milliarden Euro pro Jahr, was ahnen lässt, wie viele Jugendliche und Erwachsene sich regelmäßig in einer fiktionalen Welt aufhalten. Unter den skizzierten Voraussetzungen fällt es vielen Menschen heute schwer, sich realistische Vorstellungen von sich selbst und der 303

Welt zu machen. Stattdessen setzt die Informations- und Reizbeschleunigung die Subjekte kognitiver Überflutung aus und mobilisiert suchtartiges Interesse an immer neuen Reizen. Allzu häufig finden sie bereits im Kindes- und Jugendalter nur noch mithilfe von Ritalin aus dem Zustand der Dauererregung heraus. Wenn wir nochmals zurückblicken auf die kindliche Entwicklung des Selbst, so wird diese im günstigen Falle durch eine elterliche Haltung gefördert, die dem Kind vermittelt: »Ich interessiere mich wohlwollend für deine emotionale Verfassung. Ich nehme deine Gefühle wahr und kann dich verstehen. Ich helfe dir, emotionale Unlust und Erregung zu bewältigen. Ich zeige dir, wie meine Emotionen im Unterschied zu deinen sind.« Auch im Erwachsenenalter ist es wohltuend, im Kontakt mit Partnern und Nahestehenden etwas von diesem Klima zu erleben. Die Situation der Vernetzung hingegen unterbreitet ein ganz anderes Angebot: »Deine positiven Emotionen können enorm gesteigert, negative Emotionen völlig vermieden werden. Dazu solltest du bestimmte Dinge kaufen, besitzen, benutzen. Du kannst spezielle Mittel zu dir nehmen und genießen, zu bestimmten, wichtigen Gruppen gehören und dich an bedeutsamen Aktivitäten beteiligen. Du kannst auch bestimmte Körpermerkmale entwickeln und betonen, die dich schöner und gesünder machen.« Im Kontrast zur spiegelnden elterlichen Haltung und wohlwollenden Einstellung bedeutet das Angebot der vernetzten Welt eine ständige Verführung und Aufforderung: »Willst du etwa keine Erleichterung, keinen Genuss, keine Erregung verspüren?« Zwar stellt das Subjekt in der Regel fest, dass diese überflutenden Reize nur kurzfristig wirksam und letztlich enttäuschend bleiben. Dennoch wird diese Animation von der Pubertät an als selbstverständlich und schließlich geradezu lebensnotwendig erlebt. Die elterliche Funktion – »Ich sehe und ich verstehe dich« – wird über die digitalen Medien frühzeitig auf die Peergroup übertragen. Wenn nun bei Jugendlichen und Adoleszenten, wie oben beschrieben, eine erworbene strukturelle Vulnerabilität hinzukommt, so bedeutet dies, dass sie mit einer eingeschränkten Fähigkeit des Selbsterlebens und der Realitätswahrnehmung in die Erwachsenenwelt eintreten. Es fehlen dann nicht nur klärende Einblicke in die eigene innere Situation, sondern es kann sich auch eine diffuse, zunehmend aggressive Enttäuschung entwickeln. Das Gefühl des Zu304

kurz-gekommen-Seins, geringe Frustrationstoleranz und fehlende Eingebundenheit in tragfähige Beziehungen führen zu Misstrauen und aggressiver Gereiztheit in der Beziehung zu Anderen. Unter diesen Voraussetzungen wird es noch schwerer, die durch die Medien vermittelten Angebote kritisch zu prüfen und ein konstantes Bild des eigenen Selbst zu entwickeln. Kleidung, Piercing, Tätowierungen und vor allem die Zugehörigkeit zu Cliquen definieren ein eher veräußerlichtes Selbst, das andererseits bereit ist, auch mit Wut und Hass gegen andere Gruppen vorzugehen, auf die nun alles Negative projiziert werden kann. Ein Gespräch, wie es Gadamer als ein Drittes zwischen zwei Sprechenden verstanden hat, ist dann nicht mehr möglich, da die rasch eintretende wütende Erregung nicht an die diskutierten Inhalte gebunden bleibt, sondern sofort auf die Person des Gegenübers übergreift.

Therapie und Prophylaxe Die beschriebenen Lebensschwierigkeiten werden von den Betroffenen selbst zunächst nicht als leidvolle, krankheitswertige Störung verstanden, sondern als Klage über Missstände und Ungerechtigkeiten der Gesellschaft beziehungsweise der Familie zum Ausdruck gebracht. In der Diagnostik stoßen wir als Psychotherapeuten auf die beschriebenen »strukturellen« Probleme von Patienten, die dafür keine Worte haben und vordergründig über alltägliche Beschwerden klagen.3 Doch lassen bereits die ersten diagnostischen Kontakte erkennen, welches Ausmaß an leidvollen Lebensproblemen durch strukturelle Einschränkungen unter Umständen bewirkt wird. Sie erfordern ein modifiziertes therapeutisches Vorgehen im Sinne einer elterlich-entwicklungsfördernden Haltung, um gemeinsam am Aufbau struktureller Fähigkeiten zu arbeiten (Rudolf 2013). Hier soll aber eher diskutiert werden, wie wir uns im prophylaktischen Sinne dafür einsetzen können, Menschen ganz allgemein in ihrer Selbstreflexion und ihrer ethischen Einstellung zu ihrer Lebenswelt zu fördern. Dabei können wir an Traditionen anknüpfen, die seit der Antike gepflegt wurden, um Menschen in der Verant3 Am häufigsten über »Depressionen«, wobei dieser Begriff alle Arten des Unwohlseins und alle Lebensschwierigkeiten umfasst.

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wortung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Michel Foucault zeigt in seiner letzten großen Vorlesung 1981/1982 (Foucault 2004) anhand von antiken Texten (Plato, Epikur, Seneca, Mark Aurel), wie in der Antike eine Kultur und eine Ethik des Selbst entwickelt wurde, und zieht daraus die historischen wie theoretischen Bedingungen eines seiner bedeutendsten Konzepte: die Sorge um sich. Dabei geht es darum, sich einerseits die eigene Verfassung, die eigenen Ziele wie auch Grenzen bewusstzumachen und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, andererseits ebenso den Blick auf das soziale Ganze zu richten und eine Mitverantwortung für die Anderen zu übernehmen. Dazu bedarf es der Momente der Entspannung in zweckfreien oder kreativen Tätigkeiten, sei es in künstlerischen Aktivitäten, sei es in philosophischen oder religiösen Reflexionen, die unter Umständen von einem Mentor begleitet und gefördert werden. Foucault hat die Entwicklung dieser kulturellen Aufgabe der Selbstsorge von den Zeiten der griechischen und römischen Philosophen über die christlichen Übungen bis hin zu den heutigen psychologisch-psychotherapeutischen Techniken eindrucksvoll beschrieben. Sich um die Seele, um das eigene Selbst zu kümmern und an sich zu arbeiten zielt auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, die fähig werden soll, ein gelingendes Leben zu führen. Bedeutsam ist dafür nicht zuletzt das Bemühen der Stoiker, die eigenen Affekte zu steuern. Während heute intensive Affektivität oft mit Lebendigkeit gleichgesetzt und somit angestrebt wird, gleich um welche emotionale Erregung es sich handelt, sieht die Antike die passiones als etwas, was man erleidet und was folglich reguliert oder gar vermieden werden sollte. Die Techniken der Selbststeuerung in der griechisch-römischen Antike haben Ähnlichkeit mit dem, was im alten China empfohlen wurde: eine Ausrichtung auf reflexive, künstlerische, aber auch körperliche Aktivitäten, die eine gelassene, kultivierte Haltung mit geistigem Anspruch und sozialem Engagement ermöglichen. In den chinesischen Schriften ist die Rede davon, mit Freunden zu diskutieren, Blumen zu gießen, die Landschaft zu betrachten, zu kalligraphieren, Tee zu kochen, ein Gläschen Wein zu trinken oder zur Bewunderung der Berge auf die Stadtmauer zu steigen, all dies mit dem Ziel, eine gelassene Handlungsbereitschaft zu erlangen. Sicher können wir alle diese Techniken früherer Kulturen heute 306

nicht einfach kopieren, aber wir können daraus lernen, dass ein reflexives Selbst als Kern einer sich entwickelnden Persönlichkeit nicht von allein entsteht, sondern ähnlich wie die körperliche Gesundheit achtsam behandelt werden muss. Andernfalls bleibt die Aufmerksamkeit immer auf äußere Ziele gerichtet, was Seneca als stultus (einfältig) kennzeichnete, weil es das Leben in der Zerstreuung und ohne Beziehung zum eigenen Selbst zerrinnen lässt. Die antiken Techniken der cura sui ebenso wie die christlichen Meditationen und altchinesischen Gelassenheitsübungen finden ihre Entsprechung in zeitgenössischen Praktiken der Achtsamkeit und der Entschleunigung des Lebens. Angesichts der Herausforderungen der beschleunigten Gesellschaft bleibt es in jedermanns Verantwortung, einen Weg zu finden, wie er oder sie sich nicht nur körperlich, sondern auch als Subjekt gesund erhält. Dass nicht nur die Gesundheit der Muskeln und des Kreislaufs Übung verlangt, sondern dass auch das mentale System pfleglich behandelt werden muss, scheint vielen nicht selbstverständlich. Nicht zuletzt aus der Antike ist aber auch zu lernen, dass beides, die Pflege des Körpers und des psychischen Selbst, auf angenehme Weise verknüpft werden kann. Auch für die Psychotherapie, dort wo sie typische Störungsbilder behandelt, bedeutet das eine veränderte Orientierung, die nicht nur darauf ausgerichtet sein sollte, beim Patienten das Pathologische aus der Vergangenheit und das Konflikthafte der Gegenwart zu bearbeiten. Sie wird dann vor allem das Subjekt auch in seiner Aufgabe begleiten, sich mit den Bedingungen seiner Existenz und seiner gesellschaftlichen Situation auseinanderzusetzen und daraus die moralischen Konsequenzen für sein Handeln abzuleiten (Rudolf 2015). Selbstreflexion ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen selbstverantwortlich leben und handeln und dass sie soziale Verantwortung übernehmen können. Wer zu dieser Art der Verantwortungsübernahme fähig ist, ist am ehesten davor geschützt, in der Informationsflut der Netze und dem damit verbundenen Sog der negativen Affekte unterzugehen.

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Marianne Leuzinger-Bohleber Das »erschöpfte Selbst« in Zeiten des »Global Unrest« Klinisch-psychoanalytische Überlegungen

»Ich fühle mich dem Leid nicht gewachsen, das mir tagtäglich buchstäblich ins Wohnzimmer hineingetragen wird.«  (Frau C.)

1. Einleitung: »Global Unrest«, Trauma und Depression Die Frage, ob Depressionen – als moderne Volkskrankheit – wirklich zugenommen oder sich lediglich die diagnostischen Instrumente und dadurch die Wahrnehmung von Depressionen verfeinert haben, wird bis heute kontrovers diskutiert (vgl. dazu unter anderem Hau et al. 2005). Unbestritten bleibt, dass verschiedenen Übersichtsartikeln zufolge 38,2 Prozent der EU-Bevölkerung unter seelischen Störungen leiden, wobei Depressionen die häufigste seelische Erkrankung ausmachen. Etwa 17 Prozent der Weltbevölkerung erkranken mindestens einmal in ihrem Leben an einer Depression (Beutel et al. 2012; Huber/Klug 2016). Weltweit leiden mehr als 300 Millionen Menschen an Depressionen, in Deutschland 2,8 Millionen Männer und 3,0 Millionen Frauen, das heißt fast zehn Prozent der Bevölkerung. Viele von ihnen leben oft jahrelang mit Depressionen, bevor diese als solche erkannt und entsprechend behandelt werden. Schweres seelisches Leid für die Betroffenen und ihre Angehörigen sowie nicht abschätzbare Kosten für die Gesellschaft sind die Folgen. Nicht selten wird die Krankheit von depressiven Eltern, vor allem Müttern, an ihre Kinder weitergegeben. Die Depression ist somit nicht nur individuelles Schicksal, sondern zugleich auch ein Problem von Familie und Gesellschaft (Leuzinger-Bohleber 2018). Im Folgenden soll ein weiterer, bisher wenig diskutierter Zusammenhang zwischen Depression und Gesellschaft zur Diskussion gestellt werden. Vor allem Beobachtungen aus der großen 310

multizentrischen LAC-Depressionsstudie1 legen nahe, dass das »erschöpfte Selbst« (Ehrenberg 1998/2004) nicht nur an den Anforderungen einer ständigen Selbsterfindung des Individuums in Zeiten des Neoliberalismus erkrankt, sondern auch auf die Unfähigkeit traumatisierter Menschen verweist, sich aufgrund ihrer genetisch und lebensgeschichtlich bedingten Vulnerabilität gegen die Überflutung mit Informationen zum »Global Unrest« (Akhtar 2018) und zu menschlichem Elend durch man-made disasters innerlich abzugrenzen. Ein unerwarteter Befund der LAC-Studie ist, dass rund 80 Prozent der 252 untersuchten chronisch Depressiven in ihrer Kindheit schwere, multiple Traumatisierungen erlebt hatten, die schließlich in eine oft jahrelange depressive Erkrankung mündeten (vgl. Leuzinger-Bohleber 2015a; Negele et al. 2015). Sowohl klinisch-psychoanalytische als auch neurobiologische Studien zeigen, dass frühe Traumatisierungen schwerwiegende psychische und neurobiologische Folgen haben: Sie beeinflussen zum Beispiel das Stressregulationssystem und die Wahrnehmung von Traumatisierten nachhaltig. Im Hinblick auf das verkörperte Gedächtnis (embodied memories) ist daher anzunehmen, dass bei diesen Individuen die Konfrontation mit medial vermittelten Bildern von traumatischen Ereignissen, die in Zeiten des global unrest tagtäglich auf sie einströmen, ständig zu einer Reaktivierung der erlebten Traumatisierungen mit drohender Überflutung im Sinne einer Retraumatisierung führt. Daher mag die chronische Depression nicht nur durch verschiedene unbewusste Pfade bedingt sein, sondern zudem den Versuch darstellen, einer solchen ständigen Reaktivierung zu entgehen: Wie anhand eines ausführlichen Fallbeispiels aus der Depressionsstudie exemplarisch erläutert werden wird, kann die chronische Depression – metaphorisch gesprochen – wie ein Eisblock wirken, um unerträgliche Stimuli abzuhalten. Matthew Johnstone hat dies in seinem Buch Mein schwarzer Hund (2008) treffend illustriert (siehe Abb. 1).

1 Die LAC-Depressionsstudie untersucht die Ergebnisse psychoanalytischer und kognitiv-behavioraler Langzeitbehandlungen chronisch depressiver Patienten. Die Ergebnisse werden zur Zeit publiziert (zum Design: Beutel et al. 2012).

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Abbildung 1: Depressivität, aus: M. Johnstone, Mein schwarzer Hund. Wie ch meine Depression an die Leine legte, 6. Aufl., München: Verlag Antje Kunstmann 2013, S. 18.

In seinem Buchessay Mind, Culture, and Global Unrest. Psychoanalytic Reflections (2018) schreibt Salman Akhtar: Bezüglich der ersten Thematik [des aktuellen globalen Aufruhrs, M. L.B.] ist es meine Überzeugung, dass die Unruhe und das Blutvergießen, das wir überall auf der Welt sehen, das Endprodukt der Vernichtungsangst sowohl im Westen als auch im Osten ist. Europäische Nationen fühlen sich bedroht durch den Zulauf von Einwanderern und Flüchtlingen (besonders von Afrikanern und/oder Muslimen) und durch den sogenannten »radikalen islamistischen Terrorismus«. Asiatische Nationen und besonders die mittelöstlichen Länder fühlen sich bedroht durch den Moloch der westlichen Kulturen und durch verheerende Militärinterventionen (besonders der USA). Sowohl der Westen als auch der Osten fürchten, ihre Identitäten zu verlieren. Eine Folge davon ist die Zunahme von konservativen Bewegungen, von Nationalismus und Paranoia. (Akthar 2018: 9; Übers. M. L.-B.)

Die Deutung von kollektiven Vernichtungsängsten mag gewagt sein, doch scheint offensichtlich, dass derzeit von einem global 312

turmoil gesprochen werden kann, dass noch nie in der Geschichte so viele Menschen auf der Flucht waren wie in diesem Jahr und dass der weltweite »islamistische Terror« zu einer großen Verunsicherung geführt hat und als existenzieller Angriff auf westliche Demokratien und deren Wertsysteme erlebt wird. Daher stellt sich aus psychoanalytischer Sicht die Frage, ob Traumatisierte, also Menschen, die in ihrer Kindheit extremen Erfahrungen von Hilflosigkeit, Ohnmacht, körperlichen Schmerzen oder sogar Todesangst ausgesetzt waren, in spezifischer Weise auf Facetten eines globalen Aufruhrs (global turmoil) reagieren. Die Konfrontation mit Ohnmacht, Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit in der Gegenwart lässt traumatisierten Personen – im Sinne von embodied memories – ihre eigenen erlittenen Traumatisierungen der Vergangenheit wieder psychisch präsent werden. Um eine dauernde Überflutung durch unerträgliche Affekte und Wahrnehmungen zu verhindern, kann die Flucht in depressive Erstarrung und dissoziative Zustände für traumatisierte Menschen einen unbewussten Ausweg darstellen, wenn auch mit dem Preis, auf das Erleben eigener Gefühle von Lebendigkeit, Anteilnahme und Bindungen zu anderen Menschen zu verzichten. In diesem Sinne könnte die depressive Reaktion nicht nur individuelle biographische Gründe haben, sondern darüber hinaus mit der Entwicklung moderner Medien in Zusammenhang stehen. Sie konfrontieren uns täglich in weit größerem Maß als noch vor einigen Jahrzehnten mit Bildern von traumatisierenden Gewalttaten gegen ohnmächtige Individuen auf der ganzen Welt. Zudem kann die offensichtliche Hilflosigkeit angesichts des menschlichen Leidens etwa in Syrien, Afghanistan, dem Sudan oder in Somalia traumatisierte Menschen an die erlebte eigene Unfähigkeit in früheren traumatischen Situationen erinnern. Bekanntlich gehört zu den Langzeitfolgen von Traumatisierungen, dass das Urvertrauen in ein helfendes Objekt und ein aktives Selbst zusammenbricht (vgl. Bohleber 2012; Leuzinger-Bohleber 2015a; 2015b). Viele Patienten aus der LAC-Studie schildern, dass sie es nicht ertragen, täglich Nachrichten zu sehen – so wie die eingangs zitierte Patientin, Frau C. Die folgende kurze Zusammenfassung ihrer psychoanalytischen Behandlung mag diese Vermutung exemplarisch illustrieren. Zu Beginn waren Antidepressiva für Frau C. überlebenswichtig, um die Überflutung mit Angst, Verzweiflung und Ohnmacht auszu313

halten. Sie verstärkten aber gleichzeitig einen seelischen Zustand der inneren Betäubung und einen Verlust an Lebendigkeit und Vitalität, eine Existenz »im Eisblock«. Das sukzessive Verstehen der biographischen Wurzeln ihres Leidens stärkte im Verlauf der Behandlung das Selbst, die Frustrationstoleranz und die inneren Abgrenzungsmechanismen so weit, dass Frau C. schließlich auf die Antidepressiva verzichten konnte. Sie erlebte diesen langen, schmerzlichen Prozess als ein Verflüssigen ihrer seelischen Erstarrung, eine Stärkung ihrer aktiven, kreativen Selbstanteile und ihres Zugangs zu anderen Menschen. Dies bedeutete auch, dass sie aus ihrem seelischen Rückzug (Steiner 2005) herausfand, wieder vermehrt am »Leben draußen« teilnahm und sich sozial engagierte. Der Schwerpunkt des folgenden Beitrags liegt auf dem Verständnis der Auswirkungen früher Traumatisierungen auf die Depression von Frau C. in der Tradition der klinischen Forschung der Psychoanalyse (vgl. dazu Leuzinger-Bohleber 2015c). Im Sinne der heutigen, pluralistischen Psychoanalyse werden dabei verschiedene theoretische Perspektiven zum Verständnis des komplexen klinischen Materials herangezogen. Unterschiedliche Einstellungen unseres theoretischen Instrumentariums ermöglichen, unterschiedliche Muster in komplexen klinischen Beobachtungen zu erkennen. Zudem wird versucht, den Fokus immer wieder auch so einzustellen, dass gesellschaftliche Dimensionen des individuellen Leidens sichtbar werden. Bekanntlich gehört es zu den Kernüberzeugungen der Psychoanalyse, dass idiosynkratisches Leiden des Individuums gleichzeitig seismographisch offene oder verborgene gesellschaftliche Konflikte und Strukturen anzeigt. Daher kann die intensive psychoanalytische Feldforschung, das heißt die jahrelange Arbeit mit einzelnen Patienten, immer auch Erkenntnisse über unbewusste Phantasien und Strukturen in einer aktuellen gesellschaftlichen Situation hervorbringen. Allerdings müssen solche auf klinischen Erfahrungen beruhende Vermutungen und kulturkritische Hypothesen heute – vielleicht im Gegensatz zu Freuds und Mitscherlichs Zeiten – im interdisziplinären Dialog zur Diskussion gestellt und mithilfe fachspezifischer Experten, unter anderem Soziologen, Sozialpsychologen, Historikern, Ökonomen und Medienwissenschaftlern, kritisch überprüft werden. Daher erheben die folgenden Überlegungen keinerlei Generalisierungsanspruch, sondern zielen darauf ab, einige klinisch314

psychoanalytische Beobachtungen im interdisziplinären Dialog zur Diskussion zu stellen. Dabei kann in diesem Rahmen nur exemplarisch auf einen dieser interdisziplinären Dialoge etwas näher eingegangen werden, auf den Dialog mit der sogenannten Embodied Cognitive Science. In dieser Disziplin wurde in den letzten Jahren unter anderem das Konzept der embodied memories entwickelt, das eine interessante Erklärung für überflutende Erinnerungsprozesse bei Traumatisierten bietet. Im Ausblick werden einige methodische Grenzen meiner Überlegungen diskutiert, vor allem die Frage nach einem möglichen Beitrag der klinischen Psychoanalyse zu diesen aktuellen Diskursen.

2. »Es zog mich ins Meer hinaus«. Aus der psychoanalytischen Behandlung einer Fünfundfünfzigjährigen2 Eine lange psychoanalytische Behandlung narrativ, das heißt verdichtet, aber dennoch sorgfältig und »wahr« zusammenzufassen, ist bekanntlich schwierig und mit vielen methodischen Klippen verbunden. Daher entwickelten wir im Rahmen verschiedener Studien die Methode der psychoanalytischen Expertenvalidierung, in der in systematischer und kritischer Weise das Expertenwissen von erfahrenen Psychoanalytikern in einer Gruppe genutzt wird, um die »narrative Wahrheit« der Fallberichte zu überprüfen (siehe unter anderem Leuzinger-Bohleber 2014b). Die folgende Fallskizze ist das Ergebnis einer solchen Expertenvalidierung im Rahmen der LACStudie. Frau C., eine fünfundfünfzigjährige, berentete Angestellte eines großen Dienstleistungsbetriebs, wurde nach einem mehrmonatigen stationären Aufenthalt von einer psychiatrischen Klinik zur Nachbehandlung an die LAC-Studie überwiesen. Ich kann nicht mehr arbeiten. Nach dem Tod meiner Mutter vor zwei Jahren bin ich völlig zusammengebrochen, lag nur noch im Bett, konnte weder schlafen noch essen. Nach einem Suizidversuch lieferte mich mein 2 Aus Diskretionsgründen muss ich hier auf eine schon in einer anderen Version publizierte Fallzusammenfassung zurückgreifen (Leuzinger-Bohleber 2016).

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Mann in die Klinik ein. Dort ging es mir allmählich etwas besser. Ich wäre am liebsten dort geblieben.

Frau C. wehrte sich gegen die Entlassung: Die Klinik bot mir Schutz – sie kam mir vor wie eine Insel in dieser zusammenbrechenden Welt, in der alles unsicher geworden ist, die Jobs, die Einstellungen, die Familie – eine Welt voll von Gewalt, und niemand weiß Lösungen. Ich muss ja nur den Fernseher einschalten und schon stürmt alles auf mich ein. Ich habe Angst, wieder völlig zusammenzubrechen oder in Panik erneut zu viele Tabletten zu schlucken.

Schon im ersten Interview berichtete die Patientin auch ihren Initialtraum: »Ich stehe am Meer. Eine große, dunkle Welle kommt und zieht mich hinaus. Ich wehre mich nicht, sondern finde es eher schön, mich dem hinzugeben.« Die darin enthaltene Todessehnsucht und suizidalen Gedanken und Impulse illustrieren, dass zu Beginn der Behandlung nicht auf antidepressive Medikamente verzichtet werden konnte, die ihr nach der Entlassung aus der Klinik von einer psychiatrischen Kollegin verschrieben wurden.

2.1 Einige Informationen zur Biographie Frau C. schilderte ihre Mutter als schwierige Persönlichkeit, die zehn Jahre lang an einer Alzheimer-Erkrankung gelitten habe. Sie habe von der Patientin verlangt, dass sie stets verfügbar für sie sei und sie pflege, war aber in den letzten Jahren oft gewalttätig, so dass es für Frau C. und die gesamte Familie eine Erlösung gewesen sei, als die Mutter endlich starb. Ich konnte aber nie weinen, sondern war wie erstarrt und rutschte mehr und mehr in ein schweres Burn-out hinein. Schließlich kam ich überhaupt nicht mehr aus dem Bett und war schließlich so verzweifelt, dass ich versuchte, mich mit Schlaftabletten umzubringen. Mein Mann fand mich und lieferte mich in der Klinik ein. Dort ging es mir allmählich besser, aber ich weiß immer noch nicht, wie ich es packen soll zu Hause.

