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Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)
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Regina Wildgruber
Daniel 10 – 12 als Schlüssel zum Buch
Mohr Siebeck
Regina Wildgruber, geboren 1976; Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie; 2003 Diplom in Katholischer Theologie; 2004–08 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück; seit 2008 Beauftragte für den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen im Bistum Osnabrück; 2012 Promotion.
e-ISBN PDF 978-3-16-152367-0 ISBN 978-3-16-151966-6 ISSN 1611-4914 (Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2013 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Vorwort Die vorliegende Studie wurde im April 2011 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg unter dem Titel „Vom Ende her. Daniel 10 – 12 als Schlüssel zum Buch“ als Dissertationsschrift eingereicht. Mit dieser Arbeit verbinde ich viele bereichernde Lern- und Lebenserfahrungen. Denjenigen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, möchte ich an dieser Stelle danken. Ich danke Herrn Prof. Dr. Georg Steins für seine inspirierende, ermutigende und freundschaftliche Betreuung und Begleitung. Die sechs Jahre, in denen ich am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück seine wissenschaftliche Mitarbeiterin war, haben es mir nicht nur ermöglicht, eine Promotionsarbeit anzufertigen. Er hat mir geistigen Freiraum eröffnet, so dass ich die Arbeit am Danielbuch als Zeit des wissenschaftlichen und menschlichen Wachstums erfahren konnte. Herrn Prof. Dr. Christoph Dohmen danke ich für die Möglichkeit, meine Arbeit an der Fakultät in Regensburg einzureichen, die Offenheit und die unkomplizierte Unterstützung, die ich durch ihn erfahren habe, sowie für manche gute Anregung. Egbert Ballhorn, Albrecht von der Lieth, Hildegard Scherer und Uta Zwingenberger waren für mich wichtige Gesprächspartner, die mich gerade in der Schlussphase der Arbeit durch ihre Rückmeldungen und nicht zuletzt durch Korrekturlesen unterstützt haben. Bei Herrn Prof. Dr. Bernd Janowski bedanke ich mich herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die Zweite Reihe der Forschungen zum Alten Testament, ebenso bei Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Tanja Idler vom Verlag Mohr Siebeck für die angenehme Zusammenarbeit. Ein herzlicher Dank gilt auch Frau Daniela Kranemann, Fa. Corrigenda, Erfurt. Sie hat die Erstellung der Druckvorlage übernommen und mich dadurch bei der Publikation sachkundig und auch freundschaftlich unterstützt. Danken möchte ich außerdem meinem Arbeitgeber, dem Bistum Osnabrück, namentlich Herrn Generalvikar Theo Paul und Frau Dr. Julie Kirchberg, für die Beteiligung an den Publikationskosten sowie für die Möglichkeit flexibler Arbeitszeiten in der Schlussphase der Arbeit.
VI
Vorwort
Schließlich danke ich meiner Familie, die an der Entstehung dieser Arbeit regen Anteil genommen hat. Sie hat mir in den vergangenen Jahren emotionalen Rückhalt und immer wieder Gelegenheit zum Durchatmen gegeben. Das Danielbuch öffnet seinen Leserinnen und Lesern den Blick für die Größe und die Treue des Gottes Israels, die auch in einer Welt voller Widrigkeiten ihre Spuren hinterlassen. Es lädt dazu ein, sich im je eigenen Leben an dieser Erkenntnis zu orientieren. Diejenigen, die diesen Weg beschreiten, werden in den Schlusskapiteln des Buches als maskilim – „Einsichtige“ bezeichnet. Den Leserinnen und Lesern dieser Arbeit wünsche ich, dass sie durch die Lektüre neue Spuren und Perspektiven in der vielstimmigen Diskussion zum Danielbuch erkennen und dass sie auf diese Weise die Suchbewegung der maskilim weitertragen. Osnabrück – Gablingen, Weihnachten 2012
Regina Wildgruber
Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................... 1
Kapitel I Daniel 10 – 12 als Schluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches .................... 5 1. Übersetzung............................................................................................ 6 2. Beschreibung des Textes ...................................................................... 25 2.1 Zeit und Ort ................................................................................... 25 2.2 Kommunikationsebenen ................................................................ 28 2.3 Gliederung ..................................................................................... 30 2.3.1 Einleitung: Dan 10,1 ............................................................. 32 2.3.2 Visionsbericht 1: Dan 10,2–19 .............................................. 33 2.3.3 Monolog des Boten 1 – Einleitung: Dan 10,20 – 11,2a ......... 36 2.3.4 Monolog des Boten 2 – Zukunftsansage: Dan 11,2b – 12,3... 37 2.3.5 Monolog des Boten 3 – Schluss: Dan 12,4 ............................ 38 2.3.6 Visionsbericht 2: Dan 12,5–13 .............................................. 38 3. Im Fokus: Dan 11,2b – 12,3 ................................................................. 40
Kapitel II Die historische Lesart von Dan 11 ....................... 45 1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu ................. 46 1.1 Daniel als Prophet des 6. Jahrhunderts v.Chr. ................................ 46 1.1.1 Voraussetzungen einer christlichen Lesart der Danielvisionen ................................................................ 47 1.1.2 Differenzierende Interpretation ............................................. 50
VIII
Inhaltsverzeichnis
1.1.3 Duale Interpretation .............................................................. 52 1.1.4 Präteristische Interpretation .................................................. 58 1.1.5 Zusammenfassung ................................................................. 60 1.2 Daniel als pseudepigraphe Schrift des 2. Jahrhunderts v.Chr. ........ 61 1.3 Die Verwendung von Dan 11,28–35 als Quelle ............................. 68 1.3.1 Die Quellen des Makkabäeraufstandes .................................. 69 1.3.2 Rekonstruktionsfelder ........................................................... 76 1.4 Dan 11 als verschlüsselte Geschichte ............................................ 83 1.4.1 Die Quellen für die Geschichte des östlichen Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. ................. 84 1.4.1.1 Polybios von Megalopolis ......................................... 84 1.4.1.2 Hieronymus .............................................................. 87 1.4.1.3 Dan 11 im Kontext der antiken Quellen .................... 92 1.4.2 Eckpunkte einer Hermeneutik des Berichts ........................... 93 2. Die historischen Bezugspunkte von Dan 11 ......................................... 96 2.1 Persische Könige ........................................................................... 96 2.2 Alexander der Große ..................................................................... 98 2.3 Ptolemäer und Seleukiden ............................................................. 99 2.4 Antiochos III. Megas ................................................................... 104 2.5 Seleukos IV. Philopator ............................................................... 110 2.6 Antiochos IV. Epiphanes ............................................................. 110 3. Grenzen der historischen Lesart von Dan 11 ..................................... 134 3.1 Historische Aporien ..................................................................... 135 3.1.1 Umstrittener Quellenwert .................................................... 135 3.1.2 Zirkularität der historischen Argumentation ........................ 138 3.2 Textliche Aporien ........................................................................ 141 3.2.1 Überschriften und Gliederungen aufgrund historischer Kriterien .......................................................... 142 3.2.2 Emendation aufgrund historischer Plausibilität ................... 145 3.2.3 Konkretisierender Umgang mit dem Text............................ 150 3.2.3.1 Eindeutigkeit statt Andeutungen .............................. 150 3.2.3.2 Zusammenhang statt Leerstellen ............................. 153 3.3 Bibelhermeneutische Aporien ...................................................... 160 4. Close Reading als alternativer Ansatz zur Erschließung von Dan 11 ............................................................. 162
Inhaltsverzeichnis
IX
Kapitel III Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11 .............................. 169 1. Fragestellung und methodischer Ansatz ............................................. 169 2. Grundereignisse .................................................................................. 170 2.1 dm[ – stehen ................................................................................ 172 2.2 awb – kommen .............................................................................. 176 2.3 bwv – umkehren ............................................................................ 177 2.4 hf[ – tun ..................................................................................... 179 2.5 Zwischenergebnis ........................................................................ 181 3. Das semantische Feld „Bewegung“ .................................................... 184 3.1 Vertikale Bewegungen ................................................................. 184 3.2 Horizontale Bewegungen ............................................................. 187 3.3 Zwischenergebnis ........................................................................ 187 4. Das semantische Feld „Macht“ ........................................................... 188 4.1 Macht im Allgemeinen................................................................. 190 4.2 Herrschaftsmacht ......................................................................... 195 4.3 Krieg als Machtmittel .................................................................. 199 4.4 Weitere Mittel der Machtausübung .............................................. 206 4.5 Zwischenergebnis ........................................................................ 207 5. Das semantische Feld „Zerstörung“ ................................................... 208 6. Das semantische Feld „Verstehen“ ..................................................... 210 7. Das semantische Feld „Religion“ ....................................................... 212 8. Das semantische Feld „Zeit“ .............................................................. 219 9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung .............. 226 9.1 Gestaltungsprinzipien .................................................................. 227 9.1.1 Schematisierung .................................................................. 227 Exkurs: Die akkadischen Paralleltexte zu Dan 11 ........................ 231 9.1.2 Fokussierung ....................................................................... 236 9.1.3 Verdunkelung ...................................................................... 237 9.2 Inhaltliche Schwerpunkte ............................................................ 241 9.2.1 Grenzenlose Macht – Ziellose Macht .................................. 241 9.2.2 Verstehen als Gegenentwurf ................................................ 243 9.2.3 Zeit als Gegenkraft .............................................................. 246
X
Inhaltsverzeichnis
10. Vertiefung: Die supra-history von Dan 11 ........................................ 248 10.1 Das Konzept der supra-history .................................................. 248 10.2 Antiochos IV. Epiphanes als typologische Figur ....................... 250 10.3 Geschichtsmuster in Dan 11 ...................................................... 252
Kapitel IV Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens .................. 255 1. Fragestellung und methodischer Ansatz ............................................. 256 2. Motivlinien ......................................................................................... 256 2.1 Die Motivlinie „Bewegung“ ........................................................ 256 2.2 Die Motivlinie „Kraft“................................................................. 259 2.3 Die Motivlinie „Verstehen“ ......................................................... 261 2.4 Die Motivlinie „Zeit“ .................................................................. 265 3. Narrative Einbindung durch das Setting ............................................ 271 3.1 Visionsbericht .............................................................................. 272 3.2 Zeugnis aus dem Exil .................................................................. 274 4. Der Rahmen als Leseanleitung und Kommentar ................................ 275 4.1 Daniel als Gegenentwurf zu den Königen.................................... 275 4.2 Daniel als Schnittstelle für die Leserinnen und Leser .................. 276
Kapitel V Der Schluss als Schlüssel ............................. 279 1. Die Motivlinie „Macht“...................................................................... 280 2. Die Motivlinie „Verstehen“ ................................................................ 286 3. Die Motivlinie „Zeit“ ......................................................................... 289 4. Zusammenfassung .............................................................................. 293 5. Kanonischer Ausblick: Der Weg des Weisen und das Toben der Völker ......................................................................... 296
Inhaltsverzeichnis
XI
Kapitel VI Schluss .............................................. 299 Bibliographie .......................................................................................... 301 Register ................................................................................................... 315 1. Bibelstellen......................................................................................... 315 2. Antike Autoren ................................................................................... 320 3. Moderne Autoren ................................................................................ 321 4. Stichworte .......................................................................................... 323
Einleitung „Die große Offenbarung am Ende des Buches nimmt die Verkündigung aus den verschiedenen Zeiten, die im Buch dargestellt sind, noch einmal auf und führt sie zum Ziel. Sie dient als Schlüssel, der das Verständnis jener Zeit eröffnet, in der das Danielbuch abgeschlossen wurde, und die Verheißung begreifen lehrt, die am Ende der Zeiten erfüllt wird.“1 Mit diesen Sätzen beginnt Lebram seinen Kommentar zu Dan 10 – 12, der Schlussvision des Danielbuches2. Den Schluss des Buches als Schlüssel verstehen zu können, bedeutet für Lebram, dass die Schlusskapitel die historischen Verhältnisse der Zeit erhellen, in der das Danielbuch abgeschlossen wurde. Der Schluss des Buches ist gleichzeitig sein jüngster Teil3 und im Vergleich mit den anderen Kapiteln des Danielbuches auch der historisch ergiebigste4. Denn anders als die Visionskapitel Dan 7 – 9, deren symbolisch-mythisch geprägte Schilderungen auf einige wenige Schlüsselereignisse im Vorfeld des makkabäischen Aufstands abzielen, geben die Ereignisfolgen in Dan 11, auf ihren historischen Inhalt hin befragt, eine Fülle historischer Details preis. Lebrams Haltung steht somit exemplarisch für die große Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten, die sich mit dem Danielbuch wissenschaftlich auseinandersetzen. Sie folgen damit den methodischen und bibelhermeneutischen Weichenstellungen der historisch-kritischen Exegese, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat. Die vorliegende Studie beschreitet demgegenüber einen anderen Weg. Sie sucht, ohne die historischen Bezüge des Textes in Zweifel ziehen zu wollen, nach einem textorientierten, literarischen Zugang zur Schlussvision des hebräisch-aramäischen Danielbuches. Ihr Ausgangspunkt ist die litera-
1
LEBRAM, Buch Daniel, 110. Der Begriff „Danielbuch“ bezieht sich hier auf das hebräisch-aramäische Danielbuch Dan 1 – 12. Zur Textgestalt des Danielbuches und zu seiner Fassung in der katholischen Lesart des Alten Testaments s.u. Kapitel I. 3 Vgl. LEBRAM, Buch Daniel, 110; COLLINS, Daniel 1993, 403. 4 Vgl. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 86. 2
2
Einleitung
rische Gestalt des heute kanonischen Textes im unmittelbaren Kontext des Danielbuches.5 Wie kann ein Text wie Dan 10 – 12, der offenbar so fraglos von seinen historischen Bezugspunkten her gelesen wird und dessen Funktion im Gesamt des Buches in erster Linie über seinen historischen Informationswert bestimmt wird, literarisch gelesen werden? Ist das überhaupt möglich? Und was bewirkt eine solche Lektüre im Unterschied zum herkömmlichen, primär historischen Zugang zu Dan 10 – 12? Das eingangs angeführte Zitat aus dem Danielkommentar von Lebram führt hier auf eine erste Spur: Die Einschätzung von Dan 10 – 12 als Schlüssel zu den historischen Entstehungsbedingungen des Danielbuches übersieht ganz offensichtlich eine andere „Schlüsselfunktion“ dieses Textes, nämlich die des Buchschlusses. Diese kann nur auf der Grundlage der literarischen Erschließung des Textes unter Berücksichtigung des Buchkontextes erfolgen. Darüber hinaus bietet ein textorientierter Zugang Anknüpfungspunkte für eine theologische Lektüre des Textes, die eine historische Lektüre nur eingeschränkt ermöglicht. Gerade in Bezug auf Dan 10 – 12 stehen sich bis heute eine fundamentalistische Lektüre, die den geistlichen Gehalt des Textes rettet, indem sie sich den Einsichten der historischen, religionsgeschichtlichen und textwissenschaftlichen kritischen Bibelwissenschaft verweigert, und eine den historischen Plausibilitäten verpflichtete, dem theologischen Gehalt des Textes jedoch entfremdete Lektüre unversöhnt gegenüber. Ein textorientierter Zugang, der die historisch-kritischen Einsichten bezüglich der geschichtlichen Anspielungen und des Abfassungszeitpunktes des Danielschlusses teilt, diese jedoch für die exegetische Auseinandersetzung mit dem Text bewusst in den Hintergrund stellt, kann hier einen alternativen Weg eröffnen. Jenseits der engen, historischen Interpretation bereitet eine den Kriterien wissenschaftlicher Exegese verpflichtete, textnahe Lektüre den Boden für eine theologische Wiederbelebung dieses Textes im Kontext des Danielbuches sowie im Rahmen des biblischen Kanons und seiner theologischen Großthemen. Die vorliegende Untersuchung fragt daher nach der Funktion, die Dan 10 – 12 als Schluss für das gesamte Danielbuch besitzt, und bestimmt diese im Rahmen einer textorientierten Lektüre des Danielschlusses. Das Fundament bildet dabei eine kritische Auseinandersetzung mit der gängigen, historisch engführenden Lektürepraxis von Dan 10 – 12. Nach einem ersten Teil, in dem der Text und seine Struktur vorgestellt werden (Kapi5 Zum Verhältnis von textorientierten und historisch orientierten Leseweisen vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma, 10–21. Vgl. auch STEINS, Bibelkanon, 193–194; STEINS, Kanon und Anamnese, 117–120.
Einleitung
3
tel I), setzt sich die Studie mit der seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Lesart von Dan 11, der großen Zukunftsansage in der Mitte der Schlussvision des Danielbuches, auseinander (Kapitel II). Diese ist ganz von der Rückfrage nach den historischen Bezugspunkten des Textes dominiert. Um die damit verbundenen Verengungen zeigen zu können, wird die Entwicklung dieser Lesart in Abgrenzung von „vorkritischen“ Zugängen zu diesem Text gezeigt (Kapitel II. 1). Die folgende Darstellung der historischen Bezugspunkte (Kapitel II. 2) gibt einen Überblick über die aktuelle Auslegungspraxis. Sie dient als Voraussetzung für die nachfolgende Kritik einer überwiegend historisch-rekonstruktiven Auslegung des Textes (Kapitel II. 3). Anhand der Aporien, in welche eine solcherart verengte Auslegung führt, wird die Notwendigkeit eines alternativen exegetischen Zugangs deutlich (Kapitel II. 4). Dieser wird im folgenden Teil der Untersuchung entwickelt und erprobt (Kapitel III). Im Mittelpunkt steht dabei der Danieltext als literarische Größe, wobei die historischen Bezüge des Textes bewusst methodisch ausgeklammert werden. Ein close reading, also eine möglichst unfokussierte Betrachtung der Textgestalt, entdeckt in Dan 10 – 12 semantische Felder (Kapitel III. 1). Diese werden mit Hilfe von semantischen Analysen näher beschrieben (Kapitel III. 2 – Kapitel III. 8) und auf ihre formale und inhaltliche Funktion für den Text befragt (Kapitel III. 9). Die folgenden Kapitel IV und V stellen die Ergebnisse dieser textorientierten Lektüre von Dan 11 in einen zweifachen Kontext. Kapitel IV verbindet Dan 11 mit dem narrativen Rahmen der Zukunftsansage und kommt so zu einer Gesamtinterpretation von Dan 10 – 12. Kapitel V schließlich zeigt, wie die literarisch gelesene Schlussvision die Funktion des Buchschlusses erfüllt. Ein Ausblick (Kapitel V. 5) eröffnet Perspektiven für eine weiterführende kanonische Verortung des Danielbuches.
Kapitel I
Daniel 10 – 12 als Schluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches Das Danielbuch umfasst in heutigen katholischen Bibelausgaben 14 Kapitel, in protestantischen oder jüdischen Bibeln hingegen nur 12 Kapitel. Der Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Kanongrundlagen. Während im Judentum und in den Kirchen der Reformation die masoretische Texttradition maßgeblich ist, orientieren sich katholische Bibelausgaben ihrem Umfang nach an der Texttradition der Septuaginta bzw. der ebenfalls griechischen, insbesondere für die kirchliche Danielrezeption maßgeblichen Theodotion-Übersetzung1. Für das Danielbuch bedeutet das, dass in katholischen Bibeln in den aus dem Hebräischen bzw. Aramäischen übersetzten Text zusätzliche Passagen, die in der griechischen Textüberlieferung enthalten sind, eingeschoben werden2. Ferner integrieren katholische Bibeln mit der Susanna-Erzählung (Dan 13) und der Geschichte von Daniels Auseinandersetzung mit Bel und dem Drachen (Dan 14) zwei Daniel-Stoffe in das biblische Danielbuch, die in der griechischen Texttradition als eigenständige Schriften überliefert werden.3 Während das hebräisch-aramäische Danielbuch Dan 1 – 12 eine literarische Einheit bildet, handelt es sich bei Dan 13 und Dan 14 um Anhänge, die mit Dan 1 – 12 zwar die gemeinsame Wurzel 1
„Während DanTh aufgrund des stetigen kirchlichen Gebrauchs in zahlreichen Handschriften und alten Übersetzungen erhalten ist, geriet DanLXX völlig in Vergessenheit und wurde erst durch Bibliotheksfunde am Ende des 18. Jh. und durch einen Papyrusfund in der ersten Hälfte des 20. Jh. wieder entdeckt“; Danielschriften, Septuaginta deutsch, 1417. 2 Bei diesen Passagen handelt es sich um das Gebet des Asarja Dan 3,25–45 LXX und um den Gesang der Jünglinge im Feuerofen Dan 3,51–90 LXX sowie um die Einleitung zum Gebet des Asarja Dan 3,24 LXX und die narrative Überleitung zwischen beiden Texten Dan 3,46–89 LXX. Dan 3,91–100 LXX entspricht wieder Dan 3,24–33 MT; vgl. KOCH – RÖSEL, Polyglottensynopse, 56–84. Zu Textgestalt und Textüberlieferung der Danieltradition vgl. auch Danielschriften, Septuaginta deutsch, 1417. 3 „In Dan LXX stehen Sus[anna] und BelDr [die Erzählung vom Bel und von der Drachenschlange] im ‚Anhang‘ des Danielbuches hinter Dan 1 – 12, in DanTh ist Sus jedoch, außer in wenigen Handschriften, dem Danielbuch vorangestellt. Die Vulgata und ihr folgend viele moderne Übersetzungen übernehmen zwar den Text von SusTh, setzen ihn aber als Dan 13 hinter Dan 1 – 12 und nummerieren BelDr als Dan 14“; Danielschriften, Septuaginta deutsch, 1417.
6
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
der Danieltradition teilen, jedoch nicht den Duktus des hebräisch-aramäischen Danielbuches fortführen.4 Wenn im Folgenden die Kapitel Dan 10 – 12 im Fokus der Untersuchung stehen, dann erfolgt dies vor dem Hintergrund ihrer Funktion als Abschluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches Dan 1 – 12. Die Kapitel Dan 10 – 12 sind, wie Dan 1 sowie Dan 8 – 9, in hebräischer Sprache verfasst.5 Als Visionsschilderung gehören sie dem ab Dan 7 beginnenden zweiten Teil des Danielbuches an. Sie sind somit beides: Ende der Reihe der Danielvisionen Dan 7; 8; 9 und 10 – 12 sowie Schluss der gesamten Einheit Dan 1 – 12.
1. Übersetzung 1. Übersetzung 10,1 a Im dritten Jahr von Koresch, dem König von Paras, wurde eine Sache enthüllt dem Daniel, dessen Name gerufen wird Beltschazzar; b und Wahrheit [ist/war] die Sache c und große Bedrängnis6,
4 Dies wird am deutlichsten in Zusammenhang mit der Susanna-Erzählung Dan 13. Diese unterscheidet sich zunächst hinsichtlich des Settings von Dan 1 – 12. Während bisher Hofgeschichten das Schicksal des exilierten Judäers Daniel am Hof eines fremden Königs erzählten (Dan 1 – 6) bzw. den narrativen Hintergrund für dessen Visionsberichte bildeten (Dan 7 – 12), spielt Dan 13 im Milieu der jüdischen Diaspora in Babylonien. Auch der Charakter der Daniel-Gestalt unterscheidet sich maßgeblich von Dan 1 – 12. Während Daniel bisher als von Gott begabter Weiser und Seher gezeichnet wird, ist er in Dan 13 ein gerechter Richter. Auch hinsichtlich der erzählten Zeit des Danielbuches ist ein deutlicher Bruch zwischen Dan 1 – 12 und Dan 13 zu verzeichnen. In Dan 1 kommt Daniel als junger Mann an den Hof Nebukadnezzars, in Dan 10,1 steht derselbe Daniel Jahrzehnte später in der Regierungszeit des Perserkönigs Kyros im Fokus. In Dan 13 ist Daniel jedoch ein junger Mann. Auch in formaler Hinsicht bestehen deutliche Unterschiede zwischen Dan 1 – 12 und Dan 13. So fehlt in Dan 13 beispielsweise die zeitliche Einordnung der Handlung in die Regierungszeit eines Königs, die das hebräisch-aramäische Danielbuch als durchlaufende Chronologie zusammenhält. Die Erzählung von Bel und dem Drachen enthält diese chronologische Einleitung zwar wieder, führt aber als Hofgeschichte nicht den Duktus von Dan 1 – 12 fort, wo ab Dan 7 ja Visionsberichte geschildert werden. Inhaltlich handelt es sich bei Dan 14 um eine Parallelgeschichte zu Dan 6, allerdings mit einer stark bilderpolemischen Spitze. Bilderpolemik ist in Dan 1 – 12 jedoch kein Thema. 5 Zur Frage der Zweisprachigkeit des hebräisch-aramäischen Danielbuches vgl. einleitend NIEHR, Buch Daniel, 507–511. 6 Die Übersetzung von abc mit Bedrängnis ist umstritten. Die Bedeutung der meisten anderen Belege der Vokabel liegt im Bereich des Militärischen. GESENIUS, Handwörterbuch, 671, schlägt als Übersetzung „1. Heer, Kriegsheer, Mannschaft; 2. das Heer des
1. Übersetzung
7
d und er verstand die Sache, e und Verständnis [wurde] ihm [zuteil] durch die Erscheinung. 10,2
[Es war] in jenen Tagen: Ich, Daniel, ich war ein Trauernder während der Tage von drei Wochen.
10,3 a
Köstliches 7 Brot aß ich nicht,
b
und Fleisch und Wein kamen nicht zu meinem Mund,
c
und ich salbte mich überhaupt nicht bis zur Erfüllung der Tage von drei Wochen.
10,4 a b 10,5 a
Und es war am 24. Tag des ersten Monats: Ich war am Ufer des großen Flusses, des Hiddekel8. Und ich hob meine Augen
b
und schaute;
c
und siehe: ein einzelner Mann, bekleidet mit Leinen
Himmels; 3. Kriegsdienst, Krieg“ vor. In einem übertragenen Sinn bezeichnet abc aber auch eine schwierige Situation, so die Unterdrückung Israels im Babylonischen Exil in Jes 40,2 oder das Leben des Menschen, das durch die Metapher „Kriegsdienst“ als ausschließlich mühselig qualifiziert wird (Ijob 7,1; 14,14). In Dan 10,1 sind beide Bedeutungsrichtungen möglich. Für die militärische Bedeutung entscheiden sich HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 255: „The oracle was true. It concerned much warfare“; vgl. auch CLIFFORD, History and Myth, 23; GOLDINGAY, Daniel 1989, 271. Der Ausdruck lwdg abcw beschreibt nach diesem Verständnis den Inhalt der Offenbarung Dan 11,2b – 12,3, die ja v.a. von kriegerischen Auseinandersetzungen handelt. Im übertragenen Sinn „Mühsal“ bezieht sich abc in Dan 10,1 auf die Qualität der Offenbarung. Die Offenbarung wird somit doppelt qualifiziert: als „Wahrheit“ (tma) und als „große Bedrängnis“ (lwdg abc). Der Ausdruck lwdg abcw bezeichnet in diesem Fall die Belastung Daniels durch den Empfang der Offenbarung; vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 404: „And the word was true, but a great task“; vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 361: „The word was true and the service was great“. SEOW, Daniel, 155, sieht in der Verwendung der Vokabel abc eine Anspielung auf Jes 40,2, wodurch das Andauern des Exils ausgedrückt wird und auch die kommenden Ereignisse als Fortsetzung des Exils qualifiziert werden. Die hier gewählte Übersetzung „schwere Bedrängnis“ versucht, den verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten gerecht zu werden. Der Versuch, durch Änderung des nachfolgenden !ybw zu !ybl eine glattere Übersetzung zu erhalten („es war nicht leicht, dieses Wort zu verstehen“; PLÖGER, Buch Daniel, 145; vgl. auch PORTEOUS, Buch Daniel, 119), findet keinen Anhalt in der Textbasis; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 113. 7 Vgl. Dan 9,23; 10,11.19. 8 Der Name „Hiddekel“ bezeichnet in der Bibel den Tigris, während als der „große Strom“ üblicherweise der Eufrat bezeichnet wird. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 407, hält den Zusatz lqdx awh daher für eine spätere Glosse. „Otherwise we must attribute a solecism or gross error to the writer“; vgl. auch PORTEOUS, Buch Daniel, 125; PLÖGER, Buch Daniel, 145.148. Diese Annahme ist jedoch nicht nötig, da der bestehende Text durchaus sinnvoll interpretiert werden kann; s.u. Kapitel I. 2.1.
8
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches d
10,6 a
und seine Hüften gegürtet mit Ophas-Gold9 und sein Leib wie Tarschisch-Stein
b
und sein Gesicht wie die Erscheinung eines Blitzes
c
und seine Augen wie Feuerfackeln
d
und seine Arme und Beine wie der Anblick glänzenden Erzes
e
und die Stimme seiner Worte wie die Stimme einer Menge.
10,7 a
Und es sah ich, Daniel, allein die Erscheinung,
b
und die Männer, die mit mir waren, sahen nicht die Erscheinung.
c
Dennoch: Großer Schrecken fiel auf sie,
d
und sie flohen, indem sie sich verbargen10.
10,8 a b
Und ich wurde allein zurückgelassen, und ich schaute diese große Erscheinung,
c
und es wurde nicht zurückgelassen in mir Kraft,
d
und mein Glanz wurde mir verwandelt zum Verderben,
9 Zu der Ortsangabe „Ophas“ bemerkt MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 408: „But there is no place Uphaz known“. Häufig wird daher zpwa zu rypwa – „Ofir“ verbessert, da dieser Ort geradezu sprichwörtlich mit Gold verbunden ist; so z.B. PLÖGER, Buch Daniel, 145; PORTEOUS, Buch Daniel, 119; COLLINS, Daniel 1993, 361; vgl. 1 Kön 9,28; 10,11; 22,49; 1 Chr 29,4; 2 Chr 8,18; 9,10; Ijob 28,16; Ps 45,10. Alternativ wird zpw – „und Feingold“ statt zpwa gelesen, so dass sich das Hendiadyoin „Gold und Feingold“ ergibt; vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 255; GOLDINGAY, Daniel 1989, 271. LEBRAM, Buch Daniel, 114, weist allerdings auf Jer 10,9 hin, wo Silber aus Tarschisch und Gold aus Ufas parallelisiert werden. Vgl. auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 114, der die gute Bezeugung von zpwa in den Manuskripten und Versionen bestätigt. Die Entscheidung, hier MT beizubehalten, erscheint deshalb als gerechtfertigt. 10 Die vom Verständnis der Wendung her naheliegende Übersetzung „sie flohen, um sich zu verbergen“ setzt abxhl statt der vorliegenden Formulierung abxhb voraus. Da jedoch MT nach HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 114, beizubehalten ist, ist diese Übersetzung nicht möglich, weil sie die Gleichzeitigkeit zwischen dem durch den Infinitiv ausgedrückten Geschehen und dem damit parallelisierten Geschehen im Verbalsatz (wxrbyw – „und sie flohen“) nicht zum Ausdruck bringt; vgl. JENNI, Präposition Beth, 316. Nach JENNI, Präposition Beth, 354f., kann das Verhältnis zwischen b mit Infinitiv und vorangehendem Verb als explizierend (indem), kausal, konzessiv oder adversativ bestimmt werden. Die in Dan 10,7 vorliegende Konstruktion ist demnach explizierend zu verstehen. Vgl. auch die Übersetzungen von MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 407: „they fled hiding themselves“, GOLDINGAY, Daniel 1989, 271: „they fled into hiding“ und LACOQUE, Livre de Daniel, 150: „ils enfuirent en se cachant“. Die Übersetzung von PLÖGER, Buch Daniel, 144: „sie flüchteten sich in ein Versteck“ findet zwar einen eleganten Ausdruck für die hebräische Satzgestalt. Die Wiedergabe des Infinitivs abxh mit „Versteck“ ist aber streng genommen nicht möglich.
1. Übersetzung e 10,9 a
und ich behielt nicht Kraft. Und ich hörte die Stimme seiner Worte.
b
Und als ich die Stimme seiner Worte hörte, [war] ich betäubt auf meinem Gesicht
c
und mein Gesicht11 zu Boden.
10,10 a b
9
Und siehe, eine Hand berührte mich: Und sie schüttelte mich auf meine Knie und die Flächen meiner Hände.
10,11 a Und er sagte zu mir: b
Daniel, Mann von Kostbarkeit12, verstehe durch die Worte, die ich zu dir rede,
c
und stelle dich auf deine Stelle,
d
denn jetzt bin ich zu dir gesandt worden.
e 10,12 a
Und er sagte zu mir:
b
Fürchte dich nicht, Daniel,
c
denn vom ersten Tag an, seit du ausgerichtet hast deinen Sinn darauf zu verstehen und dich vor deinem Gott zu demütigen, sind deine Worte gehört worden,
d
und ich bin gekommen auf deine Worte hin.
10,13 a
11
Und als er zu mir redete dieses Wort, stellte ich mich bebend auf.
Und der Fürst des Königreichs Paras [war] stehend mir gegenüber zwanzig und einen Tag,
b
und siehe, Michael, einer der Ersten der Fürsten kam, um mir zu helfen,
c
und ich blieb dort zurück13 neben den Königen von Paras.
Zur Doppelung von ynp vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 116. Die seltene Vokabel dwmx – „Kostbarkeit“ begegnet außer in Gen 27,15 (Festtagskleider), 2 Chr 20,25 (kostbare Geräte) und Esra 8,27 (kostbare Gefäße als Geschenke für den Tempel) nur im Danielbuch. dwmx wird hier einerseits als Attribut Daniels gebraucht, das seine besondere Wertschätzung durch Gott beschreibt (Dan 9,23; 10,11.19). Andererseits bezieht sich die Vokabel auf kostbare Gegenstände (Dan 11,38.43). In Dan 10,3 wird außerdem das Brot, auf das Daniel verzichtet, als köstliches Brot (twdmx ~xl) qualifiziert. 13 Häufig wird hier als Übersetzung in Anlehnung an LXX und Theodotion „ich ließ ihn [Michael] zurück“ vorgeschlagen, d.h. Michael setzt den Kampf gegen den Fürsten von Paras stellvertretend für Daniels Gesprächspartner fort; vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 410f.; COLLINS, Daniel 1993, 362. Die wörtliche Übersetzung von MT (auch Vulgata und Peshitta) „ich blieb dort zurück“ impliziert die Vorstellung, dass Daniels Gesprächspartner in der Auseinandersetzung mit dem Fürsten 12
10
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
10,14 a b 10,15 a b 10,16 a
Und ich bin gekommen, um dich verstehen zu lassen, was begegnen wird deinem Volk an den letzten Tagen, denn die Reichweite der Vision ist bis zu den Tagen. Und als er mit mir sprach solche Worte, richtete ich mein Gesicht zur Erde und verstummte. Und siehe, wie eine Gestalt [eines] der Söhne des Menschen berührend meine Lippen,
b
und ich öffnete meinen Mund
c
und redete
d
und sagte zu dem mir gegenüber Stehenden:
e f 10,17 a
Mein Herr, während der Erscheinung überfielen mich meine [sic!] Krämpfe, und ich behielt nicht Kraft. Und wie wird der Knecht meines Herrn dies vermögen: mit diesem, meinem Herrn zu sprechen?
b
Und ich – von jetzt ab wird nicht [zur Verfügung] stehen in mir Kraft,
c
und Atem ist nicht zurückgeblieben in mir.
10,18 a b 10,19 a
Und abermals14 berührte er mich wie die Erscheinung eines Menschen und stärkte mich. Und er sagte:
b
Fürchte dich nicht, Mann von Kostbarkeit,
c
Friede [sei] mit dir,
d
sei stark, ja, sei stark.
e
Und als er mit mir sprach, nahm ich meine Kräfte zusammen
f
und sagte:
g
Rede, Herr,
h
denn du hast mich gestärkt.
10,20 a b
Und er sagte: Hast du erkannt,
von Paras als der Siegreiche übrig bleibt; vgl. auch SLOTKI, Daniel, 83; GOLDINGAY, Daniel 1989, 272.276; LACOQUE, Livre de Daniel, 151. In eine ähnliche Richtung tendieren die Übersetzungen von PLÖGER, Buch Daniel, 145f.: „ich war dort entbehrlich“ (unter Verweis auf die Bedeutung „überflüssig“ des Partizip Qal von rty) und BENTZEN, Daniel, 72: „ich wurde dort überflüssig“. LEBRAM, Buch Daniel, 114, erläutert die Übersetzung der Neuen Zürcher Bibel „da wurde ich dort (…) frei“: „Man muss das bei den Rabbinen gebräuchliche Verständnis eines späteren verwandten Stammes hier annehmen (Nifal von wtr ‚frei werden‘)“. 14 Wörtlich: „Und er wiederholte“.
1. Übersetzung c
wozu ich zu dir gekommen bin?
d
Und jetzt werde ich zurückkehren, um zu kämpfen mit dem Fürst von Paras,
e
und ich ziehe aus,
f
und siehe: Der Fürst von Jawan kommt.
10,21 a
Aber ich will dir berichten, was aufgeschrieben ist im Buch der Wahrheit.
b
Und es gibt nicht einen, der sich anstrengt mit mir gegen diese, außer Michael, euer Fürst.
11,1
Und ich, im ersten Jahr von Darius dem Meder, ich hatte mich aufgestellt15 als Mitstreiter und als Festung für ihn.
11,2 a
Und nun will ich dir Wahrheit berichten:16
b
Siehe, noch drei Könige stehen auf für Paras,
c
und der vierte wird reich werden mit größerem Reichtum als alle,
d
und sowie er erstarkt in seinem Reichtum, wird er aufstacheln alles gegen17 das Königreich von Jawan.
11,3 a
15
11
Und aufstehen wird ein König, ein Held,
b
und wird herrschen eine große Herrschaft
c
und handeln nach seinem Willen.
Wörtlich: „mein Stehen“ (Infinitiv cs.). Der Gedankengang der Verse 10,20 – 11,2a ist schwer nachzuvollziehen. Während sich die Verse 10,20a.21a und 11,2a direkt an Daniel wenden und die folgende Offenbarung einleiten, beziehen sich die Verse 10,20b.21b und 11,1 auf Vorgänge in der Welt des Boten. Die verschiedenen Vorschläge, die Verse umzustellen und/oder teilweise zu streichen (z.B. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 416f.; PLÖGER, Buch Daniel, 150), finden keinen Anhalt in der Textbasis; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 119; COLLINS, Daniel 1993, 376. LEBRAM, Buch Daniel, 114, versucht, MT in seiner überlieferten Form zu interpretieren. Er sieht in der Aufnahme der Stichworte „Michael“ und „Darius der Meder“ eine engere Anbindung der Schlusskapitel bzw. der folgenden Geschichtsdarstellung an das übrige Buch. Es ist m.E. auch möglich, die Unterstützung Michaels als Begründung für die Einweihung Daniels in die Geheimnisse der Endzeit zu sehen, da sie die sehr enge Verbindung zwischen Daniels Gesprächspartner sowie Michael und Daniels Volk deutlich macht; vgl. HAAG, Kampf der Engelmächte, 249–253. Der Wechsel zwischen den Geschehensebenen kann dann als bewusste Verzahnung zwischen der Welt des Boten und der Welt Daniels verstanden werden; vgl. auch MEADOWCROFT, Princes, 109. 17 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 424, hält die Übersetzung von ta mit „gegen“ nicht für möglich und übersetzt stattdessen „and when he is waxed strong through his riches he shall arouse the whole, the Kingdom of Greece“ (423). Gegen diese Übersetzung spricht aber v.a. die Wortstellung; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 204f. 16
12
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
11,4 a b
und verteilt werden18 in die vier Winde des Himmels:
c
und nicht an seine Nachkommen
d
und nicht wie seine Herrschaft, die er geherrscht hat,
e
denn zerstört werden wird sein Reich
f
und zugunsten von anderen als allein diesen19.
11,5 a b
18
Und sowie er aufsteht, wird zerbrochen werden seine Herrschaft
Und erstarken wird der König des Südens, und [einer] von seinen Fürsten wird stärker werden als er20
c
und herrschen;
d
eine große Herrschaft [wird] sein Herrschen21 [sein].
Nach drei w-qatal-Formen in V. 3a.b.c begegnet hier mit #xtw eine w-yiqtolKurzform. Weitere w-yiqtol/KF bzw. w-yiqtol-Formen finden sich in V.5a.b.6e.7b.c.10f.g. 11a.15a.b.16a.c.17a.18a.19a.22b.25a.28a.30g.36b.40b.42a.45a. KELLY, Imperfect, 1, geht von einem gezielten Gebrauch dieser Formen aus und unterbreitet für jede Stelle einen Übersetzungsvorschlag (21f.). Dagegen misst GOLDINGAY, Daniel 1989, 277, dem Formenwechsel keine semantische Bedeutung bei, sondern erklärt ihn stilistisch: „The shortened impf (jussive) following simple w would suggest a result cl[ause] (Montgomery) were there not so many such forms in chap. 11; rather it is a stylistic preference.“ Ähnlich merkt HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 207, an: „Warum PK und nicht SK steht, läßt sich nicht genau feststellen.“ Demnach „drückt PK-KF an erster Position wohl das Futur aus. So lassen sich diese Formen am ungezwungensten erklären.“ Vgl. auch WALTKE – O’CONNOR, Biblical Hebrew Syntax, 563: „In post exilic hebrew wəyqt tends to replace sequential wəqtl.“ Es scheint daher nicht geboten, in der Übersetzung zwischen w-qatal-Formen in futurischer Bedeutung und w-yiqtol oder w-yiqtol/KF zu unterscheiden. 19 Der Bezugspunkt von hla wird meist in wtyrxa – „seine Nachkommen“ in V. 4c gesehen; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 209. 20 Ungewöhnlich ist der Anschluss der Verbform mit w (qzxyw) im invertierten Satz. Die Mehrzahl der Ausleger nimmt hier casus pendens an, so z.B. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 428; PLÖGER, Buch Daniel, 155; HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 210. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257, plädieren hingegen für die Streichung des w von qzxyw; vgl. hingegen die Übersetzung von Leopold Zunz: „Und es wird stark werden der König des Südens, der einer seiner Obersten ist; aber gegen ihn wird stark werden (ein anderer) und herrschen“. Zunz versteht wyrf-!mw somit als eigenständigen Nominalsatz, den er relativisch in Bezug auf V. 5a übersetzt. Allerdings steht hier im Hintergrund offenbar das Wissen um die Stellung von Ptolemäus I. Soter als General Alexanders – ein Wissen, das in den Text hineingetragen wird. 21 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 121, sieht in MT syntaktische Probleme und plädiert daher für wtlvmmm statt wtlvmm. In diesem Sinn übersetzt bereits MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 427: „(…) and shall rule with a rule greater then his rule“. Auch die Übersetzungen von GOLDINGAY, Daniel 1989, 272: „(…) and will rule a greater realm then his“ und HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257: „(…) and will gain dominion over a domain larger then his“ setzen diese Textgestalt
1. Übersetzung 11,6 a
Und am Ende von Jahren werden sie sich verbinden22,
b
und die Tochter des Königs des Südens wird kommen zum König des Nordens, um Frieden zu schaffen,
c
und nicht23 wird sie behalten die Kraft des Armes24,
d
und nicht wird bestehen sein Arm25,
e
und hingegeben wird sie werden und die sie kommen ließen und der sie zeugte und der sie stärkte26 zu den Zeiten.
13
voraus. Da die vorliegende Textgestalt von MT jedoch sinnvoll übersetzt werden kann, ist sie m.E. auch beizubehalten. 22 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 212, weist darauf hin, dass in historischer Hinsicht V. 5 und V. 6 unterschiedliche Protagonisten haben, der Text dies aber nicht kenntlich macht. „Das Verb steht im Plural. Das kann nur bedeuten, daß S[ubjekt] die beiden in V 5 eingeführten Größen sind. Dabei spielt es wohl für den Verfasser keine Rolle, ob es sich um die selben Personen handelt oder nicht.“ 23 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 213, nimmt unter Verweis auf RICHTER, Recht und Ethos, 77, für die beiden w-lo-yiqtol-Formen am Anfang von V. 6c.d konstatierenden Charakter an. Im Unterschied zum vorhergehenden Satz V. 6b handelt es sich hier „um eine Wertung, sozusagen ‚eine mehr reflexive Betrachtung der Zustände und Ereignisse‘“. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 428, geht mit seiner Übersetzung „but she shall not retain strength“ von adversativer Bedeutung des w aus; vgl. auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 272: „but she will not be able to hold unto her power“. COLLINS, Daniel 1993, 363, berücksichtigt den Anschluss der Verse mit w in seiner Übersetzung nicht: „She will not retain strength“. 24 Als Subjekt von rc[t al – „sie wird nicht behalten“ kommen sowohl [wrzh – „der Arm“ am Ende des Verses als auch bgnh-$lm tb – „die Tochter des Königs des Südens“ aus V. 6b in Frage. „Die Unklarheit in der Beziehung wird durch das Fehlen eines ePP hervorgerufen“, so HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 213. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257, plädieren für Streichung von [wrzh in V. 6c als Dittographie; so auch PLÖGER, Buch Daniel, 155; COLLINS, Daniel 1993, 363. Den fehlenden pronominalen Bezug ergänzt die Bibelübersetzung von Zunz: „aber nicht wird Kraft behalten sein Arm und er wird nicht bestehen noch sein Arm“; Ähnlich übersetzt SLOTKI, Daniel, 88: „but she shall not retain the strength of her arm; neither shall he stand nor his arm“; vgl. auch die Übersetzung der Elberfelder Bibel. 25 Aufgrund historischer Plausibilitäten und unterstützt durch Theodotion und Vulgata lesen viele Ausleger [rz – „Samen, Nachkommen“ statt [wrz – „Arm“; so zum Beispiel BENTZEN, Daniel, 76; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 428– 430, und HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257. Auch COLLINS, Daniel 1993, 363, entscheidet sich für die Lesart wO[r>z: – „sein Same“ mit der Begründung: „(…) ‚seed‘ makes much better sense in this context“. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 231, nimmt bewusste Doppeldeutigkeit an und geht von einem Wortspiel aus. 26 Umstritten sind die Bezugspunkte der Partizipien. Während hyaybm aufgrund des Plurals nicht auf eine bereits erwähnte Gruppe bezogen werden kann, besteht die Möglichkeit, die beiden anderen Partizipien mit den beiden zuvor erwähnten Königen in Verbindung zu bringen. Da die Protagonistin des Verses als bgnh-$lm tb eingeführt wird, muss sich hdlyh – „der sie Zeugende“ auf den König des Südens beziehen. hqzxm kann
14
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
11,7 a
Und aufstehen wird [ein]er aus dem Spross ihrer Wurzeln27 an seiner Stelle28,
b
und er wird zum Heer kommen,29
c
und er wird kommen30 in die Festung des Königs des Nordens
d
und gegen sie31 handeln
e
und Kraft entfalten.
11,8 a
b 11,9 a b
Und auch ihre Götter samt ihren Götterbildern und samt den Gefäßen ihrer Kostbarkeiten, Gold und Silber, wird er in die Gefangenschaft gehen lassen nach Mizrajim, und er – für Jahre wird er sich aufstellen weg vom König des Nordens. Und er wird kommen in das Königreich des Königs des Südens und umkehren zu seinem Land.
entweder im Sinn von „der sie Stärkende“ oder im Sinn von „der sich ihrer Bemächtigende“ übersetzt werden. Im ersten Fall wäre damit ebenfalls der König des Südens gemeint, im zweiten jedoch der Ehemann, also der König des Nordens. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 214, plädiert aufgrund des fehlenden Artikels bei hqzxm jedoch dafür, den Artikel von hdlyh weiter gelten zu lassen, und nimmt daher das gleiche Subjekt, also den König des Südens, für beide Partizipien an. Für diese Variante spricht auch, dass qzx Hif’il in der Bedeutung „sich einer Frau bemächtigen“ nie im Kontext einer legalen Ehe, sondern nur im Sinn einer Vergewaltigung vorkommt (s.u. Kapitel II. 3.2.3.1). Ferner ist die Übersetzung „der sie stärkte“ möglich, für die sich ebenfalls eine Reihe der Kommentatoren und Übersetzer entscheidet, so z.B. die New Revised Standard Version und COLLINS, Daniel 1993, 364. 27 Die Wendung hyvrv rcnm „aus dem Sproß ihrer Wurzeln“ wird von den meisten Kommentatoren in Anlehnung an die Version der LXX und Jes 11,1 verbessert zu hyvrvm rcn „ein Sproß aus ihren Wurzeln“; so zum Beispiel BENTZEN, Daniel, 76; PLÖGER, Buch Daniel, 155; HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 122; COLLINS, Daniel 1993, 364. Die vorliegende Übersetzung orientiert sich am Vorschlag der BHS, !m in rcnm partitiv zu interpretieren. Ähnlich weist MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 432, darauf hin, dass rcnm analog zu wyrv !m in 11,5 erklärt werden könne. Vgl. auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 277, der: „(…) one of the shoots from her roots will arise“ übersetzt. Allerdings gibt diese Übersetzung den Numerus von rcn nicht korrekt wieder. GESENIUS, Handwörterbuch, geht von der Bedeutung „Schoß“ für rcn aus, die dann jedoch nur in Dan 11,7 vorliegt. 28 Bezugspunkt des enklitischen Personalpronomens an wnk ist der König des Südens; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 216. 29 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 217, referiert mehrere Interpretationsmöglichkeiten von lyxh la awb: zur Macht kommen, zum eigenen Heer kommen oder gegen das gegnerische Heer ziehen. 30 Besser „hineingehen“; die konsequente Übersetzung von awb mit „kommen“ soll die häufige Verwendung dieser Wurzel sichtbar machen. 31 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 218, plädiert dafür, ~hb in V. 7d auf zw[m und lyx in V. 7b.c zu beziehen.
1. Übersetzung 11,10 a
Und seine Söhne32 werden Krieg anfangen
b
und sammeln eine Menge großer Heere,
c
und kommen, kommen wird er
d
und fluten
e
und überschwemmen
f
und umkehren33
g
und Krieg anfangen bis zu seiner Festung.
11,11 a
Und erbittert werden wird der König des Südens
b
und ausziehen
c
und Krieg führen mit ihm, mit dem König des Nordens,
d
und aufstellen wird er34 eine große Menge,
e
und gegeben wird die Menge in seine35 Hand.
11,12 a
Und hochgehoben wird die Menge werden.
b
Und erheben wird sich sein Herz,
c
und zu Fall bringen wird er Zehntausende,
d
und nicht wird er sich als stark erweisen.
11,13 a
Und wiederholen/umkehren wird der König des Nordens
b
und aufstellen eine Menge, größer als die erste.
c
Und am Ende von Zeiten, von Jahren, wird er kommen, ja kommen mit großem Heer und viel Besitz.
11,14 a b
15
Und in diesen Zeiten – viele werden aufstehen gegen den König des Südens, und die Söhne des Zerreißens deines Volkes36 werden sich erheben,
32 Ketib liest „sein Sohn“, Qere „seine Söhne“. Die Entscheidung für die Lesart von Qere berücksichtigt den Plural der nachfolgenden Verben und stimmt mit Theodotion, Peshitta und Vulgata überein. 33 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 227, spricht sich gegen adverbielles Verständnis von bwv im Sinn von „wieder“ aus. 34 Bezugspunkt ist laut HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 224, der König des Nordens. 35 Bezugspunkt ist laut HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 224, der König des Südens, der bis V. 12d Subjekt bleibt. 36 #yrp begegnet noch in Jes 35,9; Ez 7,22; 18,10; Ps 17,4, wobei in Ez 18,10–14 eine detaillierte Beschreibung des Verhaltens eines #yrp-!b gegeben wird, das den klassischen Lasterkatalog der Hebräischen Bibel umfasst. Vgl. auch Joh 10,1–21. Zur Diskussion um die Identität der ~y#yrp-ynb vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 230; SCHLATTER, Die bene parisim.
16
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches um aufzustellen37 eine Vision, c
11,15 a
Und kommen wird der König des Nordens
b
und aufschütten einen Wall
c
und einnehmen eine befestigte Stadt.
d
Und die Arme des Südens werden nicht aufstehen,
e
und sein auserlesenes Volk – nicht vorhanden [ist bei ihm] Kraft, um aufzustehen.38
11,16 a
Und handeln wird, der zu ihm kommt,39 nach seinem Willen,
b
und nicht vorhanden ist ein Stehender vor seinem Gesicht.
c
Und aufstellen wird er sich im Land der Zierde40,
d
und Vernichtung41 [ist] in seiner Hand.
11,17 a
37
und straucheln.
Und ausrichten wird er sein Gesicht darauf, zu kommen in die42 Gewalt seiner ganzen Königsherrschaft,
dym[h wird hier im Sinn der Vulgata „ut impleant visionem“ verstanden; vgl. auch die Übersetzungen von COLLINS, Daniel 1993, 365: „to fulfill the vision“ und PLÖGER, Buch Daniel, 152: „um eine Vision zu verwirklichen“. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 231, weist darauf hin, dass dm[ Hifil in der Bedeutung „erfüllen“ nur hier angenommen wird. Eine etwas andere Sinnrichtung von dm[ nimmt MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 438.440, an, wenn er übersetzt: „to confirm vision“. 38 Hier liegt eine ähnliche Konstruktion vor wie in V. 5b. Neben HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 233, plädieren auch MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 438, und GOLDINGAY, Daniel 1989, 273, für eine Casus-pendens-Konstruktion und beziehen dm[l xk !yaw auf wyrxbm ~[, wobei Goldingay das w in !yaw als emphatisches w auffasst. Zunz übersetzt analog zu V. 5b: „und die Arme des Südens werden nicht widerstehen, noch sein auserlesenstes Volk, denn keine Kraft ist zum Widerstand.“ Für die Interpretation von dm[l xk !yaw als eigenständiger Nominalsatz entscheidet sich COLLINS, Daniel 1993, 365: „and the forces of the south will not withstand, even his elite troops, and there will be no power to withstand.“ 39 Das Partizip abh weist zurück auf V. 15a. Der Bezugspunkt von abh ist somit !wpch $lm, während das enklitische Personalpronomen an wla auf seinen Gegenspieler oder auf bgnh in V. 15d verweist; vgl. H ASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 234. 40 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 235, versteht den Ausdruck „Land der Zierde“ als Terminus technicus für Palästina. 41 COLLINS, Daniel 1993, 365, versteht hlk als lk – „alles“ mit enklitischem Personalpronomen der 3. Person Singular feminin und übersetzt folglich „and it will be all in his hand“. Da MT jedoch sinnvoll übersetzt werden kann, ist die Annahme einer von MT abweichenden Punktierung hier nicht nötig. Vgl. auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 125, der sich auch aufgrund der antiken Übersetzungen für Beibehaltung von MT ausspricht. 42 @qtb kann laut HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 236, entweder instrumental („mit Hilfe der Gewalt“) oder direktiv („in die Gewalt“) verstanden werden. JENNI, Präposition Beth 1992, 93–96, versteht demgegenüber die Präposition hier als
1. Übersetzung b
und Vertrauen zu ihm Erweckendes, er wird [es] tun.43
c
Und die Tochter der Frauen wird er ihm geben, um sie44 zu vernichten,
d
und nicht wird sie bestehen,
e
und nicht wird sie ihm bleiben45.
11,18 a b
17
Und ausrichten wird er sein Gesicht46 zu den Inseln und einnehmen viele;
„beth comitantiae“, das dem Subjekt von Verben der Bewegung ein begleitendes Objekt zuordnet. Die Übersetzung lautet in diesem Fall „zu kommen mit der Gewalt seiner ganzen Königsherrschaft“, wobei mit wtwklm dann die Königsherrschaft des Königs des Nordens gemeint ist. Dies trifft ebenfalls bei einer instrumentalen Übersetzung zu. Eine direktive Übersetzung bezieht sich jedoch auf das Königreich des Gegenspielers und bietet damit den einzig möglichen Bezugspunkt für das enklitische Personalpronomen an htyxvhl in V. 7c. Diese Übersetzungsvariante ist daher vorzuziehen. Vgl. zur Diskussion um die Identität der Königsherrschaft auch COLLINS, Daniel 1993, 381. 43 Die syntaktische Konstruktion gleicht der von V. 5b.15e. Hinzu kommt die Schwierigkeit der Übersetzung von ~yrvy als Plural von rvy – „gerade, aufrichtig“. In Analogie zu V. 6b wird stattdessen häufig ~yrvm gelesen, was auch dem Text der LXX entspricht. Dafür und für die Interpretation der Syntax als Casus pendens entscheiden sich u.a. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 440, GOLDINGAY, Daniel 1989, 273, und COLLINS, Daniel 1993, 365, so dass die Übersetzung von V. 17b lautet: „Und Vereinbarungen mit ihm, er wird sie treffen.“ HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 258, übersetzen ähnlich, lesen aber zusätzlich hf[y statt hf[w. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 238, plädiert für Beibehaltung von MT und geht von der Bedeutung „Vertrauen erweckend“ für rvy aus. Ebenfalls möglich ist m.E. die Übersetzung von Zunz: „und mit ihm Helden, und er führt aus“. Für den Vorschlag von Zunz spricht, dass auch im weiteren Verlauf des Textes hf[ als absolut stehendes Verb begegnet. Für die Variante von Hasslberger spricht die parallele Gestaltung von V. 6 und V. 17: Beide Male wird eine Frau aus politischen Gründen verheiratet, beide Male führt dies nicht zum Ziel, was jeweils mit einer doppelten Verneinung zum Ausdruck kommt. 44 Das enklitische Personalpronomen kann sich grammatikalisch entweder direkt auf ~yvnh-tb beziehen oder auf wtwklm in V. 17a verweisen. Inhaltlich erscheint letztere Variante nachvollziehbarer. In diesem Fall muss die Wendung @qtb in V. 17a mit „in die Gewalt“ übersetzt werden. Vorstellbar ist aber auch, dass die Formulierung bewusst offen ist, so dass sowohl die Zerstörung des gegnerischen Königreichs als auch der Frau, die aus politischen Gründen verheiratet wird, damit gemeint sein können. 45 Auch die beiden femininen Verbformen können sich entweder auf wtklm in V. 17a oder auf ~yvnh-tb in V. 17d beziehen. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 240, plädiert für ein unpersönliches Verständnis im Sinn von „es wird nicht bestehen und ihm nicht bleiben“. Aufgrund der offensichtlichen Parallelität des Vorgangs zu V. 6, wo die politische Heirat ebenfalls mit dem Untergang der betroffenen Frau endet, sind die beiden verneinten Verbformen m.E. aber auf ~yvnh-tb in V. 17c zu beziehen. 46 Ketib liest bvyw, Qere ~fyw. Anders als in Dan 11,19 fehlt in 11,18 der Aspekt der Rückkehr, der durch die Verwendung von bwv ausgedrückt wird. Dies legt die Entscheidung für Qere, das analog zu Dan 11,17 liest, nahe. Dem entspricht auch die Version der Vulgata: „ponet faciem suam“.
18
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches c
und beenden wird ein Feldherr seine47 Schande an ihm,
d
ohne dass seine Schande zurückkehren wird zu ihm.48
11,19 a b
und straucheln
c
und fallen
d
und nicht gefunden werden.
11,20 a
Und aufstehen wird an seiner Stelle [einer], der durchziehen lässt einen Eintreiber eines königlichen Schatzes,
b
und nach einigen Tagen wird er zerbrochen werden,
c
und [zwar] weder durch Zorn
d
noch durch Krieg.
11,21 a
47
Und umwenden wird er sein Gesicht49 zu den Festungen seines Landes
Und aufstehen wird an seiner Stelle ein Verächtlicher,
b
und ihm50 hat man nicht gegeben königliche Hoheit,
c
und kommen wird er in Sorglosigkeit51
d
und sich bemächtigen der Königsherrschaft durch Ränke.
Das enklitische Personalpronomen kann sich auf den Feldherrn oder den König des Nordens beziehen. 48 Die zweite Hälfte des Verses ist aufgrund der unklaren Bezüge und der Bedeutung von ytlb schwer zu interpretieren. BHS geht an dieser Stelle von Textverderbnis aus. COLLINS, Daniel 1993, 365, übersetzt: „so that he cannot requite his insult“ und nimmt damit eine Änderung des Textes von ytlb wl zu ytlbl in Kauf. Ähnlich übersetzt GOLDINGAY, Daniel 1989, 273.276, der aber die Bedeutung „so dass“ für ytlb für möglich hält. Unterschiedliche Vorschläge für Textverbesserungen finden sich bei MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 443f., PLÖGER, Buch Daniel, 153.156, BENTZEN, Daniel, 80, und PORTEOUS, Buch Daniel, 121. Die wörtliche Übersetzung von ytlb mit „ohne dass“ ist aber möglich, so z.B. bei LACOQUE, Livre de Daniel, 162: „(…) mais un magistrat mettra fin a son insulte sans qu’il retourne l’insulte à ce dernier“. Vgl. auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 243: „‚Es wird hindern machen ein Machthaber dessen Schmähung gegen ihn, ohne daß er seine Schmähung wird wiederholen können gegen ihn.‘ Gemeint ist also, dass malk ha=Òapōn so an seinen Schmähungen gehindert wird, daß er nicht mehr darin fortfahren oder sie wiederholen kann.“ 49 Wörtlich „sein Gesicht“; vgl. Dan 11,17. 50 Wörtlich: auf ihn. 51 JENNI, Präposition Beth, 329–334, geht von modalem Beth aus, das den Umstand der Handlung mit Hilfe eines Qualitätsabstraktums näher bestimmt. Die sehr wörtliche Übersetzung von hwlvb mit „in Sorglosigkeit“ drückt zwei Aspekte aus: zum einen die Unverfrorenheit dessen, der kommt, zum anderen die sorglose Haltung derer, die von seinem Kommen überrascht werden.
1. Übersetzung 11,22 a
Und die Arme der Überschwemmung werden weggespültwerden von ihm,
b
und sie werden zerbrochen werden
c
und auch ein Bundesfürst.
11,23 a
Und seit einer Verbindung zu ihm wird er ausführen Betrug52
b
und hinaufgehen
c
und stark werden mit wenig Volk.
11,24 a
In Sorglosigkeit53 und mit Mächtigen eines Landes54 wird er kommen
b
und wird handeln, wie seine Väter und die Väter seiner Väter nicht gehandelt haben.
c
Raub und Beute und Besitz wird er verteilen für sie,
d
und gegen Befestigungen wird er ersinnen seine Pläne bis zu einer Zeit.
11,25 a
19
Und aufreizen wird er seine Kraft und sein Herz gegen den König des Südens mit großem Heer.
b
Und der König des Südens wird Krieg anfangen mit großem und sehr stark gewordenem Heer,
c
und nicht wird er bestehen,
d
denn man wird ersinnen gegen ihn Pläne.
52 Überwiegend wird wyla auf den seit V. 21a agierenden Protagonisten bezogen. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 250f., nimmt dann ein unbestimmtes Subjekt von twrbxth an im Sinn von „Sobald man sich mit ihm verbindet (…)“. Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 259: „After an alliance is made with him“, siehe auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 273, und MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 450. COLLINS, Daniel 1993, 366, versteht den Satz ähnlich, lässt aber wyla in seiner Übersetzung aus. Syntaktisch ist aber auch der Bezug von wyla auf tyrb dygn in V. 22c möglich. 53 Siehe oben zu 11,21c. Vgl. auch JENNI, Präposition Beth, 334. 54 Vgl. die analoge Übersetzung von GOLDINGAY, Daniel 1989, 273. Für den Ausdruck hnydm ynmvymbw wird auch die Übersetzung „in die fruchtbaren Gegenden des Landes“ vorgeschlagen; so z.B. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 450; PLÖGER, Buch Daniel, 153; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 259; COLLINS, Daniel 1993, 366. Dagegen sprechen mehrere Beobachtungen: Zum einen fehlt bei dieser Übersetzung die Bezugsgröße für ~hl in V. 24c, zum anderen bezeichnen die drei übrigen Belege von !mvm – „Fettigkeit“ ebenfalls Personen (vgl. Jes 10,16; Ps 78,31) bzw. die Eigenschaft einer Person (Jes 17,4). Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass die Constructus-Verbindung hnydm ynmvymb, wörtlich „Fettigkeit des Landes“, auf eine Gegend zu beziehen ist. Hinzu kommt, dass die Übersetzung von hnydm ynmvymb mit „mit den Mächtigen des Landes“ gut mit der Syntax des Verses in Einklang zu bringen ist: Mit jeweils vorangestelltem b und parallelisiert durch w werden dann zwei Umstände des Kommens des Königs benannt; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 127; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 259.
20
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
11,26 a
Und die seine Tafelkost essen, werden ihn zerbrechen55,
b
und sein Heer wird überschwemmen56
c
und fallen [werden] viele Durchbohrte.
11,27 a
Und die beiden Könige, ihr Herz [ist] auf Übeltun [ausgerichtet],
b
und an einem Tisch werden sie Lüge reden,
c
und nicht wird es gelingen,
d
denn noch [dauert] das Ende bis zur bestimmten Zeit.
11,28 a
Und er wird zurückkehren in sein Land mit großem Besitz
b
und sein Herz gegen einen heiligen Bund57,
c
und handeln wird er
d
und zurückkehren zu seinem Land.
11,29 a
Zur Frist wird er zurückkehren
b
und kommen in den Süden,
c
und nicht wird es sein wie das erste und wie das andere [Mal].
11,30 a
Und kommen werden zu ihm Schiffe der Kittim58,
b
und verzagen wird er
c
und umkehren
d
und zürnen gegen einen heiligen Bund
55 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 258, versteht rbv – „zerbrechen“ hier im Sinn einer absoluten Vernichtung, was den Tod des betreffenden Königs bedeuten würde und somit einen – historisch nicht stattgefundenen – Regierungswechsel. Er beruft sich dabei auf die anderen Belege der Wurzel in Dan 11, u.a. auf V. 22c, den er auf die Ermordung des Hohenpriesters Onias III. bezieht. Dieser Bezug ist jedoch keineswegs selbstverständlich, schon allein weil die Ermordung des Onias historisch umstritten ist (s.u. Kapitel II. 2.6). Die Argumentation für ein enges Verständnis von rbv als „vernichten, töten“ verliert damit ihre Grundlage. 56 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 257, plädiert für ein Verständnis von @jv „nicht im Sinn von ‚überschwemmen‘, sondern von ‚sich ergießen‘ als ‚fliehen‘“. 57 Der Ausdruck vdq-tyrb ist hier wie auch in V. 30d.g nicht determiniert. Von den antiken Versionen ahmt nur Theodotion die undeterminierte Wendung nach; sowohl Peshitta als auch LXX ergänzen den Artikel. Unter den modernen Auslegern übersetzt GOLDINGAY, Daniel 1989, 273, textgetreu „a holy covenant“, ohne dies aber näher zu erläutern. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 260f., geht davon aus, dass sich der Ausdruck „kaum anders als auf Israel beziehen kann“, und erklärt die fehlende Determination mit der allgemein zu beobachtenden Unschärfe, „in der der Text gehalten ist. (…) Der Verfasser will auf Israel, das Volk Daniels hinweisen, möchte dies aber nicht allzu augenfällig tun und erreicht die Unschärfe durch das Weglassen jeglicher Determination.“ 58 Vgl. Num 24,24.
1. Übersetzung e
und handeln.
f
Und umkehren wird er
g
und auf solche achten, die verlassen einen heiligen Bund.
11,31 a
und entweihen werden sie das befestigte Heiligtum59
c
und aufhören lassen das regelmäßige Opfer
d
und einrichten60 die verwüstende Abscheulichkeit. Und Bundesfrevler61 wird er gottlos machen durch Ränke62,
b
und ein Volk, das seinen Gott erkennt, wird erstarken
c
und handeln.
11,33 a b 11,34 a b 11,35 a
b 11,36 a
59
Und Arme werden seinetwegen aufstehen,
b
11,32 a
21
Und Weise des Volkes63 werden verstehen lassen die Vielen, und straucheln werden sie durch Schwert und Flamme, Gefangenschaft und Raub für Tage. Und in ihrem Straucheln wird ihnen geholfen werden [mit] wenig Hilfe, und es schließen sich ihnen an viele durch Ränke. Und von den Weisen64 werden [einige] zu Fall gebracht werden, um zu prüfen unter ihnen65 und zu läutern und zu reinigen bis zur Zeit des Endes, denn noch [dauert es] bis zur bestimmten Zeit66. Und handeln wird seinem Willen entsprechend der König,
b
und erhöhen wird er sich
c
und sich groß machen über jeden Gott,
d
und gegen einen Gott der Götter67 wird er reden Unerhörtes.
zw[mh wird hier als Apposition von vdqmh verstanden und adjektivisch übersetzt; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 265. Vgl. auch 1 Chr 29,1.19, wo vom Tempel als hryb – „Burg“ die Rede ist. 60 Wörtlich: geben (!tn). 61 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 385, der auf eine Parallele in 1QM 1,2 hinweist. 62 „At Qumran, twqlx yvrd becomes a stock designation of a group, probably the early Pharisees“; COLLINS, Daniel 1993, 386. 63 Der Ausdruck ist ebenfalls nicht determiniert; vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 274: „Discerning ones within a people will enlighten the multitude“. 64 Hier determiniert. 65 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 271, nimmt ~ybr aus V. 34b als Bezugspunkt von ~hb an. 66 Vgl. 11,27. 67 Der Ausdruck ist im Hebräischen nicht determiniert. Vgl. die Übersetzung von GOLDINGAY, Daniel 1989, 274.
22
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches e
Und gelingen wird es ihm bis zum Ende des Zorns,
f
denn das Beschlossene wird ausgeführt.
11,37 a
Und über die Götter seiner Väter wird er nichts wissen68,
b
und über den Liebling der Frauen und über alle Götter wird er nichts wissen,
c
denn über alles wird er sich erhöhen.
11,38 a b
Und einem Gott der Festungen an seiner Stelle wird er Ehre erweisen, und einem Gott, den seine Väter nicht kannten, wird er Ehre geben durch Gold und Silber und edlen Stein und Kostbarkeiten.
11,39 a
Und er handelt für69 Befestigungen von Festungen mit einem fremden Gott,
b
von dem gilt: [w]er [ihn] beachtet – er lässt größer werden [dessen] Ehre70.
c
Und herrschen wird er sie lassen über viele,
d
und Land wird er zuteilen als Lohn.
11,40 a b
Und zur Zeit des Endes wird Krieg führen mit ihm der König des Südens, und es wird auf ihn einstürmen der König des Nordens mit Wagen und Reitern und vielen Schiffen,
68 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 275, plädiert für !yb im Sinn von „den Blick richten“. 69 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 281, schlägt adversatives Verständnis von l vor. Denkbar ist m.E. aber auch ein finales Verständnis im Sinn von „um zu“. 70 Eine wirklich überzeugende Übersetzung von V. 39b ist nicht möglich. Schwierigkeiten bereitet v.a. der Bezug der Relativpartikel rva. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 281, argumentiert m.E. zu Recht, dass syntaktisch einzig hwla rkn als Bezugspunkt in Frage kommt (anders z.B. GOLDINGAY, Daniel 1989, 274; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 260). COLLINS, Daniel 1993, 368, nimmt mit mehreren anderen Exegeten in V. 39a ~[; statt ~[i an und streicht außerdem rykh. Die Relativpartikel bezieht sich dann auf „Volk eines fremden Gottes“: „He will act for those who fortify strongholds, the people of a strange god. He will greatly honor [them] and make them rule over the common people and divide their land as their wages.“ Eine Übersetzung von MT ohne Berücksichtigung der Lesarten von Ketib und Qere schlägt HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 280, vor. Er plädiert für die Beibehaltung der von MT überlieferten Punktierung rykih; (Infinitiv constructus von rkn) und schlägt die Übersetzung „welchen (…) anzuerkennen er Ehre vermehren wird“ bzw. „dessen Anerkennung er ehren wird“ vor. Dabei erweist sich allerdings das fehlende Nomen rectum des Infinitivus constructus als erklärungsbedürftig. Ein ähnlicher Sinn ist jedoch m.E. auch bei der von Ketib vorgeschlagenen Lesart ryKih. als AK-Form von rkn möglich. Bei dieser Variante ist v.a. der fehlende Bezugspunkt des enklitischen Personalpronomens an ~lyvmh im folgenden Satz V. 39b problematisch. Dieser wäre in der von Hasslberger gewählten Übersetzung in der Gruppe derer, die anerkennen, zu sehen. Allerdings kann auch die von Ketib vorgeschlagene AK-Form als unpersönliche Formulierung verstanden werden, welche eine Gruppe von Personen, die den fremden Gott anerkennen, meint, so dass durch die gewählte, m.E. einfachere Übersetzung keine Verschlechterung gegenüber der von Hasslberger vorgeschlagenen Variante eintritt.
1. Übersetzung c
und kommen wird er in die Länder
d
und fluten
e
und überschwemmen.
11,41 a
und viele werden straucheln,
c
und diese werden gerettet werden aus seiner Hand: Edom und Moab und die Ersten der Söhne Ammons.
b 11,43 a b 11,44 a b 11,45 a
Und ausstrecken wird er seine Hand nach den Ländern, und das Land Mizrajim wird nicht gelangen zu seiner Rettung. Und herrschen wird er über/durch die Schätze von Gold und Silber und alle Kostbarkeiten Mizrajims, und Lubim und Kuschim [sind] in seinem Gefolge. Und Nachrichten werden ihn erschrecken aus Osten und aus Norden, und ausziehen wird er in großem Zorn, um zu zerstören und zu vernichten viele. Und aufschlagen wird er die Zelte seines Palastes zwischen Meeren und dem71 Berg der Zierde der Heiligkeit,
b
und kommen wird er zu seinem Ende,
c
und nicht vorhanden [ist] ein Helfer für ihn72.
12,1 a
Und in jener Zeit wird aufstehen Michael, der große Fürst, der über den Söhnen deines Volkes steht,
b
und es ist eine Zeit der Bedrängnis, die es nicht gegeben hat, seit es [überhaupt] ein Volk gibt bis zu jener Zeit.
c
Und in jener Zeit wird gerettet werden dein Volk, jeder der gefunden wird als Aufgeschriebener in dem Buch.
12,2 a
Und viele von den Schlafenden der staubigen Erde73 werden erwachen:
b
diese zum Leben der Ewigkeit
c
und diese zur Schmach, zur Abscheu der Ewigkeit.
12,3 a b 12,4 a b 71
Und kommen wird er in das Land der Zierde,
b
11,42 a
23
Und die Weisen werden glänzen wie der Glanz der Himmelswölbung und die viele gerecht machen wie die Sterne für Ewigkeit und [alle] Zeit. Und du, Daniel, verschließ die Worte und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes.
Vgl. JENNI, Präposition Lamed, 269. Vgl. Ps 18,42. 73 „The expression rp[ tmda is probably a double reading, conflating two synonyms“; COLLINS, Daniel 1993, 392. 72
24
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches c
Es werden umherstreifen74 viele,
d
und größer werden wird das Wissen.
12,5 a b
und siehe: Zwei andere Stehende,
c
einer hier am Ufer des Stromes
d
und einer dort am Ufer des Stromes.
12,6 a b 12,7 a
Und [ein]er sagte zu dem in Leinen gekleideten Mann oberhalb des Wassers des Stromes: Bis wann [dauert] das Ende des Außergewöhnlichen? Und ich hörte den in Leinen gekleideten Mann oberhalb des Wassers des Stromes,
b
und er erhob seine Rechte und seine Linke zum Himmel
c
und schwor beim Lebenden der Ewigkeit,
d
dass nach einer Zeit und Zeiten und einer halben [Zeit] und nach der Beendigung des Zerstreuens der Macht eines heiligen Volkes beendet werde all dieses.
12,8 a
Und ich hörte
b
und verstand nicht,
c
und ich sagte:
d 12,9 a
Mein Herr, was ist das Letzte von diesem? Und er sagte:
b
Geh, Daniel,
c
denn verschlossen und versiegelt [sind] die Worte bis zur Zeit des Endes.
12,10 a
74
Und es schaute ich, Daniel,
Es werden sich reinigen
b
und sich weiß waschen
c
und geläutert werden viele,
d
und Verderben bewirken die Frevler,
e
und nicht verstehen werden all die Frevler,
f
und die Weisen werden verstehen/Verständnis bewirken75.
Vgl. Am 8,12. Die Formen von !yb sind in Qal und Hif’il in der 3. Person Singular maskulin identisch. Während die Parallelisierung der Weisen mit denjenigen, die viele zur Gerechtigkeit führen, in 12,3 bzw. die Gegenüberstellung von Weisen und Frevlern, die Verderben bewirken, in 12,10 für die Bedeutung „Verständnis bewirken“ spricht, legt die Gegenüberstellung zu den Frevlern, die nicht verstehen, in der ersten Hälfte von 12,10 75
2. Beschreibung des Textes 12,11
25
Und seit der Zeit, dass entfernt wurde das tägliche Opfer, und seit der Einrichtung des verwüstenden Abscheus: eintausendzweihundertundneunzig Tage.
12,12 a b 12,13 a
Selig der Harrende, und er wird erreichen eintausenddreihundertundfünfunddreißig Tage. Und du, geh zum Ende,
b
und du wirst ruhen
c
und aufstehen zu deinem Los am Ende der Tage.76
2. Beschreibung des Textes 2. Beschreibung des Textes
Mit insgesamt 79 Versen77 stellen die Schlusskapitel Dan 10 – 12 die längste Einheit des hebräisch-aramäischen Danielbuches dar. Im Buchkontext fällt eine deutliche Abgrenzung von den vorhergehenden Kapiteln auf. Erstmals seit 7,1 begegnet in 10,1 wieder ein Er-Erzähler, der die Passage einführt. Anders als in Dan 1 – 9, wo die Kapitelgrenzen mit dem Umfang der einzelnen Erzählungen bzw. Visionen übereinstimmen, wird in den Schlusskapiteln Dan 10 – 12 eine fortlaufende Handlung über drei Kapitel entfaltet. Die Sinnabschnitte fallen dabei jedoch nicht mit den Kapitelgrenzen zusammen78. 2.1 Zeit und Ort Wie die vorhergehenden Daniel-Erzählungen Dan 1 – 6 und die Visionen Dan 7 – 9 wird auch die Schlussvision des hebräisch-aramäischen Danielbuches in die Regierungszeit eines Königs eingeordnet. Dan 10,1 datiert das in den folgenden Versen geschilderte Visionsgeschehen in das dritte Jahr des persischen Königs Kyros. Nach den Regierungszeiten von Jojakim (Dan 1,1), Nebukadnezzar (Dan 2 – 4), Belschazzar (Dan 5; 7,1; 8,1) und Darius (Dan 6; 9,1) tritt die Erzählung des Danielbuches somit in eine weitere Zeitphase ein. Formal ähnelt die Zeitangabe in Dan 10,1 den Zeitangaben in Dan 2,1; 7,1; 8,1 und 9,1, wo das nachfolgende Geschehen ebenfalls in ein bestimmtes Regierungsjahr eines Königs datiert wird.79 die Übersetzung „verstehen“ nahe. Möglicherweise sind, analog zur doppelten Qualifizierung der Frevler in der ersten Vershälfte, beide Bedeutungsrichtungen intendiert. 76 MT hat hier die aramäische Form !ymyh. 77 Zum Vergleich: Die meisten Kapitel des Danielbuches enthalten ca. 30 Verse, Kapitel 1 mit 21 und Kapitel 2 mit 49 Versen liegen unter bzw. über dem Durchschnitt. 78 Siehe unten Kapitel I. 2.3. 79 Zum Zusammenhang von Dan 2 mit Dan 7 – 12 vgl. KRATZ, Visionen, 227.232.
26
Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
Mit der Regierungszeit des Kyros knüpft die Erzählung an Dan 1,21 an, wo die Aufenthaltsdauer Daniels am babylonischen Königshof allerdings mit dem ersten Regierungsjahr von Kyros endet. Indem die Schlussvision Dan 10 – 12 in Dan 10,1 in das dritte Regierungsjahr des persischen Königs datiert wird, fällt die Episode also zeitlich aus dem Rahmen. Sie spielt zu einem Zeitpunkt, der im Auftaktkapitel, das den erzählerischen Rahmen des Buches absteckt, gar nicht mehr definiert wird.80 Aus der Erzählung selbst wird nicht klar, ob sich Daniels Status nach Ablauf des ersten Jahres des Kyros verändert hat und ob er sich überhaupt noch am Königshof aufhält. Eine mögliche Deutung der von Dan 1 abweichenden Datierung der Schlussvision schlagen Hartman und di Lella vor. Sie datieren den Beginn von Daniels Dienst am babylonischen Hof unter Nebukadnezzar in das Jahr 606 v.Chr. Damit wäre das dritte Regierungsjahr des Kyros gleichzeitig das siebzigste Dienstjahr Daniels: „It may be suggested, moreover, that the third year of Cyrus, or 536 B.C., was deliberately written here so that the years of Daniel’s ministry, which began in 606 (…), would total the biblically perfect number seventy. If this suggestion be correct, then it could also be said that Daniel’s ‚perfect‘ (i.e. most significant and extensive) vision took place in the seventieth or ‚perfect‘ year of his ministry.“81
Der Zeitpunkt der Vision Daniels wird präzise auf den 24. Tag des ersten Monats, d.h. des Nisan, festgelegt. Das der Vision vorhergehende dreiwöchige Fasten fällt damit auf die Zeit von Pessach. Dies bedeutet, dass Daniel das Fest nicht gefeiert hat.82 Im weiteren Verlauf des Kapitels spielt dieser Umstand jedoch keine Rolle.83 Das Fasten scheint lediglich eine
80 Das Problem stellt sich nicht in der Textfassung der Septuaginta, wo die Schlussvision in Übereinstimmung mit dem zeitlichen Rahmen aus Dan 1,21 in das erste Jahr des Kyros datiert wird. Sowohl die Theodotion-Version als auch Vulgata und Peshitta verorten die Vision jedoch übereinstimmend mit MT im dritten Regierungsjahr von König Kyros; vgl. KOCH – RÖSEL, Polyglottensynopse, 258f. 81 HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 277. 82 Daniel befindet sich dadurch in der gleichen Situation wie die Jerusalemer Juden unter Antiochos IV., der nach der Darstellung von 1 Makk 1 die öffentliche Ausübung der jüdischen Religion durch Opfer und Feste verbot; vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 290; SEOW, Daniel, 156. Allerdings ist in 1 Makk 1,39.45 nur sehr allgemein von der Abschaffung von Opfern und Festen die Rede. Das Pessach-Fest wird nicht eigens erwähnt, ebenso wenig ein anderes Fest. 83 „Daniel apparently fasted through passover, but the author does not appear to notice this implication of the dating. The specificity of the date may be simply a divice to make the narrative more vivid“; COLLINS, Daniel 1993, 373; vgl. auch HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 279.
2. Beschreibung des Textes
27
Funktion für die Vorbereitung des Visionsempfangs zu besitzen. Bezüge zu Pessach oder zum Exodus-Geschehen scheinen nicht vorhanden zu sein.84 Der Ort der Vision wird wie in Kapitel 8 als Flussufer beschrieben. Der Name des Flusses, Hidekkel, ist die hebräische Bezeichnung für den Tigris. Damit wird der Schauplatz in eine Gegend verlegt, die nicht mehr mit Babylonien, dem Ort des Exils, in Zusammenhang gebracht werden kann.85 Diese Ortsangabe entspricht der zeitlichen Einordnung der Szene in die persische Zeit.86 Im Unterschied zu den Ortsangaben in Dan 8,287, die ausschließlich mit historischen Orten in Verbindung gebracht werden können88, bezeichnet der Name „Hidekkel“ in Gen 2,14 einen der Paradiesflüsse. Die Ortsbezeichnung „am Ufer des großen Stromes, des Hidekkel“ impliziert damit die Idee eines Ortes in sagenhaft weiter Ferne. Dies erinnert an die Ortsbezeichnung „Land Schinar“, mit der das Ziel der Exilierten in Dan 1,2 benannt wird. „Schinar“ ist aber nicht nur eine geläufige Bezeichnung für Babylonien, wenngleich mit der Stadt Babel verknüpft.89 Die Belege in Gen 10,10 und 14,1.9 lassen vielmehr an eine Ortsbezeichnung der fernen Vorzeit denken.90 Durch die Verknüpfung mit der Geschichte vom Turmbau zu Babel wird aber auch das Thema der Völ84 Eine andere Meinung vertritt HAAG, Kampf der Engelmächte, 245: „Drei Tage nach dem Pessach-Mazzotfest, dem Festgedächtnis an die Herausführung Israels aus Ägypten und den Einzug in das Land der Verheißung (Dtn 16,1–8), ergeht an Daniel ein Offenbarungswort über das Endzeitgeschick seines Volkes (10,14) und damit über die Vollendung des in dem Festgedächtnis vergegenwärtigten Anfangsgeschehens.“ 85 „Der Verfasser denkt hier an den Tigris, weil Babylon am Eufrat liegt und für das entferntere Persien ihm der entferntere Fluß passend erscheint“; LEBRAM, Buch Daniel, 114; vgl. auch HAAG, Kampf der Engelmächte, 245f. 86 Vgl. SEOW, Daniel, 156: „The designation of the Tigris as ‚the great river‘ implies the end of Babylon, which was built on the Euphrates. The focus is now on the Tigris, the river on which the first Seleucid ruler established the city of Seleucia in the fourth century B.C.E. Daniel is still in the diaspora, as it were, only now the dominant power is not longer Babylonian.“ 87 „Und ich schaute in dem Gesichte – und es war in meiner Schau, daß ich war in Schuschan, der Burg, die in der Landschaft Elam – ich schaute in dem Gesichte als wäre ich am Flusse Ulai“; Übersetzung: Leopold Zunz. 88 „Elam lies between Babylon and Persia and corresponds to modern Khuzistan (…). In 548/547 B.C. [dem dritten Regierungsjahr des Belschazzar; Anm. R.W.] it probably still belonged to Babylon, but in any case the chapter presupposes the status and circumstances of Susa in the period to which the vision refers. (…) Ulay is an ancient name for a waterway near Susa“; GOLDINGAY, Daniel 1989, 208; vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 329. 89 In diesem Sinne sind die Belege in Jos 7,21 und Jes 11,11 zu verstehen. 90 Die sagenhafte Ferne als Ort des Danielbuches passt zum Charakter der Danielfigur als sprichwörtlichem Weisen der Vorzeit zusammen mit Noah und Ijob in Ez 14,14.20.
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
ker als chaotische Größe eingespielt.91 Somit bezeichnet die Ortsangabe Schinar einen Ort, der der Gegenwart und dem Wirken Gottes entgegengesetzt ist. 2.2 Kommunikationsebenen Mit Ausnahme des Einleitungssatzes Dan 10,1 ist die gesamte Perikope Dan 10 – 12 als Bericht Daniels gestaltet, in dem er große Gesprächsblöcke und in 10,20 – 12,4 einen langen Monolog seines Gesprächspartners referiert. Der Text besitzt somit drei unterschiedliche Kommunikationsebenen: die Ebene des Erzählers, die Ebene des Berichts und die Ebene der referierten Gesprächsanteile und Reden. In der gesamten Perikope Dan 10 – 12 lassen sich ferner drei Personengruppen unterscheiden: Daniel und seine Begleiter, die verschiedenen Könige und deren Umgebung in der langen Zukunftsansage im Mittelteil und Daniels Gesprächspartner sowie die beiden anderen Erscheinungen in 12,5–13 und die Wesen aus ihrer Welt, von deren Auseinandersetzungen Daniels Gesprächspartner berichtet. Die Welt, aus der der Bote kommt, wird in den Ausführungen von Daniels Gegenüber spezifiziert. Vor den eigentlichen Zukunftsansagen (10,13.20; 11,1) und an deren Ende (12,1) rekurriert Daniels Gesprächspartner auf Vorgänge in dieser Welt. Sie ist von Wesen bevölkert, die als „Fürsten“ bezeichnet werden und bestimmten Völkern zugeordnet sind. Diese Fürsten tragen Konflikte untereinander aus oder unterstützen einander in diesen Konflikten. Namentlich wird der Fürst Michael genannt, ferner treten die Fürsten von Paras (Persien) und Jawan (Griechenland) auf.92 Im Gegensatz dazu bleiben die Personen, von denen in der Zukunftsansage 11,2b – 12,3 die Rede ist – Könige und deren Gefolge, Verständige, 91 „Denn Schinar (…) ist nach der biblischen Urgeschichte das Land, wo sich der ‚Anfang‘ einer Weltherrschaft mit Babel als deren Träger (Gen 10,10) und auch der Gegenpol zu der mit der Erwählung Abrahams beginnenden Heilsgeschichte gebildet hat. Ähnlich verweist auf Schinar als einen dem ‚Haus Jahwes‘ (…) entgegengesetzten Herrschaftsbereich (…) auch die auf Nebukadnezzar bezogene Ortsangabe ‚Haus seines Gottes‘“; HAAG, Daniel, 24. 92 Diese himmlischen Fürsten werden auch als Völkerengel bezeichnet. Die Idee der Völkerengel war nach COLLINS, Daniel 1993, 374f., in der antiken Welt weit verbreitet: „The origin of this idea is to be sought in the ancient Near Eastern concept of the divine council. (…) In the Animal Apocalypse (1 En 89:59) the angels or gods of the nations are represented by seventy sheperds, to whom Israel is handed over. (…) The title ‚prince‘ (…) is used for the chief angelic powers at Qumran (…).“ Siehe ferner COLLINS, Daniel 1993, 376: „The idea that Michael is prince of Israel occurs here for the first time in the Bible, although a slightly earlier occurence may be found in 1En 20:5.“ Vgl. auch KOCH, Monotheismus und Angelologie; HAAG, Kampf der Engelmächte; MEADOWCROFT, Princes.
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Frevler –, auf ihre Funktionen reduziert. Die einzelnen Könige werden nicht bei ihrem Namen genannt; ihre Unterscheidung erfolgt meist anhand ihrer Herrschaftsgebiete. Ähnlich werden alle übrigen Personen und Personengruppen durch ihren Beruf (Steuereinnehmer, Feldherr), ihr Verhalten (Frevler, Abtrünnige, Verständige) oder durch ihre Beziehungen untereinander (die Tochter des Königs des Nordens) charakterisiert. Anders als in Dan 8 – 9 bleiben aber auch Daniels Gesprächspartner in den Rahmenteilen der Perikope namenlos.93 Daniel und der Fürst Michael sind somit die einzigen Personen, deren Namen der Leser von Dan 10 – 12 erfährt. In Bezug auf die oben unterschiedenen Kommunikationsebenen des Textes (Er-Erzähler, Bericht Daniels, referierte Gespräche und Reden) treten Daniel und seine Begleiter nur auf der Ebene von Daniels Bericht auf, während die Könige und ihr Gefolge nur in dem von Daniel referierten Monolog des Boten vorkommen. Hinsichtlich des Aufbaus der Perikope unterstreicht die Verteilung dieser beiden Gruppen die Abgrenzung der drei Teile und ihre Anordnung als Rahmen bzw. Mittelteil. Die Welt, aus der der Bote kommt, tritt mit den beiden anderen Gruppen in Verbindung: im Gespräch mit Daniel und durch das Erscheinen Michaels in der Welt der Könige.94 Da die Kommunikation mit dem übermenschlichen Boten eine Wahrnehmung voraussetzt, die über die normale hinausgeht, entsteht v.a. im ersten Hauptabschnitt der Perikope (10,2–19) eine komplizierte Struktur der Geschehensebenen. Neben dem für alle, in diesem Fall für Daniels Begleiter zugänglichen Geschehen (V. 4.7) sind die Visions- und Auditionsphänomene nur für Daniel wahrnehmbar (V. 5–6). Ab V. 8 kann nicht mehr sinnvoll von einer visionsexternen Wahrnehmungsebene gesprochen werden, da nach der Flucht von Daniels Begleitern (V. 7) keine Figuren mehr anwesend sind, die eine solche Wahrnehmung haben könnten. Die Reaktionen, die das Offenbarungsgeschehen bei Daniel hervorruft, wie sein verändertes Aussehen V. 8, sein Zusammenbrechen V. 9 und langsames Aufstehen V. 10, könnten zwar durchaus auch von Außenstehenden wahrgenommen werden. Gleichzeitig rufen diese Reaktionen aber Handlungen des nur für Daniel sichtbaren Mannes hervor, so dass der Eindruck einer visionsinternen Interaktion zwischen Daniel und seinem Gesprächspartner entsteht: Daniel ist nicht nur Empfänger der Erscheinung, sondern wird mit seiner ganzen, auch körperlichen Existenz in das Geschehen hineingenommen. 93 Allerdings wird der Gesprächspartner Daniels in der Literatur häufig mit dem Fürsten Gabriel aus den Kapiteln 8 und 9 identifiziert; vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 279; LACOQUE, Livre de Daniel, 153. 94 Vgl. MEADOWCROFT, Princes.
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Diese visionsinterne Geschehensebene wird erst in 12,5 durch einen weiteren Satz aus dem Munde Daniels unterbrochen, der seinen Standpunkt als außenstehender Betrachter der Vision nahelegt: „Und ich, Daniel, schaute …“ Das Geschehen kehrt jedoch sofort in die Vision zurück und bleibt bis zum Ende der Szene auf dieser Ebene. 2.3 Gliederung Die Kapiteleinteilung der Schlussvision des hebräisch-aramäischen Danielbuches suggeriert, dass die Kapitelgrenzen Abschnitte im Text markieren. Tatsächlich können den Kapiteln 10, 11 und 12 bestimmte inhaltliche Schwerpunkte zugeordnet werden. So wird in Dan 10 v.a. die Eröffnungsvision des gesamten Offenbarungsgeschehens Dan 10 – 12 geschildert, Dan 11 enthält den Teil der großen Zukunftsansage, der die Zeit vor dem „Ende“ (Dan 11,40; vgl. 12,1) betrifft, während in Dan 12 Gericht und Rettung durch Gott beschrieben werden. Betrachtet man jedoch die Gliederungsmerkmale des durchlaufenden Textes Dan 10 – 12, so erweist sich diese Einteilung als zu grob und zu ungenau. Eine am Text orientierte Gliederung entspricht daher nicht den Kapitelgrenzen. Auf der Basis des Textes legen sich vielmehr zwei verschiedene Möglichkeiten nahe, den Text in drei Abschnitte zu gliedern. Zunächst hebt sich die große Zukunftsansage 11,2b – 12,3 in der Mitte der Schlussvision deutlich von den Rahmenteilen ab. Während in 10,2 – 11,2a und 12,5–13 Daniels Vision am Flussufer geschildert wird, tritt diese Szene mit ihren Akteuren im Mittelteil vollkommen in den Hintergrund. Hier begegnen stattdessen verschiedene Könige, deren Handlungen über mehrere Generationen und Dynastien hinweg überblicksartig beschrieben werden. Die Zukunftsansage in der Mitte und der narrative Rahmen unterscheiden sich dabei nicht nur hinsichtlich ihres Settings und der auftretenden Akteure. Auch die sprachliche Gestalt weist deutliche Unterschiede auf. An die Stelle der farbigen und detaillierten Schilderungen des Visionsberichts treten in der Zukunftsansage knappe Formulierungen. Im Fokus stehen die Ereignisse, welche nacheinander geschildert werden. Die ausführenden Personen bleiben jedoch unnahbar und schemenhaft.95 95
Diese Struktur bildet sich auch auf der Ebene der überwiegend verwendeten Verbformen ab. Während in der Zukunftsansage 11,2b – 12,3 qatal- und wayyiqtol fast völlig fehlen, so dominieren diese Formen in den Rahmenteilen. Die Verwendung von yiqtolFormen markiert zusätzlich einen Unterschied zwischen den vorderen und den hinteren Rahmenteilen: Während diese in die Zukunft gewandte Form in den beiden vorderen Rahmenteilen deutlich seltener vorkommt als die Erzähltempora, ist sie in den hinteren Abschnitten die am häufigsten benutzte Form. Aus der Perspektive der Zeitstufen präsentiert sich Dan 12,4–13 daher nicht nur als Rahmen, sondern auch als Synthese der vorangehenden Abschnitte.
2. Beschreibung des Textes
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Berücksichtigt man jedoch die Kommunikationsebenen des Textes, ergibt sich eine andere Einteilung. Dann steht der große Monolog des Boten in der Mitte, der mit 10,20 beginnt und in 12,4 endet. Dazwischen kommt Daniel kein einziges Mal zu Wort. Die Visionsschilderungen sind hingegen von einem ständigen Wechsel von Ich-Erzähler-Passagen, Dialogen und wörtlichen Reden geprägt. Die verschiedenen Möglichkeiten der Einteilung spiegeln sich auch in der Kommentarliteratur zu Dan 10 – 12 wider. Während ein Teil der Exegetinnen und Exegeten von einem Einschnitt zwischen 10,19 und 10,20 ausgeht96, plädiert ein anderer Teil dafür, dass der Mittelteil der Perikope in 11,2b beginnt97. Da diese beiden Möglichkeiten der Textgliederung auf so unterschiedlichen Ebenen liegen, erscheint es jedoch nicht sinnvoll, sich für eine von ihnen zu entscheiden. Es ist allerdings möglich, beide Beobachtungsstränge zusammenzuführen. Für die Beschreibung von Dan 10 – 12 gehe ich daher im Folgenden von einer Einleitung der gesamten Perikope in Dan 10,1 sowie von fünf Hauptabschnitten Dan 10,2–19, 10,20 – 11,2a, 11,2b – 12,3, 12,4 und 12,5–13 aus, welche teilweise in weitere Unterabschnitte unterteilt werden können: 10,1 10,2–19 10,2–3 10,4–9 10,10–19 10,20 – 11,2a 11,2b – 12,3 11,2b 11,3–4 11,5–45 12,1–3 12,4 12,5–13
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Einleitung Visionsbericht 1 Vorbereitung Vision und Reaktion Interaktion Monolog des Boten 1 – Einleitung Monolog des Boten 2 – Zukunftsansage Persische Könige Ein heldenhafter König Könige des Nordens und des Südens Gericht und Rettung Monolog des Boten 3 – Schluss Visionsbericht 2
So versteht GOLDINGAY, Daniel 1989, 286, Dan 10,20 – 11,2a als Einleitung der Hauptrede 10,20 – 12,4. Ähnlich argumentiert SEOW, Daniel, 153: „Because 10:20 begins to give the explanation for the epiphany, however, using 10:19 as a marker for the end of the prologue seems like a reasonable approach“. Auch Seow grenzt im weiteren Verlauf des Kommentars (163) Dan 10,20 – 12,4 als „Final Revelation“ ab. 97 Für den Beginn der zentralen Offenbarung in Dan 11,2b sprechen sich LEBRAM, Buch Daniel, 115.123, MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 404, PORTEOUS, Buch Daniel, 129, und COLLINS, Daniel 1993, 371, aus.
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
Ohne Einleitung98 weist die Perikope somit eine konzentrische Struktur auf, in deren Mitte sich die Zukunftsansage des Boten Dan 11,2b – 12,3 befindet. Diese wird zweifach umrahmt. Den äußeren Rahmen bilden die beiden korrespondierenden Visionsberichte Dan 10,2–19 und Dan 12,5–13, den inneren die Einleitung (Dan 10,20 – 11,2a) und der Schluss (Dan 12,4) des Monologs: äußerer Rahmen 1: innerer Rahmen 1: Zentrum: innerer Rahmen 2: äußerer Rahmen 2:
Visionsbericht 1 (Dan 10,2–19) Einleitung des Monologs (Dan 10,20 – 11,2a) Zukunftsansage (Dan 11,2b – 12,3) Schluss des Monologs (Dan 12,4) Visionsbericht 2 (Dan 12,5–13)
Die einzelnen Abschnitte der Schlussvision Dan 10 – 12 werden im Folgenden inhaltlich näher beschrieben. 2.3.1 Einleitung: Dan 10,1 Die Einleitung Dan 10,1 verknüpft die Schlussvision Dan 10 – 12 mit dem übrigen Buch. Die eröffnende Zeitangabe nimmt formal die Zeitangaben aus Dan 2,1; 7,1; 8,1 und 9,1 auf und weist auf Dan 1,21 zurück, wo ebenfalls von Kyros die Rede ist. Auch der hier erstmals seit Dan 5,12 wieder verwendete Exilname Daniels, Beltschazzar, verklammert Dan 10 – 12 mit dem ersten Teil des Buches.99 Daniel erhält diesen Namen in Dan 1,7, wo auch seine Schicksalsgenossen Hananja, Mischael und Asarja vom Obersten der Hofbeamten neue Namen erhalten. Erstmals seit Dan 7,1 kommt in Dan 10,1 ferner wieder ein Erzähler in der dritten Person zu Wort.100 Damit setzt sich die Einleitung von den vorausgehenden Kapiteln Dan 8 und 9 ab, die beide als direkte Rede des Visionärs Daniel gestaltet sind. Auch Dan 7 besteht ab V. 2 aus wörtlicher Rede. Anders als bei der Einleitung wird das Kapitel am Ende nicht durch einen Erzähler geschlossen, sondern bleibt in der ersten Person, so dass Dan 8,1 nahtlos anschließt. Dies entspricht der Gestaltung von Dan 10 – 12: Auch die Schlussperikope wird zwar durch einen Erzähler eingeleitet, der in 10,2 beginnende Bericht Daniels reicht aber bis zum Ende der Perikope in Dan 12,13. 98 Eine konzentrische Struktur einschließlich der Einleitung ergibt sich, wenn man Dan 12,11–13 als an die Leser gerichtete Aufforderung versteht und von dem vorhergehenden Visionsbericht 2, der dann nur bis Dan 12,10 reicht, absetzt. 99 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 289f. 100 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 287.