Frau C. ist das zweite von fünf Kindern einer finanziell benachteiligten Migrationsfamilie aus dem Süden Europas. Ihre Mutter war 1945 aus der Nähe von Dresden geflohen und hatte nie in Westdeutschland Wurzeln geschlagen, so dass sie ihrem Ehemann gerne nach Spanien folgte, dort aber immer in einer Außenseiterposition 316

blieb. Nach dem Bankrott ihres Mannes musste die Familie überstürzt nach Deutschland übersiedeln. Für die vierzehnjährige C. bedeutete dies ein abruptes Herausgerissenwerden aus ihrer sozialen Umgebung und ihrer jugendlichen Peergroup. Verbittert erzählte sie, dass der erzwungene Abbruch des Gymnasiums das Ende ihrer Bildung bedeutet habe: Sie musste eine Lehre beginnen und erlebte dies als Beschämung und Demütigung. Zudem wurde sie von ihrem Chef sexuell belästigt, so dass sie die Lehre abbrach und erst nach einer mehrjährigen Unterbrechung zu Ende führte. Die Erinnerungen an diese sexuellen Übergriffe führten im ersten Behandlungsjahr zu einer Reihe von Träumen, die frühere sexuelle Missbrauchserfahrungen vermuten ließen. Frau C. hatte nur noch vage Erinnerungen an diese Erlebnisse. Daher sprach sie mit ihrer älteren Schwester, die ihr erzählte, dass sie vom fünften bis zum zwölften Lebensjahr während des Mittagsschlafs regelmäßig vom Vater sexuell missbraucht worden war. Eindrücklich war, dass sich ihr (bewusster) Hass weniger auf ihren Vater als auf ihre Mutter richtete, die sie vor dem Missbrauch nicht geschützt, sondern sie, so die übereinstimmende Erinnerung der beiden Schwestern, sogar aufgefordert habe, mit dem Vater ins Bett zu gehen. Als sie sich als Zwölfjährige schließlich zur Wehr setzte, wurde der Missbrauch mit der jüngeren Schwester fortgesetzt. Ebenfalls erst in der Behandlung stellte sich heraus, dass Frau C. während ihrer Kindheit eine Reihe weiterer Traumatisierungen erlebt hatte. Jeden Sommer hatte die Mutter mit dem Vater allein verreisen wollen und ihre Kinder für mehrere Wochen in ein katholisches Kloster geschickt. Frau C. erinnerte sich an entsetzliches Heimweh. Einmal wurde sie schwer krank. Die Nonnen verlangten von der Mutter, dass sie sie besuche und sie wegen der lebensbedrohlichen Lungenentzündung ins Krankenhaus bringe. »Doch sobald ich wieder einigermaßen gesund war, lieferte sie mich wieder im Kloster ab und fuhr mit dem Vater weg« (Formulierung aus dem Therapietagebuch der Patientin). Mit 18 Jahren lernte Frau C. während eines Sommeraufenthalts an ihrem ursprünglichen Wohnort in Spanien ihren Mann kennen und machte ihre Mutterschaft zu ihrem neuen Lebensinhalt. Sie genoss ihre drei Töchter und ging – im Gegensatz zu ihrer Mutter – ganz in ihrer Rolle als Mutter auf. 317

2.2 Einige psychodynamische Überlegungen In der wöchentlich zweistündigen psychoanalytischen Therapie im Sitzen ging es im ersten Behandlungsjahr oft um einen Kampf gegen die Regression im Zusammenhang mit der pathologischen Trauer um die Mutter. Die Suizidphantasien und -handlungen waren oft Thema der psychoanalytischen Arbeit in dieser Zeit. So stellte sich heraus, dass die Schlaftabletten offensichtlich innerlich mit der toten Mutter verbunden waren. Mir kommt es vor, als wenn Sie den Hass, den Sie auf Ihre Mutter begreiflicherweise nach all den Jahren der Gewalterfahrungen und der emotionalen Vernachlässigung ausgebildet haben, gegen Ihr eigenes Selbst richteten, indem Sie eine Überdosis an Tabletten nehmen, um zu sterben. Nach Ihrem Tod müssten Sie keine Schuldgefühle wegen Ihres Hasses empfinden, sondern hätten durch Ihren Tod für Ihre ›schlimmen‹ Impulse gesühnt: Sie wären mit der toten Mutter vereint. (Analytikerin)

Erst allmählich wurde es möglich, die ambivalente Mutterbeziehung in der Übertragung gemeinsam zu verstehen, zu deuten und durchzuarbeiten. Wir entdeckten unter anderem die unbewusste Überzeugung der Patientin, auch ich würde sie – als Leiterin der LAC-Studie – analog zu ihrer Mutter psychologisch missbrauchen und sie zu meinen psychiatrischen Kollegen »abschieben«, um mich von ihr zu befreien und mir ein schönes Leben zu machen (wie die Mutter während der Sommerferien). In dieser Zeit zeigte Frau C. eine ausgesprochen schlechte Compliance: Oft vergaß sie oder weigerte sich bewusst, die Psychopharmaka zu nehmen. Immer wieder sprachen wir ihre regressiven Wünsche an, sich nochmals in die Klinik einliefern und voll versorgen zu lassen. Nachdem die unbewussten Phantasien verstanden werden konnten, die mit den Medikamenten assoziativ verbunden waren, änderte sich die psychodynamische Bedeutung der Medikation: Frau C. erlebte nun die Psychopharmaka mehr und mehr wie ein Übergangsobjekt im Sinne von Winnicott (1965/1974), das dazu dient, die innere Grenze zwischen dem Selbst und dem Objekt zu stabilisieren und Autonomie und Individuation zu sichern. Die Einlieferung in die Psychiatrie verlor ihre Attraktivität und kippte ins Gegenteil: Der Gedanke daran löste nun panische Angst aus. 318

Mit den Medikamenten gewinnen Sie ein Stück Autonomie: Sie können unerträgliche Gefühle wie Angst, Panik und Suizidimpulse insofern aktiv minimal steuern, als Sie dadurch diese unerträglichen Zustände selbst durchstehen, statt sich in die Klinik einliefern zu lassen. (Analytikerin)

Das Durcharbeiten dieser Thematik führte offensichtlich zu einer Milderung der depressiven Rückzüge und der suizidalen Impulse. Begünstigt wurden diese Transformationen auch dadurch, dass die älteste Tochter ein Kind bekam und Frau C. als Großmutter in die Betreuung des Babys einbezogen wurde, was ihr eine neue Alltagsstruktur abverlangte. In dieser Zeit berichtete Frau C. den folgenden Traum: Ich will eine Freundin besuchen, die mit mir in der Reha war. Meine Töchter begleiten mich, lenken mich aber derart ab, dass ich zu spät zum Termin komme – ich ärgere mich über meine Kinder. Wir sind wieder zu Hause. Da klingelt es. Jemand teilt mir mit, dass meine Freundin einen Unfall hatte – ich eile sofort zur Klinik. Es ist schrecklich: Bei der Freundin wurde der Unterleib abgetrennt. Man versuchte, ihn wieder anzunähen, doch dies ist komisch, die Beine schlackern so herum. Plötzlich schwebt sie in der Senkrechten über dem Bett – der Unterkörper wirbelt so herum wie ein Kreisel – ich bin erschreckt und sage, sie soll sich doch hinlegen, sie sei frisch operiert. Sie hat einen furchtbar traurigen Gesichtsausdruck und macht mir bittere Vorwürfe, dass ich mich nicht um sie gekümmert habe. Ich beginne, fürchterlich zu weinen. Dann bin ich wieder zu Hause. Es geht mir so schlecht, dass ich nochmals in die Reha muss. Es klingelt nochmals. Meine ehemaligen Kollegen von der Firma müssen auch zur Reha – sie haben dies als Gratifizierung bekommen. Ich wache auf – so ein dummer Traum … er verfolgt mich den ganzen Tag. Ich weine stundenlang.

Eine Assoziationskette führte zu der Tatsache, dass die Kollegin, die im Traum erschien, keine Kinder bekommen konnte, was Frau C. mit ambivalenten Gefühlen erfüllte. Einerseits war sie stolz und glücklich über ihre eigenen Kinder und ihren Enkel, andererseits hatte sie die Angst, nun als Großmutter von den Wünschen der Tochter und des Enkels total in Anspruch genommen zu werden und ihre mühsam in der Therapie wiedergewonnene Autonomie zu verlieren. Schließlich deutete Frau C. ihren Traum selbst: »Die beiden (Körper-)Hälften gehören mir. Der depressive Teil, der immer nur traurig ist und weint, und der Teil, der wie eine Marionette funktioniert und Leben vortäuscht.« Die psychoanalytische Arbeit kreiste um ihre Schuldgefühle ihrer Freundin gegenüber, dass es ihr 319

– dank Therapie und Enkel – bessergehe und sie »ihre beiden Teile« wirklich zusammenwachsen lassen wolle, statt in eine depressive Identität zu flüchten wie die Freundin im Traum. In den folgenden Monaten reduzierte sie sukzessiv die Medikamente und erlebte dies als eine Stärkung ihres Selbst- und Autonomiegefühls: »Ich kann nun meine Stimmungsschwankungen selbst kontrollieren und auch ohne Medikamente merken, wann mir alles zu viel wird und ich mich abgrenzen und erholen muss.« Interessanterweise wurde es erst nach dem Absetzen der Medikamente möglich, die Reaktivierung der Traumatisierungen durch den jahrelangen sexuellen Missbrauch in der Übertragungsbeziehung selbst zu verstehen beziehungsweise die damit verbundenen embodied memories en détail zu entschlüsseln (vgl. Leuzinger-Bohleber 2016). Im dritten Behandlungsjahr wurde zudem der chronisch dissoziative Zustand der Patientin beobachtbar: Als die Analytikerin die Patientin damit konfrontierte, dass sie in einer Sitzung alles wie aus einer Vogelperspektive betrachte und emotional kaum erreichbar sei, fiel Frau C. nach einer langen Pause ein, dass sie während der sexuellen Aktivitäten des Vaters versucht hatte, sich vorzustellen, sie sei eine Möwe, die durch die Wolken am Himmel fliege und von oben auf sich und ihren Vater hinunterschaue. Sie haben vermutlich versucht, sich gegen die schlimmen Erfahrungen zu schützen, indem Sie innerlich ausgewandert sind und eine Vogelperspektive einnahmen. Dazu gehört vielleicht auch, dass Sie Ihren »Unterleib abgetrennt« haben und sich dieser Körperteil »leblos drehte« wie der Kreisel im Traum von Ihrer Freundin. (Analytikerin)

Das Durcharbeiten dieser Thematik in der Übertragungssituation erwies sich als entscheidend für Frau C. Unter anderem fand sie aus ihrer sexuellen Verweigerung ihrem Ehemann gegenüber heraus. Das Paar erlebte »eine neue Flitterwoche, einen sexuellen Frühling … ein Antidepressivum, über das wir selbst entscheiden können« (Frau C.). Um die Metapher wieder aufzugreifen: Mehr und mehr getraute sich die Patientin, den Eispanzer der Depression zum Schmelzen zu bringen und ihre Gefühle und ihr, wie sie es nannte, »spanisches Temperament« wiederzuentdecken. Dieser Prozess war einerseits in der analytischen Beziehung selbst, andererseits in ihrer Beziehung zu ihrem Mann und zu ihrem Enkel zu beobachten. Hatte sie in 320

den ersten Lebenswochen des Babys erwartet, von ihrer Tochter (real als Babysitterin) erneut, wie sie es ausdrückte, »psychisch missbraucht zu werden« und dadurch in einen erschöpfenden, fremdbestimmten Lebensabschnitt zurückzufallen, entdeckte sie im Kontakt mit dem Baby und Kleinkind ihre eigene Lebendigkeit wieder. In eindrucksvoller Weise konnte sie die Beziehung zu dem temperamentvollen Enkel nutzen, die Wirkung der eigenen Frühtraumatisierungen zu erkennen, einzugrenzen und die inneren Grenzen zwischen dem eigenen Selbst und dem Anderen zu stabilisieren. Zudem musste sie ihre Augen vor dem »Elend der Welt« (Frau C.) nicht mehr verschließen, sondern interessierte sich nun täglich für die Nachrichten und begann sich in einem sozialen Projekt zu engagieren. Diese Veränderungen zeigten sich auch in ihren Träumen in der Abschlussphase der Behandlung. Zu einer der letzten Sitzungen brachte sie die folgende Aufzeichnung eines Traumes aus ihrem Therapietagebuch mit, der wohl für sich spricht und die Veränderungen der Patientin in der Therapie illustrieren mag: Bin in einer Einrichtung für Kinder mit Auffälligkeiten im psychischen Bereich. Ich sehe anders aus, habe blondes Haar, bin schlank und sehr selbstbewusst! Bin dort mit jemand, wer es ist, ist mir nicht recht klar, X [ihr Enkel?; M. L.-B.]. Aber warum? Da ich viel Wartezeit habe, beobachte ich die Patienten dort, überwiegend Kinder, und ich lasse mich auf ihre »Macken« ein, tue, was ihnen Spaß macht oder was für sie die Realität ist, so absurd sie ausschauen mag. Ein Arzt kommt hinzu, beobachtet mich, ist angetan von meiner »Arbeit«, und ich von ihm! Es funkt zwischen uns, fühle mich zu ihm hingezogen, aber auch zu den Kindern dort, fahre mit der Straßenbahn täglich dorthin, habe aber immer mit anderen Kindern zu tun! Das Personal ist dankbar, denn ich kümmere mich intensiv um die Kinder, lache viel mit ihnen und mache instinktiv scheinbar das Richtige, denn die Kinder öffnen sich und lassen Berührungen zu und wir unternehmen außerhalb der Klinik viel! Der Arzt meint, es wäre ein Segen, eine so natürliche Begabung zu haben, mit psychisch kranken Menschen umzugehen! Ich antworte, dass ich weiß, was sie fühlen und was für sie gut ist, da ich selbst psychisch krank bin. Besonders ein Kind hängt sehr an mir, er ist Mulatte, spricht nicht, aber ich weiß auch so, was er möchte und was ihm guttut! Er fährt mit mir heim, will bei mir bleiben, aber es geht nicht. Der Arzt meint, Menschen wie mich können sie dort gebrauchen, ich könnte für sie arbeiten, wenn ich wollte! Sage ja! Es ist genau der Job, den ich immer machen wollte. Mache mich auf den Weg heim und sehe im Wartezimmer die Y. sitzen!

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Ich frage sie, wie es ihr geht, sie antwortet einsilbig! Ich rate ihr, Geduld zu haben, »es wird besser, irgendwann«. Ich gehe nicht zu ihr, umarme sie nicht, tröste sie nicht, aber ich weiß nicht, warum, fahre heim, freue mich auf meinen neuen Job, es ist wohl das, was ich schon immer machen wollte. Der Arzt ruft mich an, der kleine Junge will nur mit mir reden. Ich soll kommen … wache auf!

3. Viele Wege führen zum erschöpften Selbst: Zur Genese der chronischen Depression In der neueren psychoanalytischen Literatur wird oft auf den Zusammenhang zwischen Depression und Trauma hingewiesen (Bohleber 2010b; Kernberg 2009). Hugo Bleichmar (1996; 2013) beschreibt in seinem Modell zur Psychodynamik der Depression verschiedene Pfade, die schließlich in die chronische Depression führen (siehe Abb. 2). Identifizierung der Depression vorausgehende narzisstische Störung

Aggressivität Schuldgefühle Masochismus Traumatische Erfahrung (Objektverlust, Krankheit Missbrauch etc.) Masochismus

Depression Hilflosigkeit/ Hoffnungslosigkeit

Identifizierung mit depressiven Eltern

Phobie

Verfolgungsängste

Ich-Schwäche Identifizierung

Abbildung 2: Entstehungspfade der Depression, aus: H. Bleichmar, »Verschiedene Pfade, die in die Depression führen. Implikationen für spezifische und gezielte Interventionen«, in: M. Leuzinger-Bohleber et al. (Hg.), Chronische Depression. Verstehen – Behandeln – Erforschen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 82-97, S. 85.

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Werner Bohleber (2010b) erläutert Bleichmars Modell folgendermaßen: Hugo Bleichmar (1996) sieht die Depression als eine spezifische Reaktion auf den Verlust eines realen oder imaginierten Objekts. Die Reaktion ist durch einen anhaltenden intensiven Wunsch bzw. eine Sehnsucht nach dem verlorenen Objekt gekennzeichnet. Der Wunsch wird aber gleichzeitig als unerfüllbar wahrgenommen. Dieser unerfüllbare Wunsch nimmt einen zentralen Platz in der inneren Welt des Depressiven ein. Das Selbstbild ist erfüllt von Hilf- und Machtlosigkeit. Depression ist nicht nur die Wendung der Aggression gegen das verlorene Objekt, die nach innen gewendet zu Selbstanklagen und Schuldgefühlen führt, sondern für Bleichmar ist die Depression auch eine Folge von zahlreichen anderen Faktoren: eines Traumas sowie früher Verlusterfahrungen und Verlassenheit; einer Identifizierung mit depressiven Eltern; eine Folge narzisstischer Störungen, verursacht durch ein permanent schlechtes Selbstwertgefühl, oder omnipotenten grandiosen Denkens und Phantasierens; eine Folge persekutorischer Ängste oder von Ich-Defiziten im kognitiven, affektiven und interpersonalen Bereich. Bleichmar beschreibt damit unterschiedliche Wege, die besondere psychodynamische Untergruppen der Depression hervorbringen. So spricht er etwa von einer narzisstischen Depression oder einer Schulddepression. (Bohleber 2010b: 773 f.)

Bezugnehmend auf das eben angeführte Fallbeispiel möchte ich im Folgenden nochmals auf einzelne Pfade in der oben aufgeführten Graphik näher eingehen und dabei das komplexe Zusammenwirken von äußeren und inneren Faktoren in den Blick nehmen. Bekanntlich charakterisiert ein solcher dialektischer Fokus die heutige, pluralistische Psychoanalyse (vgl. dazu unter anderem Leuzinger-Bohleber 2015a).

3.1 Aggressivität – Schuld – Depression: die klassische Sichtweise 3 Für Bleichmar (1996) ist Freuds Arbeit »Trauer und Melancholie« (1916-17/1999) immer noch einer der fundamentalen Texte für das psychoanalytische Verständnis von Depression. Freud charakterisiert darin die Depression nicht nur als Reaktion auf den realen Verlust eines Objekts, einer Idee, eines Selbstbildes usw., sondern auch 3 Siehe Abbildung 2, Bereich oben links.

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als einen Verlust, der mit unbewussten Phantasien und Gedanken verknüpft ist. In »Hemmung, Symptom und Angst« (1926/1999) betont Freud die unersättliche Sehnsucht der depressiven Person, die dem Verlust einer Liebesperson folgt: Die Triebwünsche, die Sehnsucht, sich emotional einzulassen, narzisstische Bedürfnisse sowie das Verlangen nach Wohlbefinden können nicht mehr durch ein phantasiertes oder reales Objekt befriedigt werden. Daher steht ein zentrales Gefühl der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit im Zentrum der Depression. Das Selbst erlebt sich als machtlos und impotent. Daher werden die Gefühle, die sich auf das ersehnte Objekt richten, deaktiviert: Apathie, Hemmung und Passivität gehören zu den Ergebnissen dieser seelischen Prozesse.4 Rado (1928; 1951) betonte die Rolle heftiger Wut und Aggression als einen Versuch, das verlorene Objekt wiederzugewinnen. Er beschrieb, dass heftige Selbstanklagen die Funktion haben, Schuldgefühle abzumildern und durch Selbstbestrafungen die Liebe des Über-Ichs wiederzugewinnen.5 In analoger Weise betont Bleichmar (1996: 942-946) die Verbindung zwischen Aggression, Schuldgefühlen und Depression und unterscheidet dabei verschiedene Formen psychodynamischer Prozesse, die, falls sie mit intensiven seelischen Schmerzen verbunden sind und über einen längeren Zeitraum andauern, zu einer generalisierten Abwehr des psychischen Lebens führen, zu einem inneren Zustand der »Nicht-Existenz«.6 Wie in der Zusammenfassung der psychoanalytischen Behandlung von Frau C. angedeutet, konnten analoge psychodynamische Prozesse in der Anfangsphase der Therapie beobachtet und psychoanalytisch verstanden werden. Psychodynamische Bedeutungen des Selbstmordversuchs wurden schließlich direkt angesprochen (vgl. die oben zitierte Deutung). Das Durcharbeiten dieser unbewussten »Wahrheiten« führte dazu, dass Frau C. aus ihrem psychischen Rückzug (Steiner 2005) 4 Vgl. unter anderem Klein 1935/1996; Bibring 1953; Joffe/Sandler 1965; Jacobson 1971/1977; Kohut 1971/1973; Mentzos 1995; Steiner 2005; Bohleber 2010a; 2010b; Taylor 2010; Leuzinger-Bohleber et al. 2013. 5 Vgl. dazu auch Freud 1916-17/1999; Abraham 1924; Klein 1935/1996; Jacobson 1971/1977; Kohut 1971/1973; Kernberg 1975/1978; Blatt 2004; Taylor 2010; Bohleber 2012. 6 Vgl. unter anderem Spitz 1946; Bowlby 1980/2006; Ogden 1982/1991; Kennel 2013.

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herausfand, buchstäblich ihr Bett und ihr Schlafzimmer verließ und wieder vermehrt am Leben der Familie teilnahm. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei diesem therapeutischen Prozess als unverzichtbar erwies, analoge aggressive Impulse und Phantasien und die dadurch ausgelösten Schuldgefühle und selbstdestruktiven Tendenzen direkt in der Übertragung zu beobachten und zu deuten. So kam es in der dreißigsten therapeutischen Sitzung zu einem heftigen Eklat, weil sich Frau C. nicht an unsere Abmachung gehalten hatte, die Analytikerin zu kontaktieren, falls sie ihre suizidalen Impulse nicht mehr unter Kontrolle habe. Sie hatte stattdessen den psychiatrischen Notfalldienst beansprucht. Gemeinsam konnten wir schließlich verstehen, dass Frau C. in der Übertragung zu mir ihre Erfahrung wiederholte, dass sie – in ihrer Erinnerung – von ihrer Mutter in Notsituationen kaum Hilfe erhalten hatte. Es erwies sich als therapeutisch wichtig, dass sie wahrnehmen konnte, dass in ihrer bewussten Intention, die Analytikerin schonen zu wollen, auch aggressive Impulse enthalten waren, das helfende Gegenüber aktiv wegzustoßen. Nach einer langen Phase des Durcharbeitens spürte Frau C. vermehrt ihre eigenen aggressiven Impulse in Konfliktsituationen und damit in Zusammenhang stehende Schuldgefühle und selbstde­ struktive Tendenzen.

3.2 Scham und narzisstische Vulnerabilität 7 Im Gegensatz zu der eben skizzierten klassischen, triebtheoretischen Psychodynamik betonen Kohut (1971/1973) und andere, dass häufig nicht die Schuldgefühle zu den zentralen Motiven gehören, die einer Depression zugrunde liegen, sondern Schamgefühle und narzisstische Verletzbarkeit. Kohut (1971/1973) weist auf die gestörte narzisstische Selbstwertregulation dieser Patienten hin, bedingt durch ein unreifes Selbst, Selbst- und Objektideal und Über-Ich, welche zu den bestimmenden Komponenten gehören, die eine Depression auslösen. Gefühle der Scham, der Selbstentwertung und der narzisstischen Entleerung stehen nach dieser selbstpsychologischen Auffassung im Zentrum der Depression. Verschiedene pathologische Entwicklungen führen zu verschiedenen Formen von 7 Siehe Abbildung 2, Bereich oben rechts.

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Depression (zum Beispiel einer manischen, anaklitischen oder Schulddepression). Die selbstpsychologisch orientierten Psychoanalytiker beschreiben damit eine analoge Psychodynamik zu derjenigen, die Alain Ehrenberg (1998/2004) aus soziologischer und wissenschaftshistorischer Sicht entwirft, wenn er Depressive durch ein erschöpftes Selbst charakterisiert. Die narzisstische Vulnerabilität durchzog in der Tat wie ein roter Faden die Lebens- und Leidensgeschichte von Frau C. In ihrem Therapietagebuch schildert sie eindrücklich, wie abhängig sie sich schon in den ersten Lebensjahren von ihrer Mutter fühlte. Ich hing sehr an meiner Mutter, wollte immer in ihrer Nähe sein, sie schob mich weg, wenn ich schmusen wollte. Spielen war auch kein Thema für sie. Sie ist gerne verreist, mal mit meinem Vater, mal ohne, ich und meine Brüder blieben beim Opa zurück. Ich bat meine Mutter immer, nicht zu verreisen. Es war ihr egal. (Tagebuchaufzeichnung von Frau C.)