2. Beschreibung des Textes
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Diese strukturelle Ähnlichkeit zwischen Dan 7 und Dan 10 – 12 signalisiert, dass das Buch in Dan 10, ähnlich wie in Dan 7, noch einmal in eine neue Phase eintritt. Dem entspricht auf der inhaltlichen Ebene, dass die Schlussvision durch ihre chronologische Einordnung in das dritte Regierungsjahr der Kyros außerhalb des in Dan 1,21 festgelegten Zeitrahmens liegt. Gleichzeitig wird die Schlussvision durch die Wiederaufnahme von Daniels Exilnamen, die Reminiszenz auf den zuletzt in Dan 1 erwähnten König Kyros und die Strukturparallele zu Dan 7 eng an die vorhergehenden Kapitel des Danielbuches – die Erzählungen und die Visionen – angebunden. Die Rückverweise auf Dan 1 und Dan 7 unterstreichen die doppelte Funktion von Dan 10 – 12 als Abschluss der Danielvisionen und als Abschluss des gesamten Danielbuches.101 2.3.2 Visionsbericht 1: Dan 10,2–19 Das zentrale Thema des ersten Hauptabschnitts Dan 10,2–19 ist die Vision, die Daniel am Ufer des Flusses Hidekkel hat. Der erste Unterabschnitt Dan 10,2–3 schildert die Vorbereitungen Daniels auf den Empfang der Vision. Im zweiten Unterabschnitt Dan 10,4–9 wird die Vision sowie die Reaktion Daniels geschildert. Der dritte Unterabschnitt Dan 10,10–19 beschreibt die Interaktion Daniels mit dem himmlischen Boten, dem er in dem visionären Geschehen begegnet. Ohne Übergang beginnt in Dan 10,2–3 der Ich-Bericht der Hauptperson des Buches, Daniel. Mit der Formel „Es war in jenen Tagen“ ordnet Daniel das im Folgenden geschilderte Visionsgeschehen in den von Dan 10,1 abgesteckten zeitlichen Rahmen ein. Durch die Formulierung „ich, Daniel“ tritt nach der Einleitung in der dritten Person die Hauptperson des Buches als Erzähler wieder besonders in den Vordergrund. Die Verse Dan 10,2–3 fassen einen Zeitraum von drei Wochen zusammen, in denen sich Daniel wie ein Trauernder verhält, indem er auf Nahrung und Kosmetik verzichtet.102 Dieses Verhalten kann als Vorbereitung auf das Visionsgeschehen interpretiert werden.103 Die Beschreibung der Vision sowie der Reaktionen von Daniel und seinen Begleitern auf das Offenbarungsgeschehen in Dan 10,4–9 beginnt in 101
Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 277. KRATZ, Visionen, 239, geht davon aus, dass Dan 10 ursprünglich direkt an Dan 8 anschloss. Mit seinem Fasten reagiert Daniel darauf, dass er die Vision in Dan 8 nicht verstanden hat (vgl. Dan 10,12). Zur Tradition des Trauerfastens vgl. KUTSCH, Trauerbräuche. 103 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 278, die zahlreiche biblische Parallelen benennen. Vgl. auch KUTSCH, Trauerbräuche. 102
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
V. 4 mit einer Zeitangabe und einer Ortsangabe: Das Setting der Vision wird präzise auf den 24. Tag des ersten Monats und auf das Ufer des Flusses Hidekkel festgelegt. Dort sieht Daniel einen Mann in strahlender Kleidung und hört dessen gewaltige Stimme104 (V. 5–6). In dieses statische Bild kommt ab Dan 10,7 Bewegung. Zunächst werden in V. 7–9 die Wirkungen der Erscheinung beschrieben: Daniels Begleiter, von denen die Leserinnen und Leser hier (V. 7) zum ersten Mal erfahren, fliehen voller Schrecken, obwohl sie die Erscheinung nicht sehen können. Daniel selbst reagiert mit körperlicher Schwäche (V. 8) und fällt schließlich zu Boden (V. 9). Seine Kraft und seine Körperhaltung haben damit ihren Tiefpunkt im Verlauf des Textes erreicht. Gleichzeitig erinnert die Haltung Daniels, mit dem Gesicht auf dem Boden liegend, an verehrende Proskynese105. Die Aufrichtung erfolgt langsam und schrittweise im dritten Unterabschnitt Dan 10,10–19. Damit verflochten entspinnt sich zwischen Daniel und dem ihm erschienenen Mann ein Gespräch. Eine Hand berührt den am Boden liegenden Daniel und richtet ihn soweit auf, dass er auf Handflächen und Knien steht (V. 10). Zusätzlich fordert die Erscheinung ihn auf, sich hinzustellen (V. 11). Daniel kommt dieser Aufforderung nach (V. 11). Auf die im Folgenden an ihn gerichteten Worte hin (V. 12–14) verstummt Daniel (V. 15). Erst nachdem die Erscheinung seine Lippen berührt hat, kann er antworten (V. 16–17). Es bedarf noch einer weiteren Berührung (V. 18) und weiteren Zuspruchs (V. 19), bis Daniel sich selbst als „gestärkt“ bezeichnen kann und bereit ist, die Worte seines Gegenübers anzuhören (V. 19). Dass die einzelnen Handlungen des Boten dabei aufeinander aufbauen und die Beziehung zwischen dem Boten und Daniel sowohl stabilisieren als auch intensivieren, wird anhand der Anreden deutlich, mit denen der Bote sich an Daniel wendet. Die dritte Anrede „Fürchte dich nicht, Mann von Kostbarkeit“ in V. 19 kombiniert die beiden vorhergehenden Anreden aus V. 11 und V. 12. V. 19 wirkt so als Ergebnis der vorhergehenden Handlungsschritte. Der gesamte erste Hauptabschnitt Dan 10,2–19 kann auch als schrittweises Hineinwachsen Daniels in die Welt des Boten verstanden werden. Von Anfang an zeichnet sich Daniel durch eine besondere Nähe zu dieser Welt aus: Im Gegensatz zu seinen Begleitern, die die Erscheinung nicht sehen, sieht Daniel die Gestalt des Mannes (V. 5–7). Zusätzlich hört er auch eine Stimme (V. 6), allerdings berichtet er nur von der Stimme der Worte, nicht von ihren Inhalten. Die Wahrnehmung verbleibt so zunächst auf der Ebene des akustischen Phänomens. Erst nachdem ihn die Erschei104
Zu den Parallelen zu Ez 1 – 3; 9 – 10 s.u. Kapitel II. 4 und IV. 3.1. Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 281: „Falling face to the ground seems to be the usual gesture when one witnesses a theophany or angelic appearence.“ 105
2. Beschreibung des Textes
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nung auch berührt hat (V. 10), versteht er Worte, die an ihn gerichtet werden (V. 11). Nachdem der Bote Daniels Lippen berührt (V. 16) hat, ist er auch fähig, mit seinem Gegenüber zu sprechen (V. 16–17). Die Annäherung zwischen Daniel und dem Boten erfolgt also schrittweise auf visuellem, auditorischem und taktilem Weg. Schließlich ist Daniel mit seiner ganzen leiblichen Existenz in die Welt des Boten integriert.106 Die fortschreitende Aufrichtung und Stabilisierung Daniels in Interaktion mit seinem Gegenüber verleiht dem Abschnitt Dan 10,10–19 eine klare Linie. Im Vergleich dazu wirkt der Gedankengang der Gesprächsteile im gleichen Abschnitt aufgrund der Verflechtung zweier Themen sprunghaft. Neben der Ermutigung und Stärkung Daniels spielt als weiteres Thema die Welt, aus der der Bote kommt, eine Rolle. Diese Welt zeichnet sich zunächst durch eine besondere Nähe zu Gott aus: Das Kommen des Boten ist eine Konsequenz von Daniels Verhalten vor Gott (V. 12). Es liegt nahe, die Formulierung, Daniel habe sich vor seinem Gott gedemütigt, auf das in 10,2–3 beschriebene Fasten zu beziehen. Allerdings sagt der Bote von sich auch, er sei auf Daniels Worte hin gekommen. Von Worten ist in 10,2–3 jedoch nicht die Rede, weshalb auch ein Bezug auf das Gebet Daniels in Dan 9 möglich ist. In jedem Fall scheint der Gesprächspartner Daniels eine Brückenfunktion zwischen Gott und Menschen innezuhaben. Dem entspricht, dass der Bote ein übermenschliches Wissen um zukünftige Ereignisse besitzt. Er ist einerseits in der Lage, Daniel darüber zu informieren, was seinem Volk „begegnen wird am Ende der Tage“ (V. 14), andererseits weiß er auch um künftige Ereignisse in seiner Welt (V. 20), die von Kämpfen zwischen „Fürsten“ verschiedener Völker geprägt ist. Bereits auf seinem Weg zu Daniel hat der Bote eine Auseinandersetzung mit dem „Fürsten des Königreiches Paras“ (V. 13). Dadurch wird er für 21 Tage festgehalten, was der Dauer von Daniels Fasten entspricht (vgl. 10,3). Schließlich kann er sich mit Hilfe Michaels, eines der „Ersten der Fürsten“, durchsetzen. Die Informationen über die Welt, aus der der Bote stammt, legen nahe, dass er mehr ist als eine Erscheinung, die nur innerhalb der Wahrnehmung Daniels existiert. Dafür spricht auch die Reaktion von Daniels Begleitern in V. 7: Ohne die Erscheinung sehen zu können, nehmen sie doch etwas wahr und fliehen, von großem Schrecken befallen.107 106
Vgl. MEADOWCROFT, Princes, 106, der die zunehmende Inkorporation von Daniel in das Visionsgeschehen als Beleg für die gegenseitige Durchdringung von himmlischer und irdischer Sphäre im Danielbuch ansieht. 107 Diese Einschätzung bestätigt HAAG, Kampf der Engelmächte, 246: „Die Tatsache, daß die Erscheinung des himmlischen Boten Daniel und die Männer seiner Umgebung in Angst und Schrecken versetzten (10,7–9), bringt die Infragestellung ihres Menschseins durch eine für sie unerhört fremde Wirklichkeit zum Ausdruck. Der Umstand jedoch, daß
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
2.3.3 Monolog des Boten 1 – Einleitung: Dan 10,20 – 11,2a Mit Dan 10,20 ändert der Text seinen Charakter. Während Dan 10,2–19 narrativen Prinzipien folgt und im Wechsel von erzählenden Passagen und wörtlichen Reden, die den Dialog zwischen Daniel und seinem Gesprächspartner wiedergeben, ein lebendiges Bild des Visionsempfangs am Flussufer entwirft, beginnt in Dan 10,20 ein Monolog des himmlischen Boten, der bis Dan 12,4 dauert. Erst ab Dan 12,5 wird der Text wieder narrativ und setzt den erzählerischen Faden der Anfangsszene fort. Der Monolog des Boten kann in drei Phasen unterteilt werden. Die beiden äußeren Unterabschnitte Dan 10,20 – 11,2a und Dan 12,4 schlagen eine Brücke zwischen der in Dan 10,2–19 entwickelten Gesprächssituation zwischen Daniel und dem Boten. Im Mittelteil Dan 11,2b – 12,3 konzentriert sich der Bote ganz auf den zu überbringenden Inhalt. Die Gesprächssituation tritt dabei fast ganz in den Hintergrund. Während der Bote Daniel in den Rahmenteilen mehrmals direkt in der zweiten Person (Dan 10,20.21; 11,1; 12,4) und sogar mit seinem Namen anspricht (Dan 12,4), scheint der erzählerische Kontext im Mittelteil des zweiten Hauptabschnitts nur einmal kurz auf, wenn der Bote in Dan 11,14 von den Söhnen des Zerreißens deines Volkes spricht. In der ersten Phase des Monologs leitet Daniels Gesprächspartner in 10,20 – 11,2a über zu seinem bereits in 10,14 angekündigten Auftrag, Daniel das Schicksal seines Volkes ~ymyh tyrxab – „an den letzten Tagen“108 mitzuteilen. Diese Botschaft qualifiziert er als „aufgeschrieben im Buch der Wahrheit“ (10,21) bzw. schlicht als „Wahrheit“ (11,2)109. Dieser Beginn des Monologs fungiert als fließender Übergang zwischen dem Visionsbericht Dan 10,2–19 und der Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,3. Mit dem in Dan 10,20 beginnenden Monolog wird das in Dan 10,10–19 angefangene Gespräch nahtlos fortgesetzt, wobei die dort eingeführten Themen – die Welt des Boten und seine Botschaft – wieder aufgegriffen werden. So führt V. 20 die Schilderungen des bereits in V. 13 erwähnten Kampfes zwischen den „Fürsten“ fort, wobei die Erwähnung des Fürsten von Jawan bereits auf die Protagonisten der Zukunftsansage in Dan 11,2b – 12,3 vorausweist. Die Nähe zwischen Daniels Gegenüber und Michael, die in Dan 10,10–19 ebenfalls mehrfach thematisiert wird, kommt ein weiteres lediglich Daniel die Erscheinung des himmlischen Boten erblickte, während die Männer seiner Umgebung nur die Unheimlichkeit des Vorgangs erfaßten, weist darauf hin, daß der Offenbarungsempfänger keineswegs ein bloß subjektives Erlebnis hatte; die Reaktion seiner Umgebung bezeugte vielmehr die Realität des äußeren Vorgangs der Begegnung mit dem himmlischen Boten.“ 108 Zur Diskussion um die genaue Bedeutung des Ausdrucks s.u. Kapitel IV. 2.4. 109 Zur Schwierigkeit der Gedankenführung in Dan 10,21 – 11,2a s.o. Kapitel I. 1.
2. Beschreibung des Textes
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Mal in 11,1 zum Ausdruck, wo sich der Bote als „Mitstreiter und Festung für ihn“ bezeichnet.110 2.3.4 Monolog des Boten 2 – Zukunftsansage: Dan 11,2b – 12,3 Den Einschnitt zwischen der ersten und der zweiten Phase des Monologs markiert die an Daniel gerichtete Einleitungsformel „Siehe“ in 11,2b. Unter der Prämisse, er werde Daniel „Wahrheit“ verkünden (11,2a), schildert Daniels Gesprächspartner in den folgenden Versen eine lange Kette von Machthabern, deren Taten und jeweiliges Ende. Vier Perioden, in denen je unterschiedliche Protagonisten das Geschehen dominieren, lassen sich hier abgrenzen: Dan 11,2b Dan 11,3–4 Dan 11,5–45 Dan 12,1–3
vier Könige von Paras ein einzelner, heldenhafter König Könige des Nordens und des Südens endzeitliches Gerichts- und Rettungsgeschehen
Zunächst werden in 11,2b vier Könige von Paras erwähnt, deren letzter in eine Auseinandersetzung mit dem König von Jawan gerät. Es folgt in 11,3–4 ein einzelner heldenhafter König, der keinem bestimmten Land zugeordnet wird. Seine Herrschaft wird als außergewöhnlich mächtig, aber auch als sehr kurz charakterisiert (V. 3). Der folgende Abschnitt 11,5–45 entfaltet über mehrere Generationen die Auseinandersetzungen zwischen dem König des Südens und dem König des Nordens. Zielpunkt der gesamten Vorhersage ist das Erscheinen Michaels im vierten Abschnitt (12,1–3), mit dem die Rettung von Daniels Volk einhergeht sowie ein individuelles Gericht, das über das ewige Schicksal von Einzelnen entscheidet.111 Die gesamte Darstellung wirkt durch das Fehlen von Namen schematisch und interpretationsoffen. Im Vergleich mit den Visionen der vorhergehenden Kapitel fällt die symbolische Darstellung der Könige durch Tiere bzw. Tierhörner weg. Die letzte Vision scheint in dieser Hinsicht die Vorgänge, auf die sie Bezug nimmt, weniger zu verschlüsseln als die vorhergehenden Visionen, sondern sie konkreter zu benennen. Dem entspricht, 110
Zur Bedeutung Michaels als Völkerengel Israels vgl. HAAG, Kampf der Engelmächte, 252f.; KOCH, Monotheismus und Angelologie, 223–227. 111 Der Text lässt an dieser Stelle offen, ob diese Perspektive nur für das Gottesvolk Israel gilt oder auch darüber hinaus. Vgl. jedoch COLLINS, Daniel 1993, 392: „Daniel does not envisage universal resurrection. His concern is focused on the fate of the faithful, especially the ‚wise‘, and of their perfidious counterparts in the crisis of the Hellenistic age.“ Auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 307, hält eine universelle Perspektive nicht für möglich: „Further, it’s message connects with the historical events related in its literary context in 11:21–12:3. Thus an awakening of the dead of nations other than Israel is hardly within the concern of v2 (…).“
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
dass die Ereignisse, über die Daniel unterrichtet wird, verhältnismäßig präzise und detailliert beschrieben werden.112 Die scheinbare Eindeutigkeit der Beschreibung bei gleichzeitiger Offenheit der Formulierung erzeugt eine Spannung, die irritierend wirkt. 2.3.5 Monolog des Boten 3 – Schluss: Dan 12,4 Der Schlussvers des Monologs, 12,4, wird wieder direkt an Daniel gerichtet: Der Bote beendet seinen Monolog mit der Ermahnung an Daniel, die Worte zu verschließen und das Buch zu versiegeln bis zur Zeit des Endes. Als Anrede an Daniel unterscheidet sich 12,4 deutlich von dem vorausgehenden Monolog, in dem die Gesprächssituation fast vollkommen ausgeblendet war. Durch den Wechsel des Sprechakts kommt die Ebene der Handlung wieder in den Fokus des Textes. Inhaltlich bezieht sich die Aufforderung an Daniel, die Worte zu verschließen und das Buch zu versiegeln, auf die gesamte an ihn ergangene Offenbarung und bringt sie so zu einem Abschluss. 2.3.6 Visionsbericht 2: Dan 12,5–13 Der Beginn des dritten Abschnitts in 12,5 unterbricht den fortlaufenden Bericht Daniels mit der Formulierung „und da schaute ich, Daniel, und siehe“. Der Seher tritt so wieder als Figur der Handlung in den Fokus des Lesers und erinnert daran, dass die gesamte vorangehende Offenbarung im Rahmen eines Berichts mitgeteilt wurde. Der Wechsel zurück auf die Ebene der Rahmenhandlung wird so deutlich. Der Schlussteil der Perikope 12,5–13 nimmt den Faden der Handlung von Dan 10,2–19 wieder auf. Der Anschluss an die Rahmenhandlung wird deutlich durch die Rückkehr an den Schauplatz der Vision markiert: Daniel befindet sich wieder am Strom (12,5).113 Auch das Visionsgeschehen findet seine Fortsetzung: Daniel sieht zwei weitere Männer (12,5), von denen zumindest einer wie Daniels bisheriger Gesprächspartner ebenfalls in Leinen gekleidet ist (V. 6). In zwei Frage-Antwort-Sequenzen wird nun die Frage des exakten Zeitpunkts des Endes thematisiert: Zunächst fragt eine der Erscheinungen nach dem „Ende der Wunder“. Die andere Erscheinung teilt ihm daraufhin die Bedingungen für das Ende mit: den Ablauf von dreieinhalb „Zeiten“ und das Ende „des Zerstreuens der Hand des heiligen 112
Dieser Umstand ermöglicht es, die Ereignisse, von denen in Dan 11,2–45 die Rede ist, mit den Ereignissen während der Diadochenherrschaft in Palästina, insbesondere den Syrischen Kriegen und den Ereignissen unter der Regierung von Antiochos IV. Epiphanes, in Verbindung zu setzen bzw. zu identifizieren. Zur Rolle dieser Ereignisse für die Interpretation des Danielbuches und der damit verbundenen Problematik s.u. Kapitel II. 113 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 309; COLLINS, Daniel 1993, 399.
2. Beschreibung des Textes
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Volkes“ (V. 7). Dies ist eine Antwort, die Daniel nach eigener Angabe (V. 8a) nicht versteht, was ihn zu einer eigenen Nachfrage motiviert (V. 8b). Die Entgegnung enthält jedoch keine Antwort auf die Frage mehr. Stattdessen wird auf die Anweisung an Daniel in 12,4 zurückgegriffen, die Worte zu verschließen und das Buch zu versiegeln. Dieser Vorgang, so erfährt Daniel, ist jetzt abgeschlossen, die Zeit der Offenbarung ist vorüber „bis zur Zeit des Endes“ (V. 9). Es folgt eine Vorhersage, die die Vorgänge in der Zeit zwischen Daniels Gegenwart und dem Ende nochmals zusammenfasst. Die beteiligten Gruppen werden jetzt nur noch als Weise bzw. Frevler bezeichnet (V. 10). Die nun folgenden Verse stellen insofern eine Schwierigkeit dar, als sich der Zeitpunkt, von dem aus der Text spricht, in Dan 12,11 plötzlich ändert. Dieser Vers knüpft an Dan 11,31 an, in dem die Abschaffung des täglichen Opfers und Errichtung einer „verwüstenden Abscheulichkeit“ angekündigt wird. Der Zeitpunkt dieser Ereignisse liegt nun in der zeitlichen Perspektive des Textes offenbar schon zurück: Seit dieser Zeit sind, so Dan 12,11, 1.290 Tage vergangen. Derjenige, der ausharrt, so dass er 1.335 Tage erreicht, wird in V. 12 seliggepriesen. Schließlich kehrt der Text in V. 13 wieder in die 2. Person Singular zurück und gibt dem Angesprochenen die Anweisung, auf das eigene Ende zuzugehen; er werde „ruhen und aufstehen“ zu seinem Los „am Ende der Tage“ (V. 13). Für die Interpretation der letzten drei Verse ergeben sich m.E. zwei Möglichkeiten: Entweder versteht man V. 11–12 als Glosse, die im Laufe der Textentwicklung zufällig in den Text geraten ist und den Text mehr oder weniger willkürlich an dieser Stelle unterbricht. V. 11–12 spiegeln dann die Rezeption des Danieltextes zu einem bestimmten Zeitpunkt, der in den Zeitangaben verschlüsselt übermittelt wird. In V. 13 wird der ursprüngliche Textverlauf fortgesetzt, so dass sich die in der 2. Person Singular formulierten Worte an Daniel richten. Alternativ könnten die Verse Dan 12,11–13 auch als Epilog verstanden werden, der sich direkt an Leserin oder Leser des Danielbuches richtet. Das Ende der an Daniel gerichteten Worte wäre dann bereits in V. 10 erreicht. Der Schluss der Perikope steht im Gegensatz zu ihrem überbetonten Anfang. Die Szene wird nicht geschlossen, weder durch Daniel noch durch den Er-Erzähler aus Dan 10,1. Vielmehr bricht die Szene in V. 13 mitten im Gespräch des himmlischen Boten mit Daniel einfach ab. Über das Ende des Offenbarungsgeschehens oder das weitere Geschick Daniels erfährt der Leser nichts. Der strukturellen Asymmetrie entspricht somit ein offener Ausgang auf der Inhaltsebene.
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
3. Im Fokus: Dan 11,2b – 12,3 3. Im Fokus: Dan 11,2b – 12,3
Bereits anhand der Gliederung wird deutlich, dass die Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,3 im Zentrum der Schlussvision des Danielbuches steht. Zentrum meint dabei aber nicht nur die Position im Text. Zentral ist die Zukunftsansage auch in inhaltlicher Hinsicht. Sie ist das Kernstück der gesamten Schlussvision, auf das die Handlungsschritte in den vorderen Rahmenteilen zulaufen und auf das sich die Rückfragen im hinteren Rahmen beziehen. Die Gestaltung des gesamten Textes durch Leitworte und Stichwortverbindungen zwischen Rahmen und Zentrum hebt Dan 11,2b – 12,3 zusätzlich als inhaltliches Herzstück der gesamten Perikope hervor. Die Einleitung 10,1 kündigt die Offenbarung an Daniel an und qualifiziert diese als tma – „Wahrheit“. Daniels Reaktion auf die Offenbarung wird als !yb – „verstehen“ bzw. hnyb – „Verständnis“ charakterisiert. Die Stichworte „Wahrheit“ und „Verstehen/Verständnis“114 rücken die kognitiven Aspekte des Visionsgeschehens in den Vordergrund. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird somit bereits im ersten Vers der Perikope auf die Inhalte, die Daniel mitgeteilt werden, gelenkt. Diese werden mit Spannung erwartet. Die detaillierte Schilderung des sinnlich wahrnehmbaren Visionsgeschehens (10,4–9) wirkt demgegenüber einerseits retardierend, wodurch die Spannung weiter gesteigert wird. Andererseits übernehmen die farbenfrohen Ausführungen des dramatischen Geschehens die Funktion eines Vorhangs: Eine Mitteilung, die sich so ankündigt, muss von ganz besonderer Qualität sein. Die Hinführung zu dieser Mitteilung erfolgt in zwei weiteren Schritten. Zunächst erklärt Daniels Gesprächspartner in seiner ersten, an Daniel gerichteten Redeeinheit (10,11–14) den Zweck seines Kommens, der zugleich der Sinn der dramatischen Erlebnisse Daniels im Verlauf der Vision ist: Daniel soll durch die folgende Mitteilung die Worte, die der Bote zu ihm spricht, verstehen (10,11). Die Erwartung einer Offenbarung auf kognitiver Ebene wird durch die Wiederaufnahme des Stichworts „verstehen“ in 10,11 verstärkt, umso mehr, als dieses Stichwort in den folgenden Versen wiederholt wird: Das Kommen des Boten ist Reaktion auf die Bestrebungen Daniels, der „seinen Sinn“ darauf ausgerichtet hat „zu verstehen“ (10,12). In 10,14 wird erstmals der Inhalt der angekündigten Mitteilung genauer bestimmt: Der Bote ist gekommen, um Daniel „verstehen zu lassen, was begegnen wird deinem Volk am Ende der Tage, denn die Reichweite der Vision ist bis zu diesen Tagen“.
114 Zum Leitwortcharakter der Wurzeln !yb und [dy in Dan 10 – 12 s.u. Kapitel III. 6 und IV. 2.3.
3. Im Fokus: Dan 11,2b – 12,3
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Der Beginn der eigentlichen Mitteilung verzögert sich ein weiteres Mal. Während der Bote den angesichts der überwältigenden Vision völlig geschwächten Daniel stärkt und dadurch auch körperlich für den Offenbarungsempfang vorbereitet (10,15–19), steigt die Spannung für den Leser, der auf die inzwischen mehrfach angekündigte Mitteilung wartet. Erst in 10,20 – 11,2a erfolgt der letzte Schritt der Hinführung, der zugleich die direkte Einleitung der Mitteilung Dan 11,2b – 12,3 ist. Mit der Frage „Hast du erkannt, wozu ich zu dir gekommen bin?“ (10,20) knüpft der Bote an 10,14 an, wie um sicherzustellen, dass Daniel den Zweck der Offenbarung tatsächlich begriffen hat und im Folgenden aufmerksam zuhört. Das Stichwort „verstehen“ wird hier in der Variation „erkennen“ ([dy) aufgegriffen. Wie bereits durch den Er-Erzähler in 10,1 wird die folgende Mitteilung als „Wahrheit“ (tma) qualifiziert. Verflochten mit Informationen über Ereignisse in seiner Welt, kündigt der Bote an, dass er „berichten“ werde, „was aufgeschrieben ist im Buch der Wahrheit115“ (10,21), bzw. dass er Wahrheit berichten werde (11,2a). Die Ankündigung der Offenbarung zieht sich also durch das gesamte Kapitel 10 einschließlich 11,2a, angefangen mit 10,1 über 10,11–14 und schließlich 10,20 – 11,2a. Parallel zur Vorbereitung des Sehers Daniel auf den Offenbarungsempfang entwickelt sich die gespannte Erwartung des Lesers und erreicht mit der abschließenden Bemerkung „Und nun will ich dir Wahrheit berichten“ in 11,2a ihren Höhepunkt. Beide, Daniel und der Leser des Danielbuches, sind nun bereit, die Botschaft zu erfahren. Während das Gefälle der beiden vorderen Rahmenteile Dan 10,2–19; 10,20 – 11,2a steil auf die Mitteilung des Boten in 11,2b – 12,3 zuläuft, wird in den hinteren Rahmenteilen konsequent auf diese Mitteilung zurückverwiesen. Dies geschieht formal durch präzisierende Rückfragen, die sich auf die Offenbarung beziehen. In inhaltlicher Hinsicht kreisen die Fragen um das „Ende“, d.h. das zentrale Thema, unter dem die gesamte Offenbarung seit der Ankündigung des Boten an Daniel in 10,14 steht. Eine der ab 12,5 anwesenden himmlischen Figuren stellt zunächst in 12,6 die Frage: „Bis wann das Ende des Außergewöhnlichen?“. Der Terminus twalph – „Wunder, außergewöhnliches Geschehen“ bezieht sich hier offenbar auf die gesamte Mitteilung 11,2b – 12,3, da die Antwort den Zeitpunkt und die Bedingung benennt, zu denen „all dieses“ beendet werde. Gleichzeitig wird mit diesem markanten Begriff das Verhalten des letzten Königs in Erinnerung gerufen, das in 11,36 (vgl. auch 8,24) mit dem Attribut twalpn – „Unerhörtes“ belegt wird, was somit pars pro toto die gesamte Offenbarung charakterisiert. Auch der Terminus #q – „Ende“ verstärkt die Verbindung zur Mitteilung des Boten auf der Ebene des Wortschatzes. Be115
Zu den biblischen und altorientalischen Bezügen s.u. Kapitel IV. 2.3.
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
dingt durch das Thema der Offenbarung, die Ereignisse „an den letzten Tagen“ (10,14), begegnet das Wortfeld „Ende“ in 11,2b – 12,3 besonders häufig. Neben tbv „beenden“ (11,18) und hlk „vollenden, zu Ende sein“ (11,36) ist #q am stärksten vertreten, wobei sich nicht alle Belege auf das Ende der Tage beziehen (wie in 11,27.35.40), sondern auch das Ende bestimmter Zeitabschnitte bezeichnen (11,6.13.45). Die zweite Rückfrage, die der ersten stark ähnelt, stellt Daniel in 12,8: „Mein Herr, was ist das Letzte von diesem?“. Auch hier bezieht sich das Pronomen hla wieder auf die gesamte Mitteilung, während der Begriff tyrxa – „das Letzte“ nun wortwörtlich die Überschrift der Offenbarung aus 10,14 aufgreift. Die Antwort bringt keine neuen Informationen mehr, sondern wiederholt bereits Mitgeteiltes, wobei der Wortlaut aus Dan 11,2b – 12,3 und Dan 12,4 teilweise übernommen wird. Die Begründung „denn verschlossen und versiegelt sind die Worte“ in 12,9 nimmt wortwörtlich die Formulierung auf, mit der in 12,4 die Offenbarung an Daniel abgeschlossen wird. Auch die in 12,10 folgende Aussage über das Schicksal der Weisen übernimmt die entsprechende Formulierung aus 11,35, wobei sich lediglich die Reihenfolge der Verben und der Verbstamm ändern.116 Die Frevler als Gegenspieler der Gruppe der Weisen begegnen ebenfalls bereits in 11,32. Die beiden Zeitangaben in 12,11–12 orientieren sich an dem Zeitpunkt, zu dem das tägliche Opfer entfernt und der „verwüstende Abscheu“ eingerichtet wurde, und nehmen damit Bezug auf das in 11,31 angedeutete Ereignis. Auch die Aufforderung an Daniel, zu seinem Los am Ende der Tage aufzustehen, mit der die Perikope in 12,13 schließt, erinnert an das in 12,2 angekündigte Erwachen der „Schlafenden der Erde des Staubes“. Die Rückfragen zu den im Mittelteil geoffenbarten Informationen und deren Wiederholung in den Antworten prägen den hinteren Rahmen Dan 12,5–13. Beide Rahmenteile weisen also auf den Mittelteil hin und betonen ihn als Herzstück der Perikope. Auch in der exegetischen Auseinandersetzung mit Dan 10 – 12 steht die Zukunftsansage deutlich im Mittelpunkt. Dabei beschäftigen sich die Auslegerinnen und Ausleger in der überwiegenden Mehrzahl mit den historischen Bezugspunkten, die hinter dem oft nur andeutend und dunkel formulierenden Text zu erkennen sind. Die historische Hermeneutik, mit der die Schlussvision und der gesamte Visionsteil Dan 7 – 12 betrachtet wird, wird ausgehend von Dan 11,2b – 12,3 konstituiert.117 Die historischen Bezugs116
Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 477. Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 275: „Although the apocalypse in ch. 7 is the core of the Book of Daniel, chs. 10–12, which form a single and final apocalypse, are by far the most important for historical information.“ Einen alternativen Ansatz deutet 117
3. Im Fokus: Dan 11,2b – 12,3
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punkte des Textes legen seine Entstehung im Zeitraum von 167 bis 164 v.Chr. nahe.118 Der Text verweist damit in eine Phase in der Regierungszeit des Seleukiden Antiochos IV. Epiphanes, die einerseits mit heftigen Auseinandersetzungen um das Amt des Jerusalemer Hohepriesters, andererseits mit Eingriffen in den Jerusalemer Tempelkult seitens der seleukidischen Oberherrschaft verbunden war. Das historische Setting der Schlussvision fällt mit dem Vorabend der makkabäischen Revolte zusammen. Auf der Basis dieser Erkenntnisse werden die Visionsschilderungen Dan 7, Dan 8 und Dan 9 sowie die sogenannten Hofgeschichten Dan 1 – 6 mit der Schlussvision in eine entstehungsgeschichtliche Beziehung gesetzt. Dan 10 – 12 gilt demnach als jüngster Teil des Danielbuches.119 Die historische Lesart von Dan 11,2b – 12,3 bestimmt also nicht nur die Verortung der Schlussvision im Buchkontext, sondern schlägt sich auch in einer vielfach von historischen Fragen dominierten Auslegung des Visionsteils Dan 7 – 12120 bzw. des gesamten Danielbuches nieder121. Die Suche nach einem alternativen, literarischen Zugang muss daher bei diesem Kernstück von Dan 10 – 12 ansetzen. Ein solcher Zugang hätte auch Auswirkungen auf die Einordnung der Perikope im Buchkontext. Er ermöglicht, die Schlussvision weniger als jüngsten Teil, sondern vielmehr als Schluss des Buches zu betrachten, der bestimmte Sinnlinien bündelt und zu einer abschließenden Deutung führt. Die Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,3 steht daher im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Die Studie wendet sich zunächst der Auslegungsgeschichte dieses Textabschnitts zu, um die theologischen und hermeneutischen Implikationen der heute vorherrschenden historischen Lesart des Textes zu verdeutlichen (Kapitel II. 1.). In einem nächsten Schritt erfolgt ein Überblick über die historischen Bezugspunkte (Kapitel II. 2.). Dieser wird in einem dritten Schritt kritisch ausgewertet (Kapitel II. 3.). Die dabei GOLDINGAY, Daniel 1989, 284f.288, an, der auf die zahlreichen innerbiblischen Bezüge und die sprachlichen Muster des Textes eingeht. Siehe dazu ausführlicher Kapitel II. 4. 118 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 276; COLLINS, Daniel 1993, 402f.; KRATZ, Visionen, 228f. 119 Vgl. LEBRAM, Buch Daniel, 110: „Die große Offenbarung am Ende des Buches (…) dient als Schlüssel, der das Verständnis jener Zeit eröffnet, in der das Danielbuch abgeschlossen wurde, und die Verheißung begreifen lehrt, die am Ende der Zeiten erfüllt wird.“ Vgl. auch KRATZ, Visionen, 229, der die Visionen des Danielbuches als Midrasch zu den Erzählungen betrachtet: „Das Ganze ist ein Musterbeispiel für die innerbiblische Exegese, die sich immer aus zwei Quellen speist: dem unmittelbaren literarischen Kontext und anderen autoritativen Schriften des nachmaligen Kanons. Den Anlaß geben meist die historischen Umstände.“ 120 So beispielhaft durchgeführt von KRATZ, Visionen. Vgl. auch PACE, Daniel, 307. 121 Vgl. KRATZ, Visionen, 228.
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Kapitel I: Daniel 10 – 12 als Schluss des Danielbuches
zu Tage tretenden Aporien fungieren als Agenda für eine alternative Lesart des Textes, die im weiteren Verlauf der Arbeit entwickelt und sowohl im unmittelbaren Kontext der Perikope als auch im Kontext des Danielbuches ausgewertet werden soll.
Kapitel II
Die historische Lesart von Dan 11 Die Konzentration auf die historischen Bezugspunkte der Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,31 ist kein Phänomen der modernen, historisch-kritischen Danielexegese. Bereits die antiken Auslegungen dieses Textes beschäftigen sich intensiv mit seinen historischen Anspielungen. Während die Zukunftsansage jedoch im vorkritischen Auslegungsparadigma als unmittelbares Zeugnis prophetischer Erfahrung gilt, dessen Authentizität durch den Bezug auf bereits eingetretene Ereignisse noch bestätigt wird, erweist sich diese Auffassung von Prophetie unter den Maßgaben historisch-kritischer Bibelexegese als nicht mehr haltbar. Dennoch bleibt die Fokussierung der Auslegung auf die Ereignisse hinter dem Text bestehen, nun freilich, um die Funktionsweise des Textes als „vaticinium ex eventu“2 in seiner Entstehungssituation herauszustellen. Die theologische Qualität von Daniels Vision liegt somit nicht mehr in ihrer Zuverlässigkeit als prophetische Zukunftsansage. Sie ergibt sich vielmehr aus der pastoralen Funktion für die Erstadressaten des Textes, die unter Religionsverfolgung, Entweihung des Tempels und Spaltungen im Gottesvolk Israel leiden. Die Danielvisionen und insbesondere Dan 10 – 12 bieten in diesem Sinn Trost in der Bedrängnis.3 Im folgenden Abschnitt (1.) wird die Auslegungsgeschichte von Dan 11 in ihren Grundlinien nachgezeichnet. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle der historischen Bezugspunkte. Dabei werden vor allem die unterschiedlichen hermeneutischen Voraussetzungen im Umgang mit den historischen Bezügen des Textes sowie die damit verbundenen theologischen Implikationen erläutert.
1
Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, bezieht sich die Angabe „Dan 11“ im Folgenden immer auf den gesamten Abschnitt Dan 11,2b – 12,3. 2 Unter vaticinium ex eventu versteht man die Darstellung bereits vergangener Ereignisse in Gestalt einer Vorhersage. Siehe ausführlich unten Kapitel II. 1.2. 3 Vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 324f.; HENGEL, Judentum und Hellenismus, 354; COLLINS, Daniel 1993, 402–404.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu 1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
Die Spur der christlichen Danielauslegung reicht bis in das Neue Testament. Doch auch in der christlichen Kommentarliteratur zu den biblischen Büchern begegnet das Danielbuch bereits sehr früh. Der älteste bekannte Kommentar, der des Hippolyt von Rom, stammt aus dem 3. Jahrhundert n.Chr. Das Danielbuch gilt für diese Auslegungen, dem narrativen Setting des Buches entsprechend, als Zeugnis eines Sehers des 6. Jahrhunderts v.Chr. Die historischen Bezugspunkte spielen dabei im Rahmen einer prophetischen Hermeneutik grundsätzlich eine wichtige Rolle. Sie gelten als Beleg für die Authentizität und Wahrheit der Zukunftsansage. In der Art und Weise, wie die prophetische Qualität des Textes an seinen historischen Bezugspunkten festgemacht wird, unterscheiden sich aber die einzelnen Ausleger. Die wichtigsten Modelle im „prophetischen“ Paradigma der Auslegung von Dan 10 – 12 sollen im Folgenden anhand einiger exemplarischer Kommentare vorgestellt und erläutert werden. Dabei kommen neben patristischen Werken auch die Ansätze der frühen Neuzeit bis an die Grenze zur historisch-kritischen Wende in den Blick. 1.1 Daniel als Prophet des 6. Jahrhunderts v.Chr. Im Verständnis einer vorkritischen Zugangsweise4 stammt das gesamte Danielbuch von dem Seher und Propheten der babylonischen (Dan 1 – 5; 7 – 8) bzw. medischen5 (Dan 6; 9) und persischen Zeit (Dan 10 – 12), wie er von den Erzählungen Dan 1 – 6 und den Rahmenteilen der Visionen Dan 7 – 12 dargestellt wird. Die Hofgeschichten Dan 1 – 6 besitzen in diesem Paradigma autobiographischen Charakter. In ihnen berichtet der exilierte Judäer Daniel von seinen Erlebnissen am Hof des babylonischen Königs Nebukadnezzar und seiner Nachfolger. Demnach rekurrieren die Visionsberichte in Dan 7 – 12 auf Offenbarungserlebnisse, die Daniel im Exil zuteilwurden. Da diese Visionen, wie auch der Traum Nebukadnezzars in Dan 2, sämtlich in der Gegenwart Daniels ansetzen und von da aus in die Zukunft blicken, werden sie als Vorhersagen einer für den Seher weit entfernten Zukunft verstanden. 4
Die im folgenden dargelegten Grundannahmen gelten für die Danielrezeption von der Antike bis zum Durchbruch der historisch-kritischen Exegese im 18. und 19. Jahrhundert. Eine Ausnahme stellt der antike Autor Porphyrios dar, der Daniel als pseudepigraphe Schrift der Makkabäerzeit versteht. Zu Porphyrios s.u. Kapitel II. 1.1.3. 5 Zur Problematik des medischen Reiches im Vier-Reiche-Schema des Danielbuches vgl. KOCH, Dareios, 130–137.
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
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In diesem Sinne handelt es sich im vorkritischen Paradigma auch bei der Offenbarung Dan 11,2b – 12,3 um authentische Prophetie. Der visionäre Rahmen Dan 10,1 – 11,1; 12,4–13 datiert Daniels letztes Offenbarungserlebnis in die Regierungszeit des persischen Königs Kyros. Ausgehend von Daniels Gegenwart, der Zeit der persischen Könige (Dan 11,2b), werden dem Visionär im weiteren Verlauf der Offenbarung zukünftige Ereignisse mitgeteilt. Die Reihe der Ereignisse läuft auf das „Ende“ zu (Dan 11,40), eine Zeit der Not und des Gerichts, die die endgültige Rettung von Daniels Volk mit sich bringt (vgl. Dan 12,1–3). Aufgrund der vielfachen intertextuellen Bezüge innerhalb des Danielbuches ist die Interpretation von Dan 10 – 12 dabei eng mit der Rezeption der übrigen Visionskapitel sowie von Dan 2 verbunden.6 Nebukadnezzars Traum in Dan 2 und Daniels Visionen in Dan 7 – 12 ist gemeinsam, dass die hier geschilderten Ereignisse jeweils auf ein Ende zulaufen. Während in Dan 8 und 9 das Ende als zeitliche Begrenzung der beschriebenen Notzeit im Vordergrund steht, wird das Ende in Dan 7 und 12 – in jeweils unterschiedlicher Ausprägung – als universales eschatologisches Gerichtsgeschehen dargestellt. Die Visionskapitel beinhalten in einem vorkritischen Verständnis folglich nicht einfach nur Ereignisse einer aus der Perspektive des Sehers fernen Zukunft, sondern vielmehr die Geschehnisse, die dem Ende der Welt unmittelbar vorausgehen. 1.1.1 Voraussetzungen einer christlichen Lesart der Danielvisionen Die eschatologische Hermeneutik, mit der die Danielvisionen gelesen werden, hängt vom geltenden Kanon eschatologischer Vorstellungen der jeweiligen Rezeptionsgemeinschaft ab. Versteht man diese Texte als echte und zutreffende Prophetie über die Endzeit der Welt, so muss ihre Auslegung mit der Eschatologie der Lesegemeinschaft bzw. des jeweiligen Auslegers in Einklang gebracht werden. Die christliche Rezeption7 der Danielvisionen ist in dieser Hinsicht insbesondere von zwei Vorgaben abhängig: Zum einen erfolgt die Auslegung unter dem Vorzeichen einer Eschatologie, die sich an den eschatologischen Vorstellungen des Neuen Testaments orientiert. Auch wenn sich diese zu einem beträchtlichen Teil aus den Visionen des Danielbuches speisen, so behält doch die neutestamentliche Rezeption von Daniel im Rahmen einer explizit christologisch orientierten Endzeiterwartung die Deutungshoheit 6 Zur Rezeptionsgeschichte des Danielbuches im Allgemeinen vgl. COLLINS, Daniel 1993, 72–123; BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung; zur Rezeption von Dan 11 vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 468–470. 7 Zur jüdischen Rezeption von Daniel vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 78–87; COLLINS, Daniel 1993, 72–89.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
über die Danieltexte. Zum anderen wirkt sich auf die Interpretation der Visionen maßgeblich aus, ob der jeweilige Ausleger seine eigene Gegenwart als Endzeit betrachtet oder nicht. Dementsprechend wird eine mehr oder weniger aktualisierende Lesart der Danieltexte notwendig, die die in Daniel angekündigten Ereignisse als Ereignisse der eigenen Gegenwart identifiziert.8 Neben der Figur des Menschensohns in Dan 7, der als wiederkehrender Christus verstanden wird, ist im Zusammenhang der christlichen Endzeiterwartung vor allem dessen eschatologischer Gegenspieler, der „Antichrist“, als Deutungsfigur der Danielvisionen von Belang. Ein als „Antichrist“ bezeichneter, endzeitlicher Gegenspieler Christi, dessen Auftreten die unmittelbar bevorstehende Parusie ankündigt, begegnet im Neuen Testament nur an vier Stellen in den johanneischen Briefen9. Die Idee eines endzeitlichen Gegners spielt jedoch noch an weiteren Stellen im Neuen Testament eine Rolle. Entscheidend für die Auslegung der Danielvisionen ist vor allem die Darstellung des Gegenspielers Christi in der Offenbarung des Johannes. Dieser wird in Offb 13 deutlich als Gegenentwurf zu Christus gezeichnet, ohne allerdings den Begriff „Antichrist“ zu verwenden. Die Schilderung dieses „Gegenchristus“ als Tier aus dem Meer macht dabei erkennbare Anleihen bei der Darstellung des vierten Tiers und des kleinen Horns in Dan 7 sowie bei den entsprechenden Parallelstellen in Dan 8.10 Die christliche Auslegungspraxis sieht deshalb in den Visionsschilderungen des Danielbuches die Ankündigung eben jenes „Antichrists“, wobei sie die Schilderung der Johannesoffenbarung mit der Bezeichnung des Gegenspielers in den johanneischen Briefen verbindet. Auch für die Auslegung von Dan 10 – 12 spielt die Figur des „Antichrist“ eine entscheidende Rolle. Die zahlreichen Parallelen11 zwischen der 8 KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 111–118, zeigt, dass insbesondere die Interpretation des Vier-Reiche-Schemas in Dan 2 für die Frage von Belang ist, ob die jeweilige Gegenwart als Endzeit zu verstehen sei. Die Verknüpfung mit Antichrist-Spekulationen ist aufgrund der Parallelen zwischen Dan 2 und Dan 7, wo ja ebenfalls von vier Reichen die Rede ist, möglich. 9 1 Joh 2,18.22; 4,3; 2 Joh 7. 10 Vgl. die Herkunft des Tieres aus dem Meer sowie die Anzahl seiner Hörner in Offb 13,1 mit Dan 7,3–7, seine Gotteslästerung in Offb 13,5 mit Dan 7,8.11.20. „The same motif appears in Dan 8:10–14. The elaboration of the motif in Rev 13:6 can be explained as a paraphrasing summary of Dan 8:10–14; compare 8:25“; YARBRO COLLINS, The Influence of Daniel on the New Testament, 108. Auch das Motiv des Kriegs gegen die Heiligen in Offb 13,7 geht zurück auf Dan 7,21. 11 Zwischen den einzelnen Visionen spannt sich ein ganzes Netz von Bezügen. Die offensichtlichste Parallele ist das Motiv des „kleinen Horns“ in Dan 7,8 und Dan 8,9. In beiden Visionen erhebt sich das kleine Horn über Gott bzw. lästert ihn (Dan 7,8.25; 8,25). Ferner wird dem kleinen Horn jeweils nachgesagt, dass es eine Gruppe, die in besonderer
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Schlussvision des Danielbuches und den vorhergehenden Visionen legen die Verwendung dieses Deutungsmusters nahe. Hinzu kommen direkte Zitate aus Dan 11 in eschatologischen Texten des Neuen Testaments. So greift Jesus in der synoptischen Endzeitrede Mt 24,15–1612 die Ankündigung eines „Gräuel der Verwüstung“13 in Dan 11,31 auf: „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, an heiliger Stätte stehen seht – wer es liest, der merke auf! –, dann sollen die in Judäa auf die Berge fliehen”.14 Im Kontext dieser Endzeitrede ist auch vom Auftreten falscher Christusse die Rede (Mt 24,24), ein Motiv, das wiederum in den Antichrist-Texten der johanneischen Briefe aufgegriffen wird. Das so entstehende Geflecht von Texten verstärkt die Tendenz, Dan 11 als Beschreibung der Ereignisse der Endzeit und insbesondere des Antichrists zu lesen: Der in Dan 11,31 und Mt 24,15 erwähnte „Gräuel der Verwüstung“ wird ihm zugeschrieben. Auch die Schilderung der Wiederkunft Christi in 2 Thess 2 nimmt direkten Bezug auf Dan 11, wiederum in Verbindung mit einem eschatologischen Gegenspieler Christi. Der Tag seiner Wiederkunft komme nicht, bevor „der Mensch der Gesetzlosigkeit“ geoffenbart worden sei, „der Sohn des Verderbens; der sich widersetzt und sich überhebt über alles, was Gott heißt oder Gegenstand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich ausweist, dass er Gott sei“ (2 Thess 2,3–4). Das Motiv Nähe zu Gott steht, verfolgt; vgl. Dan 7,21: „Ich schaute, und jenes Horn führte Krieg mit den Heiligen und übermannte sie“; Dan 8,24: „Und erstarken wird seine Macht, aber nicht durch eigene Macht, und ungeheuer wird er verderben, und Glück haben in seinem Beginnen, und wird verderben zahlreiche und das Volk der Heiligen“ (Übersetzung: Zunz). Charakterzüge des kleinen Horns finden sich auch in den Darstellungen des letzten Herrschers in Dan 9 und Dan 11 wieder. Am auffälligsten ist hier die in Dan 9,27; 11,31 erwähnte Aufstellung eines „entsetzlichen Greuels“ (Zunz), die mit dem Eingriff in „Zeiten und Gesetz“ in Dan 7,25 und der Abschaffung des täglichen Opfers in Dan 8,11 korrespondiert: Immer geht es um Eingriffe in die Ausübung des Kultes. Ähnlich wie das kleine Horn tritt auch der letzte Herrscher in Dan 11,33–35 als Verfolger in Erscheinung. Auch er erhebt sich über Gott und Götter (Dan 11,36). Zu den Querverbindungen zwischen den Visionen des Danielbuches vgl. KRATZ, Visionen, 227–244. 12 In der Parallelstelle Mk 13,14 fehlt der explizite Bezug auf Daniel, während Lk 21,20 statt vom „entsetzlichen Greuel“ von der Belagerung Jerusalems durch ein Heer spricht. 13 Der Ausdruck „Gräuel der Verwüstung“ gibt die griechische Formulierung bde,lugma th/j evrhmw,sewj wieder, welche die griechische Übersetzung von ~mwvm #wqv in der Septuaginta übernimmt; vgl. KOCH – RÖSEL, Polyglottensynopse, 294f. 14 Zitiert nach Elberfelder Bibel. Alle biblischen Zitate in deutscher Sprache mit Ausnahme der Zitate aus dem Danielbuch und aus deuterokanonischen Schriften sind im Folgenden der Elberfelder Bibel entnommen. Zitate aus dem Danielbuch folgen der Übersetzung von Leopold Zunz, Zitate aus Dan 10 – 12 meiner eigenen Übersetzung. Zitate aus deuterokanonischen Schriften folgen der Einheitsübersetzung.
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der Erhebung über Gott und alle Götter wird hier aus Dan 11,36 übernommen und ebenfalls dem endzeitlichen Gegenspieler Christi zugerechnet. Obwohl Dan 11,31 in Mt 24 und Dan 11,36 in 2 Thess 2 als Ankündigungen noch ausstehender Ereignisse der Endzeit aufgegriffen werden, entziehen sich die Visionen des Danielbuches aber einer vollständigen Eschatologisierung. Die Texte können nicht insgesamt als Ankündigung der noch ausstehenden Endzeit gelesen werden, weil sie zum Teil selbst explizite Hinweise auf ihre historischen Bezugspunkte enthalten. Zwar bietet die Vision Dan 7 aufgrund der dort verwendeten mythologischen Bildwelt eine große Deutungsoffenheit. Die Deutung der Vision in Dan 8 weist jedoch die beiden Tiere eindeutig den Medern und Persern sowie dem König von Jawan, also Griechenland, zu. Auch in Dan 11 beginnt die chronikartige Darstellung mit den Königen Persiens und einem König von Jawan. Auf diese Weise wird zumindest für den Beginn der angekündigten Ereignisse ein bestimmtes Zeitfenster festgelegt. Dieses Zeitfenster liegt aber für die christlichen – wie auch die jüdischen – vorkritischen Interpreten der Danielvisionen bereits in der Vergangenheit. Erschwerend kommt hinzu, dass es aufgrund der zahlreichen Bezüge zwischen den Visionen Dan 7; 8; 9 und 10 – 12 nicht möglich ist, zwei völlig unterschiedliche Deutungen für Dan 7 einerseits und Dan 8; 9; 10 – 12 andererseits zu vertreten. Repräsentiert das kleine Horn in Dan 7 den Antichrist, so muss diese Figur auch bei der Interpretation der historisch deutlicher festgelegten Parallelstellen in Dan 8; 9; 10 – 12 eine Rolle spielen. Die christliche Auslegung der Danielvisionen steht folglich vor der Herausforderung, zwei im Grunde genommen widersprüchliche Lesarten in einer Textdeutung integrieren zu müssen. Einerseits weisen diese Visionen in die Zukunft: Sie kündigen die Endzeit, das Kommen des Antichrists und die Wiederkehr Christi an. Andererseits aber dokumentieren sie die Ankündigungen eines exilischen Sehers, der in eine Zukunft blickt, die in der Perspektive der christlichen Leserinnen und Leser bereits Vergangenheit ist. 1.1.2 Differenzierende Interpretation Der erste uns bekannte Danielkommentar, verfasst von Hippolyt von Rom (um 170 – 235)15 während der Christenverfolgung unter Septimius Severus zu Beginn des 3. Jahrhunderts16, löst dieses Problem durch eine differenzierende Interpretation. Das bedeutet, dass bei der Interpretation der Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,3 unterschieden wird zwischen Aussagen, die
15 16
Vgl. FRANK, Geschichte der Alten Kirche, 194. Vgl. SHELTON, Martyrdom, 40–43.
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sich auf bereits eingetretene Ereignisse beziehen, und Aussagen, die auf Ereignisse der Zukunft verweisen. Hippolyt verwendet dabei unterschiedliche Techniken, um im Text sowohl Hinweise auf bereits eingetretene als auch auf noch ausstehende Ereignisse der Endzeit zu finden. Zum einen weist er den einzelnen, im Text beschriebenen Vorgängen entweder einen vergangenen oder einen in der Zukunft liegenden Bezugspunkt zu. Allerdings geht er dabei nicht am Text entlang; vielmehr wechseln nach seiner Auslegung bereits eingetretene und noch ausstehende Ereignisse im Verlauf des Textes ständig ab.17 Zum anderen weist er manchen Textstellen eine doppelte Bedeutung zu, so z.B. im Falle des in Dan 11,31 angekündigten „Gräuels der Verwüstung“: „Zwei Greuel nun Daniel vorhergesagt: des Verderbens, den anderen aber der Verwüstung. Was ist der des Verderbens anderes, als welchen in jener Zeit (Jahren) Antiochus aufstellte? Der andere aber, der der Verwüstung, der Antichrist.“18
Insbesondere die in Dan 11,36–45 geschilderten Ereignisse betrachtet er aber als Ankündigung der Endzeit, die noch aussteht, und identifiziert den Protagonisten ausschließlich als den Antichrist.19 Er geht somit von einem Herrscherwechsel aus, den der Text jedoch nicht nahelegt. Vielmehr bleibt der in 11,21 auftretende König des Nordens bis einschließlich 11,45 Protagonist der Darstellung. In seine Textauslegung bezieht Hippolyt auch die Verfolgungserfahrungen seiner eigenen Gegenwart mit ein. Er interpretiert Daniels Ankündigungen allerdings nicht aktualisierend, sondern versteht die Erfahrungen der Gegenwart als „Vorgeschmack“ der künftigen, von Daniel vorhergesagten Anfechtungen: „Man muss nun die dann kommende Bedrängnis der Heiligen und das Elend anschauen – denn wir müssen ausgehend vom bereits teilweise Geschehenen das Zukünftige bedenken.“20
17 So identifiziert Hippolyt Ereignisse teils im Rahmen der Syrischen Kriege, teils im Rahmen der makkabäischen Revolte, ohne der Chronologie der Ereignisse zu folgen. Vgl. HIPPOLYT, In Danielem IV, 45–47. 18 HIPPOLYT, In Danielem IV, 53, zitiert nach BONWETSCH – RICHARD, Kommentar zu Daniel, 319. 19 Vgl. HIPPOLYT, In Danielem IV, 48–55. 20 HIPPOLYT, In Danielem IV, 51; Übersetzung: R.W. Vgl. aber die Übersetzung von BONWETSCH – RICHARD, Kommentar zu Daniel, 315: „Man muß nun sehen die Trübsal der Heiligen, welche dann sein wird, und das Elend – denn wir müssen sehen das Zukünftige (…)“. Diese Übersetzung gibt den griechischen Text jedoch nur unzureichend wieder und unterschlägt v.a., dass Hippolyt die kommenden Ereignisse als bereits teilweise eingetroffen betrachtet. Vgl. auch die Übersetzung von LEFÈVRE, Commentaire sur Daniel, 218: „Contemplons donc maintenant les tribulations et les misères futures des saints – car ce qui est déjà arrivé en partie doit nous donner une idée de ce qui arrivera.“
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Damit sind die Weichen für die folgenden Auslegungen von Dan 11 gestellt: Die Techniken der Differenzierung zwischen bereits eingetretenen und noch ausstehenden Referenzereignissen sowie der Zuweisung einer doppelten Bedeutung – sei es durch Zuweisung eines zweifachen Sinnes, sei es durch Annahme einer teilweisen, aber noch nicht vollständigen Erfüllung – prägen die christlichen Auslegungen während der nächsten anderthalb Jahrtausende Daniellektüre bis zum Vorabend der historisch-kritischen Exegese. 1.1.3 Duale Interpretation Ein Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Danielbuches ist der Kommentar des Kirchenvaters Hieronymus (347 – 419/420 n.Chr.)21. Dieser wohl im Jahr 407 verfasste Kommentar22 besitzt insbesondere für die Interpretation von Dan 11 große Bedeutung. Hieronymus setzt sich darin mit dem ca. hundert Jahre älteren Werk „Kata Christianōn“ – „Gegen die Christen“ des neuplatonischen Philosophen und Plotinschülers Porphyrios (ca. 234 – 305/310 n.Chr.)23 auseinander. Dieser argumentiert in seinem – heute nur in Fragmenten und Sekundärzitaten erhaltenen – Werk24 gegen die Lehren der christlichen Religion. Seine Kritik macht er unter anderem am Danielbuch fest: Dieses Buch, so zitiert Hieronymus zu Beginn seines Kommentars den Philosophen, sei nicht von seinem vorgeblichen Autor, einem exilierten Judäer namens Daniel, verfasst, sondern von einem unbekannten Judäer zur Zeit von Antiochos IV. Epiphanes. Dieser habe nicht die Zukunft vorhergesagt, sondern die Vergangenheit berichtet. Somit handle es sich bei allen Vorgängen bis zur Zeit des Antiochos um authentische Geschichte, was aber darüber hinausgehe, sei falsch, da der Autor die Zukunft nicht habe vorhersagen können.25 Hieronymus überliefert damit in seinem Kommentar einen frühen Vertreter der Lesart, die sich mit der historisch-kritischen Exegese durchsetzte: Porphyrios begreift Daniels Visionen als pseudepigraph entstandenes vaticinium ex eventu. Anders als Porphyrios versteht Hieronymus das Danielbuch als Ausdruck authentischer prophetischer Erfahrung. Das narrative Setting des Buches ist für ihn eine zuverlässige Beschreibung seiner Entstehung. Dementsprechend liest er die Texte des Danielbuches als prophetische Zu21
Vgl. DURST, Hieronymus, 91–93; EIGLER, Hieronymus, 548–551. Vgl. RIST, Hieronymus als Apologet, 439; EIGLER, Hieronymus, 550. 23 Vgl. CHASE, Porphyrios, 174–180. 24 Eine Zusammenstellung aller vorhandenen Fragmente und Sekundärüberlieferungen bietet VON HARNACK, in: PORPHYRIUS, Gegen die Christen. 25 Vgl. Hieron. comm. in Dan., Prologus, 1–8. 22
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kunftsansage aus der Perspektive des Babylonischen Exils. Doch nicht nur das: Hieronymus ist vor allem überzeugt, dass kein anderer Prophet so offensichtlich von Christus gesprochen habe wie Daniel.26 Mit dem Status des Danielbuches als authentisch prophetischem Werk steht für ihn somit auch dessen christologische Sinnspitze auf dem Spiel.27 Hieronymus ist folglich in seinem Kommentar bestrebt, entgegen Porphyrios’ Einschätzung des Buches als vaticinium ex eventu dessen prophetischen Charakter herauszuarbeiten. Der Schwerpunkt seiner Argumentation liegt dabei in seiner Auslegung von Dan 10 – 12.28 Die Auslegung dieser Kapitel nimmt nicht nur den größten Teil des Kommentars ein, auch von den insgesamt 37 namentlichen Erwähnungen Porphyrios’ finden sich 18 in diesem Teil des Kommentars.29 Ähnlich wie bereits vor ihm Hippolyt unterscheidet auch Hieronymus bei der Auslegung von Dan 11 zwischen Passagen, die sich auf bereits eingetretene Ereignisse beziehen, und Passagen, die die noch ausstehende Endzeit und das Auftreten des Antichrists ankündigen. Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft folgt dabei jedoch, anders als bei Hippolyt, dem Verlauf des Textes. Den Umschlagpunkt zwischen Ereignissen der Vergangenheit und Ereignissen der Zukunft markiert Hieronymus in Dan 11,21. Bis zu diesem Punkt, so Hieronymus, sei er mit Porphyrios, dessen Auslegung er fortlaufend in seine Kommentierung einspielt, einer Meinung. Anders als Porphyrios liest er den Danieltext freilich als prophetische Vision. Den Umstand, dass diese Vision von einem Außenstehenden als Vergangenheitsschilderung gelesen wird, fasst er als besonders deutlichen Beweis für die Genauigkeit und Qualität der Prophetie Daniels auf.30 Ab V. 21 aber beziehe Porphyrios den Text auf Antiochos IV. Epiphanes. Hieronymus hält dem entgegen: „But those of our persuasion believe all these things are spoken prophetically of the Antichrist, who is to arise in the end time.“31 Dem möglichen Einwand, dass in der Darstellung dann eine Lücke zwischen dem letzten angekündigten Ereignis der historischen Zeit und den Ereignissen der Endzeit klaffe, begegnet Hieronymus, indem 26
Vgl. Hieron. comm. in Dan., Prologus, 12–19. Vgl. RIST, Hieronymus als Apologet, 442f.; REABURN, St. Jerome and Porphyry Interpret the Book of Daniel, 3. 28 Vgl. REABURN, St. Jerome and Porphyry Interpret the Book of Daniel, 8–18. 29 Vgl. REABURN, St. Jerome and Porphyry Interpret the Book of Daniel, 3.9. 30 „For so striking was the reliability of what the prophet foretold, that he could not appear to unbelievers as a predictor of the future, but rather a narrator of things already past.“; Hieron. comm. in Dan., Prologus, 25–27; Übersetzung: ARCHER, Jerome’s Commentary on Daniel, 15f. 31 Hieron. comm. in Dan. [IV], XI,21, 10–12; Übersetzung: ARCHER, Jerome’s Commentary on Daniel, 129. 27
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er auf den Beginn der Geschichtsvision in Dan 11,2 verweist: Dort sei auch nur von vier persischen Königen die Rede, obwohl es zwischen Kyros und Alexander viel mehr Könige gegeben habe. „We hold that it is the practice of Scripture not to relate all details completely, but only to set forth what seems of major importance.“32 Das Problem, dass viele der nach Dan 11,21 geschilderten Vorgänge erstaunlich gut zu Ereignissen in der Regierungszeit von Antiochos IV. passen, löst er mit einer Auslegungstechnik, die bei Hippolyt ebenfalls bereits anklang: die Interpretation des seleukidischen Königs als Typus des Antichrists. Antiochos IV. wird dann als historische Figur, zugleich aber und in einem tieferen Sinn als Typus des Antichrists verstanden.33 Collins bezeichnet diese Lesart als „dual interpretation“.34 Als Gegenstück zum Kommentar des Hieronymus erweist sich in mehrfacher Hinsicht der Danielkommentar des antiochenischen Theologen und Bischofs Theodoret von Cyrus (393 – ca. 460)35. Auch Theodoret verfolgt mit seinem Kommentar das Ziel, den Status des Danielbuches als authentische prophetische Schrift nachzuweisen. Anders als Hieronymus geht es für ihn jedoch nicht darum, die Wahrheit des Danielbuches als zuverlässige Zukunftsansage prophetischen Ursprungs – und damit die Wahrheit der Heiligen Schrift der Christen – gegen die kritischen Anfragen eines nichtchristlichen Philosophen zu verteidigen. Hintergrund der Auslegung Theodorets ist vielmehr die Frage der kanonischen Einordnung des Danielbuches. Theodoret ist bestrebt, das Danielbuch als prophetische Schrift auszuweisen und damit die Einordnung des Buches unter die Schriften, wie von seinen jüdischen Zeitgenossen praktiziert, als falsch zu erweisen.36 Das Spezifikum der Prophetie ist für ihn die Fähigkeit, die Zukunft vorhersehen und vorhersagen zu können.37 Als Ausweis der prophetischen Qualität des Danielbuches dient daher allein die historische Zuverlässigkeit der dort getroffenen Vorhersagen. Diese erweist sich für Theodoret durch den Vergleich der in Daniel überlieferten Ankündigungen mit den Makkabäer-
32 Hieron. comm. in Dan. [IV], XI,21, 18–20; Übersetzung: ARCHER, Jerome’s Commentary on Daniel, 129. 33 Vgl. Hieron. comm. in Dan. [IV], XI,21, 20–39. 34 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 112–117. 35 Vgl. HILL, Introduction, XI–XII. 36 Vgl. HILL, Introduction, XII.XVIII–XXIII; vgl. auch THEODORET, Daniel, 327 (= PG 81, 1544); siehe auch KOCH, Ist Daniel auch unter den Profeten?, 3f. 37 So schreibt THEODORET, Daniel, 7 (= PG 81, 1260), in der Auseinandersetzung mit der jüdischen Position im Vorwort seines Kommentars: „For us to refute their brazen claims in abundance, however, let us pose this question to them: what do you claim is typical of a prophet? Perhaps their reply would be, foreseeing and foretelling the future. Let us see, therefore, whether blessed Daniel had a foreknowledge of it and foretold it“; zitiert nach HILL.
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büchern und Flavius Josephus’ Antiquitates Judaicae.38 Obwohl in der hermeneutischen Ausgangssituation also durchaus mit Hieronymus’ Danielkommentar vergleichbar, erweist sich Theodorets Kommentar, gerade was die historischen Details betrifft, als weit weniger kenntnisreich und differenziert, was sicher auch an der, im Vergleich mit Hieronymus doch sehr beschränkten, Auswahl an verwendeten Quellen liegt.39 Wie Hieronymus findet auch Theodoret in Dan 11 sowohl Aussagen, die sich auf bereits vergangene Ereignisse, insbesondere auf Antiochos III. und Antiochos IV., beziehen, als auch Ankündigungen des Antichrists. Er begründet diese Position dabei im Rückgriff auf die vorhergehenden Kapitel: Während das kleine Horn in Dan 8 eine Vorausschau von Antiochos IV. gewesen sei, bezögen sich das vierte Tier in Dan 7 auf das Römische Reich und das kleine Horn auf den Antichrist. „Since the ends of the Roman Empire resemble the division of the Macedonian Empire“, resümiert Theodoret mit Blick auf Dan 11, „blessed Daniel learns at the one time of what will be done by the one and the other: some of what will be said applies to the Macedonians, some to the ten horns that are coming and to the one springing up between them. The fact that this is so we shall learn from the prophecy itself.“ Und er fährt fort: „We should therefore attend with complete precision, and assign appropriately some things to one group and some to the other.“40
Wie Hieronymus und vor ihm Hippolyt von Rom versteht auch Theodoret Antiochos IV. als „Bild“ des „Archetyps“, d.h. des Antichrists.41 Allerdings wechselt der Bezugspunkt des Textes nach seiner Ansicht erst in Dan 11,36. Als Beleg zieht er die neutestamentlichen Stellen 2 Thess 2,3–4.9 und Mt 24,20–27 heran.42 Diese Stellen, die Motive aus Dan 11 aufgreifen, belegen für ihn, dass auch die Danielstellen auf den Antichrist zu beziehen sind. Die folgenden Verse versteht Theodoret im Sinne einer „dual interpretation“ sowohl als Aussagen über den Antichrist als auch über dessen „Bild“ Antiochos. Dabei differenziert er allerdings zwischen Aussagen, die 38
Vgl. HILL, Introduction, XII. Beispielsweise bezieht THEODORET bereits die in Dan 11,5–9 geschilderten Vorgänge auf Antiochos III. Megas und Ptolemaios IV. Philopator bzw. Ptolemaios V. Epiphanes. Nach Hieronymus – und auch nach Auffassung moderner Auslegungen – ist von Antiochos III. und seinen ptolemäischen Gegenspielern jedoch erst ab Dan 11,10 die Rede. Theodoret kann seine Auslegung nur aufrechterhalten, indem er das zeitliche Nacheinander der Ereignisse im Danieltext aufgibt. So geht er beispielsweise davon aus, dass die in Dan 11,6 erwähnte Hochzeit die gleiche wie die in Dan 11,17 ist; vgl. THEODORET, Daniel, 283.285 (= PG 81, 1507f.). 291.293 (= PG 81, 1513). 40 THEODORET, Daniel, 281.283 (= PG 81, 1505); Übersetzung: HILL . 41 „After these remarks in reference to Antiochos Epiphanes, he then moves from the image to the archetype, the archetype in the case of Antiochus being the antichrist, and the antichrist’s image Antiochus“; THEODORET, Daniel, 305 (= PG 81, 1524). 42 Vgl. THEODORET, Daniel, 305 (= PG 81, 1524f.). 39
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zur Biographie des Antiochos passen, und solchen, die ihr widersprechen. Diese sind weit häufiger und bestätigen den Autor in seiner Auffassung, dass die Vision ab Dan 11,36 Vorhersagen über das Auftreten des Antichrists treffe. Theodoret unterscheidet sich in diesem Punkt von Hieronymus, der das Auftreten des Antichrists ja bereits in Dan 11,21 angekündigt sieht. Diese beiden Möglichkeiten finden sich auch in den Danielauslegungen der kommenden Jahrhunderte.43 An den Danielauslegungen von Hieronymus und Theodoret zeichnen sich die Grundlinien der dualen Auslegungsrichtung ab. Wird die Figur des Antiochos als Typus des Antichrists interpretiert, so kann die historische Einordnung des letzten Königs bestehen bleiben, tritt aber hinter seiner tieferen, typologischen Bedeutung zurück. Die oben beschriebene Lücke zwischen bereits eingetretenen und noch ausstehenden Ereignissen wird auf diese Weise sogar etwas kleiner. Ferner löst sich so die Spannung, die aus der eschatologischen Interpretation des kleinen Horns in Dan 7 als Ankündigung des Antichrists und der historischen Anbindung der Paralleldarstellungen Dan 8 und Dan 10 – 12 durch die Erwähnung medischer, persischer und griechischer Könige erwächst44. Auch hier ermöglicht die Annahme eines tieferen, typologischen Sinnes, dass die historischen Bezüge von Dan 8 und Dan 10 – 12 bestehen bleiben können und die beiden Visionen trotzdem mit der als Ankündigung des Antichrists gelesenen Vision Dan 7 übereins gebracht werden können.45 Die duale Interpretation wird in der Folge zu einer der Hauptströmungen in der Auslegung von Dan 11. Sie findet sich beispielsweise in den Kommentaren der mittelalterlichen Theologen Hrabanus Maurus und Nikolaus von Lyra,46 aber auch bei Martin Luther. Letzterer unterscheidet zwischen Passagen mit dualer, also historischer und typologisch-eschatologischer Bedeutung, und Passagen mit ausschließlich eschatologischer Bedeutung. So ist nach Luther im elften Kapitel von historischen Ereignissen unter Antiochos Epiphanes die Rede, allerdings so, dass unter seiner Person der
43
Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 469. Siehe oben Kapitel II. 1.1.1. 45 Vgl. aber KNABENBAUER, Commentarius in Danielem, 205–206, der das Problem anders löst: Auch Knabenbauer versteht Dan 7 als Ankündigung des Antichrists. Dan 8; 10 – 12 hingegen interpretiert er anhand ihrer historischen Bezugspunkte. Die daraus resultierende Spannung bestreitet er, indem er mittels historischer Argumentation nachweist, dass mit dem kleinen Horn in Dan 7 nicht Antiochos IV. Epiphanes gemeint sein kann. 46 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 117. 44
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„Endechrist“ dargestellt werde.47 Das zwölfte Kapitel enthalte jedoch keine Historie mehr, sondern beschreibe unter dem Namen des Antiochos die Ereignisse der Endzeit.48 Dementsprechend zieht Luther die Kapitelgrenzen abweichend von der herkömmlichen Kapiteleinteilung und verlegt den Beginn von Kapitel 12 vor auf Dan 11,36. Auf diese Weise wird der Einschnitt zwischen historisch zu lesenden und eschatologisch zu lesenden Passagen stärker betont. Deutlich tritt bei Luther, der seine eigene Gegenwart als Endzeit begreift, nun auch ein aktualisierendes Element in der Auslegung zu Tage. Der Antichrist, das ist in seinen Augen der Papst bzw. der Prophet Muhammad.49 So übersetzt er in seiner Danielübersetzung von 1530 Dan 11,37, der letzte König werde weder „Frawen liebe noch einiges Gottes achten“50 und kommentiert in einer Randglosse: „Denn den ehe stand vnd rechte liebe oder brauch der weiber sol er nicht haben, wie es denn gehet unter dem babst und Tuercken, auffs aller greulichst.“51 Dieser, in der Antike begründeten und von den Reformatoren aufgegriffenen Spur der typologisch-eschatologischen Auslegung folgen Exegeten auch in den nächsten Jahrhunderten bis zum Vorabend der historisch-kritischen Wende. Montgomery erläutert in einem Forschungsüberblick zu Dan 11: „The early protestant comm.[entaries] followed the leads offered by Jer. [Jerome], some finding the antichrist at v. 21, others accepting Porphyry’s historical exegesis to a later point in the chapter.“52 47
WA DB 11 II; 30,27 – 32,6: „Im Eilfften Capitel, weissagt Daniel seinem volck den Jueden fast des gleichen, wie er ym achten Capitel thut, von dem grossen Alexandro vnd den zweien Koenigreichen Syria und Egypten, allermeist vmb des Antiochus willen (der Eddel heist) der die Jueden plagen solt, Aber er malet den selben also das er seine wort, endlich dahin lendet das er vnter der person Antiochi, den Endechrist beschreibt, vnd also diese vnsere letzte zeit trifft, hart vor dem Jungsten tag, Denn auch alle Lerer eintrechtig, solche weissagung von Antiocho auff den Endechrist deuten, Vnd die wort gebens und zwingens auch, das er nicht gar vnd allein den Eddelen meine, sondern menget den Eddelen und Endechrist vnternander, vnd verwirret also williglich seine helle liechte wort;“ vgl. auch die Fassung von 1545 (WA DB 11 II; 31,25 – 33,6), die von der Fassung von 1530 jedoch nur orthographisch abweicht. 48 WA DB 11 II; 48,7–14: „Das zwellft Capitel wie es alle Lerer eintrechtig auslegen, gehet gantz vnd gar, vnter Antiochus namen auff den Endechrist, vnd auff diese letzte zeit, da wir ynnen leben. Darumb ist hie keine Historien mehr zu suchen, sondern, das helle Euangelion zeigt und sagt itzt einem yedern wol, wer der Rechte Antiochus sey, der sich uber alle Gotter erhaben hat, vnd frawen liebe, das ist, den Ehestand nicht geacht, sondern verboten, Und dafur, die welt mit seines Gottes Abgotteren, dazu mit fleischlicher unzucht, erfullet hat, und die schetze und guter auff erden aus teilet etc;“ vgl. auch die Fassung von 1545; WA DB 11 II; 49,7–14. 49 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 119. 50 WA DB 11 II; 178,37. 51 WA DB 11 II; 178,37 (Frawen liebe). 52 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 470.
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Als Vertreter der letzteren Auffassung nennt Montgomery die Auslegungen von Martin Geier53 und Christian Benedict Michaelis54. Die eschatologischtypologische Auslegung hält sich bis ins 19. Jahrhundert. So verweist Montgomery auf den 1868 erschienenen Daniel-Kommentar von Klieforth55, der das Kommen des Antichrists ab Dan 11,40 angekündigt findet. Auch katholische Daniel-Auslegungen vertreten – teilweise sogar bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ein eschatologisches Verständnis des Textes, weiterhin verbunden mit der Annahme, das Danielbuch überliefere die authentische prophetische Erfahrung des exilischen Sehers. Als Beispiel mag hier der 1891 erschienene Danielkommentar von Josef Knabenbauer56 dienen. Koch konstatiert: „Trotz der kritischen Einstellung der Aufklärung gegenüber allen traditionellen Autoritäten behielt das Danielbuch erstaunlich lange eine unangefochtene Wertschätzung als Zeugnis von zuverlässigen Weissagungen.“57
1.1.4 Präteristische Interpretation Alternativ zu dieser eschatologischen Interpretationsrichtung existiert jedoch seit der Antike eine Auslegungstradition, die auf eine christologischeschatologische Interpretation des Textes völlig verzichtet. Diese auch als präteristisch58 bezeichnete Lesart bezieht die Ankündigungen der Visionen ausschließlich auf in der Vergangenheit liegende Ereignisse. Dies gilt auch für die als „Zeit des Endes“ eingeführte Passage 11,40–45 und teilweise sogar für das in 12,1–3 beschriebene Endgericht. Der klassische Vertreter dieses Ansatzes ist der antike Philosoph Porphyrios59. Dieser bezieht Dan 11,40–45 auf einen dritten Ägyptenfeldzug Antiochos’ IV. und die Auferstehungsvision Dan 12,1–3 auf Ereignisse der Makkabäerzeit. Auch in der Tradition der syrischen Kirchenväter existieren Auslegungen der Danielvisionen, die ohne Bezug auf eschatologische Erwartungen auskommen und die Texte ganz auf bereits eingetretene Ereignisse beziehen. Ein Vertreter dieses Strangs der Danielexegese ist der zwischen 360 und 37360 entstandene Danielkommentar des syrischen Kirchenvaters Ephraem. Dieser interpretiert die Visionen Dan 7; 8; 10 – 12 ausschließlich im Rah53
Vgl. GEIER, Praelectiones. Vgl. MICHAELIS, Uberiores annotationes. 55 Vgl. KLIEFOTH, Buch Daniel. 56 Vgl. KNABENBAUER, Commentarius in Danielem. 57 KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 133. 58 Koch übernimmt die Bezeichnung „präteristisch“ aus der angelsächsischen Danielforschung. Vgl. KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 108f., Anm. 185. 59 Zu Porphyrios s.o. Kapitel II. 1.1.3. 60 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 114. 54
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men der Geschichte der Diadochenstaaten und der makkabäischen Revolte, wobei er in seiner Textinterpretation, ähnlich wie Hippolyt von Rom, nicht der Chronologie der Ereignisse folgt61. Ähnlich wie Porphyrios versteht er auch die in Dan 12,1–3 beschriebenen Ereignisse vollkommen innerweltlich.62 Auch seine christologische Deutung der siebzig Jahrwochen in Dan 9 nimmt ausschließlich auf Leben und Sterben Jesu Christi Bezug, nicht aber auf seine Wiederkunft.63 Insbesondere der sonst in der Danielauslegung so präsente Antichrist spielt in Ephraems Exegese überhaupt keine Rolle. In dieser Tradition stehen am Beginn der Neuzeit die Kommentierungen von Johannes Calvin64 und Hugo Grotius65. Anders als Porphyrios halten sie aber das Danielbuch nicht für eine Fälschung, sondern lesen es, ganz im Sinne der übrigen vorkritischen Auslegungstradition, als authentische Prophetie.66 Während Calvin zumindest die Auferstehungsweissagung
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Auch in seiner „dual interpretation“ von Dan 7,13, die in der Figur des Menschensohns neben den Juden auch Christus erkennt, geht Ephraem davon aus, dass das Wort des Propheten sich in Christus bereits erfüllt hat: „Etsi horum verborum sensus Judaeos etiam respiciat, eo quod postmodum Graecos & finitimas gentes profligarunt; Prophetia tamen in Domino consummata est; ipsi namque data est potestas & imperium in omnes populos, nationes, & linguas (…).“ – „Wenngleich der Sinn jener Worte auch die Juden berücksichtigt, da sie bald darauf die Griechen und die angrenzenden Völker niederschlagen würden, ist die Prophetie dennoch im Herrn erfüllt worden; diesem nämlich ist gegeben Macht und Herrschaft über alle Völker, Nationen und Sprachen (…)“; EPHRAEM, In Danielem, 215; Übersetzung: R.W. Vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 115. 62 In diesem Zusammenhang wird eine mögliche Abhängigkeit Porphyrios’ von der syrischer Auslegungstradition diskutiert. Collins weist diese Möglichkeit aber m.E. überzeugend zurück: „It is not necessary to posit a Syrian tradition to explain how Porphyry arrived at his interpretation. The key lay in the identification of the little horn as Antiochus Epiphanes, and this was already found in the exposition of Daniel 8 by Josephus and Hippolytus. Porphyry was predisposed to doubt Christian interpretation of Daniel 7. If even a Christian interpreter such as Hippolytus granted that the horn referred to Antiochus in chap. 8, why should the same symbol not have the same referent in chap. 7? (…) His historicizing interpretation of Dan 11:40‒12:12 comes from his reluctance to admit that Daniel spoke of anything beyond the immidiate historical context of the Maccabees“; COLLINS, Daniel 1993, 115–116; vgl. auch REABURN, St. Jerome and Porphyry Interpret the Book of Daniel, 5. 63 So bezieht Ephraem Dan 9,25 auf die Ankunft Christi, V. 26 auf dessen Kreuzestod und V. 27 auf die Zerstörung des Tempels durch die Römer; vgl. EPHRAEM, In Danielem, 222. 64 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 120; KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 108–111. 65 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 121; KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 128f. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 108, bezeichnet Grotius als „in some respects the father of the modern interpretation of Dan.[iel]“. 66 Vgl. KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 109.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Dan 12,1–3 als Ankündigung der noch ausstehenden Endzeit versteht67, bleibt Grotius in seinem 1644 erschienenen Werk „Annotationes in vetus testamentum“ ganz im Paradigma einer historischen Interpretation. Er bezieht die in Dan 11,40 angekündigte „Zeit des Endes“ auf das Elend des jüdischen Volkes, das bald zu Ende sein werde.68 Das in 12,2 beschriebene Erwachen derer, die im Staub der Erde schlafen, deutet er als die Rückkehr derjenigen, die während der Religionsverfolgung unter Antiochos IV. aus ihren Häusern und Wohnorten in die Wildnis fliehen mussten. Grotius weist in diesem Zusammenhang Deutungen zurück, die in Dan 12,2 eine Ankündigung der Auferstehung von den Toten sehen wollen. Explizit beruft er sich auf Porphyrios und gibt seiner Deutung Recht.69 1.1.5 Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl die differenzierende als auch die duale und die präteristische Lesart die Danielvisionen als authentische und zutreffende prophetische Texte, verfasst von einem Seher des 6. Jahrhunderts v.Chr., verstehen. Für jede der drei Lesarten ist daher die Entschlüsselung der in Dan 11 angedeuteten Ereignisse der angemessene Umgang mit dem Text. In der Logik einer präteristischen Lesart erweist die Identifikation der Ereignisse die Zuverlässigkeit der bereits eingetroffenen Prophezeiung und unterstreicht so den Wert des Textes als Offenbarung und Wort Gottes. In der differenzierenden und ebenfalls in der dualen Lesart erbringt die Bestimmung der bereits eingetroffenen Ereignisse den Nachweis für die Zuverlässigkeit des gesamten Textes als Prophezeiung und legitimiert auf diese Weise die Deutung der eigenen Gegenwart bzw. die Erwartung zukünftiger Ereignisse auf der Grundlage des Danieltextes.
67
Vgl. KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 109. Vgl. GROTIUS, Annotationes, 396: „(…) id est cum prope aderit tempus quo Deus finem volet imponere Iudaeorum miseriis.“ – „Das bedeutet, dass die Zeit nahegekommen war, zu der Gott den Leiden der Juden ein Ende setzen wollte.“ Übersetzung: R.W. 69 Vgl. GROTIUS, Annotationes, 398: „Id est, qui ob religionem eiecte Vrbe, oppidis, vicis et villis, non habuerunt vbi caput reponerent (vt Christus de se loquitur Lucae 9,58.) redibunt in Vrbem et alia loca habitata. Reddendum est Porphyrio quod ei debetur testimonium; est enim hunc locum optime interpretatus de iis qui ob Legis cultum diu extorres ad sua rediere.“ – „Das bedeutet: Diejenigen, welche, da sie aufgrund der Religion aus Stadt, Landstädten, Dörfern und Landsitzen vertrieben worden waren, keinen Ort hatten, um ihren Kopf hinzulegen (wie Christus von sich in Lukas 9,58 sagt), werden in die Stadt und zu den anderen bewohnten Orten zurückkehren. Dem Porphyrios ist das Zeugnis zu geben, das ihm zusteht. Er hat diese Stelle nämlich bestens interpretiert, dass diejenigen, welche wegen der Gesetzesverehrung eine Zeit lang verbannt waren, zu ihrem [Eigenen] zurückkehren.“ Übersetzung: R.W. 68
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
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1.2 Daniel als pseudepigraphe Schrift des 2. Jahrhunderts v.Chr. „Die Erkenntnis eines Zusammenhangs D[aniel]s mit der Makkabäerzeit, die erstmals der Neuplatoniker Porphyr vertrat, hat seit dem Ende des 18. Jahrh.s zusehends Boden gewonnen“70, konstatiert Baumgartner in einem Forschungsüberblick zur Danielexegese im Jahr 1939. Zusammenhang mit der Makkabäerzeit – damit sind nun aber nicht mehr nur die Bezugspunkte der historischen Anspielungen gemeint. Der von Baumgartner erwähnte Zusammenhang bezieht sich vielmehr auf den Entstehungskontext des Danielbuches. Die Wende zur historisch-kritischen Exegese hängt in der Auslegungsgeschichte des Danielbuches an der Erkenntnis, dass es sich insbesondere bei Daniels Visionen um Ex-eventuProphetie handelt, die während der Makkabäerzeit verfasst wurde. Diese, bereits von Porphyrios vertretene Ansicht, wurde in der christlich-westlichen Exegese ab dem 18. und zunehmend im 19. Jahrhundert vertreten.71 „Etwa seit 1880 vollzieht die deutsche und die englische Danielexegese eine erneute Schwenkung. Die Makkabäerthese, also die Ansetzung der Entstehung des Buches in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr. setzt sich in der kritischen Bibelwissenschaft durch.“72
Als Vorreiter einer historisch-kritischen Hermeneutik gilt der englische Bibelwissenschaftler Anthony Collins, welcher in seinem „1726 anonym gedruckte[n] Werk ‚The Scheme of Literal Prophecy Considered‘ das gesamte Danielbuch als Fälschung deklariert“73. Er betont dabei zum einen die historische Unzuverlässigkeit der Erzählungen und liest zum anderen die Visionen als in der Makkabäerzeit verfasste vaticinia ex eventu. In der deutschsprachigen Exegese ist es Heinrich Corrodi, der 1783 nachweist, dass das Danielbuch „nicht, wie es sich den Anschein gibt, von seinem Helden während des Babylonischen Exils – also um die Mitte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts – verfaßt wurde, sondern 400 Jahre später (…)“74. Diese, als Makkabäerthese bezeichnete Auffassung wird in den folgenden Jahrzehnten unter anderem von den beiden Alttestamentlern Eichhorn und 70
BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 69. Die Bedeutung der in Hieroymus’ Danielkommentar überlieferten Auseinandersetzung mit Porphyrios’ Position für die aufkommende historisch-kritische Exegese erkannte im Jahr 1897 der französische Alttestamentler Alfred Loisy. Die Brisanz des Themas zur damaligen Zeit lässt sich an der Tatsache ablesen, dass Loisy seine Überlegungen nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter dem Pseudonym Jacques Lataix veröffentlichte; vgl. RIST, Hieronymus als Apologet, 440. 72 KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 162. 73 KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 135. 74 KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 277. 71
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
de Wette aufgegriffen75 und erfasst im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weitere Kreise der Bibelwissenschaft. Am Anfang dieser Bewegung stehen dabei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kommentare von Bertholdt (1806), Hävernick (1832) und von Lengerke (1835), welche explizit die Bezüge zwischen Dan 11 und antiken Historikern offenlegen.76 Die Kommentatoren profitieren dabei von den aufstrebenden Altertumswissenschaften. Gedruckte Ausgaben antiker Historiker sowie historische Übersichtswerke flankieren das neue Interesse an Dan 11, so dass vielleicht erstmals wieder seit der Antike ein breiteres Spektrum von Referenztexten für die historischen Bezugspunkte von Dan 11 herangezogen werden kann. Dabei ist bei der Interpretation von Dan 11,40–45 eine weitere Entwicklungslinie festzustellen. So versteht Bertholdt den Text zwar als vaticinium ex eventu, bezieht allerdings das gesamte Kapitel bis einschließlich V. 45 auf die Biographie von Antiochos IV.77 Von der seit der Antike praktizierten präteristischen Lesart unterscheidet er sich somit nur durch die Annahme eines makkabäischen Verfassers. In den folgenden Jahrzehnten setzt sich durch Vergleich mit anderen biblischen und außerbiblischen Quellen78 jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, dass die in der Zukunftsansage Dan 11,2b–45 geschilderten Ereignisse nur bis einschließlich V. 39 mit historischen Ereignissen korellieren. Von Lengerke versteht die Schlusspassage als allgemeine Zusammenfassung von Ereignissen ohne konkreteren Bezug. In der Folgezeit gewinnt die Ansicht, dass in V. 40 das vaticinium ex eventu in eine echte Zukunftsansage übergeht, immer mehr an Überzeugungskraft. So konstatiert Montgomery in seinem erstmals 1929 erschienenen Danielkommentar: „The current view of recent comm. is that with v. 40 begins a prediction of the future, the Maccabean author leaving the ground of history at the point where he stands and forecasting the end of the tyrant.“79
Einhergehend mit dieser Erkenntnis verschiebt sich auch die Auffassung über die Funktion des vaticinium ex eventu. Es dient nun nicht mehr nur der retrospektiven Bestätigung und Rechtfertigung der unmittelbaren Vergangenheit. Die gesamte Prophezeiung erweist sich als zuverlässig und glaubwürdig, insofern der erste Teil der „Prophezeiung“ bereits eingetrof75
Vgl. KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 277. Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 422. 77 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 470. 78 Dies sind zum einen die „Historiai“ des Polybios, zum anderen aber die beiden kanonischen Makkabäerbücher; s.u. Kapitel II. 1.3.1. 79 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 470. Montgomery verweist in diesem Zusammenhang auf die Kommentare von Meinhold (1889), A. Bevan (1892), Behrmann (1894), Prince (1899), S.R. Driver (1900), Marti (1901), Charles (o.J.) und Lambert (o.J.). 76
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
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fen ist. Das vaticinium ex eventu impliziert somit auch eine prospektive Ermutigung. Die historisch-kritische Lesart des Danielbuches geht von drei Prämissen aus: Zunächst handelt es sich bei Daniel um ein pseudonym entstandenes Werk. Die Hauptfigur des Danielbuches, die nach dem Setting des Buches im 6. Jahrhundert v.Chr. anzusiedeln ist, ist nicht Autor des Buches. Zweitens stammt das Buch nicht aus babylonischer Zeit, sondern – von älteren Passagen abgesehen – aus der Makkabäerzeit. Damit geht drittens einher, dass die Vorhersagen keine echten Prophezeiungen sind, sondern nach dem Schema des vaticinium ex eventu80 die Vergangenheit im Gewand der Zukunft darstellen. Durch dieses insbesondere für die apokalyptische Literatur charakteristische Vorgehen erhält die Zeitgeschichte des Autors und seiner Erstleser die Qualität des Notwendigen und Unausweichlichen. Meist geht die als Zukunftsansage gestaltete Beschreibung der Vergangenheit oder Gegenwart an einem im Text nicht weiter gekennzeichneten Punkt – im Falle von Dan 11 in V. 40 – in „echte“ Weissagung über. Da sich der erste Teil der Weissagung durch die Gegenwartserfahrung der Erstleser bestätigt, erscheint auch der zweite Teil, der in eine erfreulichere Zukunft blickt, als zuverlässig.81 Die Funktion eines solchen Textes besteht in dieser Perspektive also im Trost der Erstleser in Zeiten der Bedrängnis. Die Beschreibung der bedrückenden Gegenwart in der Form der Zukunftsschau soll dazu ermutigen, die Situation weiter auszuhalten: Alles muss nach Gottes Plan so kommen, und nach seinem Plan wird es auch vorübergehen. Absicht von vaticinia ex eventu, von Geschichtsdarstellungen in der Form von Zukunftsansagen, ist es demnach, „den unter den Zeitverhältnissen leidenden Volksgenossen Mut zu machen, indem sie ihnen zeigen, daß alles, was sie erleiden, von Gott längst vorherbestimmt sei“82. Der Umstand, dass der Daniel-Text spätestens ab V. 40 historischen Boden verlässt, bot auch die Möglichkeit einer präzisen Datierung83, zumin80
Vgl. GUNKEL, Schöpfung und Chaos; OSSWALD, Zum Problem der vaticinia ex eventu, 27–44. 81 Vgl. BENTZEN, Daniel, 87; PORTEOUS, Buch Daniel, 129, SEOW, Daniel, 169. Vgl. hierzu auch BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 139–140, unter Verweis auf GUNKEL, Schöpfung und Chaos: „Bereits Gunkel […] hat den eigenartigen Aufbau der apokalyptischen Gesichte erkannt: der eigentlichen Weissagung wird ein längeres vaticinium ex eventu vorausgeschickt, das den Zwischenraum zwischen dem fingierten Standpunkt des Sehers (bei D im 6. Jahrh.) und dem tatsächlichen (Makkabäerzeit) überbrückt und zugleich, ähnlich dem eine Weissagung begleitenden ‚Zeichen‘, Zutrauen zur folgenden echten Weissagung schafft (…).“ 82 OSSWALD, Zum Problem der vaticinia ex eventu, 29f. unter Berufung auf EISSFELDT, Einleitung, 652. 83 Vgl. BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 208–212.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
dest der Schlusskapitel oder – bei Annahme einer einheitlichen Entstehung84 – des gesamten Danielbuches. Während sich die Eingriffe in den Jerusalemer Kult durch Antiochos IV. Epiphanes im Jahr 168 bzw. 167 v.Chr.85 deutlich im Text spiegeln, ist eine Bezugnahme auf die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels unter Judas Makkabäus im Jahr 164 v.Chr. nicht erkennbar.86 Der Schluss, dass Daniel vorher vollendet worden sein muss, liegt also nahe. Bis heute rekurriert die wissenschaftliche Danielexegese in Bezug auf die Datierung der Schlusskapitel und den Abschluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches auf dieses Modell.87 Die historisch-kritische Auseinandersetzung mit Dan 11 wirkt sich folglich auch auf das Verständnis des Danielbuches insgesamt aus. Anders als die Anspielungen der Kapitel 7 – 9, die zwar ebenfalls in die makkabäische Zeit verweisen, jedoch aufgrund ihrer Bildwelt weniger historische Details enthalten, ermöglichen die detailliert geschilderten Ereignisketten in Dan 11 eine viel präzisere Zuordnung zu historischen Geschehnissen. Szold bezeichnet Dan 11 in diesem Sinn als Schlüssel zum gesamten Danielbuch: „This chapter throws light upon the entire book and removes its mysteriousness.“88 Mit Hilfe dieses Schlüssels können die deutlich miteinander verwandten historischen Anspielungen der Kapitel Dan 7; 8; 9 und 10 – 12 nun leichter in ein einheitliches Auslegungskonzept integriert werden, als es im vorkritischen Paradigma der Fall war.89 Während vorkritische Exegeten teilweise auf komplizierte Argumentationen zurückgreifen mussten, um die apokalyptische Auslegung von Dan 7 als Ankündigung des Antichrists mit der zumindest teilweise historischen Auslegung von Dan 10 – 12 als Darstellung der Seleukidenzeit zu vereinbaren, können nun, ausgehend von den historischen Bezugspunkten von Dan 10 – 12, sämtliche Visionskapitel als Niederschlag der Geschehnisse unter Antiochos IV. gelesen werden. 84 Vgl. BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 75–83; ROWLEY, Unity of the Book of Daniel. 85 Zur Frage der Datierung der Ereignisse unter Antiochos IV. vgl. ausführlich BRINGMANN, Hellenistische Reform, 15–28. 86 Vgl. beispielsweise die entsprechenden Ausführungen bei PRINCE, Critical Commentary on the Book of Daniel, 170. Als weiteres Argument für die Datierung der Kapitel Dan 10 – 12 vor den Tod des Antiochos weist Prince darauf hin, dass die Schilderung von dessen ägyptischen Kriegen nicht den historischen Gegebenheiten entspricht: „(…) his apparently unhistorical statements regarding the wars of Antiochus with Egypt show that the Book must have been finished before the close of that king’s career“. 87 Vgl. z.B. die Kommentare von BENTZEN, Daniel, 8; PORTEOUS, Buch Daniel, 13; COLLINS, Daniel 1993, 403. Vgl. auch NIEHR, Buch Daniel, 509–512. 88 SZOLD, The Eleventh Chapter of the Book of Daniel, 573; vgl. auch GRANT, Book of Daniel. 89 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 470.
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
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Neben der historisch-kritischen Lesart hielt sich aber auch weiterhin die traditionelle Auslegung des Danielbuches, die von konservativeren Exegeten mit apologetischem Eifer verteidigt wurde. Im Zentrum der Diskussion standen dabei erstens die Frage nach der Echtheit des Buches im Sinne einer der Narratio des Buches folgenden Abfassung durch den Exilspropheten Daniel und damit verbunden zweitens die Frage nach dem Offenbarungswert des Buches, genauerhin seinem eschatologischen Gehalt. Eine Form der extremen Gegenreaktion auf die moderne, rein historische Danielinterpretation begegnet in der englischsprachigen Exegese. Hier kommen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Auslegungen auf, die Dan 11 nicht nur als authentische Prophetie verstehen, sondern die Bezugspunkte der Ankündigungen in der eigenen Gegenwart finden. So erscheint beispielsweise 1866 in Liverpool eine anonyme Auslegung von Daniel 11 mit dem Untertitel: „The conquest of England, beginning about the end of 1866, as predicted by the Prophet Daniel, 2400 years ago“.90 Zuvor veröffentlicht der amerikanische Geistliche Samuel Sparkes im Jahr 1858 unter dem Titel „A Historical Commentary on the Eleventh Chapter of Daniel“ ebenfalls eine Auslegung von Daniel 11, in der er den Bogen von Kyros bis in seine unmittelbare Gegenwart schlägt. Der Untertitel des Werks lautet dementsprechend: „Extending from the days of Cyrus to the Crimean War, recieving its ultimate accomplishment in the fall of the Turkish or Ottoman Empire“.91 Das elfte Kapitel des Danielbuches wird hier also aus dem Kontext des Buches genommen und als enger Zeitplan der eigenen Gegenwart gelesen. Diese Art der Auslegung unterscheidet sich von den antiken Auslegungen, aber auch z.B. von der Auslegung Martin Luthers, die zwar durchaus einen Bezug auf die eigene Gegenwart und ggf. auch auf das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt sehen, durch das Instrument der Typologie jedoch ein viel offeneres Deutungsschema an den Text anlegen können. Anders als bei Sparkes oder der Liverpooler Auslegung bleibt der Text z.B. bei Hieronymus oder auch bei Luther eine Schablone, die im Rahmen einer dualen Interpretation sowohl auf Ereignisse der Makkabäerzeit als auch auf Ereignisse der eigenen Gegenwart oder der noch ausstehenden Zukunft angelegt werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang das besondere Interesse der genannten Auslegungen an Dan 11. War das Kapitel bisher im Kontext des Buches vor allem im Zusammenspiel mit der Interpretation des „kleinen Horns“ in Dan 7 verstanden worden, so wird es jetzt als isolierte Prophetie gelesen. Damit tritt auch der christologisch-eschatologische Rahmen, der die vorkritische, christliche Danielexegese prägte, in den 90 91
Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 269. Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 270.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Hintergrund. Es scheint nur noch um die Wahrheit des Textes im Sinn einer wirklichen und zutreffenden Vorhersage der Zukunft zu gehen, an der die Authenzität von Daniel als Prophet und der Charakter der Bibel als Offenbarung hängt.92 Der Konflikt zwischen „makkabäischer“ und „prophetischer“ Lesart von Dan 11 ist auch in der exegetischen Diskussion des 20. Jahrhunderts deutlich spürbar. So beobachtet James A. Montgomery in seinem großen Danielkommentar aus dem Jahr 1927 in der Auslegung von Dan 11 einerseits die Praxis einer historischen Exegese des Kapitels. Er fährt fort: „On the other hand the more theologically minded (…) found still in this chapter a symbolic prophecy of the conflicts of the kingdoms of the world, with only occasional and indistinct prefigurations of secular events, the whole culminating in the prospect of the Antichrist; (…)“.