Ein frühes vulnerables Selbstwertgefühl, verknüpft mit Separations- und Trennungsängsten, spielte bei vielen Erinnerungen an die ersten Kindheitsjahre, die in der psychoanalytischen Behandlung auftauchten, eine große Rolle. Auf Trennungen von der Analytikerin, zum Beispiel an Wochenenden oder bedingt durch Ferien, reagierte Frau C. in den ersten Jahren der Behandlung oft mit einer narzisstischen Entleerung des Selbst, Angst und einer Zunahme der depressiven Symptome: »Ich habe mein Bild von Ihnen verloren, alles war nur noch leer und schwarz – ich war überzeugt, dass Sie mich vergessen haben«, sagte sie in der ersten Stunde nach einer Sommerpause. Ein für unseren Kontext entscheidender Aspekt war, bezogen auf die narzisstische Selbstwertproblematik, das oben erwähnte Migrationsschicksal von Frau C. Wegen des Konkurses des Geschäfts ihres Vaters war die Familie plötzlich zur Migration gezwungen worden. Für Frau C. bedeutete dies ein abruptes Hinausgeworfenwerden aus ihren sozialen Beziehungen und einen Abbruch ihrer schulischen Bildung. Oft erzählte sie in der Therapie, wie traumatisch diese Abbrüche für sie waren. Sie trauerte ihren beruflichen Plänen nach, das Abitur zu machen und zu studieren.

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3.3 Paranoide Ängste und Phobien 8 Eine weitere Konsequenz aus frühen Erfahrungen extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht sind Phobien und Ängste: Das Selbst wird als schwach und impotent erlebt. Schlagen sich diese Erfahrungen im Gedächtnis nieder, so führt dies in der Folge unbewusst dazu, dass alles als gefährlich erlebt wird, was das schwache Ich beziehungsweise Selbst überwältigen kann. In diesem Zusammenhang betonte Melanie Klein (1935/1996), dass eine frühe Verfolgungsangst das psychische Funktionieren, die Ich-Entwicklung, die Objektbeziehungen und schließlich die Realitätsprüfung beeinträchtigt und schließlich in die Depression mündet (vgl. dazu auch Mentzos 1995). John Steiner (2005) spricht vom seelischen Rückzug (psychic retreat) als einem chronifizierten psychischen Zustand des Depressiven mit einer pathologischen Organisation der inneren Objekte und des Selbst. Die Projektion der bedürftigen und aggressiven Teile des Selbst führt zu einer inneren Verarmung und dadurch zu einer sekundären Abhängigkeit von realen Objekten. Diese Dynamik spielte in der Behandlung von Frau C. eine große Rolle. Dazu lediglich ein Beispiel: Assoziationen zu dem oben erwähnten Traum9 führten zu archaischen Verfolgungsphantasien, die durch die schwierige Berufssituation reaktiviert worden waren: Ein »Kollege von der Firma« hatte seinen Job verloren, weil er der Steuerhinterziehung angeklagt worden war. In den Assoziationen zu dem Detail im Traum (»es klingelt …«) stellte sich heraus, dass Frau C. in den letzten Monaten ihrer Berufstätigkeit überzeugt war, dass man auch sie entlassen werde, weil sie – aufgrund der Belastungen durch die Pflege ihrer Mutter – mehrmals ohne Krankschreibung der Arbeit ferngeblieben war. Sie hatte ihre »betrügerischen« Impulse auf den erwähnten Kollegen projiziert, formulierte jedoch, sie sei »nie im Leben« in der Lage, wie ihr Kollege etwas Betrügerisches zu tun. Die Verleugnung entsprechender eigener Impulse hatte aber eine Schwächung, eine Verarmung des Ichs beziehungsweise Selbst zur Folge und war, wie die Assoziationen zeigten, ebenfalls in das Traumbild des abgetrennten Unterleibs der Freundin eingegangen. Zu den eindrücklichsten Veränderungen von Frau C. gehörte 8 Siehe Abbildung 2, Bereich unten links. 9 Siehe die ausführliche Schilderung der Traums oben in Abschnitt 2.2.

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das Wiedergewinnen des Zugangs zu ihren aggressiven Impulsen und ihrer Vitalität: »Nun habe ich ein Stück weit meine temperamentvolle Spanierin wieder, in die ich mich damals verliebt hatte«, stellte ihr Ehemann im letzten Behandlungsjahr einmal anerkennend fest (Zitat von Frau C. in einer therapeutischen Sitzung).

3.4 Identifikation mit einem depressiven Elternteil und Defizite des Ichs 10 Die Identifikation mit einem depressiven Elternteil kann ebenfalls einer Depression zugrunde liegen, wie schon früh in der psychoanalytischen Literatur beschrieben wird.11 Diese frühen Identifikationen erweisen sich als ausgesprochen prägend, werden oft als »falsches Selbst« (Stern 1995/1998) in die depressive Persönlichkeit integriert und können häufig nur in langen Psychoanalysen verstanden und therapeutisch bearbeitet werden. So war in den intensiven Falldiskussionen von zirka einhundert psychoanalyfurt tischen Behandlungen der LAC-Depressionsstudie in Frank­ eindrücklich, wie häufig die Mütter der chronisch Depressiven unter schweren Postpartum-Depressionen gelitten hatten (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber 2008). Wie viele Psychoanalytiker beschreiben, führen die frühen Identifikationen mit einem depressiven Elternteil zu Defiziten im Ich analog zu den Ich-Defiziten der Mutter beziehungsweise des Vaters und begünstigen unter anderem eine Schwäche in der Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit. Sie erschweren zudem befriedigende und emotional korrigierende Objektbeziehungen und begünstigen damit die Entwicklung einer Depression (vgl. dazu unter anderem Fonagy/Target 1997). Wie die kurze biographische Skizze von Frau C. illustriert, ist aufgrund vieler Hinweise aus der Behandlung und den auftauchenden Erinnerungen anzunehmen, dass beide Eltern von Frau C. selbst unter Depressionen litten. Die Mutter war ein traumatisiertes deutsches Kriegskind gewesen, das unter dramatischen Umständen aus dem Osten Deutschlands geflüchtet war und, wie sie Frau C. erst kurz vor ihrem Tod erzählt hatte, miterlebt hatte, wie ihre eigene Mutter und andere Frauen von russischen Soldaten bru10 Siehe Abbildung 2, Mitte und unten rechts. 11 Vgl. dazu unter anderem A. Freud 1965/1968; Hellman 1960/1992; Morrison 1983/1991; Markson 1993; Leuzinger-Bohleber 2015a; 2015b.

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tal vergewaltigt worden waren. Zwar lassen die Affektdurchbrüche der Mutter – auch bedingt durch die Alzheimer-Erkrankung – eher an eine Borderline-Persönlichkeit denken, aber es ist zu vermuten, dass in den ersten Lebensjahren eine Depression dominierte (plötzliches Verschwinden der Mutter, auffallende Empathiestörung in Bezug auf die Kinder, Migräne, massive Schlafstörungen usw.). Der Vater hatte ebenfalls als Kind den Zweiten Weltkrieg erlebt. Sein Vater war schwer behindert und traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrt. Seither hatte er an massiven Affektdurchbrüchen und Alkoholismus gelitten und seine Kinder oft in brutaler Weise geschlagen.

3.5 Trauma und Depression 12 Bleichmar (1996) erwähnt ebenfalls den Einfluss traumatischer äußerer Realitäten bei der Genese von Depressionen.13 Dennoch habe ich in verschiedenen früheren Arbeiten diskutiert, dass der Zusammenhang zwischen Depression und Trauma zwar in neueren psychoanalytischen Arbeiten vermehrt auftaucht, aber bisher in der psychoanalytischen Literatur eher unterschätzt wird.14 Wie schon erwähnt, stellte sich als unerwartetes Ergebnis heraus, dass auffallend viele der chronisch Depressiven der LAC-Studie schwere Kindheitstraumatisierungen erlebt hatten. Den Selbsteinschätzungen der Patienten im Child-Trauma-Questionnaire zufolge haben 75,6 Prozent der Patienten Kindheitstraumatisierungen erlebt, wobei emotionaler Missbrauch (60,7 Prozent) und emotionale Vernachlässigung (51,9 Prozent) die häufigsten Traumatisierungen darstellen. Ein Viertel aller Patienten waren Opfer eines sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit. 76 Prozent der Patienten haben multiple Traumatisierungen erlebt. Diese unerwartete Häufung von schwer traumatisierten Personen in der Stichprobe der LAC-Studie belegt den engen Zusammenhang zwischen chronischer Depression und Trauma. Nach Einschätzungen der behandelnden Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker ist die An12 Siehe Abbildung 2, Mitte links. 13 Vgl. dazu unter anderem Winnicott 1965/1974; Balint 1968/1970; Baranger et al. 1988. 14 Varvin 2003; Leuzinger-Bohleber 2005; 2015a; 2015b; 2018; Leuzinger-Bohleber et al. 2013; Negele et al. 2015.

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zahl der schwer traumatisierten Patienten sogar noch höher (vgl. dazu Negele et al. 2015). Diesem Befund kommt meiner Meinung nach besonders aufgrund neuerer Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Epigenetik eine hohe Relevanz zu, worauf aber in diesem Rahmen nur kurz hingewiesen werden kann. Inzwischen ist bei der Depression von einer genetischen Vulnerabilität auszugehen (vgl. dazu unter anderem Böker/Seifritz 2012). Doch belegen erste epigenetische Studien, dass diese genetische Veranlagung nur dann zu einer depressiven Erkrankung führt, wenn das Individuum gleichzeitig eine frühe Traumatisierung erlebt hat (vgl. dazu auch Leuzinger-Bohleber/Fischmann 2015).15 Die traumatischen Separationserfahrungen und der sexuelle Missbrauch von Frau C. wurden schon mehrfach erwähnt. Dies sind bekanntlich Traumatisierungen, die, wie alle klinisch-psychoanalytischen Forschungen zeigen, gravierende Langzeitfolgen haben (vgl. Leuzinger-Bohleber/Burkhardt-Mußmann 2012). Die 15 So zeigten Caspi et al. (2003) in einer viel beachteten Studie, dass frühe Separationstraumata das kurze 5-HTTLPR-Allel triggern, das die relevanten Neurotransmitter reguliert und dadurch eine depressive Erkrankung evoziert. Falls kein frühes Trennungstrauma vorliegt, entwickeln sich die Individuen mit einer nachgewiesenen genetischen Vulnerabilität unauffällig und erkranken nicht an Depressionen – ein Befund, der zurzeit noch heftig kontrovers diskutiert wird (vgl. dazu unter anderem Kaufman et al. 2006; Risch et al. 2009; Rutter 2009). Steven Suomi (2011), ein Schüler von Harlow, konnte dank neuer Untersuchungsmethoden auch auf neuromolekularer Ebene den Einfluss früher Separationstraumata bei Rhesusaffen belegen. Eine frühe Trennung vom Muttertier löste Depressionen, Aggressionen und Ängste sowie massiv gestörtes Sozialverhalten aus. Ohne eine frühe Trennung entwickelten sich die Äffchen jedoch trotz der nachgewiesenen genetischen Vulnerabilität normal (vgl. dazu auch Medina 2010).    Für Psychoanalytiker relevant ist sein Nachweis, dass das Triggern des 5-HTTLPRAllels gestoppt werden konnte, wenn die Äffchen nach einigen Tagen wieder zu einem fürsorglichen Muttertier zurückgegeben wurden: Analog den klassischen Hospitalisierungsstudien von René Spitz konnte die psychotoxische Wirkung der Traumatisierung abgemildert werden, sofern die Trennung nicht allzu lange dauerte und ein einfühlsames Ersatzobjekt gefunden werden konnte. Robertson und Robertson replizierten seine Befunde in den 1970er Jahren mit ihren berühmten Studien (Robertson 1969). Neuere Studien von Gapp et al. (2016), einer Forschergruppe in Zürich, bestätigen übrigens die epigenetischen Ergebnisse von Suomi anhand von Mäuseexperimenten.

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Schwäche in der Abgrenzung zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen, aber auch die massiven Störungen im Sexualverhalten von Frau C. gehören dazu und begünstigten die Flucht in die chronische Depression. Auch im Hinblick auf die erlittenen Traumatisierungen erwies es sich als unverzichtbar, deren Folgen einerseits möglichst detailliert bezogen auf die konkret erlebten Missbrauchs­ erfahrungen zu verstehen, sie aber andererseits auch in der Übertragungsbeziehung zur Analytikerin durchzuarbeiten (vgl. die oben zusammengefasste Sequenz). Auch die in dieser Arbeit fokussierte Schwäche in der Abgrenzung zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen sowie zwischen der inneren und äußeren Realität, bedingt durch die chronisch drohende Überflutung mit embodied memories an eigene Traumatisierungen, gehört zu möglichen Folgen des jahrelangen sexuellen Missbrauchs. So litt Frau C. immer wieder unter massiven Schlafstörungen und versuchte sich durch das Fernsehen abzulenken, ertrug aber weder Nachrichten noch irgendwelche »belastenden Sendungen«. Daher ließ sie sich von ihrem Mann Kinderfilme (zum Beispiel von Astrid Lindgren) besorgen, die sie zusammen anschauen konnten. »Diese Filme erinnern mich weder an mein eigenes Elend noch an das Elend der Welt« (Frau C.).

4. Frühes Trauma und embodied memories Wie in anderen Arbeiten ausführlich diskutiert, öffnen embodied memories in psychoanalytischen Behandlungen oft Türen zu unbewusst gewordenen Traumatisierungen der Patienten, so dass auf diese Arbeiten hier verwiesen werden kann (Leuzinger-Bohleber 2015a; 2018; Bohleber/Leuzinger-Bohleber 2016). Im Kontext der Argumentation dieses Beitrags ist entscheidend, dass embodied mem­ories immer die Wahrnehmung aktueller Realitäten bestimmen und umgekehrt durch diese hervorgebracht werden können. Einer der Theoretiker, die diese Konzepte als Erste beschrieben haben, ist der Nobelpreisträger für Immunologie G. E. Edelman (1987/1993). Er berücksichtigt konsequent die Prinzipien selbstorganisierender (biologischer) Systeme und wendet Erkenntnisse aus der Phylogenese und der Ontogenese des Menschen systematisch auf die Funktionsweise des Gedächtnisses an. Lebende Systeme 331

sind (im Gegensatz zu einem Computer mit statischer Hardware) zu einer dauernden Adaptation an ihre Umwelt gezwungen und haben daher selbstregulative Mechanismen entwickelt, um sich in Interaktion mit den momentanen Erfordernissen einer Situation ständig entsprechend verändern zu können. Daher ist es ein zentrales Ziel der Gedächtnistheorie Edelmans, eine plausible Erklärung für die funktionale Adaptationsfähigkeit zu finden. Er bezieht sich dabei unter anderem auf Selektionsprozesse überlegener Varianten in einer großen Population von leicht divergierenden Proteinstrukturen bei Immunreaktionen und spricht in diesem Zusammenhang von einem »selektiven Erkennungssystem«.16 Am Beispiel der Immunreaktion diskutiert Edelman, dass Gedächtnis nicht ohne eine Interaktion mit der Umwelt, aber auch nicht ohne eine ständige (adaptive) Veränderung im Organismus (embodiment) selbst zu denken ist. Zudem werden die adäquatesten Proteinstrukturen (im Gegensatz zu identischen Mustern in einer Computerspeicherung) aus einer großen Vielfalt vorhandener Zellen ausgesucht, wodurch automatisch Kategorien (zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst) entstehen: Sie werden weder von außen vorgegeben noch innerlich statisch gespeichert. Genau diese Aspekte von Gedächtnis werden nun in Gedächtnistheorien der Embodied Cognitive Science im Gegensatz zu klassischen Konzepten betont: die Relevanz der System-UmweltInteraktion für das Gedächtnis, das embodiment, das relativ unpräzise, aber adaptive Inbeziehungsetzen von neuer und früherer Information und die ständig sich verändernde, automatische Rekategorisierung. Wie Clancey (1993) in seiner Definition betont, wird Gedächtnis analog zu Prozessen von biologischen Systemen als Fähigkeit definiert, neurologische Prozesse so zu organisieren, dass sie Wahrnehmungen und Bewegungen in analoger Weise mit16 Seine These ist, dass das Immunsystem aufgrund von Erfahrung lernt, das heißt über »Gedächtnis« verfügt, aber nicht, indem es Wissen statisch (analog zu einem Computer) speichert beziehungsweise Erkennungsprogramme für bestimmte Informationsmuster (Antigene) aufbaut, sondern indem es seine Zellstruktur durch die frühere Erfahrung verändert (mehr Antikörper produziert). Das »Gedächtnis« entsteht also durch eine Interaktion mit der Umwelt (das eindringende Antigen »selektiert« aus einer Vielzahl möglicher Proteinstrukturen die am besten passende und löst dadurch deren Vermehrung aus), die eine Veränderung des Organismus (die Anzahl bestimmter Zellen) zur Folge hat.

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einander in Beziehung setzen, das heißt diese koordinieren und so kategorisieren, wie dies in früheren Situationen geschah. Zusammenfassend wird Gedächtnis daher in der Embodied Cognitive Science verstanden als ein aktiver, kreativer Vorgang des gesamten Organismus, der auf sensomotorisch-affektiven Koordinationsprozessen und damit in Zusammenhang stehenden automatischen, sich ständig adaptierenden Rekategorisierungsprozessen beruht. Gedächtnisleistungen wie Erinnerung sind daher keine rein mentalen Prozesse, sondern werden immer durch aktuell, vorwiegend unbewusst ablaufende körperliche Prozesse in der gegenwärtigen Interaktionssituation hervorgebracht. Für die Psychoanalyse besonders interessant ist zum Beispiel die konzeptuelle Integration von embodied simulation und Studien zu den Spiegelneuronen, die Gaensbauer (2011) vorlegt, um das reenactment frühester Traumatisierungen zu erklären. Mit drei eindrücklichen Fallbeispielen illustriert Gaensbauer, dass auch sehr kleine Kinder (der zweieinhalbjährige Kevin, die vier Monate alte Jennie und die dreieinhalb Jahre alte Margaret) erlittene oder beobachtete Traumatisierungen, wie zum Beispiel den Tod des Vaters, der in einem Kampf niedergestochen wurde (Kevin), in ihren Spielen präzise wiederholen. Er erklärt diese embodied memories durch die Funktionsweise der Spiegelneuronen und embodied simulation und verweist auf ähnliche Erklärungsversuche wie zum Beispiel die nachträgliche Imitation (deferred imitation; Gaensbauer 2011). Wie diese Beispiele illustrieren, können mit dem Konzept des embodiment frühe Traumatisierungen und deren determinierende Wirkung in neuer Weise verstanden werden (vgl. Leuzinger-Bohleber 2008; 2014a). Wie auch die kurz erwähnten epigenetischen Studien zeigen, triggern diese frühen Beziehungserfahrungen die genetische Anlage des Säuglings in spezifischer Weise und erhalten sich im Sinne des embodiment im Körper. Dadurch bestimmen sie späteres Denken, Fühlen und Handeln grundlegend. Sie bilden die Basis der weiteren psychischen und somatischen Entwicklung, und zwar nicht nur, wie dies bisher oft verstanden wurde, als nonverbales Kommunikationsverhalten, sondern als basal konstitutive Elemente psychischer Prozesse ganz allgemein. Embodiment heißt daher nie einfach nur »nonverbal« oder »körperlich ausgedrückt«, sondern bedeutet, dass im Hier und Jetzt einer neuen Interaktionssituation durch sensomotorische Koordi333

nation die Analogien zu früheren Situationen körperlich erkannt werden und dass dadurch die Interpretation einer aktuellen Problemlösungssituation bestimmt wird. Diese Prozesse spielen sich nicht nur im Gehirn, sondern vor allem im Körper, in den Sinneswahrnehmungen ab; sie wirken in komplexer unbewusster Weise zusammen und bestimmen Denken, Fühlen und Handeln. Dabei folgen sie den Koordinationen, wie sie sich in früheren Interaktionssituationen abgespielt haben: Embodiment ist daher eine Perspektive, die immer den Entwicklungsaspekt berücksichtigt. Dieses Verständnis erweist sich besonders für das Entschlüsseln von unbewussten Erinnerungen an frühkindliche Traumatisierungen in der Übertragungssituation als ausgesprochen fruchtbar.17 Die These dieses Beitrags ist, dass die körperliche (embodied) Konfrontation von traumatisierten Menschen mit Sinneseindrücken von aktuell stattfindenden Traumatisierungen in Zeiten des global unrest unvermeidlich – in dem eben skizzierten Sinne – zu embodied memories an ihre eigenen Frühtraumatisierungen führen. Um dies nochmals vereinfachend auszudrücken: Durch die tagtäglichen, aktuellen Konfrontationen mit Bildern, Berichten, Tonaufnahmen in den Medien usw. entsteht für die traumatisierten Menschen (automatisch) eine System-Umwelt-Interaktion, die sie mit ähnlichen Stimuli aus verschiedenen Sinneskanälen konfrontiert wie die früheren traumatischen Situationen. Diese evozierten, teilweise unbewusst ablaufenden Erinnerungen an eigene unerträgliche Traumatisierungen sind mit den entsprechenden überflutenden Affekten verbunden und potenzieren daher die aktuelle Überflutung durch die Medienberichte usw. Daher wird als eine Art psychischer Notmechanismus eine (unbewusste) Flucht in den depressiven Rückzug in Gang gesetzt, oft verbunden mit einer Flucht in einen dissoziativen Zustand, eine Art »Totstell-Reflex«, als Schutz gegen Überflutungen durch unerträgliche Wahrnehmungen und Erinnerungen.

17 Vgl. dazu Leuzinger-Bohleber 2015a; Bohleber/Leuzinger-Bohleber 2016.

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5. Trauma: ein dominierendes Thema in Zeiten des global unrest? Kurze Zusammenfassung und Ausblick Nach dem Flüchtlingsreport der UN von 2016 waren in der Geschichte der Menschheit noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute: Es sind 65 Millionen, die gezwungen sind, wegen Krieg, Verfolgung oder Hunger ihre Heimat zu verlassen (vgl. unter anderem Leuzinger-Bohleber et al. 2016). In vielen Lebensgeschichten der Patienten der LAC-Studie begegnen wir, wie bei Frau C., den Schatten der kollektiven Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Auch in der DPV-Studie hatte sich in den 1990er Jahren – für uns damals alle sehr überraschend – herausgestellt, dass 62 Prozent aller Patienten, die in den 1980er Jahren bei DPV-Analytikern in Behandlung gewesen waren, traumatisierte deutsche Kriegskinder waren (Leuzinger-Bohleber et al. 2002). Daher ist anzunehmen, dass die Bilder von Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken, durch Schlepperbanden nach Europa gelotst werden oder in grauenvollen Flüchtlingslagern an der syrisch-türkischen Grenze oder in Libyen unterkommen, bei vielen Menschen in Deutschland embodied memories an das individuelle, familiäre oder kollektive Schicksal hervorbringen. Verbunden damit sind oft aggressive Impulse der Abgrenzung und des Widerwillens, sich mit dem Elend der Traumatisierten zu beschäftigen, und dadurch ausgelöste Schuldgefühle. Wie oben diskutiert, ist dies ein klassischer Pfad, der in die Depression mündet. Angesichts einer ständigen Überflutung mit Bildern aktuell stattfindender Traumatisierungen liegt ein Rückzug in Resignation und chronische Depression bei frühtraumatisierten Individuen nahe. Kaum einer der einhundert Patienten der LAC-Studie, die wir in den vergangenen sieben Jahren in den wöchentlichen klinischen Konferenzen besprachen, war in irgendeiner Weise politisch aktiv – die meisten hatten sich in ihr privates depressives Elend zurückgezogen. Bei vielen Patienten in psychoanalytischen Langzeittherapien fanden ähnliche Prozesse wie bei Frau C. statt. Erst durch die Durcharbeitung der Traumatisierungen in der Übertragungsbeziehung und das Entdecken der bisher unbewusst wirksamen 335

Überzeugungen ließ sich der anfangs erwähnte »Eisblock« zum Schmelzen bringen und die chronisch dissoziativen Zustände des psychic retreat sukzessiv überwinden. Wie Frau C. konnten viele Patienten ihre innere Aktivität und die eigene Lebendigkeit wiedergewinnen sowie eine Unterscheidung zwischen echten Selbstanteilen und problematischen, unbewussten Identifikationen mit früheren Bezugspersonen entwickeln. Wie Frau C. begannen sich daher einige der Patienten sozial zu engagieren – ein persönlicher Eindruck aufgrund der erwähnten wöchentlichen Fallkonferenzen, den wir noch genauer empirisch untersuchen müssen. Das Gefühl eines aktiven Selbst auch angesichts real existierender Ohnmacht und Hilflosigkeit im individuellen und gesellschaftlichen Bereich gehört zu den psychoanalytischen Kriterien psychischer Gesundheit, besonders bei traumatisierten, depressiven Patienten. Erkenntnisse zu solchen komplexen psychodynamischen Hintergründen der Entstehung von chronischen Depressionen, den Kurz- und Langzeitfolgen von frühen Traumatisierungen, aber auch zu den zirka zehn Prozent der heutigen Bevölkerung, die an Depressionen leiden und einen psychischen Rückzug einem sozialen und gesellschaftlichen Engagement vorziehen (müssen), mögen zum spezifischen Beitrag der Psychoanalyse gehören, den sie in die aktuell stattfindenden interdisziplinären Diskurse zum Umgang mit dem global unrest einbringen kann. Wie exemplarisch illus­ triert wurde, verfügt die heutige pluralistische Psychoanalyse über einen Reichtum an Konzepten und Theorien, um sich der Komplexität unbewusster seelischer Prozesse im Individuum und in der Gesellschaft anzunähern. So provokativ und anregend die Thesen von Alain Ehrenberg (1998/2004) zum erschöpften Selbst auch waren, so besteht dabei doch die Gefahr einer Simplifizierung. Wie die Falldarstellung von Frau C. illustriert, sind zwar Schamgefühle sowie narzisstische Entleerungen und Insuffizienzgefühle bei heutigen depressiv Erkrankten unbestreitbar. Doch schließt dies nicht aus, dass sie gleichzeitig nach wie vor unter psychisch schlecht integrierten aggressiven Impulsen nach Verlusterfahrungen, dementsprechenden Schuldgefühlen, paranoiden Ängsten und unter Langzeitfolgen von frühen Traumatisierungen leiden. Wie diskutiert, führen viele Pfade in die chronische Depression. Mit der Sensibilität für solche Komplexität und der Forderung nach differenzierten, pluralistischen Theorieansätzen können Psycho336

analytiker interdisziplinäre Diskurse und Forschungsprojekte bereichern. Methodisch beruht diese Arbeit auf der sogenannten »klinischpsychoanalytischen« Forschung, das heißt auf der systematischen Beobachtung von einzelnen Patienten, oft über einige Jahre hinweg (vgl. dazu unter anderem Leuzinger-Bohleber 2015c). In der LAC-Studie werden die Ergebnisse dieser klinisch-psychoanalytischen Forschung mit extraklinischer (das heißt außerhalb der klinisch-psychoanalytischen Situation stattfindender) Forschung verbunden, das heißt mit Selbst- und Fremdeinschätzungen der Patienten mittels standardisierter Fragebögen, aber auch mit detaillierten Analysen von Videoaufzeichnungen von Interviews, wie sie im Rahmen der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) entwickelt wurden. Die auffallende Häufung schwer traumatisierter Patienten in der LAC-Studie ist ein exemplarisches Beispiel extraklinischer Forschung (das heißt von Daten, die mithilfe des Child-Trauma-Questionnaire ermittelt wurden). Ergebnisse beider Forschungsstrategien wurden in diesem Beitrag bezugnehmend auf die Arbeiten von Hugo Bleichmar mit konzeptuellen Überlegungen zur Psychodynamik der Depression verbunden. Wie jedes andere methodische Vorgehen haben auch diese psychoanalytischen Forschungsstrategien ihre Chancen und ihre Grenzen. Zu den Chancen gehören unter anderem die intensiven, detaillierten Feldbeobachtungen an einzelnen Individuen sowie die Erforschung komplexer biographischer Pfade, die in die chronische Depression führen. Grenzen betreffen unter anderem den Anspruch auf Generalisierbarkeit der Beobachtungen und die Gefahr einer Vermischung verschiedener Thesen und Argumentationsebenen. So muss weiter diskutiert und untersucht werden, ob die hier zur Diskussion gestellten Überlegungen lediglich für eine Gruppe von psychisch Kranken, eben chronisch Depressiven in Deutschland, gelten oder auch auf andere Bevölkerungsgruppen in anderen Ländern zutreffen. So lädt zum Beispiel das Buch des Philosophen Achille Mbembe Kritik der schwarzen Vernunft (2017) zu einem solchen interdisziplinären Diskurs ein. Als Philosoph mit Kenntnissen vor allem der französischen Psychoanalyse behandelt er viele Themen, die in diesem Beitrag aus klinischer Sicht skizziert wurden: die Bedeutung einer Annäherung an die »historische Wahrheit« der erlitte337

nen Traumatisierung im therapeutischen Prozess; den depressiven Rückzug in eine egozentrisch anmutende, eingefrorene innere Welt des Depressiven mit einem Verlust der Empathie für die eigenen Gefühle, Impulse und Sehnsüchte, aber auch für diejenigen der Anderen; die depressive Position mit der Anerkennung eigener Anteile an Aggression, Wut und Hass, von Reparation und Wiedergutmachung für den therapeutischen Transformations- und Heilungsprozess (nach Winnicott 1974) usw. Die Mikroanalysen der klinischen Psychoanalyse mit Mbembes kulturkritischen Ausführungen zu verbinden könnte einen herausfordernden interdisziplinären Dialog zum global unrest und seinen Folgen initiieren. Es gibt also nur eine Welt, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, und diese Welt ist alles, was ist. Gemeinsam ist uns damit auch das Gefühl oder der Wunsch, in vollem Umfang Mensch zu sein. Der Wunsch nach der Fülle des Menschseins ist etwas, das wir alle miteinander teilen. Gemeinsam ist uns übrigens in immer höherem Maße auch die Nähe des Fernen. Denn wir teilen uns nun einmal, ob wir das wollen oder nicht, diese Welt, die alles ist, was ist, und alles ist, was wir haben. (Mbembe 2017: 323)

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Martin Heinze und Samuel Thoma Soziale Freiheit und Depressivität Im Rahmen dieses Bandes werden Zusammenhänge von Depression und Gesellschaft interdisziplinär untersucht. Auch der vorliegende Beitrag geht diesen Zusammenhängen nach, allerdings nicht indem er das Subjekt für überfordert erklärt, insofern äußere Ansprüche seine Leistungsfähigkeit sprengen: Wenn man von einer gesellschaftlich bedingten Zunahme depressiver Störungsbilder ausgeht, so greift unseres Erachtens eine einfache Kontrastierung von gesellschaftlichen Anforderungen und individueller Leistungsfähigkeit zu kurz. Vielmehr argumentieren wir im Folgenden dafür, dass depressives Leiden und Überforderungserleben vor allem aus einem gestörten Sozialisationsprozess des einzelnen Menschen als konkreter Person hervorgeht. Dieser Sozialisationsprozess führt heute im Rahmen der neoliberalen Wirtschaft dazu, dass Menschen ihre individuelle Freiheit als absolut und losgelöst von ihren sozialen Bedingungen verstehen. Eine solche Überhöhung individueller Freiheit bedingt nicht nur die Zunahme depressiven Leidens, sondern häufig auch den Ausschluss aus sozialen Prozessen. Praktisch folgern wir daraus, dass psychiatrische Therapie vor allem die konkreten Bedingungen individueller Freiheit in den Blick nehmen sollte, um so neue Möglichkeitsräume gemeinschaftlichen Handelns zu schaffen. Diesen Gedankengang entfalten wir in sechs aufeinander aufbauenden Abschnitten.

1. Einleitung: Depression und Burn-out Trotz mancher Studien über die vergleichsweise hohe Lebenszufriedenheit in der gegenwärtigen Gesellschaft (Raffelhüschen/Krieg 2017) finden sich doch zahlreiche Belege, die auf ein problematisches Verhältnis der Menschen zu dieser Gesellschaft hindeuten: Zu nennen ist etwa die vielfach festgestellte Zunahme von depressionsbedingten Krankheitstagen (Knieps/Pfaff 2017) oder die Überzeugung, dass es der nächsten Generation schlechter als der jetzigen 344

gehen werde.1 Mit Axel Honneth lässt sich in diesem Zusammenhang von einem »richtungslosen Unbehagen« sprechen (Honneth 2017: 15). Richtungslos ist dieses Unbehagen nach Honneth, weil wir uns zwar der problematischen sozialen Verhältnisse, in denen wir leben, bewusst seien, aber doch keine Lösung für sie erkennen können. Aus psychiatrischer Sicht deutet die Zunahme depressiver Verstimmungen in der klinischen Versorgung auf dieses Unbehagen hin. Ob sich in der genannten Zunahme der Krankheitstage wirklich eine gesteigerte Inzidenz depressiver Erkrankungen spiegelt oder eher eine gesteigerte Sensibilität für dieses Thema beziehungsweise auch eine veränderte Selbstwahrnehmung Einzelner in der Gesellschaft, muss hier offen bleiben. Psychopathologisch ist zunächst zu unterscheiden zwischen schweren, früher als endogen bezeichneten und eher leichten, neurotischen Depressionen. Schwere Depressionen unterscheiden sich qualitativ vor allem durch eine ausgeprägte Antriebshemmung und das tiefgreifende Gefühl der Gefühllosigkeit von leichten Depressionen, in denen sich lediglich eine depressive Verstimmung, das heißt eine niedergeschlagene und freudlose affektive Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, zeigt. Im Folgenden befassen wir uns vor allem mit der Zunahme der Depressionen vom letzteren Typus. Die öffentliche Diskussion über die Zunahme depressiver Störungen verbindet sich mit der These, dass unsere Lebensbedingungen möglicherweise pathogen seien und das Individuum überfordern. An Erklärungsmodellen fehlt es in der aktuellen Debatte nicht. So rechnet Hartmut Rosa Burn-out ebenso wie ADHS zu den »geschwindigkeitsinduzierten Krankheiten«, die auf die technische Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse und allgemeiner die Beschleunigung des sozialen Wandels zurückzuführen sind (Rosa 2005: 84). Die Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit nähmen zu, ebenso die Veränderungsgeschwindigkeit, verbunden mit zunehmender Erwartungsunsicherheit und der subjektiven Erfahrung von Zeitnot und Stress. Die Erlebnisse blieben episodisch, ohne nachhaltige Erinnerungsspuren, resultierend in einem allgemeinen Schwund von Erfahrung. Neben der Beschleunigung scheint zum Verständnis aber auch das Phänomen der Müdigkeit hilfreich zu sein. Byung-Chul Han 1 Vgl. dazu die Studie Better Future for Next Generation? (Pew Research Center 2014).

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beschreibt unter dem Titel Müdigkeitsgesellschaft das neoliberale Leistungsprinzip und das Scheitern der Individuen daran, die »Unternehmer ihrer selbst« zu sein (Han 2010: 18).2 Nach Han besteht ein »Kollektivplural der Affirmation« und damit verbunden ein Verlust kritischen Denkpotenzials, vor allem aber eine Verflachung der existenziellen Problematik. Mit der Tendenz zur allgemeinen Ökonomisierung der Gesellschaft (Ptak 2007) werde die Vorstellungswelt der neoliberalen Wirtschaft so unmittelbar in das Selbstverständnis der Individuen eingeschrieben, dass diese sich in erster Linie über Leistung und Erfolg definierten. Solchen Beispielen für die Diagnose des kulturellen Zeitgeistes ließen sich weitere anfügen. Ihnen ist die Tendenz gemein, sich an dem vom einzelnen Menschen erlebten Leiden erklärend abzuarbeiten. Besonders deutlich wird diese Tendenz in der Debatte um den Burn-out-Begriff. Dieser Begriff hat zum einen pragmatischpsychotherapeutische, zum anderen arbeitspsychologische Wurzeln. In der ersten Version wird das Problem im Individuum beziehungsweise in dessen unrealistischen Erwartungen gesehen, deren Frustration zu Erschöpfung und Enttäuschung führe (Freudenberger 1974). In der arbeitspsychologischen Deutung des Konzepts wird der Druck äußerer Bedingungen betont, so dass hier (Maslach/Jackson 1981; 1986) Burn-out als »emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und verringerte persönliche Erfüllung im Beruf bei an der Grenze der Leistungsfähigkeit arbeitenden Menschen« (Weimer/Pöll 2012: 16) definiert wird. Beide Ansätze wurden ursprünglich für Menschen in helfenden Berufen entwickelt, rasch aber auf andere Berufsbilder ausgeweitet. Vielen solcher Konzepte ist gemein, dass sie letztlich von einem antipodischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgehen, wobei das Problem entweder auf der einen oder der anderen Seite verortet wird (Farber 2000). Zudem sind diese Konzepte voraussetzungsreich: So erhofft der Betroffene in Freudenbergers Konzept entweder zu viel für sich oder er versteht nicht, dass sich seine Möglichkeiten nur in den vorgegebenen Begrenzungen der Realität verwirklichen lassen. Bei Maslach und Jackson ist der Einzelne bezüglich der an ihn gestellten Anforderungen nicht leistungsfähig genug. Aber gibt es angesichts der enormen Anpassungsfähigkeit von 2 »Unternehmer seiner selbst« wurde übernommen von Bröckling (2007).

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Menschen eine allgemein bestimmbare Grenze der menschlichen Leistungsfähigkeit? Eskalieren die Ansprüche von außen wirklich, und welche Ursachen kommen dafür infrage? Und welche Umstände führen dann konkret dazu, dass Menschen sich als überfordert erleben? Aus diesen Fragen wird ersichtlich, dass eine antipodische Auffassung von Einzelnem und Allgemeinheit nicht zielführend ist. Das Wettrennen zwischen Hase und Igel lässt sich mit der Dichotomie der Einzelne und die Gesellschaft nicht fassen; vielmehr wird man ihr dialektisches Verhältnis untersuchen müssen. Als These formuliert: Die Überforderung Einzelner durch äußere Anforderungen ist ebenso gesellschaftlich konstituiert, wie wiederum solche Anforderungen aus dem Erleben und Handeln einzelner Menschen innerhalb sozialer Kontexte resultieren.

2. Das »Selbst« als Substantiv und die überzogene Individualität in der Moderne Wir möchten diesen Teil mit einem Fallbeispiel einleiten: Der 63-jährige Herr L. begegnete uns erstmals, nachdem er wegen einer Kohlenmonoxid-Intoxikation in suizidaler Absicht intensivmedizinisch behandelt worden war. Wir sahen einen verzweifelten, schwer depressiv wirkenden Patienten mit stark reduzierter Mimik und weitgehend fehlender affektiver Schwingungsfähigkeit; er fühle nichts als Leere. Er berichtete von hartnäckiger Appetitlosigkeit, Durchschlafstörungen und Alpträumen sowie von einem massiven Überforderungserleben: »Alles wächst mir über den Kopf.« Seit einem Herzinfarkt wenige Monate zuvor habe er erstmalig in seinem Leben psychische Symptome entwickelt, nämlich Angstzustände und wiederkehrende Herzbeschwerden. Er selbst könne sich daran nicht mehr erinnern. Herr L. arbeitet seit mehr als vierzig Jahren in einer Justizbehörde als Sachbearbeiter. Er gibt an, immer leistungsorientiert gewesen zu sein. Die behördlichen Aufgaben habe er bis zum Ausbruch der Depression immer übererfüllt, wobei wegen des Personalmangels im öffentlichen Dienst die Aufgabenmenge stetig zugenommen habe. Er fahre jeden Tag mit 347

dem Auto zur Arbeit, zweimal eineinhalb Stunden. Er stehe schon um vier Uhr auf, um dem Stau zu entgehen, arbeite dann oft als Erster allein in der Behörde. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, falle ihm schwer, da er in den SBahnen so viel soziales Elend sehe. Er warte auf die Pensionierung und darauf, dann nicht mehr ins Amt zu müssen. Der Gleichförmigkeit seiner Arbeit entspricht auch die immer gleiche Stetigkeit seines sonstigen Lebens. Herr L. lebt in geordneten Verhältnissen mit eigenem Haus im Grünen. Eigentlich habe er ja nichts zu beklagen. In dieser Fallvignette wird ersichtlich, dass man das Leiden von Herrn L. weder als eine rein individuelle noch als alleinige Folge objektiver Arbeitsbelastung oder Überforderung sehen kann, sondern beide Perspektiven verbinden muss. Belastung und fortwährende Anpassungsbemühungen greifen ineinander. Im Leistungswillen des Patienten ebenso wie in seinem Unwillen, sich unangenehmen sozialen Situationen auszusetzen, zeigt sich ein Unvermögen, den eigenen Zustand aus den Widersprüchen seiner Sozialisation heraus zu verstehen und von den gesellschaftlichen Bedingungen her zu begreifen. Eine eher dialektisch geprägte Konzeption des Burn-out hat Alain Ehrenberg in seinen Ausführungen in Das erschöpfte Selbst (Ehrenberg 2008)3 vorgelegt. Er geht dabei von widersprüchlichen Anforderungen an das Selbstsein aus, die dem Sozialisationsprozess entstammen. Der fehlerhafte deutsche Titel des »erschöpften Selbst« legt nahe, dass es sich bei diesem um eine Art Ding mit bestimmten Energiereserven handele, so wie etwa eine Batterie oder eine Quelle, die erschöpft sein kann. Erschöpfung meint hier jedoch keinen Gegenstand, sondern eigentlich einen bestimmten Erfahrungszustand beziehungsweise eine bestimmte psychische Funktionsweise. Dass in der Diskussion um die Zunahme depressiver Phänomene dennoch häufig vom »Selbst« gesprochen wird, mag daran liegen, dass einige psychologische Schulen ein »wahres Selbst« als Antwort auf die Orientierungslosigkeit Einzelner versprechen. Zu Recht hält Michael Theunissen Aussagen über ein »wirkli3 Der französische Titel La fatigue d´être soi (»Die Erschöpfung, man selbst zu sein«) spricht nicht von einem Selbst, sondern lässt die Aufgabe und Belastung des Selbstseins anklingen.

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ches Selbst« für problematisch, ebenso wie schon den Rekurs auf das Selbst überhaupt. Das Selbst ist ihm zufolge keine vorgegebene Substanz, die zu sich kommen müsse, sondern vielmehr ein Selbstverhältnis, in dem der Mensch sich selbst als konkretes, auf einen sozialen Kontext bezogenes Wesen versteht und realisiert (Theunissen 1991a).4 Der heute verbreitete Begriff des »Selbst« verleitet jedoch dazu, den für die Rekonstruktion äußerer Anforderungen notwendigen sozialen Kontext auszublenden. Um die Abhängigkeit des Einzelnen in seinem Selbstsein vom sozialen Kontext besser in den Blick zu nehmen, ziehen wir daher im Folgenden den Ausdruck Person vor. Überforderung besteht aus dieser Sicht nicht allein darin, dass äußere Ansprüche unvermittelt »zu viel« für einen Einzelnen sind. Vielmehr ist die Anfälligkeit für Überforderung und depressive Verstimmung im Wechselspiel des Einzelnen mit seiner sozialen Umwelt und damit letztlich im Prozess der jeweiligen Personwerdung zu suchen: in der Sozialisation. Zum Verständnis dieser Sozialisation scheint eine sich ausschließlich auf die technischen und ökonomischen Entwicklungen fokussierende Argumentation nicht hinreichend zu sein. Der ständige Wechsel von Betriebssystemen oder die Umstellung auf Smartphones scheinen die meisten Menschen nicht an die Grenze ihrer Belastbarkeit zu bringen. Wenig plausibel ist auch die Annahme, dass ein Zuviel an Informationen dazu führt, dass man sie irgendwann nicht mehr verarbeiten kann. Solche landläufigen Annahmen suggerieren, dass der Mensch wie ein Computer funktioniere, dessen Festplatte irgendwann voll sei. Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es jedoch Hinweise, dass der Mensch sich an eine Zunahme von Informationen durchaus anpassen kann. Sinnvoller erscheint uns demgegenüber die These, dass es durch den beschleunigten sozialen Wandel zum drohenden oder tatsächlichen Ausschluss von Individuen aus bestimmten Sphären der Gesellschaft kommt. Zumindest ist empirisch belegbar, dass die Unsicherheit von Arbeitsverhältnissen zu einer erhöhten Inzidenz von depressiven Verstimmungen führt.5 Es geht somit weniger um 4 Lohnend scheint uns ein Vergleich von Theunissens Erörterung des Selbstverhältnisses mit heutigen phänomenologischen Selbstkonzepten, worauf hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann (vgl. Zahavi 2008). 5 Berichtet wird von höheren Wahrscheinlichkeiten (Odds-Ratios von >2) für den

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gesellschaftliche Anforderungen als um die Ein- und Ausschlussprozesse bezüglich der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In einem nächsten Schritt gilt es dann zu bestimmen, wie diese Exklusions- und Inklusionsmechanismen bereits die Art und Weise bedingen, wie sich individuelle Biografien ausformen und welche Vorstellungen sich beim Einzelnen bezüglich seiner eigenen Individualität einstellen. Die Logik dieser Mechanismen wiederum entspringt einer Gesellschaft, deren Konstruktion von Individualität sich in erster Linie an der Verwertbarkeit des Einzelnen orientiert.6 Der Versuch, individuelle Depressivität und gesellschaftliche Phänomene zusammenzudenken, stellt uns somit vor allem vor die Aufgabe, den Vermittlungszusammenhang von Einzelnem und Allgemeinem angemessen begrifflich zu erfassen. Statt nur die Überforderung in den Blick zu nehmen, erscheint es angemessener, von einer zugrundeliegenden »Haltlosigkeit« bei der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu sprechen. Diese Begriffe verweisen dann auf eine andere Dimension der Betrachtung, nämlich die der Entfaltung der eigenen Biographie, deren Gelingen nicht zuletzt Orientierung und feste Ankerpunkte erfordert. Die Psychopathologie hat, sofern sie sich nicht allzu sehr auf Symptombeschreibung, sondern auf die Symptomgenese konzentrierte, den Prozess der Personwerdung immer schon im Blick gehabt. So heißt es etwa bei dem Psychiater Christian Scharfetter: Was einer von sich persönlich hält, was er von sich weiß, wie er sich in seiner Stellung unter den Menschen fühlt, auffasst und begreift, hängt davon ab, wie er sich in der Gegenwart und im Längsschnitt seiner Lebensentwicklung von anderen Menschen gesehen und angesprochen, in Anspruch genommen erfährt, und was sich im Prozess der Personifikation daraus gestaltet. (Scharfetter 2002: 77)

Die Rede vom konkreten Personsein erlaubt es also weit mehr als die Rede vom Selbst, den gesellschaftlichen Bezug und die jeweiligen Sozialisationsprozesse des Menschen in den Blick zu nehFaktor Arbeitslosigkeit und somit höheren als für die meisten genetischen Auffälligkeiten (Stankunas et al. 2006; Norström et al. 2014). 6 Man könnte auch von »falscher« Individualität sprechen, einer rein zweckdienlichen Individualität zur Durchsetzung der neoliberalen Funktionalität gegenüber einem eher emphatischen, positiven Begriff von Individualität.

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men.7 In der Burn-out-Literatur werden Begriffe wie »Selbst« oder »Selbstverwirklichung« jedoch oft abstrakt aufgefasst. Hintergrund dafür könnte tatsächlich der »Zeitgeist« sein, nämlich der kulturgeschichtliche und philosophische Hintergrund der Neuzeit und die mit ihm gegebene verkürzte Auffassung von Freiheit als nur individuell und nur in Bezug auf ein »Selbstsein«. Dazu bemerkt Michael Theunissen: Die neuzeitliche Philosophie betrachtet Freiheit in einer auf charakteristische Weise verkürzenden Perspektive. Zunächst einmal schattet sie die reale gesellschaftliche Freiheit weithin ab. […] Sie begreift Freiheit fast ausschließlich als Freiheit des Menschen zu sich selbst, als Vermögen individueller Selbstverwirklichung. In der Moderne hat sich als Titel für diese Freiheit der Begriff des Selbstseins durchgesetzt. (Theunissen 1991b: 323 f.)

Zu kritisieren sei »eine Philosophie des Selbstseins, die ausgesprochen oder unausgesprochen voraussetzt, daß der Mensch einzig unter der Bedingung seiner Autonomie er selbst sein könne« (Theunissen 1991b: 325 f.). Die Vorstellung von einem Selbst im Sinne einer vorgegebenen Substanz und damit korrespondierend die Vorstellung einer Freiheit, die losgelöst von ihrer sozialen Begründung allein auf sich selbst bezogen ist, sind eine Erblast der Neuzeit. Die erkenntnistheoretische Wendung in der Folge von Descartes negiert die Tatsache, dass unsere Existenz an eine Welt gebunden ist, und verlegt diese Existenz in die eigene Subjektivität. Hegel reagiert auf diese Entwicklung in seiner Kritik an der Philosophie Kants: Selbstbewusstsein sei nie nur »an sich«. Es bedürfe konstitutiv der Reflexion, einer Spiegelung im Anderen, um auch »für sich«, das heißt überhaupt seiner selbst, bewusst werden zu können. Nur durch Andere, also durch bereits Voraus-Gesetztes, könne der Mensch sich selbst setzen; und ganz bei sich sein könne er nur im Anderen. Hegels Überlegungen zufolge kann es demnach auch keine feststehende menschliche Natur unabhängig von der Vermittlung mit gesellschaftlichen Verhältnissen geben. Menschliche Individuen sind folglich immer schon gesellschaftlich (Erdmann 1864: § 13, 124). Menschen gewinnen für Hegel die konkrete 7 Wir beziehen uns auf Christian Kupkes Bestimmung der Person, die für ihn aus dem »intersubjektiven Austausch mit Anderen« und aus dem »sozialen Austausch mit dem von Mead so bezeichneten generalisierten Anderen« hervorgeht (Kupke 2013).