Als Beispiele führt er die Kommentare von Keil (1869) und Pusey (1864) an.93 Ähnlich bezeichnet Baumgartner in seinem Foschungsüberblick aus dem Jahr 1939 die Bibelwissenschaftler Ernst Wilhelm Hengstenberg und Edward Bouverie Pusey als „kraftvolle Vertreter“ der vollen „‚Echtheit‘ des Buches, d.h. seine[r] Abfassung im Exil durch Daniel“.94 So betont Hengstenberg in seiner 1831 erschienenen Abhandlung „Die Authentie des Daniel und die Integrität des Sacharjah“, „daß die Anerkennung der Ächtheit des Daniel und die Anerkennung der geoffenbarten Religion unzertrennlich verbunden sind“.95 Ist das Danielbuch nicht mehr authentisches Zeugnis seines literarischen Autors, so wird damit sein Charakter als inspirierte Schrift und als Offenbarung radikal in Frage gestellt. Gegen eine solche enge „historische“ Interpretation verteidigten die Verfechter der historisch-kritischen Exegese das Verständnis von Dan 11 im Sinne eines vaticinium ex eventu als das einzig richtige: „Dieses ‚apokalyptische Schema‘ [d.h. vaticinium ex eventu], das schon Porphyr durchschaute, ist es auch, was den Anschein erweckt, als ginge die Weissagung auf ferne Zeit, 92
Ähnliche Interpretationen finden sich auch heute noch in fundamentalistischen Auslegungen von Dan 11. So kommentiert beispielsweise „The Defender’s Bible“ von 2006 den Vers Dan 11,43 folgendermaßen: „Libya and Ethopia seem to be associated with Egypt during this climactic seven-year period of the end times. This may suggest that other African and Muslim nations also associated together compose ‚the king of the south‘ along with Egypt, Libya and Ethiopia. The latter two were affiliated with the GogRussian confederacy (Eze 38) which will have been recently decimated in its attempted invasion of Israel. Evidently the remnants of their armies, combined with Egypt and other Muslims, will unite to oppose the beast-king, possibly because of the 7-year treaty with Israel. Nevertheless, they will be defeated.“ 93 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 470. 94 BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 69f. 95 Zitiert nach KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, 160.
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während sie tatsächlich, wie alle echte Prophezeiung das Ende ganz nah erwartet. Seine Kenntnis [d.h. die Kenntnis des apokalyptischen Schemas] allein ermöglicht in D[aniel] das rechte Verständnis der Weissagungen, namentlich derjenigen von c. 11, wo v.40 ff. den Auslegern sonst so viel zu schaffen machten, wie auch seiner Chronologie.“96
Dieses „rechte Verständnis“ von Dan 11 besitzt allerdings auch eine Schattenseite, die gerade in den fundamentalistischen Auslegungen des Textes deutlich wird. Diese versuchen, den Charakter des Textes als Offenbarung aufrechtzuerhalten, indem sie gegen die Argumente der historisch-kritischen Forschung auch an der vorkritischen Entstehungshypothese des Danielbuches festhalten. Demgegenüber geht der historisch-kritischen Auslegung von Dan 11 der Zugang zu den theologischen Aspekten des Textes verloren. Die damit verbundene tiefgreifende Erschütterung, wie sie beispielsweise Koch beschreibt, macht umgekehrt das hartnäckige Festhalten der fundamentalistischen Ausleger an ihrer Auffassung – selbst um den Preis einer unplausibel gewordenen Entstehungshypothese – verständlich: „Noch abgesehen davon, daß zahlreiche Einzelangaben sich als nicht verläßlich erwiesen (…), wog es für die Theologen (…) schwer, daß der Mann, der dieses Buch geschrieben hatte, nun als Schwärmer und Phantast und als einer, der sich diese Geschichtsschau aus den Fingern gesogen hatte, erschien. Damit war er für die christliche Theologie gegenstandslos geworden. Er wurde als ‚Apokalyptiker‘ abgestempelt und diese Bezeichnung hatte (…) einen abfälligen Nebenton. Mit dem Buch Daniel ging aber Theologie und Kirche viel mehr verloren als nur eine beliebige alttestamentliche Schrift, nämlich der Zugang zur Weltgeschichte überhaupt. Fortan zieht sich die Theologie (…) auf den brüchigen Boden einer eng abgegrenzten und von aller Weltgeschichte grundsätzlich verschiedenen sogenannten ‚Heilsgeschichte‘ zurück. So ist das Verschwinden des Danielbuches aus der wissenschaftlichen Besinnung in der Neuzeit nicht nur zu einem geschichtswissenschaftlichen, sondern auch zu einem theologiegeschichtlichen Datum geworden.“97
Parallel zum Bedeutungsverlust des Danielbuches98 in theologischer Hinsicht nahm jedoch seine Wertschätzung als historische Quelle zu. Diese Veränderung beschreibt Baumgartner in Hinblick auf Dan 7 folgendermaßen: „Die frühere Hochschätzung D[aniel]s, die sich auf die genaue Enthüllung der Zukunft bis zum Kommen Christi gründete, wurde durch den Sieg der kritischen Betrachtung der Boden entzogen (…). Andererseits aber war mit der Einsicht in die wichtige zeitge-
96
BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 139f. KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 277, Anm. 2. 98 Vgl. auch KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 276f.: „Nachdem Heinr. Corrodi 1783 zum erstenmal nachgewiesen hatte, daß es nicht (…) um die Mitte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts (…) verfaßt wurde, sondern 400 Jahre später, (…) sank die Wertschätzung des Danielbuches rapide.“ 97
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
schichtliche Rolle D[aniel]s auch der Weg zu einer neuen unbefangenen, wenn auch nicht uneingeschränkten Würdigung freigelegt.“99
In dieser Lesart geben die Visionen des Danielbuches, insbesondere Dan 11, nicht mehr Auskunft über die „letzten Dinge“, halten dafür aber als zeitgeschichtliches Dokument Informationen über ihr historisches Umfeld bereit. „[Als] engmaschiges Dokument einer dramatischen Zeitgeschichtsschreibung (…), zu der die Verfasser leidenschaftliche Partei ergreifen (…), scheint das D[aniel]b[uch] eine Geschichtsquelle besonderer Art zu bieten.“100
Anstelle der unhaltbar gewordenen Interpretation im Sinne einer echten Prophetie, die das Kommen Christi ankündigt, tritt also die Bedeutung des Danielbuches als historische Quelle. 1.3 Die Verwendung von Dan 11,28–35 als Quelle In seinem wegweisenden Danielkommentar bezeichnet Montgomery Daniel als „Jewish counterpart of Polybius“101. Daniel als jüdisches Äquivalent des griechischen Historikers Polybios von Megalopolis (ca. 200 – 118 v.Chr.), der in den 40 Büchern seiner mit „Historiai“ betitelten Universalgeschichte die politischen Entwicklungen zwischen 264 und 146 v.Chr. im gesamten römischen Einflussgebiet darstellt?102 Dieser Stellenwert kommt den Visionsberichten des Danielbuches wohl auch in einer ausschließlich historischen Lesart und bei noch so optimistischer Einschätzung ihres Quellenwertes kaum zu. Mit seiner Formulierung bringt Montgomery vielmehr zum Ausdruck, dass insbesondere Dan 11 in seiner Funktion als Quelle in der Lage ist, über einen hoch umstrittenen Ereigniszusammenhang Auskunft zu geben, zu dem Polybios schweigt103: den Konflikt um den Jerusalemer Tempel in den 70er und 60er Jahren des 2. Jahrhunderts v.Chr., in dessen Verlauf es zu Aufständen in Jerusalem und vor allem zur Entweihung des Tempels durch Maßnahmen des seleukidischen Königs Antiochos IV. kam. Als zeitgenössische Quelle kann Dan 11 hier zur Rekonstruktion der Ereignisse beitragen.
99 100 101 102 103
BAUMGARTNER, Ein Vierteljahrhundert Danielforschung, 225f. KOCH, Buch Daniel, 127. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 421. Vgl. WALBANK, Polybios, 840–842. Siehe dazu ausführlicher Kapitel II. 1.4.1.1.
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
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1.3.1 Die Quellen des Makkabäeraufstandes In seiner Studie über Antiochos IV. Epiphanes bezeichnet Mittag den Makkabäeraufstand samt seiner Vorgeschichte als einen der „am besten dokumentierten Versuche (…) indigener Gruppierungen, die seleukidische Herrschaft abzuschütteln“104. Als Quellen stehen insbesondere für die Vorgeschichte des Makkabäeraufstandes neben dem Danielbuch die beiden kanonischen Makkabäerbücher105 sowie die Darstellung des Flavius Josephus im 12. Buch der Antiquitates Judaicae zur Verfügung.106 Josephus beruft sich bei der Darstellung dieser Ereignisse vor allem auf das erste Makkabäerbuch. Zusätzliche Informationen entnimmt er vermutlich dem heute verschollenen Geschichtswerk des Nikolaos von Damaskus.107 Für den fraglichen Ereigniszusammenhang stehen somit ausschließlich Quellen zur Verfügung, die der biblischen Tradition angehören oder in engem Zusammenhang mit ihr stehen. „Einerseits ist die Dichte der Quellen erfreulich andererseits widersprechen sich die einzelnen Zeugnisse nicht nur in der Gesamtdeutung, sondern auch in den Details zum Teil so deutlich, dass die Rekonstruktion der Ereignisse große Schwierigkeiten bereitet.“108
Die Darstellung der Ereignisse im Vorfeld des eigentlichen Aufstands in 1 Makk 1, 2 Makk 4 – 6 und in Antiquitates Judaicae 12 stimmen dabei weder in den einzelnen Ereignissen noch in deren Ablauf überein. Dies verdeutlicht die folgende Synopse109:
104
MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 225; vgl. ferner 23–28. Zur Rezeption von 1/2 Makk im Rahmen historischer Forschung vgl. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 85, Anm. 36. Zitate aus den beiden Makkabäerbüchern stammen im Folgenden aus der Einheitsübersetzung. 106 Auch in Bellum Judaicum und Contra Apionem geht Josephus auf die Ereignisse im fraglichen Zeitraum ein; vgl. MEHL, Antiochos IV., 769. Mittag nennt neben der kurzen Darstellung im ersten Buch von Flavius Josephus’ Bellum Judaicum als weitere Quellen einige Qumrantexte sowie den Danielkommentar des Hieronymus; vgl. MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 225f. Sowohl die Versionen in Contra Apionem und im Bellum Judaicum als auch die Qumranfragmente können in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. Auf die besondere Rolle, die der Kommentar des Hieronymus insbesondere für die Verwendung von Dan 11 als Quelle spielt, wird noch einzugehen sein. 107 Vgl. MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 28. 108 MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 226. Zu den verschiedenen Deutungsansätzen vgl. ebd. 226–230; siehe auch BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 18–35; HARRINGTON, Maccabean Revolt, 17–86; KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1654–1671, 1174–1186. 109 Vgl. auch die Zusammenfassung der von Dan, 1 Makk und 2 Makk erwähnten Ereignisse bei KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1674, 1186. 105
Gruppe von Verrätern am Volk
Verräter am Volk gründen ein Gymnasium
Ägyptenfeldzug Antiochos’ IV. im Jahr 143 (= erster Ägyptenfeldzug)
Tempelplünderung durch Antiochos und Blutbad in Jerusalem
zwei Jahre später: Antiochos schickt einen Beamten nach Jerusalem; erneutes Massaker an der Zivilbevölkerung
Aufhebung der jüdischen Religion per Edikt (Universalisierungsbestreben Antiochos’)
1,11– 13
1,14– 15
1,17– 19
1,20– 24
1,29– 40
1,41– 42
1 Makk
6,1
Aufhebung der Gesetze durch einen alten Athener/Geron, einen Athener
Entsendung des Mysarchen Apollonios nach Jerusalem; Massaker an der Zivilbevölkerung
Angriff Antiochos’ auf Jerusalem, Tempelplünderung
5,24– 26
Angriff Jasons auf Jerusalem
5,11– 21
Antiochos IV. ernennt Menelaos zum Hohenpriester anstelle von Jason
4,23– 26
zweiter Ägyptenfeldzug von Antiochos IV.
erster Besuch Antiochos’ IV. in Jerusalem
4,21– 22
5,5–10
Jason erhält Vollmacht zur Gründung eines Gymnasiums
4,9–17
5,1
12,5,237
4,7
12,5,252
12,5,246
12,5,246
12,5,242
12,5,241
12,5,239
12,5,238
Jos., Ant Antiochos IV. ernennt Jason zum Hohenpriester anstelle von Onias III.
2 Makk
Errichtung einer Burg mit makedonischer Besatzung
Rückkehr Antiochos’ nach Jerusalem im Jahr 145; Tempelplünderung
Einnahme Jerusalems durch Antiochos; Massaker und Plünderungen im Jahr 143
Ägyptenfeldzug Antiochos’ IV.
Anhänger d. Menelaos erhalten Erlaubnis zur Gründung eines Gymnasiums
um Jason und Menelaos bilden sich Parteiungen
Antiochos IV. ernennt Menelaos zum Hohenpriester anstelle von Jason
Antiochos IV. ernennt Jason zum Hohenpriester anstelle von Onias III.
70 Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Entweihung des Tempels
Opfer von Schweinen
Verbot der Beschneidung
Errichtung des unheilvollen Gräuels
Zerstörung von Schriftrollen und Verurteilung der Besitzer zum Tod
Opfer auf dem Altar über dem Brandopferaltar
Hinrichtung von Müttern beschnittener Söhne
1,46
1,47
1,48
1,54
1,56– 57
1,59
1,60
Einstellung des Opferkultes und Verbot des Sabbats
1,45
1 Makk
Tötung von Sabbatfeiernden Martyrium des Eleasar
6,11 6,18–31
Zwang zur Teilnahme am Geburtstag des Königs und an den Dionysien
6,7
Hinrichtung von Müttern beschnittener Söhne
Sabbat und Feste können nicht mehr begangen werden
6,6
6,10
unerlaubte Dinge auf dem Brandopferaltar
Heiden im Tempel
Auftrag zu Entweihung und Umwidmung des Tempels an Zeus Olympios
6,5
6,4
6,2
2 Makk
12,5,256
12,5,255– 256
12,5,254
12,5,253
12,5,253
Jos., Ant
Hinrichtung von Besitzern heiliger Bücher
Religionsverfolgungen, u.a. Hinrichtung von Müttern beschnittener Söhne
Verbot der Beschneidung
Verbot der jüdischen Religion (Gottesverehrung, Opfer)
Errichtung eines Altars anstelle des bestehenden und Opfer von Schweinen
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
71
72
Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Am augenfälligsten sind wohl die unterschiedlichen Auffassungen der drei Darstellungen über die Hintergründe des makkabäischen Aufstands. Während 2 Makk und Josephus die Eingriffe in den Tempelkult mit Konflikten um die Vergabe des Hohepriesteramtes durch den seleukidischen König stellen, erwähnt 1 Makk diesen Konflikt gar nicht. Der Grundkonflikt ist für 1 Makk von Anfang an eine Spaltung innerhalb des Jerusalemer Judentums zwischen Sympathisanten der griechischen Lebensart einerseits (1 Makk 1,11–15) und Anhängern der traditionellen Form des Judentums andererseits. Auch Josephus erwähnt Parteiungen im Volk, führt diese allerdings auf die Unterstützung von Jason oder Menelaos als Hohepriester zurück (Ant 12,239). Alle drei Darstellungen erwähnen im Vorfeld des Konflikts die Gründung eines griechischen Gymnasions, allerdings in jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen. 1 Makk schreibt die Initative dafür der „griechenfreundlichen“, als „Verräter am Gesetz“ (1 Makk 1,11) bezeichneten Gruppe zu (1 Makk 1,14–15). 2 Makk sieht den Hohenpriester Jason als Drahtzieher (2 Makk 4,9–17), während Josephus diese Rolle den Anhängern des Hohenpriesters Menelaos zuschreibt (Ant 12,241). Beide Makkabäerbücher berichten von einem Angriff des seleukidischen Königs auf Jerusalem, in dessen Rahmen er auch den Tempel plünderte (1 Makk 1; 2 Makk 5). Während sich die Schilderungen dieses Angriffs ähneln, weichen jedoch die Datierungen voneinander ab. 1 Makk datiert den Angriff in das Jahr 143 der seleukidischen Zeitrechnung und somit in die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Ägyptenfeldzug König Antiochos’. 2 Makk enthält hingegen keine explizite Datumsangabe, stellt das Ereignis aber in den Zusammenhang von Antiochos’ zweitem Ägyptenfeldzug (2 Makk 5,1). Demgegenüber berichtet Josephus von zwei Tempelplünderungen durch den seleukidischen König. Er datiert diese in die Jahre 143 und 145 seleukidischer Zeitrechnung, d.h. in die Jahre nach dem ersten und dem zweiten Ägyptenfeldzug (12,246). 2 Makk stellt Antiochos’ Angriff zudem als Reaktion des Königs auf die Revolte des abgesetzten Hohenpriesters Jason gegen Jerusalem dar,110 die dann ebenfalls während des zweiten Ägyptenfeldzugs stattgefunden hätte. 1 Makk erwähnt diese Revolte nicht. Beide Makkabäerbücher schildern jedoch die Entsendung eines seleukidischen Beamten bzw. Militärs nach Jerusalem und die damit verbundenen Maßnahmen (1 Makk 1,29–40; 2 Makk 5,24–26). In beiden Darstellungen ist in diesem Zusammenhang von einem Massaker an der Zivilbevölkerung die Rede. 2 Makk nennt zudem den Namen des Mannes und seine genaue Funktion: Apollonios, der Mysarch. Während 2 Makk die Strafkaktion des Mysarchen unmittelbar an 110 Für eine ausführliche Schilderung dieses Ereignisses und seiner Hintergründe s.u. Kapitel II. 2.6.
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
73
die Schilderung von Antiochos’ Angriff gegen die Stadt anschließt, erwähnt 1 Makk einen zweijährigen Abstand zwischen den beiden Ereignissen. Somit besteht die Möglichkeit, dass 2 Makk den Angriff Antiochos’ fälschlicherweise in die Zeit nach dem zweiten Ägyptenfeldzug datiert.111 Josephus berichtet in seiner Darstellung von der Errichtung einer seleukidischen Festung in der Unterstadt, in die eine makedonische Besatzung gelegt wurde (Ant 12,252). In einem nächsten Schritt berichten alle drei Darstellungen von drastischen Eingriffen in die Praxis der jüdischen Religionsausübung durch die seleukidische Regierungsmacht. Alle drei Quellen sprechen dabei von der Aufhebung bzw. dem Verbot der jüdischen Religion. Die Begründung dafür ist jedoch unterschiedlich: 1 Makk 1,41–42 nennt als Motiv das Bestreben des Königs, eine einheitliche Religion in seinem gesamten Herrschaftsgebiet einzuführen. In 2 Makk 6 wird keine direkte Begründung genannt, die Maßnahmen stehen am ehesten im Zusammenhang mit der Gegenreaktion des Königs auf Jasons Revolte. Bei Josephus steht das Verbot der Religionsausübung im Kontext von Antiochos’ Tempelplünderung (Ant 12,253). Auch bei den folgenden Schilderungen der einzelnen Maßnahmen zur Aufhebung und Verfolgung der Religion stimmen kaum einmal alle drei Darstellungen überein. So berichten die beiden Makkabäerbücher von einer expliziten Entweihung, 2 Makk 6,2 sogar von einer Umwidmung des Tempels an Zeus Olympios, Josephus erwähnt dagegen nur die faktische Entweihung durch die Errichtung eines Altars anstelle des jüdischen Brandopferaltars und die Opferung von Schweinen auf diesem Altar. Von der Aufhebung des täglichen Opferkultes ist in 1 Makk 1,45 und Ant 12,251 die Rede. Das Opfer von Schweinen findet auch in 1 Makk 1,47 Erwähnung, während 2 Makk 6,5 nur von verbotenen Opfern auf dem Brandopferaltar berichtet. Beide Makkabäerbücher erwähnen außerdem das Verbot, Sabbat und Feste zu begehen (1 Makk 1,45 und 2 Makk 6,6), Josephus und 1 Makk das Verbot der Beschneidung (1 Makk 1,48 und Ant 12,254). Alle drei Quellen schildern allerdings die Hinrichtung von Müttern be111 Eine ausführliche Rekonstruktion der Chronologie der fraglichen Ereignisse bietet GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 153–157.223–226. Dieser geht davon aus, dass Jasons Revolte im Winter 169/168 stattfand und Antiochos nach Ende seines ersten Ägyptenfeldzuges darauf unmittelbar mit einem Angriff gegen Jerusalem reagierte, in dessen Verlauf er auch den Tempel plünderte. Gera identifiziert diesen Angriff mit der in 1 Makk 1 und 2 Makk 5 beschriebenen Tempelplünderung. Die Entsendung des Mysarchen Apollonios betrachtet Gera als zusätzliche Strafmaßnahme des Königs, die er aber erst in das Frühjahr des Jahres 167 v.Chr. datiert. Vgl. auch die Chronologien bei MØRKHOLM, Antiochus IV of Syria, 137–146; MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 252–256. Eine ausführliche Reflexion der Rekonstruktionsmöglichkeiten, die sich aus den Darstellungen der beiden Makkabäerbücher ergeben, findet sich außerdem bei COLLINS, Daniel 1993, 384.
74
Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
schnittener Söhne (1 Makk 1,60; 2 Makk 6,10; Ant 12,255–256). Ferner ist in 1 Makk 1,56–57 und Ant 12,256 von der Hinrichtung von Besitzern der Heiligen Schrift die Rede, während 2 Makk 6,11 von der Tötung von Sabbatfeiernden berichtet. Als einzige Quelle erwähnt 2 Makk 6,7, dass die Jerusalemer Juden gezwungen waren, an den Geburtstagsfeiern des seleukidischen Königs und an den Dionysien teilzunehmen. Auf dem Hintergrund dieser Quellenlage gewinnt Dan 11 seine besondere Rolle als zeitgeschichtliches Dokument. Aus der Widersprüchlichkeit der zur Verfügung stehenden Quellen resultieren im 20. Jahrhundert zahlreiche Versuche, sich mittels historischer Rekonstruktion dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse im Vorfeld der makkabäischen Erhebung anzunähern. Die Darstellung in Dan 11 ist dafür von maßgeblicher Bedeutung. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Darstellung des jüdischen Bibelwissenschaftlers Elias Bickermann zu nennen. In seiner bahnbrechenden Studie aus dem Jahr 1937 „Der Gott der Makkabäer“ über die Vorgeschichte und Hintergründe des makkabäischen Aufstandes betont Bickermann die Bedeutung des Danielbuches für die Rekonstruktion der fraglichen Ereigniszusammenhänge: „Mit die wichtigsten Nachrichten über das Vorgehen des Epiphanes gegen Jerusalem haben sich in der Form von Weissagungen bei Daniel erhalten.“112 Diese Einschätzung haben nach ihm viele Forscher geteilt. So spielt das Danielbuch unter anderem in den groß angelegten Rekonstruktionsversuchen von Victor Tcherikover113 und Martin Hengel114 eine entscheidende Rolle als Quelle. Aber auch in neueren Veröffentlichungen, wie z.B. in der Darstellung des historischen Hintergrunds der zwischentestamentlichen Schriften von Maier115 oder der breit angelegten „Geschichte Jerusalems“ von Keel116, wird Dan 7 – 12 als wichtige Quelle für die Regierungszeit von Antiochos IV. genannt. Entscheidend für die Rezeption als historische Quelle ist der Charakter des Textes als vaticinium ex eventu. So betont Porteous: „Für uns liegt das Hauptinteresse an diesem Abschnitt des Danielbuches vielleicht gerade darin, dass wir durch die Augen eines Mannes, der räumlich und zeitlich an einem Brennpunkt der Geschichte lebte, sehen können, wie die Wucht der Weltereignisse auf einen solchen wirkte.“117
112
BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 169. Vgl. TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization. 114 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus. 115 Vgl. MAIER, Zwischen den Testamenten, 150. 116 Vgl. KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1655–1657, 1175f. 117 PORTEOUS, Buch Daniel, 130. Vgl. auch TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 152: „The author of Daniel is important as an eyewitness of events (…).“ 113
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
75
Die Funktion des Trostes für die Erstleser des Textes machen historische Zuverlässigkeit und einen geringen zeitlichen Abstand zwischen den verarbeiteten Ereignissen und der Abfassung des Textes geradezu notwendig. Obwohl Dan 11 stilistisch weit von vergleichbaren historiographischen Schilderungen entfernt ist und durch die Form des Visionsberichts die fraglichen Ereignisse nur angedeutet und eher verschlüsselt als benannt werden, gilt der Text aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen seiner Entstehung und den verarbeiteten Ereignissen für die Rekonstruktion der genauen Ereignisse als Quelle ersten Ranges.118 Dazu erläutert Klaus Bringmann: „Der älteste historische Bericht ist Dan 11,28–31, geschrieben in der Zeit der Religionsverfolgung, noch bevor Judas Makkabaios das geschändete Heiligtum zurückgewann und neu weihte. Die fraglichen Verse sind Teil einer als Weissagung verfremdeten Darstellung der damaligen Zeitgeschichte. Diese ist, was die Folge der Ereignisse anbelangt, völlig zuverlässig, und sie mußte es sein, wenn die Prophezeiungen über das Ende des Verfolgerkönigs und den Anbruch des Reiches Gottes den Bedrängten, die unter der Verfolgung litten, glaubwürdig erscheinen sollten.“119
Als Text, der in geringem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen der Jahre 175 – 167 v.Chr. entstand120, gilt Dan 11 somit gerade im Kontext der übrigen, später entstandenen Darstellungen in den Makkabäerbüchern121 und bei Flavius Josephus122 als besonders authentische Quelle. Als solche wird er in den Rekonstruktionsversuchen der genannten Autoren auch verwendet, wobei der Umstand, dass die sprachliche Gestalt von Dan 11 alles andere als die eines historischen Berichtes ist, in unterschiedlichem Maß Eingang in die Argumentation findet. Und noch etwas anderes fällt auf: Als Quelle eines historischen Sachverhalts dient nicht das gesamte Kapitel Dan 11, sondern nur ein kleiner Ausschnitt. Bringmann fasst diesen mit vier Versen (Dan 11,28–31) sehr eng. Meist werden für die historische Rekonstruktion die Verse Dan 11,28–39 herangezogen. Die Auswahl dieser Verse kann dabei nur erfolgen, wenn 118
Diese Einschätzung ist freilich alles andere als unumstritten. Eine kritische Reflexion des Quellenwertes von Dan 11 erfolgt unter II. 3. 119 BRINGMANN, Hellenistische Reform, 30f. Vgl. auch die ähnliche Argumentation bei BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 160. 120 Da Dan 11 auf die Eingriffe in den Tempelkult im Jahr 167 v.Chr., nicht aber auf die Wiedereinweihung des Tempels im Jahr 164 v.Chr. anspielt, wird allgemein von der Abfassung des Textes zwischen 167 und 164 v.Chr. ausgegangen; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 402f. 121 ENGEL, Bücher der Makkabäer, datiert das Erste Makkabäerbuch in die Zeit um 100 v.Chr. (vgl. 319), das Zweite Makkabäerbuch in die Zeit kurz nach 124 v.Chr. (vgl. 327). Die Vorlage des Zweiten Makkabäerbuches, das heute verlorene Geschichtswerk des Jason von Kyrene, setzt Engel kurz nach der makkabäischen Revolte an (vgl. 327). 122 Die 20 Bücher der Antiquitates Judaicae stammen aus den Jahren 93–94 n.Chr; vgl. SCHRECKENBERG, Josephus Flavius, 1006f.
76
Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
das Ereignisraster der Makkabäerbücher und der Darstellung in Josephus’ Antiquitates an den Danieltext angelegt wird. Mit Hilfe der übrigen Quellen und insbesondere mit Hilfe von Hieronymus’ Danielkommentar123 wird der Text so auf seine historischen Inhalte hin decodiert. In dieser Lesart spiegeln sich in den Versen Dan 11,28–39 die Ägyptenfeldzüge Antiochos’ (11,28–30), die Entweihung des Tempels und die Aufhebung des täglichen Opferkultes (11,31) sowie Religionsverfolgungen (11,33–35). Dan 11,39 wird häufig als Beleg für den Ausbau der Zitadelle von Jerusalem durch die Seleukiden und die Stationierung heidnischer Truppen interpretiert. Der von Koch konstatierte dokumentarische Wert124 trifft im Fall von Dan 11 bei genauerer Betrachtung somit nicht auf das gesamte Kapitel zu, sondern vor allem auf die Verse 28–39, die sich auf die religionspolitischen Maßnahmen König Antiochos’ IV. in Jerusalem beziehen. Oder, um noch einmal auf Montgomery zurückzugreifen: „The writer gives the historian no new data until he reaches his own age (…).“125 Erst, wenn er sich auf die Ereignisse seiner eigenen Gegenwart bezieht, wird der Autor von Daniel zum jüdischen Polybios. 1.3.2 Rekonstruktionsfelder Für die Rekonstruktion der Ereignisse im Vorfeld der makkabäischen Revolution besitzt der Abschnitt Dan 11,28–35 somit eine zweifache Funktion. Er wird zum einen als Entscheidungshilfe in Sachverhalten herangezogen, die aufgrund der unterschiedlichen Darstellungen in den Makkabäerbüchern als fraglich gelten. Zum anderen bietet er im Vergleich mit den Makkabäerbüchern zusätzliche Details. Diese Beobachtungen lassen sich an mehreren Rekonstruktionsfeldern erläutern. Ein erstes Feld, in dem sich die historische Forschung von der Darstellung des Danielbuches Aufschluss erhofft, ist die Frage, wie oft und wann Antiochos IV. Jerusalem besucht hat. Während Josephus in seinen Antiquitates zwei Besuche erwähnt, ist in den Makkabäerbüchern jeweils nur von einem Besuch, verbunden mit einem Angriff auf den Tempel, die Rede. Tcherikover zieht in dieser Frage ausdrücklich Dan 11,28.30 als Beleg für einen zweifachen Besuch des Königs in Jerusalem heran. Er referiert in seiner Darstellung die These, Antiochos habe Jerusalem nur einmal, und zwar nach seinem ersten Äyptenfeldzug, besucht, nach seinem zweiten Feldzug jedoch den Mysarchen Apollonios dorthin geschickt. „We cannot accept this view“, so Tcherikover weiter, „since the Book of Daniel speaks
123 124 125
Vgl. MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 23f. Siehe oben Kapitel II. 1.2. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 421.
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
77
explicitly of two visits by Antiochus to Jerusalem.“126 Tcherikover gibt also der Darstellung von Dan 11 aufgrund der großen zeitlichen Nähe zu den fraglichen Ereignissen klar den Vorzug vor anderen Darstellungen. Auch ein alternativer Ansatz, das Problem der unterschiedlichen Angaben über die Besuche König Antiochos’ IV. in Jerusalem zu lösen, rekurriert auf die Darstellung in Dan 11. Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Angaben über die Besuche Antiochos’ in Jerusalem begegnen verschiedene Rekonstruktionsversuche, die die beiden nebeneinander existierenden Zeitrechnungen im Seleukidenreich berücksichtigen. Im Hintergrund steht hier eine These von Bickermann, der davon ausgeht, dass manche Zeitangaben in den Makkabäerbüchern dem makedonischen System folgten, welches mit dem Herbst des Jahres 312 v.Chr. einsetzte, andere dem babylonischen System, dessen Zeitrechnung erst im Frühling 311 begann.127 Falls nicht bekannt ist, welches der beiden Systeme vorliegt, können so um ein Jahr abweichende Datierungen zustande kommen. Andererseits können Ereignisse, die von unterschiedlichen Texten nominell auf das gleiche Jahr datiert werden, unter der Voraussetzung unterschiedlicher Datierungssysteme tatsächlich in zwei aufeinanderfolgenden Jahren stattgefunden haben. Bickermanns These löste eine andauernde Diskussion aus, in der auch die Darstellung von Dan 11 als Argument verwendet wird. So lehnt beispielsweise Bringmann die These von zwei unterschiedlichen Zeitrechnungen in den Makkabäerbüchern ab und plädiert dafür, sowohl für 1 Makk als auch für 2 Makk die Datierung nach der babylonische Herbstära 312 v.Chr. anzunehmen. Die aus Dan 11 zu entnehmende Ereignisfolge dient ihm dabei als stützendes Argument. „Sobald erkannt ist, daß das erste Makkabäerbuch ebenso wie das zweite nach der im Westteil des Seleukidenreiches offiziellen Herbstära von 312 v.Chr. datiert, lassen die überlieferten Zeitangaben und die Darstellung der Ereignisfolge in Dan 11,30–31 und Makk 1,1,29 ff. einen in sich geschlossenen, von Hochsommer bis zum Dezember des Jahres 168 v.Chr. reichenden Ereigniszusammenhang erkennen.“128
126
TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 186; siehe auch 473f. Auch MØRKHOLM, Antiochus IV. of Syria, 142f., geht von zwei Besuchen Antiochos’ in Jerusalem aus. 127 Vgl. BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 155f. 128 BRINGMANN, Hellenistische Reform, 34. Bringmann datiert die Eingriffe in den Tempelkult abweichend von der hier verwendeten Chronologie bereits in das Jahr 168 v.Chr; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 384. Die Frage der korrekten Datierung der Wiedereinweihung des Tempels sowie der Ereignisse im Vorfeld war mit Bringmanns Untersuchung keineswegs abgeschlossen. Einen Überblick über die Debatte bis Anfang der 90er Jahre bietet COLLINS, Daniel 1993, 61f., Anm. 492. Vgl. außerdem die Zusammenfassung der Positionen bei KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1654, 1174.
78
Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Auch in der Frage nach dem Anteil des Mysarchen Apollonios an den Ereignissen in Jerusalem, der nach den Darstellungen der Makkabäerbücher nicht klar zu bestimmen ist, zieht Tcherikover Dan 11 als Quelle für die historische Rekonstruktion heran. „II Maccabees is silent on Apollonius’ activities, whereas I Maccabees has preserved very important information on the events of 168.129 Daniel also adds valuable details of the same events. (…).“130
Tcherikover rekurriert in diesem Zusammenhang auf den – im Verständnis umstrittenen – Vers Dan 11,39131, um die Version des ersten Makkabäerbuches, das in 1,33–36 von der Ansiedlung eines e;qnoj a`martwlo,n – eines „sündigen Volkes“ – in der befestigten Davidsstadt auf Veranlassung des Apollonios berichtet, zu untermauern: „Daniel also (11.39) tells of strangers in the Akra.“132 Aus der Kombination der beiden – unklaren – Textstellen schließt Tcherikover, dass Apollonios, um die rebellische Stadt zu bestrafen, Militärsiedler nach Jerusalem holte: „Thus Jerusalem became ‚an abode of aliens‘“133. Als wichtige Quelle dient Dan 11 ferner bei der Rekonstruktion der Eingriffe in den Tempelkult im weiteren Verlauf der Ereignisse. So rekurriert Tcherikover auf Dan 11 als Beleg für die Entweihung des Tempels: „The Book of Daniel also mentions the profanation of the Temple (…).“134 Auch Keel bezieht sich in seiner Auseinandersetzung mit den „kultischen Massnahmen Antiochus’ IV.“ ausdrücklich auf Daniel als einzige zeitgenössische Quelle für die fraglichen Ereignisse.135 Keel setzt sich in diesem Zusammenhang vor allem mit der Frage nach der genauen Gestalt des „Gräuels“ auseinander, der sowohl in 1 Makk 1,54; 6,7 als auch in Dan 8,13; 9,27; 11,31; 12,11 erwähnt wird.136 Insbesondere in der Frage der Identität des ~mwvm #wqv argumentiert Keel dabei auf der Grundlage von
129 Ähnlich wie BRINGMANN, Hellenistische Reform, kommt auch Tcherikover zu einer Datierung der Entweihung des Tempels im Jahr 168 v.Chr. 130 TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 189. 131 Siehe unten Kapitel II. 2.6. 132 TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 189; vgl. auch MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 253–255. 133 TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 189. 134 TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 196. 135 Vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen, 220. 136 Als Möglichkeiten diskutiert Keel dabei einen Aufbau auf dem Opferalter, das Opfer von Schweinen auf diesem Altar, Masseben oder eine Statue des Zeus Olympios. Vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen, 230–233. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „[d]er Greuel, der Entsetzen hervorruft, (…) jenen Altaraufbau [meint], auf dem man 10 Tage nach seiner Errichtung und nachher wiederholt Schweine geopfert hat (…)“ (234).
1. Von der authentischen Prophetie zum vaticinium ex eventu
79
Daniel und gibt den dort überlieferten Angaben aufgrund ihres höheren Alters den Vorzug vor den Schilderungen der Makkabäerbücher.137 Auch in Hinblick auf die Motivation des Königs für sein Vorgehen gegen den Tempel138 gibt die Darstellung in Dan 11,28–35 wichtige Anhaltspunkte. Die Darstellung in 1 Makk geht in diesem Zusammenhang von einer umfassenden Hellenisierungsabsicht des Königs aus (vgl. 1 Makk 1,41–64), eine Auffassung, die viele moderne Rekonstruktionen prägt. Von dieser Annahme setzt sich aber unter anderem Klaus Koch mit Verweis auf Dan 11 ab: „Gegen eine bewußte Hellenisierungsabsicht spricht aber das D[aniel]b[uch] an der einzigen Stelle, wo es sich ausführlicher zur Religionspolitik des Königs äußert.“139 Als letztes Rekonstruktionsfeld, in dem Dan 11 eine wichtige Rolle als Quelle zukommt, ist schließlich die Frage nach den Gruppierungen im Jerusalemer Judentum am Vorabend des makkabäischen Aufstandes zu nennen und verbunden damit die Frage nach den Trägerkreisen apokalyptischer Literatur.140 Insbesondere 1 Makk berichtet von massiven Spaltungen innerhalb des Jerusalemer Judentums – zwischen Gruppen, die die Hellenisierungsabsichten des Königs mittrugen, und Gruppen, die sich im Sinne einer jüdischen Orthodoxie davon absetzten. 1 Makk erwähnt als eine der orthodoxen Gruppen die Hasidäer, welche sich treu an die Tora halten und sich dem Kampf der Makkabäer anschließen (vgl. 1 Makk 2,42; 7,13; 2 Makk 14,6). Allerdings wirft die Erwähnung der Hasidäer aufgrund der Kürze der Schilderungen mehr Fragen auf, als sie Aufschluss über die Zusammensetzung des Jerusalemer Judentums während des Makkabäeraufstandes zu geben imstande ist. Das Danielbuch wiederum erwähnt in Dan 11,33.35; 12,3 eine als ~ylykfm – „Einsichtige“ bezeichnete Gruppe, die unter dem letzten König leidet, in endgültiger Hinsicht jedoch bestehen wird. Die so beschriebene Gruppe ist nach allgemeinem Konsens der Danielforschung der Kreis, in dem Adressaten und Verfasser des Danielbuches bzw. – je nach Entstehungshypothese – der Endfassung des Danielbuches zu suchen sind.141 Aufgrund dieser Annahme wird daher versucht, aus dem Danielbuch bzw.
137 Vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen, 220–223; vgl. auch KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1686–1694, 1193–1197. 138 Einen guten Überblick über die verschiedenen Thesen bietet KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1675–1694, 1187–1197. 139 KOCH, Buch Daniel, 137; vgl. auch 134 (Dan 11,28–30); 135 (Dan 11,30); vgl. ferner 137–140; zum Verhältnis zu den Makkabäerbüchern vgl. 141–143. 140 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 320f. 141 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 66; HEMPEL, Maskil(im) and Rabbim, 1.
80
Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
seinen den ~ylykfm zugeschriebenen Teilen genauere Rückschlüsse über die Zusammensetzung und theologische Ausrichtung dieser Gruppe zu ziehen. Vor allem in der zeit- und religionsgeschichtlichen Forschung der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts finden sich einige Versuche, die beiden Gruppen der Hasidäer und der ~ylykfm miteinander zu identifizieren. Zu nennen sind hier insbesondere die Darstellungen von Plöger142, Hengel143 und Tcherikover. Letzterer skizziert die Verbindung zwischen den in 1 Makk erwähnten Hasidäern und der in Dan 11,33.35 als ~ylykfm bezeichneten Gruppe folgendermaßen: „The Book of Daniel also speaks of the important role of the Hasidim in the insurgent movement, calling them ‚the enlightened‘ or ‚enlighteners of the people‘, that is he sees in them the intellectual leaders, who ‚shell stumble by sword and flame, by captivity and by spoil many days‘ (11.33), meaning that they had suffered greatly during Antiochus’ persecution. Daniel witnesses to the aid that they recieved (evidently from the Hasmoneans) and to the multitudes of people that joined them; he therefore regards them rather than the Hasmoneans, who had not yet been able to reveal the full extent of their strength, as the true leaders of the nation. From all these passages it is to be concluded that the popular revolt had broken out on a large scale before the evil decrees of Antiochus, and that the acknowledged leaders of the people in revolt were the Hasidim.“144
Da die ~ylykfm ferner häufig als Verfasser des Danielbuches oder doch zumindest seiner Schlusskapitel gesehen werden, gilt das Danielbuch so gleichzeitig als authentisches Dokument einer jüdischen Gruppierung des 2. Jahrhunderts v.Chr., das in der Lage ist, Licht in die theologischen Verwerfungen jener Zeit zu bringen. Aufgrund der Rolle der ~ylykfm in Dan 11,33–35; 12,3 wird die zeitgeschichtliche Situation dieser Gruppe und gleichzeitig der Sitz im Leben des Danielbuches skizziert: „Sie haben die wahre Bedeutung der Lage Jerusalems erkannt; sie haben geglaubt, was im Danielbuch geweissagt ist, und man kann vermuten, daß hier die Entstehung der Gruppe beschrieben ist, der die Sammlung und der letzte Abschluß des Danielbuchs zu verdanken ist.“145
Umgekehrt erlaubt das Danielbuch Rückschlüsse auf das theologische Profil der ~ylykfm als Verfasserkreis und Erstadressaten des gesamten Buches. So fragt Plöger nach den Wurzeln der in den ~ylykfm greifbaren Gruppe in den Trägerkreisen der biblischen Literatur vorhergehender Jahrhunderte.146 Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass die Darstellung in 1 Makk 142
Vgl. PLÖGER, Theokratie, 19–36. Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 319–330. 144 TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 198; vgl. auch PLÖGER, Theokratie, 7: „Unser Interesse wird geweckt, wenn es zutreffend ist, im Danielbuch (…) ein Zeugnis des Geistes dieser Frommen zu sehen.“ 145 LEBRAM, Buch Daniel, 132. 146 Vgl. PLÖGER, Theokratie, 129–142. 143
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innerhalb der Opposition gegen Antiochos’ Politik in Jerusalem zwei Gruppierungen mit sehr unterschiedlichem theologisch-politischem Profil erkennen lässt – die Anhänger der Makkabäer und eine als Asidäer bezeichnete Gruppe, die sich dem makkabäischen Widerstand anschließt. Diese Gruppe setzt Plöger gleich mit dem Verfasserkreis des Danielbuches. Im Verlauf der Studie versucht er, die Herkunft dieser eschatologisch orientierten Gruppe und ihrer Theologie in der biblischen Literatur- und Religionsgeschichte nachzuvollziehen. Er versteht die in Hasidäern und ~ylykfm begegnende Gruppe als Vertreter einer an eschatologischen Fragen interessierten theologischen Bewegung innerhalb des biblischen Judentums, die sich kontinuierlich bis in die nachexilische Zeit zurückverfolgen lässt.147 Doch auch für die Rekonstruktion der Vorgeschichte des Judentums im ersten Jahrhundert vor und nach Christus werden das Danielbuch bzw. seine mutmaßlichen Verfasser herangezogen. Die Trägerkreise des Danielbuches werden, mit den in 1 Makk erwähnten Hasidäern identifiziert, auch als Vorstufe der bei Josephus und im Neuen Testament greifbaren Gruppen der Essener und der Pharisäer diskutiert.148 All diese Rekonstruktionsversuche werden in den letzten Jahrzehnten sehr kritisch beurteilt. So äußert beispielsweise Collins über den Versuch, Hasidäer und ~ylykfm miteinander zu identifizieren: „The only connection here is that the maskilim of Daniel, like the hasidim, seem to have constituted a distinct group and to have been active in some way in the resistance to Antiochus Epiphanes. We should expect, however, that the resistance embraced groups with different interests and perspectives. (…) It seems simpler to restrict the term hasidim to the group described in Maccabees and to recognize that a number of distinct Jewish groups were involved in the resistance in different ways.“149
Neuere Ansätze versuchen daher, das Profil der ~ylykfm auf der Basis der Danieltexte zu bestimmen. So betont Hempel den hohen Bildungsstand und das Elitebewusstsein der Gruppe einerseits,150 ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, die eigene Bildung weiterzuvermitteln, andererseits: „Maybe 147 Vgl. hierzu kritisch MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 94; COLLINS, Daniel 1993, 68. 148 Diese Fragen diskutiert anhand der beiden kanonischen Makkabäerbücher v.a. KAMPEN, Hasideans; vgl. auch HENGEL, Judentum und Hellenismus, 321; LACOQUE, The Socio-Spiritual Formative Milieu. 149 COLLINS, Daniel 1993, 69. Vgl. auch REDDITT, Daniel 11, 465f. Zu einer kritischen Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Hasidäern und dem Danielbuch kommt auch BEDENBENDER, Der Gott der Welt, 46: „Trotz (oder wegen?) der wenigen Informationen, die wir aus den Makkabäerbüchern über sie besitzen, wird ihnen häufig die endgültige Abfassung des Danielbuches zugeschrieben.“ 150 So auch REDDITT, Daniel 11, 470–474, der hinter den Maskilim eine Gruppe vermutet, die ehemals in naher Verbindung zu den seleukidischen Herrschern stand.
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we could describe the portrayal of the wise here as advocates of aspirational elitism.“151 Auch die Annahme mehrerer, theologisch und politisch klar voneinander abgrenzbarer gesellschaftlicher Gruppen, wie sie beispielsweise von Hengel oder Plöger vertreten worden war, hat in den letzten Jahren an Plausibilität verloren: „(…) the boundaries between those who are with us and those who are against us seem to be relatively fluid and low“152. Eine ähnliche Entwicklung ist auch bei der Frage nach den Trägerkreisen der Apokalyptik erkennbar. Hengel, der wie Plöger und Tcherikover von einem engen Zusammenhang der in 1 Makk erwähnten Hasidäer und der ~ylykfm des Danielbuches ausgeht, skizziert eine Bewegung der „Frommen“, die sich in Form einer Bußbewegung als relativ geschlossene Gruppe von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzt153. Als bedeutendste Leistung dieser „Frommen“ bezeichnet er die jüdische Apokalyptik, wie sie in Daniel und dem ersten Henochbuch zum Ausdruck kommt.154 Argumentationen wie die Hengels verlieren jedoch gerade in den letzten Jahren zunehmend an Plausibilität. Dies liegt zum einen an der größeren Vorsicht, mit der heute Rückschlüsse von biblischen Texten auf ihre historischen Hintergründe gezogen werden. Während Hengel sehr optimistisch verschiedene Informationen zur Literatur und zur Zeitgeschichte der Makkabäerzeit in einem einzigen Bild zusammenführt, das eine große Menge an Fragen zu beantworten imstande ist, zieht die zeitgeschichtliche Forschung heute bereits den Quellenwert der zur Verfügung stehenden Texte stärker in Zweifel. So schreibt Bedenbender gegen die Annahme, die in Dan 11 erwähnten ~ylykfm seien die Träger apokalyptischer Literatur und als solche eine genauer konturierbare gesellschaftliche Gruppe: „Doch über das eher vage Bild der Maskilim ist bei der schmalen Textbasis und unserer lückenhaften Kenntnis der entsprechenden Zeit kaum hinauszukommen.“155 Hinzu kommt, dass „die Apokalyptik“ als theologische Strömung mit einer soziologisch greifbaren Basis inzwischen überhaupt umstritten ist. So stellt beispielsweise Wolter fest, dass es bisher nicht gelungen ist, „die sog. ‚Apokalypsen‘ historisch oder soziologisch identifizierbaren Gruppen zuzuordnen oder sie auf einen gemeinsamen ‚Sitz im Leben‘ zurückzuführen. Die bisherige Arbeit hat vielmehr gezeigt, dass es im frühen Judentum und im frühen Christentum keine
151 HEMPEL, Maskil(im) and Rabbim, 139–141, hier 141; für weitere Literatur zur Frage der Maskilim vgl. bei HEMPEL 1, Anm. 1. 152 HEMPEL, Maskil(im) and Rabbim, 140. 153 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 319–330, hier 327. 154 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 330–381. 155 BEDENBENDER, Der Gott der Welt, 47.
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einzige Gruppe gibt, für die die Abfassung von Apokalypsen als typisch oder identitätsstiftend angesehen werden kann.“156
Trifft diese Einschätzung zu, ist auch die Frage nach der Rolle der Trägerkreise des Danielbuches in der „apokalyptischen Bewegung“ obsolet. Für die Verwendung von Dan 11 als Quelle bedeutet dies, dass insbesondere die Verse 28–35 für den Sitz im Leben des Danielbuches bzw. seiner Endfassung weiter von Belang sind.157 Die daraus gezogenen Schlüsse über die Verfasser und Erstadressaten des Buches werfen ein Schlaglicht auf die – wie allgemein angenommen – Jerusalemer Verhältnisse am Vorabend des makkabäischen Aufstandes aus der Perspektive einer der weisheitlichen Theologie nahestehenden Gruppe, deren Aufmerksamkeit den Eingriffen in den Tempelkult gilt.158 Wie breit der Lichtkegel ist, kann jedoch nur schwer beurteilt werden. So lässt sich auf der Basis des Danielbuches und insbesondere von Dan 11 weder die Spaltung des Jerusalemer Judentums in Hellenisierer und Traditionalisten untermauern noch ist gesagt, dass mit der in Daniel entwickelten Theologie eine feste, von anderen abgrenzbare Gruppe innerhalb des Judentums verbunden ist. 1.4 Dan 11 als verschlüsselte Geschichte In seiner Studie „Judentum und Hellenismus“ bezeichnet Hengel Dan 11 als „verschlüsselte Geschichtsdarstellung“159. Er charakterisiert damit nicht nur die als Quelle verwendbaren Verse, sondern das ganze Kapitel. Die Dechiffrierung des Textes, die notwendig ist, um ihn als zeitgeschichtliches Dokument160 interpretieren zu können, wird im historisch-kritischen Paradigma somit zur Leitperspektive im Umgang mit dem gesamten Text. Während also die vorkritischen Exegeten Dan 11 dechiffrierten, um daraus entweder die Botschaft des prophetischen Textes für die eigene Gegenwart und die – nahe oder ferne – Zukunft abzuleiten oder um die Korrektheit der Prophezeiung und damit die Qualität des Textes als Offenbarung unter Beweis zu stellen, lesen historisch-kritische Exegetinnen und 156
WOLTER, Apokalyptik als Redeform, 175. Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 122f. 158 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 69f. 159 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 184; vgl. 336, Anm. 492: „Dan 11,1– 30a gibt eine Geschichtsdarstellung ohne Fehler über die ptolemäisch-seleukidischen Beziehungen, lediglich unter Auslassung Antiochos’ I. 281–261 v.Chr.“; vgl. auch 337. Der Ausdruck „verschlüsselte Geschichtsdarstellung“ wird bei CLIFFORD, History and Myth, 23–26, mit Verweis auf Hengel in der englischen Übersetzung als „coded history“ aufgegriffen. Clifford selbst bezeichnet Dan 11,2 – 12,3 als „historical narrative“ (23). BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 85–88, wiederum verwendet den Begriff „coded history“ zusammen mit dem Begriff „supra-history“ mit Verweis auf Clifford. 160 Vgl. KOCH, Buch Daniel, 127. 157
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Exegeten Dan 11 als Geschichts-Darstellung, d.h. als Erzählung vergangener Ereignisse, ohne prophetischen und ohne offenbarungstheologischen Anspruch. 1.4.1 Die Quellen für die Geschichte des östlichen Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. Mit dem Fokus der Exegese verändern sich auch die Kontexte, in die die Texte des Danielbuches gestellt werden. Bezugspunkte einer vorrangig eschatologischen Lektüre von Dan 11 waren vor allem die eschatologischen neutestamentlichen Texte, allen voran die Antichrist-Texte. Die historische Lektüre stellt Dan 11 nun in einen neuen Kontext: den der historischen Quellen zur Geschichte des östlichen Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. Eine angemessene, den Kriterien moderner Wissenschaftlichkeit entsprechende Entschlüsselung von Dan 11 hat anhand dieser Quellen zu erfolgen: „Modern scholar’s ability to decipher most of the details of this vision is based on our knowledge of classical antiquity as provided by Jewish, Christian and Roman authors, including the writings of 1 and 2 Maccabees (2nd century BC), Polybius (200–118 BC), Diodorus Siculus (80–20 BC), Livy (64 BC–AD 17), Josephus (AD 37–100), Porphyry (c. AD 232–305), and Jerome (AD 340–420)“161.
Aufgabe einer wissenschaftlichen Textentschlüsselung ist es somit, einerseits die historischen Bezugspunkte von Dan 11 zu benennen und diese andererseits durch Quellenangaben zu belegen und die Quellensituation transparent zu machen. Mit der Entschlüsselung des als verschlüsselte Geschichte verstandenen Danieltextes geht also die Verortung dieses Textes im Geflecht der Quellen der Geschichte des Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert einher. 1.4.1.1 Polybios von Megalopolis Als Hauptquelle für die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte des Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. gelten aus heutiger Sicht die „Historiai“ des Polybios von Megalopolis. In nach Jahren und Orten systematisierter Darstellung entfaltet Polybios hier in 40 Büchern das Erstarken des Römischen Reiches zur vorherrschenden Macht im Mittelmeerraum innerhalb nur weniger Jahrzehnte.162 Das von Polybios in den Blick genommene Zeitfenster überschneidet sich weitgehend mit den für Dan 11 relevanten Ereignisräumen. Zwar setzt die Darstellung in Dan bereits mit persischen Königen (Dan 11,2) und der 161 162
PACE, Daniel, 319. Vgl. WALBANK, Polybios, 840–842.
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Regierungszeit von Alexander dem Großen (Dan 11,3–4) sowie seinen unmittelbaren Nachfolgern (Dan 11,5) ein und bezieht sich damit auf Ereignisse, die der Schilderung des Polybios vorausgehen. Allerdings behandelt der Danieltext diese Ereignisse in einem sehr groben Überblick und ohne Nennung von Details. Im Falle der persischen Könige handelt es sich ohnehin eher um eine typologische Aufzählung und weniger um historisch identifizierbare Regenten, so dass sich die Frage der historischen Bezugspunkte für Dan 11,2 erübrigt.163 Die historischen Ankerpunkte von Dan 11,3–5, die auf den Aufstieg Alexanders des Großen und das Zerbrechen des makedonischen Reiches nach seinem Tod anspielen, sind wiederum von solcher Allgemeinheit, dass zahlreiche antike Quellen als Belege zur Verfügung stehen .164 Erst ab Dan 11,6, wo die Hochzeit von Berenike und Antiochos II. Theos erwähnt wird, erfordert die historische Deutung von Dan 11 zunehmend die Absicherung durch andere antike Quellen. Insbesondere für den Schwerpunkt der Daniel-Darstellung, hier die Verse 21–39, welche detailliert die Regierungszeit von Antiochos IV. in den Blick nehmen, wäre die Absicherung der historischen Deutung des Textes durch weitere Quellen von großem Interesse. Als Zeitgenosse von Antiochos IV. mit einem völlig anderen Blickwinkel als die biblischen Darstellungen könnte Polybios hier wertvolle Ergänzungen beisteuern und ggf. auch die Funktion eines Korrektivs ausüben. Diese Rolle kann sein Werk jedoch aufgrund seiner fragmentarischen Überlieferung nicht einnehmen. Vollständig erhalten haben sich nur die Bände 1–5, die den Beginn der römisch-punischen Auseinandersetzung ab dem Jahr 264 v.Chr. behandeln.165 Die hinteren – d.h. die für Dan 11 relevanten – Bände sind nur in Fragmentensammlungen und Auszügen überliefert.166 Die so rekonstruierte Gestalt von Polybios’ Schilderungen stimmt an mehreren Stellen mit der über Hieronymus und die antike und mittelalterliche Tradition überlieferten historischen Interpretation von Dan 11 überein. Das keinem bestimmten Buch zuzuordnende Fragment 73 erwähnt die Hochzeit von Berenike und Antiochos II. und bestätigt damit die bei Hieronymus überlieferte historische Interpretation von Dan 11,6–7. Die Schilderungen des 4. Syrischen Krieges zwischen Antiochos III. Megas und Ptolemaios IV. Philopator in Buch 5 geben entscheidende Hinweise für die Interpretation von Dan 11,11–12 als Darstellung der Schlacht von Raphia. Der Beginn des 4. Syrischen Krieges, auf den Dan 11,13 anspielt, findet in 163
Siehe dazu Kapitel II. 2.1. Bezüglich der Quellen zur Biographie Alexanders bis zum Jahr 264, in dem Polybios’ Schilderung einsetzt, vgl. WALBANK, Hellenistische Welt, 12–16. 165 Vgl. WALBANK, Polybios, 841. 166 Vgl. WALBANK, Polybios, 844. 164
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Buch 15,20 seinen Niederschlag.167 Der weitere Verlauf des Krieges, einschließlich der entscheidenden, in Dan 11 nicht erwähnten Schlacht am Paneion, wird in Buch 16 erzählt.168 Eine Anspielung auf die Heirat zwischen Kleopatra und Ptolemaios V. ist in Buch 28,20 enthalten. Für die Biographie von Antiochos IV. finden sich wichtige Hinweise in den rekonstruierten Teilen der Bücher 26, 27, 28, 29 und 31. Die in Buch 26,1 überlieferte Bezeichnung des Herrschers als „Epimanes“ – in Abwandlung seines Beinamens „Epiphanes“ – wird häufig als Bestätigung der Hinweise auf den Charakter des Königs in Dan 11,21 gesehen. Die Bücher 27 und 28 liefern Informationen über den Verlauf des 6. Syrischen Krieges. So schildert Polybios in 27,19 die Kriegsvorbereitungen der Ptolemäer und berichtet davon, dass Antiochos als Reaktion darauf eine Gesandtschaft nach Rom schickt. Die vorhandenen Teile des 28. Buches enthalten verschiedene Hinweise auf einzelne Ereignisse im Verlauf des Krieges, die allerdings in keinem direkten Zusammenhang mit den im Danieltext erwähnten Ereignissen stehen.169 Im Gegensatz dazu trägt die in Buch 29,27 geschilderte Zurechtweisung Antiochos’ durch den römischen Gesandten Popilius Laenas direkt zum Verständnis von Dan 11,30 bei. Die deutlich wertende Darstellung bei Polybios lässt eine emotionale Reaktion des Antiochos auf die erfahrene Demütigung plausibel erscheinen. Darin liegt wohl einer der Gründe dafür, dass ein Teil der Daniel-Kommentatoren eine psychologische Motivation hinter dem Vorgehen des Seleukiden gegen Jerusalem vermutet und die Brutalität als direkte Reaktion auf die Erniedrigung durch die Römer versteht.170 Etwaige Schilderungen der Maßnahmen von Antiochos IV. gegen den Jerusalemer Tempel in den Jahren 167–165 v.Chr. haben sich bei Polybios nicht erhalten. Zwar erwähnt Flavius Josephus in seinem Werk „Contra Apionem“ einen Angriff Antiochos’ gegen den Tempel und verweist dabei unter anderem auch auf Polybios, zitiert ihn jedoch nicht direkt und gibt auch keine Fundstelle an.171 Der in 31,11 geschilderte Tod Antiochos’ IV. nach einer Tempelplünderung in der Elymais findet zwar meist Erwähnung in der Kommentarlitera167
Vgl. DRIVER, Book of Daniel, 171. Eine mit ausführlichen Quellenangaben versehene Darstellung des 4. und 5. Syrischen Krieges bietet GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 9–35. 169 Vgl. Pol. 28,19.22.23. Keine Erwähnung findet beispielsweise das Zusammentreffen zwischen Antiochos IV. und Ptolemaios VI. in Memphis, das viele Ausleger im Anschluss an Hieronymus hinter Dan 11,27 sehen. 170 Für eine Übersicht der Autoren, welche diese Auffassung vertreten, s.u. Kapitel II. 2.6, S. 124. 171 Vgl. STERN, Greek and Latin Authors 1976, 115. 168
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tur zu Dan 11, steht aber in keinem direkten Bezug zur Darstellung seines Endes im Danieltext. Die heute zugänglichen Teile von Polybios’ Geschichtswerk liefern somit eine Reihe von Belegen für die historische Lesart von Dan 11 – unabhängig von den antiken Danielkommentaren. Die überlieferten Fragmente reichen jedoch für sich genommen kaum aus, um eine sinnvolle Rekonstruktion der Geschichte des östlichen Mittelmeerraums im 3. und 2. Jahrhundert – und damit der Ereignisse im Hintergrund von Dan 11 – zu ermöglichen. So stellt Frank Walbank allgemein über die Rekonstruktion der Geschichte des Hellenismus fest: „Für eine zusammenhängende Darstellung der Ereignisse – die weder für alle Gebiete noch für alle Epochen des hellenistischen Zeitalters erbracht werden kann – muß der Historiker sich (…) späteren Autoren zuwenden (…).“172
Diese späteren Autoren, welche sich allerdings häufig auf Polybios beziehen, liefern erst das Gerüst, in das die überlieferten Teile aus Polybios’ Werk eingepasst werden müssen, um im Rahmen einer Geschichtsrekonstruktion sinnvoll als Belege interpretiert werden zu können. Als Autoren, die eine solche zusammenhängende Darstellung der Ereignisse bieten, nennt Walbank z.B. Diodorus Siculus, Livius, Appian, Justin und Flavius Josephus.173 Zu diesen literarischen Quellen kommen ferner Inschriften, die weitere Details für die Rekonstruktion des Gesamtbildes liefern.174 1.4.1.2 Hieronymus Auch ohne im Weiteren die Belege für die in Dan 11 erwähnten Ereignisse bei den antiken Historikern im Einzelnen aufzuführen, wird so deutlich, welche unverzichtbare Rolle die antiken Daniel-Kommentare auch für eine moderne, historische Interpretation des Danieltextes spielen: Die antiken Kommentare liefern für eine historische Lesart von Dan 11 weiterhin die entscheidenden Hinweise, da sie – wenn auch in der Annahme, es handle sich dabei um authentische Prophetie – für große Teile des Textes historische Bezugspunkte liefern, die aus heutiger Perspektive nur mühsam oder gar nicht zu rekonstruieren wären. Allen voran ist hier der bereits erwähnte Danielkommentar des Hieronymus zu nennen. Hieronymus zeigt sich in seiner Kommentierung im Vergleich mit anderen Kommentaren zu besonderer Detailtreue verpflichtet. Grund dafür ist die apologetische Ausrichtung seines Werkes, in dem er 172
WALBANK, Hellenistische Welt, 18. Zu den antiken Quellen der Biographie Antiochos’ IV. Epiphanes vgl. auch MEHL, Antiochos IV., 769. 174 Vgl. z.B. zu den für die Rekonstruktion der Biographie von Antiochos IV. relevanten Inschriften: MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 29–31. 173
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sich mit Porphyrios’ „Kata Christianōn“ – „Gegen die Christen“ auseinandersetzt. Der neuplatonische Philosoph Porphyrios aber ist in seiner Streitschrift ebenfalls zu hoher Detailtreue verpflichtet, da er mit Hilfe der historischen Bezüge nachweisen will, dass es sich bei Daniel – wie bei den übrigen Büchern der Christen – eben nicht um authentische, noch ausstehende Prophetie der Exilszeit handelt, sondern um eine „Fälschung“ aus der Zeit der makkabäischen Erhebung.175 Das gesamte Werk des Porphyrios ist heute bis auf wenige Fragmente verloren. Seine Erläuterungen zu Dan 11 sind ausschließlich im Kommentar des Hieronymus überliefert. Dieser grenzt sich jedoch nicht nur von Porphyrios’ Auslegung ab, sondern stimmt in weiten Teilen seiner Kommentierung den von Porphyrios postulierten Bezügen des Textes zu – wenngleich seine hermeneutischen Prämissen denen des Porphyrios diametral entgegengesetzt sind.176 Im Prolog zu seinem Kommentar betont Hieronymus, dass für das Verständnis des Danieltextes insbesondere im hinteren Teil des Buches ein intensives Studium historischer Werke notwendig sei. „And yet to understand the final portions of Daniel a detailed investigation of Greek history is neccesary, that is to say, such authorities as Sutorius, Callinicus, Diodorus, Hieronymus, Polybius, Posidonius, Claudius, Theon and Andronycus surnamed Alipius, historians whom Porphyry claims to have followed, Josephus also and those whom he cites, and especially our own historian, Livy, and Pompeius Trogus, and Justinus.“177
Viele dieser Schriften sind inzwischen vollkommen verloren oder doch nur fragmentarisch überliefert, so dass sie für eine Rekonstruktion der Geschichte des 3. und 2. Jahrhunderts v.Chr. aus heutiger Perspektive nicht zur Verfügung stehen.178 Hieronymus überliefert somit in seinem Kommen175
Vgl. Hieron. comm. in Dan., Prologus, 1–8. „The Prologue makes plain the fact that Jerome understands that Porphyry’s interpretation threatens the standing of Daniel as prophecy and indirectly threatens the Gospel which places Daniel amongst the prophets (Matt 24:15). (…) He believes that by demonstrating that Porphyry’s historical interpretation is not the only way to understand the book, the claim that Daniel is ex event will be defeated“; REABURN, St. Jerome and Porphyry Interpret the Book of Daniel, 4–5; vgl. auch RIST, Hieronymus als Apologet, 439–448. 177 Hieron. comm. in Dan., Prologus, 86–93; Übersetzung: ARCHER, Jerome’s Commentary on Daniel, 18. 178 Vgl. BRINGMANN, Hellenistische Reform, 30f.: „Die Zuverlässigkeit der zeitgeschichtlichen Teile des Buches Daniel hat bereits im dritten Jahrhundert n.Chr. Porphyrius unter Heranziehung seitdem verlorengegangener Werke der griechischen Historiographie nachgewiesen.“ Die Einschätzung Bringmanns scheint allerdings nicht ganz gerechtfertigt. Auch Hieronymus betont die Bedeutung historischer Darstellungen für das Verständnis des Danieltextes und bekräftigt seine Übereinstimmung mit Porphyrios in diesem Punkt. Aufgrund der fragmentarischen Überlieferung von Porphyrios’ Werk ist aus 176
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tar ein Kompendium antiken Geschichtswissens, das für die historische Interpretation von Dan 11 auch aus heutiger Perspektive unverzichtbar ist. In dieser Eigenschaft dient Hieronymus’ Danielkommentar sogar als eigenständige Quelle für Detailfragen der Syrischen Kriege. So ist Hieronymus beispielsweise der einzige antike Schriftsteller, der die Belagerung der phönizischen Stadt Sidon durch seleukidische Truppen im Nachgang zum 5. Syrischen Krieg überliefert. In seiner Kommentierung von Dan 11,15 beschreibt er, dass sich der ptolemäische General Skopas nach der Niederlage am Paneion im Jahr 200 v.Chr. nach Sidon zurückgezogen hatte, drei ptolemäische Generäle vergeblich versuchten, die eingeschlossenen Truppen zu befreien, Skopas sich schließlich aufgrund von Hunger den Truppen des Antiochos geschlagen geben musste und mit seinen Verbündeten abzog. Diese Episode findet nicht nur in modernen Danielkommentaren Erwähnung, sondern auch in historischen Abhandlungen, die sich mit der Geschichte der Syrischen Kriege befassen.179 Als Quellen nennt Gera hier Porphyrios und Livius. Livius allerdings berichtet lediglich von einem neuen Auftrag für den ptolemäischen General nach dessen Rückkehr nach Ägypten und erwähnt die Belagerung Sidons mit keiner Silbe.180 Das von Gera angegebene Fragment 46 des Porphyrios ist nichts anderes als die entsprechende Passage aus Hieronymus’ Kommentar. Hieronymus verweist in diesem Zusammenhang allerdings gerade nicht – wie an anderen Stellen seines Kommentars – auf Porphyrios, sondern stellt allgemein fest: „These things are related by both Greek and Roman historians.“181 Gera greift hier zurück auf die von Jacoby herausgegebene Quellensammlung „Die Fragmente der Griechischen Historiker“. Dieser verteidigt seine Entscheidung, die Passage, anders als vor ihm von Harnack182, zu den Fragmenten von Porphyrios’ Werk „Kata Christianōn“ zu zählen, ausdrücklich im Kommentar der Quellensammlung: „gegen [sic!] Harnack sind sie [die Fragmente] vermehrt um F[ragmente] 40–47, bei denen Hieronymus die quelle [sic!] nicht nennt, die aber schon wegen F[ragment] 49 gleichen urspungs [sic!] sein werden wie die ausdrücklich aus P[orphyrios] zitierten.“183
heutiger Perspektive außerdem er der Überlieferer der historischen Bezugspunkte. Die Bedeutung des Porphyrios als „Kronzeuge“ historisch-kritischer Hermeneutik scheint hier etwas überbewertet. 179 Vgl. HÖLBL, Geschichte des Ptolemäerreiches, 221–226; GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 24f. 180 Vgl. Liv. XXXI,43,4; XXXI,44,1. 181 Jerome’s Commentary on Daniel, 127; vgl. Hieron. comm. in Dan. III, XI,15, 910. 182 Vgl. VON HARNACK, in: PORPHYRIUS, Gegen die Christen. 183 Kommentar zu FGrH II B, 260. F 33–61.
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Bei der als Fragment 49 bezeichneten Passage handelt es sich um den Kommentar zu Dan 11,21, wo Hieronymus betont, dass bis zu dieser Stelle im Text keinerlei Differenzen zwischen ihm und Porphyrios in der Frage der Bezugsereignisse bestünden. Jacoby versteht diese Bemerkung so, dass auch die Schilderungen, die Hieronymus nicht ausdrücklich von Porphyrios zitiert, mit dessen Werk übereinstimmen und folglich als Fragmente von „Kata Christianōn“ gelten können. Diese Identifizierung ist m.E. jedoch fraglich, da Hieronymus, wie bereits zitiert, zu Beginn seines Kommentars von Dan 11 eine ganze Reihe von Historikern aufzählt, die für das richtige Verständnis des Bibeltextes zu konsultieren seien. Vor diesem Hintergrund ist also keineswegs sicher, dass ein Detail des 5. Syrischen Krieges wie die Belagerung Sidons auch von Porphyrios geschildert wurde. Auch wenn also nicht mehr zu klären ist, welche antiken Historiker die Belagerung Sidons beschrieben haben, so bleibt doch festzuhalten, dass aus heutiger Sicht Hieronymus der einzige Schriftsteller ist, der uns diese Information überliefert hat. Sein Danielkommentar leistet daher nicht nur für die Entschlüsselung von Dan 11 unschätzbare Dienste, er nimmt darüber hinaus für die moderne historische Forschung – ob zugestanden oder nicht – die Funktion einer Quelle ein.184 Der Danielkommentar des Hieronymus überliefert jedoch nicht nur Informationen, die für die historische Dechiffrierung von Dan 11 relevant sind. Für eine heutige historische Lektüre von Dan 11 ist er auch deshalb so bedeutsam, weil er eine zusammenhängende und passgenau auf den Danieltext zugeschnittene Darstellung der relevanten historischen Ereignisse liefert. Neben der nur fragmentarischen Überlieferung weist die gesamte Gruppe der griechisch-römischen Historiker nämlich noch ein weiteres Problem auf: Die meisten Darstellungen griechischer und römischer Historiker, die im Allgemeinen zur Rekonstruktion der politischen Vorgänge unter seleukidischer oder ptolemäischer Herrschaft im Mittelmeerraum herangezogen werden, legen keinen besonderen Schwerpunkt auf Entwicklungen und Ereignisse in Judäa. Nachrichten über die Ereignisse in Judäa, so z.B. über die Religionspolitik Antiochos’ IV., werden bei den antiken Historikern daher nicht in Form einer zusammenhängenden Darstellung überliefert, sondern finden sich – wenn überhaupt – als Notizen verstreut über mehrere Bücher eines zusammenhängenden Werkes.185 Für die Ein184
Vgl. WELLMANN, Antiochos III der Grosse, 2464, der Hieronymus tatsächlich als Quelle für die Belagerung von Sidon benennt. Im Gegensatz zu Wellmanns Artikel von 1894 in PRE enthalten die Artikel von MEHL, Antiochos III. Megas, und von AMELING, Ptolemaios IV. Philopator, im Neuen Pauly viel knappere Quellenangaben. Die Belagerung Sidons wird nicht einmal erwähnt. 185 Eine Ausnahme stellt die „Römische Geschichte“ des Historikers Appian (90 – 160 n.Chr.) dar. Dieser ordnet seine Schilderungen über die Geschichte Roms in der re-
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ordnung und Auswertung der vorhandenen Notizen als Belege der historischen Bezugspunkte des Danieltextes ist ein Gerüst, wie es Hieronymus bietet, ausgesprochen hilfreich, wenn nicht sogar unabdingbar. Mit der Kommentierung des Danieltextes in Form einer zusammenhängenden Ereignisfolge entwickelt Hieronymus außerdem das Modell der Kommentierung, das noch in der Kommentarliteratur der Gegenwart befolgt wird. Wenn also Montgomery in seinem Danielkommentar konstatiert: „Thanks to the coaching of Jerome by the pagan philosopher Porphyry correct historical tradition of exegesis has obtained in the Western Church, both, Latin and Protestant; and the same tradition has been at home in the Greek and Oriental Churches“186, so ist dem nur teilweise zuzustimmen. Porphyrios provoziert Hieronymus zwar, sich mit seiner „makkabäischen“ Lesart von Dan 11 auseinanderzusetzen. Hieronymus’ Auffassung, der Danieltext sei – seine prophetische Qualität vorausgesetzt – zu entschlüsseln und dies könne nur mit Hilfe von griechischen und römischen Historikern erfolgen, ist jedoch keine Reaktion auf Porphyrios, sondern bleibt völlig im Rahmen der üblichen dualen Interpretationspraxis. Auch ab V. 20 lehnt Hieronymus Porphyrios’ historische Deutung des Textes meist nicht einfach als falsch ab, sondern sieht sie als nicht weitreichend genug an. Die historischen Bezüge auf Antiochos IV. kann er im Rahmen seiner dualen Interpretation mit seiner eigenen, eschatologischen Lesart vereinbaren. Die von Hieronymus überlieferte historische Interpretation des Porphyrios ist allerdings hilfreich, um den Danieltext als Quelle verwenden zu können. Montgomerys Einschätzung gilt daher am ehesten für den Abschnitt Dan 11,20–39. Porphyrios kommt somit streng genommen weder der Rolle eines „Coaches“ noch die eines Historikers zu, der – besser als dies der Kirchenvater könnte – die historischen Bezugspunkte des Danieltextes überliefert. Aussagen über das richtige Verständnis des Danieltextes wie die von Rappaport, „Indeed only disbelievers like the pagan Porphyrius understood its contents properly. For believers ist was a vision – not history“187, zeugen vor diesem Hintergrund von einer ungerechtfertigten Überschätzung
publikanischen Zeit nach geographischen Gesichtspunkten. Im „Syrischen Buch“ schildert er im ersten Teil ausführlich die Auseinandersetzungen zwischen dem Römischen Reich und Antiochos III. und geht auch kurz auf seine Nachfolger Seleukos IV., Antiochos IV. und Antiochos V. bis hin zu Antiochos X. und der Eroberung Coele-Syriens durch Pompeius ein. Ein zweiter Teil schildert die Vorgeschichte, angefangen mit Alexander und der Entstehung der seleukidischen Dynastie in den Diadochenkämpfen. 186 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 422. 187 RAPPAPORT, Apocalyptic Vision, 224.
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des Porphyrios bei gleichzeitiger Abwertung der Väterexegese als naiv und unkritisch. Dass Hieronymus’ Interesse an den historischen Details auch unabhängig von Porphyrios vorhanden ist, beweist der Umstand, dass Porphyrios’ Name im Kommentar zu Dan 11 erst im Zusammenhang mit V. 20 fällt und Hieronymus hier ausdrücklich betont, bis zu dieser Stelle in der Frage der historischen Bezüge mit Porphyrios einer Meinung zu sein. In Hinblick auf die zitierte Einschätzung von Montgomery ist also zu entgegnen: Dass die korrekten historischen Bezugspunkte seit der Antike bis in die Gegenwart nie in Vergessenheit gerieten, ist dem Umstand zu verdanken, dass der Kommentar des Hieronymus in der Kirche überliefert und rezipiert wurde und nicht das Schicksal seines Gegners Porphyrios teilte, dessen – christentumskritisches – Werk im Laufe der Jahrhunderte verloren ging bzw. vernichtet wurde. 1.4.1.3 Dan 11 im Kontext der antiken Quellen Eine historische Lektüre von Dan 11 verweist somit in weiten Teilen auf ein Netzwerk griechisch-römischer Historiker ohne Bezug zur biblischen Tradition. Die historischen Ankerpunkte des Danieltextes werden mit Hilfe der antiken historischen Darstellungen belegt, wobei insbesondere der Kommentar des Hieronymus die entscheidenden Hinweise liefert. Auf diese Weise ergibt sich eine plausible historische Lektüre von Dan 11. Die Funktion einer Quelle, die gegenüber den anderen Quellen neue Informationen enthält, kommt Dan 11 dabei jedoch nicht zu. Der Danieltext wird vielmehr auf der Grundlage von Hieronymus von den antiken Quellen her gelesen und mit ihnen in Beziehung gesetzt. Anders ist die Situation in Bezug auf die Verse Dan 11,28–35. Die besondere Funktion dieses Abschnitts für die Rekonstruktion der Ereignisse im Vorfeld der makkabäischen Erhebung im Zusammenspiel mit den Makkabäerbüchern sowie Flavius Josephus wurde bereits oben erläutert. Die historische Interpretation von Dan 11,28–35 unterscheidet sich somit in zweifacher Hinsicht von der Interpretation der vorhergehenden Verse: Zum einen erfolgt die Interpretation hier im Kontext von Quellen, die wie die Darstellung von Dan 11 selbst zur biblischen Tradition gehören – wie die Makkabäerbücher – bzw. einen spezifisch judäischen Blickwinkel einnehmen – wie die Werke des Flavius Josephus. Während also die historischen Bezugspunkte der übrigen Verse von Dan 11 durch Autoren Bestätigung finden, die von einem von der biblischen Tradition oder spezifisch judäischen Interessen unabhängigen Standpunkt aus auf die Geschehnisse blicken, ist dies gerade im Zusammenhang mit den Ereignissen am Jerusalemer Tempel unter Antiochos IV. nicht der Fall.
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Zum anderen aber hat Daniel 11,28–39 selbst die Funktion einer Quelle für die im Hintergrund des Textes stehenden Ereignisse inne. Dieser Umstand aber birgt die Gefahr einer zirkulären Argumentation: Die Ereignisse, die aus dem Danieltext rekonstruiert bzw. mit seiner Hilfe belegt werden, dienen wiederum als Basis der historischen Interpretation des Danieltextes. Für die historische Lesart von Dan 11 bedeutet dies zunächst, dass die Bestätigung der durch Hieronymus überlieferten historischen Referenzpunkte mit Hilfe zweier sehr unterschiedlicher Gruppen antiker Quellen erfolgt. Für Dan 11,2b–27 stehen als Vergleichsgrößen antike Quellen ohne biblischen Bezug zur Verfügung, die somit die Funktion eines Korrektivs gegenüber einer biblisch gefärbten Darstellungsweise einnehmen können. Dies ist für Dan 11,28–35 nicht der Fall. Hier bleibt die historische Lesart auf Quellen verwiesen, die wie Daniel den Blickwinkel der biblischen Tradition bzw. der judäischen Politik innehaben. Die Verse Dan 11,28–35 werden aber nicht nur mit Hilfe anderer antiker Quellen interpretiert – vielmehr wird der Danieltext für die Rekonstruktion der religionspolitischen Maßnahmen Antiochos’ IV. auch selbst als Quelle verwendet. Auf diese Weise wirkt sich die Interpretation von Dan 11,28–35 als Quelle, die Aufschluss über historische Fakten gibt, gleichzeitig auf die historische Entschlüsselung des Danieltextes aus: Der Text wird decodiert mit Hilfe einer Rekonstruktion der Ereignisgeschichte, die aus demselben Text gewonnen wurde. Die Geschichtsvision Dan 11 ist somit auf zweifache Weise in das Geflecht der übrigen antiken Quellen zur Geschichte des östlichen Mittelmeerraums, insbesondere Judäas, im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr. eingebunden: Der Text erschließt sich mit Hilfe von historischen Darstellungen. Die Andeutungen des Danieltextes können nur mit Hilfe von Geschichtsdarstellungen, die die Ereignisse im Hintergrund des Danieltextes überliefern, entschlüsselt werden. In Teilen aber hat die Danieldarstellung selbst die Funktion einer Quelle inne, so dass die Ereignisgeschichte, mit deren Hilfe der Text gedeutet wird, gleichzeitig aus dem Danieltext rekonstruiert wird. 1.4.2 Eckpunkte einer Hermeneutik des Berichts Bei kaum einem anderen biblischen Text ähneln sich moderne historischkritische und vorkritische Auslegungen so sehr wie im Fall von Dan 11. Die historischen Bezugspunkte, die die modernen Auslegungen entschlüsseln, sind, insbesondere aufgrund von Hieronymus’ Danielkommentar, während der gesamten Auslegungsgeschichte bekannt. Das Neue des historisch-kritischen Zugangs zu Dan 11 besteht also nicht in der korrekten Aufdeckung der historischen Bezugspunkte. Es liegt auch nicht in der Streichung der eschatologischen Bedeutung der Visionen. Der Bezug der Andeutungen auf Ereignisse der Makkabäerzeit ohne jegli-
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chen eschatologisch-christologischen Sinngehalt ist keine Erkenntnis der modernen Bibelwissenschaft, sondern liegt bereits in der von Calvin und Grotius vertretenen präteristischen Auslegung des Danieltextes vor. Die historisch-kritische Exegese begreift die Geschichtsvision Dan 11 als verschlüsselte Darstellung der Vergangenheit zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes. Sie unterscheidet sich damit in zweierlei Hinsicht von den vorkritischen Zugängen zur Schlussvision des Danielbuches: Während das differenzierende sowie das duale Interpretationsmodell die Vision als Deutung der eigenen Gegenwart bzw. Vorhersage der noch ausstehenden Zukunft begreifen, liegen die Bezugspunkte in der historisch-kritischen Lesart ausschließlich in der Zeit vor der Entstehung des Textes. Vom präteristischen Modell unterscheidet sich der historisch-kritische Zugang in seiner Einschätzung der Entstehungsumstände des Textes. Nach historisch-kritischem Verständnis stammt der Text nicht von einem Seher des 6. Jahrhunderts, sondern von einem oder mehreren unbekannten Verfassern des 2. Jahrhunderts. Während also im präteristischen Modell der Charakter von Dan 11 als inspirierte Schrift nach wie vor an den Umständen seiner Entstehung festgemacht werden kann, ist ein solches supranaturalistisches Offenbarungskonzept im historisch-kritischen Paradigma nicht mehr vertretbar. Anstelle der theologischen Wertschätzung des Textes tritt vielmehr die Wertschätzung als historisches Dokument. In Abgrenzung von der vorkritischen Hermeneutik der Prophetie folgt die historisch-kritische Lesart von Dan 11 somit einer Hermeneutik des Berichts188. Diese kann anhand der folgenden Eckpunkte beschrieben werden: 1. Dan 11 ist ein Text, der historische Informationen in verschlüsselter Form enthält. 2. Der adäquate Umgang mit dem Text besteht darin, seine historischen Bezugspunkte aufzudecken. 3. Die entschlüsselten Bezugspunkte werden mit Hilfe anderer zeitgenössischer Dokumente auf ihre historische Richtigkeit überprüft. 4. Die Frage nach der Pragmatik des Textes wird ebenfalls in historischer Hinsicht gestellt. 5. Die Bedeutung des Textes liegt in erster Linie in seinen historischen Bezugspunkten. 188
Die Bezeichnung „Bericht“ für Dan 11 findet sich u.a. bei LEBRAM, Buch Daniel, 111, der Dan 11 als „unverschlüsselte[n] Geschichtsbericht, der nur durch die Anonymität der Personen leicht verhüllt wird“ beschreibt; vgl. auch 130; BRINGMANN, Hellenistische Reform, 30f. Laut SEOW, Daniel, 6, enthält das Danielbuch präzise historische Informationen über die ptolemäische und seleukidische Periode. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 86, bescheinigt dem Text „chronikartigen Charakter“. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 336, Anm. 492, wiederum sieht in Dan 11,1–30a [sic!] eine „Geschichtsdarstellung ohne Fehler über die ptolemäisch-seleukidischen Beziehungen, lediglich unter Auslassung Antiochos’ I. 281–261 v.Chr.“.
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Der in den Punkten 1.–3. umrissene Umgang mit dem Text steht in Wechselwirkung mit der Verwendung von Dan 11 als Quelle. Diese setzt die Decodierung von Dan 11, insbesondere der Verse 28–35, voraus. Um als Quelle von Nutzen zu sein, muss Dan 11 zwangsläufig im Sinne eines Berichts gelesen werden: Die angedeuteten Ereignisse müssen freigelegt, der als verklausulierte Zukunftsansage gestaltete Text in einen als Klartext formulierten Bericht übersetzt werden. Den Visionsbericht Dan 11 mit dieser Hermeneutik zu lesen, erweist sich in historischer Hinsicht als sinnvoll. In Ermangelung einer alternativen oder auch einer zusätzlichen theologischen Deutungslogik, die das unhaltbar gewordene Verständnis des Textes als Prophetie aufbrechen oder weiterführen könnte, legt sich somit die Hermeneutik des Berichts über das gesamte Kapitel – wobei die Lesart der antiken Kommentare unter veränderten Vorzeichen aufgenommen wird. Die Bezugspunkte des Textes, die im Rahmen prophetischer Hermeneutik überliefert werden, werden beibehalten, nicht aber das damit verbundene theologische Sinnsystem. Das heißt: Die Fixierung auf die historischen Bezüge, die im prophetischen Paradigma sinnvoll ist, wird unhinterfragt übernommen – ohne nach einem alternativen theologischen Sinnsystem zu suchen. Für die Bestimmung der Pragmatik von Dan 11 ist der Charakter des Textes als vaticinium ex eventu entscheidend. Für die Erstadressaten gilt der Text als Vision eines exilischen Sehers, die sich in weiten Teilen bereits erfüllt hat und deshalb als zuverlässig anzusehen ist. Mit der Erfüllung der noch nicht eingetroffenen Ankündigungen der Vision ist daher fest zu rechnen. In der Situation existenzieller Bedrängnis, in der sich die ursprünglichen Leserinnen und Leser aufgrund der religionspolitischen Maßnahmen von Antiochos IV. befinden, bewirkt diese Aussicht Trost und Zuversicht. Die Interpretation von Dan 11 als vaticinium ex eventu muss somit den Erstadressaten des Textes eine Hermeneutik der Prophetie zuschreiben, diese aber gleichzeitig als falsch entlarven. Die Pragmatik, die der Text in seinem historischen Kontext besitzt, ist somit in keiner Weise auf heutige Leserinnen und Leser übertragbar. Dan 11 ist in der Deutungslogik des Berichts zwar dem irrationalen Zugriff eines supranaturalistischen Offenbarungsverständnisses entzogen. Damit geht aber ein Verlust der Pragmatik einher. Die Pragmatik des Textes kann historisch entschlüsselt und entlarvt werden, für heutige Leserinnen und Leser bleibt der Text jedoch stumm. Die hermeneutische Brisanz der historisch-kritischen Wende wird deutlich, wenn man neben den historisch-kritischen Auslegungen von Dan 11 auch deren „Schattenseite“, nämlich die fundamentalistischen Lektüren des 19. und 20. Jahrhunderts, berücksichtigt. Im vorkritischen Paradigma war es möglich, den Offenbarungscharakter des biblischen Textes mit der Ent-
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schlüsselung seiner historischen Bezüge sinnvoll zu vereinbaren. Als Offenbarung wurde dem Bibeltext ein großer Sinnreichtum zugestanden. So konnte der Text mit Hilfe der typologischen Lesart sowohl Ereignisse aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. als auch der jeweiligen Gegenwart vorhersagen – oder vielmehr noch deuten. Diese Mehrdimensionalität des Textes geht in den fundamentalistischen Lesarten des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso verloren wie in der historisch-kritischen Lesart. Eine Spaltung der Hermeneutik ist die Folge.189
2. Die historischen Bezugspunkte von Dan 11 2. Die historischen Bezugspunkte von Dan 11
Die eindimensional historisch-rekonstruktive Lektüre von Dan 11 stößt in mehrfacher Hinsicht an Grenzen. Die damit verbundene hermeneutische Problematik wurde bereits angedeutet. Doch auch in historischer und textlicher Hinsicht führt der verengte Blickwinkel zu Aporien. Um diese in einem weiteren Schritt zeigen zu können, ist es zunächst notwendig, einen Überblick über die historischen Bezugspunkte von Dan 11 und damit über die aktuelle Auslegung des Textes zu geben. Dieser 2. Abschnitt stellt den Danieltext in den Kontext historischer Ereignisse des 3. und 2. Jahrhunderts v.Chr. Er folgt dem Textverlauf, orientiert sich aber in seinem Aufbau an historisch-politischen Kategorien und nicht an der textinternen Gliederung. Neben der Darstellung der historischen Zusammenhänge, auf die der Danieltext anspielt, wird dabei auch erläutert, wie Text und Geschichte in der historisch-kritischen Lesart miteinander in Beziehung gesetzt werden. 2.1 Persische Könige Die Zukunftsansage Dan 11 setzt mit der Gegenwart des Protagonisten Daniel ein: Bereits seit Beginn der Perikope in 10,1 weiß der Leser, dass nach den babylonischen Königen Nebukadnezzar (vgl. Dan 1,1; 2,1; 3,1.31; 4,1) und Belschazzar (5,1; 7,1; 8,1) sowie dem medischen König Dareios190 (6,1; 9,1) nun mit Kyros ein persischer König die Macht übernommen hat. 189
Vgl. dazu MEADOWCROFT, History and Eschatology, 244f. Zur Diskussion um König Dareios im Danielbuch vgl. KOCH, Dareios, 125f. Koch führt die Figur des Dareios im Danielbuch in historischer Hinsicht auf einen persischen Statthalter und Vizekönig namens Gubaru zurück (126–130). Die historisch falsche Zwischenschaltung einer medischen Herrschaft zwischen das babylonische und das persische Reich erklärt er als Anpassung eines bestehenden Vier-Reiche-Schemas aus assyrischem, medischem, persischem und griechischem Reich an die biblischen Verhältnisse, für die das Babylonische Exil und damit die babylonische Herrschaft von besonderer Bedeutung sind (130–137). 190
2. Die historischen Bezugspunkte von Dan 11
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Der große zeitliche Abstand von der Gegenwart Daniels zum Zeitalter der Diadochenkriege in Syro-Palästina, dem eigentlichen Fokus der Darstellung, wird in 11,2b mit einer äußerst gerafften Übersicht über das persische Zeitalter überbrückt, die in die Auseinandersetzung zwischen „Paras“ und „Jawan“191, d.h. Griechenland, mündet. Die Identität der vier persischen Könige in V. 2 wird in der Auslegung von Dan 11 breit diskutiert, wobei sich zwei Grundtypen der Argumentation abgrenzen lassen. Zum einen wird versucht, die drei plus eins Könige als repräsentative Auswahl aus den dreizehn bekannten persischen Königen192 zwischen der Eroberung Babylons und dem Ende des Perserreiches plausibel zu machen. Häufig wird z.B. die Ansicht vertreten, die Zahl vier ergebe sich aus dem Umstand, dass in der hebräischen Bibel vier Namen persischer Könige (wenn auch mit mehr als vier Trägern) erwähnt werden: Kyros, Darius, Xerxes, Artaxerxes (Esra 1,1; 4,5–7; 7,1; Neh 2,1; 12,22).193 Alternativ wird, im Anschluss an Hieronymus, die Beschreibung des vierten Königs als besonders reich und aggressiv gegen die Griechen auf Xerxes I. bezogen. Unter den vier Königen verstand man dementsprechend Xerxes I. und seine drei unmittelbaren Vorgänger Kambyses, Smerdis und Darius I.194 Diese These ist möglich, da der vierte persische König aufgrund der Formulierung des Textes nicht zwingend als unmittelbarer Gegner des Alexander aufgefasst werden muss und die gesamte Darstellung Dan 11,2b–45 sich keineswegs als lückenlos erweist. Einen lückenlosen Übergang von V. 2 zu V. 3 ermöglicht demgegenüber die Interpretation des vierten Königs als Darius III. Kodomannus, dem Gegner Alexanders des Großen.195 Diese Interpretation referiert auch Hieronymus. Allerdings weist er sie zurück mit der Begründung, Darius III. sei nicht der vierte, sondern der vierzehnte König nach Kyros gewesen.196 Hieronymus’ Beobachtung 191
Vgl. Dan 8,21; 10,20. Vgl. SEOW, Daniel, 169. 193 Vgl. SEOW, Daniel, 169. 194 Vgl. SEOW, Daniel, 169; COLLINS, Daniel 1993, 377. 195 Für diese Interpretation plädiert z.B. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 422f. Er geht dabei von der Voraussetzung aus, die Vierzahl der Könige komme durch die vier Namen persischer Könige in der Bibel zustande. Im Rahmen dieser These komme jedoch Dareios I. (522 – 486; vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 294) nicht in Frage, da dieser im Danielbuch nach Dan 6,1 als medischer König betrachtet werde, während Dareios III. in Neh 12,22 ausdrücklich mit dem Epitheton „der Perser“ belegt sei. Meines Erachtens spricht für diese These lediglich die Möglichkeit des lückenlosen Übergangs zwischen Dan 11,2 und 11,3. Weder ist der Bezug des medischen Dareios aus Dan 6,1 auf einen der historischen Perserkönige gesichert (vgl. KOCH, Dareios, 125f.) noch die Interpretation des in Neh 12,22 als „Dareios der Perser“ bezeichneten Königs als Dareios III. Vgl. auch. COLLINS, Daniel 1993, 377. 196 Vgl. Hieron. comm. in Dan. III, XI,2b, 844–848. 192
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macht deutlich, dass die historische Zuordnung der persischen Könige allein ihre Vierzahl nicht hinreichend erklärt: Zwischen Kyros und Alexander, der in 11,3 erwähnt wird, gab es mehr als vier Perserkönige.197 Neben dem Versuch der historischen Identifikation unter der Annahme, es handle sich um eine repräsentative Auswahl von Königen, wird daher die Auffassung vertreten, dass hier nicht vier konkrete Könige gemeint sind, sondern mit dem Zahlenschema drei plus eins ein Gestaltungsprinzip weisheitlicher Zahlensprüche übernommen wird. Seow versteht die Funktion des Zahlenschemas als Gedächtnisstütze im Rahmen einer vereinfachten „oral history“, die vier Könige als Vertreter der persischen Epoche bewahrte. In diesem Sinne repräsentieren die drei plus eins Könige in Dan 11,2b die persische Epoche, ohne dass dafür historische Details ihrer Identität von Belang sind.198 2.2 Alexander der Große Im Gegensatz zu Dan 11,2b sind die historischen Referenzpunkte der beiden nachfolgenden Verse Dan 11,3–4 unumstritten. Sie werden ausnahmslos auf die Regierung Alexanders des Großen199 (336 – 323), seinen frühen Tod und die Aufteilung seines Reiches unter die Diadochen bezogen.200 In der Kommentarliteratur finden sich verschiedene Versuche, die Aufteilung des Alexanderreiches in die vier Windrichtungen, von der in V. 4 die Rede ist, auf die konkreten Entwicklungen der Diadochenstaaten zu beziehen.201 Interpretationsspielraum ergibt sich hier aus dem Umstand, dass sich im Verlauf der Diadochenkriege zwischen 332 und 276 v.Chr. nicht vier, sondern nur drei stabile Staatswesen herausbildeten: Makedonien unter der Herrschaft der Antigoniden, Syrien unter den Seleukiden und Ägypten unter den Ptolemäern. Seow beispielsweise erläutert den Vers folgendermaßen: „Philip III, a half brother of Alexander, was assigned nominal rule over Macedonia and the west, Antigonus took Asia Minor and most of Syria in the north, Seleucus retained Babylon in the east, and Ptolemy chose Egypt in the south.“202
197 Hieron. comm. in Dan. III, XI,2b, 848–853, geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die auf Xerxes I. folgenden neun Könige übersprungen worden seien. Der den Propheten Daniel inspirierende Geist sei nicht um eine lückenlose Darstellung der Geschichte bemüht gewesen, sondern um eine Zusammenstellung der wichtigsten Punkte. 198 Vgl. SEOW, Daniel, 169f. 199 Auch Dan 8,5–8.21 nimmt Bezug auf Alexander den Großen. 200 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 377; SEOW, Daniel, 170. 201 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 426. 202 SEOW, Daniel, 170.
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Eine ähnliche Aufteilung mit etwas anderen Bezeichnungen bietet Montgomery, der die vier Regionen mit „Macedonia, Thrace and Asia Minor, Asia-Syria, Egypt“ bezeichnet. Montgomery übernimmt hier stillschweigend die Deutung des Hieronymus.203 Diese ist jedoch insofern problematisch, als die vier genannten Herrscher nie gleichzeitig über die ihnen zugewiesenen Herrschaftsgebiete regierten: Als Seleukos Herrscher von Syrien und Asien war204, war Philipp III. Arridhaios bereits seit mehreren Jahren tot205. Seow modifiziert daher offenbar Hieronymus’ Deutung und setzt zu einem früheren Zeitpunkt an. Die von ihm beschriebene Machtverteilung ist jedoch nur eine Momentaufnahme: Während Philipp bald ganz von der Bühne verschwand, erweiterte sich die Macht des Seleukos, der zunächst tatsächlich „nur“ Satrap von Babylonien gewesen war, beträchtlich, so dass er schließlich über Syrien und weite Teile Asiens bis an die indische Grenze herrschte.206 Ferner gilt es zu bedenken, dass Hieronymus, anders als die modernen Ausleger, den Gegenspieler des südlichen Königs in V. 5 nicht mit Seleukos I. Nikator, sondern mit Ptolemaios II. Philadelphos identifiziert. In der Interpretation von Montgomery und Seow ergeben die Erwähnung von Seleukos in V. 4 und die Geschichte seines Aufstiegs in V. 5 eine eigenartige Doppelung, die dem sonstigen Duktus von Dan 11 überhaupt nicht entspricht: Die Darstellung ist zwar von Lücken, nicht aber von Doppelungen geprägt. Dieses Problem besteht für Hieronymus nicht. Goldingay geht zwar ebenfalls von einer Verteilung des Alexanderreiches in vier Regionen aus, will die Aufspaltung „in die vier Winde des Himmels“ jedoch in Anlehnung an Dan 8,8 als bildliche Wendung verstanden wissen: „[T]he division did not correspond at all closely to the points of the compass.“207 Dieser Auffassung ist m.E. zuzustimmen, da die Verteilung in die vier Himmelsrichtungen weder den exakten Richtungen noch der Zahl der Alexandernachfolgestaaten entspricht. 2.3 Ptolemäer und Seleukiden Im Folgenden verengt sich der Fokus der Darstellung auf die Auseinandersetzung zwischen der Ptolemäerdynastie in Ägypten und der Seleukiden-
203
Vgl. Hieron. comm. in Dan. III, XI,4b, 863–875. Seit 312 bereits Herrscher von Babylonien, führte Seleukos I. seit 306/305 v.Chr. den Königstitel; vgl. MEHL, Seleukos I. Nikator, 361. 205 Philipp III. Arridhaios, seit 323 v.Chr. offiziell Nachfolger seines Halbbruders Alexander, wurde im Jahr 317 v.Chr. ermordet; vgl. BADIAN, Philippos III. Arrhidaios, 2294. 206 Zum Werdegang des Seleukos I. Nikator vgl. MEHL, Seleukos I. Nikator, 361. 207 GOLDINGAY, Daniel 1989, 295. 204
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dynastie in Syrien.208 Im Anschluss an die Erwähnung der Diadochen in V. 4 und aufgrund des Kontextes erscheint es plausibel, V. 5 auf die Regierung von Ptolemaios I. Soter (323 – 282) zu beziehen, den Begründer der ptolemäischen Dynastie. Die zweite Figur, ein „Fürst“ oder „Anführer“ im Dienst des ptolemäischen Königs, dessen Macht die des Königs bald überflügelt, wird im Allgemeinen mit Seleukos I. Nikator (323 – 281), dem Gründer der seleukidischen Dynastie, identifiziert.209 Die Bezeichnung als „Fürst“ des südlichen Königs wird mit der Konstellation zwischen Ptolemaios und Seleukos in der Auseinandersetzung mit dem Diadochen Antigonos begründet. Seit 320 Satrap von Babylonien210, war Seleukos den Expansionsplänen des Antigonos Richtung Osten im Weg und flüchtete im Jahr 315 zu Ptolemaios nach Ägypten211. Als ptolemäischer Anführer kann er insofern bezeichnet werden, als er Ptolemaios in der Auseinandersetzung mit Antigonos’ Sohn Demetrios bei Gaza im Jahr 312 unterstützte212. Seow erläutert: „With Ptolemy’s help Seleucus was able to regain Babylon in 312, following Ptolemy’s victory over Antigonos in the battle of Gaza. Hence, Seleucus may rightly be regarded as ‚one of his [Ptolemy’s] officers‘ (v. 5)“213.