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Individualität ihres Personseins im Prozess der Personwerdung qua Besonderung. Darunter versteht Hegel die Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem, wobei beide Seiten nur als besondere überhaupt wirklich sind (Hegel 1989: 110). Bezogen auf die Psychopathologie erlaubt somit die Rede von der Person anstelle eines »Selbst«, die konkrete Besonderung des Allgemeinen mit aufzunehmen und so auch das Erleben des »Ausgebranntseins« nicht als feststehende Krankheitsentität zu begreifen. Es ist folglich zu fragen, wie sich die heutigen Gesellschaftsmitglieder als überforderte Personen »besondern«, das heißt sowohl konstituieren als auch konstituiert werden. In dieser Weise hat vor allem Axel Honneth, auf Ehrenberg Bezug nehmend, die Persönlichkeitsentwicklung von Subjekten in der Gegenwart untersucht (Honneth 2008). Diese litten nun an mangelnder sozialer Einbettung ihrer Persönlichkeit, während sie vor hundert Jahren am Konflikt mit repressiven Normen der Gesellschaft gelitten hätten. Damit verortet Honneth unsere Problematik auf dem Gebiet des »sozialen Individualisierungsprozesses« (ebd.: 8). Dieser Prozess müsse hinsichtlich seiner Struktur erkennbar gemacht werden, damit das zur Besonderung führende Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinheit näher bestimmbar werde. Honneth argumentiert, dass das Scheitern der Menschen im Prozess ihrer Personwerdung vorprogrammiert sei, wenn sie diesen Prozess »aus eigenem Antrieb und in vollkommener Selbstverantwortung« (ebd.) vollziehen müssten. Darin liegt eine missverständliche Auffassung der Menschen von sich selbst, nämlich dass sie allererst Individuen seien und erst an zweiter Stelle Mitglieder einer Gemeinschaft. Tatsächlich ist die Individualität ja nicht mit der Geburt vorgegeben, sondern sie entwickelt sich erst durch den Austausch mit Anderen, beginnend mit den Eltern, aber auch durch weitere Interaktionen im sozialen Raum der konkreten Existenz. Mit Honneth lässt sich dann folgern: Der Einzelne ist überfordert, weil bereits seine Sozialisation und Personwerdung in der gegenwärtigen Gesellschaft »gestört« sind. Er überfordert sich selbst – und muss damit auch in manifeste Überforderung geraten –, insofern er sein Personsein oder die Realisierung seiner Subjektivität zu sehr aus einer absolut gesetzten Individualität heraus versteht (vgl. hierzu den Beitrag von Cornelia Klinger in diesem Band). 352

3. (Primäre) Sozialität und Leiblichkeit des Menschen bei Franz von Baader Die konkrete Person steht immer in sozialen Vermittlungsverhältnissen. Sie sind somit konstitutiv für das hier infrage stehende depressive Leiden. Wir deuten die depressive Verstimmung im Folgenden als Freiheitsverlust, nämlich im Sinne eines Verlusts von Möglichkeiten des (Sich-)Erlebens und Handelns einer Person in Bezug auf das soziale Umfeld.8 An dieser Stelle möchten wir die Schilderung von Herrn L. wiederaufnehmen: Der Patient entwickelte zwanghaft anmutende Gedanken, von einem Hochhaus springen zu müssen, wie er in jedem Gespräch berichtete. Dies alles mache er aber mit sich selbst aus. Herr L. ist in zweiter Ehe mit einer 15 Jahre jüngeren Frau verheiratet. Aus der ersten Ehe hat er zwei erwachsene Kinder, die ihren eigenen Weg gehen. Seine Frau unternehme gerne Reisen, die er auch mitmache, aber mehr ihr zuliebe. Auch sie ist Beamtin, steht noch mitten im Berufsleben und in ihrer Karriere. Die dauerhaften Klagen über die verschiedenen Symptome könne sie aushalten – Herr L. äußerte stets die große Sorge, an verschiedenen Erkrankungen zu leiden. Zeitweise treten sehr quälende Obstipationen auf. Eine diesbezügliche Abklärung mit Krankenhausaufenthalt und Magen- und Darmspiegelung ergab ein negatives Ergebnis, man habe nichts gefunden. In den suizidalen Gedanken, die Herr L. mit niemandem teilen will, zeigt sich ein geschwächter Weltbezug gegenüber einem zu starken Eigenbezug. Ebenso äußert sich das Zurückgeworfensein auf sich selbst in der zwanghaften Beschäftigung mit seinen körperlichen Symptomen. Im Folgenden wollen wir das Thema der Sozialität mit dem der Leiblichkeit verbinden und folgen dazu einem 8 Diese Begriffsbildung ist analog zu Wolfgang Blankenburg (1978: 141 f.), für den das Sich-verhalten-Können und das Erleben-Können die zentralen Bezugspunkte der Psychopathologie sind. Wir kommen hierauf in Abschnitt 5 zurück. Auch Theunissen benutzt den Terminus »Nicht-erledigen-Können« als Aspekt der Depressivität (Theunissen 1991b: 251).

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Ansatz des wenig beachteten posthegelianischen Philosophen Franz von Baader. In seiner Erotischen Philosophie begreift Baader Sozialisation und soziale Realität nicht als Addition der primären Realitäten Einzelner, die über den Zwischenschritt der Intersubjektivität schließlich zur Sozialität gelangen. Konkret und besonders sind Menschen ihm zufolge nur als Teile eines sozialen Ganzen, welches nicht bloß Allgemeines ist, sondern gemeinsam verwirklichte Subjektivität und Freiheit. Vernunft realisiere sich dabei insbesondere in gesellschaftlichen Institutionen (Baader 1991: 161-196). Es liegt nach Baader »in der Natur jeder Bewegung der Intelligenz […], sich zu gemeinsamen und zu sozialisieren« (ebd.: 162). Baaders Überlegungen ermöglichen es nun, Depressivität aus der sozialen Besonderung eines Menschen heraus zu verstehen. Dies erfordert insbesondere die Betrachtung der Gestaltungsspielräume von Menschen, die sich aus ihrer konkreten Sozialisation ergeben, das heißt der Bedingungen, unter denen Menschen für etwas frei sein können. Sozialität ist nach Baader die primäre Voraussetzung, Individualität die Konkretisierung dieser Spielräume. Baaders Ansatz erlaubt dann auch die depressive Verstimmung im zeitgenössischen Personsein – durchaus übereinstimmend mit dem klinischen Erscheinungsbild – als eine Hemmung zu beschreiben, und zwar als Hemmung im gesellschaftlichen Geben und Nehmen, von dem ausgeschlossen zu sein – sei es aufgrund eigenen Tuns oder durch politisch bedingte Exklusion – Leiden verursacht: Da übrigens der Mensch als intelligente Creatur nichts lediglich von und für sich vorbringt, sondern das Leben, die Liebe und das Wissen nur empfängt, um es wieder auszuteilen, und lediglich in diesem ungehemmten freien Empfangen und Geben die Kontinuität seines eigenen Seins (seiner Reproduktion) erhält, so muß notwendig jede Hemmung jener Zirkulation als Hemmung seines eigenen Seins sich bemerklich machen, und so sehen wir denn den Menschen, falls er allein (von sich und für sich) nur wissen will, dem selben Idiotismus anheimfallen, welchem er anheimfällt, falls er alleine lieben und die empfangene Liebe in sich beschließen […] will. (Baader 1991: 163)

Wir plädieren nun dafür, psychische Störungen vor allem als Verlust von Freiheitsmöglichkeiten zu deuten, und zwar nicht der Freiheit von Zwängen oder von der Gesellschaft, sondern einer sozialen Freiheit, das heißt einer Freiheit für beziehungsweise zur Gesellschaft 354

und zu sozialem Handeln.9 Folgt man dieser These, dann wäre die Stärkung der Intersubjektivität allein im Sinne dualer Beziehungen als Therapie gegen eine solche Vereinzelung nicht ausreichend. Dialogische Beziehungen im Sinne Bubers können zwar die Überforderung des Einzelnen mildern (Vsevolod 2017). Sie tragen aber der Tatsache nicht genügend Rechnung, dass auch Ich-Du-Begegnungen in einem gesellschaftlichen Kontext der Ermöglichung stattfinden, und bedürfen der Einbettung in eine grundlegendere Theorie und Praxis des Menschen als eines primär sozialen Wesens. So sind auch diejenigen phänomenologischen Entwürfe besonders wegweisend, die der Geschichtlichkeit und Sozialität des Menschen verpflichtet sind. Das gilt beispielsweise für Maurice Merleau-Ponty, der die Leiblichkeit als zentralen Begriff eben nicht als natürlich gegeben, sondern als jeweils konkret geworden und gesellschaftlich überformt darstellt (Cohen 1984). Wir haben die These vertreten, dass die Überforderung des Einzelnen in einem durch die Entwicklung der Moderne entstandenen Missverständnis wurzelt – im Nichtwahrnehmen oder Leugnen der primären Sozialität des Menschen und in der negativen Auffassung der eigenen Freiheit nur als »Freiheit-von«. Diese These lässt sich mit Baaders »erotischer Philosophie« und ihrer Bezugnahme auf die Leiblichkeit des Menschen vertiefen. Sowenig nämlich Individualität und Gesellschaftlichkeit des Menschen für Baader entgegengesetzt sind, so wenig gilt dies auch für seine leibliche Natürlichkeit und Freiheit (Baader 1991: 171). Trotz seiner heute allgemein eher geringen Rezeption hat sich Baaders Diktum von der Naturfreiheit bewahrt, nämlich »daß der Geist diese Natur darum weiß und ihrer gewaltig ist, weil er von ihr geschieden oder naturfrei, nicht naturlos, ist« (Baader 1991: 87). Auch die Psychopathologie kann die Genese der hier zur Debatte stehenden Depressivität nicht angemessen analysieren, wenn sie die Natürlichkeit des Menschen auf bloße Kausalität reduziert, das heißt den Menschen nur als durch körperliche Mechanismen 9 Vgl. Blankenburg (1989: 82). Dass eine wohlverstandene anthropologische Psychiatrie ihre Grundlage in einer Psychopathologie der Freiheit findet, formulierte zeitgleich Henry Ey: »Die Psychiatrie ist die Pathologie des Subjekts und seiner Freiheit. Alle Psychiatrien und Psychotherapien, die dies reklamieren und sich diese Ziele geben, sind gut. Sie haben eine eigene Realität, die nichts anderes ist, als eine Pathologie der Freiheit und der Realität« (Ey 1972: 14; Übers. M. H.).

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determiniert erfasst und nicht leiblich versteht. Der Leib ist nicht Begrenzung, sondern Ermöglichungsgrund der personalen Entfaltung – das ist auch die Auffassung aller phänomenologischen Autoren, die sich mit dem Phänomen der Depressivität beschäftigt haben, sei es Minkowski, von Gebsattel, Straus oder Merleau-Ponty.10 Als eine Seinsmöglichkeit des Menschen lässt sich Depressivität nicht ohne eine solche Bezugnahme auf die Leiblichkeit begreifen. Es nimmt somit nicht wunder, dass Theunissen in seiner Kritik der überzogenen Individualität der Moderne die »Freiheit von sich selbst« als Voraussetzung einer authentischen Freiheitserfahrung ansieht, in der der Mensch zwar naturfrei, aber eben nicht naturlos sei (Theunissen 1991b: 338).11 Zusammengefasst liegt die Überforderung des Menschen in der Moderne auch darin begründet, dass er seine Stellung in der Welt nicht richtig bestimmt: Er sieht seinen Geist als über der Natur stehend und übersieht die Tatsache, dass er nur frei sein kann qua seiner Natürlichkeit und zugleich Gesellschaftlichkeit.

4. Individualität als Verdinglichung und Verwertbarkeit Die heutige Form der Individualisierung spiegelt die Widersprüche unserer Gesellschaftsordnung wider: die Vorstellung einer Selbstverantwortung ebenso wie die Vorstellung, jeder sei für seine psychische Stabilität selbst verantwortlich, ohne dass er ein äußeres Gerüst dafür brauche. Überfordert zu sein aufgrund eines Verlusts der Gemeinschaftserfahrung oder, mit Hegel gesprochen, als nicht ausreichend gelingende Besonderung der sozial vermittelten Individuation bestimmt nun näher die eingangs nur vage skizzierte »Haltlosigkeit« von Menschen in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das moderne Individuum missversteht seine Selbstentwicklung 10 In jüngster Zeit wird die Leiblichkeit besonders in den Theorien des Embodiment und Enaktivismus neu gefasst (Fuchs/Schlimme 2009). Thomas Fuchs hat auch auf die besondere Kritikfähigkeit einer auf die »verkörperte und ausgedehnte Subjektivität« fokussierenden Phänomenologie gegenüber positivistischen Konzeptionen des leidenden Menschen hingewiesen. Er hofft, dadurch »den Geist wieder in den Prozessen des Lebens« zu verankern und ihm damit »zugleich eine Heimat in der Welt« zu geben (Fuchs 2015: 819). 11 Vgl. den Beitrag von Thomas Fuchs im vorliegenden Band.

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und Selbstverantwortung nämlich im Sinne einseitiger Autonomie oder »Freiheit-von«. Eine eigentlich freie Selbstverwirklichung dagegen würde die Verankerung im Sozialen betonen: Wir verwirklichen uns nur in und durch unsere Sozialität, von der unabhängig zu sein oder zu werden uns als fälschliche Aufgabe vorgegeben wird. Ohne diese Verankerung hingegen wird der Einzelne schließlich »müde« oder »erschöpft«, weil ihm seine Machtlosigkeit aufgrund fehlender Teilhabemöglichkeiten an sozialen Prozessen sehr wohl bewusst ist. Dementsprechend sieht Honneth in Depressionen (und Süchten) emblematische Erkrankungen des gegenwärtigen Kapitalismus und der damit verknüpften Paradoxien der Individualisierung (Honneth 2002/2012). Einerseits bedeutet diese Individualisierung nämlich Emanzipation des Einzelnen von traditionellen Bindungen, andererseits aber doch eine zunehmende Konformität. Denn die »Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung« seien mittlerweile zu einem »institutionalisierten Erwartungsmuster der sozialen Reproduktion« geworden, das vom Individuum jedoch umso schwerer als ein solches erkannt werde (ebd.: 68). Eben auf diesen Widerspruch führt Honneth das verbreitete Auftreten von Erfahrungen innerer Leere, eigener Überflüssigkeit und »Orientierungslosigkeit« zurück. Damit eröffnet sich eine Perspektive auf die Frage nach der Pathogenität der gesellschaftlichen Organisation: Die Unterwerfung der menschlichen Lebensvollzüge unter die Zweckrationalität des Systems erzeugt eine Individualität, die gerade nicht mehr im emphatischen Sinne Individualität ist, sondern Konformismus. Dies führt zu einer Vielzahl von neuen, sowohl materiellen wie psychischen Formen des sozialen Leidens (ebd.). Honneth sieht das kapitalistische Freiheitsverständnis privategoistisch auf eine nur individuelle negative Freiheit verengt, im Gegensatz zu einer »sozialen Freiheit«, in der zugleich Gleichheit und Brüderlichkeit verwirklicht werde (Honneth 2017). Das Leiden der Individuen werde dann durch gesellschaftliche und kulturelle Muster herbeigeführt, die im Verlauf der Sozialisation so weit internalisiert werden, dass das Subjekt selbst die Ursache seines Leidens nicht mehr verorten könne, also »verblendet« sei. Der Individualismus wird damit zu einer eigentümlich missbrauchten Produktivkraft der kapitalistischen Modernisierung: Die Instrumentalisierung der Selbstverwirklichung macht das Individuum 357

zum kreativen Unternehmer seiner selbst. Das Ideal der Selbstverwirklichung habe sich, so Honneth, zu Ideologie und Produktivkraft eines deregulierten Wirtschaftssystems entwickelt: Die Ansprüche, die die Subjekte zuvor herausgebildet hatten, als sie ihr Leben als einen experimentellen Prozess der Selbstfindung zu interpretieren begannen, kehren nun in diffuser Weise als äußere Forderung an sie zurück, so dass sie verdeckt oder offen zu einem steten Offenhalten ihrer biografischen Entscheidung und Ziele angehalten werden. (Honneth 2002/2012: 77)

Was dabei allerdings verloren gehe, sei die soziale Sicherheit, Eingebundenheit und die diese garantierenden gesellschaftlichen Institutionen; es vollziehe sich eine »schleichende Vermarktlichung der Gesamtgesellschaft« (Honneth 2002/2012: 77).12 Die Formen des Leidens unter dieser Entwicklung sind aber Honneth zufolge gerade deshalb nicht deutlich erkennbar, weil sie – und das generiert das »Unbehagen« – in den Bereich der psychischen Erkrankungen verlagert werden. Der psychiatrische Diskurs läuft Gefahr, das eigentliche Leiden zu verdecken, indem er es auf individuelle Krankheitssymptome reduziert. Es scheint unserer gegenwärtigen Gesellschaftsformation durchaus zupasszukommen, dass Menschen sich im Sinne einer nicht mehr konkretisierbaren Individualität selbst entwerfen, um damit produktiver und verwertbarer zu werden (Mensen 2014).13 Rekapitulierend formulieren wir: Die Selbstverwirklichungsideologie des gegenwärtigen Kapitalismus führt einerseits dazu, dass Menschen sich und ihre Freiheit nicht mehr als sozial begründet verstehen, und steigert andererseits die 12 Man kann dies wie Papst Franziskus auch drastischer formulieren: »Diese Wirtschaft tötet. […] Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichtemacht. […] Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. […] Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht ›Ausgebeutete‹, sondern Müll, ›Abfall‹.« (Franziskus PP 2013: § 53, 52) 13 Vgl. auch Heiter (2008: 235): »Die Ironie des neoliberalen Freiheitsdispositivs besteht darin, den Leuten glaubhaft zu machen, es ginge um ihre Freiheit.«

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Produktivität und Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft. Beides führt zur zunehmenden Erfahrung von Überforderung und depressiver Verstimmung.

5. Anerkennung und Assoziativität Angesichts dieser gesellschaftlichen Tendenzen der Entfremdung stellt sich die Frage nach einer möglichen Alternative. Wir kehren zu unserer Fallstudie zurück: Aus den Erzählungen von Herrn L. wird die Monotonie seiner Arbeitstätigkeit deutlich. Sie löst in seinem Erleben keinerlei Sinngefühl aus. Er arbeite ausschließlich nach Aktenlage in einem standardisierten Verfahren; er funktioniere, könne aber nicht wie ein Mensch handeln. Zwar gehe es um menschliche Schicksale von Straffälligen, und seine Entscheidungen könnten für diese Menschen im negativen Sinne lebensverändernd sein. Diese Menschen gingen ihm die ganze Zeit durch den Kopf, wenngleich er wenig für sie tun könne. Er selber würde über manche Frage milder urteilen, und früher hätten dies seine Vorgesetzten auch mitgetragen. Heute aber müsse er das harte Vorgehen der Abteilung unabhängig vom Einzelschicksal umsetzen. Er bearbeite rechtliche Vorgänge, habe aber das Gefühl, dass keine Gerechtigkeit herzustellen sei. Wie die Vorschriften der Abteilung erlebe er die gesamte Gesellschaft als unmenschlich. Alle seien nur auf den eigenen Vorteil bedacht und niemand interessiere sich für den anderen. Herr L. beschreibt sich als ängstlich und durch Bemerkungen anderer rasch verwundbar. Er erlebe einen Verlust von Anerkennung durch die Berufskollegen, Misstrauen gegen den eigenen Körper und eine Abnahme seiner Leistungsfähigkeit. Er warte und hoffe auf die Pensionierung als Ende der monotonen Dauerbelastung, ja als eine Befreiung, habe andererseits Angst vor einem Verlust der Vita activa, vor einer Leere nach der Aufgabe seiner beruflichen Rolle. Als dies in mehreren Gesprächen thematisiert wird, zeigt sich eine gewisse Besserung des Befindens. Es wird deutlich, dass vieles 359

in seiner Selbstwahrnehmung als Person schemenhaft ist und nur der Berufs- beziehungsweise sozialen Rolle entspricht. Dem kann er noch wenig an persönlichen Bedürfnissen entgegensetzen. Diese Fallgeschichte bedenkend, fragen wir im Folgenden nach positiven Freiheitsmöglichkeiten eines Menschen, das heißt nach einer Freiheit, die vom Einzelnen unter seinen sozialen und historischen Bedingungen konkret gelebt wird. Diese positive »Freiheitzu« kann nur in der Interaktion mit anderen Menschen vollzogen werden. Sie ist vieldimensional und zeigt sich in allen menschlichen Fähigkeiten zum Erleben und Handeln. Wolfgang Blankenburg hat diese Freiheit des Sich-verhalten-Könnens als Ziel psychiatrischer Therapie so ausgedrückt: Es geht nicht darum, ob jemand sich so oder so verhält, nicht um Verhalten als fertiges Produkt, sondern um Freiheitsgrade im Produzieren-können eines wie auch immer gearteten Verhaltens. Nicht ob sich jemand abweichend verhält, ist psychologisches Problem, sondern ob er sich nicht angepaßt oder auch sich nicht unangepaßt verhalten kann. Auf das Können bzw. Nicht-Können kommt es an. (Blankenburg 1978: 141 f.)14

Um diese positive Freiheit zu verstehen, bietet sich das Konzept der Anerkennung bei Honneth und im Anschluss an Hegel an (vgl. Honneth 1992; Iwer 2018; Konrad 2016). Positive Freiheit lässt sich dann als durch wechselseitige und solidarische Anerkennungsprozesse bedingt und als kooperative Selbstbestimmung denken. Anstatt das Anerkennungstheorem aber weiter zu vertiefen, greifen wir den Begriff der Assoziativität bei Milan Prucha auf. Er stellt eine wichtige Ergänzung zu Honneths bereits etablierten Konzepten dar, insbesondere da Prucha mit ihm auch eine ökologische Dimension entfaltet. Mit dem Begriff der Assoziativität sucht Prucha den Gedanken solidarischer sozialer Beziehungen hin zur Verwirklichung von Freiheit weiterzuentwickeln (Prucha 1983). Assoziativer Beziehungen als Ermöglichungsgrund individueller Freiheit bedürfe es dabei nicht nur gegenüber den Anderen, sondern vielmehr auch gegenüber dem Anderen, nämlich der Natur. Emanzipation beruhe auf der Bejahung der Rechte Anderer, aber 14  Siehe zum damit verbundenen Freiheitsbegriff die Einführung von Martin Heinze in Blankenburgs Psychopathologie des Unscheinbaren (Heinze 2007).

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auch auf der ökologischen Einsicht in die Eigenrechte aller Daseienden: […] die daseiende Freiheit realisiert sich vermittels einer anderen daseienden Freiheit. […] Die daseiende Freiheit kann aber affirmativ sein, nicht nur wenn ihr Gegenüber der Andere, sondern auch das Andere ist. […] [Sie] sucht und bejaht andere daseiende Freiheiten, bejaht sich so selbst und wird bejaht von ihnen. (Prucha 1983: 51)

Freie Entfaltung von Subjektivität bedeutet somit die Fähigkeit zur Gemeinschaft mit Anderem und Anderen und deren Anerkennung als gleichberechtigt, wohingegen eine bloße Objektivierung der Anderen und des Anderen problematisch ist und auf sich selbst zurückfällt. Im positiven Fall werden dann auch Freiheitsmöglichkeiten nicht nur verkürzt als »Freiheit-von«, sondern als weiter reichende »Freiheit-zu« verstanden. Dies hat einen emanzipatorischen Charakter im Sinne der Verwirklichung individueller und kollektiver Selbstbestimmung unter Bejahung ihrer sozialen und natürlichen Ermöglichungsbedingungen. Freiheit realisiert sich nicht unabhängig von sozialen Vermittlungsprozessen, sondern nur in ihnen. Es zeigt sich kein Gegensatz von Individuum und Sozialität, sondern im gelingenden Fall eine Entfaltung des eigenen Ichs und gleichzeitig eine (Mit-)Bestimmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die eigene Lebensform. Mehr noch: Je stärker die soziale Teilhabe ist, desto größer die Möglichkeiten der individuellen »Freiheit-zu«. Ein überzogener Selbstanspruch, wie ihn Theunissen für Individuen in der Moderne diagnostiziert hat, muss dafür allerdings zurückgewiesen werden. Ein Kampf um Anerkennung beginne, so Dirk Quadflieg, weil jedes Individuum zunächst seinen Absolutheitsanspruch durchsetzen und jedes andere ausschließen wolle: »Der Prozess der Selbstwerdung verlangt deshalb eine gewisse Verzichtsleistung, ein Aufgeben des eigenen Absolutheitsanspruchs, ohne den keine Anerkennung durch den Anderen und damit auch kein Selbstbewusstsein möglich wäre« (Quadflieg 2008: 12).15 Auch dies ist im Konzept der Assoziativität Pruchas gut verankert, nicht im moralischen Sinne, sondern philosophisch-systematisch als Prinzip der Wirklichkeit selbst: 15 Bei Blankenburg entspricht die »Ent-Selbstigung« einer Überwindung der übersteigerten Selbstbezogenheit (Blankenburg 1996).

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Diese Bejahung der Anderen bedeutet ihre Bejahung als Andere, gleichzeitig aber auch die Erweiterung meiner Geborgenheit in der Welt. […] Die Subjektivität oder Freiheit wird hier nicht mehr im Sinne der Einheit oder Totalität, sondern der Assoziation gedacht und erhält als leitender unter den Begriffen für die Absolutheit die Bedeutung der assoziativen Freiheit. (Prucha 1987: 77)

Zusammenfassend können wir nun formulieren: Menschen könnten ihre Überforderung verringern, indem sie ihre sozialen Kontakte solidarisch und im gemeinschaftlichen Handeln gestalten, sich somit in ihrer Sozialität anerkannt und anerkennend erleben und Solidarität durch Andere erfahren. Sie könnten ihr Verhältnis zur Um- und Mitwelt emanzipatorisch gemäß dem Prinzip der Assoziativität gestalten.