Im weiteren Verlauf der Ereignisse kehrte Seleukos nach Babylonien zurück, eroberte zwischen 311 und 303/2 weitere Gebiete im Osten und erhielt nach dem Sieg über Antigonos in der Schlacht von Ipsos 301 Teile von Kappadokien und Nordsyrien.214 Damit beherrschte er von allen Diadochen das größte Gebiet, ein Umstand, mit dem die Bemerkung über die Größe der Herrschaft des Kontrahenten in 11,5 erklärt wird.215 Die Einführung des Seleukos als ptolemäischer „Anführer“ wird häufig als Indiz dafür betrachtet, dass der Geschichtsdarstellung Dan 11 eine 208 Vgl. z.B. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 427, der in seinem Kommentar die Ausführungen zu Dan 11,5–20 zusammenfasst und unter die Überschrift „The conflicts of the Lagidae and Seleucidae prior to Antiochus Epiphanes“ stellt. Siehe auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 295–296; PLÖGER, Buch Daniel, 158. 209 So z.B. SEOW, Daniel, 171; COLLINS, Daniel 1993, 378; GOLDINGAY, Daniel 1989, 296; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 427. Anders Hieron. comm. in Dan. III, XI,5b, 904–907, der in der zweiten Figur den Nachfolger Ptolemaios’ I. Lagos, Ptolemaios II. Philadelphos, sieht. 210 Vgl. MEHL, Seleukos I. Nikator, 6. 211 Vgl. MEHL, Seleukos I. Nikator, 361, mit Verweis auf Diod. 19,12f.; 15,55. 212 „Seleucus had fled to Egypt and become one of Ptolemy’s generals.“ GOLDINGAY, Daniel 1989, 296. 213 SEOW, Daniel, 171. 214 Vgl. MEHL, Seleukos I. Nikator, 361. 215 Vgl. z.B. SEOW, Daniel, 171, der von einer komparativischen Übersetzung der Wendung wtlvmm br lvmm ausgeht.
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Quelle mit proägyptischen Tendenzen zugrunde liegt. Dies macht deutlich, dass eine solche Darstellung des Seleukos keineswegs selbstverständlich ist. Die Identifikation des Aufsteigers aus ptolemäischen Diensten mit dem Gründer der Seleukidendynastie ist zwar möglich, leuchtet aber nicht zwangsläufig ein. Sie ist vor allem durch die Fortsetzung des Textes bedingt: In Dan 11,6 ist ein Konflikt vorausgesetzt, der durch eine politische Heirat gelöst wird. Da die beiden Kontrahenten zunächst nur pronominal eingeführt werden, liegt es nahe, sie auf die Gegenspieler des vorangehenden Verses zu beziehen. Im Verlauf von V. 6 wird jedoch der zweite König als „König des Nordens“ benannt. Dies lässt es plausibel erscheinen, dass auch der zweite König in V. 5 ein König des Nordens sein muss. Obwohl im Text nicht ausdrücklich von einer Ehe die Rede ist, wird V. 6 in der Kommentarliteratur ausnahmslos auf die politische Heirat zwischen der Tochter Ptolemaios’ II. Philadelphos, Berenike, und Antiochos II., dem Enkel des Dynastiegründers Seleukos, bezogen.216 Die beschriebene Konstellation der Personen – die Verbindung der Gegner, die Rolle der Tochter, das Ziel, Frieden zu schaffen ‒ und das letztendliche Scheitern des ganzen Plans stimmen gut mit dem überein, was aus der antiken Literatur über die Ehe zwischen Berenike und Antiochos bekannt ist.217 Aus der Kombination der verschiedenen Quellen ergibt sich, dass ein Jahr nach Beendigung des 2. Syrischen Krieges (260 – 253 v.Chr.) zwischen Ptolemaios II. und Antiochos II. letzterer eine Ehe mit Berenike, der Tochter seines Kontrahenten, schloss. Seine erste Frau namens Laodike hatte er im Jahr zuvor verstoßen. Die Schlussfolgerung, die Ehe zwischen Antiochos II. und Berenike habe auf die Stabilisierung des inzwischen bereits durch zwei Kriege218 zerrütteten Verhältnisses zwischen Ptolemäern und Seleukiden abgezielt („um Frieden zu schaffen“), liegt daher nahe. Statt der erhofften Stabilisierung entbrannte jedoch nach dem Tod des Antiochos ein weiterer Krieg zwischen Ptolemäern und Seleukiden: Um die Ansprüche seiner Schwester Berenike und ihres Sohnes mit Antiochos gegen die Nachkommen der Laodike durchzusetzen, begann Berenikes Bruder Ptolemaios III., der inzwischen Ptolemaios II. auf dem ägyptischen
216 Zur Ehe zwischen Berenike und Antiochos II. Theos vgl. WELLMANN, Antiochos, 2456f.; MEHL, Antiochus II. Theos, 767f.; SCHMITT – NOLLÉ, Seleukiden(reich), 966; SCHMITT, Syrische Kriege, 2059f. 217 Vgl. insbesondere Pol. fr. 73; App. Syr. 65,344–346. Wichtige Einzelheiten über die Ehe der Berenike sind auch aus dem Danielkommentar des Hieronymus zu Dan 11,6 bekannt, der z.B. den Beinamen der ägyptischen Prinzessin, „phernophores“, überliefert und mit ihrer reichen Mitgift begründet; vgl. Hieron. comm. in Dan. III, XI,6, 941f. 218 Im sog. 1. Syrischen Krieg (274 – 271 v.Chr.) bekämpften sich Ptolemaios II. und Antiochos I.; vgl. SCHMITT, Syrische Kriege, 2059f.
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Thron gefolgt war, im Jahr 246 den 3. Syrischen Krieg. Berenike und ihr Sohn wurden auf Betreiben der Laodike ermordet.219 Historisch gelesen springt der Text somit in der Darstellung des südlichen Königshauses zur nächsten Generation, ohne dies kenntlich zu machen: War in V. 5 mit „König des Südens“ noch Ptolemaios I. gemeint, so bezieht sich der gleiche Ausdruck in V. 6 auf dessen Sohn, Ptolemaios II. Der Gegenbegriff „König des Nordens“ begegnet hier zum ersten Mal. Vorausgesetzt, dass sich die Formulierung „einer von seinen Fürsten“ in V. 5 auf Seleukos I. bezieht, wird in der Darstellung des nördlichen Königshauses sogar eine Generation übersprungen. Dass diese Ehe scheiterte und allen Beteiligten Verderben brachte, entspricht den Formulierungen in V. 6c–e: Am Ende verlieren die beteiligten Personen ihre Kraft, sie bestehen nicht, sie werden hingegeben. Der Text verfolgt in V. 7 deutlich erkennbar die Linie der südlichen Königsfamilie weiter: Protagonist des Verses ist ein Verwandter der ägyptischen Prinzessin aus V. 6. Als historischer Ankerpunkt gilt allgemein die Regentschaft Ptolemaios III. Euergetes, des Bruders der Berenike, der im Jahr 246 v.Chr. die Nachfolge Ptolemaios’ II. Philadelphos antrat.220 Im Gegensatz zum deutlich markierten Herrschaftswechsel im Süden („an seiner Stelle“, V. 7a) muss der Machtwechsel im Norden zwischen Berenikes Ehemann Antiochos II. Theos und dem Sohn aus seiner Ehe mit der verstoßenen Laodike, Seleukos II. Kallinikos, aus anderen Quellen ergänzt werden.221 Die Qualifikation des Herrschers aus der südlichen Dynastie als Nachfolger einer Person, auf die nur pronominal Bezug genommen wird, verweist zurück auf die partizipial umschriebenen Akteure aus V. 6. Die Aussage wnk (…) dm[w – „und er steht auf (…) an seiner Stelle“ in V. 7a bezieht sich offenbar auf die in V. 6e als hqzxmw hdlyh – „der sie zeugte und der sie stärkte“ bezeichnete Person oder, falls sich die beiden Partizipien auf zwei unterschiedliche Personen beziehen, auf eine davon. Dazu Seow: „The text is confusing at this point, however, for it seems to imply that this ‚branch‘ arose to take the place of the child or the murdered husband, which makes little sense; Ptolemy III did not rise to take the place of the ruler in the Seleucid court instead of the husband of Berenice or their son.“222 219 Die Rekonstruktion dieser Ereignisfolge findet in der Darstellung des Hieronymus einen wesentlichen Anhaltspunkt; vgl. BEVAN, House of Seleucus, 180. Zum Schicksal der Berenike vgl. weiter PRIDIK, Berenike; BEYER-ROTTHOFF, Außenpolitik Ptolemaios III., 17–35. 220 Vgl. AMELING, Ptolemaios III. Euergetes I., 537. 221 Informationen zum seleukidischen Regierungswechsel im Jahr 246 und den damit verbundenen Intrigen der Laodike finden sich u.a. bei Polyaenos VIII 50 und App. Syr. 65. Auch Hieronymus’ Danielkommentar spielt für die Rekonstruktion eine Rolle; vgl. STÄHELIN, Seleukos, 1235f. 222 SEOW, Daniel, 172.
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Seow interpretiert hdlyh als „ihr Kind“ und hqzxm als „ihr Ehemann“, woraus sich in der Fortsetzung des Textes Schwierigkeiten ergeben. Werden beide Partizipien auf Ptolemaios II., Vater der Berenike sowie Vater und Vorgänger des Ptolemaios III. Euergetes, bezogen, ergeben sich diese Schwierigkeiten nicht. Dennoch bleibt Seow an dieser Stelle bei seiner historischen Plausibilitäten geschuldeten Übersetzung und nimmt die geschilderten Aporien in Kauf. Um die Ansprüche seiner Schwester Berenike und ihres Sohnes Antiochos auf den seleukidischen Thron zu unterstützen, führte Ptolemaios 246 seine Truppen gegen das Seleukidenreich und begann damit den 3. Syrischen Krieg,223 in dessen Verlauf er eine Reihe erfolgreicher Militäraktionen gegen Seleukia, die Hauptstadt der Seleukiden, ausführte224 und bis nach Babylonien vordrang.225 Dem entspricht das in V. 7 geschilderte Vorgehen des Königs des Südens gegen die „Festung des Königs des Nordens“.226 Die reiche Beute an „Götterbilder[n] (…), Gefäßen ihrer Kostbarkeiten, Gold und Silber“, die der König des Südens laut V. 8 mit nach „Mizrajim“227 nimmt, kann mit dem erfolgreichen Beutezug Ptolemaios’ III. in Verbindung gebracht werden, der nach seinen Militärschlägen im seleukidischen Herrschaftsgebiet auf der Rückreise nach Ägypten seleukidische Besitztümer plünderte. Auf diese Weise gelangten unter anderem zwei Jahrhunderte vorher von Kambyses geraubte ägyptische Götterbilder wieder in ihre ursprüngliche Heimat.228 Diese bei Hieronymus überlieferte Hintergrundinformation wird durch das sog. Kanopus-Dekret bestätigt.229 Mit V. 9 befindet sich die Darstellung bereits in der nächsten Generation der seleukidischen Dynastie. Dem hier geschilderten Vordringen des nördlichen Königs in das südliche Territorium und dem folgenden Rückzug des 223
Vgl. SCHMITT, Syrische Kriege, 1059. Vgl. SEOW, Daniel, 172. 225 Vgl. AMELING, Ptolemaios III. Euergetes I., 537. 226 Seow bezieht den Begriff „Festung“ sehr eng auf die Hauptstadt Seleukia; m.E. ist auch eine weitere Interpretation im Sinne der militärischen Erfolge Ptolemaios’ auf seleukidischem Gebiet allgemein möglich; vgl. SEOW, Daniel, 172. 227 Die Verwendung des Begriffs „Mizrajim“ entspricht nicht dem Duktus von Dan 11; der Text vermeidet sonst konkrete Namen von Personen oder Orten. Vgl. hierzu COLLINS, Daniel 1993, 378; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 431. 228 Vgl. SEOW, Daniel, 172. 229 Dabei handelt es sich um den Beschluss einer Priestersynode aus dem ptolemäischen Ägypten aus dem Jahr 238 v.Chr., der unter den Verdiensten Ptolemaios’ III. die Rückholung der heiligen Bilder hervorhebt, die von den Persern außer Landes gebracht worden waren; vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 431; TSCHUDIN, Kanopus, 1485. 224
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Eindringlings entspricht der gescheiterte Ägypten-Feldzug von Seleukos II. Kallinikos, dem Nachfolger von Antiochos II. Theos, in den Jahren 242 bis 240 v.Chr.230 2.4 Antiochos III. Megas Der folgende Vers Dan 11,10 widmet sich den Nachfolgern des in V. 9 genannten Königs. Zunächst nimmt der Text mehrere Söhne in den Blick, dann verengt sich der Fokus auf einen Sohn. Das historische Pendant liegt hier in der Regierungszeit von Seleukos III. Keraunos und seinem Bruder und Nachfolger Antiochos III. Megas. Der Numeruswechsel der Verbformen im hebräischen Text ist für viele Kommentatoren Anlass zu Verbesserungen und Korrekturen am Text.231 Dies ist aus zwei Gründen nicht nötig: Zum einen kann der Numeruswechsel mit den historischen Ereignissen in der Nachfolge von Seleukos II. in Einklang gebracht werden: Sein Sohn Seleukos III. Keraunos wurde nach kurzer Regierungszeit ermordet, wodurch dessen Bruder Antiochos III. Megas an die Macht kam. Von mehreren Söhnen blieb also einer übrig, auf den sich entsprechend auch der Fokus des Verses richtet. Zum anderen ist die Bezugnahme auf eine Person ausschließlich mit dem Verbum eines Satzes eine stilistische Eigenheit von Dan 11,2b–45232. Die historische Identifikation ist dann nur aus dem Kontext heraus möglich. Die in den Versen Dan 11,10–13 beschriebenen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen nördlichem und südlichem König haben ihr historisches Pendant in den Ereignissen des 4. Syrischen Krieges (221 und 219 – 217 v.Chr.)233. Die bildhafte, von Jes 8,8 beeinflusste Wendung @jvw rb[w – „und er wird fluten und überschwemmen“ (V. 10d.e) wird dabei teilweise auf Ereignisse der Jahre 219 – 218 v.Chr. bezogen. Antiochos III. begann in dieser Zeit eine Offensive gegen Ptolemaios IV. Philopator, in deren Verlauf er Seleukia, den Hafen von Antiochia, eroberte und Tyros
230
Vgl. SEOW, Daniel, 172; AMELING, Ptolemaios III. Euergetes I., 537. So gleichen z.B. BEVAN, Daniel, 78, und HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 258, die Verbformen wpsaw wrgty an den von Ketib vorgeschlagenen Singular wnb – „sein Sohn“ an. Weitere Befürworter dieser Textänderung finden sich bei MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 436. 232 Vgl. auch MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 436: „But the mystifying change of subj. is characteristic of the whole passage (…).“ 233 Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 9–23; SCHMITT, Syrische Kriege, 1059. 231
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und Ptolemais unter seine Herrschaft brachte.234 Die in V. 10g erwähnte Festung wird teilweise mit Gaza identifiziert.235 Die folgenden Verse Dan 11,11–12 beschreiben eine kriegerische Reaktion des Königs des Südens, in dessen Verlauf er die Oberhand über eine vom König des Nordens aufgestellte „Menge“ (V. 11e) erlangt, diese jedoch offenbar nicht für sich nutzen kann, sondern sich letztendlich nicht als stark erweist (V. 12d).236 Diese Episode wird von den Auslegern einhellig auf die Schlacht bei Raphia im Jahr 217 v.Chr. bezogen, in der sich Ptolemaios IV. gegen Antiochos III. durchsetzen konnte. „Der Friedensschluß vom Oktober 217 brachte P.[tolemaios] zwar die meisten alten Gebiete zurück, entsprach aber nicht dem mil.[itärischen] Erfolg (…). Trotz oder vielleicht wegen dieses Erfolges gab es Aufstände im Nil-Delta (…). Er [Ptolemaios] versuchte, in Griechenland eine vermittelnde Rolle zu spielen, konnte aber Verluste an Antiochos in Kleinasien nicht mehr verhindern.“237
Die V. 12d abschließende Wendung „aber nicht wird er sich als stark erweisen“ wird folglich auf Ptolemaios’ Unfähigkeit bezogen, den Vorteil für die Ptolemäer zu nutzen. In den Jahren bis zu seinem Tod 204 v.Chr. rieb er sich in innenpolitischen Schwierigkeiten auf.238 Der in V. 13 beschriebene erneute Feldzug des Königs des Nordens besitzt eine historische Parallele in den Ereignissen zu Beginn des 5. Syrischen Krieges im Jahr 202 v.Chr. Nach dem Tod von Ptolemaios IV. Philopator ergriff Antiochos III. erneut die Initiative gegen Ägypten, das nun unter der Herrschaft des erst fünfjährigen Ptolemaios V. Epiphanes stand.239 „Das Ende von V. 13 scheint sich auf den ungeheuren Troß zu beziehen, den Antiochus mitführte, und würde dann auch den frischen Nachschub an Elefanten, die er sich auf seinen Feldzügen im Osten aus Indien besorgt hatte, miteinbeziehen.“240
234 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 378; GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 9f.; SEOW, Daniel, 172f.; SCHMITT, Syrische Kriege, 1059. 235 „Die letzten Worte des 10. Verses scheinen sich auf den Vormarsch des Antiochos im Frühjahr 217 v.Chr. nach Gaza oder Raphia zu beziehen, der jedoch wahrscheinlich Pelusium nicht erreichte. Das mit ‚Feste‘ übersetzte Wort mā‛uzzô in V. 10 könnte mit Lacoque und Delcor in der Nachfolge von Driver und Montgomery als eine Anspielung auf die Stadt Gaza verstanden werden; Plöger zieht es dagegen vor, in ihm einen Hinweis auf die Rückeroberung des lange in ptolemäischer Hand gewesenen Seleukia in Pieria, der Hafenstadt Antiochiens, zu sehen“; PORTEOUS, Buch Daniel, 135. 236 Zu den schwierigen Bezügen dieser Passage vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 224–227. 237 AMELING, Ptolemaios IV. Philopator, 537f. 238 Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 20f. 239 Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 21–23; SEOW, Daniel, 173. 240 PORTEOUS, Buch Daniel, 136. Ähnlich MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 438.
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Der Danieltext bietet jedoch keine Hinweise auf den zuvor erfolgten großen Asienfeldzug des Antiochos in den Jahren 212 – 205 v.Chr., der ihm den Namen „der Große“ einbrachte. Auch die für den weiteren Verlauf der ptolemäisch-seleukidischen Beziehungen in Coele-Syrien und damit in Judäa so entscheidende Schlacht am Paneion im Jahr 200 v.Chr., durch die die Vorherrschaft der Seleukiden in der Region endgültig entschieden wurde241, hinterlässt im Text keine Spuren.242 Die Kommentarliteratur erwähnt diese Ereignisse und vermittelt so ein vollständiges Bild des geschichtlichen Verlaufs, ohne jedoch die Leerstellen im Danieltext deutlich zu machen.243 Ereignisse aus dem Verlauf des 5. Syrischen Krieges prägen den Text weiter bis einschließlich V. 17. In V. 14a spiegeln sich nach Ansicht der meisten Ausleger die ständigen außen- und innenpolitischen Probleme der Ptolemäer.244 Eine entsprechende Deutung der „vielen“ in V. 14a bietet bereits Hieronymus in seinem Danielkommentar an. Er sieht darin zum einen die Provinzen, die erst vor kurzem zum ptolemäischen Herrschaftsbereich gekommen waren und sich gegen die neue Oberherrschaft erhoben, zum anderen eine dem ptolemäischen Reich feindliche Koalition zwischen Antiochos III. und Philipp von Makedonien.245 Als weitere Erklärung wird ein Hinweis bei Polybios herangezogen, der von Erhebungen einheimischer Ägypter in der Folge des ptolemäischen Sieges gegen Antiochos III. berichtet.246 Bezüglich V. 14b äußert Montgomery: „The historical ref.[erence] is most obscure“247, eine Auffassung, die viele Ausleger teilen und sich deshalb einer näheren historischen Deutung enthalten.248 Grundlage aller Versuche, eine konkrete Erklärung des Danieltextes zu finden, ist zum einen ein Bericht in den Antiquitates des Josephus über Ereignisse in Jerusalem während der Eroberung Palästinas im 5. Syrischen Krieg249, zum anderen Hieronymus’ Danielkommentar, der von einer proptolemäischen und einer proseleukidischen Partei in Jerusalem während dieser Zeit berichtet.250 241
Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 24f.; SCHMITT, Syrische Kriege,
1059. 242
Die gegenteilige Behauptung von PORTEOUS, Buch Daniel, 131, trifft nicht zu. Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 379; PORTEOUS, Buch Daniel, 135. 244 Vgl. SEOW, Daniel, 173. 245 Vgl. Hieron. comm. in Dan. III, XI,13,14a, 1028–1049; vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 379. GOLDINGAY, Daniel 1989, 297, interpretiert in dieselbe Richtung. 246 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 297, mit Verweis auf Pol. 5,107. 247 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 438; vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 379. 248 Vgl. PLÖGER, Buch Daniel, 160; PORTEOUS, Buch Daniel, 136. 249 Vgl. Jos., Ant 12,3,129–153. 250 Vgl. Hieron. comm. in Dan. III, XI,14b, 1050–1054; vgl. allerdings GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 20–35. Gera setzt sich mit der Darstellung des Hieronymus 243
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Lange diskutiert wurde in diesem Zusammenhang die von Schlatter251 vorgeschlagene Identifikation der $m[ ycrp ynb – wörtlich „Söhne des Zerreißens deines Volkes“ – mit den proseleukidischen Tobiaden.252 Montgomery sieht diesen Vorschlag eher skeptisch und argumentiert aufgrund von Parallelen in der zwischentestamentlichen Literatur für ein religionspolitisches Verständnis des Ausdrucks. Das „Zerreißen“ der ~ycrp ynb beziehe sich demnach auf die Verletzung des Bundes.253 Unter den weiteren Deutungsversuchen lassen sich zwei Hauptlinien unterscheiden: Entweder wird die Motivation für die Erhebung der ~ycrp ynb politischen oder in religiösen Gründen gesehen. In Anlehnung an den Bericht bei Josephus könnten mit den ~ycrp ynb Anhänger einer proseleukidischen Politik unter den palästinischen Juden gemeint sein, „who entertained visions of liberation from Ptolemaic rule when Antiochus annexed Judea in 201 B.C.E.“254. Das Scheitern dieser Gruppe, wie es am Schluss des Verses angedeutet wird, führt Seow auf die Rückeroberung Jerusalems durch den ptolemäischen General Skopas zurück.255 Die Annahme einer religiösen Motivation hinter der angedeuteten Erhebung macht sich hingegen meist an der Wendung !wzx dym[hl – „um eine Vision aufzustellen“ fest. „Taubler suggested“, so Collins, „that they were a messianic party, who tried to avail of international confusion to establish Jewish independence.“256 Auch Lebram geht von einer eschatologisch motivierten Gruppe aus und spekuliert zugleich über die Gründe für die negative Darstellung dieser Gruppe: „Es wird sich angesichts der Situation um eine Gruppe handeln, die die Kriegsereignisse als ein Zeichen für den Anbruch des Gottesreichs ansah und ihn durch gewalttätige Aktionen verwirklichen oder beschleunigen wollte. Ob diese Leute in dem König von Ägypten den Gottesfeind der Endzeit gesehen haben, ist nicht feststellbar. Aber für den Verfasser ist eine solche Rebellion Ungehorsam gegen die göttliche Ordnung, ein Ausbruch der Ungeduld, die nicht auf die von Gott festgesetzte Zeit des Endes warten kann. Tatsäch-
auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass es zwar eine pro-seleukidische Tendenz in Jerusalem gegeben habe, einander bekämpfende Parteien jedoch nicht nachweisbar seien. 251 SCHLATTER, Die bene parisim, 145–151. 252 Vgl. z.B. BENTZEN, Daniel, 80; PORTEOUS, Buch Daniel, 136. 253 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 438f. 254 SEOW, Daniel, 173, unter Verweis auf Jos., Ant 12,3,138–146; vgl. auch HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 291: „The ‚violent men of your own people [who] will lift themselves up‘ (11:14) belong most likely to a Jewish, pro Seleucid party anxious for the overthrow of Egyptian sovereignty in Palestine; (…) What ist being referred to in the phrase ‚in fulfillment of vision‘ (…) is difficult to say.“ 255 Vgl. SEOW, Daniel, 174. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 9–35. 256 COLLINS, Daniel 1993, 380.
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lich sind die Jerusalemer Rebellen auch ‚gestrauchelt‘, d.h. zugrundegegangen, ohne daß sich Gott zu ihrer Erwartung bekannt hätte.“257
Mit V. 15 springt der Text wieder zurück zu den Kriegshandlungen der Jahre 200 – 198 v.Chr. Die Stichworte „Wall“ und „befestigte Stadt“ in V. 15b.c beziehen die meisten Danielkommentatoren auf die bei Hieronymus überlieferte Belagerung und Eroberung Sidons durch Antiochos III.258 Dieses Ereignis ist die historische Fortsetzung der Schlacht am Paneion259, von der der Danieltext ja schweigt. Der dort unterlegene ptolemäische General Skopas war in der Folge der verlorenen Schlacht in die Küstenstadt geflohen.260 Die als wyrxbm ~[ – „sein auserlesenes Volk“ bezeichnete Gruppe, die laut V. 15e keine Kraft besitzt „um aufzustehen“, identifiziert Collins als aetolische Söldner des ptolemäischen Generals.261 Auf der Grundlage der Übersetzung von wdyb hlkw in V. 16d mit „und all dies ist in seiner Hand“262 sehen viele Ausleger im folgenden V. 16 eine Anspielung auf die nach der Schlacht am Paneion uneingeschränkte Macht des nördlichen Königshauses im „Land der Zierde“, also Judäa.263 Auch die Angabe in V. 16ab, der König tue, was er wolle, und niemand sei in der Lage, vor ihm zu stehen, wird mit den Herrschaftsverhältnissen in Judäa nach Ende des 5. Syrischen Krieges in Verbindung gebracht.264 257
LEBRAM, Buch Daniel, 127. So z.B. COLLINS, Daniel 1993, 380; GOLDINGAY, Daniel 1989, 298; LACOQUE, Livre de Daniel, 166; LEBRAM, Buch Daniel, 118; PLÖGER, Buch Daniel, 161; SEOW, Daniel, 174; PORTEOUS, Buch Daniel, 136. PACE, Daniel, 323; DRIVER, Book of Daniel, 172, und HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 292, nehmen darüber hinaus deutlich erkennbar die Diktion von Hieronymus’ Kommentar auf, indem sie u.a. die bei ihm geschilderte Hungersnot der belagerten Truppen erwähnen. Außer Collins nennt jedoch keiner der Kommentatoren Hieronymus als Quelle. 259 Zur Datierung vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 25. 260 COLLINS, Daniel 1993, 380, verweist in diesem Zusammenhang auf Hieronymus, der den Bezug auf Sidon richtig identifiziert habe. Dies ist jedoch gar nicht der Fall: Hieronymus überliefert zwar die Belagerung der phönizischen Stadt und den Abzug der schließlich ausgehungerten phönizischen Truppen und ihres Anführers. Als die befestigte Stadt in Dan 11,15 versteht er aber Jerusalem, wo Antiochos nach der erfolgreichen Einnahme Sidons ebenfalls die dort stationierte ptolemäische Garnison belagert habe, eine Episode, die auch Flavius Josephus überliefert; vgl. Jos., Ant 12,3,133. 261 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 380, ebenso MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 439. 262 Ausleger, die dieses Textverständnis vertreten, gehen von der gegenüber MT abweichenden Punktierung HL'Ku aus. h an hlk wird dann als unpersönliches enklitisches Personalpronomen interpretiert; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 365. Meine eigene Auslegung basiert jedoch auf MT; zur Begründung s.o. Kapitel I. 1. 263 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 381. 264 Vgl. SEOW, Daniel, 174; zur Situation nach dem Sieg Antiochos’ am Paneion vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 25. 258
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V. 17 deutet in der sehr offenen Formulierung, „er“ werde „ihm“ die Tochter der Frauen geben, nach V. 6 erneut eine politische Heirat an. „Im Gefolge des Friedens 195 wurde Antiochos’ Tochter Kleopatra mit Ptol.[emaios] V. verlobt und 194/193 verheiratet.“265 Die Kommentarliteratur bezieht V. 17 einhellig auf diesen Vorgang. Der Zweck, den der nördliche König laut V. 17c mit dieser Ehe verfolgt, nämlich das Königreich seines Kontrahenten zu vernichten, wird dabei häufig mit den historischen Erkenntnissen über die Entwicklung der seleukidischen Prinzessin konfrontiert: Statt dem ptolemäischen Reich zu schaden, verhielt sie sich ihrer neuen Heimat gegenüber loyal und verantwortungsbewusst.266 Die beiden verneinten Wendungen in V. 17de bringen demnach das Scheitern der Pläne Antiochos’ zum Ausdruck.267 Ab V. 18 widmet sich Dan 11 einem neuen Ereigniskomplex in der Biographie Antiochos’ III. Die in V. 18a erwähnten Inseln bezeichnen in der Sprache der Bibel im Normalfall die Inselwelt der kleinasiatischen und griechischen Ägäis westlich von Palästina. V. 18 spielt demnach auf den Eroberungszug Antiochos’ in Richtung Westen zwischen 196 und 190 v.Chr. an, in dessen Verlauf er neben verschiedenen Inseln in der Ägäis auch Teile des kleinasiatischen und griechischen Festlandes einnahm. Der sich daraus ergebende Krieg mit Rom und seinen Verbündeten mündete für Antiochos in zwei völlige Niederlagen in den Jahren 191 v.Chr. bei den Thermopylen und 190 v.Chr. bei Magnesia am Berg Sipylos.268 Der in V. 18c erwähnte !ycq – „Feldherr“ wird in der Literatur mit dem römischen Konsul Lucius Cornelius Scipio identifiziert, dem Oberbefehlshaber der letzten Schlacht bei Magnesia.269 „The relativly rare word !ycq“, so Collins erläuternd, „is chosen to represent ‚consul‘“.270 Dass der Feldherr damit gleichzeitig die „Schande“ für sich selbst beendet, wird mit dem Verweis auf die wiederholten Provokationen von Seiten Antiochos’ gegen das aufstrebende Römische Reich im Verlauf des Krieges zwischen 196 und 190 v.Chr. erklärt.271 Dass sich der König des Nordens in V. 19a zu den Festungen seines Landes umwendet, entspricht dem nach dem Frieden von Apameia im Jahr 188 v.Chr. erzwungenen Rückzug Antiochos’ aus Kleinasien in die Stamm-
265
SCHMITT, Syrische Kriege, 1059. Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 298. 267 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 381. 268 Vgl. MEHL, Antiochos III. Megas, 768; s. auch ausführlich ECKSTEIN, Rome Enters the Greek East, 329f. 269 Vgl. SEOW, Daniel, 174f. 270 COLLINS, Daniel 1993, 381. 271 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 381. 266
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gebiete des seleukidischen Reiches im Osten. Dort endet auch die Laufbahn Antiochos’ des Großen: „Bei einem Versuch, den durch die Zahlungen an Rom verursachten Geldmangel durch Plünderung eines Baal-Tempels bei Susa zu lindern, wurde A.[ntiochos] am 3./4.6./7. 187 erschlagen.“272
Obwohl V. 19b–d das Ende des seit V. 10 amtierenden Königs sehr offen und unspezifisch formuliert, schildern die Kommentare dieses konkrete Ereignis zur Erläuterung des Danieltextes.273 2.5 Seleukos IV. Philopator Der Nachfolger Antiochos’ III., Seleukos IV. Philopator, erscheint in V. 20a als derjenige, der „durchziehen lässt einen Eintreiber eines königlichen Schatzes“. Die Formulierung spielt auf Seleukos’ Kanzler Heliodoros an, der bei dem Versuch, in Judäa Gelder für die Zahlung von Kriegsentschädigungen an die Römer einzutreiben, auf Widerstand stieß.274 Eben dieser Heliodoros ermordete später König Seleukos. Die Anspielungen am Ende des Verses werden in Beziehung zu diesen Ereignissen gesetzt.275 Insgesamt fällt auf, dass die Regierungszeit von Seleukos IV. im Vergleich mit der seines Vorgängers Antiochos III. unverhältnismäßig kurz abgehandelt wird.276 Auffällig ist die im Vergleich mit Antiochos III. sehr unterschiedliche Gewichtung der Regierung des Seleukos: Während die – mit 36 Jahren zweifellos ungewöhnlich lange – Regierungszeit des Antiochos in zehn Versen thematisiert wird, wird für die immerhin zwölf Jahre des Seleukos nur ein Vers veranschlagt.277 2.6 Antiochos IV. Epiphanes In V. 21 betritt „an seiner Stelle ein Verächtlicher“ die Bühne des Geschehens, Antiochos IV. Epiphanes, dessen Regierungszeit die Darstellung bis mindestens V. 35 beherrscht.278 Antiochos war nach dem Tod des Seleukos zunächst Mit-Herrscher seines noch minderjährigen Neffen. Erst nach dessen Ermordung im Jahr 170 v.Chr. wurde er einziger König des Seleuki272
MEHL, Antiochos III. Megas, 768. Vgl. SEOW, Daniel, 175. 274 Vgl. MEHL, Seleukos IV. Philopator, 363; MØRKHOLM, Antiochus IV of Syria, 136f. Ein ausführlicher Bericht über die Episode findet sich in 2 Makk 3,1 – 4,7. 275 Vgl. SEOW, Daniel, 175; COLLINS, Daniel 1993, 381f. 276 Vgl. CLIFFORD, History and Myth, 24: „Dan 11:20, concerning Seleucus IV, is clearly transitional and by its brevitiy leads quickly to the denouement.“ 277 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 382. 278 Zur Problematik des Übergangs zwischen vaticinium ex eventu und Zukunftsankündigung s.u. Kapitel II. 2.5. 273
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denreiches. Die Aussage in V. 21b, ihm sei nicht „königliche Hoheit“ zugedacht gewesen, wird meist mit dem Umstand kommentiert, dass Antiochos nicht als Thronfolger vorgesehen war, da er in der Folge der Niederlage seines Vaters Antiochos III. gegen Lucius Cornelius Scipio seit 189 v.Chr. als Geisel in Rom lebte.279 Unter den in V. 22a erwähnten „Armen der Überschwemmung“ versteht Goldingay mögliche Thronrivalen des seleukidischen Königs.280 Die Erläuterungen zu V. 22 beschäftigen sich jedoch vor allem mit der Identität des Bundesfürsten, der laut V. 22b zerbrochen wird. Der in der modernen Kommentarliteratur gängige Vorschlag, es handle sich dabei um den zadokidischen Hohepriester Onias III., beruft sich auf den Danielkommentar des Theodoret von Cyrus. Dieser kann jedoch nicht als Beleg für die Identität des Bundesfürsten herangezogen werden. Zwar erläutert Theodoret das im folgenden V. 23a erwähnte betrügerische Handeln des Königs Antiochos IV. mit der Geschichte von der Absetzung des Onias durch seinen Bruder Jason, liefert jedoch keine Identifikation des „Bundesfürsten“ aus V. 22c.281 Während ferner Theodoret lediglich die Wirren um die Besetzung des Jerusalemer Hohepriesteramtes in den Jahren 175 – 171 v.Chr. referiert, erwähnt Montgomery in diesem Zusammenhang die Ermordung des Onias am antiochenischen Hof im Jahr 171 v.Chr. und bezieht sich damit auf einen Bericht in 2 Makk 4,23–28.282 Aus der Erwähnung der Ermordung zusammen mit der angeblichen Identifikation des Bundesfürsten durch Theodoret bei Montgomery macht Collins ein halbes Jahrhundert später eine explizite Erwähnung des Mordes an Onias: „Theodoret recognizes here a reference to the murder of the high priest Onias III (…).“283 Die Identifikation des Bundesfürsten mit Onias III. entbehrt sicher nicht der historischen Plausibilität, zumal in der vorausgehenden Vision in Dan 9,26 ebenfalls ein Bezug auf die Absetzung bzw. Vernichtung des Hohenpriesters vorzuliegen scheint.284 Die von Montgomery und Collins vorgeschlagene Begründung dieser These erweist sich jedoch als problematisch. Als Bezugspunkt für das „Zerbrechen“ des Bundesfürsten kommt neben
279
Vgl. SEOW, Daniel, 176. Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 299. 281 Vgl. Theodoret, Daniel, 295 (= PG 81, 1516). 282 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 451. Die Historizität dieses Ereignisses ist heute allerdings umstritten; vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 49. Zur Datierung vgl. SACCHI, History of the Second Temple Period, 223–225. 283 COLLINS, Daniel 1993, 382. 284 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Auslegung von Dan 9,26, wo von der Ausrottung eines Gesalbten die Rede ist. Auch dieser Vers wird im Normalfall auf die Absetzung bzw. Ermordung von Onias III. bezogen; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 356. 280
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der – historisch unsicheren – Ermordung des Onias auch seine Absetzung durch seinen Bruder Jason in Frage.285 Der folgende V. 23a beginnt mit der Wendung wyla twrbxth-!mw – „und seit einer Verbindung zu ihm“. Wie auch sonst in Dan 11 häufig der Fall, sind die handelnden Personen aufgrund der Verwendung von Personalpronomina auf den ersten Blick nicht eindeutig zu bestimmen. Um eventuelle historische Bezugspunkte des Verses erkennen zu können, müssen die Ausleger daher zunächst eine Entscheidung über die grammatischen Bezüge innerhalb des Textes treffen. Syntaktisch betrachtet kann sich das enklitische Personalpronomen an la entweder auf den Bundesfürsten aus V. 22c, mit dem sich der König verbündet hat, oder auf den handelnden König, mit dem sich andere verbünden, beziehen. Ausgehend von dem zuletzt erwähnten Verständnis des Ausdrucks sehen viele Ausleger in der „Verbindung“ das Bündnis zwischen Antiochos IV. und Eumenes II. von Pergamon, mit dessen Hilfe Antiochos im Jahr 175 v.Chr. den seleukidischen Thron – zunächst als Mitregent seines Neffen – erlangte.286 Diese Konstellation wird auch als Hintergrund für die Beschreibung des Aufstiegs Antiochos’ „mit wenig Volk“ (V. 23c) und „in Sorglosigkeit“ (V. 24a) angesehen: „Der Autor (…) spricht nur allgemein davon, wie Antiochus mit einer kleinen Schar von Anhängern aufbrach und mit Hilfe der pergamensischen Verbündeten die Herrschaft errang, fast noch ehe die Leute recht begriffen, was vor sich ging.“287
Eine weitere Unklarheit liegt in V. 24a bezüglich der Übersetzung von hnydm ynmvmb vor. Obwohl die übrigen Belege von !mvm für eine Interpretation der Wendung im Sinn von „reiche Männer“ oder „Mächtige eines Landes“ sprechen,288 geht die Mehrzahl der Ausleger von der Bedeutung „fette/reiche Länder“ aus.289 So übersetzt wird V. 24a als Anspielung auf den ersten Feldzug des Antiochos gegen Ägypten verstanden.290 Montgomery bezeichnet die Identifikation der „fetten Provinzen“ mit Ägypten jedoch als vorschnell und sieht in V. 24a eher eine allgemeine Charakterisierung von Antiochos’ Vorgehen: „The point of the v. appears to be Antiochus’ ability in seizing by hook and crook the wealth of the provinces in
285
So z.B. GOLDINGAY, Daniel 1989, 299. Vgl. MEHL, Antiochos IV., 769. 287 PORTEOUS, Buch Daniel, 139. Vgl. ebenso COLLINS, Daniel 1993, 382: „The reference is probably to the alliance with Pergamum, which enabled Antiochus to gain power with a small force.“ 288 Vgl. oben die Erläuterungen zur Übersetzung, Kapitel I. 1. 289 So z.B. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 450; PLÖGER, Buch Daniel, 153; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 259; COLLINS, Daniel 1993, 366. 290 Vgl. z.B. SEOW, Daniel, 177. 286
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advance of the attack upon Egypt.“291 Eine alternative Interpretation einer Übersetzung im Sinne von „reiche Länder“ bietet demgegenüber der Kommentar von Porteous: „Wovon in V. 24 genau die Rede ist, wissen wir nicht sicher; aber die Worte werden am besten nicht auf des Antiochus’ Feldzüge in Ägypten bezogen, die erst später kamen, sondern auf seine Unternehmungen in Syrien und Palästina, in denen er seine Gegner überwand.“292
Doch auch die in sprachlicher Hinsicht wahrscheinlichere Übersetzung der Wendung mit „Mächtige des Landes“ lässt eine historische Interpretation zu. So versteht beispielsweise Goldingay ausgehend von der Übersetzung „with ease with the powerful ones of a province he will go on to act (…)“293 unter den Mächtigen der Provinz die einflussreiche Familie der Tobiaden und Jason, den Bruder des Onias.294 Die Formulierung in V. 24c, „Raub und Beute und Besitz wird er verteilen für sie“, beziehen die Ausleger vor allem auf den Charakter des Antiochos, der auch nach Auskunft antiker Historiker von Extremen wie Willkür einerseits und Großzügigkeit andererseits geprägt war.295 Allerdings ist eine solche allgemeine Interpretation auch die einzige Möglichkeit, falls V. 24a auf reiche Länder bezogen wird, da dann ein möglicher personaler Bezugspunkt von ~hl – „für sie“ fehlt. Goldingay, der V. 24a personal übersetzt und auf Jason und die Tobiaden bezieht, versteht diese auch als Nutznießer der königlichen Freigebigkeit.296 Ab V. 25 gelangt das spannungsreiche Verhältnis zwischen Antiochos und seinem Neffen Ptolemaios VI. Philometor, dem Sohn seiner Schwester Kleopatra (s.o. zu V. 17), in den Fokus des Textes. Die Kommentarliteratur sieht in der in V. 25a beschriebenen Aktion des seit V. 21 amtierenden Königs den ersten Feldzug Antiochos’ IV. nach Ägypten, der zugleich der Auftakt des 6. Syrischen Krieges (170 – 168 v.Chr.) war.297 In historischer Hinsicht lag allerdings die Initiative zur neuerlichen Auseinandersetzung zwischen Nord und Süd nicht so ausschließlich auf Seiten des Seleukiden, wie in V. 25 angedeutet. Drahtzieher der kriegerischen Auseinandersetzung 291 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 452. Für ein Verständnis des Verses als „general statement, describing Antiochus’ method of operation“ plädiert auch COLLINS, Daniel 1993, 382. 292 PORTEOUS, Buch Daniel, 139. 293 GOLDINGAY, Daniel 1989, 273. 294 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 299. 295 COLLINS, Daniel 1993, 382, mit Verweis auf Pol. 26,10: „He was in turn rapacious and prodigal“; vgl. auch SEOW, Daniel, 177f.; TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 175–178. 296 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 299f. 297 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 382f.; s. auch MEHL, Antiochos IV., 769.
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war vielmehr die Vormundschaftsregierung des noch minderjährigen ptolemäischen Königs.298 Seow bescheinigt der Darstellung in Daniel deshalb „an anti-Seleucid bias“299. Die in V. 25c.d.26 angedeuteten Hofintrigen beziehen sich nach dem Textverlauf auf den letztgenannten, d.h. den südlichen König. Das historische Pendant liegt in den Machenschaften einer anti-seleukidischen Fraktion am ptolemäischen Hof, die eine mögliche Annäherung zwischen Neffen, Ptolemaios VI. Philometor, und Onkel, Antiochos, durch die Einsetzung von Ptolemaios Euergetes, dem Bruder des amtierenden Königs Ptolemaios VI. Philometor, als Gegenkönig zu unterbinden suchte.300 Diese Situation brachte für Ptolemaios VI. die Gefahr des Verlusts seines Reiches, für Antiochos aber die Chance weitreichender Einflussnahme auf das ptolemäische Territorium mit sich, falls er seinen Neffen darin unterstützte, seine Macht zu sichern. In dieser für das Ptolemäerreich innen- wie außenpolitisch prekären Situation kam es offenbar zu einem persönlichen Treffen zwischen Antiochos IV. und Ptolemaios VI. So schreibt Hieronymus in seinem Kommentar zu Dan 11,25–26, Antiochos habe mit seinem Neffen „Brot gegessen“. Als Fragment 49b des Porphyrios bietet diese Passage die Basis für die Annahme eines königlichen „Gipfeltreffens“, das in der modernen Kommentarliteratur als historischer Ankerpunkt von V. 27 gilt. Diese Deutung findet einen gewissen Anhalt bei Hieronymus, der in seinem Kommentar zur Stelle noch einmal bestätigt: „There is no doubt but what Antiochus did conclude a peace with Ptolemy and ate at the same table with him and divised plots against him (…)“.301 Dass dieses Treffen in Memphis stattgefunden hat, wie in den Danielkommentaren immer wieder zu lesen,302 ist jedoch anhand der Quellen nicht nachvollziehbar. Zwar berichtet Hieronymus in seinen Erläuterungen zu Dan 11,24 (!), Antiochos IV. habe sich nach seinem Sieg gegen Ptolemaios VI. in Memphis zum ägyptischen König krönen lassen – eine Angabe, deren Historizität heute bestritten wird.303 Ferner überliefert Livius, dass Antiochos nach einem missglückten Versuch, das sich in der Hand des Gegenkönigs Ptolemaios VIII. befindende
298
Vgl. MEHL, Antiochos IV., 769; HÖLBL, Geschichte des Ptolemäerreiches, 128–134. SEOW, Daniel, 178. 300 Vgl. SEOW, Daniel, 178. 301 Hieron. comm. in Dan. [IV], XI,27,28a, 105–112; Übersetzung: ARCHER, Jerome’s Commentary on Daniel, 132. 302 So z.B. PACE, Daniel, 328; LEBRAM, Buch Daniel, 119; SEOW, Daniel, 179; COLLINS, Daniel 1993, 383. 303 Vgl. HÖLBL, Geschichte des Ptolemäerreiches, 133; VOLKMANN, Ptolemaios VI. Philometor, 1708. 299
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Alexandria304 einzunehmen, Ptolemaios VI. in Memphis zurückgelassen und sich selbst nach Syrien begeben habe.305 Von einem „Memphis-Gipfel“306 ist jedoch nirgends die Rede. Die Wendung „sein Herz [ist] gegen einen heiligen Bund [aus]“ in V. 28a wird von allen Auslegern als Angriff Antiochos’ gegen Jerusalem verstanden. In Zusammenhang mit diesem Vers sind nun erstmals die Probleme berührt, welche sich aus dem Zusammenspiel von Dan 11 mit den beiden unterschiedlichen Darstellungen des Vorgehens König Antiochos’ in Jerusalem ergeben, wie sie das erste und zweite Makkabäerbuch bieten. Unklar ist auf diesem Hintergrund also zum einen der Zeitpunkt der Revolte Jasons: Fand sie während des ersten oder während des zweiten Ägyptenfeldzugs statt? Damit verbunden steht zum anderen die Motivation des Königs für seinen Angriff gegen Jerusalem im Jahr 169 v.Chr. in Frage: Reagierte er damit auf die Revolte des Jason oder hatte er andere Gründe, z.B. Geldmangel? Und schließlich: Ist aufgrund der Darstellungen der Makkabäerbücher von einem oder von zwei Angriffen des Königs gegen Jerusalem auszugehen? Diese Fragen und die unterschiedlichen Möglichkeiten, den Ereigniszusammenhang zu rekonstruieren307, finden in der Kommentierung von Dan 11,28 einen deutlichen Niederschlag. Ein Teil der Kommentatoren nimmt dabei den seit der Niederlage Antiochos’ III. gegen die Römer bei Magnesia im Jahr 190 v.Chr. und den damit verbundenen Reparationszahlungen chronischen Geldmangel der seleukidischen Herrscher als Grund für das Vorgehen von Antiochos IV. gegen Jerusalem an. Demnach plünderte der König den Jerusalemer Tempelschatz, um an Geld zu kommen. Diese These findet Unterstützung im Danielkommentar des Hieronymus, der mit Verweis auf nicht näher bestimmte griechische und römische Historiker berichtet, dass Antiochos auf dem Rückweg von Ägypten nach Syrien den Jerusalemer Tempelschatz plünderte.308 Ein anderer Teil der Ausleger erwähnt in diesem Zusammenhang die Revolte des abgesetzten Hohepriesters Jason in Jerusalem, auf die der König nach 2 Makk 5 mit einem Angriff gegen die Stadt reagierte.309 Die an dieser Stelle von den Kommentatoren getroffene Entscheidung ist im Folgenden bei der Auslegung von V. 30–35 von Belang. Die Motive, 304
Vgl. HÖLBL, Geschichte des Ptolemäerreiches, 131f. Vgl. Liv. XLV 11; vgl. HÖLBL, Geschichte des Ptolemäerreiches, 132; VOLKMANN, Ptolemaios VI. Philometor, 1709. 306 So zu lesen bei SEOW, Daniel, 179. 307 Siehe oben Kapitel II. 1.3.2. 308 Vgl. Hieron. comm. in Dan. [IV], XI,28b–30a, 119–144. 309 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 297; LACOQUE, Livre de Daniel, 168; PORTEOUS, Buch Daniel, 140. 305
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welche die Ausleger für die in V. 30d erwähnte neuerliche Ausrichtung des Königs gegen Jerusalem annehmen, unterscheiden sich je nachdem, welche Entscheidung bei der Kommentierung von V. 28 getroffen wurde. Der erneute Aufbruch des Königs Richtung Süden in V. 29ab sowie das Schlagwort „Schiffe der Kittim“ (V. 30a) invozieren im Folgenden die Kriegsereignisse des Jahres 168 v.Chr. Antiochos marschierte erneut in Ägypten ein; diesmal aber griff eine römische Flotte unter Gaius Popilius Laenas in das Geschehen ein und zwang Antiochos zum Rückzug. Der Ausdruck „Kittim“ kommt von der zyprischen Stadt Citium her und gibt im Allgemeinen aus palästinischer Perspektive die Richtung von Westen und vom Mittelmeer her an. Ähnlich wie der vorliegende Vers verwenden auch verschiedene Qumran-Schriften diesen Begriff als Synonym für „Römer“. Die LXX-Version von Dan 11 löst die Andeutung auf und spricht stattdessen direkt von ~Rwmai/oi.310 Nach dem Bericht des Polybios war die Begegnung zwischen dem seleukidischen König und dem römischen Gesandten am sogenannten „Tag von Eleusis“ für Antiochos eine äußerst erniedrigende Erfahrung: Nachdem Popilius das Schreiben mit dem Senatsbeschluss, der seinen sofortigen Rückzug aus Ägypten verlangte, überreicht hatte, wollte sich der König zur Beratung mit seinen Anhängern zurückziehen. „Darauf tat Popilius etwas, was man nicht anders als hart und im höchsten Maße demütigend bezeichnen kann: er zog mit einem Weinrebenstab, der ihm gerade zur Hand war, einen Kreis um Antiochos und hieß ihn in diesem Kreis seine Antwort auf den Senatsbeschluss erteilen.“311
Antiochos beugte sich daraufhin dem Willen der Römer und zog sich aus dem ptolemäischen Gebiet zurück. In der Formulierung von Dan 11,30 verzagt der König nach der Begegnung mit den Schiffen der Kittim (V. 30b), kehrt um (V. 30c), richtet seinen Zorn gegen einen heiligen Bund (V. 30d) und achtet auf solche, die diesen verlassen (V. 30g). Daraufhin berichtet V. 31 unter anderem von der Entweihung des Heiligtums (V. 31b), dem Ende des täglichen Opfers (V. 31c) und der Einrichtung einer mit „verwüstende Abscheulichkeit“ umschriebenen Praxis bzw. der Aufstellung eines solchen Gegenstands (V. 31d). In der Folge dieser Ereignisse erwähnt der Text einerseits „Bundesfrevler“, die der König durch „Ränke“ gottlos macht, andererseits ein „Volk, das seinen Gott erkennt“ (V. 32b). Die beiden Gruppen scheinen in Opposition zueinander zu stehen. In V. 33–35 schließlich begegnet – offenbar immer noch im gleichen Ereigniszusammenhang – eine mit „Weise des Volkes“ bezeichnete Gruppe, die viele verstehen lässt (V. 33a), deren Angehörige aber zu Fall gebracht werden (V. 33b.34a.35a). 310 311
Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 384. Pol. 29,27; Übersetzung in: POLYBIOS, Geschichte Bd. 2 (DREXLER), 1175.
2. Die historischen Bezugspunkte von Dan 11
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Im Hintergrund dieser Verse stehen die Ereignisse in Jerusalem in den Jahren 168 – 167 v.Chr., in deren Verlauf es sowohl zu einem als Entweihung verstandenen Eingriff in den Jerusalemer Tempelkult als auch zu religiösen Zwangsmaßnahmen von Seiten der seleukidischen Machthaber kam. Damit verbunden scheinen bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und von der seleukidischen Regierung angeordnete Religionsverfolgungen gewesen zu sein. Die einzelnen Ereignisse sind, ebenso wie ihre Chronologie, ihr genauer Zusammenhang, ihre Urheber und deren Motive, auch in der historischen Forschung umstritten.312 Um im Folgenden den Umgang der Danielexegese mit den unterschiedlichen Rekonstruktionen reflektieren zu können, erfolgt daher an dieser Stelle zunächst ein kurzer Überblick über die fraglichen Ereigniszusammenhänge und die sich daraus ergebenden historischen Probleme. Auf die Revolte des abgesetzten Hohepriesters Jason wurde bereits im Zusammenhang mit V. 28 hingewiesen, ebenso wie auf die Probleme ihrer Datierung. Im Hintergrund dieser Revolte steht – nach der Darstellung von 2 Makk 5 – ein bereits mehrere Jahrzehnte schwelender, innerjüdischer Konflikt um das Amt des Hohenpriesters.313 Dieser übte in der Diadochenzeit sowohl die geistliche (timh. arcieratikh,) als auch die weltliche Autorität (prostasi,a) über die Bevölkerung der Verwaltungseinheit Judäa, den judäischen Ethnos, aus.314 In der letzteren Funktion war er der offizielle Vertreter der Bevölkerung von Judäa bei der ptolemäischen bzw. seleukidischen Oberherrschaft.315 War das Amt des Hohenpriester in religiöser Hinsicht an die Familie der Zadokiden gebunden, so war es in seiner politischen Funktion auf die Legitimation durch den seleukidischen König angewiesen. Der König musste somit den Hohenpriester einsetzen, konnte ihn aber auch absetzen und eine andere Person mit diesem Amt betrauen. Erste Anzeichen dafür, dass diese Kombination aus Erblichkeit des Amtes und Bestellung durch die politische Oberherrschaft zunehmend an Selbstverständlichkeit verlor, gab es bereits mehrere Jahrzehnte zuvor, als der Tobiade Josef mehrere Jahre lang anstelle des Hohenpriesters die Pro312 Vgl. den Überblick über die verschiedenen Erklärungsmodelle bei TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 175–185. 313 Vgl. im Folgenden KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1641–1652, 1166–1173. 314 Vgl. KESSLER, Sozialgeschichte, 180f. Kessler erörtert in diesem Zusammenhang die Veränderungen in der Verwaltung von Judäa mit dem Ende der Perserzeit. Während unter persischer Verwaltung ein persischer Statthalter die weltliche Macht über die Provinz Jehud ausgeübt hatte, ging die weltliche Macht unter den Ptolemäern auf den Hohenpriester über. Vgl. auch SACCHI, History of the Second Temple Period, 215; KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1603–1612, 1145–1151. 315 Vgl. KESSLER, Sozialgeschichte, 180–182.
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stasia innehatte.316 Endgültig in die Krise geriet diese Konstellation aber, als Antiochos IV., vermutlich bereits kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 175 v.Chr.317, den bis dahin amtierenden, zadokidischen Hohenpriester Onias III. absetzte und stattdessen seinen Bruder Josua, gräzisiert Jason, zum Hohenpriester ernannte.318 Nach der Darstellung von 2 Makk 4,7–10 hatte sich dieser das Amt vom König regelrecht erkauft. Doch schon im Jahr 172 v.Chr. nahm Antiochos einen weiteren Wechsel im Amt des Hohenpriesters vor. Anstelle von Jason ernannte er Menelaos zum Hohenpriester, einen Tempelbeamten, der jedoch nicht aus der Familie der Zadokiden stammte. Wiederum gab ein Bestechungsgeld an den König den Ausschlag.319 „Antiochus Epiphanes“, so erläutert Collins, „simply sold the high priesthood to the highest bidder“.320 Jason wurde daher aus dem Amt vertrieben und floh aus Jerusalem.321 Während des 6. Syrischen Krieges322 kehrte der abgesetzte Jason jedoch – ermutigt durch Gerüchte, König Antiochos sei ums Leben gekommen – nach Jerusalem zurück und führte eine Revolte gegen seinen Nachfolger Menelaos und dessen Anhänger.323 Die Quelle für dieses Ereignis, 2 Makk 5, berichtet in diesem Zusammenhang von einem Massaker an der Jerusalemer Bevölkerung: „Jason aber richtete unter seinen Mitbürgern ein schonungsloses Blutbad an (…). Es sah aus, als habe er Feinde und nicht Landsleute besiegt und ausgeplündert“ (2 Makk 5,6). Je nach Datierung sieht die historische Forschung entweder den Angriff Antiochos gegen Jerusalem im Winter 169/168 v.Chr. oder die Strafaktion des Mysarchen324 Apollonios, in deren Verlauf eine syrische325, also heidnische Garnison in Jerusalem stationiert wurde, oder sogar beide Vorgänge als Reaktionen des Königs auf Jasons Revolte an. So geht beispielsweise Gera in seiner Rekonstruktion der Ereignisse davon aus, dass Antiochos im Winter 169/168 nach Ende des ersten Ägyptenfeldzugs, d.h. zugleich un316
Vgl. SACCHI, History of the Second Temple Period, 215. Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 502. 318 Vgl. KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1641f., 1166f. 319 Vgl. 2 Makk 4,23–24. 320 COLLINS, Daniel 1993, 62, mit Verweis auf 2 Makk 4,24. 321 Vgl. SASSE, Geschichte Israels, 173. 322 Zur Chronologie der Ereignisse vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 153–157. 323 Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 153–161. 324 Die Bezeichnung „Mysarch“ meint den Befehlshaber einer Truppe mysischer Söldner. 325 Die Auffassung, es habe sich um syrische Soldaten gehandelt, geht auf einen Vorschlag von Tcherikover zurück. Die Darstellungen der Makkabäerbücher enthalten keine Angaben über die Nationalität von Apollonios’ Truppen. Vgl. TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 194. 317
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mittelbar nach der Revolte Jasons, persönlich nach Jerusalem kam und dort unter anderem den Tempel plünderte.326 Die Entsendung des Apollonios im Frühjahr des Jahres 167 v.Chr. sieht er als weitere Reaktion des Königs auf die Revolte an mit dem Ziel, die Situation in Jerusalem nachhaltig zu stabilisieren.327 Neben dieser politischen Dimension hatte der Konflikt um das Amt des Hohenpriesters in Jerusalem noch eine zweite, religionssoziologische Dimension. Die beiden kanonischen Makkabäerbücher schildern einen regelrechten Richtungsstreit zwischen Kräften, die an den althergebrachten Traditionen festhalten und die eigene Identität durch Abgrenzung von der hellenistischen Kultur stärken wollen, und Kräften, die eine Öffnung hin zur griechisch geprägten Lebensweise der Nachbarvölker propagieren – und zwar auf Kosten von Kernpunkten jüdischer Identität wie Sabbat oder Beschneidung. Als Schlüsselfigur erscheint in diesem Konflikt in der Darstellung des zweiten Makkabäerbuches ebenfalls der Hohepriester Jason (vgl. 2 Makk 4,7–9).328 Dieser bot demnach König Antiochos nicht nur Geld für seine Ernennung zum Hohenpriester an, sondern setzte sich nach der Darstellung des zweiten Makkabäerbuches für verschiedene Neuerungen in Jerusalem ein, die der Stadt ein griechisches Gepräge verleihen sollten.329 Über die Person des Hohenpriesters und seine Position im jüdischen Richtungsstreit ergeben sich daher Verbindungen zwischen dem politischen Konflikt auf der einen und dem innerjüdischen Richtungsstreit auf der anderen Seite. Beide Makkabäerbücher berichten darüber hinaus von religionspolitischen Maßnahmen, die nach der Aktion des Mysarchen von der seleukidischen Obrigkeit angeordnet wurden und die einem Verbot der jüdischen Religion in ihrer bisherigen Form gleichkamen. 1 Makk 1,41–51 berichtet von Boten, die mit einer schriftlichen Anordnung nach Jerusalem kamen, die ein Verbot von Opfern im Tempel, der Einhaltung von Sabbat und Festtagen sowie der Beschneidung verfügten. „Wer (…) des Königs Anordnung nicht befolge“, so 1 Makk 1,50, „müsse sterben.“
326
Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 153. Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 225. 328 1 Makk erwähnt Jason überhaupt nicht, sondern schreibt die hellenistischen Neuerungen einer als „Verräter am Gesetz“ bezeichneten Gruppe zu (vgl. 1 Makk 1,11). 329 Nach 2 Makk 4,9 bot Jason dem König zusätzlich zum Bestechungsgeld für das Amt des Hohenpriesters Geld an, um eine Sportschule und einen Übungsplatz in Jerusalem zu errichten. Analog berichtet 1 Makk 1,11–15 von einer nicht näher bestimmten Gruppe von Personen, die sich beim König für die Eröffnung einer Sportschule einsetzten und die bei sich die Beschneidung rückgängig machen ließen. 327
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Dieses Religionsverbot hat der historischen Forschung aufgrund seiner Analogielosigkeit in der antiken Welt viel Kopfzerbrechen bereitet.330 Die Begründung, die das erste Makkabäerbuch für dieses Vorgehen gibt, dass der König nämlich seinem ganzen Reich eine einheitliche Religion aufzwingen wollte, wird in der historischen Forschung heute eher als unwahrscheinlich betrachtet. Die Ereignisse werden vielmehr im Kontext von Jasons Revolte und deren Folgen betrachtet. Umstritten ist dabei vor allem der Zusammenhang zwischen der Aktion des Mysarchen und den Eingriffen in den Tempelkult und in die religiöse Praxis der Jerusalemer Juden: Handelte es sich bei den Ereignissen im Tempel um eine beabsichtigte Strategie des Königs mit dem Ziel, den Unruheherd in Jerusalem auszuschalten? Oder sind die Entweihung des Tempels und die damit einhergehenden Ereignisse eher als „Unfälle“ aufgrund von kulturellen Missverständnissen zu betrachten, die sich aus der Präsenz der syrischen Garnison in Jerusalem ergaben? Die Positionen, welche von einem planvollen Vorgehen des Königs zum Zweck der weiteren Stabilisierung der Situation in Jerusalem und Judäa ausgehen, messen dabei den innerjüdischen Konflikten unterschiedliche Bedeutung zu. Es wird sowohl angenommen, dass der König mit seinen Maßnahmen die Dynamik des Richtungsstreits zu seinen Gunsten auszunutzen suchte, als auch, dass jüdische Gruppen selbst den König für ihre eigenen religiösen und machtpolitischen Interessen zu instrumentalisieren beabsichtigten. Unter der Voraussetzung, dass es sich bei den „hellenisierenden“ Kräften331 gleichzeitig um Gruppierungen handelte, die den Seleukiden gegenüber loyal waren und mit ihnen kooperierten, schreiben manche Darstellungen sogar die Initiative für die Eingriffe am Tempel und das anschließende Religionsverbot diesen Kreisen zu. Richtungweisend sind hier die Darstellungen von Bickermann und Hengel, die von einer jüdischen Reformbewegung ausgehen, welche Tora und Tempelkult abschaffen wollte.332 Hengel unterstellt dabei den radikalen jüdischen Reformern, sie hätten zur Durchsetzung ihrer eigenen religiösen Interessen den König instrumentalisiert, indem sie die „Altgläubigen“ als proptolemäische Rebellen ausgegeben hätten.333 In dieser Sichtweise kann die Entsendung von Apollonios allerdings nicht als Strafaktion auf die Revolte des Jason verstanden 330
„This attempt to suppress a religion poses the greatest puzzle of all these events, as it is without precedents in the ancient world“; COLLINS, Daniel 1993, 63. 331 Vgl. jedoch GRUEN, Heritage and Hellenism, 1–12, der eine Unterteilung in ein hellenistisches und ein traditionalistisches Lager ablehnt. 332 Vgl. BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 126–133; HENGEL, Judentum und Hellenismus, 464–564. 333 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 532–535.
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werden, da dieser ja nach Auskunft von 2 Makk an der Spitze der „reformorientierten“ Kreise stand.334 Diesem Problem entgehen die Ansätze, welche – in Anlehnung an die Darstellung von 1 Makk 1 – die Maßnahmen des Königs in Jerusalem ausschließlich im Zusammenhang mit einem Richtungsstreit zwischen hellenisierenden und traditionalistischen Gruppen betrachten, ohne dass dabei die Revolte des Jason eine Rolle spielt. Die Eingriffe in den Tempelkult, das Religionsverbot und die daraus resultierenden Verfolgungen werden in diesem Paradigma als bewusste, religionspolitische Maßnahmen des Königs interpretiert mit dem Ziel, den Unruheherd Jerusalem durch Stärkung der hellenisierenden Kräfte an die Mehrheitskultur anzugleichen und damit das Konfliktpotenzial gewaltsam zu reduzieren335. Nach 1 Makk 1,41–51 verfolgte König Antiochos das Ziel, in seinem gesamten Regierungsgebiet eine einheitliche Religion und Lebensweise durchzusetzen. In der historischen Forschung wird diese spezifische Motivation des Königs heute allerdings mehrheitlich mit Skepsis betrachtet.336 Eine in sich schlüssige Darstellung, die die politischen und religiösen Aspekte in einen Entwicklungszusammenhang stellt, findet sich bei Tcherikover. Dieser geht davon aus, dass die Kette von Ereignissen, an deren Ende das Religionsverbot durch den König stand, keinem feststehenden Plan folgte, sondern sich aus der Entwicklung der Lage in Jerusalem ergab. Tcherikover betrachtet die Revolte des Jason als Initialzündung eines Volksaufstandes, der sich sowohl gegen den Aggressor Jason, aber gleichzeitig gegen den amtierenden Hohenpriester Menelaos und die mit hellenistischer Lebensweise und der seleukidischen Oberherrschaft vertraute Jerusalemer Oberschicht richtete. König Antiochos reagierte in mehreren Schritten auf diesen Aufstand, ohne seiner aber endgültig Herr zu werden. Vielmehr brachte die Entsendung des Mysarchen und die damit verbundene Stationierung syrischer Truppen auf der Akra eine weitere Eskalation mit sich. Tcherikover geht davon aus, dass die syrischen Soldaten, die nun Einwohner Jerusalems waren, im Jerusalemer Tempel selbstverständlich ihre syrischen Kulte pflegten und damit den Tempel entweihten.337 Das Religionsverbot, das Tcherikover als weitere Maßnahme zur Niederschlagung des Aufstands betrachtet, richtete sich demnach gezielt gegen die Trägerkreise des Aufstands. Er sieht diese in Schriftgelehrten, die die überlieferte Gestalt der Religion sowohl gegen die hellenistischen Tendenzen der Jeru334
Vgl. GRUEN, Heritage and Hellenism, 4. Vgl. z.B. die Darstellung bei KESSLER, Sozialgeschichte, 174. 336 Vgl. MEHL, Antiochos IV., 769: „(…) inwieweit er die Juden und darüber hinaus sein Reich hellenisieren wollte, wird nunmehr eher zurückhaltend beurteilt.“ Vgl. auch MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 259–262. 337 Vgl. TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 194f. 335
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salemer Oberschicht als auch gegen die Gefährdung durch die Anwesenheit der Fremden in Jerusalem und im Tempel verteidigen wollten, und identifiziert sie mit den in 1 Makk 2,42 erwähnten Hasidim.338 Tcherikovers Rekonstruktion ist in sich schlüssig, kann aber in entscheidenden Punkten, wie z.B. dem Volksaufstand in Jerusalem, seinem wiederholten Aufflammen und vor allem seinen Trägerkreisen, nur auf eigene Rückschlüsse und nicht auf Quellen verweisen. Dennoch finden sich ähnliche Rekonstruktionen auch in neueren historischen Darstellungen. So geht beispielsweise Sacchi davon aus, dass sich die Lage in Jerusalem nach Jasons Revolte nicht beruhigt hatte, sondern Aufstände und Unruhen immer wieder aufflammten. Als Stadt im südlichen Grenzgebiet des seleukidischen Reiches war ein solcher Unruheherd für den König eine ständige Gefahr, umso mehr, als nach dem Ende des 6. Syrischen Krieges das Römische Reich den ptolemäischen Nachbarn im Süden unterstützte. Das Eingreifen des Königs war demnach aus politischen Gründen unumgänglich.339 Sacchi betrachtet vor diesem Hintergrund die militärischen Maßnahmen wie die Schleifung der Mauern und die Stationierung der syrischen Garnison und auch die religionspolitischen Maßnahmen wie Verbot von Torabesitz und Beschneidung, Kontaminierung und Umwidmung des Tempels sowie anschließende Religionsverfolgung derer, die sich diesen Maßnahmen nicht beugen wollten, als Bestandteile einer gezielten Strategie des Königs. Antiochos beabsichtigte nach Sacchi, das zadokidische Judentum in Jerusalem und Judäa zu zerstören, damit eine Partei im weiter schwelenden innerjüdischen Konflikt auszuschalten und so den fortdauernden Jerusalemer Aufständen den Nährboden zu entziehen.340 Auch die Darstellung von Gera nimmt Bezug auf den Rekonstruktionsversuch von Tcherikover. Er grenzt sich jedoch deutlich von Tcherikovers These ab, die syrische Besatzung der Akra habe ihre Kulte im Jerusalemer Tempel ausgeübt. Stattdessen sieht er den Grund für die Tempelentweihung eher im Verhalten als in der Religionsausübung der syrischen Militärsiedler: „It is therefore possible that a mixture of violence, ignorance, and overbearing behavior on the part of Antiochus’ settlers led to the profanation of Jerusalem and the Temple, rather than the appropriation of Jerusalem and the Temple by soldiers for the worship of one of the Syrian deities.“341
338 339 340 341
Vgl. TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 196–198. Vgl. SACCHI, History of the Second Temple Period, 225. Vgl. SACCHI, History of the Second Temple Period, 226. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 227.
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Der Grund für das in den Makkabäerbüchern überlieferte Religionsverbot muss aufgrund der schlechten Quellenlage seiner Ansicht nach offenbleiben: „The manner in which Antiochus IV responded to Jewish restiveness seems quite clear, but the same cannot be said about his motives. This is partly due to our ignorance of what really happened in Jerusalem and Judaea between the arrival of Apollonius the Mysarch in the city and the moment when the king decided to launch his campaign of persecution and religious coercion. (…) At present it seems best to acknowledge our inability to resolve this knotty problem.“342
Demgegenüber vermutet Keel in seiner „Geschichte Jerusalems“ hinter dem Vorgehen des Seleukiden eine Mischung von macht- und religionspolitischen Gründen.343 Zusätzlich zu den beispielsweise bei Tcherikover stark gemachten politischen Dynamiken betont Keel die Anstößigkeit jüdischer Praktiken wie der Beschneidung oder der Speisevorschriften, die in den Augen paganer Zeitgenossen als unangemessener Partikularismus wahrgenommen wurden. Vor diesem Hintergrund betrachtet er die Maßnahmen Antiochos’ als „[e]in Programm der Bestrafung und der Reform“344. Die verschiedenen Rekonstruktionsvarianten für die Ereignisse der Jahre 168 – 167 v.Chr. schlagen sich auch in der Kommentierung von Dan 11,30– 35 nieder. Anders als die biblischen Makkabäerbücher, an deren Darstellungen sich die historischen Rekonstruktionen grundsätzlich orientieren, enthält Dan 11 – mit Ausnahme von V. 22c – keine Andeutungen über den Konflikt um das Amt des Hohenpriesters und dessen politische Auswirkungen. Dieser Umstand ermöglicht somit grundsätzlich eine Interpretation von V. 30–35 ohne Berücksichtigung der Revolte Jasons. In diesem Fall sehen die Ausleger den Grund für die Ereignisse am Jerusalemer Tempel ausschließlich im Richtungsstreit zwischen „Hellenisten“ und „Traditionalisten“ und schreiben dem König dabei eigene religionspolitische und religiöse Interessen zu. Wird Jasons Revolte für die Erläuterung von Dan 11,30–35 herangezogen, wirkt es sich aus, ob die Ausleger dieses Ereignis als Hintergrund von V. 28 betrachten oder nicht (s.o.). Ausleger, die bereits V. 28 mit einem Angriff Antiochos’ in Jerusalem verbinden, mit dem der König auf Jasons Revolte reagierte, tendieren dazu, die Motivation für die in V. 30–35 angedeuteten Ereignisse, meist verstanden als die Expedition des Apollonios, in den religionspolitischen Interessen des Königs zu se342
GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 229. Vgl. KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1675–1736, 1187–1219. 344 KEEL, Geschichte Jerusalems, 1190. Allerdings kann dieser Ansatz nicht erklären, warum sich die Reformmaßnahmen nur auf Jerusalem und den Tempel, nicht aber auf jüdische Gemeinden an anderen Orten des seleukidischen Herrschaftsgebiets erstreckten; vgl. KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1678, 1189. 343
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hen.345 Andernfalls werden die macht- und sicherheitspolitischen Interessen des Königs in den Vordergrund gestellt. Darüber hinaus ermöglicht der Danieltext jedoch die Annahme eines weiteren Motivs, das in der historischen Forschung zu Antiochos’ Angriff bzw. Angriffen gegen Jerusalem keine Rolle spielt: Da sich in Dan 11,30d der Zorn des Königs und seine Ausrichtung „gegen einen heiligen Bund“ direkt an seine Begegnung mit den Schiffen der Kittim und sein Verzagen anschließt, verstehen einige Ausleger die demütigende Behandlung der Römer als Motiv des Königs für seine Maßnahmen in Jerusalem.346 Demnach zürnt und agiert der König gegen den heiligen Bund, um sich nach der erlittenen Erniedrigung abzureagieren.347 In historischer Hinsicht sind die Maßnahmen, die Antiochos nach dem so herbeigeführten Ende des 6. Syrischen Krieges in Judäa und Jerusalem durch Apollonios in die Wege leitete, jedoch plausibel als Reaktion auf das gegenüber dem König illoyale Verhalten der Einwohner von Jerusalem während seines ersten Feldzugs nach Ägypten in den Jahren 170/169 v.Chr. zu begreifen.348 „In sum, Apollonius’ mission in 167 was intended to penalize the Jews for their previous disloyalty towards Antiochus, to cow them into submission, and to strengthen the king’s hold on Judaea and Jerusalem.“349
345 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 297f.; LACOQUE, Livre de Daniel, 168; PORTEOUS, Buch Daniel, 140f. 346 So auch KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1650, 1172. 347 Vgl. SEOW, Daniel, 179: „Already humilated by the Romans, Antiochus unleashed the fullness of his anger upon the Jews (…)“; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 298: „Cowed, frustrated, and enraged, Antiochus decided to strengthen his hold on Palestine. (…) 11:30b–35 tell how Antiochus, passing through Judea on his way from Egypt to Antioch, vented his feelings of rage on pious Jews particularly in Jerusalem who opposed his Hellenizing activities“; LACOQUE, Livre de Daniel, 168: „Il assouvit sa rage sur Jérusalem et inaugure la période de persécutions religieuses contre les Juifs“; vgl. auch BENTZEN, Daniel, 81; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 457; LEBRAM, Buch Daniel, 130, sieht diese Meinung zwar als falsch an, geht aber davon aus, dass der Text einen Zusammenhang zwischen der Demütigung Antiochos’ und seinem Zorn gegen den heiligen Bund nahelegt: „Doch schon unser Bericht, wenige Jahre nach dem Ereignis geschrieben, verbindet den Zorn gegen die heilige Tempelstiftung eng mit seinen Gefühlen beim Rückzug (…). Für den Verfasser ist es (…) selbstverständlich, daß der apokalyptische Gottesfeind Antiochus von Wut gegen das Heiligtum erfüllt ist.“ 348 Vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen, 220. Zum zeitlichen Abstand zwischen Jasons Aufstand und der Strafaktion vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 225f. 349 GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 225; vgl. PLÖGER, Buch Daniel, 164; GOLDINGAY, Daniel 1989, 301f., unter Verweis auf 1 Makk 1,29–32; 2 Makk 5,11–14. 23b–27.
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Sowohl der Umstand, dass Antiochos die Maßnahmen nicht selbst durchführen ließ, als auch die schlüssige politische Motivation legen daher keinen Zusammenhang mit der Demütigung Antiochos’ am „Tag von Eleusis“ nahe. In der Frage der grundsätzlichen Motivation Antiochos’ für sein Vorgehen gegen Jerusalem und die jüdische Religion spielt daneben weiterhin auch die an 1 Makk 1,41–42 orientierte, in der historischen Forschung jedoch verworfene Ansicht eine Rolle, Antiochos habe die „hellenistische Gleichschaltung seines Reiches“350 beabsichtigt.351 So verweist ein Teil der Kommentarliteratur zu Dan 11,30–35 durchaus auf die Hellenisierungsbestrebungen Antiochos’ als Grund für die Geschehnisse am Jerusalemer Tempel.352 Die Mehrzahl der Ausleger zieht eine solche Motivation des Königs, vor allem aufgrund der Analogielosigkeit des in 1 Makk 1,41–42 geschilderten Vorgangs, nicht in Betracht. Collins resümiert: „This view, that Antiochus was trying to unify his empire, has enjoyed some support in modern scholarship, but it has been shown to be untenable. There is no record of any attempt to suppress religious practices of any other people (…) or even of the Jews in the diaspora.“353
Im Hintergrund des folgenden V. 30g, „[er wird] auf solche achten, die verlassen einen heiligen Bund“, aber auch der Verse 32–35 steht die Auseinandersetzung zwischen an hellenistischen Neuerungen interessierten und konservativen Juden in Jerusalem, wie sie aus den Schilderungen von 1 Makk 1 und 2 Makk 4 – 5 hervorgehen.354 Häufig wird die in Dan 11,30g beschriebene Gruppe sogar direkt mit den in 1 Makk 1,11 erwähnten „Verrätern am Gesetz“ identifiziert.355 Die hellenistischen Kreise gelten den Danielauslegern als Verbündete des Königs und Nutznießer seiner Maßnah350 BENTZEN, Daniel, 81f. Die Formulierung erscheint verständlich, wenn man das Erscheinungsjahr der Erstauflage von Bentzens Kommentar, 1937, berücksichtigt. 351 Vgl. auch KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1675f., 1187, der in diesem Zusammenhang den Begriff „Nivellierungshypothese“ verwendet; so auch in KEEL, Die kultischen Massnahmen, 223. 352 Vgl. z.B. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 298–301, die von einer „policy of Hellenization“ ausgehen, auf deren Hintergrund der durch die Römer gedemütigte König seinen Zorn an den Jerusalemer Juden ausließ, die sich seinen Hellenisierungsbestrebungen widersetzten. 353 COLLINS, Daniel 1993, 63f. 354 Vgl. in diesem Zusammenhang jedoch GRUEN, Heritage and Hellenism, XIII–XIX, der die Trennung zwischen Hellenisten und Traditionalisten als künstlich bezeichnet (vgl. XIX): „Jews did not face a choice of either assimilation or resistance to Greek culture“ (XIII–XIV). Unter den Daniel-Kommentatoren zieht einzig LEBRAM, Buch Daniel, 120, die Existenz hellenistischer Kultusreformer in Zweifel. 355 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 457; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 298.
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men. Falls die Ausleger einen Zusammenhang zwischen den königlichen Maßnahmen und der gescheiterten Revolte des Jason sehen, verknüpfen sie den politischen Konflikt mit dem religionssoziologischen. V. 30g wird dann im Kontext des weiteren Textverlaufs so verstanden, dass die hellenisierenden Kreise, qualifiziert als diejenigen, die den heiligen Bund verlassen, gleichzeitig die Strafaktionen billigten und unterstützten, die Apollonios im Auftrag des Königs durchführte.356 Die „Arme“ im folgenden V. 31a beziehen die Ausleger für gewöhnlich auf die syrischen Truppen, die in Jerusalem stationiert wurden. Je nachdem, welche Chronologie der Ereignisse der Auslegung zugrunde liegt und welche Bedeutung den Hellenisierungsabsichten des Königs zugemessen werden, wird der Grund für die Stationierung der Truppen in der Stärkung der loyalen, hellenistischen Kreise357 oder in der Strafaktion gegen Jasons Revolte358 gesehen. Die Formulierung zw[mh vdqmh – „das befestigte Heiligtum“359 wird generell als Hinweis auf Festungsanlagen, die zur damaligen Zeit den Tempel schützten, aufgefasst. Als Belege für diese Annahme ziehen die Ausleger neben 1 Makk 4,60; 6,7 auch entsprechende Wendungen in 1 Chr 29,1.19 und Neh 2,8; 7,3 heran.360 Das in V. 31c – und darüber hinaus auch in Dan 8,11 und 9,27 – erwähnte Ende des täglichen Opfers korrespondiert nach Ansicht der meisten Ausleger mit dem in 1 Makk 1,45 überlieferten Verbot von Opfern im Jerusalemer Tempel durch ein Edikt König Antiochos’.361 Die Aufhebung des Opfers wird dann als beabsichtigter Eingriff des Königs in den Jerusalemer Kult verstanden. Dieser kann entweder als religionspolitische Maßnahme zur Durchsetzung einer hellenistischen Kultreform verstanden werden oder als Versuch, den Tempel als politisches Machtzentrum zu schwächen. Dabei ist der Einfluss von Tcherikovers Rekonstruktion spürbar, insofern einige Kommentare zwischen der in V. 31b erwähnten Entweihung des 356 PLÖGER, Buch Daniel, 164, spricht beispielsweise von einer Stärkung der „ihm treu ergebenen hellenistischen Kreise“ durch den König. Vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 384; SEOW, Daniel, 179f. 357 So z.B. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 297–299, welche Jasons Revolte und Antiochos’ Reaktion darauf bereits mit V. 28 in Verbindung bringen. 358 „The reference is to the expedition of the Mysarch“; COLLINS, Daniel 1993, 384; vgl. auch MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 457, der den Ausdruck aufgrund der vorliegenden sprachlichen Variante auf Einzelpersonen bezieht: „The ref. is to the lieutenants who executed the desecration“. 359 Zur Übersetzung s.o. Kapitel I. 1. 360 Vgl. SEOW, Daniel, 180; vgl. auch MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 457; COLLINS, Daniel 1993, 385. 361 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 289; COLLINS, Daniel 1993, 334.
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Tempels einerseits und dem Ende des täglichen Opfers sowie der Einrichtung der „verwüstenden Abscheulichkeit“ in V. 31c.d andererseits differenzieren. So geht beispielsweise Goldingay davon aus, dass die syrischen Soldaten zunächst den Tempel durch ihre Kulte entweihten und erst in einem zweiten Schritt die Opfer aufgehoben und der „Gräuel der Verwüstung“ aufgestellt wurde.362 Goldingay zieht diese Vorgänge als gegen den Widerstand konservativer Kreise gerichtete Maßnahmen in Erwägung. Während Goldingay also ähnlich wie Tcherikover von einer eher zufälligen und unbeabsichtigten Entweihung des Tempels ausgeht, die in einem zweiten Schritt durch den König legitimiert und politisch instrumentalisiert wurde, versucht Lebram, die Vorgänge am Tempel ohne jede politische Absicht des Königs zu erklären. Unter der Voraussetzung, bei der in V. 31c mit ~mwvm #wqvh umschriebenen Einrichtung handele es sich um den syrischen Himmelsgott Baal Schamem, führt Lebram auch die Abschaffung der Opfer auf die Entweihung des Tempels durch die Soldaten des Apollonios zurück: Die Soldaten der auf der Akra stationierten syrischen Garnison hätten ihren eigenen Gott, Baal Schamem, mitgebracht, diesen im Jerusalemer Tempel, den sie als Einwohner Jerusalems auch als ihren Kultort auffassten, verehrt und damit den Tempel entweiht.363 „Die ‚Abschaffung des täglichen Opfers‘ für Jahweh muß eher als priesterliche Maßnahme zur Reinerhaltung des Kultes als als dessen Unterdrückung zu verstehen sein. Für die Priester muß das Tempelgebiet durch die Anwesenheit von Nichtjuden, und auch durch die Errichtung des Kultobjekts, vielleicht eines Steines, unrein geworden sein, so daß sie auf dem entweihten Tempelgebiet Opfer nicht mehr vollziehen konnten. (…) Spätere Generationen haben diese Eingriffe in den Tempeldienst als Auswirkungen einer Zwangsreligion verstanden, die Antiochus im ganzen Lande einführen wollte (1. Makk. 1,41–53). Dies ist jedoch unwahrscheinlich und mit historischen Mitteln nicht beweisbar. Auch die andere Annahme, daß jüdische Reformgruppen den jüdischen Kultus durch diese Maßnahmen mit der Unterstützung des Antiochus gewaltsam ‚hellenisieren‘ wollten, ist unwahrscheinlich, da die spätere Polemik der Hasmonäerfürsten gegen ihre Vorgänger und politischen Gegner solche Vermutungen nicht rechtfertigen kann.“364
Die klassische These, bei der „verwüstenden Abscheulichkeit“, hebräisch ~mwvm #wqv, handele es sich um eine Verballhornung des syrischen Himmelsgottes Baal Schamem, geht auf einen Vorschlag von Nestle aus dem Jahr 1884 zurück365. Sie fand Bestätigung durch die Arbeiten von Bickermann, der auf die syrische Gestalt der fremden Kulte am Jerusalemer Tem362
Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 302. Vgl. LEBRAM, Buch Daniel, 130f. Vgl. auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 302, der die Eingriffe in den Tempelkult eventuell als Maßnahmen gegen den Widerstand konservativer Kreise verstanden wissen will; vgl. auch SEOW, Daniel, 183. 364 LEBRAM, Buch Daniel, 131. 365 Vgl. NESTLE, Zu Daniel, 247f. 363
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pel hinweist,366 und korrespondiert auch mit Tcherikovers Annahme, bei den Truppen des Mysarchen habe es sich um syrische Soldaten gehandelt, die ihre Kulte in den Jerusalemer Tempel hineintrugen367. Bis heute folgt ihr daher die Mehrzahl der Ausleger, wobei unter dem ~mwvm #wqv meist konkret eine Statue oder ein Aufsatz auf dem Brandopferaltar verstanden wird, der im Kult des Baal Schamem eine Rolle spielte.368 Gleichwohl ist diese These nicht unumstritten. Nestle beruft sich in seiner Argumentation ausschließlich auf die Darstellung der Makkabäerbücher, die von einem Kult des Zeus Olympios in Jerusalem berichten. Die Übersetzung von Zeus Olympios ins Syrische lautet bÝlšmjn, woraus Nestle ableitet, dass diese Bezeichnung auch hinter der in Daniel verwendeten Formulierung #wqv ~mwvm stecke. Keel kritisiert Nestles Identifikation des ~mwvm #wqv mit Baal Schamem und weist sie als unwahrscheinlich zurück. „Zuerst ist darauf hinzuweisen, dass Nestle von 1 und 2 Makk ausgeht und dem Kontext, in dem der enigmatische Ausdruck in Dan erscheint, überhaupt keine Beachtung schenkt. Dort steht er aber konsequent im Gegensatz zur legitimen Opferpraxis. Die traditionelle Verballhornung von b Ýl ist bšt nicht šqwÒ. (…) šqwÒ bezeichnet aber (…) gelegentlich auch einen verfemten Kultbrauch. Dan 8,13 zeigt, dass šqwÒ in unserem Zusammenhang mit psÝ austauschbar ist. psÝ bezeichnet aber durchwegs einen Vorgang und keinen Gegenstand und ist so schwer auf eine Göttergestalt wie Ba῾al Šāmēm zu beziehen, hingegen problemlos auf einen Altaraufbau für Schweineopfer bzw. auf Schweineopfer.“369
Gerade in diesem Zusammenhang wird deutlich, wie sehr die Deutung des Danieltextes mit Hilfe seiner historischen Hintergründe hier den Charakter einer Rekonstruktion historischer Ereignisse trägt. Die Ereignisse, Motive und Zusammenhänge, mit denen die Ausleger den Text erläutern, werden dabei – in Anlehnung an oder Abgrenzung von den Darstellungen der Makkabäerbücher – erst aus dem Danieltext gewonnen. Die Auslegung der Verse 32–35 wird von der Frage nach der Identität der dort erwähnten Gruppen beherrscht. Dabei berufen sich die meisten Ausleger auf die in den Makkabäerbüchern überlieferte Konfliktstellung zwischen hellenistischen Modernisierern, die bisher unangefochtetene Grundbestände der Religion aufgeben wollen, und „Orthodoxen“, die an der überlieferten Gestalt der Religion festhalten wollen.
366
Vgl. BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 133; siehe auch 109; 111–116. Vgl. TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 194f. 368 Vgl. z.B. COLLINS, Daniel 1993, 358. Collins stellt die verschiedenen Vorschläge für die Identifikation des „Gräuels“ dar, kommt aber letztendlich zum Schluss: „(…) that the abomination was a pagan altar, fits best with the earliest testimonies and encounters no serious objection“. 369 KEEL, Die kultischen Massnahmen, 232; vgl. auch KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1686–1694, 1193–1197. 367
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„Zunächst wird der große Riß genannt, der die jüdische Theokratie in zwei Lager teilt, auf der einen Seite die Apostaten, die durch Ränke (oder Versprechungen) des Königs gewonnen werden, auf der anderen Seite die Jahwetreuen, die ihren Gott kennen, indem sie an der t[d festhalten (V. 32); sie sind es, die durch die Weisen im Volk in ihrer Einsicht gestärkt werden, so daß dem König in V. 32a und 33 als Gegenspieler die Weisen gegenübergestellt werden.“370
Während das „Volk, das seinen Gott erkennt“, in V. 32b in erster Linie die Gegenposition zu den „Bundesfrevlern“ in V. 32a einnimmt, werden die „Weisen des Volkes“ in V. 33a.35a als davon zu unterscheidende, wenn auch in Verbindung stehende Gruppierung interpretiert.371 Generell wird diese Gruppe mit dem Verfasserkreis des Danielbuches in Verbindung gebracht: „There can be little doubt“, so Collins, „that the author of Daniel belonged to this circle and that the instruction they impart corresponds to the apocalyptic wisdom of the book.“372 Die Kommentare versuchen verschiedentlich, die Identität dieser Gruppe und ihre Position im Jerusalemer Judentum des 2. Jahrhunderts v.Chr. noch genauer zu bestimmen. „Jene Gruppe, die die Verehrung des syrischen Himmelsgottes als Gotteslästerung ansieht, wird durch die ‚Lehrer des Volkes‘ vertreten (11,33), wahrscheinlich anerkannten Funktionären der Tempelhierarchie, aber nicht am Priesterdienst beteiligten Predigern nach Art der Leviten. Sie werden das Volk, die Kultgemeinde, über den blasphemischen Charakter des gegenwärtigen Zustandes des Tempels belehrt haben.“373 Immer wieder begegnet in diesem Zusammenhang, vor allem in der älteren Kommentarliteratur, der Vorschlag, diese Gruppe mit den in den Makkabäerbüchern erwähnten Hasidim oder Hasidäern374 gleichzusetzen. So ist sich beispielsweise Montgomery sicher: „The term doubtless represents the Asidæans, ~ydysx ‚the Pious‘, which party are said to have attached themselves to Judas after his early successes, 1 Mac. 242, although not permanently.“375
Eine nähere Betrachtung der entsprechenden Stellen in 1 Makk und ein Vergleich mit dem Profil, das das Danielbuch für seine Verfasser nahelegt, lassen diese These jedoch als wenig plausibel und ausgesprochen spekula370
PLÖGER, Buch Daniel, 164. Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 385, der das Volk, das seinen Gott erkennt, als Sammelbegriff für den jüdischen Widerstand gegen Antiochos’ Religionspolitik auffasst, der ein breiteres Spektrum an Bewegungen als nur die Weisen abdeckt. 372 COLLINS, Daniel 1993, 385. 373 LEBRAM, Buch Daniel, 131. 374 Vgl. 1 Makk 2,42; 7,13; 2 Makk 14,6. 375 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 458; vgl. auch jüngst KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1657, 1176; § 1736, 1218f. 371
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tiv erscheinen. So weist Collins vor allem darauf hin, dass die Hasidäer in 1 Makk als aktive Teilnehmer am Makkabäer-Aufstand geschildert werden, der jedoch in Dan 11, wenn überhaupt, nur eine nebengeordnete Rolle spielt.376 Ähnliche Beobachtungen führen dazu, dass manche Ausleger den Danieltext als Indiz für eine differenziertere Struktur der jüdischen Widerstandsbewegung auffassen. So sieht Plöger in den Weisen „eine extrem eschatologische Richtung innerhalb der asidäischen Gruppe (…), der sich der Verfasser selbst zurechnet; in ihr sieht er das wahre Israel verkörpert, das in passivem Ausharren dem Handeln seines Gottes nicht vorgreifen will, um so glühender aber dieses Eingreifen erwartet, das mit der Vernichtung des Antiochus zugleich das Ende der Zeit eröffnet“377.
Seow betrachtet die ~ylykfm ebenfalls als Vertreter eines passiven Widerstands, allerdings im Gegensatz zu den Hasidäern, die seiner Ansicht nach aktiven Widerstand gegen Antiochos’ Religionspolitik leisteten.378 Er beruft sich dabei auf das Profil der Weisen, das sich aus den folgenden V. 33 und 35 ergibt. Sowohl V. 33b als auch V. 35a erwähnen, dass die Weisen „fallen“. Während V. 33b die Art und Weise dieses Fallens genauer erläutert – „durch Schwert und Flamme, Gefangenschaft und Raub“ nämlich, gibt V. 35a den Zweck des Fallens an: „um zu prüfen unter ihnen und zu läutern und zu reinigen“. Diese Formulierungen finden nach der Ansicht der Daniel-Kommentatoren eine Parallele in den Schilderungen der Makkabäerbücher über die Verfolgung jener, die die von Antiochos angeordneten religionspolitischen Maßnahmen nicht akzeptieren und sich ihnen widersetzen.379 Als einziger Hinweis auf die Aufstandsbewegung des Mattatias und seiner Söhne wird die Wendung „mit wenig Hilfe“ in V. 34a diskutiert. Der Anstoß für diese Identifikation entstammt wieder dem bei Hieronymus überlieferten Werk des Porphyrios. Montgomery plädiert ebenfalls für diesen Bezugspunkt, hebt aber den Autor von Daniel als Hasidäer – der seiner Ansicht nach den passiven Widerstand bevorzugt – von den Makkabäern ab „for he looks for help to god alone“.380 Doch auch diese Interpretation ist aufgrund der geringen Beachtung, die die makkabäische Bewegung in Dan 11 findet, mit Vorsicht zu bewerten: „Wether the author of Daniel saw the Maccabees as a help at all is nonetheless doubtful.“381 376 377 378 379 380 381
Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 67f. PLÖGER, Buch Daniel, 165. Vgl. SEOW, Daniel, 180f. Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 299; COLLINS, Daniel 1993, 385. Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 459. COLLINS, Daniel 1993, 386.
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Unter der Voraussetzung, dass der makkabäische Aufstand einen Niederschlag in Dan 11 findet, verweisen manche Ausleger in Zusammenhang mit V. 34b „es schließen sich ihnen an viele durch Ränke“ auf die Härte, mit der die Makkabäer „abgefallene“ Juden behandelten (1 Makk 2,44–46; 3,5–8). „Because of such brutal measures, many Jews who had previously renounced the practice of their faith for the security and comforts of Hellenistic culture and religion, joined in the resistance movement to save their necks: ‚many will join them insincerely‘ (11,34b). But as soon as the oportunity presented itself, such Jews again abandoned their faith.“382
Die V. 36–39 thematisieren das Verhältnis des seit V. 21 amtierenden Königs zu den Göttern insgesamt. Neben biblischen und außerbiblischen Motiven diskutieren die Ausleger auch im Zusammenhang mit diesen Versen mögliche historische Bezugspunkte. Als Hintergrund der Selbsterhöhung des Königs sogar über den höchsten Gott (V. 36b–d) werden häufig die Inschriften der unter Antiochos IV. geprägten Münzen benannt: ΒΑΣΙΛΕΟΣ 383 ΑΝΤΙΟΧΥΟ ΘΕΟΥ ΕΠΙΦΑΝΟΥΣ. Nach Seow könnte die Aussage, der König werde nichts über die Götter seiner Väter wissen (V. 37a), auf die Bevorzugung des Zeus durch Antiochos anstelle des althergebrachten Schutzgottes der Seleukiden, Apollo, hinweisen.384 Er greift damit eine These auf, die insbesondere in der ersten Häfte des 20. Jahrhunderts auf große Zustimmung stieß, inzwischen aber eher skeptisch beurteilt wird.385 Als Anspielung auf die besondere Verehrung des Zeus durch Antiochos wird auch die Formulierung „(…) dem Gott der Festungen (…) wird er Ehre geben“ in V. 38 verstanden. Der „Liebling der Frauen“ (V. 37b) wird im Allgemeinen mit dem aus dem mesopotamischen Raum stammenden Fruchtbarkeitsgott Tammuz identifiziert, unter dem Namen „Adonis“ der Schutzgott der Ptolemäer. Im Vergleich mit der historisch nachweisbaren religiösen Praxis von Antiochos IV. bezeichnet Collins die Aussage von Dan 11,37a, der König werde über die Götter seiner Väter nichts wissen, als problematisch. „This is probably deliberate polemical distortion, to depict the impiety of the king in the most extreme terms possible.“386
382 HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 300; ähnlich MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 459. 383 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 386. 384 Seow verweist in diesem Zusammenhang auf in der Zeit des Antiochos geprägte Münzen, die neben Apollo nun auch ein Bild des Zeus tragen können; vgl. SEOW, Daniel, 183. 385 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 387, der auf die Ergebnisse numismatischer Studien bei MØRKHOLM, Antiochus IV of Syria, 131, verweist, welche diese These widerlegen. 386 COLLINS, Daniel 1993, 387; vgl. auch 388: „Daniel takes the king’s break with tradition to an extreme by denying any continuity with his fathers“.
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V. 39 wird häufig auf die syrische Garnison, die Apollonios auf der Akra stationierte, bezogen, freilich um den Preis einer Textemendation.387 Die meisten Kommentare nehmen statt ~[i – „mit“, ~[; – „Volk“ an und geben den Anfang des Verses folgendermaßen wider: „Und dann handelt er für die Befestiger der Festungen, das Volk eines fremden Gottes (…)“388. Der Text macht diese Emendation jedoch nicht nötig, vielmehr scheint die Änderung der Punktierung an dieser Stelle eher der Logik möglicher historischer Bezüge als der Logik des überlieferten Textes zu folgen. Konkrete Ereignisse darüber hinaus werden in der Kommentierung von V. 36–39 nicht herangezogen. Stattdessen wird in V. 36 eher eine Beschreibung des Charakters Antiochos’ gesehen, die das Verhalten des Königs während der Religionsverfolgung zusammenfasst. Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Formulierungen „[er] handelt […] seinem Willen entsprechend“ und „er wird sich groß machen“ und „Unerhörtes reden“ bereits an anderer Stelle im Danielbuch das Verhalten des endzeitlichen Schreckensherrschers (vgl. Dan 8,4.10.11) oder allgemein das Verhalten eines Königs (vgl. Dan 11,2.16) charakterisieren.389 Die abschließenden Verse 40–45 schildern unter Aufnahme von Motiven aus dem bisherigen Verlauf von Dan 11 einen weiteren Krieg zwischen nördlichem und südlichem König, in dem sich der nördliche König durchsetzt, schließlich aber sein Ende findet. Während Porphyrios in Zusammenhang mit Dan 11,40–45 tatsächlich von einem dritten Feldzug Antiochos’ IV. gegen die ägyptischen Ptolemäer ausgeht, besteht jedoch heute Einigkeit darüber, dass Antiochos nach dem Ende des 6. Syrischen Krieges keinen weiteren Krieg gegen Ägypten führte.390 Diese Beobachtung gibt den Ausschlag für die Datierung des Danieltextes in die Zeit nach der Strafexpedition des Apollonios und den daraus resultierenden Folgen im Jahr 167 v.Chr., da dies die letzten historisch identifizierbaren Ereignisse sind, auf die der Text anspielt. Dan 11,40–45 wird somit nicht mehr als Bericht, sondern als Vorhersage gelesen,391 wobei unterschiedliche Ansichten über die Kriterien bestehen, an denen sich diese orientiert.392 Während Plöger versucht, die Zukunfts387
Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 387; SEOW, Daniel, 184. Vgl. GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 224. Gera bezieht sich hier rekonstruierend auf diese Textfassung. 389 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 386; SEOW, Daniel, 182f. 390 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 388–389; GOLDINGAY, Daniel 1989, 305; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 303, SEOW, Daniel, 194. 391 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 303. 392 Übersichten über verschiedene Möglichkeiten, die Vorhersage ab V. 40 zu interpretieren, finden sich bei MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 465; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 303, und DELCOR, Livre de Daniel, 246f. 388
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ansage als Erwartung der Verfasser aufgrund ihrer historischen Erfahrungen pausibel zu machen393 – somit also ganz in der Hermeneutik des Berichts verbleibt –, begreifen Seow und Pace Dan 11,40–45394 eher als Fortsetzung des Musters, das sich in den vorhergehenden Passagen abzeichnet: „Antiochus’ past is the best prediction of his future“395, so Pace. Lebram, der den Text bereits ab V. 36 als Zukunftsansage liest, geht hingegen davon aus, dass die „damit beginnenden Geschehnisse (…) nicht die politischen Zukunftsberechnungen des Verfassers [wiedergeben], sondern das Bild seiner Endzeiterwartungen, das zum Teil auf ägyptischen Vorbildern beruht.“396 Darüber hinaus erläutern die Kommentare im Zusammenhang mit V. 40–45 die biblischen Motive, die den letzten Abschnitt der großen Geschichtsoffenbarung durchziehen.397 So vermutet bereits Bentzen: „Der Untergang des Tyrannen ist wahrscheinlich als Erfüllung von Jes 10,28–34 gedacht und dementsprechend geweissagt worden. Daneben haben wohl auch die Sanherib-Legenden (Jes 36–39) eingewirkt.“398
Die Lokalisierung des Todes des endzeitlichen Königs „zwischen Meer(en) und dem Berg der Zierde der Heiligkeit“ (11,45) wird mit Verweisen auf die endzeitlichen Gerichtsszenen in Ez 39,4; Sach 14,2; Joël 4,2 und Jes 14,25 erläutert.399 Insgesamt scheint die Darstellung des Endes von Gog in Ez 38 – 39 ein wichtiger Hintergrund für die Schilderung des letzten Königs zu sein.400 Während also die Plausibilität bis inklusive Dan 11,39 anhand der historischen Bezugspunkte des Danieltextes erwiesen wurde, ist dies in Dan 11,40–45 nicht mehr möglich. Die Kommentatoren sind somit gezwungen, spätestens ab V. 40 die Hermeneutik des Berichts hinter sich zu lassen und die Gründe für die Inhalte der Zukunftsansage in anderen Sinnzusammenhängen zu suchen.
393
Vgl. PLÖGER, Buch Daniel, 166. Vgl. SEOW, Daniel, 185; PACE, Daniel, 333–335. 395 PACE, Daniel, 333; vgl. auch SEOW, Daniel, 185: „Thus, the author of Daniel, as a close observer of events in history believed, that history will repeat itself (…).“ 396 LEBRAM, Buch Daniel, 133; Lebram spielt damit auf die ägyptische Tradition an, den Perserkönig Kambyses als chaosbringenden Gottesfeind zu stilisieren. 397 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 305, der auf die im Vergleich zu den vorhergehenden Passagen in V. 40–45 systematisch eingespielten innerbiblischen Bezüge hinweist. 398 BENTZEN, Daniel, 83. 399 Vgl. LACOQUE, Livre de Daniel, 171; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 465. 400 Vgl. LACOQUE, Livre de Daniel, 171; LEBRAM, Buch Daniel, 133. 394
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
3. Grenzen der historischen Lesart von Dan 11 3. Grenzen der historischen Lesart von Dan 11
Verglichen mit vorkritischen Exegesen ändert sich im historisch-kritischen Paradigma vor allem die Rolle, die der Aufdeckung der historischen Bezugspunkte von Dan 11 zukommt. Wie in Kapitel II. 1 dargestellt, werden auch in der vorkritischen Exegese von Dan 11 die Anspielungen des Textes mit konkreten Ereignissen in Verbindung gebracht. Solange Dan 11 als Prophetie gelesen wurde, konnten die Anspielungen entweder auf vergangene Ereignisse bezogen werden; sie waren dann Bestätigung der Zuverlässigkeit des prophetischen Textes. Oder sie wurden, unter der Annahme, es handle sich um authentische und zuverlässige Prophetie, als Vorhersage der eigenen Gegenwart und Zukunft interpretiert. In dieser Lesart hatten die Anspielungen von Dan 11 den Charakter eines Formulars, in das die eigene Gegenwart eingetragen werden konnte. Vor dem Hintergrund der historisch-kritischen Wende dient die Benennung der historischen Bezugspunkte des Textes nicht mehr der Bestätigung seiner prophetischen Qualität. Die Aufklärung über die Bezugspunkte der rätselhaft gestalteten Rede wird vielmehr selbst zum Ziel der Exegese. In diesem Sinn bezeichnet Bentzen Dan 11,1 – 12,13 als eine Enthüllung der Zukunft, „die in Wirklichkeit bis 11,39 eine Übersicht über die Geschichte der Seleukiden und Ptolemäer darstellt (…)“.401 Offenzulegen, was der Text „in Wirklichkeit“ ist, das ist in diesem Paradigma das Ziel der exegetischen Auseinandersetzung mit Dan 11. Sowohl die Inhalte als auch die Form, die sie als „verschlüsselte Geschichtsbetrachtung“402 haben, werden dabei der Logik des vaticinium ex eventu unterworfen. Die Ereignisse müssen wie eine in die Zukunft blickende Prophetie gestaltet und zugleich erkennbar und zuverlässig abgebildet sein, damit der Text für die ursprünglichen Adressaten eine tröstende Funktion haben kann. Dass Dan 11 nicht nur im Licht historischer Erkenntnisse sinnvoll interpretiert werden kann, sondern auch selbst als Quelle Licht auf die Ereignisse im Jerusalem der Jahre 168 – 167 v.Chr. wirft, verstärkt die Fokussierung der wissenschaftlichen Exegese auf die historischen Bezugspunkte von Dan 11. Als Bericht verstanden, dient Dan 11 unter anderem „als Schlüssel, der das Verständnis jener Zeit eröffnet, in der das Danielbuch abgeschlossen wurde (…)“403. Damit wird für die Lektüre des Textes jedoch eine Hermeneutik gewählt, die bei weitem nicht alle seine Aspekte erfasst und somit auch nicht das Sinnpotenzial des Textes in seiner gesamten Breite auszuleuchten vermag. Vielmehr gerät die allein auf die Entschlüsselung des historischen Po401 402 403
BENTZEN, Daniel, 79; vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 336, Anm. 492. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 184. LEBRAM, Buch Daniel, 110.
3. Grenzen der historischen Lesart von Dan 11
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tenzials ausgerichtete Lektüre von Dan 11 sowohl in historischer als auch in textlicher und bibelhermeneutischer Hinsicht in Aporien. Diese sollen im folgenden Abschnitt erläutert werden. 3.1 Historische Aporien In historischer Hinsicht ergeben sich aus einer von der Frage nach den historischen Bezugspunkten dominierten Lektüre von Dan 11 zwei hauptsächliche Aporien. Die erste Aporie betrifft die Bewertung insbesondere von Dan 11,28–35 als Quelle, von der die historische Lesart des gesamten Textes abhängt. Wie bereits gezeigt404, wurde an der Wende zur historisch-kritischen DanielExegese insbesondere die Bedeutung von Dan 11 als historischer Quelle betont. Der Charakter des Textes als zeitgenössisches Dokument scheint geradezu als Rechtfertigung für die weitere exegetische Auseinandersetzung mit dem Text zu dienen. Insofern hängt von der Bewertung von Teilen des Textes als Quelle die historische Lesart und die exegetische Wertschätzung des gesamten Textes ab. Diese Einschätzung ist aber gerade im Kontext der historischen Forschung höchst umstritten (Kapitel II. 3.1.1). Die zweite Aporie bezieht sich auf das zirkuläre Zusammenspiel zwischen der historischen Interpretation des Textes als Quelle und der Decodierung des Textes mit Hilfe rekonstruierter Ereigniszusammenhänge (Kapitel II. 3.1.2). Das Problem des Quellenwertes von Dan 11 und das Problem der Zirkularität sollen im Folgenden anhand von Beispielen näher erläutert werden. 3.1.1 Umstrittener Quellenwert In Hinblick auf die Rezeption von Dan 11 als Quelle für die Geschichte Judäas und insbesondere Jerusalems im 2. Jahrhundert v.Chr. kommt der Historiker Andreas Blasius zu einem differenzierten Ergebnis. Er stellt fest, dass für die Rekonstruktion der politischen Ereignisgeschichte und der Sozialhistorie eher die beiden Makkabäerbücher als maßgebliche Quellen herangezogen werden. „Kultur- und religionshistorische Arbeiten – vor allem von jüdischen Althistorikern – greifen oft in wesentlich ausführlicherer Form auf das Daniel-Buch zurück (…).“405 Als Beispiele führt Blasius in diesem Zusammenhang die Studien „Four Strange Books“ und „The Jews“ von Bickermann, „Jewish Perspectives“ von Gruen und die bis heute maßgebliche Studie „Judentum und Hellenismus“ von Hengel an.406 Diese 404 405 406
Siehe oben Kapitel II. 1.2. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 85, Anm. 36. Vgl. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 85, Anm. 36.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Autoren vertreten eine ausgesprochen optimistische Einschätzung des Quellenwertes von Dan 11. So bezeichnet Hengel Dan 11,1–30a als „Geschichtsdarstellung ohne Fehler über die ptolemäisch-seleukidischen Beziehungen, lediglich unter Auslassung Antiochus’ I. 281–261 v.Chr.“407 Hengel versteht Dan 11 insgesamt als verschlüsselte Geschichte, die nach ihrer Decodierung wie ein Bericht408 gelesen werden kann. Er streut dementsprechend Zitate aus Dan 11 als Belege in seine Darstellung ein, ohne eine weitere Reflexion über den Quellenwert des Danieltextes anzustellen.409 Andere Autoren gehen vorsichtiger und reflektierter mit Dan 11 als Quelle um, gelangen aber dennoch zu einer optimistischen Einschätzung des Textes bezüglich seiner Zuverlässigkeit als Quelle. So warnt beispielsweise Montgomery im Zusammenhang mit der Kommentierung von Dan 11: „The commentator must steer cautiously between the Scylla and Charybdis of over-insistence upon the chapter’s worth as a historical document and depreciation of it.“410 Bickermann stellt im Kontext der Frage nach dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse im Vorfeld des makkabäischen Aufstandes mit Bezug auf Antiochos IV. kritisch fest: „Die Individualität des Bedrückers ist in dieser Geschichtsauffassung nicht wahrnehmbar.“ Er fährt fort: „Man kann also gar nicht fragen, wie Daniel, der Zeitgenosse der Verfolgung, deren Entstehung pragmatisch begreift.“411 Dennoch bezeichnet Bickermann Dan 11 sowohl in der Frage nach der Ereignisfolge als auch in der Frage nach den genauen Maßnahmen Antiochos’ als „wichtigste Quelle“412 und „ältesten uns erhaltene[n] Bericht“413. Eine gegenteilige Meinung vertritt Blasius: „Diese überaus wohlwollende Argumentation muss jedoch insofern mit Vorsicht genossen werden, als das Alter einer Quelle – und selbst wenn sie zeitgenössisch entstanden ist – noch keine Garantie für eine der ‚Realität‘ der Ereignisse zwingend nahestehende Glaubwürdigkeit bietet (…).“414 407
HENGEL, Judentum und Hellenismus, 336, Anm. 492. So schreibt HENGEL, Judentum und Hellenismus, 526, mit Verweis auf Dan 11,30b: „Ein weiterer Hinweis findet sich unmittelbar nach dem Bericht über die Gründung der Militärkolonie und die Entweihung des Heiligtums“; Hervorhebung: R.W. 409 Vgl. z.B. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 325f.505.517.529.546; vgl. aber auch 518 die kritischen Reflexionen zum Verhältnis von 1 Makk und Dan 11. 410 MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 422. 411 BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 27. 412 BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 144. 413 BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 160. Eine positive Einschätzung des Quellenwerts von Dan 11 aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen religionspolitischen Maßnahmen Antiochos’ IV. und der Entstehung des Textes findet sich auch bei BRINGMANN, Hellenistische Reform, 30, und bei TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 474. 414 BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 86. 408
3. Grenzen der historischen Lesart von Dan 11
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Der optimistischen Einschätzung von Hengel, der Dan 11,1–30a als „Geschichtsdarstellung ohne Fehler“ bezeichnet, stehen daher ungleich kritischere Positionen gegenüber. „Die Art, wie im Danielbuch Geschichte dargestellt wird,“ so Koch, „hat ihre tiefen Mängel“415. Fischer bezeichnet das Danielbuch sogar als „Geschichtsfälschung ersten Ranges“416. Auch Gera, der sich kritisch mit dem Quellenwert von Dan 11 auseinandersetzt, verweist auf den Stil des Textes, der eine zuverlässige historische Rekonstruktion eher behindert als fördert. Im Zusammenhang mit der historischen Diskussion um die Anzahl der Angriffe Antiochos’ IV. gegen Jerusalem nimmt Gera auf die Position von Tcherikover Bezug, der sich mit Verweis auf die Darstellung in Dan 11 für die Annahme zweier Angriffe ausspricht.417 Gera bemerkt dazu kritisch: „Another source often used to promote the theory of two attacks by Antiochus on Jerusalem is the Book of Daniel. Yet Daniel is known for its vague and enigmatic style and language, which has puzzeld and beguiled scholars, leading them on occasion to grave errors. And indeed chapter 11 of Daniel, invoked by some favor of a double assault by Antiochus, has proven a pitfall when used to determine the number of campaigns conducted by Antiochus IV against Egypt.“418
Die letzte Bemerkung bezieht sich auf die in Dan 11,40–43 erwähnte dritte Auseinandersetzung des letzten Königs des Nordens mit dem König des Südens, die von älteren Exegeten historisch interpretiert wurde. Gera spricht sich daher nicht nur gegen den von Tcherikover gezogenen Schluss aus, sondern stellt den Quellenwert von Dan 11 aufgrund seines vagen und rätselhaften Stils grundsätzlich in Frage. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: In Bezug auf die Vermittlungsleistung des Hieronymus wurde die Überbewertung der Leistung des Porphyrios als Kronzeuge historisch-kritischer Exegese von Dan 11 und die auch in historischer Hinsicht eigenständige Bedeutung von Hieronymus’ Kommentar bereits oben419 gezeigt. Der Quellenwert des Danieltextes hängt maßgeblich an seiner Einschätzung als Augenzeugenbericht. Dan 11 ist als Quelle von Bedeutung, weil der Text aus der Perspektive des 2. Jahrhunderts Ereignisse des 2. Jahrhunderts v.Chr. schildert. Wenn aber der Text aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. erst mit Hilfe eines Textes aus dem 4. Jahrhundert n.Chr. sinnvoll als Quelle erschlossen werden kann, relativiert das 415
KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 309. FISCHER, Seleukiden, 171. 417 Vgl. TCHERIKOVER, Hellenistic Civilization, 186: „The general view of modern scholars is that Antiochus visited Jerusalem once only (…). We cannot accept this view, since the Book of Daniel speaks explicitly of two visits by Antiochus to Jerusalem“. Vgl. auch 473f. Eine ähnliche Position vertritt auch MØRKHOLM, Antiochus IV of Syria, 142f. 418 GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 155. 419 Siehe Kapitel II. 1.4.1.2. 416
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
den Wert des Textes als zeitgenössisches Dokument erheblich. „Die Darstellung der Ereignisse ist extrem kurz, wird jedoch durch den Kommentar des Porphyrios ergänzt, der zumindest teilweise in der Invektive des Hieronymus überliefert ist,“ so Mittag zum Quellenwert von Dan 11.420 Eine ähnliche Beobachtung macht auch Blasius, wenn er schreibt: „Die Apokalypse [gemeint ist das Danielbuch] erfüllt zumeist eine mittelbare Funktion, indem sie letztlich die Ausgangsbasis für die Forschungen des durch Hieronymus überlieferten Porphyrios bildet.“421 Nach Blasius dient der Danieltext aus heutiger Perspektive somit weniger als Quelle, sondern vielmehr als „Ausgangsbasis“ der Schriften, die verwertbare Informationen für die Rekonstruktionsversuche der Gegenwart enthalten. Aufgrund seiner stilistischen Eigenarten ist der Quellenwert von Dan 11 somit umstritten, wenn nicht gar fragwürdig. Diese Erkenntnis stellt die historisch-kritische Hermeneutik des Berichts in Frage, insofern von der Bewertung von Dan 11 als Quelle für die Vorgeschichte des MakkabäerAufstandes die entschlüsselnde Lesart des gesamten Textes abhängt. Mit der Wertschätzung von Dan 11 als „engmaschiges Dokument einer dramatischen Zeitgeschichtsschreibung“422 wird die entscheidende Weiche für die exegetische Auseinandersetzung mit diesem Text im historisch-kritischen Paradigma gestellt. Wenn aber die als Quelle geltenden Teile für die historische Rekonstruktion weit weniger hilfreich sind, als bisher angenommen, dann verliert auch die decodierende Lesart des gesamten Textes an Plausibilität. In der historischen Forschung werden die stilistischen Eigenheiten von Dan 11 somit genau registriert und der Quellenwert des Textes inzwischen als sehr begrenzt beurteilt. Diese Erkenntnisse schlagen sich in der exegetischen Auseinandersetzung mit Dan 11 jedoch kaum nieder. Vielmehr gibt die Beurteilung von Dan 11 als zeitgeschichtlichem Dokument der Vorgeschichte der Makkabäerrevolte nach wie vor das Paradigma für den Umgang mit dem Text in der Bibelwissenschaft vor. 3.1.2 Zirkularität der historischen Argumentation Ausschlaggebend für die optimistische Bewertung von Dan 11 als historischer Quelle ist neben der zeitlichen Nähe des Textes zu den fraglichen Ereignissen die sachliche Richtigkeit des Textes, die seine Funktionsweise als vaticinium ex eventu zwangsläufig voraussetzt. Diese kann jedoch nur unter Rückgriff auf andere Darstellungen der zugrunde liegenden Ereignisse überprüft werden. 420 421 422
MITTAG, Antiochos IV. Epiphanes, 23f. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 85. KOCH, Buch Daniel, 127.
3. Grenzen der historischen Lesart von Dan 11
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Im Vergleich mit anderen Quellentexten besteht bei Dan 11 die Schwierigkeit, dass alternative Darstellungen nicht nur zur Überprüfung der in Daniel erwähnten Ereignisse, sondern bereits zur Entschlüsselung des Textes notwendig sind. So urteilt beispielsweise Mørkholm: „Of the Jewish sources, the oldest is the Book of Daniel, written in 166 or 165. In chapter 11,10–39 the author gives, in guise of a prophecy, a brief survey of Seleucid history from the accession of Antiochus III in 223 down to about 165 (…). Their prophetic form makes verses 10–39 rather difficult to understand by themselves, and their fundamental trustworthiness has only been established by a comparison with other historical material.“423
Quellen, mit deren Hilfe Dan 11 historisch interpretiert werden kann, sind zum einen die von Dan 11 unabhängigen Darstellungen der Makkabäerbücher sowie Flavius Josephus, zum anderen die antike Kommentarliteratur zum Danielbuch, insbesondere der bereits erwähnte Kommentar des Hieronymus.424 Dabei lässt sich jedoch die Gefahr einer zirkulären Argumentationsweise kaum umgehen. Um sinnvoll historisch interpretiert werden zu können, müssen die Andeutungen des Danielbuches erst mit dem Klartext der Makkabäerbücher und der Antiquitates abgeglichen werden. So wird Daniel also zunächst mit Hilfe der anderen Quellen entschlüsselt, um – auf der Grundlage dieser Interpretation – dann das Bild, das sich aus den übrigen Quellen ergibt, zu ergänzen. Aufgrund der zugänglicheren Darstellungsweise wird für die Interpretation der Danieltexte häufig nicht nur auf das Ereignisraster der Makkabäerbücher zurückgegriffen, sondern werden auch ihre Werthaltungen in die Danieldarstellung hineingelesen. So entwirft insbesondere 1 Makk einen schroffen Gegensatz zwischen hellenistischer Lebensweise und Treue zu den Normen und Werten der Tora.425 Eine pauschale Ablehnung des Hellenismus oder überhaupt eine generelle Auseinandersetzung mit dem damit verbundenen Lebensstil findet sich in Dan 11 aber an keiner Stelle. Die Ereignisse unter Antiochos IV. werden vielmehr auf die Verletzung des Tempels durch den König zugespitzt. Auch die Religionsverfolgung, die in 2 Makk breiten Raum einnimmt426, findet sich so in Dan 11 nicht wieder. Dan 11 setzt sich zwar mit den Gewalterfahrungen der ~ylykvm auseinander und benennt den König als Ausgangspunkt der Gewalt.427 Der Grund wird jedoch nicht angegeben.428 Dennoch 423
MØRKHOLM, Antiochus IV. of Syria, 19. Hieron. comm. in Dan. 425 Vgl. 1 Makk 1,11–15.41–53; siehe auch 2 Makk 4,7–22. Vgl. auch HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 298. 426 Vgl. 2 Makk 6 – 7. 427 Vgl. Dan 11,31–35. 428 Um Dan 11 als Beleg einer Religionsverfolgung unter Antiochos IV. zu lesen, müssen die in V. 32–35 erwähnten ~ylykfm als Oppositionsgruppe zu der in 1 und 2 Makk 424
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
dienen diese Ereignisse als Hintergrundfolie für die exegetische Interpretation des Textes, so dass Dan 11 als Beleg einer ablehnenden Haltung dem Hellenismus gegenüber und als Dokument einer Religionsverfolgung gelesen wird.429 Weitere zirkuläre Argumentationen ergeben sich im Zusammenspiel zwischen historischer Rekonstruktion und exegetischer Erläuterung des Danieltextes. So wird zum einen für die Kommentierung des Textes auf historische Darstellungen zurückgegriffen, die ihrerseits wiederum den Danieltext als Quelle zugrunde legen.430 Zum anderen entwickeln einige Ausleger anhand des Danieltextes eine eigene Rekonstruktion der Ereignisse. Dies ist z.B. der Fall bei Lebram, der die Gefahr erkennt, die Haltung der Makkabäerbücher in den Danieltext hineinzulesen, und der den in den Makkabäerbüchern geschilderten Verlauf der Ereignisse dezidiert in Frage stellt.431 Die teilweise weitreichenden Annahmen432 zu den Ereignisbeschriebenen hellenistischen Reformbewegung verstanden werden (so z.B. HARTMAN – LELLA, Book of Daniel, 43–45.299f.; PLÖGER, Buch Daniel, 164f.). Ferner muss König Antiochos als Verfechter einer solchen Reform betrachtet werden, eine Annahme, die aus heutiger historischer Sicht unplausibel ist; vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen, 223f. Nur unter diesen Voraussetzungen wären die ~ylykfm tatsächlich Opfer einer Religionsverfolgung. Im Danieltext erscheinen sie jedoch lediglich als Opfer von Gewalt im Zusammenhang mit den Eingriffen am Jerusalemer Tempel. Denkbar wären dabei beispielsweise bürgerkriegsartige Aufstände, die auch unter den „Weisen“ Opfer forderten; vgl. LEBRAM, Buch Daniel, 132. Ob dabei an eine Gruppe mit einem bestimmten theologischen Profil zu denken ist, vergleichbar mit den Sadduzäern oder Pharisäern im Neuen Testament (vgl. LACOQUE, Livre de Daniel, 169; KAMPEN, Hasideans), lässt sich aufgrund des Danieltextes nicht entscheiden. Zum Vergleich der Sichtweise der Makkabäerbücher und von Dan 11 vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen. Zur Diskussion um das Profil der ~ylykfm vgl. DAVIES, Daniel 1988, 122–126; RAPPAPORT, Apocalyptic Vision; REDDITT, Daniel 11; LACOQUE, The Socio-spiritual Formative Milieu; HEMPEL, Maskil(im) and Rabbim. Siehe ferner oben Kapitel II. 1.3.2. 429 So z.B. bei HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 298–300; LACOQUE, Livre de Daniel, 168–170; PLÖGER, Buch Daniel, 164f. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 456–458, und DELCOR, Livre de Daniel, 241, nehmen das Stichwort „Religionsverfolgung“ sogar in die Zwischenüberschrift zu Dan 11,31–35 auf. 430 So verweist beispielsweise COLLINS, Daniel 1993, 384–386, mehrfach auf die Rekonstruktionen von Bickermann, Hengel und Tcherikover, die sich ihrerseits explizit auf Daniel als Quelle stützen. Allerdings reflektiert Collins dieses Problem; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 384 zu V. 30c.d: „Tcherikover infers from this statement that Antiochus went to Jerusalem in person in 168, after his expulsion from Egypt.“ 431 LEBRAM, Buch Daniel, 130: „Die Schauerbilder, die die Makkabäerbücher (…) entwerfen (1. Makk. 1,54–64; 2. Makk. 6,1–11) sind frühestens ein halbes Jahrhundert später entstandene Ausmalungen“; vgl. ferner 131. 432 Vgl. LEBRAM, Buch Daniel, 130–132, insbesondere die Ausführungen zum Eingreifen Antiochos’ in den Tempelkult, die Interpretation der Abschaffung des täglichen Opfers als „priesterliche Maßnahme zur Reinerhaltung des Kultus“ (131) sowie die detaillierten Überlegungen zum Profil der „Lehrer des Volkes“ (~ylykfm).
DI
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sen, auf die sich der Danieltext, insbesondere Dan 11,31–35, bezieht, gewinnt er jedoch ausschließlich aus genau diesem Text. Die so anhand von Dan 11 gewonnene Rekonstruktion dient also gleichzeitig der exegetischen Erläuterung des Textes. 3.2 Textliche Aporien Neben den geschilderten historischen Aporien weist ein exegetischer Zugang zu Dan 11, der sich in erster Linie an den historischen Bezugspunkten des Textes orientiert, auch hinsichtlich seiner Textwahrnehmung erhebliche Defizite auf. Ein erster problematischer Punkt besteht in der Gliederung von Dan 11 nach historischen Gesichtspunkten (Kapitel II. 3.2.1). Eine solche Struktur ergibt sich aus dem Expertenwissen, mit dem der Text gedeutet wird, nicht aber aus der Gestaltung des Textes selbst. Auch bezüglich des Umgangs mit der überlieferten masoretischen Gestalt des hebräischen Textes fallen bestimmte Verfahrensweisen auf, die auf eine problematische Überhöhung der historischen Dimension des Textes zurückzuführen sind. So plädieren Ausleger mehrfach für Emendationen zugunsten historischer Plausibilitäten, statt die überlieferte Textgestalt als Grundlage der Interpretation heranzuziehen (Kapitel II. 3.2.2). Bezüglich der vielen, zwar in textkritischer Hinsicht zuverlässig überlieferten, im Verständnis jedoch vagen und unklaren Textstellen fällt auf, dass sie ebenfalls mit Hilfe historischer Erkenntnisse möglichst eindeutig interpretiert werden (Kapitel II. 3.2.3). Die möglicherweise beabsichtigte Unklarheit des Textes wird so aus dem Blickfeld der Auslegungspraxis gedrängt und kann ihr Potenzial als sinntragendes Gestaltungselement nicht mehr entfalten. Bei Textstellen, die mehrere Varianten der Übersetzung zulassen, wird die Entscheidung für eine der Möglichkeiten ebenfalls häufig zugunsten historischer Plausibilitäten getroffen (Kapitel II. 3.2.3.1). Auswirkungen dieser Auslegungspraxis finden sich auch in modernen Bibelübersetzungen, die oft viel glatter, konkreter und verständlicher erscheinen als das hebräische Original. Auch die Kommentare selbst weisen häufig eine konkretisierende Tendenz auf. Neben dem Streben nach einer möglichst eindeutigen Erklärung dunkler Textstellen fällt auch die Tendenz auf, den Danieltext als lückenlose historische Abhandlung zu präsentieren (Kapitel II. 3.2.3.2). Die Ergebnisse der historischen Forschung werden so nicht als kritisches Gegenüber zu der scheinbar lückenlosen Darstellung Dan 11 in Beziehung gesetzt, sondern scheinen ihre vermeintliche Lückenlosigkeit sogar zu bestätigen. Der Duktus der Kommentierungen ist ferner häufig im Stil einer historischen Abhandlung gehalten, so dass weniger der Text in seiner Eigenart als vielmehr der Zusammenhang der Ereignisse im Hintergrund des Textes Ziel der Erläuterungen zu sein scheint.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Im Folgenden sollen diese Problemfelder zunächst anhand von Beispielen veranschaulicht werden mit dem Ziel, die Anforderungen zu benennen, die sich an eine alternative Auslegung von Dan 11 stellen. 3.2.1 Überschriften und Gliederungen aufgrund historischer Kriterien Die meisten Kommentare wählen für die einzelnen Kapitel und Abschnitte des Danieltextes Überschriften, mit denen sie ihr Grundverständnis des Textes andeuten oder seinen Kerngedanken zusammenfassen.433 Auch die Unterabschnitte, in die der Text weiter gegliedert wird, werden häufig mit solchen leserlenkenden Zwischenüberschriften versehen. Die Gliederung selbst bringt ebenfalls das Textverständnis des Kommentators zum Ausdruck und lenkt die Textwahrnehmung seiner Leserinnen und Leser. Kapitelüberschriften, Zwischenüberschriften und Gliederungsvorschläge von Dan 11 lassen erkennen, welch überragende Rolle in der exegetischen Auseinandersetzung mit dem Text die historischen Bezugspunkte im Vergleich mit textimmanenten Kriterien spielen. So fällt beispielsweise auf, dass das gesamte Kapitel Dan 11 in manchen Kommentaren mit „hellenistic history“434 oder „rétrospective historique“435 überschrieben wird. Die literarische Einbindung von Dan 11 als Zukunftsoffenbarung in das Visionsgeschehen Dan 10 – 12 wird durch die Wahl einer solchen Überschrift in den Hintergrund gedrängt. Der Text erscheint nicht mehr als Ansage der Zukunft, sondern als Darstellung von Geschichte. Der Fokus der Textlektüre wird somit nicht auf den Text, seine Gestaltung und Eigenart gelenkt, sondern von vorneherein auf den durch Expertenwissen erschlossenen historischen Hintergrund. Dan 11 ist in den Augen des Kommentars also genau das, was der Text von seiner immanenten Logik her nicht ist: ein Bericht über die Vergangenheit.436 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Zwischenüberschriften. Die Diktion des Textes, der nur die Könige von Paras offen benennt und sonst verschlüsselt von einem heldenhaften König und den Königen des Nordens und Südens spricht, greifen nur wenige Kommentatoren auf. Stattdessen begegnen in den Zwischenüberschriften Alexander der Große sowie Pto433
Anders verfahren z.B. die kurzen Kommentare von BENTZEN, Daniel, und PORBuch Daniel, die durchgehende Kommentierungen ohne Zwischenüberschriften
TEOUS,
bieten. 434
COLLINS, Daniel 1993, 363. Collins wählt diesen Terminus als Überschrift seiner Übersetzung von Dan 11. Im weiteren Verlauf des Kommentars überschreibt er Dan 11,2 – 12,4 jedoch als „The Angelic Discourse“ (COLLINS, Daniel 1993, 377) und orientiert sich damit an der textimmanenten Funktion von Dan 11,2 – 12,4. 435 LACOQUE, Livre de Daniel, 159. 436 Vgl. auch LEBRAM, Buch Daniel, 130, der Dan 11 explizit als „Bericht“ bezeichnet.
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lemäer und Seleukiden, die je nach Detailliertheit der Gliederung auch namentlich genannt werden.437 Auch die in den Gliederungen getroffenen Texteinteilungen orientieren sich eher an den historischen Ereignissen im Hintergrund des Textes als an textimmanenten Gliederungsmarkern. Dies fällt besonders auf, wenn, wie bei Montgomery, zwischen V. 5 und V. 6 unterteilt wird.438 In historischer Hinsicht wechseln zwar die Protagonisten zwischen V. 5 und 6, der Text aber verschleiert diesen Umstand gerade und lässt zwischen V. 5 und V. 6 keinen Wechsel der beteiligten Personen erkennen.439 Ein ähnliches Problem tritt in Zusammenhang mit V. 40–45 auf. In V. 40 schlägt der Text vom vaticinium ex eventu in eine echte Zukunftsansage um. Dies ist erkennbar, da ab V. 40 keine historischen Anhaltspunkte für die im Text geschilderten Abläufe mehr gefunden werden können.440 An der Textoberfläche besteht jedoch zwischen V. 39 und V. 40 kein Einschnitt. Die Geschichte des letzten Königs des Nordens wird vielmehr in 437 Eine rein an der Historie orientierte Unterteilung findet sich beispielsweise bei MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 420f.; vgl. ebenso HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 286f.; DELCOR, Livre de Daniel, 217–235. Es existieren aber auch Gliederungen, deren Zwischenüberschriften sowohl auf historischen als auch auf textimmanenten sprachlichen und theologischen Merkmalen beruhen. So verwendet LEBRAM, Buch Daniel, 115f., nach den Zwischenüberschriften „Die Perserherrschaft und Alexander der Große“ sowie „Die Auseinandersetzungen zwischen Ptolemäern und Seleukiden“ in der dritten Überschrift „Antiochus IV., der endzeitliche Gottesfeind“ eine theologische Kategorie, die er dem Text entnimmt. Auch SEOW, Daniel, 163–186, verwendet neben den Überschriften „The Persian Empire“, „Alexander’s Empire“ und „Antiochus IV Epiphanes“ mit „North and South before Antiochus IV Epiphanes“ eine Überschrift, die zumindest teilweise die sprachliche Gestaltung des Textes aufnimmt. 438 Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 420f.; vgl. ebenso HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 286f. 439 Gliederungen, die sich an der Textgestalt orientieren, finden sich bei Goldingay und Hasslberger. GOLDINGAY, Daniel 1989, 286f., strukturiert den Danieltext ausschließlich mit Hilfe von textimmanenter Begrifflichkeit, wie z.B. „warrior king“ oder „southern and northern kings“. Bei der Erläuterung des Textes sieht er den Haupteinschnitt in Dan 11 zwischen V. 39 und V. 40. Kriterium ist für ihn also die Endzeit, auf die in V. 2– 39 vorausgeblickt wird und die mit V. 40 explizit beginnt; vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 293. Auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 202–288, argumentiert bei der Unterteilung des Textes in Abschnitte und Episoden ausschließlich aufgrund der Textgestalt. Vor allem in Zusammenhang mit der Biographie des letzten Königs, von dem ab V. 21 die Rede ist, kommt er dadurch zu einer differenzierteren Einteilung als seine historisch arbeitenden Kollegen. 440 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 305; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 303. CLIFFORD, History and Myth, 23–26, versucht nachzuweisen, dass der Text ab V. 36, also sobald keine historischen Bezugspunkte mehr zur Verfügung stehen, auf kanaanäische und biblische Stoffe zurückgreift. Vgl. aber dagegen GOLDINGAY, Daniel 1989, 284f., der biblische Bezüge in der gesamten Schlussvision Dan 10 – 12 nachweist.
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der gleichen Diktion wie seit V. 21 fortgesetzt. Dennoch grenzen manche Ausleger die V. 40–45 aufgrund ihrer unterschiedlichen historischen Verortung von V. 21–39 ab.441 Eine Veränderung auch der Sprache glaubt ab V. 40 Koch zu erkennen: „Während der Beschreibung seiner Regierungszeit schlägt in 11,40 der Bericht in Weissagung, und zwar in echte Weissagung, um; die Sprache wird geheimnisvoller, reich an Anspielungen; vor allem aber stehen die geschilderten Umstände, unter denen Antiochos sterben soll (…), nicht im Einklang mit der geschichtlichen Wirklichkeit.“442
Dagegen weist Meadowcroft m.E. überzeugend auf die Kontinuität zwischen Dan 11,2b–39 und 11,40–45 auf der Ebene des Textes hin und plädiert für eine literarische Zugangsweise zu Dan 11: „When this is done, we find a number of interesting thematic links between vv. 40–45 and the earlier trends evident in the account of Daniel 11. (…) In those literary terms there is a clear continuation of events into the anticipated future.“443
Die von Goldingay bemerkte, im Vergleich mit den vorhergehenden Passagen systematischere Verwendung biblischer Wendungen in V. 40–45 ist ebenfalls an der Textoberfläche nicht erkennbar.444 Zu Recht weist ferner Plöger darauf hin, dass „die gesonderte Behandlung von Kap. 12 nicht recht zulässig“445 ist: „Der Verfasser identifiziert (…) das Ende des Königs (V. 45) mit dem Beginn der Endzeit und fügt als letzten Akt, gewiß nicht im Sinne einer Begleiterscheinung dieser Ereignisse, Kap. 12 an.“446
Mit der Abgrenzung von Dan 12,1–3 von Dan 11,2b–45, wie sie eine Reihe von Kommentatoren vorschlagen447, verliert die gesamte Vorhersage ihren Höhepunkt, auf den sie durch die Einleitung des himmlischen Boten in Dan 10,14 abzielt. Demnach ist der Zweck der Darstellung ja, Daniel das Schicksal seines Volkes am Ende der Tage zu offenbaren. Diese Beispiele machen deutlich, dass mit Hilfe der Zwischenüberschriften und Gliederungen häufig ein Raster an Dan 11,2b – 12,3 angelegt 441
So z.B. GOLDINGAY, Daniel 1989, 293; SEOW, Daniel, 184. Auch HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 303; BENTZEN, Daniel, 83; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 464; DELCOR, Livre de Daniel, 246; PLÖGER, Buch Daniel, 166, sehen in V. 40–45 einen neuen Abschnitt, teilen den Text aber bereits vorher in kleinere Abschnitte ein, so dass keine Trennung zwischen den Versen mit historischem Bezug (V. 21–39) und den Versen ohne historischen Bezug entsteht. 442 KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 278. 443 MEADOWCROFT, History and Eschatology, 248f. 444 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 305. 445 PLÖGER, Buch Daniel, 167. 446 PLÖGER, Buch Daniel, 167. 447 So z.B. LEBRAM, Buch Daniel, 121; PACE, Daniel, 335; SEOW, Daniel, 186.
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wird, das nicht dem Rhythmus des Textes entspricht. Die explizite Nennung der historischen Bezüge bereits in den Zwischenüberschriften der Gliederung überlagert die Eigenart des Textes, nämlich seine Tendenz zu Verschleierung und Anonymität. Während der Text die handelnden Figuren gerade nicht anhand von Namen voneinander abhebt und sogar einzelne Personen miteinander verschmilzt, lenkt eine Gliederung anhand von historischen Bezugspunkten die Aufmerksamkeit auf Individualität und Unterscheidbarkeit der einzelnen Akteure. Auf diese Weise wird auch die Bedeutung der historischen Bezugspunkte für den Gesamtsinn des Textes gegenüber seiner sprachlichen Gestaltung ganz deutlich in den Vordergrund gerückt. 3.2.2 Emendation aufgrund historischer Plausibilität An mehreren Stellen entscheiden sich Übersetzer und Kommentatoren von Dan 11 für Veränderungen der überlieferten Textgestalt. Sie argumentieren dabei auf der Grundlage von historischen Ereignissen, die mit einer veränderten Textgestalt von Dan 11 besser zu vereinbaren sind. Ein erstes Beispiel für dieses Vorgehen findet sich in V. 6d. Die wörtliche Übersetzung des Verses lautet: „und nicht wird bestehen sein Arm“. Eine ganz andere Übersetzung findet sich demgegenüber im Kommentar von Porteous: „[A]ber sie soll diese Stellung nicht behaupten können und auch die ihrer Nachkommenschaft soll nicht von Dauer sein.“448 „Eine geringfügige und ansprechende Textverbesserung“, so der Kommentar zur Stelle, „ergibt: ‚seine Nachkommenschaft soll nicht fortbestehen‘, eine Anspielung auf das unglückliche Kind, das der Enkel von Ptolemäus II. Philadelphus war.“449 Im Hintergrund steht hier die politisch motivierte Eheschließung zwischen der ptolemäischen Prinzessin Berenike und dem seleukidischen König Antiochos II. Theos. Dieser hatte, um Berenike heiraten zu können, seine bisherige Ehefrau Laodike verstoßen. Aus dem Umstand, dass der Sohn von Berenike und Antiochos II. später ermordet wurde, folgert Porteous, der Text sei hier zu korrigieren und statt „sein Arm“ sei zu lesen „sein Samen, seine Nachkommenschaft“. Die Wiedergabe des Verses gleicht dadurch schon eher einer Paraphrase als einer Übersetzung.450 Im Hintergrund steht hier ein lexematisches Problem: Die Konsonanten w[rz 448
PORTEOUS, Buch Daniel, 120. PORTEOUS, Buch Daniel, 133f. 450 „Einige Jahre später sollen sie ein Bündnis schließen, und die Tochter des Königs des Südens soll dem König des Nordens gegeben werden in Erfüllung der Bedingungen, aber sie soll diese Stellung nicht behaupten können, und auch die ihrer Nachkommenschaft soll nicht von Dauer sein (…)“; PORTEOUS, Buch Daniel, 120. Eine ähnlich freie und glättende Wiedergabe bietet die Einheitsübersetzung: „doch sie verliert die Macht und auch ihr Kind bleibt nicht am Leben“. 449
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können je nach Vokalisierung sowohl als wO[roz. – „sein Arm“ als auch als wO[r.z: ‒ „sein Samen“ verstanden werden. Ein Blick in die antiken Übersetzungen des Verses zeigt, dass die Interpretation des Konsonantentextes bereits in der Antike umstritten war: Die LXX bietet in Dan 11,6 eine ganz eigene Textvariante451, die nicht als Übersetzung von MT verstanden werden kann. Allerdings begegnet in dieser Version zweimal das Stichwort „Arm“. Bei Theodotion und in der Vulgata findet sich die Wiedergabe „sein Samen“.452 Die von Porteous und weiteren Auslegern453 vorgeschlagene Korrektur ist in historischer Hinsicht plausibel und sowohl vom Konsonantenbestand als auch von den antiken Versionen her möglich. Sie bleibt aber mit einem Eingriff in die überlieferte Vokalisation verbunden, der auf der Ebene der hebräischen Textüberlieferung nicht begründet werden kann. Vor allem aber blendet die Änderung der Vokalisation aus, dass die Vokabel [wrz aufgrund ihrer mehrfachen Verwendung in Dan 11454 den Charakter eines Leitwortes besitzt. Dieser Umstand erhöht die Plausibilität der überlieferten masoretischen Vokalisation. Das Verständnis von [wrz als „Samen, Nachkomme“ statt als „Arm, Kraft“ gibt somit der Logik der historischen Ereignisse den Vorzug vor der Logik des Textes. Dieses Vorgehen wird von den Kommentaren jedoch nicht weiter gerechtfertigt. Die getroffene Entscheidung für die historische Logik scheint keiner weiteren Begründung zu bedürfen, sondern sich vielmehr selbstverständlich nahezulegen. Ein ähnliches Problem tritt bei der Übersetzung der Partizipien in V. 6e zu Tage. So wird Hd'l.YOh; ‒ „der sie zeugte“ vor allem in englischsprachigen
451 „Und (bis) zum Ende der Jahre wird er sie führen und der König von Ägypten wird in das Königsreich des Nordens hineinziehen, um Verträge zu schließen; und er wird nicht an Stärke überlegen sein, denn sein Arm wird keine Stärke bewirken, und sein Arm und (der Arm) derer, die mit ihm gekommen sind, wird starr werden, und er wird (nur) für Stunden bleiben.“ Übersetzung: Septuaginta deutsch, Hervorhebungen: im Original. 452 Vgl. KOCH – RÖSEL, Polyglottensynopse, 278f., 046; vgl. auch COLLINS, Daniel 1993, 363f. 453 Vgl. auch BENTZEN, Daniel, 76; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 428f., und HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257. Unter den Bibelübersetzungen folgen beispielsweise Lutherbibel, Neue Zürcher Bibel und New Revised Standard Version dieser Lesart. Auch COLLINS, Daniel 1993, 363, entscheidet sich für die Lesart wO[r.z: – „Same“ und begründet dies folgendermaßen: „(…) ‚seed‘ makes much better sense in this context“. Der Kontext kann dabei nur der historische Ereigniszusammenhang sein. Aus dem Kontext des Verses, der wohl vom Scheitern einer politischen Aktion zur Friedenssicherung erzählt, aber an keiner Stelle das Stichwort „Nachkommen“ einspielt, kann diese Lesart nicht begründet werden. 454 [wrz begegnet noch in Dan 11,15d.22a.31a.
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Übersetzungen und Kommentaren455 verbessert zu Hd'l.Y;h; – „ihr Kind“. Bezugspunkt ist wieder das Kind von Berenike und Antiochos, das dem Beziehungsdrama seiner Eltern zum Opfer fiel. Auch hier steht eine lexematische Fragestellung im Hintergrund: Der Konsonantenbestand lässt beide Bedeutungen zu, so dass die jeweilige Bedeutung ausschließlich an der Vokalisation hängt. Die antiken Übersetzungen bieten auch in diesem Fall keine Hilfe: LXX bietet keine Parallele zu MT. Theodotion versteht hdlyh offenbar als „weiblicher junger Mensch“ und übersetzt h` nea/nij – „die Jungfrau“, was dann aber auf die Königstochter, nicht auf ihr Kind zu beziehen ist. Auch die Übersetzung der Vulgata liest hier „junge Menschen“ (adulescentes eius), allerdings lässt sich der Plural nicht aus dem Konsonantenbestand von MT ableiten. Im Satzgefüge ist der Ausdruck als attributive Erläuterung zum vorhergehenden „qui adduxerunt eam“ zu verstehen: „diejenigen, die sie hinführten, [nämlich] ihre jungen Frauen456“. Auch wenn das Bild der antiken Versionen vieldeutig ist – die Lesart „ihr Kind“ erhält durch sie keine Unterstützung.457 Im Kontext des Verses kann die Version von MT, „der sie zeugte“ sinnvoll auf den „König des Südens“, den Vater der Königstochter bezogen werden, so dass m.E. kein Grund zu Veränderungen am hebräischen Text besteht. Auch in Zusammenhang mit Dan 11,39a treten viele Kommentatoren für die Veränderung der masoretischen Vokalisation zugunsten von historischen Hintergründen ein. Statt rk'nE HawOla/-~[i – „mit einem fremden Gott“ wird dann rk'nE HawOla/-~[; – „Volk eines fremden Gottes“ gelesen.458 Der Bezugspunkt ist in diesem Fall die syrische Garnison, die im Rahmen der Strafexpedition, die König Antiochos IV. nach dem 6. Syrischen Krieg durch den Mysarchen Apollonios in Jerusalem durchführen ließ, auf der neu errichteten Stadtfestung, der Akra, stationiert wurde.459 Die Emendation geht auf einen Vorschlag von Ferdinand Hitzig aus dem Jahr 1850 zurück. Hitzig argumentiert allerdings nicht historisch, sondern sprachlich:
455 So z.B. die New Revised Standard-Version sowie die Kommentare von PORTEOUS, Buch Daniel, 120; MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 428; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257, und COLLINS, Daniel 1993, 363f. 456 Das Substantiv „adulescens“ ist commune und kann sowohl als „junger Mann“, als auch als „junge Frau“ übersetzt werden. Die Zuordnung der „adulescentes“ zur Königstochter spricht hier für die zweite Möglichkeit. 457 Auch BARTHELÉMY, Critique textuelle, spricht sich hier für die Beibehaltung von MT aus; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 363f. 458 So z.B. bei MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 463; PORTEOUS, Buch Daniel, 122.142; DELCOR, Livre de Daniel, 246–248; COLLINS, Daniel 1993, 388. 459 COLLINS, Daniel 1993, 388: „The pointed text is corrupt. The crucial emendation of ~[i (‚with‘) to ~[; (‚people‘) was proposed by Hitzig in 1850. The reference is to the Akra.“
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„Die Schwierigkeit liegt darin, dass für hf[w sich ein Obj. vermissen lässt. Ist diess der Fall, so hat man – vgl. die Formel Mal. 2,11. – ~[; zu punctiren: und er beschafft den wehrhaften Städten Volk eines fremden Gottes; (…).“460
Im Unterschied zu den modernen Kommentaren, die die Emendation übernehmen und auf die syrische Garnison auf der Akra beziehen, schlägt Hitzig dezidiert eine andere Deutung vor. „Diese Leute eines fremden Gottes sind weder abtrünnige Juden, noch auch gerade Kriegsvolk, so dass auf die Besatzung der Akra und des Garizim (1 Macc. 1,33. 2 Macc. 5,23.) Bezug genommen würde; sondern die Stelle lehrt, dass der Befehl des Königes 1 Macc. 3,36.: (…) auch wirklich zur Vollziehung kam (V. 39.).“461
Problematisch an dieser Identifikation ist jedoch, dass der in 1 Makk 3,36 geschilderte Befehl König Antiochos’, in Jerusalem Menschen aus fremden Völkern anzusiedeln und Land an sie zu verlosen, erst nach dem Tod des Mattatias, im Jahr 147, d.h. 165 v.Chr. ergeht und damit zu einer Zeit, die Dan 11 nach heutiger Forschungsmeinung nicht mehr im Blick hat. Der Bezug des – veränderten – V. 39a auf die syrische Besatzung der Akra scheint eher auf die bei Hieronymus überlieferte Deutung Porphyrios’ zurückzugehen. Dieser geht zwar nicht von der Textbedeutung „Volk eines fremden Gottes“ aus, setzt aber den gesamten Vers in Beziehung zur Akra. Die modernen Kommentare übernehmen somit die Emendation von Hitzig, ohne sich dessen Argumentation anzuschließen, und folgen auf der Basis von Hitzigs Emendation der historischen Annahme des Porphyrios. Sogar historische Darstellungen beziehen sich auf den Vers in dieser veränderten Lesart, um die Präsenz dieser Garnison in Jerusalem zu belegen. So spricht beispielsweise Dov Gera davon, dass die Soldaten des Apollonios im Danielbuch als Volk eines fremden Gottes beschrieben werden.462 Im Kontext des ausgesprochen schwierigen V. 39 löst die Entscheidung für die Lesart ~[; neben dem bei Hitzig erwähnten Problem, dem fehlenden Objekt von hf[, ein weiteres Problem im Textverständnis. In der überlieferten Textgestalt fehlt der Bezugspunkt der Pronominalendung an ~lyvmh – „er lässt sie herrschen“ in V. 39c. Die Änderung des Textes von ~[i zu ~[; würde genau diesen Bezugspunkt liefern: Der König lässt dann das „Volk des fremden Gottes herrschen“, das er nach V. 39a anerkennt und dessen Ehre er vermehrt (V. 39b).463 460
HITZIG, Buch Daniel, 213. HITZIG, Buch Daniel, 213f. 462 „The new citadel was intended for Apollonius’ soldiers, who are described in the Book of Daniel as ‚people of an alien god‘, whom Antiochus put in charge of his strongest fortresses“; GERA, Judaea and Mediterranean Politics, 224. 463 Die Änderung der Vokalisation ist allerdings nicht zwingend, um einen Bezugspunkt für ~lyvmh zu erhalten. Dieser kann auch in der unpersönlich verstandenen Wendung rykh rva gesehen werden; s.o. Übersetzung. 461
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Die Exegeten, welche sich für die Änderung des Textes entscheiden, nutzen aber diese Möglichkeit gerade nicht aus, sondern fassen rykh rva in V. 39b als Beginn einer neuen Sinneinheit und gleichzeitig als Bezugspunkt des enklitischen Personalpronomens an ~lyvmh auf. So lautet beispielsweise die von Montgomery vorgeschlagene Übersetzung der Stelle: „And he shall make for defenders (…) of fortresses a-people-of [sic!] (…) a foreign god; whom he will recognize, he shall increase his honour, and he shall make them rule over the many, and the land he shall divide in fief.“464
Bezugsgröße von ~lyvmh sind demnach diejenigen, welche der König anerkennt, diese stehen jedoch nach dieser Übersetzung in keiner Verbindung zu dem zuvor erwähnten „Volk des fremden Gottes“.465 Die Entscheidung für die Emendation scheint folglich rein historisch motiviert. Die Veränderung der Vokalisation beruht also an dieser Stelle nicht nur auf historischer Plausibilität. Sie setzt sogar eine zirkuläre Argumentation voraus: Die Anwesenheit der syrischen Garnison ist Hintergrund von Dan 11,39 in einer bestimmte Lesart. Zugleich aber gilt der Text in der veränderten Lesart – wie z.B. bei Gera – als zusätzlicher Beleg466 für die Anwesenheit dieser Garnison. Auch in diesem Fall steht die historische Plausibilität über dem Text. Denn Dan 11,36–39 legt einen deutlichen Schwerpunkt auf das Verhältnis des Königs zu Gott und Göttern insgesamt; die Begriffe la (V. 36c.d) und hwla (V. 37a.b.38a.b.39a) werden in diesem Bereich des Textes beinahe inflationär verwendet. Dabei ist es ausschließlich der König, der zu Gott und Göttern in Beziehung tritt. Von der Schwerpunktsetzung des Textes her ist es daher viel naheliegender, dass auch V. 39 das Verhältnis des Königs zu einem fremden Gott thematisiert, als das eines „Volkes“.467 Die drei Beispiele zeigen, dass die Emendationen, die aufgrund von historischen Argumenten vorgenommen werden, keineswegs selbstverständlich sind. In keinem der genannten Fälle ist eine Veränderung der masoretischen Vokalisation notwendig. Hier zeigt sich, dass die Orientierung an den historischen Hintergründen unhinterfragt auch den Umgang mit der überlieferten Textgestalt prägt.
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MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 460. Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 460. Montgomery nimmt noch einen weiteren Eingriff in die überlieferte Textgestalt vor und punktiert die Konsonanten yrcbm nicht wie MT im Sinn von Festungen (yrec.b.mi), sondern als Partizip Piel von rcb (yreC.b;m.): „die Verteidiger“; vgl. 463. Eine ähnliche Übersetzung findet sich u.a. bei HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 260. 466 Die syrische Garnison wird sowohl in 1 Makk 1 als auch in 2 Makk 5 erwähnt. 467 Vgl. hierzu auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 281f. 465
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3.2.3 Konkretisierender Umgang mit dem Text Ganz allgemein fällt in der Kommentarliteratur zu Dan 11 die Tendenz zur Konkretisierung auf. Ziel der exegetischen Auseinandersetzung scheint es nicht zu sein, die sperrige und rätselhafte Gestalt des Textes zu erläutern, sondern Leserinnen und Leser über die „wahre Bedeutung“ des Textes aufzuklären und dies möglichst anschaulich zu tun. Für die Übersetzung des Textes bedeutet dies häufig, dass die übersetzte Version des Textes viel konkreter und eindeutiger erscheint, als dies bei dem oft sperrigen, teilweise sogar rätselhaften Originaltext der Fall ist. Ferner werden in den Übersetzungen aufgrund von historischen Plausibilitäten immer wieder Entscheidungen für eine von mehreren möglichen Varianten getroffen. Die Kommentierungen, die häufig lediglich bei der Erläuterung der historischen Hintergründe stehen bleiben, verstellen auf diese Weise zum einen den Text in seiner sprachlichen Eigenart. Zum anderen legen sie zum Teil mehr Wert darauf, die Zusammenhänge der Ereignisse im Hintergrund des Textes zu erläutern als das Verhältnis zwischen Text und rekonstruierbaren Ereignissen. Insofern der Kommentartext aus einer zusammenhängenden historischen Darstellung besteht, entsteht zugleich der Eindruck, auch der Danieltext nehme einen lückenlosen Zusammenhang historischer Ereignisse in den Blick. 3.2.3.1 Eindeutigkeit statt Andeutungen Als Beispiel für eine konkretisierende Übersetzung sei auch hier wieder auf den Umgang mit dem schwierigen V. 6 im Kommentar von Porteous verwiesen. Die von ihm vorgeschlagene Übersetzung der rätselhaften Wendungen in V. 6cd speist sich aus seinen Kenntnissen über den weiteren Verlauf der Geschichte und hat schon fast den Charakter einer Paraphrase: „(…) aber sie soll diese Stellung nicht behaupten können und auch die ihrer Nachkommenschaft soll nicht von Dauer sein“. Porteous interpretiert also die Wendung „aber nicht wird sie behalten die Kraft des Armes“ nicht nur als Anspielung auf die schwindende Macht der ägyptischen Prinzessin, er überträgt den Text an dieser Stelle auch dementsprechend frei. Um einen Bezug auf die Nachkommenschaft der Berenike herstellen zu können, geht er von einer anderen Vokalisation als der überlieferten aus. Anstelle der rätselhaften Wendungen des Danieltextes treten in dieser Übersetzung verständliche und nachvollziehbare Schilderungen. Ein ähnliches Vorgehen lässt sich für die Übersetzung von hyaybm ‒ „die sie kommen ließen“ in V. 6e beobachten. Hier wird die Tendenz deutlich, die partizipialen Umschreibungen auf konkrete Personen im Umfeld der historischen Ereignisse zu beziehen. So versteht Porteous die offene Formulierung „die sie kommen ließen“ in seinem Kommentar als Eskorte der
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ägyptischen Prinzessin und übersetzt dementsprechend „ihre Begleitung“468. Diese Übersetzung ist zwar möglich, hat aber eine vereindeutigende Tendenz, insofern sie die Textbedeutung im Rahmen der historischen Ereignisse festlegt. Die Offenheit des hebräischen Textes wird dadurch eingeschränkt. Versuche, die offenen partizipialen Formulierungen einer bestimmten Person aus dem historischen Umfeld der Berenike zuzuweisen, finden sich auch in vielen anderen Kommentaren. Ein besonderes Problem ergibt sich bei der Übersetzung des dritten Partizips in der Reihe, hqzxm - wörtlich „der sie ergriff/stärkte“. Dafür finden sich unter anderem die Übersetzungsvorschläge: „der sie (…) besessen hat“469, „der ihr Herr wurde“470, „der sie zur Frau genommen hat“471. Bezugspunkt von hqzxm ist dabei also, ganz der Logik der historischen Ereignisse entsprechend, Antiochos, der Ehemann Berenikes. Das Partizip hqzxm lässt grundsätzlich offen, ob hier eine Stärkung oder eine Bemächtigung gemeint ist.472 Falls sich die Übersetzung jedoch für letztere Sinnrichtung entscheidet und die Wendung dann historisch konkretisierend mit „Ehemann“ wiedergibt, wird so eine entscheidende Bedeutungsnuance des hebräischen Ausdrucks verschüttet. In Bezug auf Männer, die Frauen ergreifen, begegnet qzh Hif’il in der hebräischen Bibel hauptsächlich in Zusammenhang mit gewaltsamen sexuellen Kontakten.473 Falls hqzxm auf den Mann der Königstochter zu beziehen ist, so wird er dadurch kaum als „Ehemann“ der Berenike in einem institutionellen Sinn qualifiziert.474 Der Versuch, durch die Übersetzung „der sie zur Frau genommen hat“, ein eindeutiges Textverständnis im Rahmen der historischen Bezüge zu sichern, wirkt sich hier verharmlosend aus. Dabei ist der Bezug von hqzxm auf den Ehemann keineswegs die einzige Interpretationsmöglichkeit der Wendung. Will man sie auf eine der beteiligten Personen beziehen, so kommt als Identifikationspunkt auch der Kö468 Vgl. auch die Einheitsübersetzung „ihre Begleiter“, ebenso BENTZEN, Daniel, 76. Zunz übersetzt hier ebenfalls konkretisierend „samt ihren Führern“. 469 Neue Zürcher Bibel. 470 PORTEOUS, Buch Daniel, 120. 471 Einheitsübersetzung, Elberfelder Bibel, Lutherbibel; vgl. auch HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 257: „her husband“. 472 Für eine Korrektur der hier mit „the one who supported her“ übersetzenden New Revised Standard Version plädiert SEOW, Daniel, 171: „The Hebrew should perhaps be interpreted as ‚the one who obtained her‘, that is, her husband.“ 473 So beispielsweise in Bestimmungen zur Ahndung von Vergewaltigung in Dtn 22,25; 25,11, in der Geschichte von der Nebenfrau des Leviten in Ri 19 und in der Geschichte von der Vergewaltigung Tamars durch Amnon 2 Sam 13. 474 Vgl. dagegen SEOW, Daniel, 171. Die von Bentzen gewählte Übersetzung „ihr Räuber“ bringt den gewaltsamen Aspekt von hqzxm m.E. besser zur Geltung. Allerdings schwächt auch Bentzen die Schärfe des hebräischen Begriffs ab, indem er anmerkt „d.h. ihr Gatte“; vgl. BENTZEN, Daniel, 76.
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nig des Südens, der Vater der Braut, in Frage. Auch in diesem Fall sind beide Interpretationsmöglichkeiten von qzx Hif’il möglich. In der Bedeutung „der sie ergriff“ würde der Ausdruck darauf anspielen, dass der Vater seine Tochter einer Verbindung ausliefert, die den Untergang der Frau mit sich bringt.475 Auch ein Changieren zwischen beiden Bedeutungsmöglichkeiten ist im Rahmen der offenen und uneindeutigen Formulierung des gesamten Verses möglich. Die Auflösung des Partizips in eine konkrete, historisch nachweisbare Gestalt ist jedoch m.E. grundsätzlich problematisch. Eine solche engführende Übersetzung verschleiert vollkommen, dass hier der hebräische Text eben gerade keine eindeutige Zuordnung ermöglicht, sondern eine andeutende Formulierung wählt, wie sie typisch ist für den Stil von Dan 11 insgesamt. Ferner wird auf diese Weise verdeckt, dass hier mit einer Form von qzx eine Wurzel Verwendung findet, die in Dan 11 Leitwortcharakter besitzt. Dies ist für den Leser einer solchen Übersetzung nicht mehr wahrnehmbar. Die konkretisierende Übersetzung der Partizipien in Dan 11,6e verstellt und verfälscht somit das Textverständnis. Die konkretisierende Tendenz bei der Übersetzung von V. 6 setzt sich bei Porteous auch in der Kommentierung dieses Verses fort. Die dramatischen Abläufe innerhalb der historischen ptolemäisch-seleukidischen Familiengeschichte motivieren den Kommentator in diesem Zusammenhang zu blumigen Schilderungen: „Die frühere Frau des Antiochus, Laodike, war von ihm zeitweilig verstoßen, und ihre Kinder waren von der Erbfolge ausgeschlossen worden. Laodike rächte sich furchtbar. Antiochus starb plötzlich; er soll von Laodike vergiftet worden sein, vermutlich, um jede Möglichkeit der Rückkehr zu Berenike zu verbauen. Dann wurde der junge Sohn Berenikes ermordet und schließlich die unerschrockene Königin selbst. (…) Der Hinweis darauf, daß Berenikes ägyptische Eskorte das Schicksal ihrer Herrin geteilt habe, ist eines jener lebensvollen Schlaglichter, die es uns ermöglichen, wenn auch nur für einen Augenblick, den Vorbeizug der fröhlichen Gesellschaft zu sehen, die die junge Prinzessin in ihre neue Heimat begleitete.“476
Der Kommentar lenkt durch seine detaillierte, ja emotionale Schilderung die Aufmerksamkeit auf die Ereignisse „hinter dem Text“ als dessen wesentlichen Inhalt. Ein weiteres Beispiel für eine konkretisierende Kommentierung bietet die Auslegung von V. 19. Hier wird das Ende des seit V. 10 amtierenden Königs folgendermaßen beschrieben. „Und umwenden wird er sein Gesicht zu den Festungen seines Landes und straucheln und fallen, aber nicht ge475 In ähnlicher Bedeutung begegnet qzx in Ri 19,25.29, wo der Levit seine Nebenfrau ergreift, um sie ihren Vergewaltigern auszuliefern bzw. um ihre Leiche in Stücke zu schneiden. 476 PORTEOUS, Buch Daniel, 133f.
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funden werden.“ Insbesondere die Schilderung des Endes mit den Verben „straucheln“, „fallen“ und „nicht gefunden werden“ ist wenig konkret und scheint auf den ersten Blick mit Hilfe von metaphorischer Rede das Ende des Königs zu qualifizieren. Bei genauerer Betrachtung fallen Bezüge im Text auf. So bilden die Begriffe lvk – „straucheln“ und lpn – „fallen“ einen Gegensatz zu dm[ – „sich erheben“, womit die Laufbahn des Königs zunächst als ungebremster Aufstieg beschrieben wird (V. 13b.16c; vgl. V. 15d.16b.17d). Zudem begegnet die Vokabel acm – „finden“ in Dan 12,1c in Bezug auf die Endzeit: Wer dann gefunden wird, wird auch gerettet. All diese Bezüge spielen in der Kommentarliteratur keine Rolle. Stattdessen finden sich zu V. 19 mehr oder weniger ausführliche Berichte über den historischen Tod Antiochos’ III.: „Die Schlußworte beziehen sich auf das banale Ende (187), das ihn, Antiochus den Großen, ereilte, als er versuchte, den Schatz eines Tempels in der Wüste von Luristan zu plündern (Elymais, Elam).“477
Häufig bleibt diese Erläuterung der einzige Kommentar.478 Das historische Ende Antiochos’ wird nicht noch einmal in ein Verhältnis zur Darstellung des Danieltextes gesetzt. 3.2.3.2 Zusammenhang statt Leerstellen Die Orientierung an den historischen Bezugspunkten von Dan 11 führt ferner zu Glättungstendenzen im Umgang mit dem an sich brüchigen und sperrigen Text. Dies schlägt sich zunächst im Bereich der Übersetzungen des Danieltextes nieder. Während sich der hebräische Text gerade nicht durch Eleganz und Flüssigkeit auszeichnet, sondern stattdessen durch zahlreiche stereotype, schwerfällig wirkende Formulierungen, aber auch durch häufige unklare Bezüge gekennzeichnet ist, präsentieren eine ganze Reihe von Übersetzungen einen Text, der erheblich klarer und flüssiger wirkt als das Original. So lautet beispielsweise V. 6 in einer wörtlichen Übersetzung: „Und am Ende von Jahren werden sie sich verbinden, und die Tochter des Königs des Südens wird kommen zum König des Nordens, um Frieden zu schaffen, und nicht wird sie behalten die Kraft des Armes, und nicht wird bestehen sein Arm, und hingegeben wird sie werden und die sie kommen ließen und der sie zeugte und der sie stärkte zu den Zeiten.“ Die Einheits477
PORTEOUS, Buch Daniel, 139. Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 381; GOLDINGAY, Daniel 1989, 298; LEBRAM, Buch Daniel, 128; PACE, Daniel, 325; PLÖGER, Buch Daniel, 162; LACOQUE, Livre de Daniel, 166. DELCOR, Livre de Daniel, 232f., geht zwar auf die Formulierung „er wird straucheln und fallen“ ein, bleibt jedoch mit seiner Erklärung bei den historischen Bezügen; vgl. 232: „Son ‚trébuchement et sa chute‘ marquent sa mort ignomineuse.“ 478
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übersetzung hingegen formuliert: „Nach Jahren schließen sie dann ein Bündnis, und um den Frieden zu bekräftigen, kommt die Tochter des Königs des Südens zum König des Nordens. Doch sie verliert die Macht, und auch ihr Kind bleibt nicht am Leben; zur (bestimmten) Zeit wird sie dem Untergang preisgegeben, sie, ihre Begleiter, auch der, der sie gezeugt hat, und der, der sie zur Frau genommen hat.“479 Im Vergleich mit dem offen formulierenden hebräischen Text ist die Einheitsübersetzung geprägt von der politischen Logik der geschilderten Ereignisse. So wird beispielsweise die in V. 6a erwähnte „Verbindung“ zwischen Nord und Süd als Bündnis und die Entsendung der Königstochter aus dem Süden als dessen Bekräftigung interpretiert. Auch bei der Übersetzung der Partizipien in V. 6e trifft die Einheitsübersetzung Entscheidungen für bestimmte Identifikationen. Die sich häufig wiederholenden Begriffe wie „aufstehen/bestehen“ (dm[), „kommen“ (awb), „stärken“ (qzx) oder „Kraft“ (xk)480 sind in der Einheitsübersetzung nicht mehr zu erkennen, sondern weichen flüssigeren Formulierungen im Deutschen. Dadurch gehen aber wesentliche Gestaltungselemente des Danieltextes, die auch zu dessen Aussage beitragen, verloren. Doch nicht nur die Übersetzungen erwecken den Anschein, Dan 11 sei eine geschlossene Schilderung von konkreten Ereignissen. Der Eindruck bestätigt sich, wenn man die Kommentarliteratur zu Dan 11 heranzieht: Sie bietet – im Unterschied zu Dan 11 unverschlüsselt – in den allermeisten Fällen eine lineare und lückenlos erscheinende Darstellung seleukidischptolemäischer Geschichte im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr.481 Vergleicht man jedoch die Darstellung von Dan 11 mit der historisch nachweisbaren Abfolge ptolemäischer und seleukidischer Herrscher im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr., so fallen erhebliche Abweichungen auf. Zum einen ist das Bild in Dan 11 keineswegs vollständig. So werden unter den jeweils als „König des Nordens“ bezeichneten seleukidischen Herrschern sowohl Antiochos I. Soter (281–261 v.Chr.) als auch Seleukos III. Keraunos (246–226 v.Chr.) übersprungen. Die scheinbar geschlossene Darstellung erweist sich somit als lückenhaft, ein Umstand, der in der Kommentarliteratur jedoch kaum zur Geltung kommt.
479 Ähnlich glättende Übersetzungen finden sich in den Kommentaren von PORTEOUS, Buch Daniel, und HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel. Auch die dem Kommentar von Seow zugrundeliegende New Revised Standard Version weist konkretisierende Tendenzen auf. 480 Zur Bedeutung dieser Begriffe für die Gestaltung von Dan 11,2b – 12,3 s.u. Kapitel III. 2.1 (dm[), III. 2.2 (awb) und III. 4.1 (qzx und xk). 481 So bieten beispielsweise die Kommentare von BENTZEN, Daniel; PORTEOUS, Buch Daniel; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, aber auch GOLDINGAY, Daniel 1989, durchlaufende historische Erläuterungen.
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Weiterhin fällt auf, dass Dan 11 mehrmals auf unterschiedliche Herrscher Bezug nimmt, ohne dass der entsprechende Generationenwechsel im Text erwähnt wird. Es scheint sich also weiterhin um die gleiche Person zu handeln, obwohl sich der Bezugspunkt in historischer Hinsicht verändert hat. Besonders auffällig ist dies in Dan 11,5–6. Die Formulierung „Und am Ende von Jahren werden sie sich verbinden“ in V. 6a weist mit Hilfe der Pluralform wrbxty zurück auf die Akteure des vorhergehenden V. 5. Bezugsgrößen dieses Verses sind in historischer Hinsicht Ptolemaios I. Soter (323–285 v.Chr.) und Seleukos I. Nikator (312–281 v.Chr.). V. 6 rekurriert jedoch auf Ereignisse der Jahre 253–246 v.Chr.482 Die beteiligten Könige sind folglich nicht mehr die aus V. 5, sondern Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v.Chr.) sowie Antiochos II. Theos (241–246 v.Chr.). Im Falle des seleukidischen Königshauses wird also – wie bereits erwähnt – eine Generation übersprungen. Die Kommentarliteratur benennt in diesem Fall zwar die jeweils unterschiedlichen beteiligten Personen, ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Unterscheidung allein vom Text her nicht möglich ist.483 Die Eigenart der Darstellung und die damit möglicherweise verbundene Gestaltungsabsicht verschwinden so aus dem Blickfeld der Kommentatoren und ihrer Leserinnen und Leser.484 482
Zu den historischen Hintergründen vgl. SCHMITT, Syrische Kriege, 1059. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 421.428, fasst V. 6–9 aufgrund der historischen Hintergründe als einen gegenüber V. 5 neuen Abschnitt auf, geht aber mit keinem Wort auf das oben beschriebene Problem ein. Vgl. ähnlich HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 289. Die Kommentare von COLLINS, Daniel 1993, 378; DELCOR, Livre de Daniel, 223; GOLDINGAY, Daniel 1989, 296; LACOQUE, Livre de Daniel, 161, und PORTEOUS, Buch Daniel, 131, schildern lediglich die historischen Bezugspunkte von V. 5 und V. 6, ohne zu erwähnen, dass der Text den Wechsel der beteiligten Könige verschleiert. Ausnahmen bilden die Kommentare von BENTZEN, Daniel, 79: „6 versetzt uns mit Übergehung von Antiochos I. Soter (…) in die Zeit des Antiochos II. Theos (…)“ und SEOW, Daniel, 171: „Now the narrator is concerned with another generation“. Auch PLÖGER, Buch Daniel, 158f., weist auf die Lücke zwischen V. 5 und V. 6 hin und unterstreicht das Eigengewicht der Darstellung von Dan 11 im Vergleich mit der Ereignisgeschichte: „Das folgende Ereignis allerdings, die Heirat des Seleukiden Antiochus II. mit der ptolemäischen Prinzessin Berenike, übergeht die zwischen beiden Reichen ausgetragenen Kämpfe und läßt die bereits in 2,43 angedeutete Heirat vom Jahre 254 als Ergebnis eines friedlichen Zusammenlebens erscheinen; sie war allerdings ein Erfolg der Friedenspolitik des einflußreichen Ministers Apollonius in Alexandrien.“ 484 Einzig HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 211f., unterstellt dem Verfasser von Dan 11 eine – wenngleich auch negative – Absicht: „Das Verb steht im Plural. Das kann nur bedeuten, dass S[ubjekt] die beiden in V 5 eingeführten Größen sind. Dabei spielt es wohl für den Verfasser keine Rolle, ob es sich um dieselben Personen handelt oder nicht. Dass sie [die durch ~ynv #ql überbrückten Ereignisse] nicht geschildert oder zumindest angemerkt werden, zeigt, dass der Verfasser daran kein Interesse hat, während die hier erzählte Episode seine Aufmerksamkeit erregte.“ Im weiteren Verlauf seiner Arbeit geht Hasslberger wiederholt auf die Unschärfe als Charakteristikum von Dan 11 483
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Ähnlich ist die Situation in V. 10–19. Während in V. 11–12 hinter dem König des Südens als Person Ptolemaios IV. Philopator (221 – 204 v.Chr.) steht, agiert der König des Nordens, Antiochos III. Megas (223 – 187 v.Chr.), in V. 16–17 bereits gegen dessen Nachfolger, Ptolemaios V. Epiphanes (201 – 181 v.Chr.). Ein Generationenwechsel in der Linie der Könige des Südens ist im Text jedoch nicht erkennbar. Das gleiche gilt für Ptolemaios VI. Philometor (181 – 145 v.Chr.), der mit dem ab V. 25 agierenden Gegenspieler des in V. 21 eingeführten Antiochos IV. Epiphanes (175 – 164 v.Chr.) identifiziert werden kann. Auch hier ist aus dem Danieltext nicht erkennbar, dass es sich um einen anderen König als den zuletzt in V. 16–17 erwähnten handelt. Im Gegenzug wird in V. 27 möglicherweise ein Regierungswechsel angedeutet, der nicht den historischen Gegebenheiten entspricht. In diese Richtung argumentiert Hasslberger in seiner sprachlichen Analyse von Dan 11. Er geht davon aus, dass die Wurzel rbv im Nif’al in Dan 11 jeweils den vollständigen Untergang einer Person bedeutet.485 Der König des Südens, der in V. 27a.b mit dem König des Nordens an einem Tisch sitzt, muss folglich ein anderer sein als derjenige, der in V. 26a von seinen Tischgenossen zerbrochen wird (whwrbv). Ausgehend von seinem Verständnis von rbv Nif’al weist Hasslberger auf die sich ergebenden Widersprüche zwischen Danieltext und historischem Befund hin, plädiert aber für den Vorrang des Textes vor der Historie.486 Ein solcher Umgang mit dem Danieltext bleibt jedoch die Ausnahme. Im Allgemeinen geht die Kommentarliteratur auf die Abweichungen zwiein, die er allerdings aus der Logik der Entstehungssituation heraus erklärt, vgl. 215.220f. Vgl. auch PLÖGER, Buch Daniel, 159, der zumindest auf die Besonderheit der Darstellung in V. 6b eingeht: „Es verdient Bewunderung, in welch knapper Form in V. 6b die aufregenden Ereignisse des Jahre [sic!] 246 zusammengefaßt werden (…). Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß hinter dieser gerafften Darstellung eine weitaus größere Kenntnis von Einzelheiten gestanden hat, denen aber nicht weiter nachgegangen wird.“ 485 Vgl. Dan 11,20.22. Möglicherweise lässt sich HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 257, bei seinem Verständnis der Wurzel rbv jedoch auch von dem historischen Wissen leiten, dass die in Dan 11,20.22 mit rbv beschriebenen Vorgänge jeweils den Tod der betreffenden Person bedeuten. 486 „Es ergibt sich aber eine Schwierigkeit, wenn man den Ausdruck auch als Rückverweis auf dieselben Personen versteht, wie dies allgemein angenommen wird. (…) Für malk ha=nagb spielt die Person offensichtlich eine geringere Rolle. Das zeigt sich allein schon daran, daß außer in V 7a keine ‚Thronfolge‘ parallel zu der von malk ha=Òapōn berichtet wird. Daraus kann man schließen, daß malk ha=nagb für den Verfasser nur als Gegenspieler zu malk ha=Òapōn bedeutsam, letzterer also die wichtigere Größe ist. Man darf also nicht in erster Linie von der Historie her den Text deuten, sondern muß erst textimmanent die Beziehungen klären“; HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 257f., unter Hinweis auf KEIL, Daniel, 378.
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schen der historisch rekonstruierbaren Ereignisgeschichte und der Geschichtsdarstellung von Dan 11 nicht nur nicht ein, sondern beschränkt sich in den meisten Fällen darauf, Leserinnen und Leser des Danielbuches über die historischen Hintergründe der einzelnen Verse aufzuklären. Häufig besteht die Kommentierung also aus einer Geschichtsdarstellung, die Wert darauf legt, die Folge der einzelnen Ereignisse plausibel zu machen. Ähnlich wie die ursprünglichen Adressatinnen und Adressaten des Danielbuches, die die historischen Anspielungen verstehen mussten, um Trost aus der Visionsschilderung ziehen zu können487, sollen auch moderne Leserinnen und Leser die konkreten Inhalte der Geschichtsvision erfahren. Durch das Bestreben der Kommentare, die Ereignisse hinter den Anspielungen möglichst nachvollziehbar zu vermitteln, gerät jedoch die Eigenart der Darstellung, die sich durch den Vergleich mit der Ereignisgeschichte teilweise sogar noch deutlicher ergibt, aus dem Fokus der Auslegung. Streng genommen wird so eher die Ereignisgeschichte „hinter“ dem Text als der Text selbst ausgelegt. Die – möglicherweise sinntragende – Komponente der Textgestaltung ist so nicht Gegenstand der exegetischen Auseinandersetzung. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Die Aufmerksamkeit, die Dan 11 den einzelnen ptolemäischen und seleukidischen Herrschern schenkt, ist sehr ungleichmäßig verteilt. Während die Darstellung mit jeweils zehn bzw. sogar 25 Versen ausführlich auf Antiochos III. Megas und Antiochos IV. Bezug nimmt, werden andere Herrscherbiographien nur angerissen. Dies ist besonders deutlich im Fall von Seleukos IV. Philopator, dessen zwölfjährige Herrschaft in V. 20 mit nur einem einzigen Vers gewürdigt wird.488 Auch die Betonung der ungewöhnlichen Kürze dieser Regentschaft ist in historischer Hinsicht kaum nachvollziehbar. Dass der Text den Biographien von Antiochos III. Megas und Antiochos IV. besonders viel Raum gibt, wird häufig damit begründet, dass die Regierungszeiten dieser beiden Herrscher näher an der Abfassungszeit von Dan 11 liegen als frühere Könige. Folglich verfüge der Verfasser bei ihnen über größeres Detailwissen.489 Er muss dieses auch darlegen, um das Funktionieren seines Textes als trostspendendes vaticinium ex eventu sicherzustellen. Dieses Argument verliert jedoch mit Blick auf die Darstellung Seleukos’ IV. erheblich an Überzeugungskraft. 487
Vgl. KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 283. COLLINS, Daniel 1993, 382, weist auf die Spannung zwischen historischen Gegebenheiten und der Darstellung in Dan 11 folgendermaßen hin: „Seleucus reigned for twelve years, but his reign is dismissed as short and inconsequential“. 489 „Because the author of this apocalypse almost certainly lived during part of the long reign of Antiochus III, he writes here on the basis of firsthand knowledge“; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 290. 488
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Die unterschiedliche Verteilung der Aufmerksamkeit muss folglich andere Gründe haben, die aber weder mit der Offenlegung der historischen Bezüge noch mit Hilfe einer Argumentation aus der Entstehungslogik des Textes heraus erfasst werden können. Doch nicht nur mit Blick auf die Lücken in der Reihe der Könige und die unterschiedliche Gewichtung ihrer Biographien wird deutlich, dass die Kommentare den Danieltext viel zusammenhängender erscheinen lassen, als er es ist. Auch im Zusammenhang mit einzelnen Episoden fällt auf, dass die Kommentare viele Details aus der Geschichte der Syrischen Kriege ergänzen, auf die der Text jedoch in keiner Weise anspielt. So bedenkt beispielsweise der bereits mehrfach erwähnte Kommentar von Porteous bei der Auslegung von V. 6 ausführlich die Rolle, die die verstoßene Ehefrau Antiochos’ II., Laodike, in dem ptolemäisch-seleukidischen Familiendrama spielte.490 In V. 6 ist jedoch, auch in historischer Lesart, an keiner Stelle von Laodike die Rede. Der Kommentator ergänzt diese Details, um die Geschichte plausibel darstellen zu können. Er verzichtet aber darauf, die Unterschiede zwischen historischer Rekonstruktion und dem Danieltext zu benennen. Der dunkle und lückenhafte Text ist somit nicht Gegenstand der Kommentierung, vielmehr werden die eher verschleiernden als erhellenden Formulierungen im Kommentar übersetzt in das, was „wirklich“ passiert ist. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass es sich bei Daniel um eine lückenlose und historisch plausible Darstellung handle. Für einen ähnlich konkretisierenden Umgang mit dem Text finden sich zahlreiche Beispiele. So trägt Collins bei seiner Erläuterung von V. 10 eine ganze Reihe von Aspekten aus der Biographie von Antiochos III. nach, die der Text nicht erwähnt. Als Kommentar zu den sehr allgemeinen Formulierungen des Textes, „Und seine Söhne werden Krieg anfangen und sammeln eine Menge großer Heere, und kommen, kommen wird er und fluten und überschwemmen“ (V. 10a–e), geht Collins auf die Niederschlagung eines Aufstandes des medischen Satrapen und die Eroberung Seleukias durch Antiochos III. ein.491 Ähnlich wie Porteous macht er aber nicht transparent, welche dieser Aspekte sich im Text wiederfinden. Eine – in historischer Hinsicht überraschende – Lücke weist Dan 11 in Bezug auf die Schlacht am Paneion auf, mit der im Jahr 200 v.Chr. die Herrschaft der Ptolemäer über Syrien und Phönizien endete und auf die Seleukiden überging. Obwohl sich Dan 11,5–39 ausschließlich mit dem Verhältnis zwischen Ptolemäern und Seleukiden und den Syrischen Kriegen beschäftigt, wird dieser entscheidende Wendepunkt im Danieltext nicht erwähnt – wohl aber in den Kommentaren. Während in Dan 11,15 von der 490 491
Vgl. PORTEOUS, Buch Daniel, 133f. Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 378.
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Nachgeschichte der Schlacht am Paneion, nämlich der bei Hieronymus überlieferten Belagerung Sidons, die Rede ist, informieren die Kommentatoren auch über die Vorgeschichte dieser Episode. Dies ist auch notwendig, um die Belagerung Sidons einordnen zu können. Genauso notwendig wäre es aber, um dem Eigenwert des Textes gerecht zu werden, auf sein Schweigen über das wichtigere Ereignis hinzuweisen. Wie an den angeführten Beispielen deutlich wurde, erschließen die Kommentare also weniger die Logik des Textes, sondern rekonstruieren stattdessen die Logik der Ereignisse „hinter“ dem Text. Andererseits wird aber im Gegenzug dazu häufig nicht der gesamte Text kommentiert. Wendungen, die keine historische Zuordnung ermöglichen, werden in der Kommentierung teilweise schlicht unterschlagen. Dies ist beispielsweise bei der Kommentierung von V. 25–28 im Kommentar von Collins der Fall. Die Teilverse 25d.26b.c.27a.c.28c.d, die keinen unmittelbaren historischen Bezugspunkt besitzen, sind auch nicht Gegenstand der Kommentierung.492 Dies geschieht stillschweigend, ohne darauf hinzuweisen, dass das gewählte historische Paradigma der Kommentierung nicht auf den gesamten Text angewendet werden kann, sondern sich der Text vielmehr dem historischen Zugriff entzieht. Der Kommentar erfüllt somit die Funktion eines historischen Begleittextes zu Dan 11, er kommentiert aber eben gerade nicht Dan 11 als Text. Dafür müsste vielmehr ein Ansatz gewählt werden, der in der Lage ist, alle Teile des Textes zu integrieren. Die historische Lesart stößt hier also deutlich an eine Grenze. Zusätzlich zu der fehlenden Offenlegung von historischen Lücken und Ungenauigkeiten im Danieltext und dem Übergehen von historisch nicht erläuterbaren Stellen fällt in der gegenwärtigen Kommentierungspraxis eine weitere Tendenz auf, die die historische Brüchigkeit des Danieltextes verschleiert: Während die frühen historisch-kritischen Autoren im 19. Jahrhundert die historischen Bezugspunkte mit antiken Quellen belegen493, benennen heutige Kommentatoren zwar die historischen Bezugspunkte des Danieltextes, legen aber nicht offen, auf welche Primärquellen sich ihre Erkenntnisse stützen. Auf diese Weise wird weder deutlich, wie mühsam es teilweise ist, die historischen Bezugspunkte aus heutiger Sicht und nach wissenschaftlichem Standard zu belegen, noch, wie entscheidend die Leseanleitung, die der Kommentar des Hieronymus darstellt, auch für die historisch-kritische Lektüre von Dan 11 ist. Der Nachweis der historischen Bezugspunkte erscheint so selbstverständlicher, als er ist, wodurch der Charakter der kommentierenden historischen Erzählung noch kompakter wirkt. 492
Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 383f. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 422, verweist in diesem Zusammenhang auf die Kommentare von Bertholdt (1806), Hävernick (1832), von Lengerke (1835) und Driver (1912). 493
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Dan 11 erweist sich somit als in historischer Hinsicht brüchiger Text: Die verarbeiteten Ereignisse stehen nicht in einer kontinuierlichen Entwicklung, sondern greifen aus einem langen Zeitraum einzelne Schlaglichter heraus. Diese Eigenart des Textes kommt in der historisch motivierten Kommentierungspraxis jedoch nicht zur Geltung. Vielmehr erwecken die Kommentare den Eindruck, es handle sich bei Dan 11 um eine geschlossene, vollständige und plausibel dargestellte Geschichtserzählung. Die Lückenhaftigkeit und Brüchigkeit könnte auch anhand einer Offenlegung der Rekonstruktionsprozesse der einzelnen Ereignisse deutlich werden. Doch auch dies geschieht in den modernen Kommentaren nicht. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer Kontinuität, der die Leerstellen und Lücken, die den Text prägen, ausblendet. Hinzu kommt, dass viele Passagen des Textes gar nicht mit historischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden können. Der Text enthält somit einen Überschuss an Inhalt, den die historische Lesart nicht erfassen kann. 3.3 Bibelhermeneutische Aporien Neben den historischen und textlichen Aporien erweist sich die von der Frage nach den historischen Bezügen geleitete Lektüre von Dan 11 außerdem in bibelhermeneutischer Hinsicht als problematisch. Der historischkritische Zugang zu Dan 11 ist zwar anschlussfähig an Diskussionsfelder der historischen Wissenschaft. Er eröffnet aber keine genuin theologischen Perspektiven auf den Text. Verstanden als prophetischer Text aus dem Babylonischen Exil, diente Dan 11, egal ob in präteristischem oder futuristischem Verständnis, als Beleg der offenbarungstheologischen Zuverlässigkeit der Bibel. Das Danielbuch insgesamt galt ferner als Fundament einer theologischen Reflexion der Weltgeschichte.494 Sowohl bei Fragen der Offenbarungstheologie als auch bei geschichtstheologischen Fragen handelt es sich um theologische Diskussionsfelder. Durch die historisch-kritische Interpretation von Dan 11 geht der Anschluss an diese systematisch-theologischen Diskussionen verloren. Die geschichtstheologische Reflexion verliert dadurch gar gänzlich ihre Basis. Diese Beobachtungen sind freilich kein Argument dafür, den fiktionalen Charakter des Textes als vaticinium ex eventu und seine Entstehung in der 494 Vgl. KOCH, Europa, Rom und der Kaiser, der die Relevanz des Danielbuches für geschichtstheologische Modelle ausgehend von der Antike bis in die Neuzeit nachweist. Vgl. dazu auch die Beiträge von KOCH, Auserwähltes Volk; GOEZ, Danielrezeption; TAMCKE, Reichseschatologie; CAMPI, Ende des Weltzeitalters; MIEGGE, Regnum quartum ferrum; DELGADO, Universalmonarchie; KOCH, Europabewusstsein; YARBRO COLLINS – COLLINS, Book of Truth; WÜRFFEL, Reichs-Traum.
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Makkabäerzeit nicht anzuerkennen. Die historisch-kritische Wende im 19. und 20. Jahrhundert gewährleistete die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit der Diskussion über Daniel und der theologischen Bibelexegese insgesamt. Die Alternative war und ist der Fundamentalismus.495 Dennoch ist der Danielexegese mit der historisch-kritischen Wende etwas verloren gegangen, was seitdem nicht wieder eingeholt wurde: der Anschluss an theologische und spirituelle Fragestellungen. Denn die historische Lesart erhält zwar die wissenschaftliche Relevanz des Textes, indem sie seine Bedeutung von einer theologischen zu einer historischen umlenkt, ersetzt aber nicht den theologischen Verlust. Im Zusammenhang mit der Datierung von Dan 11 in das 2. Jahrhundert v.Chr. beschreibt Meadowcroft dieses Problem folgendermaßen: „If one’s approach to the text of Scripture is primarily what we might term a ‚history of religion‘ or phenomenological approach, there is no problem with the latter approach. (…) The conundrum comes for somebody who acknowledges the likely second century date of the vision material, but is also convinced that, as part of the canonical text acknowledged by the church, the entire text of Daniel 11 is part of the locus of divine discourse.“496
Für jemanden also, der in der Folge der historisch-kritischen Wende die Datierung von Dan 11 in die Makkabäerzeit anerkennt, gleichzeitig den Text aber als Heilige Schrift begreifen und wissenschaftlich reflektieren will, bietet die historische Lesart von Dan 11 wenig Inspiration. Theologische Interpretationen des Textes im Rahmen des historischkritischen Paradigmas nehmen meist den Umweg über die Entstehungssituation und die historische Pragmatik. So wird der Text verstanden als Trost in der Bedrängnis, als historisches Zeugnis der Treue zum Gott Israels und der Hoffnung auf ihn. Die theologisch-spirituelle Relevanz des Textes für heute gründet in der Solidarität der heutigen mit den damaligen Leserinnen und Lesern sowie in der Suche nach Analogien zwischen der Entstehungssituation und der jeweiligen Situation der Leserinnen und Leser. Wort Gottes ist der Text also als historisches Dokument, nicht aber in seiner narrativen oder literarischen Qualität. Dies ist insofern problematisch, als in bibeltheologischer Hinsicht nicht die Entstehungssituation des Textes als Offenbarung Gottes gilt, sondern der Text selbst. Die historische Verortung biblischer Texte ist absolut notwendig, um die Anschlussfähigkeit der Theologie zu den historischen Wissenschaften zu gewährleisten und nicht in den Fundamentalismus zu verfallen.497 Doch
495 496 497
Vgl. BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma, 15. MEADOWCROFT, History and Eschatology, 246. Vgl. BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma, 14–17.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
eine ausschließlich historisch motivierte Lektüre biblischer Texte – und so auch von Dan 11 – greift theologisch zu kurz.498 Eine alternative Lektüre von Dan 11 muss also nicht nur Antworten auf die oben aufgezeigten historischen und textlichen Aporien finden. Sie sollte auch Wege beschreiben, die durch die historisch-kritische Daniellektüre aufgebrochene theologische Lücke zu füllen. Eine solche, theologisch-wissenschaftlich verantwortete wie auch theologisch-spirituell inspirierende Lektüre müsste den Danieltext als Teil des biblischen Kanons begreifen. Als solcher steht Dan 11 zunächst für sich und verweist dann auf seinen unmittelbaren Kontext, die Schlussvision Dan 10 – 12 und das Danielbuch. Für den biblischen Kanon ist das Moment der Überzeitlichkeit geradezu konstitutiv, insofern die Texte der Bibel den Anspruch erheben, für alle Leserinnen und Leser aller Zeiten immer wieder neu ihr Potenzial als Wort Gottes zu entfalten.499 Eine Lektüre, die diesem Charakter biblischer Texte und damit auch von Dan 11 gerecht werden will, muss daher in erster Linie bei den Eigenschaften des Textes als eigenständigem, literarischem Kunstwerk ansetzen.
4. Close Reading als alternativer Ansatz zur Erschließung von Dan 11 4. Close Reading als alternativer Ansatz
Die bisherigen Ausführungen haben die Probleme vor Augen geführt, die sich aus einer von der Rückfrage nach den historischen Bezügen geleiteten Lektüre von Dan 11 ergeben. Der Quellenwert des Textes ist umstritten, die historische Entschlüsselung der Darstellung blendet ihren literarischen Eigenwert als Text aus und bietet bibelhermeneutisch nur eingeschränkt Anschlussmöglichkeiten. Durch die Konzentration auf den religionsge498
Vgl. BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma, 17–19. „Die Texte der Bibel zielen von ihrer Zusammenstellung und ihrem Gebrauch als ‚Wort Gottes‘ auf überzeitliche Bedeutung und auf fortwährende Brauchbarkeit im Rahmen sich wandelnder Kontexte. Die Grenzziehung des Kanons mit ihrer Abgrenzung von der anderen zeitgenössischen, nicht in den Kanon aufgenommenen Literatur bedeutet zugleich eine Sinnöffnung auf immer neue Kontexte hin. Die durch die Kanonwerdung geschehende Dekontextualisierung bedeutet zugleich notwendigerweise eine Rekontextualisierung: Herausnahme aus dem Entstehungskontext und Hineinnahme in den Deutekontext ‚Zeichenuniversum Bibel‘. Dies hat seine Bedeutung für den Umgang mit ‚Geschichte‘ in der Bibel. Zeitgeschichtliche Ereignisse werden nicht nur in Sprache und Deutung hinein transformiert, wie es bei jeder Form der Geschichtsschreibung geschieht, sondern durch ihre Einfügung in den Kontext der Bibel erhält das Geschichtliche eine überzeitliche Bedeutung, über die aktuelle Abfassungssituation hinaus“; BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma, 13; vgl. auch die Überlegungen von STEINS, Kanon und Anamnese, 120–129. 499
4. Close Reading als alternativer Ansatz
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schichtlichen Hintergrund des Buches und seine Entstehungsgeschichte geraten ferner die Frage nach der Funktion des Textes Dan 11,2b – 12,3 im Kontext der Schlussvision Dan 10 – 12, aber auch als Schluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches als literarisch-theologischer Einheit aus dem Blick. Vor allem aber gilt die besondere Gestalt des Textes lediglich als Code, der „entschlüsselt“ werden muss. Einen alternativen Ansatz schlägt Goldingay vor, wenn er die Schlussvision des Danielbuches als situativen Midrasch bezeichnet: „Dan 10–12, like the previous visions, is also shaped by earlier Scriptures, so that we can describe it as another instance of situational midrash.500 Goldingay weist nach, dass die gesamte Schlussvision des Danielbuches, insbesondere aber Dan 11,2b – 12,3, von Anspielungen auf andere biblische Texte durchzogen ist. So begegnen im Danieltext zahlreiche wörtliche Übernahmen aus der Unheilsankündigung Ez 7,19–27.501 Der Text erscheint ferner als Aktualisierung von Passagen aus dem Jesajabuch, die sich auf die assyrische Eroberung beziehen.502 Die Formulierung rb[w @jv – „er wird fluten und überschwemmen“ in Dan 11,10d.e.40d.e ist dabei eine direkte Übernahme aus Jes 8,7–8. Deutlich erkennbar sind auch Anspielungen auf das Vierte Gottesknechtslied Jes 52,13 – 53,12, die vor allem die Beschreibung der ~ylykfm in Dan 11,33–35 und 12,1–3 prägen.503 Das in Dan 11,40–45 geschilderte Ende des letzten Königs des Nordens nimmt die alttestamentliche Tradition des Gerichts über die heidnischen Feinde des Gottesvolkes auf, wie sie beispielsweise in Ps 2; 46; 48; 76 sowie in Jes 10; 14,24–25; 31; Ez 38 – 39; Joël 2,20 und Sach 14 zum Ausdruck kommt. Auch das Gericht über Ägypten in Dan 11,42504 und die Erwähnung von Sudanesen und Libyern am Ende der Tage in Dan 11,43505 nehmen Motive auf, die in der biblischen Prophetie vorhanden sind.506 Goldingay fährt fort: 500 GOLDINGAY, Daniel 1989, 284; vgl. auch MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes. 501 So klingt die Formulierung $m[ ycyrp ynb – „Söhne des Zerreißens deines Volkes“ in Dan 11,14 an ~ycrp – „Zerreißer, Räuber“ in Ez 7,22 an. Die Wendung ybch #ra – „Land der Kostbarkeit“ in Dan 11,16.41 (vgl. 11,45) ist von Ez 7,20, inspiriert, wobei mit ybc jeweils der Tempel gemeint ist. Ferner erinnert die Verwüstung des Tempels in Dan 11,31 an Ez 7,22–24, und die Beunruhigung durch Gerüchte, von der in Dan 11,44 die Rede ist, wird ebenfalls in Ez 7,26 erwähnt. Auch die Begriffe llx – „durchbohren“ oder „entweihen“, lvk – „fallen“, llv – „Raub“ und #wqv – „Scheusal“ begegnen jeweils in Dan 11 und in Ez 7,19–27; vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 284f. 502 Vgl. Jes 10. 503 Vgl. GINSBURG, Oldest Interpretation; MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 94–96. 504 Vgl. Jes 19; Jer 43,8–13; 46; Ez 29 – 32. 505 Vgl. Nah 3,9; Ez 30,5. 506 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 284f.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
„Dan 10–12 is situational midrash rather than expository midrash. Its starting point is more the problems raised by present experience, which the interpreter seeks to adress by means of Scripture, than problems by study of the text in its own right. (…) perhaps we may say that it solves one problem, the apparent meaninglessnes of present history, by first bringing to the surface a second, the apparent nonfulfillment of ancient prophecy. Both problems are then solved by being set alongside each other. The interpreter promises that the ancient word is to be fulfilled in a way, that will restore meaning to present experience.“507
Die Erfahrungen der Gegenwart werden somit nach Goldingay mit Hilfe älterer, unter Umständen nicht in Erfüllung gegangener Prophezeiungen gedeutet. Im Licht der Schrift erhalten die Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart Sinn, und auch der Ausblick in die Zukunft ab V. 40 erscheint auf dieser Basis vertrauenerweckend: „It is rather the quasi-predictions‘ ability to make sense of the past by relating it in the light of Scripture that implies grounds for trusting the actual prophecy’s portrait of what the future will bring, painted in the light of the same Scripture.“508
Goldingay betrachtet als Schlüssel für das Verständnis von Dan 11 also nicht ausschließlich die historischen Bezugspunkte, sondern geht von den biblischen Anspielungen des Textes aus. Damit erhält der Text eine zusätzliche Dimension. Er erschließt sich nicht allein durch die Decodierung der historischen Anspielungen, sondern entfaltet sein Sinnpotenzial als prophetischer Text erst im Netz des biblischen Kanons.509 Neben einem Zugang zu Dan 11 über die biblischen Anspielungen des Textes ist jedoch auch ein Ansatz bei der sprachlichen Gestaltung des Textes möglich. Die oben beschriebene Fokussierung auf den Inhalt, die Entstehungsbedingungen und die historische Pragmatik des Textes510 geht einher mit der Abwertung von Dan 11 in literarischer Hinsicht. Die sprachliche Gestaltung des Textes wird dabei häufig gar nicht als Resultat einer bewussten Gestaltungsabsicht gesehen. Vielmehr gilt die Sprache von Dan 10 – 12 insgesamt als wenig qualitätvoll. So bezeichnet beispielsweise Collins die Qualität des Hebräischen im Danielbuch, insbesondere von Dan 11, als 507 GOLDINGAY, Daniel 1989, 285; vgl. dazu auch PYPER, Reading in the Dark, 492– 494.500–503. Hier weist Pyper ähnliche Strukturen für das Sacharjabuch nach, das er in Anschluss an Mark Love als „post-prophetischen“ Text bezeichnet (494). Die Verfasser des Sacharja-Buches, so Pyper, „found it hard to read the developing textual traditions of Israel which were becoming scripture for them. The visions and oracles of Zechariah encode the difficulty of their own production“ (501). 508 GOLDINGAY, Daniel 1989, 285; vgl. auch CLIFFORD, History and Myth, 25f. 509 Auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 326–350, weist auf die Anspielungen auf andere biblische Schriften hin, betrachtet sie jedoch in erster Linie als Argumentationshilfe. So resümiert er: „Dies deutet darauf hin, dass der Verfasser auf derartige Autoritäten angewiesen war, sich zumindest gerne ihrer bediente“ (350). 510 Siehe oben Kapitel II. 1.4.2.