6. Ausblick Wir haben argumentiert, dass depressives Leiden und Überforderungserleben in unserer Gesellschaft letztlich aus einem gestörten Sozialisationsprozess des Subjekts als konkreter Person resultiert, wobei wir uns kritisch mit dem herrschenden Selbstkonzept auseinandergesetzt haben. Die gegenwärtige Formation des Kapitalismus und die damit verbundene Konzeption neoliberaler Subjektivität liegen dieser Selbstkonstitution wesentlich zugrunde. Im weiteren Verlauf sind Fragen der positiven »Freiheit-zu«, die sich im Gemeinschaftsbezug realisiert, in unseren Fokus gerückt: Nicht die »Überforderung des Selbst«, sondern einen Verlust an sozialer Freiheit der einzelnen konkreten Person haben wir als Kernproblematik der gegenwärtig verbreiteten depressiven Verstimmungen ausgemacht. Im Ausblick wollen wir den psychiatrischen Diskurs wiederaufgreifen und fragen, welche therapeutischen Konsequenzen sich aus unseren Thesen ableiten lassen. Prinzipiell sollte sich jedes therapeutische Bemühen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmens bewusst sein und darauf achten, die Vernachlässigung der Sozialität und die Schwächung der durch den Neoliberalismus bedrohten sozialen Institutionen nicht weiter zu nähren. Ansonsten droht Therapie rein zweckrational im Sinne der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu agieren. Sie sollte dementsprechend neben einer individuellen Behandlung be362

sonders die sozialen Beziehungen stärken. Dies kann letztlich nur außerhalb des Arztzimmers und außerhalb der exklusiven Zweierbeziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn geschehen, die Erich Wulff einmal kritisch einer »Ideologie der Bipersonalität« (Wulff 1972) verdächtigte. Außerhalb des Therapiezimmers sollte psychiatrische Hilfe die Möglichkeiten der Patienten zur »Freiheit-zu« stärken und ihre Fähigkeit zur Schaffung freier Verhältnisse im Sinne der Assoziativität befördern. Durch psychiatrisches Denken und Handeln können dann letztlich neue Möglichkeitsräume gemeinschaftlichen Handelns entstehen, in denen von Depressivität Betroffenen ermöglicht wird, ihre Interessen wieder selbstbestimmt und in eigener Verantwortung wahrzunehmen. Oft wird dabei übersehen, dass auch diese Selbstbestimmung letztlich nur solidarisch mit einer Beschränkung der eigenen Bedürfnisse und im Abgleich mit jenen der sie tragenden Gemeinschaft zu gestalten ist. Dies wiederum ist besonders durch sozialtherapeutische Ansätze möglich, die im sozialen Kontext der Patientinnen und Patienten situiert sind und diesen mitbehandeln.16 Zuletzt sind entsprechende emanzipatorische und am Sozialen orientierte Therapieansätze auch mit einer von assoziativer Freiheit gekennzeichneten Forschungspraxis in der Psychiatrie zu verbinden: Psychiatrische Forschung sollte nicht nur die Wiedererlangung von Freiheitsräumen für Betroffene thematisieren, sondern Betroffene in einer Weise einbeziehen, dass sie zu aktiven Teilnehmerinnen und Gestaltern dieser Forschung werden. Dies geschieht zunehmend durch partizipative und nutzerkontrollierte Forschung in Deutschland.17 16 Zu denken ist etwa an das Konzept von Job-Coaches, die eine Vermittlungsposition zwischen den Betroffenen und der Arbeitswelt einnehmen und sich unter anderem für die Anpassung der Arbeitsbedingungen des jeweiligen Arbeitsplatzes einsetzen. Von besonderer Bedeutung sind außerdem diverse Formen der Selbsthilfe beziehungsweise eine ausschließlich selbstorganisierte Unterstützung durch Menschen mit ähnlichem Erfahrungs- und Leidenshintergrund. Diese solidarische, assoziative Unterstützung auf der Basis gemeinsamer (oder zumindest ähnlicher) leidvoller Erfahrungen in der Gesellschaft kann in vielen Fällen weitaus heilsamer sein als die vom psychiatrischen System angebotene Hilfe. 17 Vgl. dazu besonders die Ausgabe 02/47 der Sozialpsychiatrischen Informationen (2017) zum Thema »Sozialpsychiatrische Forschung«.

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Diese abschließenden Bemerkungen reichen über die hier verhandelte Thematik des »überforderten Selbst« hinaus. Sie sollen andeuten, dass Depressivität wie jedes andere psychische Leid des Einzelnen nur aus dessen konkret gelebter Sozialität und seiner besonderen Realisierung von Freiheit verstehbar und schließlich auch therapierbar ist. Herrn L. ist ein Nachdenken über die Zukunft noch immer erschwert, denn es geht mit großer Angst einher und er bleibt der Gegenwart verhaftet. Die Ambivalenz seiner Lebensmüdigkeit, dem jetzigen Leiden zu erliegen oder doch noch für die Zukunft da zu sein, lebt immer wieder auf. Dabei bringt er aus seiner beruflichen Erfahrung viel Motivation für soziales Engagement und ein Leben in der Gemeinschaft mit. Der Weg zu einer ehrenamtlichen Arbeit, die sinnstiftend sein soll, erscheint ihm im weiteren Verlauf zunehmend gangbar; schließlich könne sie, so stellt er fest, seinem Wunsch entgegenkommen, jüngeren Menschen zu helfen. Literatur Baader, F. von. 1991. Erotische Philosophie, hg. von G.-K. Kaltenbrunner. Frank­furt/M.: Insel. Blankenburg, W. 1978. »Grundlagenprobleme der Psychopathologie«. Nervenarzt 49: S. 140-146. Blankenburg, W. 1989. »Futur-II-Perspektive in ihrer Bedeutung für die Erschließung der Lebensgeschichte des Patienten«, in: ders., Biographie und Krankheit. Stuttgart: Thieme, S. 76-84. Blankenburg, W. 1996. »Überlegungen zum ›Selbst‹-Bezug aus phänomenologisch-anthropologischer Sicht«, in: Psyche im Streit der Theorien, hg. von M. Heinze, C. Kupke, S. V. Pflanz, K. Vogeley. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 95-122. Bröckling, U. 2007. Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frank­furt/M.: Suhrkamp. Cohen, R. A. 1984. »Merleau-Ponty, the Flesh and Foucault«. Philosophy Today 28 (4): S. 329-338. Ehrenberg, A. 2008. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frank­furt/M.: Suhrkamp. Erdmann, J. E. 1864. Grundriss der Logik und Metaphysik. Halle: Schmidt.

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Rolf Haubl Erwerbsarbeit und psychische Gesundheit Die moderne Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft. Von ihren (erwachsenen) Mitgliedern wird erwartet, dass sie nicht nur arbeitsfähig, sondern auch arbeitsbereit sind. Wer dies ist, trägt seinen Teil zum gesellschaftlichen Wohlstand bei und erhält dafür das Recht, einen ihm gemäßen Teil des Wohlstands für sich zu beanspruchen. Sanktionierte Abweichungen in diesem System von Werten und Normen sind Arbeitslosigkeit, Arbeitsverweigerung und Arbeitssucht. Wie der Titel des vorliegenden Aufsatzes impliziert, sind Arbeit und Gesundheit eng verbunden. Arbeit kann, wenn sie überfordert, physisch und psychisch krank machen, aber auch vor Erkrankungen schützen, indem sie Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen, so der Anspruch, Selbstverwirklichung, Selbstwirksamkeit, Selbstwert und Sinnstiftung ermöglicht. Die folgenden Ausführungen sind durch Forschungsergebnisse der letzten Jahre (Keupp/Dill 2010), insbesondere durch zwei eigene interdisziplinäre Forschungsprojekte fundiert (Haubl et al. 2013a; 2013b; Alsdorf et al. 2017). Hinzu kommen meine praktischen Erfahrungen aus Supervisions- und Coaching-Prozessen.

Analyserahmen Angeregt durch die Bücher von Alain Ehrenberg (2004; 2011) und mehr noch durch den ausufernden Burn-out-Diskurs, ist es ein Ziel unserer und verwandter Forschungen, die psychosozialen Gesundheitsrisiken abzuschätzen, die in modernen Arbeitsverhältnissen liegen. Diese Risiken zu kennen, so nehmen wir an, erhöht die Chancen, ihnen vorzubeugen und ihre Folgen zu entschärfen. Dabei kommt es uns darauf an, subjektive, und das heißt: arbeitsbiographische Bedingungen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit objektiven, und das heißt: strukturellen Bedingungen ihrer Arbeitsplätze abzugleichen. Beide Bedingungsgefüge lassen sich nur um den Preis einer unzureichenden Ursachenanalyse sepa368

rieren: Auf der einen Seite droht eine Individualisierung und Psychologisierung, auf der anderen Seite eine Entsubjektivierung von Arbeitsverhältnissen, die krank machen (können). Innerhalb dieses Analyserahmens fokussieren wir die These, dass viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zwar an krank machenden Arbeitsverhältnissen leiden, aber auch selbst dazu beitragen, diese aufrechtzuerhalten. Statt sich gegen die Zumutungen eines zunehmenden Leistungsdrucks zur Wehr zu setzen, der verlangt, anspruchsvolle Erfolgsziele in selbstkritischem Vertrauen auf die eigenen Kompetenzen zu verfolgen, wird die Krankenrolle genutzt, um sich als Opfer zu fühlen. Wo dies geschieht, ist mit einer Entpolitisierung grassierender Überforderungen zu rechnen. Im Folgenden werde ich einige theoretische Bausteine zusammenstellen, die helfen mögen, die skizzierte These weiter zu elaborieren und zu prüfen.

Neoliberale Arbeitsverhältnisse und der dazu passende Sozialcharakter Dass Erwerbsarbeit nicht nur dem ökonomischen Auskommen dient, sondern auch gute Gefühle wie Arbeitszufriedenheit, Arbeitsfreude und Arbeitsstolz erzeugen soll, ist zumindest als Anspruch mit Breitenwirkung historisch nicht allzu alt. Seit den 1980er Jahren macht sich die Psychopolitik des Neoliberalismus (A. Rau 2010; Han 2014) diesen Anspruch zunutze. Ihr Siegeszug besteht unter anderem darin, dass sie die tradierte Sehnsucht nach einer Arbeit, die nicht leidvoll ist, rhetorisch bedient. Gegenüber der Missachtung der Subjektivität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die den Fordismus-Taylorismus kennzeichnete, wird Subjektivität aufgewertet, wobei diese allerdings nicht nur toleriert, sondern seitens der Unternehmen gezielt aktiviert und eingefordert wird. Insofern ist von einer normativen Subjektivierung auszugehen. An die Stelle steiler Hierarchien, in denen die Koordination der rollenspezifischen primären Aufgaben über Befehl und Gehorsam läuft, treten Verhandlungsprozesse, sprich: Zielvereinbarungen, die den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen ein Höchstmaß an Selbstverwirklichung, Selbstwirksamkeit, Selbstwert und Sinnstiftung am Arbeitsplatz versprechen, aller369

dings nur so weit, wie sie sich mit den ökonomischen Zielen ihrer Unternehmen identifizieren. Qua Identifizierung sind sie fähig und bereit, sich weit über die klassische Arbeitnehmerrolle hinaus zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen, ohne aber wirklich unternehmerisch agieren zu können, weil sie nicht oder nicht adäquat am Gewinn beteiligt werden. Durch die systematische Einbeziehung der Subjektivität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wird auch der Begriff der Arbeit verändert: – Die mit der Aufrechterhaltung des Arbeitsprozesses verknüpften Koordinationsaufgaben sind nur durch eine permanente Selbstund Fremdbeobachtung sowie Evaluation zu erfüllen; mithin entscheidet die soziale Dimension des Arbeitens. Was für Freiberufler schon immer gegolten hat, wird nach und nach für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, einschließlich der Arbeiterschaft in der Produktion, verbindlich. – Auf der historischen Folie des Fordismus-Taylorismus betrachtet, löst der Neoliberalismus die Kritik an der Entfremdung ein, die durch Unterwerfung unter ein Arbeitsregime entsteht, das Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen vorenthält, sich als wertschöpfend zu erfahren. Folglich blitzt im Neoliberalismus die Utopie einer Selbstverwirklichung durch Erwerbsarbeit auf. Aber so wie der Kapitalismus generell alle Kritik an ihm vereinnahmt, um immer weitere Lebensbereiche »in Wert zu setzen«, sie marktförmig zu gestalten, so sprengt auch der neoliberal realisierte Anspruch auf Selbstverwirklichung, Selbstwirksamkeit, Selbstwert und Sinnstiftung diesen Rahmen nicht: Die ersehnte Befreiung von entfremdeter Arbeit wird als Zwang ausgemünzt, sich von allen störenden lebensweltlichen Bindungen frei zu halten. Anders als im Fordismus-Taylorismus erscheint nunmehr nicht das Leben nach der Arbeit als das Reich der Freiheit, sondern das Leben in der Arbeit. Deshalb stellt sich bei der gerne beschworenen Work-LifeBalance in der Praxis auch in vielen Fällen schnell die Frage, wie man sein Leben außerhalb der Arbeit so gestalten kann, dass es die Arbeit nicht behindert. Unter neoliberalen Arbeitsbedingungen sind die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an eine Eigenverantwortung gekettet, die es ihnen schwermacht, sich zu entlasten. Sie müssen die Ursachen für ihren Erfolg oder ihr Scheitern bei sich selbst suchen. Oft hal370

ten sie es für ein persönliches Problem, wenn sie sich dem herrschenden Leistungsdruck nicht gewachsen fühlen, und das selbst dann, wenn ihnen ihr Unternehmen keine ausreichenden Ressourcen, wie etwa Manpower und Know-how, zur Verfügung stellt. Sie wollen jedem Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zuvorkommen. Die Bereitschaft, entgrenzt zu arbeiten, erscheint als Tugend eines deregulierten Arbeitsmarktes, die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dazu bringen soll, auf alle Anzeichen von »Schwäche« mit einer Mobilisierung von »Kraftreserven« zu reagieren. Dass ein solches Handeln in der Summe hohe Gesundheitsrisiken birgt, lässt sich kaum von der Hand weisen. Sie als bedauerliche, aber unvermeidliche »Kollateralschäden« hoher Erfolgserwartungen verbuchen zu wollen, wäre freilich zynisch.

Psychische Gesundheit als knappe Ressource des neoliberalen Sozialcharakters Seit vielen Jahren ist in Unternehmen ein langfristiger Rückgang des Krankenstandes zu beobachten, wie er sich in Arbeitsunfähigkeitstagen zeigt (Meyer et al. 2015). Allerdings spricht einiges dafür, dass diese erfreuliche Tendenz durch einen zunehmenden Präsentismus (Steinke/Bandura 2011) – die Praxis, krank zur Arbeit zu gehen und sogar Erkrankungen zu leugnen (Kocyba/Voswinkel 2007) – mitbedingt wird. Eine solche Praxis hat nicht nur gesundheitlich bedenkliche Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen samt den Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie in Kontakt kommen; es sinken auch ihre Arbeitsleistungen und mit ihnen die Produktivität der Unternehmen. Die Kosten des Präsentismus übersteigen die des Absentismus, auf den sich die Aufmerksamkeit zumeist richtet. Die Motive, krank zur Arbeit zu gehen und sogar Erkrankungen zu verleugnen, sind vielfältig; zu ihnen gehören vorrangig die Angst vor Arbeitsplatzverlust oder Karrierenachteilen sowie Solidaritätspflichten gegenüber Kollegen und Kolleginnen, die Mehrarbeit leisten müssen, um den Arbeitsausfall von Kranken zu kompensieren. Sinken die Krankenstände generell, so steigt derjenige Anteil der Arbeitsunfähigkeitstage, der von psychischen Erkrankungen 371

verursacht wird. Von Details abgesehen, stimmen alle Versicherer in diesem Befund überein (Weiß 2013). Zwar lassen sich veränderte Sensibilitäten in der Diagnosestellung vermuten, die zur Vorsicht mahnen, allzu schnell eine Zunahme psychischer Erkrankungen zu behaupten (Richter/Berger 2013), ein bloßer Methodeneffekt ist dennoch wenig wahrscheinlich. Nehmen psychische Erkrankungen in der (deutschen) Bevölkerung zu, dann geht sicherlich nicht die ganze Zunahme auf veränderte Arbeitsverhältnisse zurück. Mit komplexen – biopsychosozialen – Ursachen ist zu rechnen. Es wäre voreingenommen, wollte man (strukturellen) job stress zum gewichtigsten Faktor erklären. Zum einen gibt es lebensgeschichtliche Einflussfaktoren, die außerhalb der Arbeit liegen, zum anderen verfügen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über unterschiedliche Ressourcen, arbeitsplatzbedingte An- und Überforderungen zu bewältigen, so dass es nicht zu hohen, krankheitswertigen psychischen Belastungen kommt. Überdies ist gesundheitlich riskante Mehrarbeit nicht nur die Folge eines Zwanges; es gibt Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die »freiwillig« mehr arbeiten, als ihnen psychisch guttut. Ein gewisses arbeitsbedingtes psychisches Überforderungspotenzial bringt jeder Beruf mit sich. Betroffen ist nicht nur der Sozialarbeiter, sondern auch der Lehrer, sogar der Investmentbanker. Mag sein, dass die Überforderungswahrscheinlichkeit mit dem Ausmaß an Interaktions- und Emotionsarbeit (Mucha/Rastetter 2017) steigt, die im beruflichen Alltag zu leisten ist. Zudem belegen Untersuchungen geschlechtsspezifische Unterschiede in der »Wahl der Krankheit«. Auf eine Faustregel gebracht: »Frauen werden depressiv, Männer süchtig.« Geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich auch in der Behandlungsstrategie: Frauen bekommen in derselben Situation doppelt so oft Psychopharmaka verschrieben wie Männer, fragen aber auch deutlich häufiger Psychotherapie nach, so wie sie überhaupt mehr auf eine effektive Selbstsorge bedacht sind (Faltermaier 2008; Haubl 2012). Die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse, die in Verdacht stehen, das Risiko einer krankheitswertigen psychischen Störung zu erhöhen, betreffen vor allem die Intensität der Arbeit, Länge und Lage der Arbeitszeiten, den häufigen Wechsel und die Überkomplexität inhaltlicher Arbeitsanforderungen, die zu Multitasking 372

zwingen. Zwar wird von manchen die Erweiterung von Handlungsspielräumen und eine gestiegene Transparenz in der Arbeit begrüßt, deren Auswirkungen sind jedoch ambivalent: Mag eine Zunahme von Eigenverantwortung auch eine Gesundheitsressource sein, dann ist sie das doch nur so lange, wie Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen fähig und bereit sind, eine realistische Selbstsorge zu betreiben: nicht mehr von sich zu erwarten, als sie in ihrem Arbeitsalltag tatsächlich leisten können (Flick 2013; Haubl 2013b). Das fällt ihnen oftmals nicht leicht, weil Eigenverantwortung zu einem hochrangigen gesellschaftlichen Wert geworden ist, der sich nicht zurückweisen lässt, ohne schnell in Rechtfertigungsnot zu geraten. Schließlich sei noch auf das Konzept der »Selbstheilung« hingewiesen. So haben wir häufig beobachten können, dass die Zufriedenheit und der Erfolg einer beruflichen Tätigkeit davon abhängen, ob die Tätigkeitsmerkmale (vorbewusst) lebensgeschichtlich bedeutsame Traumata und Konflikte wiederbeleben, um sie besser bewältigen zu können. Manche Menschen sind lange auf der Suche, bis sie endlich eine Tätigkeit finden, die ihnen eine solche Bewältigungschance bietet (Engelbach/Haubl 2017).

Burn-out als soziokultureller Code In puncto arbeitsbedingter psychischer Belastungen hat »Burn-out« eine steile Karriere gemacht (Burisch 2010; Rösing 2003). Burn-out ist zwar eine psychische Störung ohne anerkannten Krankheitswert, aber mit erheblicher Verbreitung. Vermutlich wird die Akkreditierung als Krankheit irgendwann erfolgen. Der Leidensdruck der Betroffenen ist zu groß, als dass es keine Lobby gäbe, die sich dieser Akkreditierung annehmen würde. Burn-out darf nicht mit einer Depression gleichgesetzt werden, auch wenn es eine mögliche Vorstufe sein mag. Was die Explikation der »Diagnose« betrifft, so sind nationale Unterschiede festzuhalten: Während Burn-out in Deutschland unserer Beobachtung nach vorwiegend als Frage der individuellen Belastbarkeit von Personen diskutiert wird, steht in anderen Ländern die Gestaltung von Arbeitsplätzen im Vordergrund. Dem­ entsprechend werden in Deutschland vor allem personenzentrier373

te Interventionen betont, was zu einer Individualisierung sozialer Probleme führt. Trotz Hunderter Publikationen pro Jahr gibt es bislang kein verbindliches theoretisches Konzept für Burn-out. Mit ihrer Symptomvielfalt erinnert die Burn-out-Diagnose an die Diagnose der Neurasthenie, die sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert durch eine vergleichbare Unschärfe bei einer vergleichbar hohen Popularität auszeichnete (Kury 2012; Martynkewicz 2013). Auch wenn es einen fragwürdigen Burn-out-Hype gibt, heißt das nicht, Leidenden ihr Leiden abzusprechen. Mit einer soziokulturellen Kategorisierung ihres Leidens, gleich, ob es sich um eine anerkannte Krankheitsdiagnose handelt oder nicht, wird eine diskutierte und Aufmerksamkeit erregende Möglichkeit geschaffen, es zum Ausdruck zu bringen und mitzuteilen. Dass Patienten und Patientinnen sich dabei der Beschreibungen bedienen, die ihnen der Diskurs anbietet, verbessert ihre Kommunikationschancen: Leidende sind in der Lage, sich besser verständlich zu machen, und womöglich verstehen sie sich selbst auch besser. Sind die Kategorien unscharf, hat das durchaus den Vorteil, dass sie von vielen Leidenden für viele Leiden genutzt werden können. Im Vergleich dazu hat die Diagnose einer (arbeitsbedingten) Depression (Bonde 2008; Mohr 2005; R. Rau 2005) eine negative Stigmatisierung zur Folge, in der die kulturhistorisch ältere Acedia – eine Trägheit, die den Sinn des Lebens nicht in der Arbeit sucht und gegenüber Heilsversprechen skeptisch bleibt – fortexistiert. In einer Arbeitsgesellschaft stellt dies die Geschäftsgrundlage infrage. Wenn schon erschöpft, dann wenigstens nicht aus Trägheit. Vor diesem Hintergrund kann Burn-out zu einem Statusmerkmal werden. Gelegenheitsbeobachtungen zufolge gehört es in den »heißen« Branchen wie IT, Investment, Versicherungen und Marketing fast schon zum guten Ton, überarbeitet zu sein, um damit den Konkurrenten auf der Karriereleiter unerschöpfliche Power zu signalisieren, was sich – so die Erwartung – früher oder später in Gestalt des Aufstiegs auszahlt.

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Erst entflammt, dann ausgebrannt Hält Burn-out im Unterschied zur Diagnose einer Depression eine positive Stigmatisierung bereit, so vor allem wegen des populären metaphorischen Erklärungsmusters, dem zufolge nur »ausbrenne«, wer zuvor »entflammt« gewesen sei, also gesellschaftlich wertgeschätzte Arbeit geleistet habe. Indessen schürt der Burn-out-Diskurs auch Zweifel, ob denn, wer »ausbrennt«, tatsächlich sinnstiftend gearbeitet habe: Unter den vielen metaphorischen Selbstbeschreibungen, die Burn-out-Patienten und -Patientinnen verwenden (Haubl 2013c; Bröckling 2013), ist das »Hamsterrad« eine der häufigsten. Diese Metapher verweist auf Unmengen unproduktiv verausgabter Energie. Obwohl unproduktiv, besteht der innere Zwang, das Rad zu drehen, weil es keine Alternative bietet. Wo soll der Hamster hin mit seinem vitalen Bewegungsdrang? Drängt es ihn vorwärts, so kommt er doch nicht voran, wie sehr er sich auch verausgaben mag.

Schlaflos in der neoliberalen Gesellschaft Die Erschöpfung, die als Leitsymptom eines Burn-outs imponiert, unterscheidet sich von Müdigkeit (Han 2010). Pointiert formuliert, entsteht ein Burn-out, weil die Betroffenen es sich nicht erlauben, müde zu sein. Sie erleben Müdigkeit als Makel und sorgen dafür, so lange wie irgend möglich, und sei es psychopharmakologisch unterstützt, hellwach zu bleiben, weil sie andernfalls eine Ich-Regression befürchten, die es ihnen erschwert, sich jederzeit konkurrenzfähig und konkurrenzbereit zu zeigen (Crary 2014). Eine genussreiche Müdigkeit ist an Bedingungen gebunden, die früher einmal »rechtschaffen« hießen. »Rechtschaffene Müdigkeit« gehört zur Alltagsmoral vormoderner Zeiten. Der überkommene Ausdruck impliziert nicht nur eine Abgrenzung gegenüber einer lähmenden Trägheit, wenn nicht Faulheit, sondern stellt Müdigkeit vor allem als psychische Belohnung für eine Anstrengung vor, die »aller Ehren wert« ist, weil sie im Bewusstsein eines unstrittigen gesellschaftlichen Nutzens und in der berechtigten Erwartung einer leistungsgerechten Entlohnung erfolgt. Anders formuliert: »Recht375

schaffen müde« kann nur jemand werden, der gute Arbeit geleistet hat, auf die er stolz sein darf. So gesehen mag man umgekehrt vermuten, dass ein solcher Zustand ausbleibt, wenn jemand keine gute Arbeit leistet beziehungsweise daran gehindert wird, gute Arbeit zu leisten, so dass ihn seine Arbeit weder stolz noch zufrieden macht. Solche Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind nach getaner Arbeit weder rechtschaffen müde noch überhaupt müde, sondern erschöpft. So gibt ein Mitarbeiter eines Callcenters zu Protokoll: Wenn er nach seiner Arbeit nach Hause komme, fühle er sich wie »durchgeprügelt«; versuche er, sich an die Ereignisse seines Arbeitstages zu erinnern, sei da nur ein »tiefes schwarzes Loch«; seine Arbeit mache ihm nicht nur keinen Spaß, um ehrlich zu sein, »verachte« er sie sogar und »schäme« sich, sie zu tun, zumal sie noch nicht einmal angemessen bezahlt sei. Leicht lässt sich vorstellen, dass es in einer solchen Situation zu einem psychischen Kräfteverschleiß kommt, der den Betroffenen den Schlaf raubt und keine Erholung ermöglicht. Das Personal von Callcentern ist dann auch besonders Burn-out-gefährdet.

Selbsttäuschung Sozialcharakterologisch betrachtet, häuft sich ein Arbeitnehmertypus, der als »Extremjobber« mit einer Neigung zu einer »interessierten [und kalkulierten] Selbstgefährdung« (Peters 2011; vgl. Krause et al. 2012) porträtiert worden ist. Extrem sind diese Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, weil sie den größten Teil ihrer Lebenszeit mit Erwerbsarbeit verbringen und auch die restliche Zeit nach Effizienzkriterien gestalten, die sie aus der Arbeitswelt kennen. Wenn sie ihre interessierte Selbstgefährdung kalkulieren, dann im Sinne eines risikobewussten Arbeitseinsatzes: Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dieses Typs verrechnen ihr Risiko, sich mit ihrer Arbeit krankheitswertig psychisch zu überfordern, mit ihren Chancen auf eine zukünftige Lebensführung, die diesen Einsatz lohnt. Allerdings beruht ihre Rechnung zumeist auf einer Selbsttäuschung: Wenn sie glauben, viele Jahre ohne Erholung durcharbeiten zu können, um sich dann im vorgezogenen Ruhestand ein angenehmes arbeitsfreies Leben zu gönnen, täuschen sie sich. Über kurz oder lang bekommen sie zu spüren, dass sich Erholung nicht beliebig aufschieben lässt. 376

Erfahrungen aus der Coaching-Praxis In der Arbeitsgesellschaft ist die Förderung der Entwicklung individueller Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft eine Notwendigkeit, um die materielle und mentale gesellschaftliche Produktivität zu sichern, wenn nicht sogar zu steigern. Dazu müssen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auch schon einmal an ihre Grenzen oder sogar darüber hinausgehen, was zweifellos von Nutzen sein kann. Wird Leistung allerdings verabsolutiert oder sogar fetischisiert, dann geht dies auf Kosten kreativer Prozesse, die sich nur entfalten können, wenn kein »Hochdruck« herrscht. Andernfalls steigt mit zunehmendem Leistungsdruck auch das Risiko, sich selbst psychisch zu überfordern, was zu einer krankheitswertigen Erschöpfung führen kann. Insofern heißt es gerade für »Hochleister«, sich um eine Selbstsorge zu bemühen, die einem rapiden Kräfteverschleiß entgegenwirkt. Das verlangt allerdings, auf narzisstische Gratifikationen zu verzichten, die eine Lebensführung am Limit (zumindest anfangs) verspricht. Derzeit ist ein Prozess zu beobachten, der den kollektiven Angstpegel (in Deutschland) steigen lässt: Hat sich der Mittelstand lange Zeit durch eine (optimistische) Aufstiegsorientierung ausgezeichnet, so geht nunmehr das Gespenst der »Abstiegsgesellschaft« (Nachtwey 2016) um. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Gesellschaftsformation, in der der Mittelstand zwar noch nicht abgestiegen, aber von Abstieg bedroht ist. Zumindest haben seine Angehörigen das (pessimistische) Gefühl, alles, auch ihre Gesundheit und die Lebensfreude ihrer Kinder, daransetzen zu müssen, um den sozialen Abstieg (für die kommenden Generationen) zu verhindern.

Fallvignetten Marius A. Marius A., 35 Jahre alt, ist im mittleren Management der Versicherungsbranche tätig und fragt bei mir ein Coaching nach, nicht weil er sich durch seine Arbeit besonders belastet fühlt, sondern weil seine Frau mit Scheidung droht, falls er nicht seine arbeitsdominierte 377

Lebensführung ändere. Seine Arbeitszeiten haben in den letzten beiden Jahren kontinuierlich zugenommen, mit der Folge, dass ihn seine Familie kaum mehr zu Gesicht bekommt. Zwölf Stunden im Büro sind keine Seltenheit; und auch am Wochenende sitzt er vor dem Computer, um die nächsten Meetings vorzubereiten. Hinzu kommt eine lange Reihe von internationalen Geschäftsreisen im Jahr. Er verdient dabei so viel wie nie und ist auf der Karriereleiter weiter nach oben gestiegen. Die Familie kann sich alles leisten, was für Geld zu haben ist. Da verwundert es, wenn sein 14-jähriger Sohn mehrfach mit Ladendiebstählen auffällt, vor Gericht zitiert wird und als Strafe dreißig Sozialstunden ableisten muss. Dass er dies gerne macht, mag als Botschaft an seinen Vater verstanden werden, fehlende Zuwendung lasse sich nicht durch Geld ersetzen. Marius A. ist seinen eigenen Worten nach ein »Info-Junkie«. Permanente Erreichbarkeit sei für seinen geschäftlichen Erfolg unabdingbar, weshalb er auch in seiner Freizeit viel maile und telefoniere. Einst habe er seiner Familie versprochen, Zeiten festzulegen, in denen er ganz für sie da sei. Gemailt und telefoniert habe er in diesen Zeiten dennoch. Ohne Handy fühle er sich unwohl. Und so nimmt er denn auch sein Handy mit in die erste CoachingSitzung, legt es auf den Tisch, so dass ich den Eindruck gewinnen muss, er präsentiere es mir als materielles Symbol seiner Wichtigkeit. Ich bitte ihn, sein Handy auszuschalten und es wegzupacken. Nur zögernd ist er bereit, dies zu tun, bevor wir über sein aktuelles Anliegen sprechen. Während der Sitzung wird er immer unruhiger, reibt sich die Augen, blinzelt oft, reißt die Augen auf, als müsse er gegen den Schlaf kämpfen, auch werden seine Äußerungen fahriger. Ihm ist sichtlich unwohl. Dann aber lacht er und sagt kopfschüttelnd, bevor ich es sagen kann, ihm fehle sein »Suchtmittel«, welches er aber nun wirklich wiederhaben müsse. In der Tat sind inzwischen drei Anrufe aufgelaufen. Um diese zu beantworten, unterbricht er wortlos unsere Sitzung und verlässt den Raum für einige Zeit, kommt dann wieder, um sich ganz zu verabschieden. In den nächsten Sitzungen wird dann deutlich, dass sein entgrenztes Arbeiten, für das die Szene ein Beispiel ist, aus der panischen Angst resultiert, er selbst könne früher oder später zu denen gehören, die »abgehängt« werden. Ständig versucht er, sich selbst 378

davon zu überzeugen, unermüdliche Arbeit könne seinen weiteren Aufstieg garantieren, ohne davon aber wirklich überzeugt zu sein. So gesehen, wirkt sein Verzicht auf ein erfülltes Privatleben wie ein Tribut, den er seinen Schicksalsmächten zahlt, um seine Angst zu bannen. Nach der fünften Sitzung bricht Marius B. das Coaching ab. Ihm fehle die Zeit, sich darauf einzulassen. Und überhaupt könne ich wohl nicht garantieren, dass sich die Arbeit mit mir auch wirklich »bezahlt« mache. Falko B. Falko B., in den späten Dreißigern, Abteilungsleiter in einem Pharmaunternehmen, fragt bei mir Coaching nach, weil er sich als Burn-out-gefährdet erlebt. In den sechs Sitzungen, die ich mit ihm innerhalb von ein paar Monaten hatte, ergibt sich folgendes Bild: Als Gerüchte in seinem Unternehmen umlaufen, seine Abteilung werde verkleinert oder ganz abgebaut, fällt es ihm immer schwerer, die wöchentlichen Abteilungsmeetings zu leiten. Schon am Abend vor einer Sitzung bricht ihm der Schweiß aus. Er fürchtet Fehler in seiner PowerPoint-Präsentation, weshalb er seine Folien akribisch prüft. Das emotionale Klima in diesen Sitzungen ist angespannt: eine Mischung aus Angst, Traurigkeit und wütender Empörung, denn die Geschäftsleitung hält sich bedeckt. Niemand weiß, woran man ist. Um sich orientieren zu können, fehlen Falko B. belastbare Informationen. Er fühlt sich ohnmächtig und fürchtet, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seiner Abteilung ihn aggressiv angehen werden, sollte er sie nicht schützen können. Schon einige Male sind die Meetings lautstark entgleist. Auch er ist unterschwellig aggressiv, versucht aber, seine eigenen Aggressionen unter Kontrolle zu halten, nicht sicher, ob ihm dies längerfristig auch gelingt. Alsbald kann er nicht mehr schlafen. Zudem nimmt er seit längerer Zeit starke Medikamente mit konträren Wirkungen wild durcheinander, in immer höheren Dosen, auf die er mit einem »rebellierenden Magen« und »zermürbenden Kopfschmerzen« reagiere. Da er sich die Medikamente in seinem Unternehmen leicht beschaffen kann, fällt sein Medikamentenmissbrauch nicht auf; zumindest wird er von niemandem thematisiert, auch dann noch nicht, als er in einem Meeting völlig desolat wirkt und ihm »kein 379

grader Satz« mehr gelingt. Er fühle sich »totsterbenskrank«, wolle aber keine »Auszeit« nehmen, weil er befürchte, dass während seiner Abwesenheit die Entscheidung über das Schicksal seiner Abteilung falle. Sein Misstrauen gibt ihm ein, seine Widersacher würden nur den Moment abwarten, in dem er »wehrlos« sei. Im selben Zeitraum dieser psychischen Krise am Arbeitsplatz kommt es auch in seiner Familie zu einer beunruhigenden Entwicklung: Sein achtjähriger Sohn wird in der Schule zunehmend auffälliger. Er zeigt zahlreiche Leitsymptome einer ADHS-Störung und wird nach einer kinderärztlichen Untersuchung auch dem­ entsprechend diagnostiziert. Bei der Frage, wie sie behandelt werden soll, kommt es in der Familie zum Streit. Die Eltern befürworten Ritalin, was ihr Sohn aber vehement ablehnt. Will er die Tabletten nicht einnehmen, zwingt ihn seine Mutter, diese zu schlucken. Allmorgendlich wiederholt sich der Kampf, wobei sie von ihrem Mann keine Unterstützung zu erwarten hat (was bei vergleichbaren Fällen nicht selten ist; vgl. Haubl/Liebsch 2010). Jede Tabletteneinnahme wird von einer Suada begleitet, die dem Sohn einschärft, er werde im Leben ohne gute Noten keine Chance haben, Karriere zu machen. Um gute Noten zu bekommen, würden ihm einzig die Tabletten helfen, weil diese ihn ruhig und konzentriert werden ließen. Der Sohn aber bleibt seiner Verweigerungshaltung treu und denkt sich immer neue Widerstände aus: So versucht er, das Schlucken zu vermeiden, indem er die Tablette im Mundraum versteckt, oder er tauscht die Tabletten heimlich gegen Tabletten aus der elterlichen Hausapotheke aus, die eine ähnliche Form und Farbe haben. Der bedrückendste, da selbstschädigende Widerstand manifestiert sich darin, dass er eine ganze Handvoll Tabletten auf einmal einnimmt. Diese spuckt er zum Glück nach ein paar Minuten wieder aus, wohl weil ihm sein Protest dann doch selbst unheimlich geworden ist. Falko B. wirkt enttäuscht. Er fürchtet, dass seine Loyalität und sein Arbeitseinsatz nicht belohnt werden. Die Enttäuschung schlägt um in Ärger und Wut, über die er aber nicht spricht. Stattdessen wendet er seine Aggressionen gegen sich selbst, um sie dann an seine Frau und seinen Sohn zu delegieren. Sein Sohn entwickelt eine ADHS-Symptomatik mit einem bestimmten Hintersinn: Als Tollpatsch wahrgenommen und durch diese Zuschreibung geschützt, schlägt er öfter um sich, so dass so manches zu Bruch geht. 380

Als sich im Coaching herausstellt, dass die Probleme von Falko B. und seiner Familie so gravierend sind, dass sich eine CoachingIndikation nicht rechtfertigen lässt, schlage ich ihnen eine Familientherapie vor. Diese vermag ich dann auch zu vermitteln, obwohl ich wiederholt versucht war, mir die Therapie auch selbst zuzutrauen, was mich jedoch vermutlich überfordert hätte. Angesteckt durch das aggressive Leistungsethos der Familie, bin ich kurzzeitig verführt gewesen, mich selbst überfordern zu lassen, um einer befürchteten Entwertung zu entgehen, so wie Falko B. sich entwertet fühlt, wenn er sich vorstellt, dass »seine« Abteilung geschlossen werden könnte, obwohl er doch all seine Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft dagegen aufgeboten hat.

Identifizierung von salutogenen Resilienzfaktoren In einem unserer Forschungsprojekte haben wir die Erfahrungen von Supervisoren und Supervisorinnen als Datenquelle genutzt (Haubl 2013a; Haubl/Fuchs 2013). Wir fragten sie nach ihren subjektiven Theorien, die sie sich über die Gründe und Ursachen arbeitsbedingter Überforderungen gebildet hatten. Statistisch lassen sich vier signifikante Faktoren ausmachen, von denen die Befragten annahmen, dass sie die Resilienz von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen stärkten, sowohl individuell als auch kollektiv. Die ermittelten Resilienzfaktoren sind (alphabetisch, nicht nach Gewichtung gereiht): Anerkennung, Führungskompetenz von Vorgesetzten, Kollegialität und Leistungsgerechtigkeit. Theorievergleichend lassen sich diese Faktoren als eine Erweiterung des Faktors »Kohärenz« begreifen, wie ihn die Theorie der Salutogenese (Antonovsky 1997) entwickelt. Es sind Faktoren, die sich gezielt beeinflussen lassen. Zusammengenommen ergeben sie das Bild einer erwünschten, weil fürsorglichen Unternehmenskultur, die ihre Mitglieder fördert, statt nur Höchstleistungen von ihnen zu fordern. Von den befragten Supervisoren und Supervisorinnen her gedacht, markieren die genannten Faktoren damit unternehmenskulturelle Ziele, die (mittels Supervision) erreicht werden sollen. Ergo: Aufgrund unserer Daten lässt sich vermuten, dass das Risiko, sich psychisch zu überfordern, in dem Maße signifikant sinkt, wie 381

es Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gelingt, die genannten vier Faktoren plus Kohärenz zu realisieren, das heißt, Anerkennung und leistungsgerechte Entlohnung zu erhalten sowie Förderung durch Vorgesetzte und kollegiale Beziehungen zu erfahren. Dagegen ist anzunehmen, dass das Risiko steigt, wenn Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bereit sind, sich gesundheitlich selbst zu gefährden, getrieben von der Furcht, nicht (mehr) mithalten zu können, verführt von dem trügerischen Versprechen, dass es an einem selbst liege, ob man zu den Gewinnern oder den Verlierern gehört.

Psychosomatische Versorgung Jüngst haben wir eine fallbasierte Untersuchung bei Männern und Frauen durchgeführt, die sich zu einem stationären oder teilstationären Klinikaufenthalt auf einer psychosomatischen Station entschlossen hatten, weil es ihnen nicht länger gelang, ihrer Erwerbsarbeit psychisch störungsfrei nachzugehen (Alsdorf et al. 2017). Sie fühlten sich überfordert, am Ende ihrer Kräfte. Manche von ihnen hatten sich lange selbst zu kurieren versucht, bei anderen war der Weg kürzer. Den meisten der Befragten ist es nicht eben leichtgefallen, sich einzugestehen, dass sie ohne professionelle Hilfe nicht wieder gesund werden würden. Ähnlich schwer haben sie sich getan, ihre Mitverantwortung an ihrem Leiden wahrzunehmen und einzugestehen. Etlichen wäre eine rein somatische Diagnose lieber gewesen; eine psychologische Erklärung hat sie eher irritiert; eine psychodynamische Erklärung sogar noch mehr. Ein Teil der Patienten und Patientinnen hat sich gewünscht, nach ihrem Klinikaufenthalt an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren; ihren Arbeitsplatz zu verlassen, haben eher diejenigen gewünscht, die Kritik an den Arbeitsverhältnissen äußerten. Nicht wenige fühlten sich durch ihren Klinikaufenthalt lediglich »antherapiert« und erlebten es als große psychische Belastung, lange auf eine Anschlusstherapie warten zu müssen. Als häufigste Beschreibung ihres Behandlungszieles gebrauchten die Befragten die Metapher der »Grenze«: Sei ihre (krankheitswertige) psychische Überforderung durch eine Entgrenzung ihrer Arbeit 382

entstanden, so sei deren Begrenzung das, was anstehe, um sich zu erholen und wieder arbeitsfähig zu werden. Anders formuliert: Sie möchten lernen, gegenüber Erwartungen von Vorgesetzten sowie von Kollegen und Kolleginnen »Nein zu sagen« (Engelbach 2017). Und zwar spätestens dann »Nein zu sagen«, wenn sich deren Erwartungen nur um den Preis erfüllen ließen, die eigene psychische Gesundheit zu riskieren.

Erwerbsarbeit im Fokus der Psychotherapie Mit der Etikettierung einer arbeitsbedingten Erschöpfung als »Burn-out« stellt sich die Frage, wer für deren Behandlung zuständig ist. Unserer Erfahrung nach sind Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen oftmals nicht die erste Anlaufstelle. Die Betroffenen behelfen sich zunächst anders: Sie suchen den grauen Psychomarkt nach Angeboten ab, die schnelle Erfolge versprechen. Oder sie rüsten per Selbstmedikation erst einmal psychopharmakologisch auf. Gehören sie der Leitungsebene einer Organisation an, werden sie eher Coaching nachfragen, weil sie unterstellen, dass sich Coaches besser in die klärungsbedürftigen Situationen hineindenken könnten und über das effizientere Interventionsrepertoire verfügten. Und anders als in der Psychotherapie haben Coaches in der Regel auch kein Problem damit, ihre Coachees als anspruchsvolle Kunden und Kundinnen anzusprechen. Da aussagefähige Daten dazu fehlen, wissen wir nicht, wie verbreitet ein solches Handlungsmuster bereits ist. Wenn nicht nur Coaching, sondern auch Psychotherapie als ein Mittel nachgefragt wird, um psychisch belastbarer zu werden, müssen sich Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen zu solchen Nachfragen verhalten. Reduzieren sie ihr Rollenverständnis auf das eines Dienstleisters, so werden sie die Ziele ihrer Kunden zu den eigenen machen. Damit blenden sie aber aus, dass die Ziele selbst eine pathogene Wirkung haben können, weshalb es geboten scheint, sie gemeinsam zu reflektieren und gegebenenfalls im Laufe des Prozesses zu modifizieren. Unsere Untersuchungen liefern Hinweise dafür, dass Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen im Vergleich zu Coaches vielfach unangemessene Vorstellungen von neoliberalen Arbeitsver383

hältnissen haben und davon, wie sich diese Verhältnisse in der Psyche von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen niederschlagen. Überhaupt ist Erwerbsarbeit in der Psychotherapie, von Ausnahmen abgesehen (Dejours 2012), ein vergleichsweise nachrangiges Thema. Auch dazu fehlen belastbare empirische Untersuchungen. Allerdings dürften Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen Erwerbsarbeit auch nur insoweit angemessen thematisieren können, wie sie selbst ein angemessenes Verständnis von ihrer eigenen Erwerbsarbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft entwickeln (Flick 2017). Auch darüber ist bislang wenig bekannt. Vielleicht bedarf es auf Seiten der Psychotherapie der Konzeptualisierung einer »berufsbezogenen Psychotherapie« (Hiller/Hillert 2014), die sich auf die (vorbewusste) Bedeutung von Arbeit und arbeitsbedingten psychischen Belastungen spezialisiert.

Gesundheitsprophylaxe Arbeitgeber benötigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die sich mit ihrem Arbeitsvermögen in den Dienst ihrer primären Aufgabe stellen, weshalb sie geeignet erscheinende Personen selektieren und auf Passung hin sozialisieren. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen benötigen von Arbeitgebern nicht nur sichere Erwerbsmöglichkeiten, sondern auch die Möglichkeit, das eigene berufliche Fähigkeitsprofil weiterzuentwickeln und dafür wertgeschätzt zu werden. Dies schafft Selbstwert und in dessen Folge auch Zutrauen, sich neuen und anspruchsvolleren Herausforderungen zu stellen. Um ihre Belegschaft zu bewegen, das zu tun, was sie im Interesse ihres Arbeitgebers tun sollte, setzen Arbeitgeber heute immer seltener auf Zwang. An seine Stelle tritt intrinsische Motivation: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen organisieren sich selbst, tun das, was sie tun sollen, freiwillig, wobei sie dadurch oft mehr tun, als von ihnen hätte erzwungen werden können. Herausforderungen schlagen in Überforderung um, wenn Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht über die benötigten instrumentellen, kognitiven und auch emotionalen Ressourcen verfügen, um ihre primäre Aufgabe zufriedenstellend zu erledigen. Psychisch überfordernd wird eine solche Situation, wenn sie über 384

längere Zeit bestehen bleibt, ohne dass die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sie erfolgreich beenden können. Psychische Überforderung, vor allem eine lang anhaltende, birgt ein gravierendes Risiko zu erkranken. Dabei signalisiert die Krankheit, dass ein Ungleichgewicht zwischen den Herausforderungen der primären Aufgabe und den Ressourcen besteht, die benötigt werden, um sie zu bewältigen. Krankheit ist ein starkes Signal, um auf dieses Ungleichgewicht aufmerksam zu machen und seinen Ausgleich in Angriff zu nehmen. Allerdings kann es sein, dass psychisch überforderte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ihre Überforderung gar nicht wahrnehmen (wollen). Die Folge ist eine Steigerung der Überforderung, weil nunmehr die Belastung hinzukommt, die aus der Aufrechterhaltung einer Bagatellisierung oder gar Verleugnung resultiert. Wer sich selbst und anderen seine psychische Überforderung einzugestehen vermag, macht einen ersten Schritt aus dem sich endlos drehenden »Hamsterrad« heraus und gewinnt an Freiheit, dessen »rasenden Stillstand« (Virilio 1992) zu durchschauen und psychisch gesund zu bleiben.

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Lukas Iwer Kommentar: Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven auf psychisches Leiden Die Beiträge von Gerd Rudolf, Marianne Leuzinger-Bohleber, Martin Heinze und Samuel Thoma sowie Rolf Haubl untersuchen verschiedene Phänomene der Überforderung, deren soziale Ursachen und mögliche therapeutische Ansatzpunkte. Da die Beiträge von VertreterInnen verschiedener theoretischer Ansätze und therapeutischer Schulen stammen, divergieren die verwendeten Fachbegriffe und die damit verbundenen Blickwinkel. Der Beitrag von Heinze und Thoma ist aus einer anthropologischen und sozialpsychiatrischen Perspektive geschrieben, während die anderen AutorInnen auf psychodynamischer Grundlage argumentieren, wobei der Beitrag von Haubl auch sozial- und arbeitspsychologische Überlegungen und Befunde enthält.1 In Psychiatrie und Psychotherapie finden zwar häufig biopsychosoziale Krankheitsmodelle Anwendung, in denen Erwerbsarbeit und sozialpolitische Phänomene der Überforderung aber lediglich eine marginale Rolle spielen.2 Eine entsprechende Kritik an biopsychosozialen Krankheitsmodellen richtet sich gegen ihre »Gesellschaftsvergessenheit« (Keupp 2009). So argumentieren auch Heinze und Thoma in ihrem Beitrag: »Der psychiatrische Diskurs läuft Gefahr, das eigentliche Leiden zu verdecken, indem er es auf individuelle Krankheitssymptome reduziert.« Dabei spielten gesellschaftliche Faktoren beim Verständnis individuellen Leidens in der Geschichte der Psychotherapie früher noch eine größere Rolle als heute. Bereits Freud und, in dessen psychoanalytischer Tradition stehend, auch Alexander und Margarete Mitscherlich 1 Perspektiven anderer Therapieschulen fehlen somit im klinischen Teil. Hierfür sei beispielsweise auf die Studie von Elisabeth Summer (2008) verwiesen, in der Alain Ehrenbergs Thesen anhand von verhaltenstherapeutischen Fallbeispielen diskutiert werden. 2 Der ehemalige Präsident der American Psychiatric Association kritisierte das heutige biopsychosoziale Krankheitsmodell als ein einseitiges »bio-bio-bio-model« (Sharfstein 2005: 3).