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„exceptionally poor“511. Die Gestalt des Textes wird also eher als Zufallsprodukt mangelnder Sprachkompetenz betrachtet, weshalb sich eine eingehende Analyse und Interpretation der sprachlichen Mittel erübrigt. Eine alternative Lektüre von Dan 11 kann genau hier ansetzen: Der Ausweg aus den Aporien einer auf die historischen Fragen enggeführten Interpretation führt dann über die sprachliche Gestaltung des Textes. „One way to make progress is to read the material primarily in literary terms“512, so die pointierte Formulierung von Maedowcroft. Maedowcroft geht dabei von der Schwierigkeit aus, die historisch-kritischen Erkenntnisse über die Entstehungszeit und die historischen Bezugspunkte von Dan 11 anzuerkennen und gleichzeitig einen theologisch-spirituellen Zugang zum Text zu finden. Dies wird besonders virulent bei der Interpretation der Verse Dan 11,40– 45, die als „echte“ Vorhersage nach der Ex-eventu-Prophetie Dan 11,2b–39 gelten. Die historische Pragmatik besteht in der Beruhigung und im Trost der Ursprungsadressaten: Weil die übrigen vorhergesagten Ereignisse eingetroffen sind, gilt die gesamte Prophezeiung als zuverlässig. Es besteht also Hoffnung, dass auch die noch ausstehenden Ereignisse eintreffen. Die theologisch-pragmatische Absicht des Textes läge demnach in der (Ver-)Tröstung der Gläubigen. Angesichts dieser enggeführten Hermeneutik des vaticinium ex eventu schlägt Maedowcroft in der Auseinandersetzung mit Dan 11,40–45 als Ausweg vor, sich auf die literarischen Aspekte des Textes zu konzentrieren. Er benutzt die Bezeichnung „literarisch“ dabei im Sinne des literary criticism wie er außerhalb der Bibelwissenschaft verwendet wird: „I am using the word ‚literary‘ to refer to matters normally treated under the rubric ‚literary criticism‘ in disciplines other than biblical studies. Hence I will be dealing with the text as a piece of literature and considering matters such as thematic and lexical connections, rhetorical effect and narratology.“513
Thematische und lexikalische Bezüge, Fragen der Rhetorik und der Erzähltechnik – mit diesen Kriterien verweist Maedowcroft auf den methodischen Ansatz des close reading, wie er in den Literaturwissenschaften vorliegt514, „d.h. ein genaues, allen Bedeutungsnuancen und sprachlichen Ef-
511
COLLINS, Daniel 1993, 377, mit Verweis auf CHARLES, Book of Daniel. Vgl. ferner 22f.: „The text of chaps. 8 – 12 is difficult. This is due in some part to textual corruption, but some of the corruption may itself be caused by the awkwardness of the Hebrew.“ 512 MEADOWCROFT, History and Eschatology, 248. 513 MEADOWCROFT, History and Eschatology, 244. 514 Vgl. NÜNNING, Close Reading, 87f.; WENZEL, New Criticism, 397–399; BORGMEIER, Werkimmanente Interpretation, 563–565; BECKER, Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien, 234–238.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
fekten eines Textes nachspürendes Lesen“515. Eine solche sehr detaillierte, gründliche, textnahe und intensive Lektüre, „die völlig werkzentriert ist, von der Autonomie des Kunstwerks ausgeht, sämtliche Faktoren des Kontexts bewußt ausblendet und auf die Erschließung der formalen Merkmale und Bedeutungsnuancen des jeweiligen Werks konzentriert ist“516, erscheint auch als alternative Lesart der Geschichtsvision Dan 11,2b – 12,3 vielversprechend. Als werkimmanenter Zugang ermöglicht das close reading, den Text als literarisches Kunstwerk wahrzunehmen. Es stellt somit eine Alternative zur historischen Lektüre des Textes dar, die den Text aufgrund der eingeschränkten Verwendbarkeit als Quelle als in historischer Hinsicht defizitär beschreiben muss und außerdem nicht alle Teile des Textes erfassen kann. Eine Untersuchung der Textoberfläche nimmt hingegen alle Teile des Textes in den Blick, unabhägig davon, ob sie historische Bezugspunkte aufweisen oder nicht. Während die historische Lektüre also Teile des Textes methodisch ausblenden muss, ist das close reading in der Lage, den gesamten Text zu erfassen.517 Auch in Bezug auf die beschriebenen textlichen Aporien erscheint das close reading als alternativer Ansatz. Während die historische Lektüre schon bei der Erschließung des Textes durch Gliederung und Überschriften zu schnell vom Text weg zu seinen historischen Hintergründen führt, konzentriert sich das close reading ganz auf den Text. Textstellen, die aufgrund historischer Plausibilitäten korrigiert werden, können in einer textimmanenten Lektüre integriert werden und vielleicht ein Sinnpotenzial entfalten, das im historischen Paradigma verschüttet bleibt. Schließlich steht der Text in seiner ganzen sprachlichen Eigenart im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wichtige Vorarbeiten für eine Lektüre von Dan 11, die vor allem die sprachliche Gestaltung des Kapitels berücksichtigt, leistet die Studie von Hasslberger „Hoffnung in der Bedrängnis“, die sich mit den Kapiteln Dan 8 und Dan 10 – 12 in formkritischer Hinsicht auseinandersetzt. In der Einleitung äußert Hasslberger mit Blick auf die Danielforschung: „Meist wird bei der Beurteilung oder dem Aufstellen von Hypothesen vom Inhalt ausgegangen, ohne Struktur und Form des Textes zu analysieren.“518 Hasslberger bleibt mit seiner Studie hingegen konsequent bei der Gestalt des hebräischen Textes. Nach einer kurzen Text- und Literarkritik der 515
WENZEL, New Criticism, 398. NÜNNING, Close Reading, 87f. 517 Vgl. aber WEITZ, Zur Karriere des Close Reading, 354–364, der auf die Gefahr des Eskapismus werkimmanenter Zugänge und die „eigene Ökonomie von Mißachtung und Beachtung“ (364), welche auch jedem textnahen Lektüreverfahren innewohnt, hinweist. 518 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, XIII. 516
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von ihm untersuchten Kapitel liefert er eine detaillierte Beschreibung des Textes, die aus einer nach Wortarten gegliederten Übersicht über das verwendete Vokabular und einer Beschreibung von Syntax und Stil besteht, aus welcher sich die Gliederung des Textes ergibt. Dabei beschreibt Hasslberger den Gebrauch der einzelnen Wortarten rein von ihrer Funktion im Satz her.519 Auf semantische Aspekte geht er nicht ein. Das Fazit, welches der Arbeit auch den Titel gibt, dass nämlich dieser Text „den Lesern offensichtlich in einer schweren Bedrängnis Mut zum Ausharren und Hoffnung auf Rettung machen“520 wolle, kann er an keiner Stelle aus seinen sprachlichen Beobachtungen ableiten. Das close reading, wie Hasslberger es durchführt, ist zu unfokussiert, um aus den Ergebnissen Rückschlüsse auf Aussage und Pragmatik des Textes ziehen zu können. Hasslberger beschreibt den gesamten Text in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht, bündelt aber nicht und bezieht seine Beobachtungen nicht auf den Inhalt der Darstellung. Hinsichtlich der Pragmatik und des theologischen Gehalts des Textes verlässt er daher die vorgezeichneten Bahnen historisch-kritischer Hermeneutik nicht. Ein close reading, das Antworten auf die oben beschriebenen Aporien einer historischen Lektüre von Dan 11 geben will, muss demgegenüber die Hauptlinien der Textgestaltung freilegen und diese mit dem Inhalt des Textes vermitteln. Ansätze für ein solches Vorgehen finden sich beispielsweise in dem bereits erwähnten Danielkommentar von Goldingay. Im Unterschied zu vielen anderen Danielkommentatoren bezeichnet Goldingay das Hebräisch von Dan 10 – 12 nicht wertend als „poor“, sondern spricht stattdessen neutraler von „idiosyncratic Hebrew“521. Diese Einschätzung spiegelt sich in der Aufmerksamkeit, die er der sprachlichen Gestaltung insbesondere von Dan 11,2b – 12,3 widmet. Goldingay beobachtet zahlreiche Wortfelder und Redundanzen, die dem Text seinen besonderen Charakter verleihen. „These verbal phenomena contribute to the drawing of patterns in history such as we have noted above: for example, kings, who seem to have the power to do as they will but who are then frustrated and fall (vv 3, 16, 36); kings who seek to seal alliances by means of marriages, and fail (vv 6, 17); more generally, the ceaseless movement and warring between north and south, the unending rise and fall of rulers and empires with their awesome power and authority yet their less acknowledged constraints and transience.“522
519 Mit diesem Vorgehen bewegt sich Hasslberger in der von RICHTER, Exegese als Literaturwissenschaft, entwickelten Methodik. 520 HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 400. 521 GOLDINGAY, Daniel 1989, 288. 522 GOLDINGAY, Daniel 1989, 288.
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Kapitel II: Die historische Lesart von Dan 11
Goldingay erkennt also in der sprachlichen Gestaltung von Dan 11 wiederkehrende Abläufe, Muster, die bestimmte Werthaltungen den berichteten Inhalten gegenüber enthalten. Auch Meadowcroft weist in seinem oben zitierten Aufsatz auf „patterns“ – Muster hin, die den Danieltext prägen.523 Dieser Spur, die bei Goldingay und Meadowcroft angedeutet wird, soll im nun folgenden Kapitel mit Hilfe eines close reading von Dan 11,2b – 12,3 nachgegangen werden.
523 „In this respect, E.C. Lucas (…) comments, ‚the use of biblical phrases and the pattern [the author] has constructed in the course of the historical survey suggest that he is doing no more than expressing in general terms the belief that, like other rulers before him who have given way to arrogance, Antiochus will meet an untimely end. Because of Antiochus’ greater hubris, his end is expressed in somewhat hyperbolic terms“; MEADOWCROFT, History and Eschatology, 248, Anm. 18.
Kapitel III
Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11 Eine Lektüre von Dan 11,2b – 12,3, die den Text in erster Linie von seinen historischen Bezugspunkten her liest, gerät sowohl in textliche als auch in theologische Aporien. Dabei ist Dan 11 viel mehr als die Bekanntgabe zukünftiger Ereignisse oder ein historisches Dokument. Dan 11 ist ein Text, ein eigenständiges Stück Literatur, ein Kunstwerk, das auch in sich steht und seiner eigenen internen Logik folgt. Das bedeutet nicht, dass die Einbettung des Textes in seinen Entstehungskontext für dessen heutige Interpretation keine Rolle spielen sollte. Angesichts der in Kapitel II freigelegten Aporien erscheint es aber doch angebracht, die historischen Bezüge des Textes methodisch zunächst bewusst auszublenden.1 Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen steht daher die „Textur“ von Dan 11, die Textoberfläche und ihre Gestaltung mit literarischen Mitteln.
1. Fragestellung und methodischer Ansatz 1. Fragestellung und methodischer Ansatz
Wie also funktioniert Dan 11 in sich als Text? Welche Gestaltungsprinzipien werden eingesetzt und mit welchem Ergebnis? Wie lässt sich vor diesem Hintergrund der Gesamtduktus des Textes beschreiben? Was bedeutet das für die Haltung, die sich in Dan 11 gegenüber den historischen Ereignissen ausdrückt, auf die der Text anspielt? Und schließlich: Was ergibt sich aus der literarischen Analyse des Textes für dessen Funktion in der Schlussvision Dan 10 – 12, im Danielbuch und im biblischen Kanon? Wie kann so eine theologische Interpretation des Danielschlusses nach den Maßstäben heutiger wissenschaftlicher Theologie aussehen? Grundlage der folgenden Textanalyse ist, in Anlehnung an das Verfahren des close reading, eine aufmerksame, aber unfokussierte Lektüre des Textes. Diese liefert erste Gestaltungsmerkmale des Textes, die als Kriterien seiner detaillierten Analyse dienen können. 1
Die so gewonnenen Beobachtungen können und müssen in der historischen Rückfrage nach Entstehungsbedingungen und historischen Kontexten des Textes einbezogen werden. Dies steht allerdings nicht im Fokus der vorliegenden Studie.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Die auffälligsten Gestaltungsprinzipien liegen bei Dan 11 auf der lexikalischen Ebene. Der Wortschatz ist beschränkt, der Text durch Wiederholungen geprägt. Insbesondere tritt die ungewöhnlich häufige Verwendung der – auch sonst im biblischen Hebräisch häufigen – Wurzeln dm[, awb und bwv sowie hf[ hervor. Aber auch weniger häufig verwendete Wörter, insbesondere die Verben, wiederholen sich auffällig. Bei einer näheren Betrachtung des Textes wird ferner deutlich, dass die sich wiederholenden Wörter thematische Felder bilden. Zu den bereits erwähnten häufig verwendeten Wurzeln dm[ bzw. awb und bwv kommen weitere Verben der vertikalen und horizontalen Bewegung hinzu. Verben des Themenfeldes „Bewegung“ prägen auf diese Weise die gesamte Darstellung. Im Zuge einer Wortschatzanalyse fällt auf, dass sich im Text eine Reihe von weiteren Wortfeldern aufspannt, die aus inhaltlich verwandten Begriffen besteht, welche sich ebenfalls teilweise wiederholen. So gruppiert sich ein großes Wortfeld um das Thema „Macht“. Wiederholt begegnen außerdem Begriffe zu den Themen „Zerstörung“, „Religion“ sowie „Verstehen“. Auch Begriffe aus dem Wortfeld „Zeit“ sind wiederholt im Text anzutreffen. Das close reading von Dan 11 folgt daher der Spur dieser Leitwortstrukturen und Wortfelder. Die häufig wiederholten Wörter werden zu semantischen Feldern gruppiert und in ihrer Semantik beschrieben. Untersucht werden ferner die Verteilung der Begriffe im Text und ihre Einbindung in die syntaktischen Strukturen. Syntaktische Besonderheiten, Strukturen und Dynamik des Textes werden in Abhängigkeit zur lexikalischen Analyse beschrieben. Auf der Basis dieser literarischen Analyse erfolgt schließlich ein erneuter Blick auf die inhaltlichen Schwerpunkte des Textes.
2. Grundereignisse 2. Grundereignisse
In einem ersten Schritt wird im Folgenden die Verwendung der überdurchschnittlich häufig benutzten Verben dm[ (21-mal), awb (20-mal) und bwv (11-mal) sowie hf[ (14-mal)2 untersucht. Aufgrund ihrer Häufigkeit3 und ihrer Verwendung zur Darstellung unterschiedlichster Begebenheiten (s.u.)
2
Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 288. Anders als Goldingay berücksichtige ich bei der Zählung auch die Infinitiv- und Partizipialformen. Zu den einzelnen Belegen s.u. in diesem Kapitel. 3 Als nächsthäufige Verbwurzel fällt qzx – „stark sein“ mit sechs Belegen (Dan 11,5a.b. 6e.7e.21d.32b) deutlich hinter den genannten Wurzeln zurück. Die Abgrenzung dieser vier Wurzeln erscheint daher als gerechtfertigt.
2. Grundereignisse
171
können diese vier Verbwurzeln auch als Grundereignisse bezeichnet werden.4 Die genaue Beschreibung der Verwendung dieser Wurzeln geht, neben der grundlegenden Unterscheidung nach Stämmen, von der Position der Verbformen im Satz sowie ihrer Relation zu anderen Satzgliedern, insbesondere den Verbalsubjekten, aus. Anhand von Zeitstufen, Position im Satz und syntaktischen Relationen soll die charakteristische Verwendung der einzelnen Verbwurzeln skizziert werden. Außerdem soll das Bedeutungsspektrum dieser Wurzeln genauer untersucht und in Verbindung damit die Funktionsweise der Verben als Grundereignisse erläutert werden. Die sonst übliche Differenzierung der Verbformen nach Zeitstufen ist im Fall von Dan 11 dagegen wenig ergiebig. Hinsichtlich der durch die verschiedenen Verbformen repräsentierten Zeitaspekte dominieren hier die Formen, welche unabgeschlossene Prozesse zum Ausdruck bringen. Aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung von Dan 11 auf die Ereignisse am Ende der Tage (vgl. Dan 10,14a) handelt es sich dabei um w-qatal- und w-yiqtolFormen als Langform oder Kurzform, welche futurisch zu übersetzen sind. Abgeschlossene Prozesse sind hingegen selten und kommen nur im Kontext von Kommentaren und Reflexionen zu den einzelnen Ereignissen vor. Für die Darstellung unabgeschlossener, zukünftiger Ereignisse werden zwar zwei verschiedene Verbformen verwendet, ohne dass damit jedoch semantische Unterschiede verbunden wären.5 W-qatal sowie w-yiqtol-Formen als Kurz- oder Langform stellen offenbar stilistische Varianten dar.6 Wenn daher im Folgenden die Verbformen nach Aspekt und Form geordnet beschrieben werden, so erfolgt dies ausschließlich aus Gründen der Vollständigkeit und der Übersichtlichkeit der Darstellung.
4 In Zusammenhang mit Dan 11,7a bezeichnet HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 216, die Wurzel awb als Allerweltswort, „das für fast jede Art der Bewegung steht“. Vgl. ebd. 221 zu awb und bwv: „Wie schon angemerkt, sind beide Verben offensichtlich Standardwörter des Verfassers, um kurz und auch stereotyp die betreffenden Bewegungen und Aktionen auszudrücken.“ Vgl. auch 227. 5 Der Wechsel von w-qatal und w-yiqtol-Formen am Satzanfang gehört zu den stilistischen Eigenheiten von Dan 11,2 – 12,3. Er begegnet in den Versen 5.7.10.11.17.18.19.28. 30.36.40.45. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, beschreibt dieses Phänomen mehrfach; vgl. 216 zu V. 7; 223 zu V. 10; 224 zu V. 11; 232 zu V. 15. Er kann aber keinen Grund für den Wechsel der Formen finden (vgl. 216) und misst ihm auch keine Bedeutung bei; vgl. 223: „Ein Bedeutungsunterschied ist nicht zu erkennen.“ Vgl. auch 206: „Wir haben also klare Belege für yiqtol-KF – x in der Bedeutung der ‚Zukunft‘ und es ist nicht nötig, darin einen weiteren Punkt für die minderwertige Syntax unserer Einheit zu sehen.“ Eine Übersicht über alle w-yiqtol-Formen in Dan bietet KELLY, Imperfect, 21f., wobei die deutliche Mehrzahl der Belege in Dan 11 – 12 begegnet. 6 Siehe dazu auch die Erläuterungen zur Übersetzung Kapitel I. 1.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Die unterschiedlichen Zeitstufen werden in der folgenden Analyse vermerkt, sie bilden aber keine aussagekräftigen Kategorien, nach denen innerhalb der Verbgruppen differenziert werden könnte. Vielmehr sind die Grundereignisse wie auch die Verben aus den unten beschriebenen semantischen Feldern ohne Unterschied auf der Ebene der Ereignisse und auf der reflektierenden Metaebene des Textes präsent. 2.1 dm[ – stehen Mit insgesamt 21 Vorkommen7 ist die Wurzel dm[ – „stehen“ das in Dan 11 am häufigsten verwendete Verbum. Überwiegend wird die Wurzel im Wortstamm Qal verwendet, nur in V. 11d.13b.14b finden sich Hif’il-Formen. Die in Dan 11 vorliegenden Formen der Wurzel dm[ bringen ausschließlich unabgeschlossene Vorgänge zum Ausdruck. Mit dm[ beschriebene Ereignisse spielen also nur auf der Ebene des zukünftigen Geschehens eine Rolle, nicht aber auf der reflexiven Metaebene. In Hinblick auf die Position, die die konjugierten Formen von dm[ in Dan 11 im Satz innehaben, zeichnet sich eine deutliche Tendenz ab. Die Wurzel begegnet vorwiegend in Satzanfangsposition, so als w-qatal-Form in Dan 11,3a.7a.20a.21a im Qal und in Dan 11,11d.13b im Hif’il. In V. 16c wird ferner eine – hinsichtlich der Zeitstufe äquivalente – w-yiqtol-Form im Qal verwendet. Ebenfalls in Satzanfangsposition kommen in V. 6d.17d. 25c verneinte Qal-Formen nach dem Muster w-lo-yiqtol hinzu. Diesen zehn Formen von dm[ am Satzanfang stehen fünf x-yiqtol-Formen in invertierten Sätzen in Dan 11,8b.14a.15d.31a; 12,1a gegenüber. dm[ besitzt für Dan 11 also nicht nur aufgrund seiner häufigen Verwendung die Funktion eines Leitwortes, sondern wird als Leitwort besonders oft als betonte Handlung am Satzanfang verwendet. Die Unterscheidung zwischen Formen am Satzanfang und Formen in invertierten Sätzen findet in der Verteilung der Subjekte von dm[ eine Entsprechung: Die Formen in invertierter Satzstellung begegnen relativ unspezifisch mit verschiedenen Subjekten. Neben einem der Könige (11,8b) sind dies eine als ~ybr – „viele“ bezeichnete Größe (11,14a), tw[rz bzw. ~y[rz – „Arme“ (11,15d.31a) sowie Michael (12,1a). Demgegenüber weisen die Formen am Satzanfang fast immer den jeweils amtierenden König als Subjekt auf. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die spezifische inhaltliche Zuordnung von dm[ als w-qatal-Form im Qal. Die in Dan 11,3a.7a.20a.21a verwendete Formulierung dm[w – „und es wird aufstehen“ bringt ausschließlich das Auftreten eines neuen Herrschers zum Ausdruck.8 Die Wur7 8
Vgl. Dan 11,2b.3a.4a.6d.7a.8b.11d.13b.14a.b.15d.e.16b.c.17e.20a.21a.25c.31a; 12,1a[2x]. Vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 206.
2. Grundereignisse
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zel begegnet in dieser Form in Dan 11 in keinem anderen inhaltlichen Zusammenhang. Sie gibt damit die Grundstruktur des Textes als Folge nacheinander herrschender Könige vor.9 Demgegenüber bringt die einzige w-yiqtol-Form von dm[ am Satzanfang in V. 16c keinen Regierungsantritt zum Ausdruck, sondern beschreibt einen Vorgang in der Regierungszeit des ab V. 10 herrschenden Königs.10 Der stilistische Unterschied zwischen den semantisch äquivalenten w-qatal und w-yiqtol-Formen wird also offenbar bei der Verwendung von dm[ bewusst eingesetzt.11 Der König ist auch Subjekt der beiden w-qatal Formen im Hif’il in V. 11d.13b. Dabei greift V. 13b nicht nur die Verbform und das Subjekt aus V. 11d auf, sondern den gesamten Satz, wobei sich die Episode in V. 13b (!wvarh-!m br !wmh dym[hw – „und er stellt auf eine Menge größer als die erste“) überbietend auf V. 11d (br !wmh dym[hw – „und er stellt eine große Menge auf“) bezieht. Der König ist also nicht nur derjenige, der durch sein Aufstehen besonders charakterisiert ist. Er strahlt seine bevorzugte Handlungsweise auch auf seine Umgebung ab, indem er andere veranlasst, aufzustehen. Während also der regierende König grundsätzlich Subjekt der positiven Verbformen von dm[ am Satzanfang ist, ergibt sich bei den verneinten Formen ein anderes Bild: So fungieren in V. 17d die „Tochter von Frauen“12 und in V. 25c der König des Südens als Subjekt. Letzterer ist allerdings nicht Protagonist, sondern Gegenspieler des in V. 21 eingeführten Königs. Das Subjekt der verneinten Form in V. 6d ist aus dem Kontext nur schwer zu bestimmen; am ehesten bezieht sich die Form auf den in V. 6b erwähnten König des Südens. Im Unterschied zu den unverneinten Verbformen am Satzanfang werden also verneinte Formen von dm[ sowie Formen in invertierter Satzstellung eher im Zusammenhang mit den Gegenspielern des jeweils amtierenden Königs gebraucht.13 9 Eine Ausnahme bildet V. 5a, wo die Wendung bgn-$lm qyzxhw – „und es erstarkt der König des Südens“ das Auftreten eines neuen Protagonisten markiert. 10 KELLY, Imperfect, 22, der den Unterschied zwischen w-qatal- und w-yiqtol-Formen semantisch nachzubilden versucht, interpretiert V. 16c als allgemeine Zusammenfassung der vorhergehenden Ereignisse. Der Inhalt des Verses kann aber genauso als neuer Handlungsschritt verstanden werden; vgl. z.B. die Übersetzung von COLLINS, Daniel 1993, 365. 11 Für die semantische Äquivalenz von w-qatal und w-yiqtol in Dan 11,2b – 12,3 spricht die Verwendung der w-yiqtol-Form qzxyw für den Regierungsantritt eines neuen Herrschers am Anfang von V. 5a. 12 Möglich ist auch ein unpersönliches Verständnis der Form im Sinn von „es wird nicht bestehen“; vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 240. 13 Die Beobachtungen zu den verneinten Formen von dm[ werden im Kontext des Wortfeldes „Bewegung“ noch näher erläutert.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Auch die Betrachtung der Partizip- und Infinitiv-Formen der Wurzel legt nahe, dass dm[ eine Handlungsweise bezeichnet, die als gelingende Handlung vor allem den Königen zukommt. Dies lässt sich nicht nur an den Bezugspunkten der Partizipien und Infinitive ablesen, sondern auch an der Verwendung der verneinten Formen: Im Gegensatz zu den Königen wird das „Stehen“ anderen Personen dezidiert abgesprochen. Das Partizip aktiv im Qal bieten die Verse 11,2b und 12,1a, hier mit dem Artikel. In Dan 11,16b findet sich ein mit !ya verneintes Partizip aktiv Qal. Infinitiv-constructus-Formen kommen im Qal in 11,4a.15e (ebenfalls verneint mit !ya) sowie im Hif’il in 11,14b vor. Die positiv verwendeten Nominalformen von dm[ beziehen sich dabei wieder auf die Herrscherfiguren. So sind die Könige von Paras Bezugspunkt des Partizips in V. 2b, also diejenigen Könige, die die Reihe der Regenten bzw. ihres Aufstiegs eröffnen. Die Infinitiv-Wendung wdm[k – „bei seinem Stehen/sobald er aufsteht“ in V. 4a bezieht sich auf den im vorhergehenden V. 3 erwähnten vierten persischen König. Am Ende dieser Reihe von Herrschern befindet sich in 12,1a Michael als $m[-ynb l[ dm[h – als „der Stehende über den Söhnen deines Volkes“. Michael wird durch die Verwendung dieser für die Herrschaft der Könige so charakteristischen Wurzel dm[ ebenfalls als Herrscher gekennzeichnet – als der endgültige und wahre Regent von Daniels Volk Israel. Demgegenüber spricht die negierte Infinitiv-Konstruktion dm[l xk !yaw – „und keine Kraft vorhanden, um aufzustehen“ in V. 15e dem wyrxbm ~[ – dem „Volk seiner [des Königs] Auserwählten“ das Stehen ab. V. 15e formuliert hier parallel zu V. 15d wdm[y al bgnh tw[rzw – „und die Arme des Südens werden nicht aufstehen“. Beide Teile des Parallelismus membrorum in V. 15d.e verwenden also die Wurzel dm[ in verneinter Form. Die Größen, die nicht stehen können, fungieren dabei als Gegenüber des in V. 15a–c erfolgreich agierenden Königs. Ihr scheiterndes Stehen ist Bestandteil seines Erfolgs. Auch das verneinte Partizip dmw[ !yaw – „und kein Stehender vorhanden“ in 11,16b unterstreicht dieses konkurrenzlose Stehen des königlichen Protagonisten von V. 10–19.14 Eine Abweichung von diesem Muster bietet V. 14b. Hier bezieht sich der final zu verstehende Infinitiv constructus Hif’il dym[hl – „um aufzurichten“ auf !wzh – „eine Vision“. Die Bedeutung dieser Wendung ist aufgrund der völlig ungebräuchlichen Verwendung von dm[ im Zusammenhang mit !wzh schwer zu bestimmen. In den meisten Fällen wird sie mit „um eine Vision wahr zu machen“ übersetzt.15 Statt einen eindeutigeren 14
Zum Charakter insbesondere von Dan 11,10–13 als „Cluster“ s.u. Kapitel III. 4.2. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 230f., referiert vier Interpretationsrichtungen: „Es wird angenommen, daß es sich dabei erstens um die ‚Prophetie einer bestimmten Gruppe‘ handle, zweitens um ‚Offenbarungen im allgemeinen‘, drittens um eine 15
2. Grundereignisse
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Terminus zu wählen, verwendet die Darstellung hier also das Leitwort dm[ in übertragenem Sinn. Die Umsetzung der Vision wird auf diese Weise in die den Text durchziehende Bewegung gelingender und misslingender Aufstiege eingezeichnet. Alle Formen von dm[ zusammen betrachtet, erweisen sich die Könige als bevorzugtes Subjekt der Wurzel. Dabei treten die Könige entweder explizit als Subjekt in Erscheinung16 oder sind aufgrund des Kontextes als implizites Subjekt von dm[ zu erkennen17. Insbesondere für die konjugierten Formen ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Position im Satz und Subjekt: Die nicht verneinten Verbformen in der exponierten Satzanfangsstellung haben als Subjekt immer den jeweils amtierenden König. Der Text rückt also das „Aufstehen“ des Königs bzw. sein „Aufstehen-Lassen“ anderer als betonte Handlungen deutlich in den Vordergrund. Die Geschichte der Könige erscheint so zunächst als Geschichte der Aufstiege. Die zahlreichen verneinten Formen von dm[ unterstreichen diese Tendenz weiter: dm[ begegnet verneint fast immer in Bezug auf Personen oder Gruppen im Umfeld des amtierenden Königs oder als universale Formulierung: Niemand – außer dem König – vermag zu stehen. Insgesamt fällt auf, dass die Wurzel dm[ im Gefüge des Textes sehr unterschiedliche Vorgänge bezeichnet. So kann dm[ neben dem Auftreten eines neuen Herrschers (z.B. V. 3a) ganz allgemein das Bestehen einer Gruppe (z.B. V. 15d) oder Person (z.B. V. 17d) in der Bedeutung von Erfolg haben oder sogar existieren bedeuten, aber auch die Erhebung im Sinne eines Aufstandes (z.B. V. 14a) oder die Umsetzung einer Vision (V. 14b).18 dm[ besitzt in Dan 11 insofern die Funktion eines Grundereignisses, als die unterschiedlichsten Ereignisse in die Form dieser Bewegung gegossen werden. Von der Verwendung der Wurzel dm[ her betrachtet scheint das vornehmliche Interesse der Darstellung nicht die möglichst präzise und detailreiche Schilderung individueller Ereignisse zu sein. Vielmehr erfolgt hier die Reduktion von unterschiedlichen Vorgängen auf ein Grundereignis, das dann aufgrund seiner häufigen Wiederholung den Text insgesamt prägt und ihm eine einheitliche Linie verleiht.
unbewußte Erfüllung von ‚Weissagungen Daniels‘ und viertens um ‚politische Pläne‘.“ Er plädiert für die letzte Variante und eine Übersetzung von dm[ mit „durchsetzen“ oder „realisieren“. 16 So in Dan 11,2b.3a. 17 So in Dan 11,4a.6d.7a.8b.11d.13b.20a.21a.25c. 18 COLLINS, Daniel 1993, 390, merkt an: „As Charles observes, ‚this verb is a maidof-all-work for our author‘ with the diverse meanings ‚to withstand‘ or ‚oppose‘, ‚to serve‘, or ‚to rise‘. In post-exilic Hebrew, dm[ is often used as a synonym for ~wq in the sense of ‚come on the scene‘ (…).“
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
2.2 awb – kommen Die insgesamt 20-mal19 vorkommende Wurzel awb begegnet vor allem im Qal und nur zweimal im Hif’il (V. 6e.8a). Wie im Fall von dm[ finden in Dan 11 auch von awb nur Formen Verwendung, die sich auf unabgeschlossene Vorgänge beziehen. Dabei überwiegen – ebenfalls wie bei dm[ – die in Satzanfangsposition vorkommenden w-qatal- (V. 9a.10c[2x].21c.29b.30a. 40c.41a.45b) und w-yiqtol-Formen (V. 7b.c.15a). X-yiqtol-Formen finden sich hingegen nur in V. 6b.8a.13c.24a. Untersucht man die Subjekte der konjugierten Formen von awb, so fällt auf, dass auch diese Bewegung in den allermeisten Fällen einem der auftretenden Könige zugeschrieben wird: Der König kommt (Qal) oder er bewirkt das Kommen eines oder einer anderen (Hif’il). Andere Subjekte begegnen lediglich in V. 6b mit bgnh-$lm tb – der „Tochter des Königs des Südens“ und in V. 30a mit ~ytk ~yyc – „Schiffen der Kittim“. Auch die beiden Partizipien – Partizip Hif’il maskulin in V. 6e und Partizip Qal aktiv maskulin mit Artikel in V. 16a – können aus dem Kontext heraus jeweils auf einen der handelnden Könige bezogen werden. Das Gleiche gilt für den in V. 17a vorkommenden Infinitiv constructus Qal. Diese Form begegnet zweimal im Rahmen einer „Figura etymologica“ (V. 10c.13c), wobei ebenfalls der handelnde König Subjekt des konjugierten Verbums ist. Auch hier kann der König in den meisten Fällen allerdings nur aus dem Kontext als Subjekt von awb erschlossen werden. Explizit tritt er nur in Dan 11,15a in Erscheinung. Verglichen mit der Wurzel dm[, die insgesamt eine gewisse Bandbreite möglicher Subjekte aufweist, kommt die Wurzel awb also fast ausschließlich in Zusammenhang mit einem der Könige vor. Die zielgerichtete Bewegung gehört somit fast noch mehr als das „Aufstehen“ (dm[) zu dem für einen König in Dan 11 typischen Handlungsrepertoire. Das Bedeutungsspektrum von awb in Dan 11 erweist sich als eingeschränkter als das von dm[. In allen Fällen intendiert awb eine gerichtete Bewegung. Ziele können dabei Personen oder Orte sein.20 Von diesen Zielen unterscheidet sich allerdings das letzte Ziel, das in Verbindung mit der Wurzel awb und einem König als Subjekt in Dan 11 genannt wird, in zweifacher Hinsicht. In Dan 11,45b fungiert mit der Wendung wcq – „sein Ende“ weder eine Person noch ein Ort, sondern ein Zeitpunkt als Ziel von awb. Während Personen in der Funktion eines Zieles von awb mit der Präpositi19
Dan 11,6b.e.7b.c.8a.9a.10c[2x].13c[2x].15a.16a.17a.21c.24a.29b.30a.40c.41a.45b. In Dan 11,6b.7b.16a stellt die Präposition la den Bezug zwischen awb und dem jeweiligen Ziel her, das in allen drei Fällen eine Person bzw. eine Gruppe von Personen ist. In Dan 11,7c.8a.29b.40c.41a wird das Ziel, bei dem es sich jeweils um einen Ort handelt, mit Hilfe der Präposition b angegeben. 20
2. Grundereignisse
177
on la und Orte mit der Präposition b eingeleitet werden, findet hier die Präposition d[ Verwendung. Das letzte Ziel, auf das der letzte König in der Zeit des Endes (vgl. Dan 11,40a) zugeht, ist also deutlich anders als alle übrigen Ziele, die die Könige in Dan 11 verfolgen. Das Ende des Königs ist dabei gleichzeitig das Ziel aller Bewegungen. Auffällig ist, dass die an und für sich zielgerichtete Bewegung awb in Dan 11 auch ohne Angabe eines Ziels verwendet wird. Statt der Angabe eines Zieles nennen Dan 11,17a.21c.24a die Begleitumstände der jeweiligen Bewegung, wobei jeweils die Präposition b vorgeschaltet wird. Absolut, ohne die Nennung eines Zieles oder von Begleitumständen, begegnet awb in Dan 11,10c.13c.15a.30a. Von diesen vier Formen beschreiben drei das „Kommen“ des Königs. Nur in V. 30a bezieht sich die absolute Form von awb auf die „Schiffe der Kittim“. Eine zusätzliche Betonung als eigenständige Handlung erfährt die Wurzel in V.10c.13c. awb begegnet hier nicht nur ohne Angabe von Zielen oder Begleitumständen, sondern auch – wie bereits erwähnt – in der Intensivform der Figura etymologica.21 Das „Kommen“ des Königs an sich ist der Darstellung also eine Erwähnung wert. Vor diesem Hintergrund vollziehen die „Schiffe der Kittim“ in V. 30a eine Bewegung, die sonst dem König zukommt. Sie übernehmen dessen Handlungsmuster, stellen sich ihm sozusagen in den Weg und verändern damit seine bisherige Bewegungsrichtung: bvw haknw – „und er [der König] verzagt und kehrt um“ (V. 30b.c). Insgesamt erscheint die Wurzel awb in Dan 11 somit als Bewegung, die nicht nur vor allem den Königen vorbehalten bleibt, sondern auch – durch die bevorzugte Verwendung in Satzanfangsstellung – als Handlung an sich von Bedeutung ist. Die Verwendung der Wurzel ohne weitere Ergänzungen unterstreicht diese Tendenz zusätzlich. In Bewegung zu sein erscheint so als ebenso typische wie bedeutsame Eigenart der Könige. 2.3 bwv – umkehren Die direkte Gegenbewegung zu awb drückt in Dan 11 die Wurzel bwv aus22. Bei der Verwendung der Wurzel bwv dominiert ebenfalls der Wortstamm Qal, der insgesamt achtmal vorkommt. Die beiden einzigen Hif’il-Formen finden sich in V. 18d.19a. Auch die syntaktische Einbindung der Wurzel ähnelt der Einbindung von awb. Wiederum begegnen nur Formen, die unabgeschlossene Vorgänge zum Ausdruck bringen, wobei mit w-qatal-Formen in V. 9b.13a.28d.30c.f und w-yiqtol-Kurzformen in V. 10f.19a.28a die Formen in Satzanfangs21
Zur Bedeutung vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 228. Dan 11,9b.10f.13a.18d.19a.28a.d.29a.30c.f. Die umstrittene Form wynp bXyw (Ketib: bvey"w>, Qere in Anlehnung an V. 17a: ~fey"w>) in V. 18a wird hier nicht berücksichtigt. 22
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
position überwiegen. In invertierter Satzstellung begegnet bwv als x-yiqtolForm nur in V. 18d.29a. Die Form in V. 18d wird ferner durch ytlb – „damit nicht“ verneint. Genau wie bei awb ist auch bei bwv in fast allen Fällen der König Subjekt. Die einzige Ausnahme stellt V. 18d dar. Hier fungiert wtprx – „seine Schande“ als Subjekt von byvy, wobei der in V. 18c auftretende Feldherr (!ycq) Bezugspunkt der Pronominalendung ist. Dennoch trifft auch hier zu, was bereits bei der Untersuchung der Wurzeln dm[ und awb zu beobachten war: Nur in einem Fall wird der König explizit als Subjekt von bwv genannt (Dan 11,13a). In allen anderen Fällen muss er als Subjekt aus dem Kontext erschlossen werden. Die Wurzel bwv wird in Dan 11 insgesamt in zwei Bedeutungen verwendet. In den allermeisten Fällen begegnet sie als konkrete, rückwärts gewandte Bewegung im Sinn von „umkehren“ oder „zurückkehren“. In Dan 11,13a liegt allerdings die Bedeutung „wiederholen“ nahe, da im folgenden V. 13b, wie bereits zuvor in V. 11d, vom Aufstellen einer „Menge“ durch den König die Rede ist. In der Bedeutung „zurückkehren“ wird bwv teilweise unter Angabe des Zieles gebraucht. Dieses wird mit Hilfe der Präpositionen la (Dan 11,9b) und l (Dan 11,18d.19a.28d) bezeichnet. Dan 11,29a nennt das Ziel ohne Verwendung einer Präposition. Auffällig sind in diesem Zusammenhang mehrere Sätze, die lediglich aus einer konjugierten Form von bwv ohne weitere Satzglieder bestehen. Solche „Einwortsätze“ finden sich in Dan 11,10f.30c.f, wobei jeweils der König als integriertes Subjekt fungiert. Das „Umkehren“ oder „Zurückkehren“ ist also als Handlung so charakteristisch für den König, dass es für sich stehen kann. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist noch einmal eigens auf die Abfolge V.18d.19a einzugehen. V. 18d erweist sich im Kontext der Vorkommen von bwv als einzigartig, insofern hier mehrere Besonderheiten zusammentreffen: Die Wurzel begegnet hier als eine von nur zwei Hif’ilFormen, als eine von nur zwei x-yiqtol-Formen sowie als einzige Form mit einem anderen Subjekt als dem König. Die beiden Hif’il-Formen in V. 18d.19a stehen überdies in einem engen erzählerischen Zusammenhang. Die Hif’il-Form in V. 19a – mit dem König als Subjekt – stellt eine direkte Reaktion auf den mit der ersten Hif’il-Form in V. 18d beschriebenen Vorgang dar: In V. 18d verhindert der im vorhergehenden V. 18c erwähnte Feldherr (!ycq), dass „seine Schande umkehrt zu ihm“ (wl byvy wtprx ytlb), worauf der König in V. 19a prompt reagiert: wcra yzw[ml wynp bvyw – „er lässt umkehren sein Gesicht zu den Festungen seines Landes“. Das Ziel der Bewegung wird in beiden Fällen mit Hilfe der Präposition l benannt, wodurch die Verbindung zwischen den Sätzen noch enger wird.
2. Grundereignisse
179
Ähnlich wie die ~ytk ~yyc – „die Schiffe der Kittim“ in V. 30a eine für den König typische Handlungsweise (awb) adaptieren und damit das Handeln des Königs unterbrechen, hat auch der in V. 18d mit der „königlichen“ Wurzel bwv beschriebene Vorgang eine unmittelbare und unterbrechende Auswirkung auf das Handeln des Königs. Darüber hinaus korrespondieren die Wurzeln awb und bwv in Dan 11 als gegenläufige Bewegungen, die in den Handlungsketten teilweise sogar unmittelbar aufeinander folgen oder zumindest deutlich aufeinander bezogen sind. Diese Besonderheit soll unten im Kontext des Wortfeldes „Bewegung“ genauer erläutert werden. Die sich anhand der bereits untersuchten Verben abzeichnende Tendenz, das Geschehen insgesamt als Kette von charakteristischen, königlichen Handlungen darzustellen, setzt sich auch bei der Verwendung der Wurzel bwv fort. Auch diese Wurzel intendiert eine zielgerichtete Bewegung – die Könige erscheinen also nicht nur allgemein als besonders aktiv, sondern auch als Gestalten, die ständig, rastlos, in Bewegung sind. 2.4 hf[ – tun Neben den Wurzeln dm[, awb und bwv gehört auch die Wurzel hf[ mit insgesamt 14 Vorkommen23 zu den sich häufig wiederholenden Verbwurzeln in Dan 11. Insgesamt ähnelt das Bild, das sich bei einer genaueren Betrachtung der einzelnen Belege ergibt, dem der übrigen Grundereignisse. Bis auf die Nif’al-Form htf[n in V. 36f begegnet die Wurzel ausschließlich im Qal. Die in Dan 11 verwendeten Formen von hf[ bringen in erster Linie unabgeschlossene Vorgänge zum Ausdruck. W-qatal-, w-yiqtolsowie x-yiqtol-Formen stellen die überwiegende Mehrzahl der Vorkommen. Hinzu kommen in V. 24b.36f zwei x-qatal-Formen, die sich auf abgeschlossene Prozesse beziehen. In Dan 11,24b.36f ändert der Text dementsprechend seinen Charakter: Er verlässt die Ebene der Darstellung zukünftiger Ereignisse und wechselt auf eine kommentierende Metaebene. So legt V. 24b mit der Formulierung wytba twbaw wytba wf[-al rva – „wovon gilt: es haben nicht getan seine Väter und die Väter seiner Väter“ das vergangene Verhalten der Väter als Maßstab an das Verhalten des Königs an. Die Wendung htf[n hcrxn yk – „denn das Beschlossene wird ausgeführt“ in V. 36f spielt eine Hintergrundinformation zum weiteren – dem berichtenden Boten bekannten – Verlauf der Geschichte ein: Diese verläuft nach einem bereits beschlossenen Plan, der ausgeführt werden muss. In der Gruppe der Formen, die unabgeschlossene Vorgänge intendieren, begegnet auch die Wurzel hf[ ganz überwiegend in Satzanfangsposition, wobei insbesondere die w-qatal-Formen (V. 3c.6b.7d.24b.28c.30e.32c.36a. 23
Dan 11,3c.6b.7d.16a.17b.23a.24b[2x].28c.30e.32c.36a.f.39a.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
39a) dominieren. Eine einzige w-yiqtol-Kurzform findet sich in V. 16a, ferner eine x-yiqtol-Form in V. 23a. Bis auf V. 32c, wo ein in V. 32b eingeführtes wyhla y[dy ~[ – ein „Volk, das seinen Gott erkennt“ als Subjekt fungiert, ist bei all diesen Formen der König Subjekt von hf[. In invertierter Satzstellung kommt hf[ als x-yiqtol-Form in V. 17b und V. 23a vor, wobei ebenfalls der in V. 21a eingeführte König als Subjekt fungiert. Dabei setzt sich fort, was schon bei der Untersuchung der drei anderen Grundereignisse zu beobachten war: Nur in einem Fall (Dan 11,36a) wird der König explizit als Handlungsträger genannt. In allen übrigen Fällen muss er als solcher aus dem Kontext erschlossen werden. Als Infinitiv constructus Qal begegnet hf[ in V. 6b. Die Wendung ~yrvym twf[l – „um Frieden zu machen“ drückt eine Absicht aus, deren Ziel bgnh-$lm tb – „die Tochter des Königs des Südens“ ist. Auffällig sind in Zusammenhang mit den w-qatal-Formen der Wurzel hf[ Satzeinheiten, die nur aus einem konjugierten Verbum bestehen. Vergleichbares konnte bereits für die Wurzeln awb und bwv festgestellt werden24. Solche Sätze finden sich in V. 28c.30e mit dem König als Subjekt sowie in V. 32c mit dem „Volk, das seinen Gott erkennt“ als Subjekt. Etwas zu tun, zu handeln, aktiv zu sein, gehört für Dan 11 also nicht nur zu den charakteristischen Eigenschaften der Könige, es wird durch die häufige Verwendung der Wurzel hf[ in Anfangsposition auch noch betont. Die mit hf[ gebildeten Einwortsätze lassen das „Tun“ umso mehr als typische Tätigkeit eines Königs erscheinen. Die Darstellung scheint somit weniger an der konkreten Tätigkeit, sondern vielmehr an der Aktivität der Könige an sich interessiert. Dreimal begegnet hf[ mit der Ergänzung wnwcrk – „nach seinem Willen“ (Dan 11,3c.16a.36a), jeweils bezogen auf den handelnden König.25 Für den König ist es also nicht nur charakteristisch zu handeln, sondern auch, alleiniger Urheber dieser Handlungen zu sein. Auch hier wird wieder die allgemeine Tendenz des Textes zu Wiederholungen deutlich. In Dan 11,7d.e und in Dan 11,32b.c wird hf[ mit qzx – „erstarken“ kombiniert. Während in V. 7 der König Subjekt ist, hat in V. 32 das „Volk, das seinen Gott erkennt“ diese Funktion inne. Dieses Volk übernimmt damit Handlungsweisen, die sonst dem König vorbehalten sind: Es ist nicht nur Subjekt des Einwortsatzes wf[w in V. 32c, sondern kombiniert dieses Handeln auch mit seinem Erstarken und orientiert sich darin am Handeln des Königs in V. 7. Auf diese Weise ergibt sich auch eine Überschneidung
24 25
Siehe oben Kapitel III. 2.2 und III. 2.3. Vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 206.
2. Grundereignisse
181
des Grundereignisses hf[ mit dem Wortfeld „Macht“, die unten ausführlicher erläutert wird. 2.5 Zwischenergebnis Zusammenfassend ergibt sich aus den aufgeführten Beobachtungen folgendes Zwischenergebnis: Die vier Verbwurzeln dm[, awb, bwv und hf[ übertreffen alle übrigen in Dan 11 verwendeten Verben in ihrer Häufigkeit so deutlich, dass sie als eigene Gruppe von Verben abgegrenzt werden können. Sie werden im Folgenden als Grundereignisse der Darstellung bezeichnet. Es sind vor allem diese Grundereignisse, die zu einer Beurteilung von Dan 11,2b – 12,3 als sprachlich minderwertigem Text beitragen. Dies liegt zum einen an ihrer Häufigkeit, die den Text monoton wirken lässt, zum anderen an ihrem wenig spezifischen Inhalt. So bemerkt Hasslberger in seiner Studie zu Dan 11: „Die Verben Bō Þ; ÝMD; ŠūB; ÝŚY; ÍZQ; und ŠÓP drücken im Text keine hintergründige Handlung aus, (…) sondern sind inhaltlich arme Wörter. Sie zeigen, daß die Sprache des Textes verhältnismäßig wenig abwechslungsreich und stereotyp ist.“26
Andernorts bezeichnet er diese Begriffe auch als Allerwelts- oder Standardwörter des Verfassers.27 Was Hasslberger hier als sprachlichen Mangel beschreibt, kann auch positiv als besonderer sprachlicher Charakterzug des Textes bezeichnet werden. Der Text arbeitet mit einer kleinen Gruppe inhaltlich sehr offener Wörter, die intensiv wiederholt werden. So werden z.B. im Falle von dm[ – „stehen“ so unterschiedliche Ereignisse wie der Regierungsantritt eines Königs (V. 3a.4a.7a.20a.21a), das existenzielle „Bestehen“ von Personen (V. 6d.15d.e.16b.17e), das Aufstellen eines Kriegsheeres (V. 11d.13b), das „Sich-Erheben“ im Sinne eines Aufstandes (V. 14a), das Besetzen eines Landes (V. 16c) und das Gelingen eines Planes (V. 25c) in die „Form“ eines einzigen Begriffs „gegossen“. Das Gleiche gilt auch für die drei übrigen Grundereignisse. Die individuellen Ereignisse, die die historische Lesart des Textes so sehr in den Fokus rückt, stehen somit also gerade nicht im Fokus des Textes. Durch die inhaltlich wenig festgelegten Grundereignisse und deren häufige Wiederholung entsteht vielmehr ein holzschnittartiger Gesamteindruck, in dem wenige Linien dominieren. Die Individualität der Einzelereignisse tritt zugunsten dieses Gesamtbildes zurück. Das in der historischen Rekonstruktion komplexe Geschehen wird somit radikal vereinfacht 26 27
HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 150. Vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 216.221.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
und geordnet. Diese Darstellungsform ermöglicht aber, dass im Zusammenspiel mit weiteren Gestaltungselementen Muster in dem dargebotenen Geflecht von Geschehnissen erkennbar werden – die wiederum die Ansätze einer Deutung dieser Geschehnisse in sich tragen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man neben der Häufigkeit und dem Bedeutungsspektrum, das die Grundereignisse im Text abdecken, auch deren syntaktische Einbindung betrachtet. Die Grundereignisse kommen vor allem in Verbalsätzen mit regulärer Wortstellung vor. Sie werden somit überwiegend in der prominenten Satzanfangsstellung verwendet, wodurch sie – trotzdem sie „inhaltlich arm“ sind – eine besondere Betonung erfahren. Im Gefüge des Textes sind sie auf diese Weise deutlich bemerkbar und prägen so die Darstellung nicht nur durch ihre Häufigkeit, sondern auch durch ihre syntaktische Einbindung. Als Verbalsubjekt fungiert bei allen vier Verben meistens der jeweils amtierende König. Die Grundereignisse wirken so als für die Könige besonders typische Handlungsweisen. Zusammen mit der syntaktischen Einbindung der Grundereignisse erscheinen die Könige so nicht nur als die Protagonisten der Darstellung, sondern auch als diejenigen, die die Handlung vorantreiben und die sich durch Aktivität auszeichnen. Allerdings verstärken diese Kombinationen auch den monotonen Charakter der Darstellung noch weiter: Nicht nur erfolgen immer die gleichen Prozesse, sie werden auch noch von den gleichen Protagonisten ausgeführt. Häufig stehen die Grundereignisse ohne weitere Satzglieder. Diese Sätze können aus sich heraus kaum mehr einem konkreten Ereignis zugeordnet, sondern nur noch als typisch für die handelnden Könige erkannt werden. Im Zusammenhang mit den Grundereignissen wiederholen sich auch bestimmte zusammengesetzte Wendungen. Diese Tendenz zu Wiederholungen verstärkt den Charakter des Textes als schematisch-typologische Darstellung. Sie nimmt nicht das Einmalige in den Blick, sondern ist vornehmlich an dem interessiert, was mehrfach vorkommt. Die oben beschriebene inhaltliche Offenheit der Grundereignisse hat jedoch noch einen weiteren Effekt. An einigen Textstellen schlägt die Offenheit um in Unbestimmtheit. So können die in Dan 11,8b („er stellt sich weg vom König des Nordens“), Dan 11,14b („um eine Vision aufzustellen“) und Dan 11,31a („die Arme stellen sich weg von ihm“) verwendeten Formen von dm[ textintern nicht mit einem konkreten Geschehen in Verbindung gebracht werden. Die Lektüre des Textes bleibt hier bei dem abstrakten Sprachbild stehen und führt nicht zur Vorstellung eines bestimmten Ereignisses. Es wird innerhalb des Textes nicht klar, was mit dem Sich- Wegstellen des Königs, dem Aufstellen der Vision oder der „Arme“, also der Truppen, gemeint ist. Im Fall von V. 8b können textexterne Informationen zum Verlauf des 3. Syrischen Krieges Aufschluss über die Be-
2. Grundereignisse
183
zugspunkte des Verses geben.28 Die sprachliche Unklarheit der Formulierung bleibt jedoch bestehen.29 Im Fall von V. 14b und V. 31a kann jedoch auch die historische Rekonstruktion die Bezugspunkte der Verse nicht aufklären. Statt also auf Formulierungen zurückzugreifen, die eindeutig ein bestimmtes Geschehen induzieren, wird an diesen Stellen ein Grundereignis gewählt, das das Textmuster ergänzt, inhaltlich aber nicht zugeordnet werden kann. Das Muster tritt hier klar zugunsten des Einzelereignisses in den Vordergrund. Auf diese Weise erzeugt die Verwendung der Grundereignisse aber nicht nur den Eindruck radikaler Elementarisierung, sondern auch den Eindruck von Unklarheit und Verschleierung. In eine ähnliche Richtung verweist die Tendenz des Textes zu impliziten Subjekten, die nur aus dem Kontext erschlossen werden können. Die Könige treten nicht nur anonymisiert als Könige des Südens bzw. des Nordens auf, sie verschwinden als Person teilweise sogar im Muster der sich immer wieder wiederholenden Ereignisse. Dieser Umstand steht in einer eigenartigen Spannung zur Stellung der Könige als uneingeschränkte Protagonisten des Textes. Dieser Aspekt der Grundereignisse deckt sich mit einem der Kritikpunkte, die oben in Bezug auf die historische Lesart des Textes benannt wurden. Der häufig nur andeutende Charakter des Danieltextes wird häufig umgangen und aufgelöst in die historischen Bezugspunkte. Bei der Analyse der Grundereignisse, auf die man bei einem close reading des Textes stößt, wird deutlich, dass die Unschärfe und Offenheit tatsächlich zu den Gestaltungsprinzipien des Textes gehört. Die oben geäußerte Kritik scheint somit umso berechtigter.
28
So weist PACE, Daniel, 322, zur Erläuterung des Verses auf die Eroberungen Ptolemäus’ III. in Asien hin, die er aus unbekannten Gründen unterbrochen habe, um nach Ägypten zurückzukehren. SEOW, Daniel, 172, erwähnt in diesem Zusammenhang Gerüchte, die Ptolemäus zur Rückkehr gezwungen hätten. 29 Dies bemerkt DELCOR, Livre de Daniel, 224, in Zusammenhang mit V. 8b: „Mais, dans toute la péricope, comment entendre la fin de ce verset?“ Unter den verwendeten Kommentaren ist Delcor der einzige, der auf die Unklarheit des Verses explizit hinweist. Daneben erwägen BENTZEN, Daniel, 79, und MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 431, zumindest verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten des Verses, wodurch die mangelnde Eindeutigkeit unter Beweis gestellt wird. Bentzen erwähnt in diesem Zusammenhang auch die Übersetzung des Hieronymus („Er wird seine Stellung behaupten gegen ihn“), die sich von den modernen Übersetzungen unterscheidet. COLLINS, Daniel 1993, 378, übergeht das Problem in seiner Kommentierung, erwähnt aber in seinen Erläuterungen zum Text die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
3. Das semantische Feld „Bewegung“ 3. Das semantische Feld „Bewegung“
Neben diesen häufig wiederholten Grundereignissen fallen in Dan 11 mehrere Gruppen von Begriffen mit ähnlicher Bedeutung auf. Diese werden im Folgenden als semantische Felder oder Wortfelder bezeichnet. Sie umfassen neben Verben meist auch Nomina. Innerhalb der Felder treten – wie grundsätzlich in Dan 11 – Wiederholungen auf, wenn auch nicht im gleichen Umfang wie im Fall der Grundereignisse. Am Anfang der Beschreibung der semantischen Felder steht der Überblick über die Zusammensetzung des jeweiligen Feldes, die Vorkommen der einzelnen Begriffe sowie ihre Bedeutung. Anhand dieser Beobachtungen können Schlüsse über die genauere inhaltliche Ausrichtung des Wortfeldes, damit verbundene thematische Schwerpunkte und Tendenzen gezogen werden. Daneben werden analog zu den Grundereignissen die Zeitstufen der Verben, die Position im Satz und die Verflechtung der Begriffe der Wortfelder im Satzgefüge analysiert. Im Anschluss an die Grundereignisse ist nun zuerst auf das semantische Feld „Bewegung“ einzugehen, da alle Grundereignisse außer hf[ zugleich diesem Wortfeld angehören. Das semantische Feld „Bewegung“ besteht ausschließlich aus Verben. Diese können in Verben der vertikalen (dm[, afn, hl[, ~wr, lvk, lpn) und Verben der horizontalen Bewegung (awb, bwv, acy) unterteilt werden. 3.1 Vertikale Bewegungen Innerhalb der Gruppe von Verben, die vertikale Bewegungen bezeichnen, lässt sich eine weitere Unterscheidung in vertikalen Bewegungen nach oben und nach unten treffen. Eine Bewegung nach oben intendieren neben der als Grundereignis fungierenden Wurzel dm[ die Wurzeln ~wr Qal (V. 12b) bzw. Hitpolel (V. 36b) – „sich erheben“, afn Nifal – „sich erheben, aufgehoben werden“ (V. 12a.14b) und hl[ Qal – „hinaufgehen“ (V. 23b). Die syntaktische Einbindung der in dieser Gruppe vorkommenden Verbformen ähnelt der Einbindung der Formen von dm[. Die am Satzanfang stehenden Formen, insbesondere w-qatal (V. 12a afn, V. 12b ~wr, V. 23b hl[), aber auch w-yiqtol (V. 36b ~wr), überwiegen. Einzig in V. 14b begegnet eine x-yiqtol-Form von afn. Die im Fall von dm[ festgestellte Tendenz des Textes zu Verbalsätzen setzt sich also bei den anderen Verben der vertikalen Bewegung nach oben fort. Die Aktivität der Protagonisten erfährt so eine besondere Betonung. Im Zusammenspiel der Satzglieder weisen die Verben der Bewegung nach oben eine ganze Reihe unterschiedlicher Subjekte auf. So bezieht sich afn in V. 12a in passiver Bedeutung auf die – außerdem in V. 11d.13b be-
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gegnende – Menge (!wmh): Sie „wird hochgehoben“. V. 14b verwendet afn in aktiver Bedeutung mit der bereits erwähnten Gruppe der $m[ ycyrp ynb als Subjekt: Diese „erhebt“ sich, um eine Vision „aufzustellen“ (dym[hl). Somit begegnen in V. 14b zwei Verben der vertikalen Bewegung auf engstem Raum. Die Wurzel hl[ bezeichnet in V. 23b das Handeln eines Königs, wobei aus dem Kontext nicht ersichtlich wird, ob damit das Hinaufziehen in einem örtlichen Sinn oder der Aufstieg des Königs in metaphorischem Verständnis gemeint ist. Auch die beiden Vorkommen der Wurzel ~wr beziehen sich auf einen König. Während ~wr Hitpolel in V. 36b das überhebliche Verhalten des Königs charakterisiert, bezieht sich ~wr Qal in V. 12b auf das Herz des Königs, das sich erhebt. Die gegenläufige Bewegungsrichtung repräsentieren in Dan 11 die Wurzeln lvk – „straucheln“ (V. 14c.19b.33b.34a.35a.41b, alle Nif’al) und lpn – „fallen“ (V. 12c, Hif’il, V. 19c.26c, beide Qal). Auch in dieser Gruppe überwiegen die Formen in Satzanfangsstellung. lpn kommt überhaupt nur als w-qatal-Form vor, w-qatal-Formen von lvk begegnen in V. 14c.19b. 33b. In invertierter Satzstellung finden sich x-yiqtol-Formen von lvk jeweils in zweiter Satzposition in V. 35a.41b. V. 34a enthält an der ersten Position die Infinitivkonstruktion ~lvkhbw – „während ihres Fallens“. Subjekt von lvk sind in V. 14c – wie bereits von afn im vorausgehenden V. 14b – wiederum die „Söhne des Zerreißens“; in V. 19b ist es ein König, der nicht nur strauchelt, sondern auch fällt (lpn). In V. 33–35 bezieht sich lvk insgesamt dreimal auf eine mit ~ylykfm – „Einsichtige“ und in V. 41b auf eine mit twbr – „viele“ umschriebene Gruppe. Ähnlich begegnet lpn in V. 12c mit twabr – „Tausende“ und in V. 26c mit ~ybr ~yllx – „viele Durchbohrte“ als Subjekt. Somit ergibt sich folgendes Bild: Die Bewegung nach unten wird nur in V. 19b.c einem König zugeschrieben – dort aber gleich doppelt: lpnw lvknw – „und er strauchelt und er fällt“. Die übrigen Subjekte können in zwei Kategorien eingeteilt werden. Bewegungen nach unten ereignen sich zum einen im Zusammenhang mit Gruppen, die aus vielen Mitgliedern bestehen, so in V. 26c (viele Durchbohrte fallen) und V. 41b (viele straucheln). Dazu gehört auch V. 12c, wo der König Tausende zu Fall bringt. Obwohl also hier der König als Subjekt von afn fungiert, ist sowohl der Vorgang als auch die betroffene Gruppe mit den Geschehnissen in V. 26c und V. 41b vergleichbar. Zum anderen begegnen die ~ylykfm – die „Einsichtigen“ als spezifische, vom Straucheln betroffene Gruppe: Auf sie beziehen sich drei der sechs Belege von lvk (V. 33b. 34a.35a). Im Geflecht des Textes stehen die vertikalen Bewegungen teilweise in einem engen inhaltlichen Zusammenhang. Insbesondere können mehrere Kombinationsmöglichkeiten der beiden gegenläufigen Bewegungsrichtungen – nach oben und nach unten – in Dan 11 unterschieden werden: Zu-
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nächst fällt auf, dass die aktive Bewegung nach oben vor allem dem jeweils im Fokus der Darstellung stehenden König zugeschrieben wird, während die mit ihm interagierenden oder von seinen Handlungen betroffenen Charaktere sich entweder nicht nach oben bewegen (Verneinung von dm[) oder sogar explizit nach unten. Dieses Bewegungsmuster tritt insbesondere in Dan 11,10–19 auf. Während der König des Nordens zweimal eine Menge aufstellt (!wmh dym[h; V. 11d.13b) und sich schließlich selbst im „Land der Zierde“ aufstellt (dm[yw; V. 16c), gelingt es weder den Armen des Südens noch sonst jemand, vor ihm zu stehen (V. 15–16). Während sich einerseits das Herz seines königlichen Gegners erhebt (wbbl ~wry30; V. 12b), bringt dieser andererseits Tausende zu Fall (twabr lyphw; V. 12c). Und auch der König, von dem ab V. 21 die Rede ist, steht auf (dm[w; V. 21a) und geht hinauf (hl[w; V. 23b), während sein Gegner nicht steht (dm[y alw; V. 25c) und die Weisen straucheln (wlvknw; V. 33b bzw. wlvky; V. 35a). Doch die beiden Bewegungsrichtungen begegnen auch in Bezug auf ein und dasselbe Subjekt: So „erheben“ (wafny) sich die „Söhne des Zerreißens“ in V. 14b zunächst, um eine Vision „aufzustellen“ (dym[hl), und „straucheln“ (wlvknw) doch in V. 14c. Und der König, der zweimal eine Menge aufstellt (dym[h; V. 11d.13b) und vor dem niemand mehr zu stehen vermag (V. 15d.e.16b), stürzt letztlich sogar in doppelter Hinsicht (V. 19b.c). Beschrieben diese beiden letzten Wurzeln zunächst das Geschick von Gruppen im Umfeld des Königs (V. 12c lpn w-qatal Hifil; V. 14 c lvk w-qatal Nifal), so fallen sie schließlich auf ihn selbst zurück. Die konsequente Verwendung von w-qatal-Formen sowohl in V. 12c.14c als auch in V. 19b.c streicht dieses Muster nur noch stärker heraus. Die beiden Bewegungsrichtungen heben sich auf diese Weise gegenseitig auf. Bereits bei der Diskussion der Wurzel dm[ fiel auf, dass diese in Dan 11,2b – 12,3 über ein ausgesprochen weites Bedeutungsfeld verfügt.31 Ähnliches gilt auch für die gesamte Gruppe der Verben, die eine vertikale Bewegung intendieren. So bezeichnet afn sowohl die Vernichtung (V. 12a) als auch die Erhebung (V. 14b) einer Gruppe. Aber auch Haltungen und Charaktereigenschaften werden mit Verben der Bewegung beschrieben – so die überhebliche Haltung des Königs mit der Wurzel ~wr (V. 12b.36b). Es zeichnet sich also eine Tendenz ab, unterschiedliche Vorgänge mit Hilfe von ähnlichen Bewegungen auszudrücken. Für die Darstellung ist offenbar weniger die möglichst präzise Beschreibung individueller Ereignisse von Bedeutung. Sie ist vielmehr an der Reduktion unterschiedlicher Ereignisse auf bestimmte Grundereignisse interessiert und deren Organisation in bestimmten, sich wiederholenden Mustern. 30 31
Ketib: ~Wry', Qere: ~r'w>. Siehe oben Kapitel III. 2.1.
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3.2 Horizontale Bewegungen Die Gruppe der Verben der horizontalen Bewegung wird in Dan 11,2b – 12,3 in erster Linie durch die beiden Grundereignisse awb und bwv repräsentiert, die ähnlich wie im Fall der vertikalen Bewegungen gegenläufige Richtungen zum Ausdruck bringen. Die Gruppe wird ergänzt durch die Wurzel acy – „ausziehen“ in Dan 11,11b.44b, die ähnlich wie awb eine nach vorne gerichtete, horizontale Bewegung zum Ausdruck bringt. Die beiden x-qatal Formen im Qal weisen als Subjekt wiederum den König auf. Die bei der Verwendung von awb feststellbare Tendenz bestätigt sich also: Die Bewegung nach vorne kommt in erster Linie dem König zu. Festzuhalten ist außerdem die doppelte Verwendung der Wurzel, die der allgemein festzustellenden Tendenz des Textes zu Rekurrenzen entspricht. Ähnlich wie bei den Verben der vertikalen Bewegung fällt auch bei den Verben der horizontalen Bewegung die Kombination gegenläufiger Bewegungsrichtungen im Text auf. Mehrfach begegnet ein König zunächst als Kommender (awb), um dann doch umzukehren (bwv), so in V. 9a.b, V. 10c.f, V. 29b. 30a.c.f. In V. 13a.c liegt das Muster in invertierter Form vor. Hier ist erst von bwv (V. 13a) und dann von awb (V. 13c) die Rede. Ähnlich wie im Fall der vertikalen Bewegung werden also auch im Fall der horizontalen Bewegungen die gegenläufigen Bewegungsrichtungen so miteinander kombiniert, dass sie einander aufheben. 3.3 Zwischenergebnis Zusammen mit weiteren Verben der vertikalen und horizontalen Bewegung konstituieren die Grundereignisse dm[, awb und bwv das semantische Feld „Bewegung“. Die Funktion des Wortfeldes für die Darstellung liegt weniger auf der Ebene des Inhalts, als vielmehr auf der Ebene des Ausdrucks. Bewegungen sind kein Thema, mit dem sich Dan 11 auseinandersetzt. Dennoch prägen sie den Text. Allein die Häufigkeit, mit der die Verben der Bewegung verwendet werden, verleiht der gesamten Darstellung eine ungeheure Dynamik, ja, Rastlosigkeit: Die ganze Welt ist in Bewegung. Dabei lässt sich eine ähnliche Beobachtung wie schon im Zusammenhang mit den Grundereignissen machen: Die Bewegungen sind die Form, in der sich die einzelnen Vorgänge präsentieren. Die Geschehnisse am Ende der Tage werden in Dan 11 als Folge von Bewegungen erzählt, d.h. die Verben der Bewegung werden als Ausdrucksform gewählt, auch wenn spezifischere Begriffe zur Darstellung der Ereignisse zur Verfügung stehen. Somit liegt hier erneut ein Beispiel für die Tendenz des Textes zur Schematisierung vor. Statt einer möglichst differenzierten Pinselführung wird die
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Darstellung reduziert auf wenige, grobe Striche. Dadurch ergibt sich ein neuer und eigener Blick auf das dargestellte Motiv. So kann an der beschriebenen Gestaltungsform eine deutliche Werthaltung des Textes festgemacht werden: Die Ereignisse werden nicht objektiv beschrieben. In der Rastlosigkeit der Darstellung liegt vielmehr bereits eine deutlich negative Qualifizierung. Die Dynamik der Geschehnisse erscheint als zerstörerisch: Die Bewegung der Macht, deren Antriebsfeder das Streben der Könige „nach oben“ ist, zieht viele Unbeteiligte in ihren Sog und bringt sie zu Fall. Die Orientierungslosigkeit, das Auf und Ab, Hin und Her der Bewegungen erscheint auf den ersten Blick als chaotisch und undurchschaubar. Auf den zweiten Blick aber wird ein Muster erkennbar. Letztlich erweisen sich die Bewegungen, insbesondere der Könige, als Nullsummenspiel: Sie heben sich gegenseitig auf.32 In der Art der Darstellung liegt somit bereits ein Ansatz zur Überwindung der als zerstörerisch und bedrohlich beschriebenen Ereignisse: Sie verlaufen nach einem Muster, sind somit durchschaut, und ihr Ende ist absehbar.
4. Das semantische Feld „Macht“ 4. Das semantische Feld „Macht“
In seinen Ausführungen zur Struktur von Dan 11 weist Goldingay darauf hin, dass das Kapitel besonders durch Begriffe geprägt ist, die königliche Autorität und Macht beschreiben, Handlungen und Taten der Könige beinhalten oder militärische Vorgänge wie Siege und Niederlagen thematisieren.33 Goldingay fokussiert bei seiner Beschreibung der Wortfelder somit stark auf die Rolle der Könige als Dreh- und Angelpunkt der gesamten Darstellung. Bereits bei der Beschreibung der Grundereignisse wurde deutlich, dass Könige die privilegierten Subjekte der Handlung von Dan 11 sind. Dieser Eindruck findet Bestätigung in der im Vergleich mit allen anderen Substantiven überdurchschnittlich häufigen Verwendung der Vokabel $lm – „König“. Das Substantiv kommt insgesamt 19-mal im Text vor und ist damit das mit Abstand am häufigsten verwendete Nomen in Dan 11. Nur die beiden Grundereignisse dm[ und awb begegnen häufiger. Der himmlische Bote aus Dan 10 präsentiert die „Geschehnisse am Ende der Tage“ (vgl. Dan 10,14) somit als Geschichte der Könige. Dennoch ist der Fokus auf die Könige als thematische Mitte von Dan 11 m.E. zu eng gewählt. Die königliche Macht ist vielmehr ein Aspekt eines weiter zu fassenden semantischen Feldes, zu dem auch allgemeine Begriffe der Macht gehören. Dieses 32 33
Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 316. Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 288.
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semantische Feld „Macht“, das den gesamten Text durchzieht, kann in mehrere Wortfelder unterteilt werden. Eine erste Gruppe bilden die Begriffe, welche ganz allgemein Macht und Stärke zum Ausdruck bringen, wie beispielsweise die Verbwurzel qzx – „stark sein“.34 Daneben begegnen Vokabeln, die Macht spezifisch als Herrschaftsmacht benennen. Neben dem bereits erwähnten Substantiv $lm – „König“ und dem verwandten twklm – „Königsherrschaft“ sind dies Formen der Wurzel lvm – „herrschen“ und davon abgeleitete Nomina. Einen großen Raum innerhalb des semantischen Feldes „Macht“ nimmt als Instrument der Herrschaftsmacht das thematische Feld des Krieges ein. Neben unterschiedlichen Verben der Kriegsführung werden Mittel der Kriegsführung wie Heer und Kriegsgerät genannt. Auch Begriffe wie Festung oder Burg gehören zur semantischen Untergruppe „Krieg“. Daneben begegnet mehrfach das Stichwort „Reichtum“ im Zusammenhang der Machtentfaltung der handelnden Könige, ebenso Vokabeln aus den Bereichen Diplomatie, aber auch Intrige und Betrug. Als Mittel der Machtentfaltung sind darüber hinaus die beiden politischen Heiraten in V. 6 und V. 17 zu verstehen. Diese können allerdings nicht im Rahmen einer Wortschatz-Analyse erfasst werden, da sie nicht aufgrund ähnlicher Formulierungen, sondern aufgrund ähnlicher Inhalte auffallen. Dennoch sind sie zweifellos Bestandteil der Auseinandersetzung mit dem Thema Macht, wie sie die Darstellung Dan 11,2b – 12,3 beherrscht. Aufgrund der weiten Verzweigung des Wortfeldes, aber auch aufgrund der hohen Redundanz, mit der die einzelnen Vokabeln verwendet werden, ist das semantische Feld „Macht“ in Dan 11 omnipräsent. Die Geschichte der Könige, die zweifellos das leitende Prinzip der Darstellung ist, ist somit Teil einer umfassenderen Reflexion über das Thema Macht, ihre Akteure, Mittel und Mechanismen.
34
GOLDINGAY, Daniel 1989, 288, führt qzx unter den Begriffen auf, die „acts and achievements“ der Könige beschreiben. Es trifft zwar zu, dass qzx in Dan 11,2b – 12,3 in erster Linie in Zusammenhang mit den Königen gebraucht wird, in semantischer Hinsicht handelt es sich dabei aber doch um einen Terminus, der allgemein Kraft und Vermögen ausdrückt. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Rolle von qzx im vorderen Rahmenteil Dan 10,2 – 11,2a berücksichtigt (s.u. Kapitel IV. 2.2). Die übrigen Begriffe, die allgemein Macht beinhalten (@qt, dy, xk), bezeichnet GOLDINGAY, Daniel 1989, 288, als „terms to do with royal authority and power“ und rechnet sie somit einem anderen Wortfeld als qzx zu. Auf diese Weise erfolgt eine Trennung semantisch verwandter Begriffe, wodurch die Einteilung der Wortfelder bei Goldingay an Plausibilität und Übersichtlichkeit verliert. Darüber hinaus sind einige Vokabeln aus dem semantischen Feld Macht bei Goldingay nicht berücksichtigt. Aufgrund des zu eng gewählten Fokus nimmt er also nicht das gesamte Wortfeld in den Blick, was sich auf die Beurteilung seiner Funktion für die Darstellung auswirkt.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
4.1 Macht im Allgemeinen Als Begriffe, die allgemein Macht und Stärke beinhalten, finden in Dan 11 die Verben qzx – „stark/fest sein/werden“ (V. 5a.b.6e.7e.21d.32b), ~c[ – „stark/mächtig sein/werden“ (V. 23c.25b) und zz[ – „stark sein“ (V. 12d)35 sowie die Substantive hqzx – „Stärke“ (V. 2d), dy – „Hand“ und in abstrakter Bedeutung „Macht, Kraft“ (V. 11e.16d.41c.42a), xk – „Kraft“ (V. 6c.15e. 25a) sowie @qt – „Stärke, Gewalt, Energie“ (V. 17a) Verwendung. Ferner wäre in diesem Zusammenhang das Substantiv lyx – „Kraft, Heer“ zu nennen, das allerdings in Dan 11 ausschließlich in der konkreten Bedeutung „Heer“ verwendet wird und daher im Zusammenhang mit dem Stichwort „Krieg“ näher zu behandeln ist. Gleiches gilt für den Terminus [wrz – „Arm, Gewalt“ bzw. „Truppen“, der ebenfalls im Rahmen der Untergruppe „Krieg“ berücksichtigt wird. Unter den Verben dominiert die Wurzel qzx mit der Grundbedeutung „stark/fest sein/werden“ aufgrund ihrer Häufigkeit. Insgesamt sechs Verbformen (V. 5a.b.6e.7e.21d.32b) dieser Wurzel begegnen im Verlauf des Textes. Die Wurzel findet somit zwar erheblich seltener Verwendung als die Grundereignisse, aber doch häufig genug, um den Text deutlich zu prägen. qzx wird sowohl in der Grundbedeutung als Qal- (V. 5a.b) als auch als Hif’il-Form (V. 6e.7e.21d.32b) mit der Bedeutung „sich (einer Sache) bemächtigen“ (so in V. 6e36.21d) bzw. „Kraft entfalten“ (so in V. 7e.32b) gebraucht. Bei fünf Belegen der Wurzel handelt es sich um konjugierte Verbformen (V. 5a.b.7e.21d.32b), während in V. 6e eine Partizipialform von qzx begegnet. Unter den konjugierten Formen steht qzx viermal in Satzanfangsposition, zweimal als w-yiqtol- (V. 5a.b) und zweimal als w-qatal-Form (V. 7e. 21d).37 Die beiden w-yiqtol-Formen in V. 5a.b sind zugleich die beiden Belege im Qal und stehen auch inhaltlich in einem engen Zusammenhang. qzxyw drückt in V. 5a und b jeweils das Erstarken eines neuen Herrschers aus. Dabei handelt es sich in V. 5a um den – hier erstmals genannten – König des Südens (bgnh $lm) und in V. 5b um „eine[n] seiner Fürsten“ (wyrf !m). Während qzxyw in V. 5a am Anfang des Verses steht, ist die gleiche Form in V. 5b in einer casus-pendens-Konstruktion dem Subjekt des mit w beginnenden Teilsatzes, wyrf !m, nachgeordnet.38 Die somit chiastische 35
Die beiden letztgenannten Verben finden bei GOLDINGAY, Daniel 1989, 288, keine Berücksichtigung. 36 GESENIUS, Handwörterbuch, plädiert für die Übersetzung von hqzxm in Dan 11,6e mit „Helfer“. Zu den Übersetzungsmöglichkeiten s.u. Kapitel III. 4.1. 37 Zur Äquivalenz von w-yiqtol- und w-qatal-Formen in Dan 11,2b – 12,3 s.o. Kapitel III.2, S. 173, Anm. 11. 38 Für die Annahme einer Casus-pendens-Konstruktion sprechen sich u.a. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 428, und HASSLBERGER, Hoffnung in der
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Anordnung der beiden Teilsätze V. 5a und V. 5b und die Verwendung der gleichen Verbform für zwei unterschiedliche Subjekte unterstreicht den Inhalt der beiden Teilverse: Der untergeordnete Fürst erstarkt ebenso wie sein König und überflügelt ihn sogar.39 Die Wurzel qzx wird somit in V. 5a und 5b als Parallelbegriff zu dm[ verwendet, das sonst das Auftreten eines neuen Herrschers beschreibt.40 Auf diese Weise rückt qzx in die Nähe der Grundereignisse. In V. 7e und V. 21d findet sich die Wurzel jeweils als w-qatal Hif’ilForm in Satzanfangsposition. In beiden Kontexten schließt die Form von qzx eine Kette von Grundereignissen ab. So beschließt in V. 7e die Wendung qyzxhw als Einwortsatz die Kette V. 7a–d hf[w (…) abyw (…) abyw (…) dm[w; in V. 21 lauten die Schritte vor der abschließenden Handlung (…) qyzxhw in V. 21d (…), dm[w in V. 21a und abw in V. 21c, wobei die Kette der Ereignisse in V. 21b durch eine reflektierende Bemerkung unterbrochen wird. Subjekt von qyxh ist in beiden Fällen der jeweils im Fokus der Darstellung stehende König. Als x-yiqtol-Form begegnet qzx Hif’il hingegen in V. 32b: y[dy ~[w wqzxy wyhla – „und das Volk, das seinen Gott erkennt, wird erstarken“. Waren bei den Formen von qzx in Satzanfangsposition die jeweils herrschenden Könige Subjekt, so ist es nun „das Volk, das seinen Gott erkennt“, also eine Größe, deren Verhalten den Absichten des in V. 21–45 handelnden Königs diametral entgegenläuft: Dieser ist voll Zorn gegen den heiligen Bund (V. 30d), richtet sich nach denen, die den heiligen Bund verlassen (V. 30g) und veranlasst die Entweihung des Heiligtums (V. 31b) sowie die Aufhebung des regelmäßigen Opfers (V. 31c) und die Einrichtung einer „verwüstenden Abscheulichkeit“ (V. 31d). Auch die Götter seiner Väter kennt er nicht (V. 37a.b).41 Als Subjekt von wqzxy steht wyhla y[dy ~[ in V. 32b an der betonten Satzanfangsposition. Die Satzstellung hebt diesen Akteur somit besonders hervor. Mit qzx wird dem Volk, das seinen Gott erkennt, nun zum einen königliches Verhalten zugeschrieben. Die x-yiqtol-Form unterstreicht zum Bedrängnis, 210, aus. GOLDINGAY, Daniel 1989, 288, sieht in der von waw gefolgten Casus-pendens-Konstruktion einen der für Dan 11,2b – 12,3 typischen Aramaismen. COLLINS, Daniel 1993, 363, interpretiert hingegen das waw von qzxyw als Dittographie. Vgl. auch die Übersetzung zur Stelle. 39 So bemerkt HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 211: „Das zweimalige Stehen desselben Motivs deutet darauf hin, daß dies einmal ein wichtiges Element für den Verfasser darstellt und zweitens wohl auch noch das Paradoxe des in 5b Erzählten verstärken und verdeutlichen soll.“ 40 Dafür spricht auch, dass die w-yiqtol-Formen für qzx nur für den Ausdruck eines Herrschaftsantritts gebraucht werden, ähnlich wie im Fall von dm[ die w-qatal-Formen für das Auftreten eines neuen Herrschers reserviert sind. 41 Hier besteht eine Verbindung zum Wortfeld „Verstehen“; s.u. Kapitel III. 6.
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anderen, dass dieses Verhalten den Interessen des Königs entgegengesetzt ist, insofern qzx hier, anders als sonst, in nachgeordneter Satzposition steht. Zusammen mit dem abweichenden Verbsubjekt betont die abweichende Satzstellung also die völlig andere Qualität von qzx in V. 32b. Diese Tendenz setzt sich fort, wenn man die folgende Form wf[w in V. 32c mit einbezieht: War im Fall des Königs in V. 7 qzx die Folge von hf[, so ist es nun genau umgekehrt. Auf diese Weise wird das Volk, das seinen Gott erkennt, als Gegenspieler des Königs skizziert. In V. 6e findet sich als weitere Form von qzx das Partizip Hif’il hqzxm – „der sie stärkte/der sich ihrer bemächtigte“. Die Form seht in einer Reihe mit den Partizipien hyaybm – „die sie kommen ließen“ – und hdlyh – „der sie zeugte“, wobei sich das Pronominalsuffix jeweils auf die in V. 6b eingeführte Tochter des Königs des Südens bezieht. Die drei Partizipien beschreiben die Personen und Gruppen, die gemeinsam mit der Königstochter hingegeben (!tntw), d.h. vernichtet werden. Ob hqzxm mit „der sie stärkte“ oder mit „der sich ihrer bemächtigte“ übersetzt werden muss, ist allein aus dem Text heraus kaum abschließend zu entscheiden.42 Viel wichtiger ist m.E., dass hier einerseits eine unklare Formulierung verwendet wird, andererseits jedoch eine Wurzel zum Einsatz kommt, die auch sonst häufig begegnet. Statt also eine eindeutigere Formulierung zu wählen, steht ein weiteres Mal die Wurzel qzx. Sowohl die Unklarheit als auch die Redundanz gehören zu den charakteristischen Stileigenheiten der Darstellung Dan 11: Die Geschichte wird aufgelöst in schematische Grundereignisse, so dass Einzelheiten nicht zu erkennen sind. Neben sich wiederholenden, holzschnittartigen Vorgängen zeichnet sich der Text immer wieder durch – bewusst? – unklare Schilderungen aus, so dass die Darstellung insgesamt nicht nur schematisch, sondern auch schemenhaft wirkt. Insgesamt fällt der leitwortartige Gebrauch der Wurzel qzx auf. Mit insgesamt sechs Belegen ist qzx nach den Grundereignissen eine der am häufigsten verwendeten Wurzeln in Dan 11. Diese Nähe zu den Grundereignissen zeigt sich auch an der syntaktischen und textlichen Einbindung der einzelnen Formen. Zusammen mit Grundereignissen begegnet qzx in Handlungsketten, in denen aneinandergereihte Verbformen das Verhalten der Könige beschreiben. Zudem wird qzx als Parallelbegriff des Grundereignisses dm[ verwendet, um den Aufstieg von Königen zu beschreiben. Damit trägt qzx gleichzeitig zur inhaltlichen Profilierung des Grundereignisses bei: Die Könige erheben sich, indem sie nach der Macht greifen. Der Verwendung der Grundereignisse ähnelt ebenfalls die Verwendung von qzx 42
Die Formulierung erweist sich vor allem im Zusammenhang mit der historischen Rückfrage als Problem, insofern nicht klar ist, auf welche Person im Umfeld der Prinzessin die partizipiale Umschreibung Bezug nimmt. Siehe oben Kapitel II. 3.2.3.1.
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in V. 6e, wo der erneute Gebrauch einer bereits sehr rekurrenten Wurzel inhaltlicher Klarheit vorgezogen wird. Mit Hilfe der syntaktischen Einbindung von qzx wird außerdem das Bewusstsein der Darstellung für wechselnde Akteure der Macht und deren gegensätzliche Interessen deutlich. Subjekt der überwiegenden Verbformen in Satzanfangsposition sind, wie bereits im Fall der Grundereignisse beobachtet, die Könige. Subjekt der einzigen x-yiqtol-Form von qzx ist hingegen in V. 32b wqzxy wyhla y[dy ~[ – „das Volk, das seinen Gott erkennt“, also ein Akteur, der in vielfacher Hinsicht (s.u.) das Gegenmodell zum König verkörpert. Neben der leitwortartig verwendeten Wurzel qzx finden sich in Dan 11 jedoch noch weitere Verben, die einen Zustand von Stärke benennen. Dies sind zum einen zwei Belege der Wurzel ~c[ – „stark/mächtig sein/werden“ in V. 23c.25b, zum anderen die Wurzel zz[ – „stark sein“43 in V. 12d. Das Thema „Macht“ wird also nicht nur durch die wiederholte Verwendung von qzx, sondern auch durch ein breiteres Spektrum an Begriffen mit ähnlichem Inhalt repräsentiert. Subjekt der Wendung ~c[w am Beginn von V. 23c ist, wie bei den Belegen von qzx in V. 5a.b.7e.21d, der König.44 Ähnlich wie die Formen von qzx in V. 7e.21d ist auch ~c[ in eine Handlungsfolge eingebunden: Die Form bezeichnet hier nach hl[w in V. 23b den zweiten Schritt einer Folge. Auffällig ist, dass auch mit hl[ – „hinaufsteigen“ zwar eine Wurzel aus dem weiteren Bedeutungsfeld der horizontalen Bewegung gewählt ist, jedoch kein Grundereignis wie dm[ oder awb – anders als bei den Ereignisketten in V. 7 und V. 21, in die das wesentlich häufiger verwendete qzx eingebunden war. Als Partizip passiv Qal begegnet die Wurzel ein weiteres Mal in V. 25b – hier in nachgeordneter Satzstellung und als attributive Näherbestimmung des Königs des Südens, also des Gegenspielers des in V. 23 agierenden Königs. Im Unterschied zu den Belegen von qzx und ~c[ findet sich die Wurzel zz[ in V. 12d in einer negativen Formulierung: zw[y al – „und er wird sich nicht als stark erweisen“. Die Formulierung erscheint hier in gewisser Weise als Gegenstück zu qzx. Ähnlich wie in V. 7.21 eine Form von qzx eine Kette von Handlungen – erfolgreich – abschließt, steht auch die Form von zz[ am Ende einer solchen Kette. Allerdings schildert V. 12 eine Abfolge von Ereignissen mit negativem Ergebnis: Das (gegnerische) Heer wird 43 In engem Zusammenhang mit zz[ steht das in Dan 11,2b – 12,3 häufig gebrauchte Substantiv zw[m – „Festung“ (s.u. Kapitel III. 4.3). 44 In historischer Hinsicht sind dabei natürlich verschiedene Könige gemeint. Für die vorliegende Analyse der Textoberfläche spielt jedoch nur die primäre Semantik des Begriffs und seine Häufigkeit im Text eine Rolle.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
hochgehoben, also entmachtet, der König erhebt sein Herz, er bringt Zehntausende zu Fall – und erweist sich letztendlich doch nicht als stark. Der Text spielt also mit den verschiedenen Parallelbegriffen und grenzt ihre Verwendung bewusst voneinander ab. So wird zz[ – „stark sein“ anstelle von qzx für die Formulierung eines negativen Ereignisses gebraucht, während qzx ausschließlich in positiven Kontexten Verwendung findet. Das im Vergleich mit qzx seltenere ~c[ – „stark/mächtig sein/werden“ wird in V. 23b mit dem in Dan 11 ebenfalls selteneren Bewegungsverb hl[ – „hinaufgehen“ kombiniert. Als Ableitung aus der Wurzel qzx begegnet in V. 2d das Substantiv hqzx – „Stärke“. Die Formulierung wtqzxk – „bei seinem Erstarken“ fasst den Aufstieg des letzten Königs von Paras zusammen und leitet über zu dessen Angriff auf den König von Jawan. Die Form steht somit in der Nähe der Verbformen von qzx in Satzanfangsposition, die das Auftreten bzw. typische Handeln eines Königs beschreiben. Neben hqzx finden sich als weitere Substantive aus dem Bereich der Macht viermal die Vokabel dy im Sinn von „Gewalt“, dreimal die Vokabel xk45– „Kraft“ sowie einmal das seltene @qt – „Stärke, Gewalt, Energie“. Das Substantiv dy begegnet dreimal in Präpositionalverbindung, und zwar zweimal jeweils an der letzten Position des Satzes in Verbindung mit der Präposition b (V. 11e.16d) und einmal in Verbindung mit der Präposition !m (V. 41c). In allen drei Fällen handelt es sich dabei um die Gewalt bzw. die Hand des Königs. In V. 42a fungiert wdy als Akkusativobjekt von xlvyw, wobei sich das Pronominalsuffix ebenfalls auf den handelnden König bezieht. Die Bedeutung von dy changiert dabei zwischen dem Konkretum „Hand“ und dem Abstraktum „Gewalt“. Obwohl die Wendungen in V. 11e und V. 16d parallel gestaltet sind, muss doch unterschiedlich übersetzt werden. In V. 11e ist die abstrakte Übersetzung „das Heer wird in seine Gewalt gegeben“ neben der konkreten Übersetzung von dy mit „Hand“ möglich. Gleiches gilt für die Wendung wdym in V. 41c. In V. 16d kann dy hingegen, wie auch in V. 42a, nur konkret mit „Hand“ übersetzt werden.46 Die Formulierung @qtb – „in die/in der Gewalt“ erläutert in V. 17a das mit wynp ~fyw – „und er wendet sein Gesicht“ beschriebene Vorgehen des Königs näher. Unklar ist dabei, ob die @qt vorgeschaltete Präposition b in45
Von den insgesamt 124 Belegen von xk entfallen allein 13 auf das Danielbuch. In Anbetracht der vergleichsmäßigen Kürze des Buches kommt die Vokabel in Daniel somit ungewöhnlich häufig vor; vgl. VAN DER WOUDE, x;Ko, 823. Dabei entfallen sieben der 13 Belege auf Dan 10 – 12. xk begegnet also nicht nur in Dan 11,2b – 12,3, sondern auch im vorderen Rahmenteil und ist somit eine der Verbindungen zwischen Rahmen und Mittelstück der Schlussvision Dan 10 – 12. Zur Leitwortfunktion von xk für die gesamte Perikope s.u. Kapitel IV. 2.2. 46 Ähnliches gilt für den Terminus [wrz (s.u. Kapitel III. 4.3.).
4. Das semantische Feld „Macht“
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strumental oder lokal zu verstehen ist. Im einen Fall will der König in der Gewalt seiner – eigenen – Herrschaft gegen den Gegner vorgehen, im anderen Fall will er in die Gewalt seiner Herrschaft gelangen, also das Herrschaftsgebiet des Gegners in seine Gewalt bringen.47 Beide Varianten sind möglich – ein weiteres Beispiel für die Tendenz des Textes zu offenen, nicht eindeutig festgelegten Formulierungen. Während die beiden Begriffe dy und @qt eher den praktisch-instrumentellen Aspekt von Macht betonen, meint die Vokabel xk – „Kraft“ einen Zustand oder ein Vermögen. xk begegnet im untersuchten Textabschnitt zweimal in negativem Zusammenhang: Sowohl in V. 6c als auch in V. 15e geht es um Personen oder Gruppen, die ihre Kraft verlieren. Durch die zweimalige Verwendung von xk in negativem Kontext erscheint die in V. 15e geschilderte Erfahrung der Kraftlosigkeit als Parallelvorgang zu V. 6c – als Muster, das sich wiederholt. Außerdem fungiert xk in V. 25a als Parallelbegriff zu bbl – „Mut“, wobei beide Begriffe mit Hilfe eines Pronominalsuffixes auf den handelnden König bezogen werden. Nur in diesem positiven Sinn ist xk somit Eigenschaft eines Königs. Der Verlust der Kraft trifft hingegen die Opponenten des Königs.48 Somit ergibt sich auch im Bereich der Substantive eine Aufteilung der verschiedenen Begriffe auf positive und negative Zusammenhänge, die bereits im Bereich der Verben zu beobachten war. Auch im Bereich der Substantive wird die Wurzel qzx ausschließlich für positive Vorgänge verwendet. Um den Verlust von Macht auszudrücken, wird im Bereich der Verben statt qzx die Wurzel zz[ und im Bereich der Substantive statt hqzx die Vokabel xk verwendet. Die Darstellung ist somit durch ein starkes Bewusstsein für positive und negative Prozesse der Macht gekennzeichnet. Diese Aufteilung des Wortfeldes trägt zum schematischen Charakter der Darstellung bei. Die weite Streuung des semantischen Feldes sowohl im Bereich der Verben als auch im Bereich der Substantive lässt die Darstellung insgesamt als breit angelegte Reflexion über die Mechanismen der Macht erscheinen. 4.2 Herrschaftsmacht Als Herrschaftsmacht wird Macht in Dan 11 mit Hilfe der Verbwurzel
lvm – „herrschen“ (V. 3b.4e.5c.39c.43a), den davon abgeleiteten Substanti47
Vgl. die Erläuterungen in der Übersetzung Kapitel I. 1. Hier bestätigt sich die Wahl eines breiteren Fokus als nur die Taten der Könige. Auch die Gegenspieler und Opfer der Könige werden mit Begriffen aus dem Wortfeld Macht beschrieben. Erst die Untersuchung des gesamten Vokabulars der Macht lässt die Aufteilung der Begriffe und damit die unterschiedliche Funktion der Akteure im Spiel der Macht deutlich werden. 48
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
ven hlvmm – „Herrschaft, Macht“ (V. 5d), lvm – „Herrschaft, Macht“ (V. 4d) und lvmm (V. 3b.5d) mit der gleichen Bedeutung sowie den Substantiven $lm – „König“ (V. 2b.3a.5a.6b[2x].7c.8b.9a.11a.c.13a.14a.15a.25a.b.27a.36a. 40a.b) und twklm – „Königsherrschaft“ (V. 2d.4a.f.17a.20a.21b.d) thematisiert. Wie schon eingangs erwähnt, dominiert das Substantiv $lm – „König“ mit insgesamt 19 Vorkommen die gesamte Darstellung. In neun der 19 Fälle fungiert $lm dabei als explizites Subjekt.49 Hinzu kommen fünf Fälle50, in denen zwar eine alternative Bezeichnung oder Umschreibung gewählt wird, aber aus dem Zusammenhang deutlich wird, dass ebenfalls der König Subjekt der Handlung ist. Die Ereignisse am Ende der Tage werden also nicht nur schematisch und nicht nur als Geschichte der Macht, sondern ganz spezifisch unter dem Blickwinkel königlicher Macht entfaltet. Diese These erhärtet sich durch die Beobachtung, dass zusätzlich zu den neun Fällen, in denen ein König als explizites Subjekt in Erscheinung tritt, von den impliziten Verbsubjekten ebenfalls 88 auf einen König entfallen51. Ein König ist somit in Dan 11 insgesamt 102-mal Subjekt der Handlung. Demgegenüber stehen insgesamt 49 Verbformen mit verschiedenen anderen – impliziten oder expliziten – Subjekten. Neben den Fällen, in denen die Vokabel $lm die Funktion des Subjekts innehat, begegnet das Substantiv entweder als Nomen regens innerhalb von Constructus-Verbindungen52 oder im Rahmen von Präpositionalkonstruktionen53. Die Könige sind also nicht nur als handelnde Subjekte präsent, sie bestimmen auch andere Größen innerhalb der Darstellung näher oder stehen mit den Handlungen des jeweils anderen Königs oder anderer Handlungssubjekte in Beziehung. Die Ereignisse am Ende der Tage werden in Dan 11 als Geschichte von Königen erzählt. Der thematische Schwerpunkt, der sich aus der Häufigkeit, mit der das Substantiv $lm verwendet wird, ergibt, ist auch der Ano49
V. 3a.5a.11a.13a.15a.25b.36a.40a.b. Hinzu kommt mit V. 2b ein Nominalsatz, in dem die Könige als Subjekt fungieren. In V. 27a – ebenfalls einem Nominalsatz – können die Könige zwar nicht als Subjekt bezeichnet werden, stehen jedoch frei am Satzanfang und dominieren so ebenfalls den gesamten Satz. 50 V. 2c (y[ybrh).7a (hyvrv rcnm).10a (wynb !m).20a (twklm rdh vgwn ryb[m).21a (hzbn). 51 V. 2d.3b.c.4c.5c.6a.7b.c.d.e.8a.b.9b.10b.c.d.e.f.g.11b.c.d.12b.c.d.13b.c.15b.c.16a.c. 17a.c.18a.b.19a.b.c.d.20b.21c.d.23a.b.c.24a.b.c.d.25a.c.27a.b.28a.c.d.29a.b.30b.c.e.d.f.g.32a. 36a.b.c.d.e.37a.b.c.38a.b.39a.b.c.d.40c.d.e.41a.42a.43a.44b.45a.b. Zu dieser Gruppe werden auch die Fälle gezählt, in denen Verbformen mit implizitem Subjekt Handlungen fortführen, deren explizites Subjekt vorher mit einer der fünf Alternativformulierungen für den handelnden König bezeichnet wurden. 52 V. 6b (bgnh-$lm tb).7c (!wpch $lm zw[m).9a (bgnh $lm twklm). 53 V. 6b (!wpch $lm la).8b (!wpch $lmm).11c (!wpch $lm-~[).14a (bgnh $lm-l[). 25a (bgnh $lm-l[).
4. Das semantische Feld „Macht“
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nymisierung der einzelnen Könige geschuldet. Statt die Könige mit ihren Namen zu nennen oder durch verschiedene Attribute zu unterscheiden, treten sie alle nur unter ihrer Funktionsbezeichnung $lm auf – nur manchmal unterschieden durch ihre geographische Herkunft aus Norden oder Süden. Eng verwandt mit der Vokabel $lm ist das aramaisierende Substantiv twklm – „Königsherrschaft“54, das in V. 2d.4a.f.17a.20a.21b.d begegnet. Dabei zeichnen sich innerhalb dieser sieben Vorkommen mehrere Kategorien ab. twklm ist zunächst Bestandteil von Formulierungen, die Handlungen von Königen schildern. Dies ist der Fall in V. 2d, wo !wy twklm – „das Königreich von Jawan“ Ziel der Aggression des vierten persischen Königs ist. Auch in V. 17a könnte twklm – je nach Übersetzung der Phrase awbl wtwklm @qtb – Ziel oder Begleitumstand der Handlung des Königs sein. V. 21b beschreibt mit twklm qyzxhw – „und er wird sich der Königsherrschaft bemächtigen“ eine Handlung des Königs. Das Königtum ist in Dan 11 also nicht nur insofern Thema, als die privilegierten Akteure der Darstellung Könige sind – das Königtum ist auch Gegenstand von deren Handlungen: Es wird erstrebt und erlangt. Auf der Handlungsebene begegnet twklm außerdem im Kontext der Umschreibung des Subjekts von V. 20a: twklm rdh vgwn ryb[m – „einer, der den Eintreiber der Abgaben der Königsherrschaft durchziehen lässt“. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr die Vorliebe der Darstellung für Redundanzen. Anstatt eine andere mögliche Umschreibung für das Subjekt von V. 20a zu wählen, wird eine Formulierung gebraucht, in der ein weiteres Mal die ohnehin schon mehrfach gebrauchte Vokabel twklm verwendet wird. Aber auch wenn der Erzähler – also der himmlische Bote aus Dan 10 – nicht Handlungen von konkreten Personen schildert, sondern Entwicklungen abstrakt zusammenfasst oder Hintergrundinformationen beisteuert, begegnet der Begriff twklm. Dies ist der Fall in den beiden zusammenfassenden Formulierungen wtwklm rbvt – „seine Königsherrschaft wird zerbrochen werden“ in V. 4a und wtwklm vtnt – „seine Königsherrschaft wird zerstört werden“ in V. 4f. Die beiden Teilsätze rahmen die Schilderung des Abstiegs des in V. 3 eingeführten heldenhaften Königs. Das Pronominalsuffix an wtwklm bezieht sich dabei jeweils auf diesen König. Das Nomen steht jeweils direkt hinter einer x-yiqtol-Form im Nif’al, wodurch die Parallelität der Formulierungen erzeugt wird. Und auch auf der Ebene der Hintergrundinformation spielt das Stichwort twklm eine Rolle: In V. 21b informiert der Erzähler Daniel – und mit ihm den Leser – darüber, dass derjenige, der in V. 21a die Macht ergriffen hat, nicht für die Königswürde vorgesehen war: twklm dwh wyl[ wntn-alw – „und man hatte ihm nicht die Würde der Königsherrschaft gegeben“. An 54
Vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 14.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
dieser Stelle begegnet das einzige Mal in der gesamten Darstellung Dan 11 eine verneinte AK-Form in Satzanfangsposition. Die Information, die offenbar gewichtig genug ist, um den syntaktischen Duktus der übrigen Darstellung zu verlassen, dreht sich um das Thema der Königsherrschaft! Eine Reihe von Verbformen der Wurzel lvm – „herrschen, Macht ausüben“ in V. 3b.4e.5c.39c.43a sowie die davon abgeleiteten Substantive hlvmm – „Herrschaft, Macht“ (V. 5d), das äußerst seltene lvm – „Herrschaft, Macht“55 (V. 4d) und das ebenfalls sehr seltene56 lvmm mit der gleichen Bedeutung (V. 3b.5d) runden das semantische Feld der königlichen Machtausübung ab. Mit Ausnahme von V. 39c, wo lvm im Hif’il gebraucht wird, handelt es sich bei den genannten Belegen um Qal-Formen. V. 4e liefert eine der insgesamt seltenen Hintergrundinformationen, wozu eine x-qatal-Form benötigt wird. An allen übrigen Stellen (V. 3b.5c.39c.43a) steht lvm als wqatal-Form. Hinsichtlich der Verteilung im Text fällt auf, dass das Verbum lvm gehäuft am Beginn der Darstellung begegnet. Die Tätigkeit der dort vorgestellten Könige wird so auf die allgemeinst mögliche Weise beschrieben: sie herrschen. Hier wird einmal mehr die Tendenz der Darstellung zur Schematisierung deutlich. Diese Tendenz verstärkt sich, indem zusätzlich zu den drei Formen der Wurzel lvm in V. 3b.4e.5c auch die davon abgeleiteten Substantive hlvmm, lvm und lvmm ausschließlich in den Versen 3–5 zu finden sind. Macht und Machtausübung der Könige werden so gleich zu Beginn der Darstellung als Thema gesetzt.57 In Anlehnung an einen Begriff aus der Kompositionstechnik bezeichne ich diese thematische Verdichtung als „Cluster“.58 Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass in einem begrenzten Textbereich Begriffe aus einem semantischen Feld gehäuft begegnen. Solche clusterartigen Verdichtungen begegnen auch andernorts in Dan 11 wobei die Häufung semantisch ähnlicher Begriffe oft zusätzlich durch eine 55
Neben Dan 11,4 nur noch in Sach 9,10. Neben Dan 11,3.5 nur noch in der Bedeutung „Oberhäupter“ in 1 Chr 26,6. 57 Davon abweichend betont HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 209, die einleitende Funktion, die V. 3–4 gegenüber dem ab V. 5 einsetzenden Geschehen besitzt. „Daß malk gibbōr ganz allgemein charakterisiert wird, zeigt, daß seine Erwähnung im Text nicht Selbstzweck, sondern wesentlicher die Zerstörung seines Reiches ist, wodurch die notwendige Voraussetzung für das Folgende geschaffen wird. (…) Dementsprechend wird man die Funktion des Abschnittes als das Darstellen des Horizonts und des Ausgangspunktes für das Folgende bestimmen.“ Zu diesem Ergebnis kommt Hasslberger aufgrund der syntaktischen Unterschiede zwischen V. 3–4 und V. 5. Auf der Ebene des Wortschatzes setzen V. 3–5 jedoch das Thema für die gesamte Darstellung. 58 In der Musiktheorie bedeutet der Begriff „Cluster“ das möglichst enge Nebeneinandersetzen möglichst vieler unterschiedlich hoher Töne in einem begrenzten Tonbereich; vgl. MICHELS – VOGEL, DTV-Atlas zur Musik, 72. 56
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besondere syntaktische Gestaltung des entsprechenden Textbereichs verstärkt wird, der dadurch einerseits betont wird, andererseits in sich geschlossen wirkt. Darüber hinaus kommt das Verbum lvm auch gegen Ende der Darstellung zweimal zur Verwendung. Die Hif’il-Form am Anfang von V. 39c bringt zum Ausdruck, dass der König seine Macht an Vertraute delegiert, und steuert so eine weitere Facette der königlichen Machtausübung in Dan 11 bei. Auch im letzten Abschnitt der Geschichte der Könige, dem in V. 40–45 geschilderten Krieg zwischen nördlichem und südlichem König, fällt in V. 43a noch einmal das Stichwort lvm. Hier leitet lvm eine Schilderung ein, die den König auf dem Höhepunkt seiner Macht zeigt – bevor ab V. 44 sein Abstieg und letztliches Scheitern beginnt. Durch die Konzentration der Verbformen von lvm sowie der von derselben Wurzel abgeleiteten Substantive am Anfang und am Ende der in V. 2b–45 dargestellten Geschichte der Könige wird somit die gesamte Geschichte der Könige durch das Stichwort lvm eingerahmt. Die Untersuchung des Wortfeldes „Herrschaftsmacht“ unterstreicht somit eindrucksvoll die Rolle der Könige für Dan 11. Sie stehen im Zentrum der Reflexion über Macht und ihre Mechanismen, wie sie vor allem mit Hilfe der allgemeinen Begriffe der Macht angestoßen wird. Dies wird besonders durch die Häufigkeit, mit der die Vokabel $lm gebraucht wird, und die bevorzugte Verwendung von $lm als Verbalsubjekt deutlich. Eine zusätzliche Betonung erfährt das Thema „Königtum“ durch das dichte lexikalische Feld, das die Verbwurzel lvm sowie mehrere davon abgeleitete Substantive bilden. Dieses wird auch textlich hervorgehoben, insofern diese Begriffe konzentriert in Form eines Clusters begegnen, wodurch bereits am Beginn des Textes ein inhaltlicher Schwerpunkt auf das Thema des Königtums gesetzt wird. 4.3 Krieg als Machtmittel Neben den allgemeinen Termini von Stärke und Machtausübung spielen in Dan 11 aber auch sehr konkrete Mittel der Machtausübung eine wichtige Rolle. Als gut abgrenzbare Gruppe fällt dabei das semantische Feld der Kriegsführung ins Auge. Dazu gehören die Verben hrg (Hitpa’el) – „Krieg anfangen, kämpfend vordringen“ bzw. „leidenschaftlich erregt werden“ (V. 10a.g.25b), rw[ (Hif’il) – „aufregen, aufreizen“ (V. 2d.25a), ~xl (Nif’al) – „kämpfen, streiten“ (V. 11c), dkl – „einnehmen, erobern“ (V. 15c.18b) sowie hgn (Hitpa’el) – „sich (gegenseitig) stoßen, Krieg führen mit jemand“ (V. 40a). Dazu kommen die metaphorisch verwendeten Verben @jv – „überfluten“ (V. 10d.22a.26b.40d), rb[ – „übertreten“ (V. 10e.40e) und r[f (Hitpa’el) – „einherstürmen“ (V. 40b). Als Nomina aus dem Bereich der Kriegsführung begegnen hmxlm – „Krieg“ (V. 20d. 25b), lyx – „Macht, Heer“
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(V. 7b.10b.13c.25a.b.26b), !wmh – „Menge“ (V. 10b.11d.e.12a.13b), [wrz in der Bedeutung „Heeresmacht“ bzw. „Truppen“ (V. 6c.d.15d.22a.31a), bkr – „Streitwagen“ (V. 40b), vrp – „Reiter“ (V. 40b), hyna – „Schiff“ (V. 40b), zw[m – „Bollwerk, Festung“ (V. 7c.10g. 19a.31b.38a.39a) und rcbm – „Befestigung, Festung“ (V. 15c.24d.39a). Die Tätigkeit der Kriegsführung wird in Dan 11 also mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Verben zum Ausdruck gebracht. Am häufigsten begegnet dabei die Wurzel hrg (Hitpa’el) mit der Bedeutung „Krieg anfangen, kämpfend vordringen“ bzw. „leidenschaftlich erregt werden“ mit drei Belegen, gefolgt von der Wurzel rw[ (Hif’il) – „aufregen, aufreizen“ mit zwei Belegen. Je einmal finden ferner die Wurzeln ~xl (Nif’al) – „kämpfen, streiten“ sowie hgn (Hitpa’el) – „sich (gegenseitig) stoßen, Krieg führen mit jemand“ Verwendung. Neben diesen expliziten Verben der Kriegsführung begegnen mit den beiden Wurzeln @jv – „überfluten“ sowie rb[ – „übertreten“ zwei Termini, die die Vorgänge des Krieges auf metaphorische Weise zum Ausdruck bringen. Auch das in V. 40b verwendete r[f (Hitpa’el) – „einherstürmen“ beschreibt das Kriegsgeschehen im Bild eines Wetterphänomens. Die Verben der Kriegsführung kommen in Satzanfangsposition sowohl als w-qatal- als auch als w-yiqtol-Formen vor. Aufgrund der im Vergleich mit anderen in Dan 11 verwendeten Verben geringen Zahl der Belege der einzelnen Verben können im Bereich der Verben der Kriegsführung keine signifikanten Unterschiede in der Verwendung der Formen beobachtet werden. Mehrmals finden sich auch x-yiqtol-Formen, wobei entweder das Verbalsubjekt oder eine Zeitangabe an der ersten Satzposition steht. Diese Inversionen sind aus dem jeweiligen Kontext gut erklärbar. V. 2d folgt mehreren invertierten Sätzen, die alle die Vorbedingungen der in V. 3a beginnenden Abfolge von Königen schildern und somit eher eine Situation als eine Ereignisfolge zum Ausdruck bringen. Indem mit der Wendung wrv[b wtqzxkw – „sobald er in seinem Reichtum erstarkt“ der Begleitumstand für die folgende Aggression des Königs (ry[y) an der ersten Satzposition steht, werden der Aufstieg des Königs und sein kriegerisches Verhalten parallelisiert.59 In V. 40a steht die Zeitangabe #q t[b – „zur Zeit des Endes“ an erster Stelle, weil damit endlich die Zeit anbricht, auf die alle anderen Zeitangaben der Darstellung vorausweisen (s.u.).60 In V. 10a und 22a wird mit wynb – „seine Söhne“ (V. 10a) und @jvh tw[rz – „Arme der Überflutung“ (V. 22a) jeweils ein neuer Akteur an der ersten Satzposition präsentiert. Durch die invertierte Satzstellung in V. 25b mit bgnh $lm – 59 60
Vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 204.381f. Vgl. HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 282.
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„der König des Südens“ an der ersten Position ergibt sich ein Chiasmus mit V. 25a, der den Inhalt der beiden Verse unterstreicht: V. 25b schildert die Reaktion des Königs des Südens auf die in V. 25a beschriebene Aktion des Königs des Nordens. Die Satzstellung in V. 26b nimmt die bereits invertierte Anordnung in V. 26b auf, wodurch die geschilderten Vorgänge (Zerbrechen des Königs des Südens durch seine Tischgenossen und „Einherfluten“ seines Heeres) parallelisiert werden. Betrachtet man das Bedeutungsspektrum der Verben, so fällt auf, dass diejenigen Wendungen bevorzugt werden, welche einen Akzent auf die Aggressivität der Kriege legen. Die neutrale Bezeichnung „Krieg führen“ (~xl) kommt nur einmal vor (V. 11c), das davon abgeleitete Substantiv hmxlm – „Krieg“ zweimal (V. 20d.25b; s.u.). Im Vergleich damit stellen die Wurzeln hrg und rw[ die Emotionalität der kriegführenden Könige in den Vordergrund. Beide Wurzeln beinhalten den Aspekt der emotionalen Erregung als Ziel bzw. Resultat der Interaktion zwischen den Königen: Sie reizen einander und treiben sich so gegenseitig in die Auseinandersetzung. Die metaphorischen Wendungen skizzieren die Kriege hingegen als Urgewalt mit den Zügen einer Naturkatastrophe. Die Wendung @jv, teilweise in Kombination mit rb[, lässt die Akteure des Krieges als zerstörerische Flut, die alles mit sich hinwegrafft, erscheinen. r[f zeichnet das Vorgehen des Königs als rasenden Sturm. Kriege werden in Dan 11 somit nicht als nüchtern kalkulierte Angelegenheit und probates Mittel politischen Handelns dargestellt, sondern als Ausbruch von zwischenmenschlicher Gewalt mit zerstörerischen Konsequenzen. Nachdem bereits demonstriert wurde, dass der König bzw. die Könige das mit Abstand häufigste Subjekt der Darstellung sind, verwundert es kaum, dass auch die Kriegsführung vor allem eine Handlung von Königen ist. Ausnahmen bilden lediglich die beiden Belege von @jv in V. 22a.26b. In V. 26b „flutet“ dabei mit wlyx – „sein Heer“ eine Größe, die sich möglicherweise gegen den König wendet.61 In V. 22a hingegen werden die „Arme der Überschwemmung“ (@jvh tw[rz) vom König weggespült (wynplm) und im nächsten Handlungsschritt in V. 22b zerbrochen (wrbvyw). Dabei hebt die invertierte Satzstellung die Subjekte sogar noch hervor. Unter den nominalen Formen begegnet zunächst das von der Wurzel ~xl abgeleitete Substantiv hmxlm – „Krieg“ in V. 20d.25b. Ferner finden sich diverse Mittel der Kriegsführung. So begegnet die Vokabel lyx mit der Bedeutung „Macht, Heer“ insgesamt fünfmal in V. 7b.10b.13c.25a.b.26b. Als Alternativbegriff zu lyx verwendet die Darstellung ebenfalls fünfmal das Substantiv !wmh – „Menge“ in V. 10b.11d.e.12a.13b. Hinzu kommt mit wiederum fünf Belegen in V. 6c.d.15d.22a.31a der Ausdruck [wrz mit der 61
Dafür spricht zumindest die Parallelisierung zwischen V. 26a und V. 26b.
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Grundbedeutung „Arm“62, wobei die Verwendung in Dan 11,2b – 12,3 die Bedeutung „Heeresmacht“ bzw. „Truppen“ nahelegt63. Außerdem benennt V. 40b mit bkr – „Streitwagen“, vrp – „Reiter“ und hyna – „Schiff“ drei konkrete Bestandteile der Kriegsausrüstung des Königs. Neben diesen beweglichen Kriegsmitteln begegnen als „Immobilien des Krieges“ die beiden Begriffe zw[m – „Bollwerk, Festung“ (V. 7c.10g.19a.31b.38a.39a) und rcbm – „Befestigung, Festung“ (V. 15c.24d.39a)64. Zwischen den beiden Begriffen lyx und !wmh besteht eine enge Verbindung. Dies wird vor allem in V. 10–13 deutlich. Hier findet sich zu Beginn des Abschnitts in V. 10b die Formulierung ~ybr ~ylyx !wmh wpsaw – „und sie sammeln eine Menge großer Heere“. Erst am Ende des Abschnitts begegnet abermals das Stichwort lwdg lyxb – „mit großem Heer“. Zwischen diesen beiden Stellen wird aber insgesamt noch viermal der Begriff !wmh verwendet, d.h. sämtliche Belege von !wmh fallen in den Bereich von Dan 11,10–13. Die Kombination von !wmh mit lyx in V. 10b legt nahe, dass „Menge“ dabei als Parallelbegriff von „Heer“ fungiert. Durch die erneute Verwendung von lyx in V. 13c ergibt sich zusammen mit ~ylyx !wmh in V. 10b ein Rahmen, der dem Abschnitt Geschlossenheit verleiht (zur syntaktischen Gestaltung des Abschnitts als Cluster s.u.). !wmh meint dabei aber nicht nur „Menge“ als zahlenmäßig große Gruppe. Der Begriff ist vor allem mit den Geräuschen einer Menge – also Lärm, Wogen, Tosen assoziiert. Ähnlich wie in der Gruppe der Verben wird durch die Verschränkung von lyx und !wmh die Wirkung des Krieges betont: Sein Wogen und Tosen entspricht der erschreckenden und zerstörerischen Wirkung von Chaosmächten. Die beiden Begriffe [wrz und lyx sind in ihrem Bedeutungsspektrum eng mit den bereits erwähnten allgemeinen Begriffen der Macht verwandt. Die konkreten Bedeutungen „Heer“ für lyx und „Truppen“ für [wrz stehen unter den möglichen Bedeutungen jeweils nicht an erster Stelle. Stattdessen meint lyx allgemein die Kraft oder das Vermögen eines Menschen. [wrz steht metaphorisch für die meist militärische Macht eines Königs – aber eben nicht konkret als Heeresmacht, sondern als militärisches Vermögen und Bedrohungspotenzial. Die konkrete Übersetzung mit „Truppen“ wird explizit nur für die Belege in Dan 11 vorgeschlagen. Als metaphorisch be62
[wrz begegnet in V. 15d.22a in der Pluralform tw[rz und in V. 31a in der Pluralform ~y[rz. Die unterschiedlichen Pluralbildungen haben auf die Semantik des Wortes jedoch keinen Einfluss; vgl. VAN DER WOUDE, [:Arz>, 523. 63 Vgl. VAN DER WOUDE, [:Arz>, 523: „Wie in Ez 17,9 zerōaÝ gedōlÁ ‚starker Arm‘ einem ‚zahlreichen Volk‘ entspricht und akk. emūqē ‚Streitkräfte‘ auch mit idā(n) alternieren kann, bezeichnet zerōÝōt in Dan 11,15.22 (…) eine Heeresmacht (…).“ 64 Auch rcbm wird in unterschiedlichen Pluralformen, nämlich twrcbm (V. 15c) und ~yrcbm (V. 24d; davon abgeleitet der Status constructus in V. 39a), verwendet.
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nutzter Begriff weist [wrz außerdem Ähnlichkeiten mit der Vokabel dy auf, die ebenfalls zur Gruppe der allgemeinen Termini der Macht gehört (s.o.). Beide Begriffe verfügen über eine konkret-körperliche Grundbedeutung ([wrz – „Arm“ bzw. dy – „Hand“), werden in Dan 11 jedoch in übertragenem Sinn verwendet. Auf diese Weise werden die Kriegsschilderungen in Dan 11 eng an das Wortfeld von Macht und Stärke im Allgemeinen angebunden. Die Gewinnung und Ausübung von Macht ist das übergeordnete Thema der Darstellung, was unter anderem durch die breite Streuung des Wortfeldes zum Ausdruck kommt. Die Darstellung der Kriege steht in Dan 11,2 – 12,3 im Rahmen einer allgemeinen Reflexion über Macht und Stärke. Krieg ist demnach eine Spielart der Macht, kein neues Thema. In Zusammenhang mit der Vokabel [wrz wird außerdem ein weiteres Mal die eigenartige Schemenhaftigkeit der Darstellung deutlich. Der Versuch, [wrz die klar zu umgrenzende und konkrete Vorstellung „Truppen“ zuzuordnen, stößt nämlich in V. 6 an Grenzen. Die Formulierungen in V. 6c („und sie wird nicht behalten die Kraft des Armes“) und V. 6d („und er wird hingegeben und sein Arm“) sind in sich betrachtet ausgesprochen unklar. Der Text bietet keinen direkten Bezugspunkt an, sondern lässt lediglich an eine Größe im Umfeld der Königstochter aus V. 6b denken, die normalerweise über Kraft verfügt. Hier ist zu berücksichtigen, dass [wrz in Dan 11 nicht nur für sich genommen häufige Verwendung findet, sondern auch als Bestandteil des Wortfeldes „Macht“ die Darstellung prägt.65 Statt also eine Formulierung zu wählen, die eine eindeutige Vorstellung im Sinne eines konkreten geschichtlichen Ereignisses generiert, findet hier eine Formulierung Verwendung, die zwar unklar ist, mit der die gesamte Episode V. 6 aber unter das Leitthema der gesamten Darstellung – die Frage der Macht und ihrer Ausübung – gestellt wird. Die Eindeutigkeit der Schilderung tritt hier zugunsten der Reduzierung auf sich wiederholende Muster zurück. Hinsichtlich der Verwendung von hmxlm – „Krieg“ ergibt sich ein ähnliches Bild wie bereits bei der verwandten Verbwurzel ~xl: Obwohl das Thema Krieg die gesamte Darstellung wie ein roter Faden durchzieht, begegnet der Oberbegriff im Vergleich mit den genannten Mitteln der Kriegsführung nur selten. Krieg wird in Dan 11,2b – 12,3 nicht einfach benannt, sondern vielmehr in einzelne Kriegsszenen aufgelöst. Diese sind jedoch – dem Duktus der Gesamtdarstellung entsprechend – nicht individuell, sondern sehr schematisch gezeichnet. So begegnen mehrfach die Wendungen 65
Dies wird von den Übersetzungen übersehen, die statt der masoretischen Punktierung [:roz> – „Arm, Truppen“ von der Punktierung [r;ze, also „Samen“ ausgehen und dies im Sinn eines Nachkommens interpretieren. Siehe oben Kapitel I. 1.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
„ein Heer“ bzw. „eine Menge aufstellen“ bzw. sammeln (V. 10b.11d.13b) sowie die Wendung „er kommt zum Heer“ (V. 7b). Auch die Wendungen in V. 25a (lwdg lyxb […] wxk r[yw) – „und er reizt seine Kraft auf […] mit großem Heer“) und V. 25b (lwdg lyxb […] hrgty […] – „[…] er fängt Krieg an […] mit großem Heer) umschreiben die kriegerischen Handlungen mit Begriffen aus dem Instrumentarium des Krieges bzw. allgemeinen Begriffen der Macht. Statt also das Stichwort „Krieg“ zu verwenden, ist vom Heer als konkretem Instrument des Krieges die Rede, allerdings im Rahmen von sehr allgemeinen Formulierungen. Ähnlich stereotyp begegnen die beiden Begriffe zw[m – „Bollwerk, Festung“ und rcbm – „Befestigung, Festung“ als Ziel von Kriegshandlungen der Könige. Diese werden teils mit Verben der Kriegsführung (V. 10g hrg), teils mit Verben der Bewegung (V. 7c awb; V. 19a ~ynp bwv) oder Grundereignissen (V. 39a hf[) beschrieben. In V. 24d begegnet rcbm als Ziel von feindlichen Plänen (bvx). Darüber hinaus findet sich an zwei Stellen das Verbum dkl – „einnehmen, erobern“: So ist in V. 15c von der Einnahme einer befestigten Stadt, in V. 18b von der Einnahme vieler Inseln die Rede. Individueller wirkt demgegenüber V. 15b, der das Aufschütten eines Walles im Rahmen einer Belagerung beschreibt. Diese Schilderung der Kriege in einzelnen Szenen bewirkt, dass das Thema in der Darstellung viel Raum einnimmt und entsprechend präsent ist. Ähnlich wie im Fall der Könige aber, die nicht als Individuen, sondern nur in ihrer Funktion auftreten, erfolgt auch die Schilderung der Kriegshandlungen mit schematischen, einander ähnelnden Wendungen, die im seltensten Fall auf ein individuelles Geschehen schließen lassen. Die Darstellung scheint weniger an der erkennbaren Wiedergabe historischer Ereignisse interessiert, sondern an den wiederkehrenden Abläufen des Krieges als Ausdruck königlicher Macht. Betrachtet man die Belege des Wortfeldes „Krieg“ im Text, so fällt auf, dass das Thema nicht gleichmäßig über den gesamten Textverlauf verteilt ist, sondern sich in bestimmten Bereichen zu Clustern verdichtet. Die Mittel des Krieges kommen im Text erstmals in V. 7 vor. V. 10–19 sind insgesamt von Kriegsereignissen durchzogen, wobei das Thema in dem Cluster V. 10–13 durch die Rahmung mit lyx und die vierfache Wiederholung von !wmh sprachlich besonders dicht zum Ausdruck kommt (s.o.). So erscheinen in diesem Abschnitt lediglich im ersten und im letzten Vers andere Elemente als das jeweilige Verb des Satzes in der ersten Satzposition. Dies ist in V. 10a das an dieser Stelle neu in die Handlung eingeführte Subjekt wynbw – „und seine Söhne“ und in V. 13c die Zeitangabe ~ynv ~yt[h #qlw – „und am Ende von Jahren“. Zwischen diesen syntaktisch ähnlich gestalteten Rahmenversen erstreckt sich von V. 10b bis V. 13b eine Kette von teilweise extrem kurzen Verbalsätzen. Innerhalb dieser einheitlich gestalteten Passa-
4. Das semantische Feld „Macht“
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gen fallen neben der gehäuften Verwendung von lyx und !wmh auch mehrere Kombinationen gegenläufiger Bewegungen auf, so in V. 10c.f (awb – bwv), in V. 12a.b.c (afn, ~wr – lpn) und in V. 13a.c (bwv – awb). Dadurch erscheint der Abschnitt noch geschlossener. Eine weitere auffällige sprachliche Verdichtung liegt in V. 25 vor. So wiederholt sich die V. 25a abschließende Formulierung lwdg lyxb im nachfolgenden V. 25b. Auch der in V. 25a als Objekt von r[yw genannte $lm bgnh begegnet erneut in V. 25b, hier allerdings als Subjekt und zu Beginn des Satzes. Auf diese Weise entsteht eine chiastische Struktur zwischen V. 25a und V. 25b, die beide Sätze eng zusammenbindet. Mit den Begriffen xk, hmxlm und ~c[ begegnet innerhalb der beiden Teilverse weiteres Vokabular der Macht – alles auf engstem Raum. Auch die Figura etymologica twbvxm (…) wbvxy – „sie ersinnen Pläne“ in V. 25d verwendet Begriffe aus dem Instrumentarium der Macht (s.u.). V. 25 ist eingebunden in eine längere, lexikalisch und syntaktisch dichte Passage, die sich bis V. 27 erstreckt. Der Cluster V. 25–27 wird begrenzt durch zwei Zeitangaben, nämlich zum einen die Formulierung t[-d[ – „bis zu einer Zeit“ am Schluss von V. 24d und zum anderen die Erläuterung d[wml #q dw[-yk – „denn die Dauer des Endes ist bis zur Frist“ in V. 27d. Zwischen diesen beiden Zeitangaben begegnen fast nur invertierte Sätze mit nominalen Gruppen in der Anfangsposition (V. 25b.26a.b.27a.b), wodurch sich die Verse vom umgebenden Text abheben. Zwei Stichwortaufnahmen tragen zu einer weiteren Verfestigung des Textgefüges innerhalb dieser Verse bei. Das Substantiv bbl – „Herz“ begegnet sowohl in V. 25a also auch in V. 27a. Das durch die Wiederholung der Formulierung lwdg lyxb in V. 25a.b ohnehin betonte Stichwort lyx wird in V. 26b ein weiteres Mal aufgegriffen. Die in V. 27 geschilderte Szene der zwei Könige, die an einem Tisch sitzen und Lüge reden, enthält wie bereits V. 25d Formulierungen aus dem Bereich der Intrige und Diplomatie (s.u.). Abgrenzung, lexikalische und syntaktische Gestaltung lassen V. 25–27 somit als weiteren Cluster erscheinen, der das Thema von Krieg und Macht in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.66 Das Wortfeld „Krieg“ zeichnet sich also einerseits durch eine sehr breite Streuung auf der Wortschatzebene aus. Das Thema „Krieg“ erhält auf diese Weise im Text eine hohe Präsenz – Krieg ist in Dan 11 sowohl allgegenwärtig als auch überwältigend. Im Bereich der Verben werden vor allem Begriffe gewählt, die die Aggressivität des Krieges in den Vordergrund rü66 Kriege begegnen auch außerhalb der Cluster. So spielt V. 29 auf einen weiteren Krieg an. Hier werden zwar keine Kriegsereignisse geschildert, aber die Formulierung hnrxakw hnvark hyht-alw – „und es wird nicht sein wie das erste und wie das andere“ (V. 29c) verweist deutlich auf die Kriegsschilderungen in V. 25 zurück. Die Darstellung des letzten Kriegszugs ab V. 40 erscheint im Vergleich mit den beiden Clustern V. 10–13 und V. 25–27 weniger dicht, so dass sich auch nicht die Bezeichnung Cluster anbietet.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
cken. Die verwendeten Substantive schildern eine Reihe von Kriegsinstrumenten wie „Heer“ oder „Wagen“, aber auch Immobilien des Krieges wie „Festung“. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer vielgestaltigen und übermächtigen Kriegsmacht. Die metaphorisch verwendeten Verben und Substantive beschreiben den Krieg mit Hilfe von Naturphänomenen oder Körperbegriffen. Zum einen wird Krieg so als aggressiv und zerstörerisch qualifiziert, zum anderen macht allein die metaphorische Rede deutlich, dass es hier auch um eine Reflexion über die Tiefendimensionen von Macht geht. Die Verbindung zum Wortfeld der allgemeinen Begriffe der Macht lässt den Krieg schließlich auch als eine Spielart von Macht erscheinen. Das Thema „Krieg“ ist aber nicht nur auf der Wortschatzebene breit gestreut, sondern prägt den Text auch durch die Verdichtung in Clustern und durch deren mehrfache Wiederholung im Verlauf des Textes. Die Auflösung der Kriege in zahlreiche, trotz des anschaulich-konkreten Vokabulars stereotype Einzelereignisse trägt zur hohen Präsenz des Themas im Text bei. Das dabei erfolgende Zusammenspiel von Begriffen aus dem Wortfeld „Krieg“ mit Grundereignissen und Verben der Bewegung trägt das Thema in die schematische Grundstruktur des Textes ein. 4.4 Weitere Mittel der Machtausübung Krieg ist in Dan 11,2b – 12,3 zwar ein häufiges Mittel der Machtausübung, jedoch bei weitem nicht das einzige. Der Text enthält eine Reihe von Motiven, die das politische Agieren der Protagonisten beschreiben und die im Folgenden, zu einer weiteren semantischen Gruppe zusammengefasst, überblicksartig dargestellt werden. Am auffälligsten ist das semantische Feld des Betrugs mit den Begriffen twqlqlx – „Ränke, Listen“ (V. 21d.34b) und dem verwandten qlx – „Verblendung, Verführung“ (V. 32a), hmrm – „Verrat, Betrug“ (V. 23a), bvx – „rechnen, erdenken“ (V. 24d.25d) und davon abgeleitet tbvxm – „Vorhaben, Plan“ (V. 24d.25d) sowie bzk – „Lüge“ (V. 27b). Auffälligerweise begegnen diese Begriffe ausschließlich im Zusammenhang mit dem letzten, ab V. 21 auftretenden König, wobei eine besondere Konzentration in den Versen 21–25 erkennbar ist. Auch Reichtum ist sowohl Zeichen von Macht als auch Mittel der Machtausübung. So erscheint in V. 2d rv[ – „Reichtum“ als Begleitumstand des Erstarkens des letzten persischen Königs. In V. 13c wird vwkr br – „großer Besitz“ parallel zu ldg lyx – „ein großes Heer“ als Zeichen der Stärke des agierenden Königs genannt. In V. 24c fungiert vwkr neben hzb – „Beute, Ausplünderung“ und llv – „Beute“ als Belohnung für die Anhänger des Königs, während in V. 28a ldg vwkr Resultat der Kriegszüge des Königs ist.
4. Das semantische Feld „Macht“
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Politische Bündnisse werden in Dan 11,2b – 12,3 mit der Wurzel rbx im Hitpa’el – „sich verbinden“ zum Ausdruck gebracht. Die Wurzel wird zum einen in V. 6a, zum anderen als nominal zu verstehender Infinitiv („Verbindung“) in V. 23a verwendet. In V. 6 schließt sich an den einleitenden Satz wrbxty ~ynv #qlw – „und am Ende von Jahren werden sie sich verbinden“ die Schilderung einer politischen Hochzeit zwischen der Tochter des Königs des Südens und dem König des Nordens an. Dieses Ereignis wiederholt sich in V. 17d–f, insofern auch hier eine Tochter verheiratet wird und dadurch – wie ihre Vorgängerin in V. 6e – ihren Untergang findet. Die beiden Ereignisse werden semantisch unterschiedlich umschrieben, so dass sie nicht im Rahmen eines Wortfeldes erfasst werden können. Dennoch fällt die Wiederholung des Motivs auf. Als Rekurrenz auf der Ereignisebene entspricht diese zweimalige Schilderung einer politischen Hochzeit der bereits mehrfach nachgewiesenen Tendenz des Textes zu Wiederholungen. 4.5 Zwischenergebnis Aus den vielen Beobachtungen zum semantischen Feld „Macht“ kristallisieren sich einige Hauptlinien heraus. Das Thema ist zunächst durch ein breit gestreutes Wortfeld in Dan 11,2b – 12,3 verankert. An die Stelle der wörtlichen Wiederholungen, wie sie im Fall der Grundereignisse zu beobachten waren, tritt hier also eine inhaltliche Rekurrenz: Nicht die einzelnen Wörter kehren wieder, sondern das eine Thema „Macht“ begegnet in vielfachen Varianten. Anders als die Grundereignisse und das Wortfeld „Bewegung“ fungiert das Wortfeld „Macht“ aber nicht in erster Linie auf der Ebene der Textgestaltung, sondern bestimmt den inhaltlichen Schwerpunkt der gesamten Darstellung: Die Geschichte wird unter dem Fokus der Macht und als Reflexion über die Mechanismen der Macht erzählt. Innerhalb dieser inhaltlichen Wiederholungen fallen einzelne lexikalische Rekurrenzen wie die leitwortartige Verwendung der Wurzel qzx – „stark sein/werden“ oder die häufige Wiederholung der Vokabel $lm – „König“ besonders auf. Sie setzen inhaltliche Schwerpunkte. Möglich sind diese Rekurrenzen auch aufgrund der Tendenz der Darstellung zur Anonymisierung: Statt Könige namentlich voneinander zu unterscheiden, tritt im Text immer nur „der König“ auf, unabhängig vom jeweiligen historischen Bezugspunkt. Diese Anonymisierung ist die Voraussetzung für die hohe lexikalische Präsenz der „Könige“, damit aber auch für die klare inhaltliche Schwerpunktsetzung der Darstellung. Mit der starken Betonung des Königtums innerhalb des Themenfeldes der Macht wird dabei ein Thema aufgegriffen, das nicht nur im zweiten Teil des Danielbuches, sondern im gesamten Danielbuch und darüber hinaus im gesamten Kanon der biblischen Schriften hohe Relevanz besitzt.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Inhaltliche Schwerpunkte ergeben sich auch durch die Verwendung semantisch-syntaktischer Cluster: In bestimmten Bereichen des Textes treten Begriffe der Macht besonders gedrängt auf. Häufig sind diese Bereiche auch syntaktisch besonders gestaltet, was die Verdichtung noch verstärkt. Auf diese Weise konzentrieren sich Themen wie Herrschaft oder Krieg im Verlauf des Textes. Die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser wird so auf diese Themenschwerpunkte gelenkt. Die Tendenz des Textes zur Schematisierung, die sich bereits auf der Ebene der Textgestaltung durch Grundereignisse und die Auflösung von konkreten Ereignissen in Bewegungen abzeichnete, wirkt sich auch im semantischen Feld „Macht“ aus. Der Text hebt opponierende Akteure und gegenläufige Prozesse der Macht durch bewusste lexikalische Auswahl oder syntaktische Gestaltung hervor und lenkt die Aufmerksamkeit so auf die Kräfte und Gegenkräfte der Macht. Diese gestalterische Schematisierung findet auf der inhaltlichen Ebene eine Fortsetzung: Im Vordergrund steht nicht das Individuelle, sondern das Typologische, nicht das identifizierbare Einzelereignis, sondern die grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Macht. Dem entspricht auch die Tendenz der Darstellung, einzelne Ereignisse, wie z.B. politische Heiraten oder Kriegszüge, zu wiederholen. Die insgesamt negative Gesamtdynamik, die bereits im Zusammenhang mit den einander aufhebenden Bewegungen betont wurde,67 setzt sich in der wertenden Darstellung der Macht als aggressiver, zerstörerischer Größe fort. Neben diesem Bestreben zu einer insgesamt stark schematischen Darstellungsweise kann aber auch die Tendenz zu offenen, bis hin zu schemenhaften Formulierungen weiter nachgewiesen werden. Die Darstellung verfolgt also offenbar zwei Strategien: die Organisation – und damit auch Deutung – der Ereignisse in schematisch wirkenden Strukturen bei gleichzeitiger Verschleierung und Verdunkelung.
5. Das semantische Feld „Zerstörung“ 5. Das semantische Feld „Zerstörung“
Auch Vokabeln aus dem Bereich „Zerstörung“ begegnen in Dan 11,2b – 12,3 häufiger und können zu einem Wortfeld zusammengefasst werden. Das Verb rbv – „zerbrechen“ (V. 4a.20b.22b.26a) prägt dieses Wortfeld als die am häufigsten verwendete Vokabel. Die Wurzel wird mit jeweils unter67
Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 316: „Events unfold as a pointless sequence of invasions, battles, schemes and frustrations. (…) Neither power nor politics take people anywhere. (…) History is going nowhere.“
5. Das semantische Feld „Zerstörung“
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schiedlichen Subjekten kombiniert, wobei mit drei Nif’al-Formen die passive Bedeutung im Sinn von „zerbrochen werden“ dominiert. So ist in V. 4a davon die Rede, dass das Königreich des heldenhaften Königs aus V. 3 zerbrochen wird (rbvt). In V. 20b ist es der in V. 20a auftretende Herrscher selbst (rbvy), während in V. 22b die in V. 22a auftretenden „Arme der Überschwemmung“ zerbrochen werden (wrbvy). Als aktive Form (Qal) wird die Wurzel in V. 26a verwendet (whwrbvy). Als Ausführende werden „die seine Tafelkost essen“ genannt, während der König des Südens Bezugspunkt des enklitischen Personalpronomens ist. Das semantische Feld wird ergänzt zum einen durch die weiteren Verben vtn Nif’al – „vertrieben/zerstört werden“ (V. 4f), txv Hif’il – „vernichten“ (V. 17c), dmv Hif’il – „zerstören, vernichten“ (V. 44b) und ~rx Hif’il – „vernichten“ (V. 44b), zum anderen durch das Nomen hlk –„Vernichtung“ (V. 16d). In der Gruppe der Verben fungiert vtn in V. 4f als Parallelbegriff zu rbv in V. 4a. Wie rbv bezieht sich auch vtn auf das Königreich des Heldenkönigs aus V. 3. Die Infinitivkonstruktion htyxvhl – „um sie zu verderben“ nimmt in V. 17c den Untergang der zu Beginn des Satzes erwähnten Tochter der Frauen (~yvnh tb) vorweg. Die beiden Wurzeln dmv und ~rx geben schließlich als parallele Infinitivkonstruktionen in V. 44b die Absicht des Königs an, der voller Zorn auszieht, ~yrxhlw dymvhl ~ybr – „um viele zu zerstören und zu vernichten“. Das Nomen hlk bündelt im Rahmen des Nominalsatzes V. 16d wdyb hlkw – „und Vernichtung [liegt] in seiner Hand“ global das ab V. 11 geschilderte kriegerische Handeln des agierenden Königs. Diese Häufung von Vokabeln der Zerstörung korrespondiert einerseits mit dem bereits beschriebenen zerstörerischen Aspekt von Macht, der die Darstellung Dan 11,2b – 12,3 besonders prägt. So wurde bereits bei der Beschreibung der Kriegsterminologie im Wortfeld „Macht“ auf die Tendenz des Textes hingewiesen, die Kriegsprozesse im Bild von zerstörerischen Naturphänomenen zu skizzieren. Eine ähnlich konkrete Vorstellung invoziert insbesondere die Wurzel rbv – „zerbrechen“. Auf diese Weise entsteht vor den Augen der Leser die Vorstellung einer zersplitternden, zerberstenden Welt. In Kombination mit den einherflutenden, alles überschwemmenden Heeren ergibt sich so das Bild einer umfassenden Zerstörung.68 Gerade die beiden in V. 44b verwendeten Wurzeln dmv und ~rx
68 So auch MEADOWCROFT, History and Eschatology, 249: „[…T]he verses [40–45] (…) recall the general tenor of ‚fury‘ and ‚destruction‘ and arrogance which has thus far marked the work of the king of the North, and indeed of the king of the South when he has the upperhand (vv. 21–24, 36). The sense of alarm and revenge and destructive ambition in those verses are captured in the reference to ‚fury‘ and ‚complete destruction‘ in v. 44.“
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
sind darüber hinaus auch mit dem Aspekt der kultischen Vernichtung verbunden.69 Insgesamt verleiht das Wortfeld „Zerstörung“ der Darstellung darüber hinaus eine Dynamik des Scheiterns. Am Ende vieler Prozesse steht kein Erfolg, sondern der Untergang der Protagonisten. Eine ähnliche Beobachtung ergab sich bereits im Zusammenhang mit den Grundereignissen und den Verben der Bewegung, in die viele Vorgänge im hier untersuchten Text aufgelöst werden: Im Zusammenspiel der Bewegungen heben sich diese entweder auf oder enden „unten“: Auf den anfänglichen Aufstieg der Könige folgt ihr Fall.
6. Das semantische Feld „Verstehen“ 6. Das semantische Feld „Verstehen“
Ein weiteres Wortfeld wird von Begriffen aus dem Bereich „Verstehen“ konstituiert. Zu nennen sind hier die beiden Verben !yb – „verstehen, merken, bemerken“ (V. 30g.33a.37a.b) und [dy – „erkennen, wissen“ (V. 32b. 38b) sowie das nominal verwendete Partizip Hif’il lykfm – „Einsichtiger, Weiser“ (11,33a.35a; 12,3a), abgeleitet von der Wurzel lkf – „Einsicht haben, verständnisvoll sein“. Die drei Wurzeln !yb, [dy und lkf werden im biblischen Hebräisch häufig als Parallelbegriffe verwendet, wobei insbesondere !yb und [dy im Danielbuch verhältnismäßig häufig vorkommen.70 Alle drei Wurzeln sind ferner Bestandteil weisheitlicher Terminologie.71 Im untersuchten Textabschnitt begegnet die Wurzel !yb sowohl im Qal als auch im Hif’il. Sie liegt in V. 30g.37a.b im Qal mit der Bedeutung „verstehen, merken“, in V. 33a jedoch im Hif’il mit der Bedeutung „verstehen lassen, zur Einsicht führen“ vor. Mit dem Verbstamm variieren auch die Subjekte, mit denen die Wurzel kombiniert wird. Subjekt der Belege im Qal ist der König. Dieser wendet in V. 30g seine Aufmerksamkeit den ybz[ vdq tyrb – denen, „die den heiligen Bund verlassen“ zu (!byw). In V. 37a.b 69
So bezeichnet dmv Hif’il in Lev 26,30; Num 33,52 die Zerstörung von Opferhöhen und in Jos 7,12 das dem Bann Geweihte; vgl. GESENIUS, Handwörterbuch, 841. Die Bedeutung von ~rx Hif’il beschreibt GESENIUS, Handwörterbuch, 259, folgendermaßen: „der Vernichtung weihen, weil das Betreffende G[e]g[en]st.[and] des göttlichen Zornes ist, bes.[onders] v.[on] d.[em] Verfahren d.[er] Israeliten m.[it] feindlichen, eroberten Städten“. Vgl. aber BREKELMANS, ~rx, 638, der das Verb in Dan 11,44 als „profanen Ausdruck für ‚(völlig) vernichten‘“ versteht. 70 So begegnen allein 26 der 250 biblischen Belege von !yb im Danielbuch; vgl. SCHMID, !yb, 306. Belege von [dy finden sich v.a. im aramäischen Teil des Danielbuches; vgl. SCHOTTROFF, [dy, 685. Auf die Verbindungen, die sich über das Wortfeld „Erkennen“ zwischen Dan 11 und dem übrigen Danielbuch, insbesondere aber den beiden Rahmenkapiteln der Schlussperikope, Dan 10 und 12, ergeben, wird noch einzugehen sein. 71 Vgl. SCHMID, !yb, 306; SCHOTTROFF, [dy, 699f.
6. Das semantische Feld „Verstehen“
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begegnet er als Subjekt einer zweifachen negativen Aussage: al !yby – „er versteht nicht“. Als Subjekt der Wurzel im Hif’il führen hingegen in V. 33a die Einsichtigen (~ylykfm) viele zur Einsicht, wobei das Motiv der Erkenntnis durch die Kombination von !yb mit lykfm als einer weiteren Vokabel aus dem Wortfeld „Verstehen“ in diesem Vers besonders hervorgehoben wird. Den beiden Stämmen sind somit zwei verschiedene Subjekte zugeordnet – König und Weise –, die im Text sogar als Gegner dargestellt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Wurzel [dy. Als partizipialer Bestandteil der Konstruktion wyhla y[dy ~[ – „das Volk, das seinen Gott erkennt“ bezeichnet [dy in V. 32b die positive Erkenntnis Gottes, die das richtige Verhalten einschließt.72 In V. 38b bezieht sich die Formulierung wh[dy al – „sie kannten ihn nicht“ auf die Väter des Königs. Dieser verehrt einen Gott, den seine Väter nicht kannten.73 Die als ~ylykfm bezeichneten Personen begegnen in 11,33a.35a sowie in 12,3a. Im bereits besprochenen V. 33a fungiert diese Gruppe als Subjekt des Satzes, während V. 35a mit der Präposition !m auf einen Teil dieser Gruppe rekurriert. In 12,3a begegnen die ~ylykfm mit dem Artikel ebenfalls als Subjekt des folgenden Satzes. In allen drei Fällen nehmen die ~ylykfm die betonte Satzanfangsposition ein. Hinsichtlich der inhaltlichen Einbindung insbesondere der verwendeten Verben kann hier von einer Polarität des Erkennens gesprochen werden: Auf der Seite der negativen Verwendung steht der ab V. 21 regierende König. Dieser richtet seine Aufmerksamkeit falsch aus, nämlich auf diejenigen, welche den heiligen Bund verlassen (V. 30g), statt ihren Gott zu erkennen (vgl. V. 32b). Auch die Verehrung eines Gottes, den seine Väter nicht kannten, zeigt die fehlgeleitete Erkenntnis dieses Königs. Doch er versteht nicht nur falsch, er versteht sogar, was die Verehrung der Götter betrifft, gar nicht (V. 37a.b). Der letzte König erscheint in Dan 11 somit als Verkörperung von Ignoranz. Auf der Seite der positiven Verwendung stehen das Volk, das dadurch charakterisiert wird, dass es seinen Gott erkennt (V. 32b), und die Einsichtigen (11,35a; 12,3a), die außerdem noch viele andere zur Erkenntnis führen (V. 33a). Insgesamt fällt auf, dass mit Ausnahme von ~ylykfm in V. 12,3a sämtliche Belege aus dem Wortfeld „Verstehen“ gegen Ende der Darstellung in den Versen 30–38 auftreten. Sie liegen somit in der Regierungszeit des letzten Königs, jedoch vor Beginn der als Zeit des Endes qualifizierten Peri72
Vgl. SCHOTTROFF, [dy, 690.695. Mit diesem Gott ist aber gerade nicht der Gott Israels gemeint, wie SCHOTTROFF, [dy, 695, nahelegt, wenn er Dan 11,38 als Beleg für die Bedeutung von negativ gebrauchtem [dy als „Beziehungslosigkeit von Nichtisraeliten zu Jahwe“ anführt. 73
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
ode V. 40–45. Eine besondere, clusterartige Verdichtung liegt in V. 32–35 vor. Dieser Bereich des Textes, in dem vier der neun Belege des Wortfeldes „Verstehen“ vorkommen, zeichnet sich außerdem durch eine auffällige syntaktische Gestaltung aus, insofern hier ungewöhnlich häufig eine Nominalgruppe – Subjekt oder Objekt – in der ersten Satzposition zu finden ist (V. 32a.b.33a.35a). Auch der vorhergehende V. 31 beginnt mit einer solchen Satzstellung, weist aber auf der Ebene des Wortschatzes keine Verbindungen zu V. 32–35 auf. Hinzu kommen in V. 32–35 zwei Klammern: zum einen durch die parallele Verwendung von ~ylykfm am Satzanfang zwischen V. 33a und V. 35a, zum anderen durch die Wendungen twqlxb und twqlqlxb – „Ränke“ jeweils am Ende von V. 32a und V. 34b. Durch die auffällige Wiederholung dieses Begriffs aus dem Bereich der Machtmittel verschränken sich hier die beiden Themenfelder „Macht“ und „Verstehen“.
7. Das semantische Feld „Religion“ 7. Das semantische Feld „Religion“
Einen weiteren inhaltlichen Akzent setzen in Dan 11 verschiedene Termini, die am ehesten unter der Überschrift „Religion“ zusammengefasst werden können. Das semantische Feld „Religion“ besteht zum einen aus Begriffen, die die Ausübung der jüdischen Religion, insbesondere den Jerusalemer Tempelkult, beinhalten oder zur theologischen Terminologie der Bibel gehören. Dabei handelt es sich um die Begriffe tyrb – „Bund“ (11,22c.28b. 30d.g.32a), vdq – „Heiligkeit“ (11,28b.30d.g.45a), das damit verwandte vdqm – „Heiligtum“ (11,31b)74, die Begriffe dymt – „das Regelmäßige“ (11,31c)75 und ~mwvm #wqv – „verwüstende Abscheulichkeit“ (11,31d)76 sowie die Wendung ybc – „Zierde“ (11,16c.41a.45a)77. Zum anderen begegnen in Dan 11 verschiedene Lexeme mit der Bedeutung Gottheit oder Gott, nämlich ~yhla (V. 8a.32b.37a), der davon abgeleiteten Singular78 hwla (V. 37b.38a.b.39a) und la (V. 36c.d[2x]). Diese beschreiben sehr allgemein das Ziel jeder religiösen Praxis und sind nicht auf eine konkrete Religionsgemeinschaft oder Kultpraxis beschränkt. Inhaltlich, wenn auch nicht lexikalisch, gehört auch die Wendung ~yvn tdmx – „Liebling der Frauen“
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Vgl. Dan 9,17. Gemeint ist das regelmäßige Opfer am Jerusalemer Tempel. dymt wird in dieser Bedeutung noch verwendet in Dan 8,11.12.13; 12,11. 76 Vgl. Dan 9,27; 12,11. 77 Vgl. Dan 8,9. 78 SCHMIDT, ~yhiloa/, 153. 75
7. Das semantische Feld „Religion“
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in V. 37b in die Gruppe der Götter, da es sich hier um eine Beschreibung des Gottes Adonis/Tammuz handelt.79 Zwischen den Begriffen ~yhla, hwla und la bestehen kaum semantische Unterschiede. Die Differenzierungen zwischen den einzelnen Belegen entstehen in Dan 11,2b – 12,3 entweder durch die Zuordnung der jeweils erwähnten Götter zu den sie verehrenden Gruppen oder durch die Einbindung der Gottesbezeichnungen in Constructus-Verbindungen bzw. durch ihre Kombination mit Adjektiven. So werden die in V. 8a erwähnten Götter mit Hilfe eines Pronominalsuffixes als die Götter – bzw. Götterbilder – des nördlichen Königreiches identifiziert, während der Gott in V. 32a an das ihn erkennende Volk rückgebunden wird. In V. 36d begegnet die Constructus-Verbindung ~yla la – „Gott der Götter“, V. 37a spricht mit Bezug auf den handelnden König vom wytba yhla, den „Göttern seiner Väter“, und V. 38a erwähnt den ~yz[m hwla, den „Gott der Festungen“. Außerdem ist in V. 39a von einem rkn hwla, einem „fremden Gott“ die Rede. Die Bedeutung des Begriffsfeldes „Gott/Götter“ für die gesamte Darstellung lässt sich an der syntaktischen Einbindung der einzelnen Belege ablesen. Auffällig ist dabei zunächst die exponierte Stellung von ~hyhla in der Anfangsposition von V. 8a. Aber auch in V. 36–39 nehmen Wendungen, welche die Begriffe ~yhla, hwla und la enthalten, häufig die erste Position im Satz ein. Dies ist der Fall in V. 36d.37a.b.38a.b. Insgesamt konzentriert sich das semantische Feld „Religion“ in der zweiten Hälfte des Textes, genauer in der ab V. 21 beginnenden Regierungszeit des letzten Königs des Nordens. Ausnahmen stellen lediglich ~yhla in V. 8a sowie ybc in V. 16c dar. Innerhalb des Wortfeldes lassen sich mehrere Gruppierungen erkennen. Zunächst stehen die beiden Begriffe tyrb und vdq in enger Verbindung. So begegnet in V. 28–30 dreimal die Formulierung vdq tyrb – „heiliger Bund“ oder „Bund der Heiligkeit/des Heiligtums“. Die Wendung gibt am Ende des Nominalsatzes V. 28b, eingeleitet mit der Präposition l[, das Ziel an, auf das der König sein „Herz“ ausrichtet. Ebenfalls mit l[ eingeleitet, gibt vdq tyrb am Ende von V. 30d das Ziel an, gegen das sich der Zorn desselben Königs richtet. Auch in V. 30g steht vdq tyrb am Ende des Verses, nun aber im Rahmen der Constructus-Verbindung vdq tyrb ybz[ – „die den heiligen Bund verlassen“. Der gesamte Ausdruck wird wieder mit l[ eingeleitet und beschreibt, worauf sich das Erkenntnisbestreben des Königs ausrichtet: „Er wird auf solche achten, die einen heiligen Bund verlassen.“ Durch die konsequente Positionierung der Wendung vdq tyrb am 79 Der Vorschlag, den „Liebling der Frauen“ mit dem Vegetationsgott Tammuz bzw. Adonis zu identifizieren, stammt von EWALD, Daniel. BUNGE, Gott der Festungen, 177– 182, plädiert stattdessen für eine Identifikation mit Dionysos; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 387.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Ende des Verses und die durchgehende Einleitung mit l[ wird die Aufmerksamkeit der Leser auf diese Formel gelenkt. Beide Teile der Wendung begegnen einzeln oder in anderen Kombinationen an weiteren Stellen des Textes. Der Begriff tyrb findet zwei weitere Male Verwendung, nämlich jeweils als Nomen rectum einer ConstructusVerbindung in V. 22c (tyrb dygn – „ein Fürst des Bundes“) und in V. 32a (tyrb y[vrm – „Frevler des Bundes“). Gerade die letzte Formulierung erinnert an die Wendung vdq tyrb ybz[ in V. 30g, und zwar sowohl auf inhaltlicher als auch auf grammatikalischer Ebene: In beiden Wendungen ist das Nomen regens der Constructus-Verbindung ein Partizip. Der Bund erscheint in Dan 11,2b – 12,3 somit als doppelt bedrohte Größe: Er steht einerseits im Fokus des bereits als aggressiv und zerstörerisch bekannten Handelns des Königs (V. 28b.30d), wird andererseits aber verlassen (V. 30g) und verletzt (V. 32a). Die dafür verantwortliche Gruppe wird dabei nur durch ihr Handeln qualifiziert. Der zweite Teil des Ausdrucks, vdq, begegnet in V. 45a in der Formulierung vdq-ybc-rhl – „(zwischen Meeren und) dem Berg der heiligen Zierde“ wieder. Auf diese Weise entsteht eine Verbindung zwischen vdq tyrb und der mehrfach gebrauchten Wendung ybch #ra – „Land der Zierde“ (V. 16c. 41a). Dieser Ausdruck fungiert an beiden Stellen als Ortsangabe für das Handeln des jeweiligen Königs, eingeleitet mit der Präposition b. Während also vdq tyrb das Ziel des königlichen Handelns darstellt, umschreibt #ra ybch dessen Bühne. Die Tendenz der Darstellung zu unklaren, offenen Formulierungen wurde bereits mehrfach festgestellt. Auch die hier erläuterten Wendungen sind ein Beleg dafür. Die Wendung vdq tyrb begegnet in der hebräischen Bibel nur in Dan 11.80 Während die wörtliche Übersetzung mit „Bund der Heiligkeit“, also heiliger Bund, eindeutig erscheint, ist die genaue Bedeutung des Ausdrucks doch unklar. So nennt van der Kooij allein vier Möglichkeiten der Wiedergabe. vdq tyrb wird demnach als Glaubensgemeinschaft, die sich treu an das Gesetz hält, als Religion Israels in Bekenntnis und Kultus, als mosaisches Gesetz oder als Bund der Priesterschaft in Anlehnung an Num 25,12–13; 1 Makk 2,54 und Sir 45,24 (hebräischer Text) verstanden.81 Ein weiterer Vorschlag findet sich bei Goldingay, der vdq tyrb
80 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 301: „The ‚holy covenant‘ is a new phrase …“. Eine mögliche griechische Variante des Begriffs findet sich aber mit diaqh,kh a,`gia in 1 Makk 1,15.63; vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 451. Diese Übersetzung verwendet die Theodotion-Version der griechischen Bibel für vdq tyrb, während LXX mit diaqh,kh tou/ a`gi,ou übersetzt; vgl. VAN DER KOOIJ, Concept of Covenant, 499. 81 Vgl. VAN DER KOOIJ, Concept of Covenant, 497f.
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auf das Volk des Bundes bezieht.82 Eine Entscheidung, welcher der Vorschläge zutreffend ist, kann auf der Ebene des Textes nicht getroffen werden, so dass die Formulierung notwendigerweise andeutend bleibt. Auch die Constructus-Verbindung ybch #ra – „Land der Zierde“ begegnet so nur in Dan 11. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine Umschreibung, die sich bei weiter Interpretation auf das Land der Verheißung, bei enger Interpretation aber auch auf die direkte Umgebung des Jerusalemer Tempels beziehen könnte. Das Nomen rectum ybc könnte dementsprechend eine Qualifikation des Landes als Zierde bedeuten, aber auch als Umschreibung für den Tempel aufgefasst werden. Für diese letzte Variante spricht die Verwendung von ybc in der Formulierung vdq-ybc-rh – „Berg der heiligen Zierde“ in V. 45a, insofern das Stichwort rh – „Berg“ zusammen mit vdq – „heilig“ vor dem biblischen Hintergrund als deutliche Anspielung auf den Jerusalemer Tempel zu verstehen ist. Im Unterschied zu den beiden Begriffen tyrb und vdq, die an verschiedenen Stellen des Textes begegnen, treten die übrigen Begriffe des Wortfeldes „Religion“ jeweils in sehr engen Textbereichen und in Clustern gebündelt auf. Als weitere Gruppe begegnen die jeweils nur einmal verwendeten Begriffe vdqm – „Heiligtum“83, dymt – „regelmäßiges Opfer“ und ~mwvm #wqv – „verwüstende Abscheulichkeit“ konzentriert in V. 31b–d. Dabei weist die Kombination der Begriffe vdqm – „Heiligtum“ und dymt – „regelmäßiges Opfer“84 klar in den Kontext des Jerusalemer Tempelkultes.85 Mit ~mwvm #wqv – „verwüstende Abscheulichkeit“ ist erneut eine umschreibende und letztlich unklar bleibende Bezeichnung gewählt, die ähnlich bereits in Dan 8,13 und Dan 9,27 begegnet. Während der Begriff #wqv – „Scheusal, Abscheulichkeit“ bereits in der prophetischen Kultkritik als polemische Umschreibung von Götterbildern begegnet86, ergänzt das Partizip ~mwvm lediglich dessen desaströse Wirkung87. Die drei Begriffe sind in einen dreigliederigen erzählerischen Verlauf eingebettet: Auf die Entweihung des Heiligtums (V. 31b) und die Abschaffung des regelmäßigen Opfers (V. 31c) folgt die Einrichtung der „verwüstenden Abscheulichkeit“ (V. 31d). Der enge semantische und narrative 82
Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 301. Vgl. Müller, vdq, 592: „Das Nomen miqdāš (…) benennt (…) ‚was heilig ist‘ (…), insbesondere den heiligen Ort als ‚Heiligtum‘, heilige Dinge wie die Opfergabe (Num 18,29), Jahwe als Hort der Heiligkeit (Ez 11,16) und wohl auch die ‚Heiligkeit‘ als solche (Lev 19,30; 26,2).“ 84 Vgl. Dan 8,11. 85 Vgl. Ex 29,38.42; Lev 6,13; Num 28 – 29; 1 Chr 16,40; Esra 3,5; Neh 10,34. 86 Vgl. z.B. Jes 66,3, Jer 4,1; 7,30; 13,27; 16,18; 32,34; Ez 5,11; 7,20; 11,18.21; 20,7.8.30. 87 Vgl. KEEL, Die kultischen Massnahmen, 220–223. 83
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Zusammenhang der drei Begriffe wird unterstrichen durch die parallele syntaktische Gestaltung der drei Teilverse: Alle drei Sätze beginnen mit der Verbform in der ersten Satzposition, auf die jeweils ein Akkusativobjekt folgt, nämlich die drei Begriffe vdqm (V. 31b), dymt (V.31c) und #wqv ~mwvm (V. 31d). Gegen Ende der Darstellung findet sich in den Versen 36–39 ferner eine auffällige Konzentration der Begriffe mit der Bedeutung Gott/Götter. Innerhalb des Clusters V. 36–39 fungieren die Begriffe ~yhla, hwla und la vorzugsweise als Objekte der Handlungen des ab V. 21 regierenden Königs, der sich über die Götter erhebt. Auch die Umschreibung ~yvn tdmx – „Liebling der Frauen“ begegnet in diesem Kontext (V. 37b). Außerhalb dieses Clusters begegnen nur zwei der insgesamt neun Belege, nämlich die Wendung ~hyhla – „ihre Götter“ in V. 8a und die Wendung wyhla y[dy ~[ – „das Volk, das seinen Gott erkennt“ in V. 32b. Die Ausrichtung des Königs gegen alle Götter wird dabei in V. 36–37 mit Hilfe eines sprachlichen Stakkatos beschrieben. Insgesamt fünfmal begegnen hier die Götter in verschiedenen sprachlichen Varianten als syntaktisches Objekt – und damit auch als Handlungsobjekt des Königs –, wobei alle fünf Wendungen mit der Präposition l[ eingeleitet werden (V. 36c.d. 37a.b[2x]). Zwischen den Teilversen bestehen weitere sprachliche Verknüpfungen. So sind die beiden Teilverse 36c und 36d chiastisch angeordnet, wobei V. 36d (twalpn rbdy ~yla la l[) eine Steigerung zu V. 36c (la-lk-l[ ldgty) ergibt. V. 37b nimmt die Formulierung von V. 36c noch einmal auf, variiert aber den Gottesbegriff (hwla statt la). Die Verse 36–37 werden ferner durch die zweifache Verwendung der Form ldgty in V. 36c und 37c umrahmt. Während V. 36–37 also das überhebliche Verhalten des Königs gegen alle Götter zum Ausdruck bringt, wendet sich derselbe König in V. 38–39 bestimmten Göttern zu. Diese Bewegung wird mit Hilfe der Präpositionen l (V. 38a.b) und ~[ (V. 39a) beschrieben. Dabei sind V. 38a und V. 38b parallel gestaltet: Beide Teilverse beginnen jeweils mit der Wendung hlal und schließen mit der Form dbky – „er verschafft Ehre“. Die Wurzel dbk begegnet erneut mit dem Nomen dwbk – „Ehre“ in V. 39b. Außerdem stellt das Adjektiv rkn – „fremd“ in V. 39a eine lautliche Parallele zu ryky (Qere) bzw. rykh (Ketib) in V. 39b dar. Somit findet sich in V. 36–39 auf dichtestem Raum eine Fülle an sprachlichen Gestaltungselementen. Diese betonen die Konzentration des semantischen Feldes auf engem Raum zusätzlich und halten die Verse zusammen. Insgesamt fällt auf, dass es sich bei den erwähnten Göttern nicht in erster Linie um den Gott Israels handelt. Explizite Verweise auf den Gott Israels enthält der Text ohnehin nicht. Aus dem Kontext kann aber erschlossen werden, dass das in V. 32b erwähnte Volk, das seinen Gott erkennt, das
7. Das semantische Feld „Religion“
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Volk des heiligen Bundes (vgl. V. 28b.30d.g) ist, der erwähnte Gott folglich der Gott Israels sein muss. Auch die Formulierung „Gott der Götter“ (V. 36d) verweist im theologischen Kontext des Danielbuches auf den Gott Israels (vgl. 2,47). Alle anderen Belege aus dem Begriffsfeld „Gott/Götter“ beziehen sich jedoch ganz eindeutig nicht auf den Gott Israels, sondern auf Götter, die von den herrschenden Königen verehrt werden. Dennoch wird das Verhalten des Königs gegenüber diesen Göttern in V. 36–39 kritisch dargestellt. Das hochmütige Verhalten des Königs gegen alle Götter – und nicht nur gegen den einen Gott der Bibel – wird sogar zweimal erwähnt (V. 36c.37b) und erfährt dadurch eine besondere Betonung.88 Das Interesse der Darstellung an anderen Göttern als nur dem Gott Israels zeichnet sich bereits in der in V. 8a geschilderten Episode ab: Der König des Südens lässt die Götterbilder des Nordens in die Verbannung gehen. Die in V. 31 geschilderte Entweihung des Jerusalemer Tempels und die sich in V. 32–35 anschließenden Ereignisse sind somit weder die Klimax der Darstellung Dan 1189 noch erscheinen sie als singulär. Die Ereignisse in Jerusalem fügen sich vielmehr in ein umfassendes Verhaltensmuster ein. Im Verlauf des Textes erscheinen sie als erster Schritt der Auflehnung des Königs gegen alle Götter. Die partikuläre Sicht Israels auf den heidnischen Gottesfeind wird auf diese Weise verknüpft mit einer universalen Perspektive.90 Im Kontext der Gesamtdarstellung weisen besonders die Verse 36–39 zahlreiche Bezüge zu anderen Wortfeldern auf. Bereits die Einleitung des Clusters in V. 36a mit der Wendung wnwcrk hf[w – „und er handelt nach seinem Willen“ verknüpft das Agieren des Königs gegen die Götter mit seinem Streben nach Macht. Die Formulierungen in V. 38a („einem Gott der Festungen wird er an seiner Stelle Ehre erweisen“) und V. 39a („er handelt für Befestigungen von Festungen mit einem fremden Gott“) unterstreichen besonders, dass der König nur insofern an den Göttern interes88
LEBRAM, König Antiochus, 757–761, macht darauf aufmerksam, dass sich die Darstellung des letzten Königs hier an dem im Hellenismus weit verbreiteten Typus des Götterfeindes orientiert. Die Schilderung der Feindseligkeiten des Königs gegen alle Götter im Anschluss an die Entweihung des Jerusalemer Tempels betrachtet er als Beleg für die Aufnahme einer außerjüdischen, ägyptischen Tradition; vgl. auch 760f.: „Es ist nicht denkbar, dass einem jüdischen Autor die Verehrung der Götter so wichtig gewesen ist, dass ihre Missachtung durch Antiochus ihn interessiert haben könnte. (…) So ergibt sich die Annahme, dass der Autor des Danielbuches hier eine ausserjüdische Polemik gegen Antiochus übernommen hat, und zwar eine ägyptische (…). [D]er jüdische Apokalyptiker konnte Antiochus so schnell und sicher als den eschatologischen Frevler identifizieren, weil er schon in der ägyptischen Propaganda die Rolle des Götter- und Tempelfeindes spielte.“ 89 Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 760. 90 Diese Verknüpfung der Perspektiven kennzeichnet generell den Horizont des Danielbuches; s.u. Kapitel V; vgl. auch WILDGRUBER, Israels Weisheit.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
siert ist, als sie seine Machtpolitik unterstützen: „Übrigens hat der ‚Gott der Festungen‘ genau genommen nur eine Funktion“, urteilt Lebram: „[E]r hilft Festungen erobern.“91 Die Unterordnung von Religion unter konkrete Machtinteressen, wie sie in V. 36–39 deutlich wird, wirft auch ein Licht auf die eigenartige Formulierung zw[mh vdqmh – „das Heiligtum, die Festung“. Neben den historischen Erklärungen der Stelle, die auf die Befestigungsanlagen des Tempels verweisen92, ist auch eine Interpretation auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung möglich: Die Truppen des Königs verfahren mit dem Tempel ihrem bisherigen Handlungsschema entsprechend: Sie behandeln „das Heiligtum“ „als Festung“ – was einer Entweihung gleichkommt. Eine weitere Verbindung besteht zum semantischen Feld „Verstehen“. Dieses konzentriert sich in der Regierungszeit des letzten Königs Dan 11,21– 45, in der auch die meisten Belege aus dem Feld „Religion“ anzutreffen sind. Der König orientiert sich an der pervertierten Religiosität derer, die den heiligen Bund verlassen (V. 30g). Die verneinten Belege von !yb – „verstehen“ in V. 37a.b und [dy – „erkennen“ in V. 38b betonen gerade die Ignoranz und Inkompetenz des Königs im Bereich der Religion – und zwar nicht in Bezug auf den Gott Israels, sondern auf die Götter seiner eigenen Tradition. Mit seinem Verhalten gegenüber allen Göttern erweist sich der König in Dan 11,21–45 also geradezu als Gegenbild des in V. 32b erwähnten Volkes, „das seinen Gott erkennt“, und der ~ylykfm (V. 33a.35a). Im Gegensatz zu diesen erkennt der König weder den Gott/die Götter seiner Väter (V. 37a) noch den „Liebling der Frauen“ noch sonst einen Gott (V. 37b). Mit seiner Hinwendung zum „Gott der Festungen“ (V. 38a) kehrt er sich dezidiert vom Glauben seiner Väter ab – handelt es sich doch dabei um einen Gott, den seine Väter nicht kannten. Das Moment der Verehrung eines fremden Gottes spiegelt sich auch in der Formulierung rkn hwla – „fremder Gott“ in V. 39a. Zum Versuch, diesen Gott mit einer bestimmten Gottheit zu identifizieren, merkt Lebram an: „Es ist müssig, unter den bekannten Göttern des griechisch-orientalischen Pantheons nach einem Gott zu suchen, der mit dem Gott ‚der Festungen‘ identifiziert werden kann. Weder Jupiter Capitolinus noch Zeus Olympus oder eine orientalische Götterfigur mit griechischer Benennung konnten als fremde Götter bezeichnet werden, die Antiochus’ Vorfahren nicht gekannt haben. (…) Man hat den Eindruck, dass es sich bei der Erwähnung des Gotts [sic!] der Festungen nicht um einen Kultus handelt, sondern um einen literarischen Topos, durch den Antiochus als grimmiger Krieger dargestellt wird, der die Heiligtümer der Götter nicht schont.“93
91 92 93
LEBRAM, König Antiochus, 756. Vgl. z.B. COLLINS, Daniel 1993, 385. Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 755f.
8. Das semantische Feld „Zeit“
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Die Begriffe, die sich auf die Religion Israels beziehen, und die allgemeinen Termini für Gott bzw. Götter stehen nicht nur direkt nacheinander im erzählerischen Fokus der Darstellung. Das Verstehen wird außerdem als Verhalten für beide Ausprägungen von Religion thematisiert. Die Religion Israels wird auf diese Weise in den weiteren Kontext der religiösen Praxis der Könige gestellt. Schließlich ist auch eine Verbindung zwischen dem Wortfeld „Religion“ und den Termini aus dem Bereich der Bewegung feststellbar. So nimmt das Motiv der eigenen Erhöhung des Königs (V. 36b) die allgemeine Tendenz des Textes auf, Handlungen als gerichtete Bewegungen zu schildern. Im Besonderen klingt hier noch einmal die für alle Könige charakteristische Bewegung nach oben an, die in der übrigen Darstellung meist mit dem Grundereignis dm[ ausgedrückt wird. Anhand dieser vielfachen Verwobenheit des Clusters Dan 11,36–39 mit den übrigen semantischen Feldern in Dan 11 wird somit deutlich, dass im Verhalten des letzten Königs gegenüber allen Göttern die Fäden der bisherigen Darstellung zusammenlaufen. Danach beginnt mit V. 40 die Schilderung der „Zeit des Endes“.
8. Das semantische Feld „Zeit“ 8. Das semantische Feld „Zeit“
Als letztes semantisches Feld zeichnet sich das Wortfeld „Zeit“ an der Textoberfläche von Dan 11,2b – 12,3 ab. Es setzt sich zusammen aus den Substantiven #q – „Ende“ (V. 6a.13c.27d.35a.40a.45b), hnv – „Jahr“ (V. 6a.8b. 13c), t[ – „Zeit, Zeitpunkt“ (11,6e.13c.14a.24d.35a.40a; 12,1a.b[2x].c) ~wy – „Tag“ (V. 20b.33b), d[wm – „verabredete, bestimmte Zeit“ (V. 27d.29a.35b) sowie ~lw[ – „Dauer, fernste Zeit, Ewigkeit“ (12,2b.c.3b) und d[ – „Ewigkeit, unbegrenzte Zukunft“ (12,3b). Diese Zeitbegriffe können in mehrere semantische Gruppen unterteilt werden. Die meisten von ihnen bezeichnen einen bestimmten und abgrenzbaren Zeitabschnitt. Dabei lassen sich Begriffe, die eine konkrete Zeiteinheit mit bestimmter Dauer bezeichnen (hnv und ~wy), und Begriffe, die einen bestimmten, aber nicht näher bezeichneten Zeitpunkt beinhalten (t[ und d[wm), unterscheiden. Auch der Begriff #q bezieht sich auf einen Zeitabschnitt bestimmter Dauer und bezeichnet dessen Grenze. ~lw[ hingegen beinhaltet genau das Gegenteil der bestimmten und abgegrenzten Zeit – die unbegrenzte Dauer. Das semantische Feld „Zeit“ spannt sich also zwischen zwei Polen aus, wobei der Pol der bestimmten, begrenzten Zeit durch eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe repräsentiert ist, denen nur ein einziger Begriff gegenübersteht.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Die konkreten, quantifizierbaren Zeitbegriffe hnv und ~wy begegnen in Dan 11,2b – 12,3 auffälligerweise immer im Plural. Eine Anzahl der Zeiteinheiten wird darüber hinaus jedoch nicht genannt. Diese Verwendung zeigt somit lediglich einen Zeitraum an, ohne diesen jedoch näher zu bestimmen.94 Hier schlägt sich einmal mehr die Tendenz des Textes zu Offenheit und Unbestimmtheit nieder. Die beiden Lexeme mit der Bedeutung „Zeitpunkt“, t[ und d[wm, unterscheiden sich hinsichtlich der Intensität, mit der die Bestimmtheit des gemeinten Zeitpunktes betont wird. So nimmt Jenni für die Bedeutung von t[ die drei Komponenten „Zeitpunkt“, „bestimmt“ und „(Zeit) von/für“ an95, unterstreicht aber, dass „für die Wortbedeutung ‚Frist, Termin, Datum, (absichtlich) festgesetzte Zeit‘ die speziellen Wörter zeman (…) und moÝēd (…) zur Verfügung stehen (…).“96 Im Vergleich mit t[ ist d[wm also der verbindlichere Zeitbegriff, der nicht nur die nähere Bestimmung eines Zeitpunktes, sondern auch dessen Position innerhalb der ablaufenden Zeit aussagt und damit zugleich die Ausrichtung auf den kommenden Zeitpunkt im Sinn einer Frist beinhaltet.97 Mit #q begegnet ein Begriff, der für das Danielbuch besonders charakteristisch ist: Allein 15 der 67 biblischen Belege entfallen auf dieses Buch, sechs davon auf den hier untersuchten Textabschnitt. Wagner versteht #q als festen Terminus technicus der apokalyptisch geprägten Theologie des Danielbuches im Sinn einer herausgehobenen Endzeit, deren Ende sich berechnen lässt.98 Bei genauerer Betrachtung trifft diese Einschätzung jedoch nur für einen Teil der Belege in Dan 11,2b – 12,3 zu. An zwei der sechs genannten Stellen (V. 6a.13c) bezeichnet #q lediglich das Ende einer Zeitperiode, ohne jede apokalyptische Konnotation. In V. 45b wird mit der Wendung wcq – „sein Ende“, bezogen auf den ab V. 21 herrschenden König, dessen persönliches Ende beschrieben.99 Von einem „Ende an sich“, wie es der apokalyptischen Erwartung entspricht, ist nur in V. 27d, V. 35a 94
Zur unbestimmten Verwendung von ~ynv vgl. GRETLER, Zeit und Stunde, 234: „In 11,6.13 wird das Ende einer Zeitepoche der Seleukidischen und Ptolemaischen Herrschaft in Geschichtsjahren beschrieben. Es geht also nicht um ein definitives Ende, sondern um den Abschluss einer bestimmten Zeitspanne innerhalb der ganzen Weltgeschichte.“ Zur unbestimmten Verwendung von ~ymy vgl. JENNI, ~Ay, 717, und GRETLER, Zeit und Stunde, 250. 95 Vgl. JENNI, t[e, 371.375. 96 JENNI, t[e, 375. 97 So bezeichnet WILLI-PLEIN, Zeit, 150f., t[ als den richtigen Moment für etwas. Im Zusammenhang mit d[wm betont sie auch die soziale und kultische Dimension des Begriffs: „Der gleiche Tag als Termin der ‚Übereinkunft‘, an dem alle individuellen Zeiten zur gemeinsamen Festzeit werden, muß gefunden werden.“ 98 Vgl. WAGNER, #qe, 662. 99 Vgl. GRETLER, Zeit und Stunde, 226.
8. Das semantische Feld „Zeit“
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und V. 40a die Rede.100 Dieses Ende wird zu einer bestimmten Frist erwartet (V. 27d), es begrenzt die Zeit der Prüfung der Weisen (V. 35a) und trifft schließlich ein (V. 40a). Da die apokalyptische Verwendung des Begriffs „Ende“ also nur einen Teil der Belege ausmacht, ist zunächst vor allem auf den Leitwortcharakter des Begriffs #q in Dan 11,2b – 12,3 zu achten, ohne die Bedeutung auf ihre apokalyptische Sinnrichtung engzuführen.101 Schließlich begegnen mit den Vokabeln ~lw[ – „Dauer, Ewigkeit“ in Dan 12,2b.c.3b und d[ – „Ewigkeit, unbegrenzte Zukunft“ in Dan 12,3b zwei weitere, bisher nicht verwendete Zeitbegriffe. Semantisch unterscheiden sich ~lw[ und d[ von allen anderen, bisher verwendeten Zeitbegriffen. Während diese die Begrenzung und Gliederung der Zeit beinhalten, bedeuten ~lw[ und d[ die unbegrenzte, ununterbrochene Dauer. Auf diese Weise wird somit inhaltlich ein neuer Aspekt der Zeitthematik in die Darstellung eingetragen. Um die Bedeutung des semantischen Feldes „Zeit“ für Dan 11,2b – 12,3 näher bestimmen zu können, muss zum einen die Einbindung der genannten Substantive in das syntaktische Gefüge des Textes, zum anderen die Kombination der Begriffe und ihre Verteilung im Text näher beschrieben werden. Die Zeitbegriffe begegnen in Dan 11,2b – 12,3 vor allem im Rahmen von Zeitangaben, die sich durch die gesamte Darstellung ziehen. Die geschilderten einzelnen Ereignisse werden immer wieder durch Zeitangaben wie „nach dem Ablauf von Jahren“ oder „zu dieser Zeit“ näher bestimmt. Die ablaufende Zeit übernimmt somit die Funktion eines unabhängigen Referenzsystems, auf das die einzelnen Ereignisse bezogen werden. In syntaktischer Hinsicht fällt dabei auf, dass die Zeitbegriffe häufig die hervorgehobene erste Position eines Satzes einnehmen, wodurch eine invertierte Satzstellung nötig wird.102 Dies ist der Fall in Dan 11,6a.13c.14a. 20b.29a.40a; 12,1a.c. Diese Zeitangaben fallen zwar nicht mit den Herrscherwechseln in V. 5a.7a.10a.20a.21a zusammen, markieren aber dennoch Einschnitte im Verlauf des Geschehens. So scheinen zwar die handelnden Könige in V. 6 mit denen in V. 5 übereinzustimmen103, im Mittelpunkt des 100
Zum Gebrauch von #q in Dan 11 vgl. auch COLLINS, Meaning of„The End“, 92. Gerade den Leitwortcharakter und den damit verbundenen Bedeutungspluralismus von #q blendet COLLINS, Meaning of „The End“, 92, jedoch aus, wenn er beispielsweise wcq in Dan 11,45 als irrelevant für die Frage nach der apokalyptischen Bedeutung des Terminus #q im Danielbuch bezeichnet. 102 „Die Inversion ist (…) belegt, wenn an erster Position eine betonte Anknüpfung an das Vorhergehende und ein Ausdruck steht, welcher den betreffenden Satz gegenüber dem vorausgehenden zeitlich situiert. Damit hängen die Fälle zusammen, wo eine Zeitbestimmung am Anfang des Satzes steht.“ HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 381. 103 Dies ist allerdings in historischer Hinsicht nicht der Fall. 101
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Geschehens von V. 6 steht aber die in V. 6a neu eingeführte Tochter des Königs des Südens. Insofern in V. 6 also eine neue Akteurin auftritt, leitet die Zeitangabe eine neue Phase des Geschehens ein. Die Zeitangabe in V. 13c schließt das ab V. 10 vorherrschende Thema des Krieges zwischen Nord und Süd ab. Mit dem Rückbezug auf diese Zeitangabe in V. 14a wird ein neues Thema, die Erhebung vieler gegen den König des Südens und das Agieren der „Söhne des Zerreißens“, in den Text eingespielt. Die Zeitangabe in V. 20b ist zwar dem eigentlichen Einschnitt, dem Herrscherwechsel in V. 20a, nachgeordnet, lenkt den Blick aber bereits auf den Abschluss dieser kurzen Phase. In V. 29a tritt die Herrschaft des ab V. 21a herrschenden Königs in eine neue Phase, insofern der erneute Aufbruch des Königs Richtung Süden (V. 29b) nun zu anderen Ergebnissen führt, als dies beim ersten Mal der Fall war (V. 29c). In V. 40a leitet die Zeitangabe schließlich die Zeit des Endes ein, auf die die Zeitangaben in 12,1a.c Bezug nehmen. Das Netz der Zeitangaben wird noch enger geknüpft mit Hilfe von Pronomina, die eine Zeitangabe an eine andere rückbinden. Dies geschieht mit der Wendung ~hh ~yt[b – „in jenen Zeiten“ in 11,14a, die sich auf den mit einer Zeitangabe beginnenden V. 13c bezieht, sowie durch die in 12,1a.c begegnende Formel ayhh t[b – „in jener Zeit“, die das Geschehen in 12,1–3 mit den ab 11,40 geschilderten Ereignissen #q t[b – „zur Zeit des Endes“ synchronisiert. Durch die Zeitangaben am Satzanfang rückt die Zeit als Referenzsystem der Darstellung in den Vordergrund. Allerdings erscheint dieses Referenzsystem zu den ebenfalls den Text strukturierenden Herrscherbiographien eigenartig verschoben. Die Zeitangaben harmonieren nicht mit den Abschnitten, die die Herrschaftsantritte vorgeben. Die ablaufende Zeit erscheint vielmehr wie ein unabhängig zu den Herrschern funktionierendes Strukturelement des Textes – sie lässt sich von der Logik der Herrschaft nicht beeinflussen. Vielmehr sind die Tage der Herrscher in dieses unabhängige System eingeordnet und daher letztendlich gezählt. Betrachtet man die Verteilung der Zeitbegriffe im Text, so fällt zunächst auf, dass die Begriffe selten einzeln begegnen, sondern in Kombinationen auftreten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Constructus-Verbindungen ~ynv #q – „Ende von Jahren“ in V. 6a, ~ynv ~yt[h #q – „Ende von Zeiten, Jahren“ in V. 13c, #q t[ – „Zeit des Endes“ in V. 35a und 40a sowie die Partizipial-Konstruktion d[wml #q – „das Ende [dauert] bis zur bestimmten Zeit“ in V. 27d. Die Darstellung arbeitet also nicht nur mit einem breit gestreuten Wortfeld, sondern betont die semantische Streuung, indem mehrere Begriffe aus dem gleichen Wortfeld miteinander kombiniert werden, ohne dass dies Auswirkungen auf den Inhalt des Textes hätte. Die Tendenz zur Clusterbildung, die bereits im Zusammenhang mit den semantischen Fel-
8. Das semantische Feld „Zeit“
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dern „Macht“ und „Götter“ beschrieben wurde, begegnet hier in einer Variante: Die Cluster erscheinen als Häufung verschiedener Zeitbegriffe in den Zeitangaben. Innerhalb der Darstellung lassen sich zwei Gruppen unterschiedlicher Kombinationen ausmachen, wobei die eine Gruppe ausschließlich vor der Regierungszeit des letzten Königs Verwendung findet, die andere Gruppe ausschließlich in der Zeit dieses Königs. Die Zeitangaben in V. 6a.e.8b und 13c setzen sich aus den Begriffen #q, ~ynv und t[ zusammen, wobei erst in V. 13c alle drei Begriffe miteinander kombiniert werden (~ynv ~yt[h #qlw). Die Zeitangabe in V. 14a bezieht sich, wie bereits erwähnt, auf die Angabe in V. 13a. Diese Zeitangaben bilden eine erste Gruppe. Der gestaffelte Einsatz der drei Zeitbegriffe spielt einerseits mit dem bereits bekannten Stilmittel der Wiederholung, verbindet dieses aber andererseits mit der Variation verschiedener Kombinationsmöglichkeiten. Die Zeitangaben verweisen so aufeinander, ohne jedoch Monotonie zu erzeugen. Indem erst bei der vierten Zeitangabe alle drei Begriffe der Gruppe verwendet werden, entsteht außerdem der Eindruck einer Intensivierung. Die Ereignisse erscheinen so als zeitlich geordnet und in einzelne Zeitabschnitte eingeteilt. Gleichzeitig drängt die ganze Darstellung nach vorne. Die Zeitangaben der zweiten Gruppe in V. 24d.27d.29a.35a.b.40a bestehen aus den Begriffen t[, #q und d[wm, wobei keine der verwendeten Kombinationen zweimal vorkommt. Innerhalb dieser Gruppe ergeben sich zwei Untergruppen. Die Reihe der Zeitangaben beginnt in V. 24d mit der – hier nachgeschobenen – Wendung t[ d[w – „bis zu einer Zeit“. Diese Wendung wird in V. 35a erweitert: #q t[-d[ – „bis zur Zeit des Endes“, wobei auch diese Zeitangabe die letzte Position im Satzgefüge einnimmt. Die Angabe #q t[b – „in der Zeit des Endes“ in V. 40a schließt die gesamte zweite Gruppe der Zeitangaben. Mit diesen aus t[ und #q bestehenden Angaben verflochten sind die Zeitangaben in V. 27d.29a und 35b, die sich aus den Begriffen #q und d[wm zusammensetzen. Vor allem die beiden Angaben in V. 27d und 35b weisen eine starke Ähnlichkeit auf: Beide kommentieren im Rahmen eines mit yk – „denn“ eingeleiteten Nebensatzes die geschilderten Ereignisse, wobei die Wendung d[wml dw[ yk – „denn noch bis zur bestimmten Zeit“ in V. 35b an d[wm #q dw[ yk – „denn noch [dauert] das Ende bis zur bestimmten Zeit“ in V. 27d anklingt.104 Die Verteilung der Zeitbegriffe im Text korrespondiert folglich mit dem Herrschaftsantritt des letzten Königs in V. 21. Die Darstellung seiner Regierungszeit erfolgt mit anderen Begriffen als die Schilderung der anderen Herrscher – die Zeit läuft unter diesem Herrscher anders ab. Diese Veränderung kann mit Hilfe der unterschiedlichen Semantiken der Zeitbegriffe 104
Vgl. auch MEADOWCROFT, History and Eschatology, 250.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
noch weiter qualifiziert werden. Während ~ynv, das einen längeren, nicht näher bestimmten Zeitraum beinhaltet, in der zweiten Gruppe der Zeitangaben nicht mehr begegnet, trifft man d[wm nur in der zweiten Gruppe an. Damit ändert sich der Charakter der Ankündigungen. Die Zeitangaben mit ~ynv verorten die Ereignisse in einer in Zeiträume gegliederten Zeit und markieren Abstände zwischen den Ereignissen. Demgegenüber setzt der Begriff d[wm andere Akzente. An die Stelle der unbestimmten Dauer tritt der verbindliche Zeitpunkt, an die Stelle der neutralen Einordnung eines Ereignisses sein erwartetes Eintreffen. Während ~ynv also auf neutrale Weise die zeitliche Einordnung von Ereignissen präsentiert, betont d[wm die Dynamik, mit der das angekündigte Ereignis näher rückt. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man auf die Verwendung der Präpositionen bzw. Adverbialen im Text achtet: Nur in der zweiten Gruppe der Zeitangaben begegnen die Präposition d[ – „bis zu“ und die Adverbiale dw[ – „noch“, die beide die Richtung und das Ablaufen der Zeit bis zu einem bestimmten Punkt in der Zukunft hin beinhalten. Die Zeitangaben der zweiten Gruppe bewirken somit eine Beschleunigung des Textes und erzeugen eine Atmosphäre der Ungeduld, die mit der Regierungszeit des letzten Königs anbricht. Zusammengehalten werden die beiden Gruppen von Zeitbegriffen durch die Begriffe t[ und #q, die in beiden Gruppen vorkommen. Dabei korrespondieren die oben beschriebenen Bedeutungsunterschiede von #q mit der Verteilung der Gruppen im Text: In seiner apokalyptischen Ausprägung als definitiver Endpunkt der Geschichte in ihrer bisherigen Gestalt ist der Begriff #q auf die zweite Gruppe und somit auf die Zeit des letzten Königs beschränkt (V. 27d.35a.40a), wobei das absolute Ende mit dem persönlichen Ende des Königs zusammenfällt (V. 45b). Die begrenzten Zeiträume der Ereignisse vor diesem letzten König, die ebenfalls mit Hilfe des Begriffs #q beschrieben werden (V. 6a.13c), nehmen gleichsam das absolute Ende vorweg und verweisen darauf.105 Die beiden Gruppen kombinierter Zeitbegriffe umfassen jedoch nicht alle Zeitangaben in Dan 11,2b – 12,3. Die beiden Zeitangaben mit ~ymy in 11,20b.33b gehören keiner der beiden Gruppen an. Semantisch stehen diese den mit ~ynv gebildeten Zeitangaben am nächsten, da auch der Plural von ~wy einen nicht näher bestimmten Zeitraum meint. Im Vergleich mit ~ynv ist 105
Vgl. hierzu MEADOWCROFT, History and Eschatology, 250: „This variegated usage of the term qets, I suggest, indicates that the anticipated end of the Seleucid king of the North is a temporal end, but that his end foreshadowes a greater end, the culmination of all earthly kingdoms and the establishment of the eternal kingdom. It points to a future that looks like the past but is something quite different from the past. It is a vision built on the earthly and temporal events of Dan 11:1–39 but looking towards a time described as ‚the end of the days‘ (… 12:13).“
8. Das semantische Feld „Zeit“
225
allerdings von einem kürzeren Zeitraum auszugehen. Die im Zusammenhang mit den gruppierten Zeitangaben beschriebene Tendenz zur Beschleunigung und Dynamisierung der Darstellung bestätigt sich hier, insofern die mit ~ymy und ~ynv gebildeten Zeitangaben nicht abwechselnd, sondern nacheinander im Text begegnen: Auf die Zeitangaben mit ~ynv in V. 6a.8b.13c folgen die Zeitangaben mit ~ymy in V. 20b.33b, d.h. die Darstellung nimmt erst längere, flächigere Zeiteinheiten in den Blick und wird in ihrem Verlauf immer kleingliedriger und damit schneller. Auch die Zeitangaben in 12,1–3 sind anders gestaltet als die gruppierten Zeitangaben in Dan 11. Auffällig ist hier zunächst die Konzentration der Vokabel t[ in Dan 12,1. Während t[ bisher im Rahmen von aus mehreren Begriffen zusammengesetzten Zeitangaben vorkam, steht die Vokabel hier allein, wird aber innerhalb des einen Verses gleich viermal verwendet: Die Zeitangabe ayhh t[bw am Beginn des Verses verknüpft die in den folgenden Versen 12,1–3 geschilderten Vorgänge mit den Ereignissen aus Dan 11,40–45, die mit der Zeitangabe #q t[bw in V. 40a eingeleitet werden. Diese Zeit, in der „Michael, der große Fürst“ aufsteht (12,1a), wird in Dan 12,1b beschrieben als „Zeit der Not wie keine gewesen ist seit Entstehung eines Volkes bis zu dieser Zeit“ (d[ ywg twyhm htyhn-al rva hrc t[ ayhh t[h). Genau in dieser Zeit, führt Dan 12,1c aus, wird Daniels Volk gerettet. Gleichzeitig entscheidet sich das Schicksal von „vielen Schlafenden im Erdenstaub“ – zum Leben oder zum Verderben (12,2).106 Die Weisen schließlich werden strahlen wie der Glanz des Himmels und die, „die viele zur Gerechtigkeit geführt haben“, wie die Sterne. Mit dem Ende des letzten Königs fällt somit eine Zeit nie da gewesener Not zusammen, die gleichzeitig die Zeit der Rettung und der Entscheidung ist. Die Häufung des Begriffs t[ bewirkt, dass der letzte Zeitabschnitt der Darstellung Dan 11,2b – 12,3 eine besondere Betonung erfährt. Er erscheint als die eigentliche Zeit, als Zielpunkt aller anderen, zeitlich eingeordneten Prozesse. Im Vergleich mit der Verwendung von #q ergibt sich also bezüglich der Verwendung von t[ ein ähnliches Bild: Wie die einzelnen Zeitangaben mit #q in der Zeit des Endes und dem Ende des letzten Königs kulminieren, laufen die Zeitangaben mit t[ auf die in Dan 12,1 beschriebene Zeit der Not und der Rettung zu. Während alle Prozesse bis jetzt begrenzt waren – auf ein Ende zustrebten – wird in den drei letzten Versen eine dauerhafte Perspektive eröffnet. Die Vokabeln ~lw[ – „Dauer, Ewigkeit“ und d[ – „Ewigkeit, unbegrenzte Zukunft“ begegnen ausschließlich in den Schlussversen der Darstellung. 106
Die in diesem Kontext verwendete Verbwurzel #yq Hif’il – „aufwachen“ ist zwar etymologisch nicht mit #q – „Ende“ verwandt. Aufgrund der klanglichen Ähnlichkeit scheint aber doch ein Wortspiel vorzuliegen.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
~lw[ wird in 12,2b.c in paralleler Konstruktion als Nomen rectum einer mit l eingeleiteten Constructus-Verbindung gebraucht (12,2b: ~lw[ yyxl – „zum immerwährenden Leben“; 12,2c: ~lw[ !wardl twprxl – „zur Schmach, zur immerwährenden Abscheu“) und steht jeweils am Ende des Verses. Die Formel d[w ~lw[l – „auf immer und ewig“ schließt am Ende von V. 12,3b sowohl den letzten Zeitabschnitt als auch die gesamte Darstellung Dan 11,2b – 12,3 ab. Durch die Kombination der beiden inhaltlich sehr ähnlichen Begriffe ~lw[ und d[ wird der Aspekt der Dauer der angekündigten Vorgänge zusätzlich unterstrichen. Die ab 12,2 beschriebenen Prozesse verlaufen dabei parallel zu den in 12,1a.c mit der Zeitangabe ayhh t[b – „in jener Zeit“ eingeleiteten Ereignissen. Der durch die Häufung von t[ ausgedrückte Höhepunkt der Zeit in 12,1 geht somit nahtlos über in einen Zustand der Dauer, der als Überwindung aller bisherigen Zeit- und Geschichtserfahrung verstanden werden kann.107
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung 9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung „Dem tröstenden Zeugnis und der klärenden theologischen Standortbestimmung im Buche Daniel wird man wohl nur gerecht, wenn (…) man sieht, daß in dieser apokalyptischen Schrift nicht der wohlfeile Köder von vaticinia ex eventu ausgelegt wird, der den Verzagten der seleukidischen Verfolgungszeit allzu griffigen Trost bietet, und nicht einfach der Stand der Weltenuhr in einer Weise präsentiert wird, die das Sinngeheimnis geschichtlicher Noterfahrung in ein handliches Rechenexempel verkehrt.“108
Diese pointierte Formulierung von Steck erinnert noch einmal an die Aporien einer einseitig historisch orientierten Lektürepraxis von Dan 11,2b – 12,3. Die Konzentration auf die historischen Bezugspunkte des Textes führt dabei häufig zu einer verengten Wahrnehmung des Textes als vaticinium ex eventu, dessen Funktion nur darin besteht, mit seinen Zukunftsansagen Trost und Hoffnung hervorzurufen. Dann wird aus der Reflexion über „das Sinngeheimnis geschichtlicher Noterfahrung (…) ein handliches Rechenexempel“. Das close reading von Dan 11 suchte demgegenüber einen alternativen Zugang zum Text. Es nahm seinen Ausgang bei der Beobachtung, dass die Darstellung von zahlreichen Rekurrenzen geprägt ist, die wiederum zu semantischen Feldern zusammengefasst werden können. Die Beschreibung 107
Somit liegt in Dan 12,1–3 nicht die als klassisch-apokalyptisch angenommene Unterscheidung zwischen hzh ~lw[ und habh ~lw[ vor; vgl. HIEKE, Apokalyptik, 93. 108 STECK, Weltgeschehen und Gottesvolk, 262.
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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und semantische Analyse der Wortfelder führte weiter zu Beobachtungen von Syntax und Textgefüge. Die gewonnenen Erkenntnisse können auf zweifache Weise dargestellt werden. So soll zum einen die Frage beantwortet werden, welchen Gestaltungsprinzipien die Darstellung Dan 11 folgt, zum anderen, welche inhaltlichen Schwerpunkte und welche Konsequenzen für die Textpragmatik sich daraus ergeben. 9.1 Gestaltungsprinzipien Aus den detaillierten sprachlichen Beobachtungen zu Dan 11 lassen sich drei übergeordnete Gestaltungsprinzipien ableiten: Die Darstellung folgt den Prinzipien der Schematisierung, der Fokussierung und der Verdunkelung. 9.1.1 Schematisierung Die Irritation, welche sich aus einer Lektüre von Dan 11 ergibt, die nach klaren historischen Bezügen sucht, ordnet Koch folgendermaßen ein: „Wer ohne besondere Vorkenntnisse sich in das Buch Daniel vertieft, wird sehr bald durch die weithin dunkel, ja gewollt mysteriös erscheinende Ausdrucksweise, die zudem noch die Namen der Hauptpersonen oft verschweigt und diese nur durch Anspielungen erraten läßt, befremdet werden. (…) Die angedeuteten Besonderheiten altorientalischisraelitischen Denkens erschweren es dem modernen Leser ungemein, den Schilderungen des Buches Daniel zu folgen; sie haben den Verfasser in den Ruf gebracht, eine bewußt unklare und undurchsichtige Sprache zu führen. Vom Gemeindenken des alten Orients her sind die Aussagen aber durchaus klar und durchschaubar. Soweit die Rede über Vergangenes verschlüsselt ist, geschieht es einzig, um den Anschein einer Weissagung künftiger Dinge zu wahren, einer Weissagung, die aber jedem halbwegs unterrichteten Zeitgenossen ohne weiteres verständlich war und verständlich sein sollte.“109
Nach dieser Einschätzung von Koch verfolgt die Darstellung Dan 11,2b – 12,3 das Ziel, von den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern als verschlüsselte Schilderung bekannter Ereignisse durchschaut und somit als zuverlässige Weissagung anerkannt zu werden. Eine solche Lektüre von Dan 11,2b–39 als vaticinium ex eventu zum Zweck der Beruhigung und des Trostes muss die große Detailfreudigkeit und das besondere Interesse des Textes an den individuellen Ereignissen betonen. Je mehr Ereignisse möglichst detailliert identifiziert werden können, desto vertrauenswürdiger erscheint die Prophezeiung, desto größer ist das Hoffnungs- und Trostpotenzial des Textes. Ein close reading des gesamten Textes Dan 11,2b – 12,3 kommt jedoch zu einem genau gegenteiligen Ergebnis: Im Fokus der Darstellung stehen 109 KOCH, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, 281–283. Koch bezeichnet diesen Stil dort als altorientalisches Symboldenken; Hervorhebung: R.W.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
nicht die Einzelereignisse in ihrer individuellen Ausprägung. Diese sind zwar erkennbar, werden aber geradezu holzschnittartig auf ihre Grundlinien reduziert. Die durchgeführte Oberflächenanalyse von Dan 11 findet als wichtigste Gestaltungsprinzipien des Textes die Wiederholung von Begriffen und die Konzentration des Wortschatzes in semantischen Feldern, wobei sich Begriffe auch innerhalb der Wortfelder häufig wiederholen. Der reduzierte Gebrauch des Wortschatzes lässt dabei allgemein nur eine sehr vereinfachte Darstellung der Ereignisse zu.110 Dieser Effekt verstärkt sich durch die häufig verwendeten, semantisch wenig konkreten Grundereignisse, die neben den semantischen Feldern eine eigene Wortgruppe bilden, welche nicht durch ihre inhaltliche Verwandtschaft, sondern durch ihre Häufigkeit und ihre Funktion im Text konstituiert wird. Mit Hilfe der Grundereignisse werden die einzelnen Vorgänge nicht nur auf ihre Grundstrukturen reduziert. Aufgrund der hohen Redundanz der Grundereignisse entsteht beim Leser ferner der Eindruck, als wiederholten sich ähnliche Ereignisse immer und immer wieder. Ähnlich ist auch die Wirkung der Verben der Bewegung, mit Hilfe derer individuelle Ereignisse geradezu in Bewegungsmuster aufgelöst werden. Das Interesse der Darstellung richtet sich also gerade nicht auf das Individuelle, sondern auf das Schematische. Indirekt tritt diese Erkenntnis auch in historischen Lektüren von Dan 11 zu Tage. Als Beispiel hierfür sei ein weiteres Mal der Danielkommentar von Porteous angeführt, welcher im Zusammenhang mit Dan 11,11–12 bemerkt: „In V. 11–12 findet sich eine ziemlich unklare Beschreibung der merkwürdigen Schlacht bei Raphia (…).“111 Eine unklare Beschreibung einer merkwürdigen Schlacht – was Porteous hier irritiert anmerkt, ist in Dan 11 kein Einzelfall, sondern im Gegenteil Prinzip der Darstellung. An die Stelle von detaillierten Beschreibungen historischer Ereignisse treten in Dan 11 ent-individualisierte Platzhalter. Im Fall von Dan 11,11– 12 liegt der Schwerpunkt der Darstellung gerade nicht auf dem Verlauf der Schlacht – auch wenn dieser aufgrund der vielen beteiligten Elefanten durchaus der Rede wert wäre112 –, sondern auf den wiederkehrenden Grundstrukturen von Macht und Krieg. So begegnen in Dan 11,11–12 clusterartig verschiedene Begriffe aus dem Wortfeld Macht und Krieg (V. 11a rrm – 110
Vgl. in diesem Zusammenhang VON RAD, Daniel und die Apokalyptik, 318, der mit Blick auf Dan 2 konstatiert: „Daß die Darstellung des Universums der Geschichte in dem Bild eines aufrecht stehenden Mannes im Bereich des alten Israel auch nur einigermaßen gelingen konnte, das ist wirklich nur darauf zurückzuführen, daß der Apokalyptiker die Geschichte auf die in ihr wirkenden Grundkräfte reduziert, d.h. sie aufs äußerste schematisiert und vereinheitlicht.“ 111 PORTEOUS, Buch Daniel, 135. 112 Vgl. WELLMANN, Antiochos III. der Grosse, 2461.