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oder die therapeutisch tätigen Vertreter der Frank­furter Schule wie Erich Fromm verknüpften eine individuelle und eine soziale Perspektive (Haubl/Schülein 2016). In einem gewissen Sinn spiegelt die Psychotherapie der Gegenwart damit auch die Individualisierung und Internalisierung von gesellschaftlichen Anforderungen der Selbstoptimierung wider, anstatt diese kritisch zu hinterfragen (vgl. hierzu die Beiträge von Hardering/Wagner, King et al. sowie Siegrist in diesem Band). Im Folgenden werden die Beiträge der AutorInnen des klinischen Teils kurz diskutiert und anschließend dahingehend kommentiert, welche Bedeutung sie der Erwerbsarbeit einerseits und sozialpolitischen Phänomenen gegenwärtiger neoliberaler Gesellschaften andererseits beimessen. Die von Gerd Rudolf auf der Basis der »Strukturbezogenen Psychotherapie« (Rudolf 2013) entwickelte These lautet, dass eine digitalisierte und beschleunigte Welt es erschwere, die für einen verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst und anderen erforderlichen intrapsychischen Fähigkeiten zu entwickeln. Er greift dazu auf das psychoanalytische Konzept der psychischen Struktur zurück, das in Rudolfs Ausarbeitung die Fähigkeiten umfasst, »eine Beziehung zu anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten, aber auch […] innerhalb des eigenen Selbst differenzieren, regulieren, integrieren zu können«. Besonders hervorgehoben wird vom Autor dabei die den hektischen Alltag verlangsamende Fähigkeit zur Selbstreflexion im Denken oder im Gespräch. Diese Selbstreflexion, die auch im Rahmen einer Psychotherapie stattfinden kann, wird aus Sicht von Rudolf heute häufig vermieden, nicht zuletzt durch »Opferüberzeugungen«: Gemeint ist ein Verständnis »normaler« Lebensprobleme als psychisches Leiden, Mobbing oder Trauma, was durch einen zunehmend pathologisierenden psychiatrisch-psychotherapeutischen Diskurs noch unterstützt werde. Solche »Opferüberzeugungen« ermöglichten zwar eine gewisse Verbalisierung schwieriger Erfahrungen, überdeckten aber eher die relevanten psychischen und sozialen Probleme, als sie zur Sprache zu bringen. Zwei kritische Einwände lassen sich hier formulieren. So erscheint es nicht unproblematisch, wenn im Text »Opferüberzeugungen« und »echte« psychische Störungen zumindest implizit gegeneinander ausgespielt werden. Dies vernachlässigt, dass die Trennung zwischen Normalität und Pathologie immer abhängig 390

von sozial verhandelten Normen ist (vgl. die Beiträge von Handerer et al. sowie King et al. in diesem Band); insbesondere trifft dies auf den Trauma-Begriff zu (Lamott/Lempa 2009; Varvin 2018). Darüber hinaus tritt die Ebene des Sozialen eher in den Hintergrund, wenn Rudolf die Verantwortung für Überforderungen auf die individuelle Ebene verlagert, indem er für eine stärkere Selbstreflexion und Selbstfürsorge des Einzelnen plädiert. Die Diskussion um »Opferüberzeugungen« reicht letztlich nicht aus, um neben einer Kritik an der problematischen Verknüpfung der Selbstoptimierung mit dem psychotherapeutischen Diskurs weitere sozialpolitische Themen in den Blick zu nehmen. Marianne Leuzinger-Bohleber untersucht den Zusammenhang von Depression, Traumatisierung und Gesellschaft und fokussiert hierbei auch die Bedeutung von Medien. Mit ihrem Beitrag folgt die Autorin dem psychoanalytischen Ansatz, wonach individuelles Leiden »seismographisch offene oder verborgene gesellschaftliche Konflikte und Strukturen« sichtbar mache. Anhand des Fallbeispiels der depressiven Patientin Frau C. argumentiert die Autorin, dass gerade für die Ätiologie schwerer Depressionen frühe Traumatisierungen eine zentrale Rolle spielen, was sich mit Daten anderer Studien hierzu deckt (Docter et al. 2018). Über embodied memories würden frühere Traumatisierungen weitergetragen und angesichts des heute in den Medien omnipräsenten weltweiten Leidens gerade bei chronisch depressiven PatientInnen reaktualisiert. LeuzingerBohleber ist der Auffassung, dass dieses Phänomen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Allgemeinbevölkerung spielt: Medieninformationen zum global unrest könnten bei vielen Menschen an eigene Erfahrungen von Hilflosigkeit erinnern und die Ausein­ andersetzung mit sozialpolitischen Problemen behindern. Die Autorin zeigt, wie die Analyse individuellen Leidens ein soziales Phänomen besser verständlich machen kann, nämlich eine zunehmende Entpolitisierung bei gleichzeitig immer präsenter werdender Wahrnehmung von globalem Leid.3 3 Leuzinger-Bohleber weist auf die jüngeren Arbeiten von Achille Mbembe hin; ähnliche Fragestellungen finden sich auch bei weiteren DenkerInnen: So betont beispielsweise die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin (2017), dass es ohne die Anerkennung von selbsterlittenem Unrecht durch andere kaum möglich sei, umgekehrt Unrecht in der Außenwelt anzuerkennen. Judith Butler (2016: 249-280) hingegen fokussiert eine sozialpolitische Ebene im Umgang mit global unrest: Dass

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Der Zusammenhang von individuellem Leiden und sozialer Teilhabe ist ebenfalls Inhalt des Beitrags von Martin Heinze und Samuel Thoma, der stärker sozialphilosophisch argumentiert und dies mit praktischen Überlegungen verbindet. Die Autoren dia­ gnostizieren mit Honneth (2017) angesichts heutiger sozialpolitischer Probleme ein gesellschaftliches Unbehagen, das sich auch in einer Zunahme depressiven Erlebens manifestiere. Dieses entstehe letztlich aus der Vernachlässigung sozialer Freiheit zugunsten eines individualistischen (negativen) Freiheitsverständnisses, wobei die Autoren soziale Freiheit als eine »Freiheit für beziehungsweise zur Gesellschaft und zu sozialem Handeln« verstehen. In diesem Sinne wird die Depression als »Verlust […] von Möglichkeiten des (Sich-)Erlebens und Handelns einer Person in Bezug auf das soziale Umfeld« beschrieben. Ihr Vorschlag ist, das Konzept der sozialen Freiheit stärker in der Praxis von Psychiatrie und Psychotherapie zu verankern, wobei unter anderem auf Honneths anerkennungstheoretische Arbeiten sowie das Prinzip der Assoziativtät (Prucha) verwiesen wird. Dazu müssten Psychiatrie und Psychotherapie neben der therapeutischen Zweierbeziehung auch den sozialen Raum der Arbeit systematisch in den Blick nehmen. Rolf Haubl entwirft in seinem Beitrag ein Bild von heutigen ArbeitnehmerInnen, die sich mit zunehmend eigenverantwortlicher Arbeit selbst überfordern und ihre Gesundheit zugunsten der eigenen Leistungsfähigkeit vernachlässigen. Er problematisiert den Burn-out-Diskurs zudem als potenziell »entpolitisierend«, da durch die Einnahme einer Krankenrolle – ähnlich Rudolfs »Opferüberzeugungen« – der mögliche Widerstand gegen eine überfordernde Arbeitsgesellschaft aus dem Blick gerate. Der Beitrag verbindet dabei kenntnisreich die individuelle Perspektive, beispielsweise in der Beschreibung eines neoliberalen Sozialcharakters, in Fallbeispielen oder Überlegungen zur individuellen Gesundheitsprophylaxe, mit einer gesellschaftlichen Ebene, beispielsweise wenn Haubl neoliberale Arbeitsverhältnisse oder die Burn-out-Metapher diskutiert oder zentrale gesundheitliche Resilienzfaktoren bei der Gestaltung von Erwerbsarbeit beschreibt. das Leid anderer nicht betrauert wird, ist für sie bereits ein Effekt neoliberaler Machtstrukturen, in denen die wechselseitige Abhängigkeit des Lebens in einer globalen Welt notwendigerweise verleugnet wird.

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Diskussion der Fallbeispiele Wie spiegeln sich nun die in den Beiträgen beschriebenen individuellen und klinischen Perspektiven auf Überforderung in den Fallbeispielen wider? – Leuzinger-Bohleber legt der Analyse ihrer Kasuistik das psychoanalytische Depressions-Modell von Hugo Bleichmar zugrunde, in dem gesellschaftliche Faktoren allerdings nur indirekt Einfluss auf die Entstehung der Depression nehmen. Zwar integriert die Autorin Ehrenbergs These vom »erschöpften Selbst« in das Modell, wenn sie Scham und Selbstwert in Zusammenhang mit sozioökonomischen und arbeitsbezogenen Faktoren bringt. Im Fallbeispiel jedoch erfahren wir wenig Konkretes über den Arbeitsplatz und die angedeuteten Konflikte, die berufliche Perspektive sowie deren Rolle in der psychoanalytischen Therapie, obwohl Arbeit beziehungsweise die Arbeitsfähigkeit für Frau C. eine große Bedeutung haben. Stattdessen konzentriert sich die Autorin auf den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des global unrest und der Traumatisierung von Frau C. Anhand des Fallbeispiels zeigt sie, wie wichtig der anerkennende Umgang mit traumatisierenden Erfahrungen im Rahmen einer Psychotherapie ist. Nur so könne, anstelle eines »psychischen Rückzugs«, mit dem weltweit sichtbaren Leid aktiv umgegangen werden. Die psychoanalytische Perspektive auf individuelles und kollektives Trauma ist für Leuzinger-Bohleber dabei eine unter vielen, die für das Verständnis sozialer Phänomene bedeutsam sein können. Die Arbeitswelt hingegen spielt in ihrem Beitrag nur eine untergeordnete Rolle und wird kaum thematisiert. Heinze und Thoma beschreiben in ihrem Fallbeispiel von Herrn L. ausführlich den Zusammenhang von Arbeitssituation und Psychopathologie, die Überforderung durch zunehmende Arbeitslast sowie das Leiden am Anerkennungsverlust. Herr L. arbeitet seit über vierzig Jahren in einer Justizbehörde und erlebt bei seiner gleichförmigen Tätigkeit »keinerlei Sinngefühl«. Er wünscht sich nach der Pensionierung ein ehrenamtliches soziales Engagement, das für ihn dann »sinnstiftend« sein solle. Das Fallbeispiel bestätigt zwei im Beitrag entwickelte Ideen: Erstens ist für Herrn L. soziales Handeln ein wichtiger Bestandteil der Therapie seiner Depression, was auf die Relevanz des Konzepts der sozialen Freiheit hinweist. Zweitens zeigt sich die von den Autoren 393

beschriebene Gefahr einer einseitig auf Leistung und Individualität orientierten Sozialisation: Die konkrete Person scheint sich hinter der Rolle von Herrn L. kaum entwickelt zu haben. So kann er sich außerhalb seiner Erwerbsarbeit nur wenig beschreiben: »Eigentlich habe er ja nichts zu beklagen.« Obwohl die Autoren den Zusammenhang von Arbeit und Depression betonen, fehlt im Fallbeispiel ein vertieftes Verständnis der intrapsychischen Vorgänge des Patienten: Wie kommt es zu Leistungsorientierung, Berufswahl, Verbleib im Beruf, und welche Bedeutung haben Ressourcen? Insgesamt zeigt sich bei Heinze und Thoma die Gefahr, dass bei einem Fokus auf arbeitsbezogene oder sozialpolitische Themen nun umgekehrt die intrapsychischen Prozesse und deren Wechselwirkung mit sozialen Phänomenen aus dem Blick geraten können. Die beiden Fallbeispiele von Haubl stammen aus dem arbeitsbezogenen Coaching. In der ersten Kasuistik, derjenigen des Marius A., wird Arbeit als »Suchtmittel« beschrieben, dessen ausbleibender »Konsum« von einer panischen Angst vor beruflichem Abstieg begleitet ist. Die häufigen Geschäftsreisen des Klienten beeinträchtigen Gesundheit, Familie und Paarbeziehung; so wurde auch das Aufsuchen des Coachings dadurch motiviert, dass die Ehefrau mit Scheidung drohte. Im zweiten Fallbeispiel von Falko B. entwickeln sich psychische Symptome angesichts der drohenden Schließung seiner Abteilung. Diese Unsicherheit führt zu Medikamenten­ abusus, ausgeprägter Angst, Trauer und Aggression sowie psychosomatischen Beschwerden. Schwierigkeiten in der Familie zeigen sich hier im Umgang mit der ADHS-Störung des achtjährigen Sohnes. Haubl gelingt es mit seinen Fallbeispielen, Einseitigkeit zu vermeiden und ausgewogen die Wechselwirkungen zwischen individueller beziehungsweise familiärer Psychodynamik und beruflichen und sozialen Anforderungen darzustellen. Zudem reflektiert er sich selbst nicht nur in Bezug auf Dynamiken von Übertragung und Gegenübertragung, sondern setzt sich auch mit seiner beruflichen Rolle als Coach und Therapeut sowie der damit verbundenen Frage nach dem gesellschaftlichen Rahmen der therapeutischen Tätigkeit auseinander.

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Ausblick In den klinischen Beiträgen zeigt sich, wie schwierig es ist, individuelle und gesellschaftliche Perspektiven im Kontext von Psychotherapie miteinander zu verbinden. Ansätze, die sich auf in­trapsychische Prozesse fokussieren, tendieren dazu, soziale Faktoren zu vernachlässigen und umgekehrt. Im Folgenden soll deshalb ein Ausblick auf Ansätze und Fragestellungen gegeben werden, die psychiatrisch-psychotherapeutische sowie gesellschaftliche Perspektiven integrieren. Neuere soziologische Arbeiten thematisieren die Repräsentation von sozialpolitischen Themen in Psychiatrie und Psychotherapie und kommen zu dem Befund, dass Arbeitswelt und sozialpolitische Konflikte in diesen Fächern weitgehend zu individuellen Problemen »umgedeutet« werden. Zudem besäßen PsychotherapeutInnen nur ein rudimentäres Verständnis neoliberaler Sozial- und Arbeitsverhältnisse, da diese in der psychotherapeutischen Ausbildung eigentlich keine Rolle spielten (Flick 2017; vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band). Es bedürfe also der Integration von aktuellem philosophischem und soziologischem Fachwissen in Studium, Ausund Weiterbildung. Für diesen Zweck angemessene Metatheorien, die eine individuelle und eine gesellschaftliche Ebene mit Bezug auf klinische Phänomene zu integrieren versuchen, sind beispielsweise Axel Honneths Konzeption der »Pathologien des Sozialen« (Honneth 1994; 2014) oder Theorien des »Sozialen Leidens« (vgl. den Beitrag von Flick in diesem Band). So bringt Honneth beispielsweise die Zunahme depressiven Erlebens mit einem Verlust demokratischer Diskussionskultur in Verbindung (Honneth 2008). Exemplarische empirische Studien zum Zusammenhang von Arbeitswelt und intrapsychischen Prozessen liegen etwa von Dejours (2010/2012), vom Frank­furter Institut für Sozialforschung und vom Sigmund-FreudInstitut vor (zum Beispiel Alsdorf et al. 2017; Wagner 2017). Insgesamt bedarf es jedoch weiterer theoretischer Konzeptionen und empirischer Untersuchungen zum Zusammenhang von sozialpolitischen Phänomenen und intrapsychischen Prozessen. Eine zusätzliche Perspektive würde eine soziologische Selbstreflexion innerhalb der psychotherapeutischen Profession bieten. Auf einer individuellen Ebene könnten sich PsychotherapeutInnen 395

beispielsweise neben der üblichen therapeutischen Selbsterfahrung auch mit den eigenen Arbeitsbedingungen und dem eigenen sozialen Hintergrund auseinandersetzen. Als Vorbild hierfür könnte die soziologische Selbstanalyse dienen, als deren Vorläufer Pierre Bourdieu (2002; vgl. King 2014) gilt und die in Deutschland zuletzt insbesondere durch Didier Eribons Rückkehr nach Reims (2009/2016) populär gemacht wurde.4 Dieser soziologische Blick auf die eigene Biographie und soziale Rolle kann zum besseren Verständnis von Übertragungsdynamiken bei PatientInnen anderer sozialer Schichten beitragen (Hilgers 2010). An diese Reflexion des Umgangs mit verschiedenen sozialen Schichten oder anderen Kulturen lässt sich auch die kritische Erwägung anschließen, ob es nicht auch von Seiten der TherapeutInnen systematische Selektionseffekte bei der PatientInnenwahl gibt, die zur Unterrepräsentation bestimmter sozialer Gruppen in der psychotherapeutischen Versorgung beitragen (Strauß 2015; vgl. den Beitrag von Handerer et al. in diesem Band). Über die soziologische Selbstreflexion hinaus hat jedoch auch die »Gesellschaftsdiagnostik« (Keupp 2009: 137) eine lange Tradition in der Psychotherapie – nicht nur in der Psychoanalyse (Haubl/ Schülein 2016), sondern auch in der Verhaltenstherapie (Bruder 1982; Keupp 2009). Diese Tradition wiederaufzunehmen wäre ebenfalls ein wünschenswertes Ziel, damit psychotherapeutisches Denken nicht nur auf den akademischen Diskurs und die therapeutische Beziehung beschränkt bleibt, sondern ganz in der Tradition von PsychiaterInnen und PsychologInnen wie Sigmund Freud, Erich Fromm oder Alexander und Margarete Mitscherlich auch an öffentlichen, sozialpolitischen Diskursen mitwirkt.

4 Zur Relevanz von Eribons Arbeiten für die Psychiatrie siehe Lang und Thoma (2018).

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Bildnachweise S. 58, Abbildung 1: Verhältnis von Eigenzeit und Weltzeit. Grafik erstellt vom Autor. S.  64, Abbildung 2: Alfred Kubin, Der Mensch (1902). Feder in Tusche, laviert, gespritzt, Einfassungslinie, auf Katasterpapier, Blattgröße 38,5 x 31,4 cm; Darstellungsgröße 25,9 x 27,6 cm; Leopold Museum Wien, Inventarnummer: 910. Quelle: R. Leopold, R. Schuler (Hg.), Alfred Kubin – aus meinem Reich: Meisterblätter aus dem Leopold-Museum Wien [Ausstellung im Leopold-Museum, Wien, 5. Oktober 2002 - 6. Januar 2003], Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 76. S.  65, Abbildung 3: Edvard Munch, Melankoli [Melancholie] (1892). Öl auf Leinwand, 64 x 96 cm, Nasjonalmuseet, Billedkunstsamlingene [»Nationalgalerie«], Oslo, Norwegen, Inventarnummer: NG.M.02812. Quelle: K. A. Schröder, A. Hoerschelmann (Hg.), Edvard Munch – Thema und Variation [anlässlich der Ausstellung Edvard Munch – Thema und Variation in der Albertina, Wien, 15. März - 22. Juni 2003], Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag 2003, S. 216. S.  66, Abbildung 4: Tullio Crali, Incuneandosi nell’ abitato [Sich in das Wohngebiet einschneisen], auch bekannt als In tuffo sulla città [Sturzflug auf die Stadt] (1939). Öl auf Leinwand, 130 x 155 cm, MART, Museo d’Arte Moderna e Contemporanea di Trento e Roverto, MART 362, 4-A. Quelle: M. Masau Dan (Hg.), Crali – il volo dei futuristi [Trieste, Civico Museo Revoltella, Galleria d’arte moderna, 27 iuglio-30 settembre 2003], Trieste: Museo Revoltella 2003, S. 54. S.  312, Abbildung 1: Depressivität, aus: M. Johnstone, Mein schwarzer Hund. Wie ich meine Depression an die Leine legte, 6. Aufl. München: Verlag Antje Kunstmann 2013, S. 18 (Orig. I Had a Black Dog: His Name Was Depression, 2005). S.  322, Abbildung 2: Entstehungspfade der Depression, aus: H. Bleichmar, »Verschiedene Pfade, die in die Depression führen. Implikationen für spezifische und gezielte Interventionen«, in: Chronische Depression. Verstehen – Behandeln – Erforschen, hg. von M. Leuzinger-Bohleber, U. Bahrke, A. Negele. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 82-97, S. 85.

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren Hartmut Böhme, Prof. em. Dr. phil., Kulturwissenschaftler, HumboldtUniversität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wissensgeschichte, Kulturtheorien, Naturästhetik, Historische Anthropologie, Literatur- und Bildwissenschaft. Matthias Flatscher, Dr. phil., Assistent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Sprachphilosophie. Sabine Flick, Dr. phil., Soziologin und Supervisorin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frank­furt/M. und assoziierte Wissenschaftlerin am Institut für Sozialforschung. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Psychotherapie, Theorien sozialen Leidens, Geschlechter- und Arbeitssoziologie. Thomas Fuchs, Prof. Dr. med. Dr. phil., Psychiater und Philosoph, Karl Jaspers-Professor für Philosophie und Psychiatrie an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologische Psychopathologie und Anthropologie, kognitive Neurowissenschaften. Benigna Gerisch, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DPV/IPA), Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Suizidalität und Geschlechterdifferenz, Autodestruktive Körperpraktiken, Perfektionierung/Optimierung sowie Quantifizierungspraktiken in der beschleunigten Moderne. Josua Handerer, Diplom-Psychologe und Therapeut an der Oberbergklinik Berlin-Brandenburg, Psychologischer Psychotherapeut i. A. an der Psychologischen Hochschule Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie, Psychotherapie und Gesellschaft, Psychotherapie und Religion. Friedericke Hardering, Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, Postdoc und Projektleiterin an der Professur für Arbeitssoziologie der Goethe-Universität Frank­furt/M. Forschungsschwerpunkte: Arbeitssoziologie, qualitative Methoden, Subjekt- und Identitätstheorien. Rolf Haubl, Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol. habil., Gruppenlehranalytiker

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(D3G) und Supervisor (DGSv) im Ruhestand, ehemals Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frank­furt/M. sowie Direktor des Sigmund-Freud-Instituts. Forschungsschwerpunkte: Krankheit und Gesellschaft, Emotionen, Psychoanalytische Sozialforschung. Martin Heinze, Prof. Dr. med., Professor für Psychiatrie und Psychotherapie und leitender Arzt der Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Immanuel Klinik Rüdersdorf. Forschungsschwerpunkte: Psychiatrische Versorgungsforschung, Philosophie der Psychiatrie, Subjektivitätswissenschaften. Lukas Iwer, M. Sc. M. A., Psychologischer Psychotherapeut i. A. am Frank­ furter Psychoanalytischen Institut, Doktorand der Arbeitsgruppe Phänomenologie am Universitätsklinikum Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Anerkennungstheorie in der Psychiatrie, Psychotherapie und Gesellschaft, Foucault und die Psychiatrie. Frank Jacobi, Prof. Dr. rer. nat., Diplom-Psychologe und approbierter Psychotherapeut, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie (Schwerpunkt Verhaltenstherapie) an der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB). Forschungsschwerpunkte: Psychische Störungen und deren Definition und Beschreibung (Diagnostik), Epidemiologie psychischer Störungen (Verbreitung in der Bevölkerung sowie Suche nach Risiko- und Schutzfaktoren), Psychotherapie- und Versorgungsforschung. Vera King, Prof. Dr. phil., Professorin für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frank­furt/M. und Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts. Forschungsschwerpunkte: Psyche und Kultur, psychische Folgen sozialen Wandels, zum Beispiel von Digitalisierung. Cornelia Klinger, Prof. Dr. phil., apl. Professorin für Philosophie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ästhetik, Theoriegeschichte der Moderne, Gender Stud­ ies im Bereich Philosophie. Marianne Leuzinger-Bohleber, Prof. Dr. phil., Psychoanalytikerin (DPV), ehemals Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frank­ furt/M. (20012016), Professorin em. für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel, Staffmember des IDeA Zentrums der LOEWE Exzellenzinitiative, Vice-chair des Research Board der International Psychoanalytical Association. Forschungsschwerpunkte: Psychoanalytische Psychothera-

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pieforschung, psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen, psychoanalytische Entwicklungspsychologie (Schwerpunkt frühe Kindheit und Adoleszenz), Psychoanalyse und Neurowissenschaften/Embodied Cognitive Science. Stefano Micali, Prof. Dr. phil., Philosoph, Professor für Philosophische Anthropologie am Husserl-Archiv der Katholischen Universität Löwen. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Phänomenologie, Politische Philosophie, Psychopathologie. Hartmut Rosa, Prof. Dr. rer. soc., Soziologe, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Soziologie der Weltbeziehung. Gerd Rudolf, Prof. em. Dr. med., ehemals Professor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, Mitbegründer der OPD. Forschungsschwerpunkte: Konzeptentwicklung, Ergebnisforschung und Qualitätssicherung in der Psychotherapie. Benedikt Salfeld, M. A. Neuere deutsche Literatur, Medienwissenschaft und Soziologie sowie B. A., M. A. Psychologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der International Psychoanalytic University Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie, Geschichte und Klinik der Psychoanalyse, soziologische Zeitdiagnosen. Julia Schreiber, M. A., Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut sowie an der Goethe-Universität Frank­furt/M. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Zeitdiagnosen und Kulturtheorien, Biographie- und Generationenforschung. Johannes Siegrist, Prof. Dr. phil., Medizinsoziologe, Seniorprofessor für Psychosoziale Arbeitsbelastungsforschung an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Gesundheitsrisiken der modernen Arbeitswelt, soziale Ungleichheit von Gesundheit. Julia Thom, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin i. A. und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB) und am Robert Koch-Institut, Abteilung für Epidemiologie

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und Gesundheitsmonitoring. Forschungsschwerpunkte: Epidemiologie psychischer Störungen, Versorgungsforschung, Psychotherapie und Gesellschaft. Samuel Thoma, Dr. phil., Psychiater in Ausbildung an der Immanuel Klinik Rüdersdorf, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Medizinischen Hochschule Brandenburg, Redaktionsmitglied der »Sozialpsychiatrischen Informationen«. Forschungsschwerpunkte: Sozialpsychiatrie, Anthropologische Psychiatrie und Philosophie, Psychopathologie und Versorgungsforschung. Greta Wagner, Dr. phil., Soziologin, Postdoc im Exzellenzcluster »Die Her­ ausbildung normativer Ordnungen« und derzeit Fellow am Institute for Advanced Study in Princeton. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Moral, Emotionssoziologie, Theorien sozialen Leidens.

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