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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„erbittert werden“; V. 11c ~xl – „Krieg führen“; V. 11d.e.12a !wmh – „Heer“; V. 12d zz[ – „stark sein“), wobei die Ereignisfolge in V. 12d mit einem negativen Ergebnis endet (zw[y al – „er wird sich nicht als stark erweisen“). Die Beschränkung des Wortschatzes auf semantisch so eng verwandte Begriffe macht deutlich, dass das angedeutete Ereignis hier gerade nicht als besonders ungewöhnliche Schlacht mit einmaligen Vorkommnissen, sondern als typisches Kriegsgeschehen von Interesse ist. Die mehrfach vorkommenden Verben der Bewegung (V. 11d dm[; V. 12a afn; V. 12b ~wr; V. 12c lpn) fügen die Kriegsereignisse dabei in ein Schema ein: Der Aufstieg der einen bringt den Abstieg und das Fallen der anderen mit sich. Dabei zeigt aber der negative Ausgang der Episode in V. 12d (zw[y al – „er wird sich nicht als stark erweisen“) an, dass auch der König, der scheinbar erfolgreich „nach oben“ strebt und das Fallen der anderen verursacht, seine Position nicht halten wird. Dieses Ergebnis zeichnet sich bereits in den einander aufhebenden Richtungen der Verben der Bewegung ab. Die bei Porteous greifbare Irritation über die „unklare Beschreibung“ der Schlacht von Raphia ist somit Folge einer Lektürestrategie, die die Tendenz von Dan 11 zur Schematisierung und damit ein wesentliches Moment der Darstellung übersieht. Denn die hier für Dan 11,11–12 beschriebene Verwendung von Grundereignissen ist in der gesamten Darstellung zu beobachten. Zu diesem Eindruck tragen auch die Wortfelder bei. Die Ereignisse werden nicht möglichst realistisch beschrieben, sondern mit Hilfe sich häufig wiederholender bzw. semantisch verwandter Begriffe. Auch die von Koch erwähnte Anonymisierung der Protagonisten folgt der Tendenz des Textes zur Schematisierung. Nach den vier persischen Königen wird nur der erste König individuell als „Heldenkönig“ hervorgehoben. Ab Dan 11,5 werden die Könige lediglich nach einem groben Raster in Nord und Süd aufgeteilt. Auf diese Weise werden aber nicht nur die Namen der Könige verschwiegen, so dass eine Verschlüsselung erfolgt. An die Stelle der individuellen Königsnamen treten mit den Bezeichnungen „König des Nordens“ und „König des Südens“ zwei Kategorien, in die alle handelnden Könige eingeteilt werden können. Die insgesamt zwölf113 in Dan 11,5–45 erwähnten seleukidischen und ptolemäischen Könige werden somit reduziert auf zwei Arten von Königen: nördliche und südliche. Statt der zwölf individuellen Könige wiederholen sich also immer wieder die beiden gleichen Bezeichnungen „König des Nordens“ und „König des 113
Ptolemaios I. Soter, Seleukos I. Nikator (Dan 11,5), Ptolemaios II. Philadelphos, Antiochos II. Theos (Dan 11,6), Ptolemaios III. Euergetes, Seleukos II. Kallinikos (Dan 11,7–9), Ptolemaios IV. Philopator (Dan 11,10–12), Ptolemaios V. Epiphanes (Dan 11,13– 19), Antiochos III. Megas (Dan 11,10–19), Seleukos IV. Philopator (Dan 11,20), Antiochos IV. Epiphanes (Dan 11,21–45), Ptolemaios VI. Philometor (Dan 11,25–27).
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Südens“, wodurch eine enorme Vereinfachung eintritt. Auf diese Weise erscheinen auch die Aktionen der Könige gleichförmig und wiederholbar. Die Anonymisierung der Könige dient also nicht nur der Verschlüsselung, sondern gleichzeitig der Schematisierung. Hinzu kommt, dass die Einteilung der Könige nach den Himmelsrichtungen ihrer Herkunft mit der Reduktion ihrer Handlungen auf Bewegungen mit Hilfe der Grundereignisse und der Verben der Bewegung korrespondiert. So, wie die Herkunftsrichtungen die individuellen Namen der Könige ersetzen, so vertreten die sehr allgemeinen Verben der Bewegung die individuellen Handlungen. Ähnlich wie durch die Klassifizierung der Könige tritt auch dadurch eine Reduktion der Komplexität des Geschehens ein, wodurch sich wiederholende, schematische Abläufe erkennbar werden. Selbst die Auswahl der Ereignisse scheint vom Ziel der Schematisierung bestimmt zu sein. So konzentriert sich die Darstellung nicht auf einmalige Ereignisse, sondern erwähnt Vorkommnisse, die sich wiederholen: Zweimal wird eine Königstochter verheiratet, zweimal wird das Verhältnis eines Königs zu Göttern thematisiert.114 Für sich betrachtet, wirkt die Auswahl dieser Ereignisse beliebig. Sie fügt sich aber sinnvoll in eine Darstellung, die Geschichte in erster Linie als zwar verwirrendes, aber doch durchschaubares Muster präsentiert. Denn indem die einzelnen Kriegszüge, Handlungen usw. der Könige mit wenigen, inhaltsarmen Verben beschrieben werden, entsteht ein Muster sich wiederholender Prozesse. Die schematische Darstellung der Ereignisse bewirkt also, dass diese, reduziert auf ihre Grundlinien, als Bestandteile einer größeren Ordnung erscheinen.115 Dieses Muster kann näher beschrieben werden. Insbesondere die Verben der Bewegung stehen zueinander in einem komplementären Verhältnis, so dass sich die einzelnen Richtungen gegenseitig aufheben. Die Bewegungen der Macht laufen in der Darstellung Dan 11 somit ins Leere. Die Schematisierung der Ereignisse macht diese also einerseits durchschaubar, qualifiziert sie aber gleichzeitig als fruchtlose Anstrengungen einer Macht, die letztendlich zum Scheitern verurteilt ist. 114
Auf die Auswahl der Ereignisse in Dan 11 nach bestimmten formalen Kriterien verweist auch LEBRAM, König Antiochus, 750f.: „Allerdings ist auch diese Geschichtsdarstellung, die in prophetischer Form gehalten ist, von der Typisierung des Frevlers, vor allem von der in Dan viii 23 ff. beeinflusst. (…) Auch die Auswahl der historischen Fakten ist von der Typisierung bestimmt (…). So berichtet die Darstellung des Antiochus in Dan xi 21–34 zwar historische Fakten über Antiochus, arrangiert aber dies Material derart, das der König wieder als der Typus zum Vorschein kommt, der vor allem in Dan viii 23 ff. vorliegt.“ 115 Für die Chronikbücher hat Peter Welten eine ähnliche Tendenz zur Schematisierung beobachtet; der Chronist arbeitet mit wenigen festen Topoi zur positiven oder negativen Charakterisierung der Könige. Vgl. WELTEN, Geschichte. Für diesen Hinweis danke ich Georg Steins.
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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Exkurs: Die akkadischen Paralleltexte zu Dan 11 Die stark schematisierende Tendenz des Daniel-Textes wird umso deutlicher, wenn man diesen Text mit zwei akkadischen Texten vergleicht: der Uruk-Prophetie116 und der Dynastischen Prophezeiung117. Diese ebenfalls in seleukidischer Zeit entstandenen,118 quasi-prophetischen Texte weisen eine große Ähnlichkeit mit Dan 11,2b – 12,3 hinsichtlich ihrer Inhalte und ihrer textlichen Gestaltung auf.119 Auch bei der Uruk-Prophetie und der Dynastischen Prophezeiung handelt es sich um schematisierte Darstellungen von Königsbiographien, wobei die Könige ähnlich wie in Dan 11 anonym bleiben. In der Uruk-Prophetie treten dabei am Ende einer Reihe negativ charakterisierter Könige zwei positiv geschilderte Herrscher auf. Bei der Dynastischen Prophezeiung scheint es sich eher um eine Aneinanderreihung anonymisierter Herrscherbiographien zu handeln, ohne dass eine klare Aufteilung in positive und negative Perioden erkennbar wäre. Dies mag auch dem im Vergleich mit der Uruk-Prophetie erheblich schlechteren Erhaltungszustand des Textes geschuldet sein.120 Während das Setting beider Texte in die neubabylonische Zeit verweist,121 zielt ihre Pragmatik auf die Zeit der Seleukiden.122 Unter der Chiffre babylonischer Herrscher werden die neuen, die seleukidischen Herrscher der ehemals babylonischen Gebiete als gerecht und verantwortungsvoll von ihren negativ geschilderten Vorgängern abgehoben. Es handelt sich also möglicherweise um eine captatio benevolentiae den griechischsprachigen Herrschern gegenüber, die diese in die große Tradition der neubabylonischen Herrscher einreiht und auf diese Weise einen Brückenschlag
116 Publiziert und übersetzt von HUNGER – KAUFMAN, A New Akkadian Prophecy Text, 371–375. 117 Publiziert und übersetzt von LONGMAN, Dynastic Prophecy, 481f.; vgl. zu beiden Texten auch LONGMAN, Fictional Akkadian Autobiography, 146–152. 118 Vgl. CANCIK-KIRSCHBAUM, Literarische Weissagungen, 4. 119 Vgl. DELCOR, L’histoire selon le livre de Daniel, 377–381; LONGMAN, Fictional Akkadian Autobiography, 170; CANCIK-KIRSCHBAUM, Literarische Weissagungen, 9. 120 LONGMAN, Dynastic Prophecy, 481: „The text is in a poor state of preservation, not having a single complete line.“ 121 Die erwähnten Könige können als assyrische und neubabylonische Herrscher identifziert werden. Allerdings weichen die Vorschläge für die Identität der einzelnen Herrscher voneinander ab. Zu den in der Uruk-Prophetie erwähnten Herrschern vgl. LONGMAN, Fictional Akkadian Autobiography, 148, zu den Königen der Dynastischen Prophetie 150. 122 Vgl. CANCIK-KIRSCHBAUM, Literarische Weissagungen, 8–10. Den Bezug der Dynastischen Prophezeiung auf die Seleukidenzeit schließt Cancik-Kirschbaum aus der anzunehmenden Länge der Tontafel, auf der der Text gefunden wurde; vgl. ebd. 10.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
zwischen der regionalen Tradition der seleukidischen Ostgebiete und der neuen Herrscherdynastie samt ihrer Kultur schafft.123 Auch wenn sich Dan 11 und diese akkadischen Texte vielfach unterscheiden, insbesondere in Bezug auf die Einschätzung der seleukidischen Herrscher und damit auf die Textpragmatik,124 bestehen doch in formaler und stilistischer Hinsicht zahlreiche Parallelen. Auffällig ist vor allem die stereotype Einführung eines neuen Herrschers mit der Formel „ein König wird erstehen“, die an die stereotype Verwendung der Wurzel dm[ – „aufstehen“ in Dan 11 erinnert. Auch die Anonymisierung der Könige und die häufige Wiederholung bestimmter Prozesse, durch die eine Herrschaft als positiv oder negativ gekennzeichnet wird, teilen die akkadischen Texte aus seleukidischer Zeit mit dem Danieltext.125 Verschiedene Versuche, eine wechselseitige Beeinflussung zwischen den akkadischen Texten und Dan 11 nachzuweisen, haben zu keinen überzeugenden Ergebnissen geführt.126 Die Ähnlichkeiten zwischen Uruk-Prophetie und Dynastischer Prophezeiung einerseits und Dan 11 andererseits bestätigen jedoch den schematischen Charakter des Daniel-Textes. Im Fall der Uruk-Prophetie läuft die Reihe der schematisch dargestellten Könige auf zwei positiv geschilderte Herrscher zu. Diese heben sich von der dunklen Hintergrundfolie ihrer Vorgänger leuchtend ab. Durch die Darstellungsform entsteht also ein klar erkennbares Positiv-Negativ-Schema, das die Aussage des Textes, nämlich das Auftreten gerechter und fähiger Herrscher nach einer langen Zeit der Missregierung, unterstreicht. Die Herrschaft der letzten erwähnten Könige erscheint so nicht nur als positiv konnotiert, sondern als seit langer Zeit und geradezu sehnsüchtig erwartet. Auf diese Weise wird der Text mit einer eindeutigen Werthaltung versehen, was seine angenommene Pragmatik, die Gunst der seleukidischen Herrscher zu erwecken,127 verstärkt. Die Schematisierung in der Uruk-Prophetie ist also keine zufällig gewählte oder traditionell für divinatorische Texte überlieferte Form, sondern erfüllt einen ganz bestimmten Zweck. Sie dient als Methode, 123
Vgl. CANCIK-KIRSCHBAUM, Literarische Weissagungen, 21. Vgl. hierzu auch BALDWIN, Some Literary Affinities, 92f. 125 Vgl. LONGMAN, Fictional Akkadian Autobiography, 169. 126 Vgl. LONGMAN, Fictional Akkadian Autobiography, 167–170; vgl. auch BALDWIN, Some Literary Affinities. Allerdings gehen die bei Longman referierten Ansätze von einer Datierung der Texte in die neubabylonische Zeit aus. Angesichts der Datierung von UrukProphetie und Dynastischer Prophezeiung in die Seleukidenzeit wirft die auffällige Parallelität dieser Texte mit Dan 11,2b – 12,3 möglicherweise ein Licht auf das Entstehungsmilieu des Danielbuches. So geht beispielsweise REDDITT, Daniel 11, 470–473, allerdings ohne die akkadischen Paralleltexte zu berücksichtigen, von einer anfänglichen Nähe der Danielverfasser zur seleukidischen Oberschicht aus. Diese These findet durch die akkadischen Texte aus der Seleukidenzeit Unterstützung. 127 Vgl. CANCIK-KIRSCHBAUM, Literarische Weissagungen, 21. 124
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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um die seleukidischen Herrscher in das rechte Licht zu rücken und von ihren Vorgängern abzusetzen. Aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes kann die Haltung, die die Dynastische Prophezeiung gegenüber den seleukidischen Herrschern einnimmt, nicht erschlossen werden. Denkbar sind sowohl eine wertschätzende – wie im Fall der Uruk-Prophetie – als auch eine ablehnende Haltung. Klar aber ist, dass auch die Dynastische Prophezeiung die Reihung schematisierter Königsbiographien zur Auseinandersetzung mit den Herrschern der Gegenwart nutzt. Die Nähe von Dan 11 zu diesen Texten macht plausibel, dass auch die redundanten Formulierungen in Dan 11 nicht einfach der mangelnden Sprachkompetenz des Autors geschuldet sind, der nur „Allerweltswörter“ beherrscht. Vielmehr wird auch hier die Methode der Schematisierung gezielt angewandt, um mit Hilfe des so entstehenden Musters das Verhalten des Herrschers der Gegenwart angemessen einordnen und bewerten zu können. *** Die Erkenntnis, dass Dan 11 wesentlich durch Schematisierungstendenzen geprägt wird, wirkt sich auch auf die Beurteilung der Verse Dan 11,40–45 als „echte Prophetie“ aus. Da diese Verse keine historischen Bezugspunkte im 2. Jahrhundert v.Chr. aufweisen, handelt es sich dabei nicht mehr um ex-eventu-Prophetie, die im Gewand der Vorhersage vergangene Ereignisse beschreibt, sondern um tatsächliche Zukunftsansage. Dieser Umstand führt häufig dazu, Dan 11,40–45 von den vorhergehenden Versen abzugrenzen und einen Bruch im Text anzunehmen.128 In diesem Sinn merkt von Rad an: „Die kritische Forschung hat in Dan. 11 immer auf den Übergang von v. 39 zu v. 40 hingewiesen, jene Bruchstelle, wo das vaticinium post eventum in echte Weissagung übergehe. Damit wird aber die Meinung des Apokalyptikers verschleiert, denn für ihn ist alles Weissagung. Die (für ihn schon) abgelaufene Geschichte ist ebenso wie das Zukünftige aus den alten prophetischen Schriften als ein ganzer von Gott geweissagter Geschichtsablauf offenbar geworden.“129
Dagegen weist Meadowcroft mit Hilfe einer literarischen Analyse der Verse im Kontext des gesamten Textes nach, dass die in Dan 11,2b–39 entwickelten Linien auch über V. 40 hinaus weiterlaufen und somit kein Bruch im Text nachweisbar ist.130 Auch hinsichtlich der historischen Pragmatik des Textes muss die schematisierende Tendenz von Dan 11 berücksichtigt werden. Nach der Logik des vaticinium ex eventu schöpfen insbesondere die Verse Dan 11,40–45 und in ihrer Folge Dan 12,1–3 ihre Glaubwürdigkeit aus dem Umstand, 128 129 130
Siehe oben Kapitel II. 3.2.1. VON RAD, Daniel und die Apokalyptik, 327. Vgl. MEADOWCROFT, History and Eschatology, 248–250.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
dass die Vorhersagen des Textes einschließlich V. 39 so auch tatsächlich eingetroffen sind. Die Leserinnen und Leser, die aus dem so verstandenen Text Trost und Hoffnung schöpfen, müssen also aus heutiger Sicht als „Opfer“ eines frommen Betrugs antiker theologischer Schriftsteller gelten. Wird der Text jedoch in seiner schematischen Qualität wahrgenommen, erscheinen die Verse 40–45 als plausible Fortsetzung der zuvor geschilderten Ereignisse. So fasst Meadowcroft zusammen: „In those literary terms there is a clear continuation of events into the anticipated future. They reflect the trends that are seen in the ongoing tussle between the Hellenist kingdoms while pointing towards a larger significance and culmination in a future that may be glimpsed in only the broadest outlines.“131
Als einzelne Elemente, die sich aus den in 11,2b–39 geschilderten Vorgängen in V. 40–45 wiederfinden, nennt Meadowcroft die fortschreitende Expansion des nördlichen Königs (V. 42–43), die als Tendenz bereits in V. 2b– 39 zu erkennen war, die Plünderung von Tempeln zur Finanzierung der seleukidischen Militärkampagnen (V. 43; vgl. V. 24), die generell destruktive Stimmung des Textes sowie die negative Charakterisierung der Könige, die in V. 40–45 ihren Gipfel erreicht.132 „Perhaps most significantly for the visionary, the vision narrative of chapter 11 has thrown up a number of hints that the tussle between the kings of the North and the South spells ongoing trouble for the people of the covenant (vv. 14, 16, 22, 28). These hints become increasingly explicit as the focus narrows onto the career of Antiochos IV Epiphanes (vv. 31–35). The prophetic visionary anticipates that this state of affairs will continue. The culmination will be that the king of the North establishes himself on the ‚beautiful Land‘ itself (v. 16) ‚between the sea and the beautiful holy mountain‘ (v. 45). In this way, the impact of events on the faithful ones and their land will be increasingly sharply felt“.133
Aus der Geschichte der Könige, wie sie in der Vergangenheit erfahren wurde, lässt sich auch die Zukunft ableiten. Das Ende des letzten Königs entspricht dem Schema, das an seiner Biographie und der seiner Vorgänger entwickelt wird. Auch die Ereignisse am Ende lassen sich daraus bestimmen.134
131
MEADOWCROFT, History and Eschatology, 249f. Vgl. MEADOWCROFT, History and Eschatology, 248f. 133 MEADOWCROFT, History and Eschatology, 249. 134 Ähnlich argumentiert Goldingay, der aber nicht von der Schematisierung auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung ausgeht, sondern von den zahlreichen biblischen Bezügen des Textes. „Nor is it the case that the mere – pretended! – ability to predict the future in 11:2–39 gives grounds for believing the actual prophecy in 11:40–12:3. It is rather the quasi-predictions’ ability to make sense of the past by relating it in the light of Scripture that implies grounds for trusting the actual prophecy’s portrait of what the fu132
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
235
Der Unterschied zu häufig anzutreffenden Deutungen liegt in der pragmatischen Funktion, die dem vaticinium ex eventu zugeschrieben wird. Wie bereits gezeigt, gehen viele historisch-kritische Auslegungen davon aus, dass die Gestalt des Textes als himmlische Prophezeiung und die Tatsache, dass große Teile davon in der Perspektive des 2. Jahrhunderts v.Chr. bereits eingetreten sind, die noch in der Zukunft liegenden Teile der Ankündigung ebenfalls als zuverlässig erscheinen lassen und deshalb tröstend auf die bedrängten Leserinnen und Leser zu wirken vermögen.135 Goldingay kritisiert diese Argumentation und merkt an, dass auch für die Erstleserinnen und -leser des Danielbuches offensichtlich gewesen sein dürfte, dass der als himmlische Offenbarung präsentierte Text nicht von einem exilischen Daniel empfangen worden war136: „There is no evidence to tell us how many of the author’s contemporaries or how many among whom the book soon became popular misunderstood quasi-predictions as actual predictions, or to establish whether the author intended them to do so in order to get his work taken seriously.“137
Die Plausibilität des Danieltextes als authentische Offenbarung, so Goldingay weiter, ergebe sich nicht allein aus dem Anspruch, dass es sich dabei um eine ebensolche Offenbarung handle.138 Wird jedoch der schematische Charakter von Dan 11 stärker berücksichtigt, ergibt sich die Zukunft als Folge aus dem bereits in der Vergangenheit beobachteten Muster. Die antiken Leserinnen und Leser müssen in dieser Lesart nicht als naive Opfer eines theologischen Kunstgriffs betrachtet werden, sondern erscheinen als Subjekte theologischer Reflexion über den Lauf der Geschichte, aus der sich in der schwierigen Situation unter Antiochos IV. gewiss auch Trost ergibt. In diesem Sinn lässt Goldingay den „Daniel des Textes“ sagen: „(…) I was offering people a way of seeing order in the cosmos (…)“139. Diese „Ordnung im Kosmos“ macht Goldingay an den zahlreichen biblischen Anspielungen, die Dan 11 enthält, fest. Der Sinn der Ereignisse erschließt sich demnach im Licht der Schrift.140 Doch auch die in der vorliegenden Studie herausgearbeiteten Schematisierungstendenzen, mit denen die Ereignisse in Dan 11 präsentiert werden, können als ein solches Angebot an die Leserinnen und Leser, Sinn in den erlebten Ereignissen zu sehen, verstanden ture will bring, painted in the light of the same Scripture“; GOLDINGAY, Daniel 1989, 285; vgl. ferner 310–312. 135 Vgl. z.B. die bereits in Kapitel II. 1.3.1 zitierte Einschätzung von BRINGMANN, Hellenistische Reform, 30f. 136 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 310f. 137 GOLDINGAY, Daniel 1989, 283. 138 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 311. 139 GOLDINGAY, Daniel 1989, 311. 140 Siehe oben Kapitel II. 4.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
werden. Durch die Darstellung der Geschichte der Könige und ihrer Macht als Muster sich wiederholender Ereignisse erscheint diese Geschichte als verständlich. 9.1.2 Fokussierung Die Gestaltung der Textoberfläche von Dan 11,2b – 12,3 bewirkt jedoch nicht nur eine Schematisierung der Darstellung, sondern trägt gleichzeitig dazu bei, dass der Text bestimmte Inhalte betont. Dies ist vor allem Resultat der Wortfelder mit ihren semantisch verwandten und redundant verwendeten Begriffen. Durch die Verknappung des lexikalischen Materials und die damit notwendigen Wiederholungen bestimmter Begriffe entstehen Muster wiederkehrender Vorgänge. Darüber hinaus bündeln die Wortfelder die geschilderten Ereignisse auch zu bestimmten Themen. Dies wird umso deutlicher in Abgrenzung von einer Lektüre des Textes, die in erster Linie nach den historischen Bezugspunkten der geschilderten Ereignisse fragt und den Text insgesamt als vaticinium ex eventu zum Zwecke der Ermutigung seiner Erstleserinnen und -leser interpretiert. Demgegenüber wird aufgrund des close reading ersichtlich, dass der Text nicht die Ereignisse in den Vordergrund stellt, sondern durch die Konzentration des Wortschatzes bestimmte Themenfelder betont. Auch hier greift die Logik des vaticinium ex eventu zu kurz. Die Schilderung dieser Geschichte als verschlüsselte Vorhersage aus dem Mund eines himmlischen Boten ist nicht nur die formale Verpackung, aus der sich unmittelbare Auswirkungen auf die Pragmatik des Textes für die ersten Leserinnen und Leser ergeben. Nicht die einzelnen Ereignisse, die von den Leserinnen und Lesern zu identifizieren sind, stehen im Vordergrund, sondern bestimmte Themen. Dan 11 fokussiert auf die Frage der Macht und deren Folgen, auf die Rolle der Könige als Protagonisten der Macht, auf die Interaktion zwischen der Sphäre der Macht und der Sphäre des Göttlichen, auf das Verhältnis zwischen dem Streben nach Macht und dem Streben nach Verständnis sowie das Verhältnis zwischen Prozessen der Macht und der ablaufenden Zeit. Das close reading ergab außerdem, dass die Wortfelder nicht gleichmäßig über den Text verteilt sind, sondern Begriffe einzelner semantischer Felder immer wieder gedrängt in begrenzten Textbereichen begegnen. Diese Bereiche sind zudem sprachlich intensiv gestaltet, beispielsweise durch sich wiederholende syntaktische Strukturen. Diese Tendenz des Textes, thematische Cluster zu bilden, trägt ebenfalls zur Fokussierung bei und intensiviert diese. Die thematische Fokussierung ist Teil der radikalen Vereinfachung, der die Ereignisse in Dan 11 unterliegen. Sie trägt zusammen mit dem Prinzip
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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der Schematisierung dazu bei, dass die Strukturen der Geschichte holzschnittartig zu Tage treten. Auf die Bedeutung dieser Fokussierungen für die Gesamtaussage des Textes wird im Zusammenhang mit den inhaltlichen Schwerpunkten noch einzugehen sein. 9.1.3 Verdunkelung In seiner oben zitierten Einschätzung bezeichnet Koch Dan 11,2b – 12,3 als verschlüsselten Text, dessen Andeutungen jedoch von zeitgenössischen Leserinnen und Lesern mühelos übersetzt werden können. Die teilweise unklaren Formulierungen des Danieltextes sind demnach Bestandteil des Textkonzepts als vaticinium ex eventu. Der Eindruck der Unklarheit und Verschleierung, den der Text insgesamt erweckt, lässt sich dabei auf mehrere Gestaltungsprinzipien zurückführen. Auf die Anonymisierung der handelnden Personen, insbesondere der Könige, wurde bereits im Zusammenhang mit der Tendenz des Textes zur Schematisierung eingegangen. Dadurch treten an die Stelle der individuellen Könige wiederkehrende Typen, deren Handlungen sich zu Mustern zusammenfügen. Gleichzeitig aber wird das Individuum durch eine allgemeinere Umschreibung ersetzt. Darüber hinaus werden die handelnden Personen in Dan 11 häufig gar nicht mehr explizit genannt, sondern nur noch durch implizite Subjekte der jeweiligen Verbformen repräsentiert. Bei einem normalen Lesevorgang wird häufig nicht klar, auf welchen der einige Verse zuvor eingeführten Akteure sich solche Verbformen beziehen. Um dies herauszufinden, ist eine bewusste Analyse der Textpassage notwendig. Ein Beispiel dafür ist V. 9a. Hier, so Hasslberger, „wechselt offenbar das S[ubjekt]. (…) Daß auf diese Weise ein neues S[ubjekt] eingeführt wird, hängt wahrscheinlich zusammen mit der schon öfter festgestellten Unschärfe der Darstellung.“141 Ähnlich unklar sind die Bezugspunkte von Verbformen und Pronominalendungen beispielsweise in V. 13c und V. 17c–e. Die Tendenz des Textes zu unklaren Formulierungen war jedoch nicht nur im Zusammenhang mit den anonymisierten Königen zu beobachten. Mehrfach fiel im Laufe des close reading von Dan 11 auf, dass bestimmte Vorgänge zwar mit Hilfe eines Grundereignisses oder Leitwortes ausgedrückt werden, diese aber inhaltlich kaum bestimmt werden können. Dies war beispielsweise der Fall bei den Formen von dm[ in V. 8b.14b.31a sowie im Zusammenhang mit qzx in V. 6e. 141
HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 220f. Vgl. auch 215. In diesem Zusammenhang verweist Hasslberger auf die Einschätzung von BEHRMANN, Buch Daniel, 73: „Dass das Subjekt hier und mehrfach im Folgenden errathen werden muss, giebt der Darstellung umso mehr den beabsichtigten Charakter eines Schattenspiels, das nur für den Eingeweihten verständlich sein soll.“ Dies erscheint Hasslberger aber eher fraglich.
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Auch in den anderen Wortfeldern begegnen zahlreiche Beispiele für unklare Textstellen. So können im Wortfeld „Macht“ die Bedeutung von @qtb in V. 17a und von [wrz in V. 6c nicht genau festgelegt werden. Das Wortfeld „Religion“ ist geprägt durch Umschreibungen wie vdq tyrb – „heiliger Bund“, ybch #ra – „Land der Zierde“ und ~mwvm #wqv – „verwüstende Abscheulichkeit“. Hinzu kommt die Verwendung der Zeitbegriffe hnv und ~wy im Plural, die eine genaue zeitliche Festlegung der geschilderten Prozesse gerade verhindert. Zur allgemeinen Unschärfe von Dan 11 tragen neben den unklaren Bezügen innerhalb des Textes und den oft wenig konkreten Formulierungen schließlich auch diejenigen Textstellen bei, die durch die Textüberlieferung zwar zuverlässig belegt sind, aufgrund ihrer Unzugänglichkeit jedoch zugunsten einer besseren historischen Verständlichkeit geändert werden.142 Es scheint mir wenig überzeugend, dieses offensichtliche Bestreben, die im Text dargestellten Vorgänge durch unklare Formulierungen zu verschleiern, allein als technischen Bestandteil des vaticinium ex eventu zu verstehen, wie dies etwas Koch vorschlägt. „Could there be a counter-argument“, fragt Pyper, „that the difficulty may be the point and the interpretative traditions which have seen it as their business to simplify and harmonize complexities may be the problem?“143 Die Schwierigkeit des Textes ist der springende Punkt. Dan 11 zeichnet sich durch eine Tendenz zur Verdunkelung aus, deren Zweck es gerade nicht ist, durch den kundigen Leser entschlüsselt zu werden.144 Diese erfüllt mehrere Funktionen. Die Anonymisierung der Könige bewirkt neben der Bildung schematischer Muster eine Öffnung des Textes auf verschiedene Identifikationsmöglichkeiten hin. In seiner literarischen Analyse von Dan 11,40–45 kommt Meadowcroft zu dem Ergebnis, dass in der Figur des letzten nördlichen Königs die Charakterzüge aller seiner Vorgänger und die durch sie etablierten Handlungsmuster zusammenlaufen. Er fährt fort: „Furthermore, given that the king of the North is a composite identification of the Seleucid emperors throughout chapter 11, there is nothing in these final verses of the chapter that requires the interpreter to read the king of the North as Antiochus IV. (…) In other words, the maintenance of the kings of the North / South terminology permits a degree of multivalence at this point, which is best appreciated in literary terms.“145
142
Siehe oben Kapitel II. 3.2.2. PYPER, Reading in the Dark, 486. 144 Vgl. auch HASSLBERGER, Hoffnung in der Bedrängnis, 288: „Man wird die Unschärfe aber nicht auf die Unbedarftheit des Verfassers, sondern auf seine Aussageabsicht zurückführen müssen.“ 145 MEADOWCROFT, History and Eschatology, 249. 143
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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Die Anonymisierung der Könige macht die geschilderten Vorgänge also einerseits weniger eindeutig, lässt aber andererseits eine Vielzahl möglicher Deutungen dieser Figuren zu. Die bewusste Verdunkelung hat somit zur Folge, dass sich der biblische Text wie ein Formular auf verschiedene Situationen hin öffnet. Mit seiner stilistischen Eigenart schließt Dan 11 ferner an divinatorische Texte an, die zur gleichen Zeit in anderen ptolemäischen bzw. seleukidischen Gebieten entstanden sind. Hierzu zählen die bereits erwähnten akkadischen Paralleltexte, aber auch Texte wie das aus Ägypten stammende Töpferorakel oder Teile der Sibyllinen-Orakel.146 Ob Dan 11 für seine zeitgenössischen Leserinnen und Leser dadurch als authentischer Offenbarungstext wirkte oder durchaus als Text im Stile einer Offenbarung – wie die ägyptischen oder akkadischen Parallelen auch –, lässt sich aus heutiger Perspektive nur schwer entscheiden.147 Neben diesen möglichen technischen Effekten besitzt die Tendenz zur Verdunkelung jedoch auch eine inhaltliche Funktion. Pyper unterscheidet im Anschluss an George Steiner vier Möglichkeiten, nach denen ein Text schwierig sein kann. Als kontingent schwierig bezeichnet er Texte, deren Unverständlichkeit mit Hilfe eines Wörterbuches oder Lexikons überwunden werden kann. Modal schwierig wird ein Text aufgrund des gedanklichen oder sprachlichen Abstands, welcher die Welt des Textes von der Welt seiner Leserinnen und Leser trennt. Taktisch schwierig ist ein Text, dessen Inhalte bewusst verschleiert werden, beispielsweise, um eine Zensurbehörde zu umgehen. In ontologischer Hinsicht schwierig ist ein Text schließlich, „when the text is not intended to be understood because the very nature of understanding and interpretation is being called into question.“148 Als Beispiel für solche ontologisch schwierigen Texte führt Pyper Gedichte von Paul Celan an. Die Unverständlichkeit eines solchen Textes ist also einerseits beabsichtigt, andererseits nicht auflösbar. Zur Unterscheidung von taktisch und ontologisch schwierigen Texten führt Pyper weiter aus: „Can we distinguish tactical from ontological difficulties in such texts? (…) In the case of tactical difficulty, the presumption is that at some point the tactics will succeed. The meaning of the text is designed to be understood by some readers, but concealed from 146
Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 761–765; LEBRAM, Buch Daniel, 112. Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 282: „These texts are for the most part not actual prophecy but quasi-prophecy. (…) The formulae and the detail compare with Daniel; so does the anti-Hellenistic nature of instances from the later period. (…) Like other parts of the OT, Dan 11 must be seen against its ancient Near Eastern background, and this material makes clear that the Danielic visions, too, in their context could only be understood as mostly quasi prediction.“ 148 PYPER, Reading in the Dark, 488. 147
240
Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
others. (…) If the difficulty of the text is ontological, however, any reader who claims to have understood the message has in fact misread the text.“149
Im Verständnis von Koch, der die Unverständlichkeit des Danieltextes als Chiffrierungstechnik versteht, deren Zweck es ist, von den kundigen Leserinnen und Lesern dechiffriert zu werden, wäre die Schwierigkeit des Textes nach den von Pyper benannten Kriterien als taktische Schwierigkeit zu verstehen. Demgegenüber geht Pyper davon aus, dass schwierige Situationen schwierige Texte nicht nur hervorbringen, sondern geradezu brauchen. So formuliert er mit Blick auf das Buch Sacharja: „Zechariah is a difficult text – how else might difficult people in a difficult world engage with their difficult God?“150 In diesem Sinn könnte auch Dan 11 als Text verstanden werden, der nicht nur taktisch schwierig ist, d.h. dessen Schwierigkeit dazu dient, den Text als authentische Offenbarung zu präsentieren, sondern dessen Schwierigkeit für den Text konstitutiv ist. Pyper führt die Schwierigkeit des Sacharjabuches auf die Schwierigkeiten seiner Verfasser und Leser zurück, frühere Prophetenbücher adäquat als Heilige Schrift zu begreifen. Das Ringen um einen Zugang zu den unverständlich gewordenen Prophezeiungen beispielsweise des Jeremiabuches schlägt sich im Sacharjabuch nieder, das so gleichzeitig buchgewordener Leseprozess und inspirierte Schrift ist.151 „They are hard to read because they were hard to write, and they were hard to write because their writing was a product of the attempt to read and to comment on other texts which were or had become difficult to read.“152
Für Daniel besteht die Schwierigkeit in Dan 10 – 12 hingegen darin, den Lauf der Geschichte und die Rolle des Gottesvolkes Israel in dieser Geschichte (Dan 10,14) und angesichts des „Tobens der Völker“153 zu verstehen.154 Diese Geschichte ist dunkel, einerseits aufgrund der narrativen Situation, in der sie entfaltet wird, andererseits in pragmatischer Hinsicht für die Leserinnen und Leser des Textes. Die narrative Einbindung von Dan 11,2b – 12,3 in die Schlussvision des Danielbuches Dan 10 – 12 präsentiert den Text als Bestandteil eines Offenbarungsgeschehens und als Zukunftsansage. Die Begegnung mit dem himmlischen Boten verwirrt Daniel. Der 149
PYPER, Reading in the Dark, 488. PYPER, Reading in the Dark, 503. 151 Vgl. PYPER, Reading in the Dark, 491–503. 152 PYPER, Reading in the Dark, 487; vgl. ebd. 503: „Is the violence of the language (…) also violence against language, showing the difficulty, not the ease, of divine-human communication?“ 153 Vgl. Ps 2,1; s.u. Kapitel V. 5. 154 Darin unterscheidet sich die Schlussvision von Dan 9, wo es um das adäquate Verständnis der Schrift, insbesondere von Jer 29,10 geht; vgl. PYPER, Reading in the Dark, 491f.; vgl. auch GOLDINGAY, Daniel 1989, 285. 150
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Blick in die Zukunft kann daher für ihn nur schemenhaft sein.155 Beides findet Ausdruck in der Unschärfe des Textes. Aber auch die ersten Leserinnen und Leser befinden sich in einer Situation der Verwirrung und existenziellen Erschütterung. Die angesichts von Fremdherrschaft und religiösen Übergriffen unverständlich gewordene Gegenwart spiegelt sich in Daniels Verwirrung und in der Gestalt des Textes. Auf diese Weise entsteht eine Spannung zu dem oben beschriebenen Gestaltungsprinzip der Schematisierung. Dan 11 ist beides: schematisch und schemenhaft, ein Angebot, Ordnung im Chaos zu schaffen, und ein Ausdruck der Verwirrung. Auf dieses gestalterische Paradox wird im Zusammenhang mit den inhaltlichen Schwerpunkten des Textes noch weiter einzugehen sein. 9.2 Inhaltliche Schwerpunkte Die Gestaltungsprinzipien von Dan 11,2b – 12,3 interagieren auf mehreren Ebenen mit dem Inhalt des Textes. Auf der Ebene der Darstellung unterstreicht die sprachliche Gestaltung zunächst bestimmte Inhalte und rückt sie in den Vordergrund. Daraus lassen sich als weitere Ebene bestimmte Werthaltungen ablesen, mit denen der Text die Ereignisse präsentiert. Aus dem Zusammenspiel von Inhalt und sprachlicher Form ergibt sich eine komplexe Aussage des Textes, die nicht nur die Darstellung der verarbeiteten Ereignisse umfasst, sondern diese auch kommentiert und bewertet und ihre Leserinnen und Leser so zu bestimmten Haltungen motiviert. 9.2.1 Grenzenlose Macht – Ziellose Macht Auf der inhaltlichen Ebene bietet Dan 11,2b – 12,3 eine Schilderung der Geschehnisse, die Daniels Volk am Ende der Zeit erleben wird (vgl. Dan 10,14). Darin spiegeln sich historische Ereignisse aus der Zeit der Diadochenstaaten, wobei der Schwerpunkt auf den Regierungszeiten der Seleukiden Antiochos III. Megas und Antiochos IV. Epiphanes liegt. Wie bereits erläutert, handelt es sich bei dieser Schilderung nicht einfach um eine lineare Abfolge unterschiedlicher Ereignisse. Die Darstellung erfolgt vielmehr unter einem klaren Fokus. Im Mittelpunkt von Dan 11 steht die Frage der Macht und ihrer Mechanismen. Dies wird bereits deutlich an der Auswahl der Ereignisse: Kriegszüge und politische Heiraten, Schlachten und Belagerungen, Aufstände und deren Niederschlagung. Noch deutlicher rückt die sprachliche Gestaltung von Dan 11 die Frage der Macht als das Hauptthema in den Vordergrund der Darstellung. Kein anderes semantisches Feld ist so breit gestreut und damit so präsent im 155
Siehe unten Kapitel IV. 2.3 und IV. 4.2.
242
Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Text wie das Wortfeld „Macht“ mit seinen verschiedenen Untergruppen. Durch die Verknüpfung des semantischen Feldes „Macht“ mit dem Wortfeld „Bewegung“ wird die Macht in Dan 11 zudem als dynamische Größe skizziert. Die Bewegungen der Macht erstrecken sich in alle denkbaren Richtungen, ihre Protagonisten ziehen hin und her, erheben sich und bringen andere zu Fall, bevor sie schließlich selbst abstürzen. Die Mechanismen der Macht werden auf diese Weise als allumfassend und alles beherrschend dargestellt. Diese sprachliche Omnipräsenz der Macht spiegelt sich in der inhaltlichen Ausprägung der einzelnen Ereignisse wider. Dies wird insbesondere deutlich im Verhältnis der Machtträger gegenüber Göttern im Allgemeinen und dem Gott Israels im Besonderen. Was für jede irdische Macht eine Art natürliche Grenze bildet, wird von den Königen in Dan 11 als Repräsentanten der Macht nicht respektiert. Die Verschleppung der Götter in V. 8 ist nur ein Vorbote für das Verhalten des letzten Königs gegen das Heiligtum, den Gott der Götter und jeden Gott. Die Mechanismen der Macht machen in ihren Repräsentanten, den Königen, auch vor den Ausdrucksformen der Religion und vor Gott nicht halt. Auch die Angehörigen von Daniels Volk werden in ihren Strudel gezogen, ohne sich dagegen wehren zu können. Doch Dan 11 ist mehr als die auf den Aspekt der Machtpolitik zugespitzte Darstellung historischer Prozesse. Mit Hilfe der sprachlichen Gestaltung werden die Prozesse der Macht auch kommentiert und bewertet. Durch die im Wortfeld „Macht“ verwendeten Metaphern und durch die Verknüpfung des Wortfeldes „Macht“ mit dem Wortfeld „Zerstörung“ wird die Haltung, die Dan 11 gegenüber dem alles beherrschenden Treiben der Mächtigen einnimmt, mehr als deutlich. Die Mechanismen der Macht werden als zerstörerische, vernichtende Gewalt wahrgenommen und sind damit klar negativ qualifiziert. Diese negative Bewertung der Macht stellt eine erste Ebene der textinternen Kommentierung dar. Eine weitere Ebene der Kommentierung wird durch die Einbettung der Ereignisse in Schemata konstituiert: Indem die Prozesse der Macht in Form von schematisch ablaufenden Bewegungen dargestellt werden, erfolgt nicht nur eine Dynamisierung der Macht, sondern gleichzeitig ihre implizite Überwindung. Denn die horizontalen und vertikalen Bewegungen greifen nicht zielgerichtet ineinander, sondern sind gegeneinander gerichtet. Auf die Bewegung nach vorne erfolgt die Rückkehr, auf den Aufstieg der Fall. Die von den Königen ausgeführten Bewegungen der Macht wirken daher trotz all ihrer Dynamik orientierungslos. In letzter Konsequenz heben sie sich wechselseitig auf, so dass am Ende kein Ergebnis greifbar wird. Besonders deutlich wird dies anhand der in Dan 11,10–19 verwendeten Verben der horizontalen Bewegung: Während der König sich zunächst aufstellt (V. 16c) und dabei alle Gegenkräfte zu Fall bringt (V. 15d.e.16b.
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
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17e), ist es am Ende seiner Regierungszeit er selbst, der stürzt (V. 19b.c). In der gegenseitigen Aufhebung der Bewegungen der Macht kommt deren ganze Sinnlosigkeit und Nichtigkeit zum Ausdruck. Die aufgeregte Dynamik der Macht läuft ins Leere, vom beeindruckenden Gebäude der Macht bleiben – in der Bildwelt von Dan 2 gesprochen – nur Trümmer übrig. Damit aber erscheinen die Mechanismen der Macht nicht nur in doppelter Hinsicht als negativ, sondern gleichzeitig als überwunden. Die Darstellung entlarvt die Sinnlosigkeit des Treibens der Könige, das zwar die ganze Welt in Atem hält, aber letztendlich keinen Bestand hat. Von einer solchen Macht braucht sich niemand beeindrucken zu lassen. Die Art und Weise, mit der die Ereignisse in Dan 11 dargestellt werden, besitzt somit durchaus subversives, befreiendes und ermutigendes Potenzial. Wer diese Darstellung der Mächtigen und ihrer Taten liest, muss sich nur auf den ersten Blick fürchten. Auf den zweiten Blick erweist sich die als überwältigend erscheinende Macht bereits selbst als überwunden. Es wird deutlich, dass es sich bei Dan 11 in der Tat um Widerstandsliteratur handelt. Allerdings erfolgt die Ermutigung der Leserinnen und Leser anders als im Rahmen einer enggeführten Hermeneutik des vaticinium ex eventu. Nicht nur die Hoffnung auf das angekündigte Ende der zerstörerischen Macht der Könige tröstet und ermutigt, sondern die Darstellung der Macht selbst enthält ein befreiendes Potenzial. Die Leserinnen und Leser können mit Hilfe von Dan 11 die Geschichte der Macht als ergebnisloses und destruktives Treiben erkennen und sich aus deren Umklammerung lösen. Diese Ausrichtung des Textes wird durch die beiden anderen inhaltlichen Schwerpunkte bekräftigt und weiter präzisiert. Die Darstellung der alles beherrschenden Macht, die den Keim zu ihrer Überwindung bereits in sich trägt, wird ergänzt durch zwei konkrete Gegenstrategien zu den Mechanismen der Macht: das Streben nach Verständnis und das Ablaufen der Zeit. 9.2.2 Verstehen als Gegenentwurf Neben der Entlarvung der Macht als sinnloses Treiben schlägt Dan 11,2b – 12,3 eine aktive Gegenstrategie gegen die alles beherrschenden und zerstörerischen Mechanismen der Macht vor. Widerstand bedeutet, nach Verständnis zu streben. Dies wird auf der Ebene der Textgestaltung anhand des Wortfeldes „Verstehen“ deutlich. Die Verben des Verstehens, !yb und [dy, beschreiben das Verhalten bestimmter Akteure, während anderen Akteuren diese Handlungsweisen hingegen dezidiert abgesprochen werden. Hier begegnet ein weiteres Mal die schematisierende Tendenz des Danieltextes. Die positiven und negativen Prozesse des Verstehens werden den Königen als Protagonisten der Macht und ihren Gegenspielern eindeutig zugeordnet: Der letzte Kö-
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Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
nig wird dezidiert als derjenige beschrieben, der „nicht versteht“ (V. 37a.b). Ihm gegenüber stehen die ~ylykfm – „die Einsichtigen“, für die das Verstehen und die Weitergabe ihrer Einsicht so charakteristisch ist, dass die Tätigkeitsbeschreibung lykfm in Dan 11,2b – 12,3 die Funktion eines Eigennamens übernimmt (11,33a.35a; 12,3a). Verstehen und Macht im Sinne einer zerstörerischen, kriegerischen Herrschaftsmacht in der Hand der Könige stehen einander diametral gegenüber und schließen einander aus. Die auf die Regierungszeit des letzten Königs zulaufende Dynamik des Textes unterstreicht diese Gegenüberstellung zusätzlich. Auf der Ebene der Textgestaltung erscheint diese mit V. 21 beginnende Zeit als Zeit, in der über das richtige und das falsche Verstehen entschieden wird. Alle Belege des Wortfeldes „Verstehen“ begegnen in Dan 11,21–45. Der Prüfstein, an dem sich das richtige und das falsche Verstehen entscheidet, ist das Verhalten gegenüber den himmlischen Mächten. Auch dieses Thema erfährt seine stärkste Verdichtung in der Regierungszeit des letzten Königs, Dan 11,21–45. Dass der letzte König kein lykfm, kein Einsichtiger ist, sondern „nicht versteht“ (!yby al), wird deutlich an seinem falsch ausgerichteten Erkenntnisstreben auf diejenigen, welche den heiligen Bund verlassen (11,30g), und an dem Verhalten, das er gegenüber dem Gott der Götter (11,36d), gegenüber den Göttern seiner Väter (11,37a.38b) und überhaupt gegenüber allen Göttern an den Tag legt (11,37b). Für die ~ylykfm hingegen, die „Einsichtigen“, wird diese Zeit zur Zeit der Prüfung und Läuterung. Erst in der mit dem Ende des letzten Königs (11,45) beginnenden Zeit des Endes erweist sich, dass die Entscheidung der ~ylykfm richtig gewesen ist, dass sie letztendlich „Erfolg haben“.156 Im Gegensatz zum König, der zu seinem Ende (wcq) kommt, ohne einen Helfer zu finden, haben die ~ylykfm auf Dauer (~lw[) Bestand. Ihre nachhaltige Strategie tritt schließlich offen für alle zu Tage: Sie glänzen wie der Glanz der Himmelswölbung und wie die Sterne (12,3). Diese inhaltliche Schwerpunktsetzung korrespondiert mit der formalen Gestaltung des Danieltextes. Die schematisierende Darstellung der an sich chaotischen Ereignisse ist bereits ein Beleg, dass der Lauf der Geschichte verstanden worden ist, dass im Chaos Muster erkennbar sind, so dass auf einer höheren Ebene bereits die (Neu-)Ordnung sichtbar wird. Durch diese Art der Darstellung wird deutlich, dass die Mechanismen der Macht durchschaut und damit auch überwunden sind. Denn die Muster der Macht laufen auf die Aufhebung der Machtbewegung, die Entkräftung ihrer Protagonisten hinaus.
156
II. 4.
lykfy – vgl. Jes 52,13; zu den innerbiblischen Bezügen von Dan 11 siehe Kapitel
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Der Text spricht somit aus einer Position, die verstanden hat, die sozusagen den Durchblick hat und die die Auflösung der Strukturen der Macht schon kommen sieht. Das Verstehen, wie es „das Volk, das seinen Gott erkennt“ in V. 32b und die ~ylykfm in V. 33a und V. 35a praktizieren, ist also eine wirksame Haltung, ja Überwindungsstrategie gegen die so überwältigend skizzierten Mechanismen der Macht. Dementsprechend betont Goldingay: „The seer implicitly wishes to commend a certain form of behavior, namely, resistance to Seleucid / reformist pressures. His explicit focus, however, is a cognitive one. He aims to provide a way for conservative Jews to understand their present experience, looking at it in the light of various scriptural texts. The supernatural being provides this for the seer (10:1, 14); the ‚discerning‘ provide it for the multitude.“157
Insofern ist Dan 11 durchaus von einem „Pathos des Erkennens“ geprägt, das von Rad als den „Nerv (…), der die ganze Apokalyptik durchzieht“, bezeichnet.158 Gleichzeitig steht die starke Betonung des Verstehens als Weg des Widerstands gegen die allumfassenden Strukturen der Macht in Spannung mit der ganz offensichtlich den Text prägenden Tendenz zur Verdunkelung – die ja gerade bewirkt, dass der Text dauerhaft unverständlich bleibt. Hier zeigt sich das besondere Charakteristikum des Danieltextes, der trotz der augenscheinlichen Übermacht der Könige auf den Weg des Verstehens setzt, der auf die Möglichkeit des von Gott gestifteten Sinns vertraut und versucht „im Dunkeln zu lesen“. „Difficulty“, so Pyper, „(…) is a necessary characteristic of a text that is to instruct us in spiritual wisdom.“159 Und er fährt fort:
157
GOLDINGAY, Daniel 1989, 285; Hervorhebung: R.W. VON RAD, Daniel und die Apokalyptik, 319. Von Rad entwickelt in diesem Zusammenhang die These, dass die apokalyptische Literatur eine Weiterentwicklung der weisheitlichen Theologie ist und keine Verbindung zur prophetischen Tradition aufweist. Einen Überblick über die an von Rads These anschließende Diskussion bietet MICHEL, Weisheit und Apokalyptik, 413–415. Michel distanziert sich von von Rads Ansatz und geht davon aus, dass die Apokalyptiker in der Krise des weisheitlichen Denkens „versuchten, ihre neuen Erfahrungen auch unter Verwendung überkommener theologischer Traditionen auszudrücken“ (434; Hervorhebung: im Original). Die von MICHEL, Weisheit und Apokalyptik, 423, vorgeschlagene Definition von Weisheit als „Versuch des Menschen, durch die Auswertung seiner Erfahrungen Ordnung in die verwirrende Fülle der auf ihn einstürmenden Erscheinungen zu bringen“, entspricht allerdings durchaus dem Charakter von Dan 11 als Versuch, in der als chaotisch erfahrenen Geschichte nachvollziehbare Strukturen zu zeigen. Vgl. auch DELCOR, L’histoire selon le livre de Daniel, 384f. Zur neueren Diskussion um die sog. Apokalyptik und deren literargeschichtlichen Einordnung vgl. WOLTER, Apokalyptik als Redeform. 159 PYPER, Reading in the Dark, 487, in Anlehnung an Origenes. 158
246
Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
„In the post-exilic world, where the authoritative but enigmatic text has taken the place of fallible prophecy, the dilemmas of faith become the dilemmas of the incompetent reader, confronted with a tradition whose surface meanings seem at odds with realities of the social and political world. Difficulties which had been contingent, modal or tactical become ontological because of a new mode of reading, and because of the passage of time. (…) The text is there, fount of all revelation – and yet still we do not understand. Paradoxically, for the imperfect reader, texts then offer both, frustration and hope. If one knows one cannot read properly, then one can have faith that the text, which one can tell (…) is not refusing knowledge because of its defects or incapacity, but because of the readers‘.“160
In Dan 10 – 12 ist für Daniel, anders als in Dan 9, nicht die Schrift schwierig, sondern der Lauf der Geschichte und die Rolle, die das Gottesvolk Israel darin spielt. Dan 11,2b – 12,3 kann demnach als der Versuch bezeichnet werden, eine unverständlich gewordene Welt zu verstehen, und gleichzeitig als das Bekenntnis, dass der Weg des Verstehens angesichts einer solchen Welt der einzig angemessene und Erfolg versprechende ist. Daraus resultiert die Aufforderung, je persönlich diesem Weg zu folgen. Die sprachliche Nähe der Darstellung zum vierten Gottesknechtslied Jes 52,13 – 53,12 findet hier ihre theologische Fortsetzung: Der Gottesknecht hat Erfolg, allem äußeren Anschein zum Trotz. 9.2.3 Zeit als Gegenkraft Neben der Strategie des Verstehens als Widerstand gegen die Mechanismen der Macht wird in Dan 11,2b – 12,3 noch eine weitere Möglichkeit angedeutet, wie die scheinbar unbezwingbaren Mächte und Gewalten überwunden werden können. Im Hintergrund der Mechanismen der Macht und von ihnen unabhängig existiert noch ein anderes System: die unaufhaltsam ablaufende Zeit. Anders als das Streben nach Verstehen ist diese Möglichkeit des Widerstands den Menschen jedoch entzogen. Neben den Aufstiegen jeweils neuer Herrscher, die mit der formelhaft wiederkehrenden Wendung dm[w – „und es steht auf“ auf den ersten Blick den Text strukturieren, fungieren die Zeitangaben als alternatives Ordnungssystem, in das die Ereignisse der Macht eingeordnet werden. Die Zeitangaben in Dan 11 bieten zwar keine Grundlage für eine Gliederung, doch sie ziehen sich durch den Text und erinnern immer wieder an die Zeit als von der Macht vollkommen unabhängige Größe. Das Bestreben des Textes, die einzelnen Ereignisse in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen, findet hier einen weiteren Niederschlag auf der inhaltlichen Ebene. Ordnung entsteht durch die sprachlichen Muster, in die die einzelnen Ereignisse gegossen werden. Ordnung besteht aber auch durch die Zeit, die einerseits unbeirrbar abläuft, andererseits in Perioden und Fristen eingeteilt ist. 160
PYPER, Reading in the Dark, 500; Hervorhebungen: im Original.
9. Ergebnis: Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung
247
Darüber hinaus sind die Zeitangaben im Verlaufe des Textes immer deutlicher auf das herannahende Ende ausgerichtet. Der Zeitbegriff #q zieht sich durch die gesamte Darstellung, bezeichnet jedoch zu Beginn jeweils das Ende bestimmter Zeitperioden. Erst die späteren Belege sprechen vom „Ende“ ohne bestimmten Bezug, also von einem absoluten Ende, das auch das Ende der bis dahin üblichen Zeiterfahrung bedeutet. In dieser Hinsicht besteht eine deutliche Zweiteilung der Darstellung: Mit Beginn der Regierungszeit des letzten Königs in V. 21 erscheint das erwartete Ende zunehmend als absolute Größe, auf die die Ereignisse immer schneller zustürzen. Dies wird auch durch den Zeitbegriff d[wm – „Frist“ und die Präposition d[ deutlich, die erst ab V. 21 verwendet werden. Die Geschichte der Könige und ihrer Macht wird somit geschildert als Geschichte, die ihrem Ende – und damit ebenfalls ihrer Überwindung – entgegentreibt. Diese Zeitperiode, die sich aufgrund der verwendeten Zeitbegriffe signifikant von der vorhergehenden Zeit unterscheidet, ist zugleich die Zeit, in der zwischen richtigem und falschem Verstehen und zwischen angemessenem und unangebrachtem Verhalten gegenüber der Sphäre des Göttlichen entschieden wird: Wie bereits gezeigt, fallen alle Belege des Wortfeldes „Verstehen“ und die meisten Belege des Wortfeldes „Religion“ in V. 21–45. Es wurde außerdem bereits gezeigt, dass die beiden Themen „Verstehen“ und „Religion“ sprachlich und inhaltlich aufs Engste miteinander verknüpft sind. Was richtiges und was falsches Verstehen ist, erweist sich an der Haltung gegenüber dem Göttlichen. Die Regierungszeit des letzten Königs in V. 21–45 erscheint somit doppelt hervorgehoben: als Zeit des richtigen und falschen Verstehens, das sich am Umgang mit dem Göttlichen zeigt, und als Zeit des nahenden Endes. Diese Perspektive verleiht der Entscheidung zwischen falschem und richtigem Verstehen zusätzliche Dramatik, weil so deutlich wird, dass es um eine endgültige Entscheidung geht. Während aber die Logik der Macht in der Zeit des Endes (Dan 11,45) mit dem persönlichen Ende des letzten Königs (Dan 11,45) ihr Ende findet, besteht und trägt die Logik des Verstehens auch über diesen Punkt hinaus. Dies wird in Dan 12,1–3 deutlich, wo die Begriffe der begrenzten Zeit dem Begriff der Beständigkeit – ~lw[ – weichen. Diese Beständigkeit ist gleichzeitig die Verheißung, die den Anhängern des Verstehens zugesagt wird: Während die Protagonisten der Macht ihr Ende finden (Dan 11,19.45), wird der Erfolg der ~ylykfm allgemein und dauerhaft offenbar: „Und die Weisen werden glänzen wie der Glanz der Himmelswölbung und die viele gerecht machen wie die Sterne für Ewigkeit und [alle] Zeit“ (Dan 12,3). Die Stränge der beiden Gegenstrategien zu den Mechanismen der Macht laufen also in Dan 12,1–3 zusammen. Die Zeit überholt die Macht, und das
248
Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
Streben nach Verstehen erweist sich zur richtigen Zeit als erfolgreiche und nachhaltige Strategie im Umgang mit der Macht.
10. Vertiefung: Die supra-history von Dan 11 10. Vertiefung: Die supra-history von Dan 11
Die im Zuge des close reading von Dan 11 gefundenen Gestaltungsprinzipien und ihre inhaltlichen Implikationen schließen an eine Diskussion an, die insbesondere im Zusammenhang mit den Visionskapiteln Dan 2 sowie Dan 7 und Dan 8 geführt wird. Anders als bei Dan 11 ist bei diesen Kapiteln sehr deutlich, dass allein die Erschließung der historischen Ereignisse, auf welche die Visionsschilderungen anspielen, zu deren Verständnis nicht ausreicht. Neben der history muss vielmehr auch nach der supra-history als dem übergeordneten Prinzip, dem die Verarbeitung der historischen Ereignisse und ihre Deutung folgen, gefragt werden.161 Das Konzept der supra-history erscheint daher geeignet, die Ergebnisse des close reading begrifflich auf den Punkt zu bringen. Es ermöglicht außerdem, die Beobachtungen an Dan 11 mit Gestaltungsprinzipien in anderen Kapiteln des Danielbuches zu verknüpfen. Die Interpretation der Ergebnisse des close reading im Sinne einer supra-history lenkt ferner den Blick auf bereits bestehende Ansätze, die in der Darstellung von Dan 11 übergeordnete, narrative Muster erkennen. Diese sind bei der Auseinandersetzung mit dem Konzept der supra-history und ihrer Anwendung auf Dan 11 zu berücksichtigen. 10.1 Das Konzept der supra-history In seiner Auseinandersetzung mit der Rolle des Danielbuches in der historischen Forschung bezeichnet Blasius Daniel als kunstvolles „Geflecht aus faktischer Ereignisgeschichte und ‚supra-history‘ vereint in der Kunstform einer ‚coded history‘“.162 Er sieht den Daniel-Autor als historisch orientierten Apokalyptiker und weist darauf hin, dass im Danieltext historische und theologische Ebenen miteinander verwoben sind.163 Mit dem Begriff supra-history verwendet Blasius einen Terminus, den Caragounis in Auseinandersetzung mit der Frage nach den historischen Bezugspunkten der vier Reiche entwickelt, welche die Visionsschilderungen
161 Zu den mythologischen Hintergründen von Dan 2 vgl. KOCH, Daniel 1 – 4, 126–138; von Dan 7 vgl. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 90–98; von Dan 8 vgl. GZELLA, Cosmic Battle, 126–138. 162 BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 88. 163 Vgl. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 98.
10. Vertiefung: Die supra-history von Dan 11
249
Dan 2 und Dan 7 prägen.164 Mit Blick auf die Aporien, in die ein strikt historischer Zugang zu den Danieltexten in diesem Zusammenhang führt, konstatiert Caragounis: „It must be recognized that this highly symbolical book is concerned not merely with history, but with supra-history where historical events are interpreted not only from the Jewish point of view but also in a dynamic way.“165
Supra-history meint nach Caragounis folglich einen dem in Daniel verarbeiteten Ereignisverlauf übergeordneten Deutungsrahmen, der die Auswahl und Darstellung der Ereignisse leitet. „The Author is interested in history only in so far as it has significance for his own people. The reference-point for evaluating historical events is Jewish religion and ethics. Historical events have significance only if they are relevant for the Jewish nation.“166
Caragounis benutzt den Begriff der supra-history also in einem sehr weiten Sinn und beschreibt damit die Engführung der im Danielbuch geschilderten Abläufe auf das Schicksal des jüdischen Volkes hin. Durch diese Ausrichtung entzieht sich die Darstellung einem rein ereignisgeschichtlichrekonstruktiven Zugang. Blasius greift den Terminus der supra-history auf, um den Umgang des Danielbuches mit historischen Fakten zu präzisieren. Er weist dabei auf „deutliche Unterschiede in der Behandlung und apokalyptischen Darstellung der ‚facts‘“ innerhalb der Visionskapitel Dan 7 – 12 hin und stellt, um diese These zu untermauern, Dan 7 und Dan 11 einander gegenüber. Die Darstellung Dan 11 erscheine trotz ihrer „auf den heutigen Leser mitunter recht enigmatisch wirkenden Formulierungen“ in ihrer „chronikhafte[n] Strenge doch als erstaunlich transparent“. Demgegenüber erweise sich Dan 7 „als wesentlich komplexer der mythischen Ebene verhaftet“.167 Im Vergleich mit Caragounis verwendet Blasius den Begriff supra-history also in einem weitaus engeren Sinn. Die „kodierte Geschichte“ der Danielvisionen enthält demnach in Dan 7 einen erheblichen Anteil an supra-history, während dieser Anteil in Dan 11 seiner Ansicht nach so gering ist, dass die Darstellung als transparent und chronikartig bezeichnet werden kann.168 Dass diese Einschätzung dem Charakter von Dan 11 keineswegs gerecht wird, ist bereits gezeigt worden. Gerade der Versuch, die angeblich so offen zugänglichen Bezüge von Dan 11 zu entschlüsseln, führt im Umgang mit 164
CARAGOUNIS, History and Supra-History, 387–397. CARAGOUNIS, History and Supra-History, 388. 166 CARAGOUNIS, History and Supra-History, 395. 167 Vgl. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 89f. 168 Vgl. auch BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 86: „Setzt sich die Forschung indes mit dem Daniel-Buch selbst auseinander, so ist es meist allein das in seinem Chronikcharakter einzigartige Kapitel 11 (…), das als historisch relevant herangezogen wird (…).“ 165
250
Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
dem Text zu deutlichen Aporien. Dies wird sogar bei Blasius deutlich, wenn er im Zusammenhang mit der Diskussion um den Quellenwert von Dan 11 darauf hinweist, dass „das Alter einer Quelle – und selbst wenn sie zeitgenössisch entstanden ist – noch keine Garantie für eine der ‚Realität‘ der Ereignisse zwingend nahestehende Glaubwürdigkeit bietet“.169 Vielmehr sei „das apokalyptische Motiv im ganzen Daniel-Buch das zentrale Konzeptionsschema“.170 Der unterschiedlichen Bewertung der Kapitel Dan 7 und Dan 11 ist jedoch insofern zuzustimmen, als eine mögliche supra-history von Dan 11 sicher nicht auf der Ebene eines narrativen Musters wie des Vier-Reiche-Schemas in Dan 7 liegt. 10.2 Antiochos IV. Epiphanes als typologische Figur Die Frage nach den übergeordneten Gestaltungsprinzipien von Dan 11 kann verknüpft werden mit der Diskussion um die Gestaltung der Figur des Antiochos IV. Epiphanes in Dan 11,21–45. Bereits Bickermann stellt im Kontext der Frage nach dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse im Vorfeld des makkabäischen Aufstandes mit Bezug auf Antiochos IV. kritisch fest: „Die Individualität des Bedrückers ist in dieser Geschichtsauffassung nicht wahrnehmbar.“171 Was Bickermann hier bemerkt, spielt allerdings für die Fragestellung der damaligen Zeit keine Rolle. Er bleibt in seiner Studie daher ganz auf der Ebene der historischen Rekonstruktion und greift das Thema der typologischen Gestaltung der Antiochos-Figur nicht weiter auf. Eine Annäherung an die typologischen Züge von Antiochos IV. im Danielbuch bietet Lebram in seinem grundlegenden Beitrag „König Antiochus im Buch Daniel“. Er stellt die Frage, „ob sich die Darstellung des Antiochos als Erzbösewicht bei Daniel aus einem historischen Augenblick allein erklären lässt (…) oder ob sich der Autor auch bestimmter Typologien dazu bedient hat“172. Im Zuge seiner Untersuchung kommt er zu der Erkenntnis, dass „Skopus und Formulierung der Darstellung des Antiochus (…) das Schwergewicht auf die Tatsache [legen], dass er der apokalyptische Feind des Gottesvolkes ist. Im Grunde wird dies nicht durch Bezugnahme auf den historischen Antiochus und seine Taten erwiesen, sondern 169
BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 86. BLASIUS, Apokalyptik und Geschichte, 86; Hervorhebung: im Original. 171 BICKERMANN, Gott der Makkabäer, 27. 172 LEBRAM, König Antiochus, 737; vgl. auch VAN HENTEN, Antiochos IV as a Typhonic Figure, 223: „Many authors have searched for explanations for Antiochus’s conduct as described in these sources [Dan, 1/2 Makk und Josephus], a conduct which by the standards of ancient world is inconceivable. Before, however, trying to find explanations for the motives behind Antiochus’s measures against the Jews, we should ask in how far the description of Antiochus in these passages is based on historical events.“ 170
10. Vertiefung: Die supra-history von Dan 11
251
durch seine Identifizierung mit einem Typus.“173 Lebram weist nach, dass der Gestaltung Antiochos’ IV. mehrere unterschiedliche typologische Konzepte zugrunde liegen. Während sich die Darstellung in Dan 8,23–25 am weisheitlichen Motiv des klugen Frevlers orientiert174, erscheint er in Dan 7 als Feind der göttlichen Ordnung.175 Dan 11 orientiert sich einerseits deutlich am Sprachduktus von Dan 8 und wählt auch die verarbeiteten historischen Ereignisse dementsprechend aus. Andererseits zeichnet die Darstellung insbesondere in Dan 11,36–39 Antiochos als Götterfeind, der sich gegen alle Götter erhebt: „Der Typus des Götterfeindes, der mit seinem Heer die Heiligtümer angreift, um die Tempelschätze zu rauben und die Priester zu töten, war im Hellenismus verbreitet.“176 Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung zeigt Lebram, dass die Darstellung des Antiochos Motive aus der ägyptischen Polemik gegen den persischen König Kambyses177 übernimmt und diese auf den Seleukiden überträgt. Dabei werden sowohl Kambyses als auch Antiochos Züge des ägyptischen Kriegs- und Chaosgottes Seth zugeschrieben.178 Analog zum Pharao, der als Garant der kosmischen und staatlichen Ordnung als Inkarnation des Horus galt, wurde Kambyses als Inkarnation Seths, des Gefährders aller Ordnung, betrachtet.179 So stellt van Henten in einer weiterführenden Studie heraus: „Antiochus IV constituted the most serious threat to the Ptolemies since their assumption of power in Egypt. (…) It therefore stands to reason that the Seth-Typhon-connected representation of the enemy of the gods should be geared to Antiochus IV by Egyptian Propaganda.“180
Die Schilderung Antiochos’ IV. im Danielbuch ist nach Lebram und van Henten folglich von ägyptischen, von der Kambyses-Rezeption und der SethTyphon-Tradition geprägten Antiochos-Bildern beeinflusst. Antiochos er-
173
LEBRAM, König Antiochus, 743. Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 738–743. 175 Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 743–750. 176 LEBRAM, König Antiochus, 757. 177 Der Eroberungszug des persischen Königs Kambyses II. (529–522 v.Chr.) hatte in Ägypten eine Spur der Verwüstung nach sich gezogen. Insbesondere blieben der Raub von Götterbildern aus ägyptischen Tempeln (vgl. MONTGOMERY, Commentary on the Book of Daniel, 431) sowie die Ermordung des Apis-Stiers in Erinnerung. In den folgenden Jahrhunderten wurde Kambyses als frevlerischer Gottesfeind schlechthin rezipiert; zur Kambyses-Darstellung bei Herodot vgl. NISKANEN, The Human and the Divine, 68–71. 178 Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 761–772; vgl. auch NISKANEN, Daniel’s Portrait of Antiochus IV, 378–386; NISKANEN, The Human and the Divine; VAN HENTEN, Antiochus IV as a Typhonic Figure. 179 Vgl. LEBRAM, König Antiochus, 765–767. 180 VAN HENTEN, Antiochus IV as a Typhonic Figure, 225. 174
252
Kapitel III: Literarische Muster. Die „Textur“ von Dan 11
scheint so nicht in erster Linie als einer – und wenn auch der schlimmste – der seleukidischen Fremdherrscher, sondern als Typus des Götterfeindes.181 Diese in sich überzeugenden Ansätze nehmen jedoch nur die Darstellung von Antiochos IV. und damit nur einen Teil von Dan 11, nämlich die Verse 21–45, in den Blick. Das close reading von Dan 11 konnte hingegen zeigen, dass nicht nur Dan 11,21–45, sondern die gesamte Geschichtsvision nach typologischen Gesichtspunkten gestaltet ist. 10.3 Geschichtsmuster in Dan 11 Das close reading von Dan 11,2b – 12,3 hat gezeigt, dass es sich bei diesem Text um eine schematisch-typologische Darstellung handelt. Diese verarbeitet durchaus historische Ereignisse der Diadochenzeit, insbesondere der Regierungszeiten der beiden Seleukiden Antiochos III. Megas und Antiochos IV. Epiphanes. Diese fügen sich jedoch in ein übergeordnetes, die gesamte Darstellung umgreifendes Schema ein, das Strukturen der Macht aufdeckt und entkräftet, indem es die Handlungen der Mächtigen mit der Gegenstrategie des richtigen Verstehens und der Gegenkraft der ablaufenden Zeit konfrontiert. Dieses Schema erfüllt in Dan 11 die Funktion einer supra-history, vergleichbar mit den mythologischen Narrativen, die in Dan 2, 7 und 8 erkennbar sind. Die Beobachtungen zur typologischen Gestaltung der Figur Antiochos’ IV. in Dan 11 bekräftigen die Ergebnisse, die das close reading von Dan 11 erbracht hat. Die mit Hilfe des close reading verdeutlichte supra-history vermag ihrerseits die typologischen Aspekte des Antiochos in einen größeren Kontext zu stellen. Nicht nur die Darstellung des letzten Königs folgt einem vorgegebenen Schema, sondern der gesamte Geschichtsabriss ist als schematische Darstellung gestaltet. Die historischen Ereignisse der Seleukidenzeit dienen in der Darstellung lediglich als Beispiele eines umfassenden Musters. Antiochos IV. als endzeitlicher Gottesfeind fügt sich ein in das „Toben der Völker“, das in Form der Machtpolitik der Diadochenstaaten zunehmend zur Gefahr für Israel und seine Gottesbeziehung wird. In diesem Sinne ist Albani zuzustimmen, der konstatiert: „Nicht Chaos, sondern Ordnung ist die generative Idee an der Wiege der Apokalyptik!“182
181 Vgl. aber DELCOR, L’histoire selon le livre de Daniel, 386: „Mais le portrait daniélique du roi Antiochus Épiphane est bien schématique et étrangement pauvre en traits individuels, en sorte qu’il paraît se modeler plutôt sur le type des rois païens dont les prophètes Isaïe et Ézéchiel décrivent l’hybris, c’est-à-dire l’exaltation suivie de chute, plutôt que sur celui du roi Cambyse, d’après certaines sources égyptiennes“; Hervorhebung: im Original. 182 ALBANI, Wechsel der Zeiten, 21.
10. Vertiefung: Die supra-history von Dan 11
253
Diese Schematisierung hat zur Folge, dass der Text, bei aller Transparenz für die Ereignisse der Diadochenzeit, zum Formular wird. So konstatiert Baldwin mit Blick auf die Darstellung von Antiochos IV.: „Antiochus is the prototype of many who will come after him.“183 Dies erinnert an die patristischen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Auslegungen des Danielbuches, die im Sinn einer „dual interpretation“ in der Figur des letzten Königs sowohl den historischen König Antiochos IV. als auch den – noch erwarteten – Antichrist erkennen. Die Deutungsoffenheit und Anschlussfähigkeit an viele unterschiedliche Situationen, die Baldwin hier der Figur des Antiochos bescheinigt, gilt jedoch nicht nur für einen Teil des Textes, sondern für die gesamte Darstellung. Anders als im Fall von vorkritischen oder fundamentalistischen Exegesen liegt der Grund für diese Deutungsoffenheit aber nicht in dem damit verbundenen Offenbarungskonzept. Vorkritische und heutige fundamentalistische Deutungen des Danieltextes müssen einen Bezug des Textes auf das noch ausstehende Kommen des Antichrists annehmen, weil sie den Text nur so als authentische, inspirierte und letztlich wahre Prophetie verstehen können. Eine Exegese, die sich den Kriterien heutiger Wissenschaftlichkeit verpflichtet weiß, kann nicht auf dieses enge, letztlich supra-naturalistische Offenbarungskonzept zurückzugreifen. Sie kann den Text als quasi-prophetische Geschichtsreflexion verstehen und ihn im Rahmen der Heiligen Schrift dennoch als inspirierten Text lesen. Voraussetzung für eine solche Lektüre ist, dass die Textinterpretation nicht bei den historischen Bezugspunkten und dem Charakter des Textes als historischem Dokument stehen bleibt. Die im Zuge des close reading offengelegten Strukturen und Muster ermöglichen eine Lektüre des Textes, die anschlussfähig ist für eine Vielzahl historischer und existenzieller Situationen.
183 J.G. BALDWIN, Daniel, Leicester 1978, 192, zitiert nach: MEADOWCROFT, History and Eschatology, 250, Anm. 21; vgl. ferner 245, Anm. 8.
Kapitel IV
Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens Bereits im ersten Kapitel dieser Untersuchung wurde gezeigt, dass die Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,3 von einem zweifachen Rahmen umgeben ist. Die in Dan 10,2–19 beschriebene Szene am Flussufer mündet in einen ersten Teil des Monologs des Boten in Dan 10,20 – 11,2a, der noch deutlich die Gesprächssituation des Boten mit Daniel reflektiert, in dem dieser jedoch schon nicht mehr zu Wort kommt. Dementsprechend leitet in Dan 12,4 ein Satz des Boten wieder zu Daniel als Empfänger der Geschichtsvision über. Die abschließende Visionsszene in Dan 12,5–13 entspricht der Anfangsszene Dan 10,2–19. Diese konzentrische Anordnung bewirkt nicht nur eine deutliche Betonung des Mittelteils, sondern verleiht der gesamten Schlussvision eine einheitliche Struktur. Zur Einheitlichkeit von Dan 10 – 12 tragen auch die zahlreichen biblischen Bezüge bei, die nicht nur im Mittelteil1, sondern in der gesamten Schlussvision zu finden sind. Insbesondere der Beginn der Perikope enthält auffällige Parallelen zu Visionsschilderungen des Ezechielbuches.2 Durch die midraschartige Gestaltung der Szene wird die gesamte Perikope in die Tradition der biblischen Prophetie gestellt.3 Vor dem Hintergrund des close reading von Dan 11 fallen darüber hinaus zahlreiche sprachliche Bezüge zwischen dem erzählenden Rahmen und dem Mittelteil der Perikope auf. So kehren insbesondere die in Kapitel III erläuterten semantischen Felder „Bewegung“, „Macht“, „Verstehen“ und „Zeit“ in den Rahmenteilen wieder. Ausgehend von den formalen und inhaltlichen Ergebnissen des close reading von Dan 11 wird die Zukunftsansage daher im Folgenden in ihren unmittelbaren textlichen Kontext gestellt.
1 2
Siehe oben Kapitel II. 4. Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 284; COLLINS, Daniel 1993, 373; PACE, Daniel, 209–
212. 3
Vgl. KRATZ, Visionen, 241; MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 92–96; WILDGRUBER, Israels Weisheit, 50. Zur Diskussion um den prophetischen Charakter des Danielbuches insgesamt vgl. KOCH, Ist Daniel auch unter den Profeten?.
256
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
1. Fragestellung und methodischer Ansatz Die folgende überblicksartige Analyse des erzählerischen Rahmens nimmt ihren Ausgang nicht bei einer vollständigen Oberflächenanalyse der Rahmenteile, sondern sucht gezielt nach den Verbindungen zwischen der Zukunftsansage im Mittelteil und den Rahmenteilen. Die Methode der semantischen Analyse wird dabei aus der Untersuchung des Mittelteils übernommen. Dabei werden die semantischen Felder, die sowohl im Mittelteil als auch in den Rahmenteilen begegnen, bezüglich ihrer Zusammensetzung und bezüglich ihrer Verteilung im Text beschrieben. Von Interesse sind außerdem die semantischen Verschiebungen innerhalb der Wortfelder. Aufgrund der unterschiedlichen narrativen Situationen im Rahmen- und im Mittelteil unterscheidet sich das Bedeutungsspektrum von Begriffen je nach ihrem Kontext. Diese Beobachtungen sollen im Folgenden genauer ausgeführt werden. Davon abgeleitet soll schließlich die Funktion des Rahmens für das Verständnis des Mittelteils genauer beschrieben werden.
2. Motivlinien 2. Motivlinien
Verschiedene Begriffe aus den Wortfeldern „Bewegung“, „Macht/Kraft“4, „Verstehen“ und „Zeit“ begegnen sowohl in den Rahmenteilen von Dan 10 – 12 als auch in der Geschichtsdarstellung in der Mitte der Perikope. Auf diese Weise ergeben sich sprachliche Verbindungslinien zwischen dem Mittelteil und seinem Rahmen, obwohl die jeweils entwickelten Szenerien voneinander unabhängig sind. Aus diesem Grund wird für die Fortsetzung der Wortfelder in den Rahmenteilen der Begriff „Motivlinien“ verwendet. 2.1 Die Motivlinie „Bewegung“ Eine erste Motivlinie bilden die Verben der Bewegung. Sowohl vertikale als auch horizontale Bewegungsabläufe, die maßgeblich zur schematischen Gestaltung von Dan 11 beitragen, prägen die Rahmenerzählung der Zukunftsansage. Ähnlich wie in Dan 11 werden auch im Rahmen gegenläufige Bewegungsrichtungen miteinander kombiniert, so dass ein kontrastreiches Bild der Szene entsteht. 4
Während der Akzent des Wortfeldes in Dan 11 eher dem deutschen Begriff „Macht“ entspricht, gibt der Begriff „Kraft“ die Schwerpunktsetzung des Wortfeldes im narrativen Rahmen zutreffender wieder. Die Motivlinie „Kraft“ in Kapitel IV. 2.2 entspricht jedoch dem semantischen Feld „Macht“ in Kapitel III. 4, da es sich jeweils um das gleiche Wortfeld handelt.
2. Motivlinien
257
Dabei spielen im ersten Teil der Visionsschilderung (Dan 10,2–19) vor allem vertikale Bewegungen eine wichtige Rolle. Daniel reagiert auf die Begegnung mit dem himmlischen Boten, indem er mit seinem Gesicht auf den Boden fällt (Dan 10,9c). Die Formulierung ynpw ynp-l[ (...) ytyyx yna hcra – wörtlich „ich war auf meinem Gesicht und mein Gesicht zu Boden“ – nimmt zwar keines der im Mittelteil begegnenden Verben der Bewegung auf, schildert jedoch eine Bewegung nach unten. Dieses Fallen des ganzen Körpers korrespondiert mit weiteren Bewegungen nach unten im Rahmen des Visionsempfangs. So neigt Daniel in 10,15b sein Gesicht zu Boden (hcra ynp yttn). Auch die Reaktion von Daniels Begleitern auf das übersinnliche Geschehen, das sie zwar im Unterschied zu Daniel nicht sehen können, auf das sie aber dennoch reagieren, wird mit einer Bewegungsmetapher beschrieben: In 10,7c fällt (hlpn) große Angst auf sie. Der Zusammenbruch des Visionärs ist Teil des Formenkanons biblischer Visionsberichte5, wie beispielsweise auch die Parallelstelle in Dan 8,186 zeigt. Diese Einordnung wird jedoch dem Befund in Dan 10 – 12 nicht ganz gerecht. Denn das Fallen des Visionärs Daniel und die allgemeine Orientierung nach unten im Zusammenhang mit dem Visionsempfang korrespondiert zum einen mit einer Reihe von gegenläufigen Bewegungen in der Visionsschilderung. Beide Bewegungsrichtungen zusammen nehmen zum anderen ein Muster der Geschichtsvision im Mittelteil der Perikope auf. Die Gegenbewegung zum Fallen Daniels initiiert der himmlische Bote in Dan 10,11 und reagiert damit auf den Zusammenbruch seines Gegenübers. So fordert er Daniel in 10,11d auf, sich auf seinen Platz zu stellen ($dm[-l[ dm[w), eine Aufforderung, der Daniel nach eigenen Angaben in 10,11g ohne Umschweife nachkommt: ytdm[ – „ich stellte mich hin“. Die Wurzel dm[, die ja auch als Grundereignis in Dan 11 besonders häufig verwendet wird, prägt sich durch ihre dreimalige Benutzung innerhalb eines einzigen Verses (10,11) besonders ein. Eine Bewegung nach oben begegnet außerdem in 10,5a, wo geschildert wird, dass Daniel zu Beginn der Vision seine Augen erhebt (yny[-ta afaw). Doch nicht nur vom Aufstehen Daniels nach seinem Zusammenbruch ist die Rede. Stehen ist auch eine typische Haltung von Daniels Gesprächspartner und weiterer, als Fürsten (rf) bezeichneter Wesen aus seiner Welt.7 So berichtet Daniels Gegenüber in 10,13a, dass der Fürst des Königreichs von Paras (srp twklm rf) ihm 21 Tage lang gegenüberstand. Auch in 5
Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 338; Collins kommentiert Dan 10,9 nicht extra, sondern verweist dabei lediglich auf den Kommentar der Parallelstelle in Dan 8,18. 6 Vgl. KRATZ, Visionen, 239. 7 Zur Idee der Völkerengel vgl. KOCH, Monotheismus und Angelologie; HAAG, Kampf der Engelmächte; BERLEJUNG, Engel; HAAG, Engel; HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 280–284; SEOW, Daniel, 159–161; PACE, Daniel, 209–216.
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Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
10,16d beschreibt der namenlos bleibende Bote Vorgänge in seiner Welt und spricht von einem ihm gegenüberstehenden Wesen. Schließlich gebraucht er in 11,1 die Formulierung „mein Stehen“. An allen drei Stellen wird wiederum die Wurzel dm[ verwendet. Die Wurzel begegnet erneut im zweiten Teil des hinteren Rahmens, in dem der Visionsbericht am Flussufer seine Fortsetzung findet. Hier werden in 12,5b die beiden Gestalten am Flussufer, die Daniel sieht, als ~ydm[ – „Stehende“ beschrieben. Ein explizite Bewegung nach oben begegnet außerdem in 12,7b, wenn einer der am Ufer Stehenden seine Hände zum Himmel erhebt (~ryw). Das Motiv des Stehens Daniels wird schließlich im letzten Vers der Schlussvision noch einmal aufgenommen. dm[tw – „und du wirst aufstehen“ lautet die Zusage, mit der Daniel in 12,13c aus der Vision entlassen wird und mit der gleichzeitig das Buch schließt. Diese Zusage steht im Kontrast zum Beginn der Visionsschilderung in Dan 10,2–19, wo Daniels mehrfaches Fallen geschildert wird. Mit Blick auf das Ende jedoch wird ihm verheißen, dass er aufstehen wird. Damit ist Daniel gleichzeitig ein Gegenentwurf zu den Königen, die sich selbst erheben und andere zu Fall bringen, letztlich jedoch nicht bestehen können. Mehrfach begegnet außerdem in Dan 10 die Verbwurzel awb in der Bedeutung „kommen“ (10,3b.12e.13b.14a.20b.e). Außer in Dan 10,3b, wo das „Kommen“ von Fleisch und Wein in Daniels Mund verneint wird, bezieht sich die Vokabel hier auf das Kommen des Boten zu Daniel. In 10,20c wird ferner mit der Wurzel bwv die Rückkehr des Boten in das Kampfgeschehen mit dem „Fürst von Paras“ beschrieben, so dass sich ein Bewegungsablauf ergibt, der an das Hin und Her der Könige in 11,2b – 12,3 erinnert. Somit finden sich in Dan 10,2 – 11,2a und Dan 12,4–13 Verben der horizontalen und der vertikalen Bewegung wieder, die in der Geschichtsvision Dan 11 in das semantische Feld „Bewegung“ eingebunden sind und teilweise auch die Funktion von Grundereignissen8 innehaben. Auf diese Weise wird eine erste, phänomenologische Verbindung zwischen Rahmenteilen und Mittelteil konstituiert. Darüber hinaus stehen insbesondere die horizontalen Bewegungsverläufe in Bezug zu den horizontalen Bewegungsmustern der Geschichtsvision. Das Stehen der himmlischen Fürsten in Dan 10 erinnert an das Aufstehen der Könige, von dem in Dan 11 die Rede ist, das Kommen und Umkehren des Boten spiegelt sich in den gegenläufigen Bewegungen der Könige und ihrer Kriegszüge. Der genaue Zusammenhang zwischen den Vorgängen in der Welt der Völkerengel und den Vorgängen auf der Erde in der apokalyptischen Litera8
Siehe oben Kapitel III. 2.
2. Motivlinien
259
tur ist dabei umstritten. Generell wird angenommen, dass die Völkerengel Krieg und Frieden auf der Erde beeinflussen. „Einerseits hat Gott sie den Völkern vorgeordnet bzw. als Volksgeist eingestiftet, andererseits sind die ungerechten Taten ihrer menschlichen Repräsentanten auch ihre Untaten“9, so Koch mit Blick auf 1 Hen 90,22–25. Er fährt fort: „[D]ie Frage, ob das Leben auf Erden sich friedlich abspielt oder nicht, entscheidet sich auf einer oberen unsichtbaren Zwischenebene (...).“10 Meadowcroft kritisiert hingegen die Annahme einer solchen „two-layered reality“11 und geht stattdessen von einer subtileren Verbindung zwischen Himmel und Erde aus: „Rather, events on earth and in heaven interact with each other in a more subtle, and probably ultimately indefinable way.“12 Meadowcroft ist hier insofern zuzustimmen, als in Dan 10 – 12 kein kausaler Zusammenhang zwischen den Vorgängen auf der Erde und den Kämpfen im Himmel erkennbar ist. Auf einer sprachlich-phänomenologischen Ebene besteht jedoch ein paralleles Verhältnis zwischen diesen beiden Welten. Daniels Fallen und Aufstehen kontrastiert ferner die Bewegung der Könige. So kommentiert Goldingay die Interaktion zwischen Daniel und dem himmlischen Boten in Dan 10,10 – 11,2a: „The dialogue (...) perhaps implies an anticipatory contrast with the last northern king of 11:20–45: he will seek to storm heaven and will be put down; heaven reaches down to Daniel and he hesitates to raise his head, but he is lifted up.“13
Dieser Kontrast zwischen Daniel und den Königen wird besonders im letzten Vers der Perikope deutlich: Daniel wird entlassen mit der Perspektive aufzustehen, während das Ende der mächtigen Könige darin besteht, dass sie fallen (11,19) und zum Schluss ohne Helfer dastehen (11,45). 2.2 Die Motivlinie „Kraft“ Parallel zum Fallen Daniels als Reaktion auf seine Vision und zu seiner Aufrichtung durch den himmlischen Boten wird in Dan 10,2–19 geschildert, dass Daniel während der Vision seine Kraft verliert und durch den Boten gestärkt wird. Die dabei verwendeten Begriffe xk – „Macht, Kraft, Stärke“ und qzx – „stark sein, stärken“ gehören in der Zukunftsansage Dan 11 dem Wortfeld „Macht“ an. In drei Varianten schildert Daniel, dass ihn die Kraft (xk) angesichts der Erscheinung des himmlischen Boten verlässt. So konstatiert er in 10,8c xk yb-ravn al – „es blieb keine Kraft in 9
KOCH, Monotheismus und Angelologie, 223. KOCH, Monotheismus und Angelologie, 223; vgl. auch HAAG, Kampf der Engelmächte, 252. 11 MEADOWCROFT, Princes, 103. 12 MEADOWCROFT, Princes, 103. 13 GOLDINGAY, Daniel 1989, 287. 10
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Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
mir zurück“ und in 10,16f xk ytrc[ alw – „ich behielt keine Kraft“. Ein drittes Mal formuliert er in 10,17b parallel zu 10,8c xk yb-dm[y al – „es wird keine Kraft in mir zur Verfügung stehen“. Daniels Gegenüber reagiert auf die Schwäche seines Gesprächspartners, indem er ihn stärkt. Dieser Vorgang wird mit der gehäuften Verwendung des Verbs qzx in 10,18–19 beschrieben. In 10,18b berichtet Daniel selbst, dass der Bote ihn, nachdem oder indem er ihn berührt hat, stärkt (ynqzxyw). Der Bote ermuntert Daniel zusätzlich dazu in 10,19d mit der zweifachen Aufforderung qzxw qzx – „sei stark, ja, sei stark“. Dem kommt Daniel, ähnlich wie nach der Aufforderung, sich auf seinen Platz zu stellen in 10,11d, umgehend nach. 10,19e lautet dementsprechend „und als er mit mir sprach, nahm ich meine Kräfte zusammen“ (ytqzxth). Schließlich bestätigt Daniel dem Boten, dass sein Bestreben, ihn zu stärken, erfolgreich war mit der Aussage yntqzx – „du hast mich gestärkt“ in 10,19h. Auffällig ist in diesem Fall, dass nicht nur der Ablauf des Geschehens, sondern auch dessen sprachliche Gestaltung 10,11 gleicht. An beiden Stellen verwendet die Aufforderung des Boten eine Wurzel zweifach (10,11d: dm[; 10,19d: qzx), und an beiden Stellen wird die prompte Reaktion Daniels mit der Formel wrbdb (10,11f) bzw. wrbdk (10,19e) eingeleitet. Die Aufrichtung und die Stärkung Daniels erscheinen so als Stufen in einer Handlungssequenz.14 Darüber hinaus bestehen weitere sprachliche Parallelen zwischen der Welt des Boten und den in der Zukunftsansage 11,2b – 12,3 geschilderten Vorgängen. So begegnen bei der Beschreibung des Boten in 10,6 ebenfalls Vokabeln aus dem Wortfeld „Macht“. In 10,6d kehrt der im Mittelteil in der übertragenen Bedeutung „Truppen“ verwendete Begriff [wrz nun in seiner konkreten Bedeutung „Arm“ wieder. Der Begriff !wmh – „Menge“ hingegen fungiert in der Formulierung !wmh lwqk – „wie die Stimme einer Menge“ in 10,6e als Metapher für die Stimme des Boten. Ähnlich wie die Könige im Mittelteil sind auch die Boten selbst in kriegerische Handlungen verstrickt. In 10,20c kündigt Daniels Gesprächspartner an, er werde zurückkehren, um mit dem Fürsten von Paras zu kämpfen (~xlhl). Dabei werde er nur von Michael unterstützt, außer dem kein Einziger sich mit ihm zusammen anstrengen werde (10,21b: qzxtm). Die enge Verbindung zwischen Daniels Gesprächspartner und Michael kommt auch in 11,1 zum Ausdruck, wo sich Daniel als wl zw[mlw qyzxml – „Mitstreiter und Festung für ihn“ bezeichnet. Dabei wird mit dem Begriff zw[m – „Fes-
14
COLLINS, Daniel 1993, 374, ignoriert die Fortsetzung der Motivlinie „Kraft“ im thematischen Feld „Macht“ in Dan 11, wenn er die Schwäche Daniels als Folge seines Fastens einschätzt: „Daniel’s weakness might be attributed to his longer fast.“ Auch der Kommentar zu 10,19d, 375, „This is usually a form of farewell“ zeigt, dass Collins die sprachliche Gestaltung des Textes zu wenig berücksichtigt.
2. Motivlinien
261
tung“ ebenfalls ein Begriff aus dem semantischen Feld „Macht“ in Dan 11 verwendet. Auch die Begriffe der Macht bilden folglich eine Motivlinie, die die Zukunftsansage Dan 11 mit den Rahmenteilen verbindet. Diesen Zusammenhang beschreibt Goldingay folgendermaßen: „Some of the terms are taken up from chap. 10 into chap. 11 or carried on from chapter 11 into chap. 12 (...); they thus establish links and contrasts between the different forms of strength and authority that these chapters portray.“15
Ähnlich wie bei der Motivlinie „Bewegung“ erscheint auch hier Daniel als Gegenbild der Könige: Während diese selbst nach der Macht greifen und all ihr Handeln auf dieses Ziel ausrichten, wird Daniel als der Schwache gezeichnet, dem dann aber Kraft geschenkt wird. 2.3 Die Motivlinie „Verstehen“ Wie stark das Thema des Verstehens auch in den Rahmenteilen von Dan 10 – 12 präsent ist, wurde bereits zu Beginn dieser Untersuchung angedeutet. Das Motiv des Verstehens spielt für die sich auf die Zukunftsansage Dan 11,2b – 12,3 zuspitzende Dynamik der Perikope eine entscheidende Rolle.16 Nach dem close reading von Dan 11 zeichnet sich umso deutlicher ab, wie die Motivlinie „Verstehen“ den Mittelteil mit dem narrativen Rahmen verbindet. Dabei reicht die Motivlinie bis in die Einleitung der Perikope, Dan 10,1, hinein, welche die Verbindung der Schlussvision mit dem übrigen Buch herstellt. Neben Begriffen, die in der Zukunftsansage zum semantischen Feld „Verstehen“ gehören, begegnen im Visionsbericht und in Einleitung und Schluss des Monologs weitere verwandte Begriffe, die zusätzliche inhaltliche Akzente setzen. Die beiden in Dan 11 verwendeten Verben des Verstehens, !yb und [dy, bezeichnen in der Einleitung und in den Rahmenteilen fast immer Daniels Verstehen. Die Einleitung 10,1 scheint dabei das Resultat des im Folgenden ausgeführten Geschehens zusammenfassend vorwegzunehmen. Die beiden letzten Teilverse V. 1d und V. 1e konstatieren in paralleler Formulierung, dass Daniel das ihm offenbarte Wort versteht (rbdh-ta !yb) und dass ihm durch die Erscheinung Verständnis zuteilwird (harmb wl hnyb). Diese globale Feststellung wird im folgenden Visionsbericht Dan 10,2–19 und in der Einleitung des Monologs Dan 10,20 – 11,2a in einzelnen Schritten entfaltet. Nachdem der himmlische Bote Daniel berührt hat (10,10a.b), spricht er ihn an (10,11b). Auf die Namensnennung und die Bezeichnung 15 16
GOLDINGAY, Daniel 1989, 288. Siehe oben Kapitel I. 3.
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Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
als twdmx-vya – „Mann von Kostbarkeit“ folgt am Ende von 10,11b der Imperativ !bh – „verstehe!“. Voraussetzung für das Kommen des Boten scheint dabei das eigene Bemühen Daniels gewesen zu sein, zu verstehen, das 10,12c benennt (!ybhl)17. Ob dieses Bemühen Daniels erfolgreich war, erfährt der Leser nicht. Der Bote ist aber bestrebt, Daniel zu (weiterer) Erkenntnis zu verhelfen. Mit der Wendung $nybhl ytab – „ich bin gekommen, damit du verstehst“ – beschreibt er in 10,14a den Zweck seines Erscheinens. Dieses Verstehen wird in 10,14b weiter präzisiert: Daniel soll verstehen, was seinem Volk an den letzten Tagen (~ymyh tyrxab) begegnen wird. Dem Boten ist es offenbar wichtig, dass Daniel den Zweck seines Kommens begreift, denn kurz bevor die eigentliche Zukunftsansage beginnt, fragt er in 10,20b noch einmal nach: $yla ytab-hml t[dyh – „Hast du erkannt, wozu ich zu dir gekommen bin?“ Während also in der Zukunftsansage 11,2b – 12,3 das Verstehen der Könige und der ~ylykfm im Vordergrund steht, konzentrieren sich die Einleitung 10,1 sowie die beiden vorderen Teile des Rahmens, 10,2–19 und 10,20 – 11,2a ganz auf das Verstehen Daniels. Im hinteren Teil des Rahmens setzt sich die Motivlinie „Verstehen“ fort. Der Bote schließt seinen Monolog mit der Ankündigung in 12,4d, die Erkenntnis (t[dh) werde zunehmen. Auch das Thema des Verstehens Daniels wird weitergeführt, allerdings anders, als die Einleitung der Perikope dies nahelegt. Während in 10,1 davon die Rede ist, dass Daniel die an ihn gerichtete Offenbarung versteht, teilt er selbst diesen Eindruck nicht. In 12,8b sagt er von sich selbst: !yba alw – „und ich verstand nicht“. Das Bemühen Daniels zu verstehen führt an dieser Stelle nicht weiter. Auf seine erneute Rückfrage in 12,8d erhält er in 12,9 keine Antwort mehr. Stattdessen werden in 12,10f die aus dem Mittelteil der Perikope bereits bekannten ~ylykfm erwähnt. Diese, so kündigt der Bote an, werden verstehen (wnyby), die Frevler aber, die weiterhin freveln werden (w[yvrh; 12,10d), werden nicht verstehen (wnyby al; 12,10e). Indem die Wurzel !yb in 12,10e verneint, in 12,10f aber unverneint begegnet, werden ~ylykfm und Frevler unter dem Gesichtspunkt des Verstehens als Vertreter von gegensätzlichen und unvereinbaren Lebensmodellen gezeichnet. Dabei wird diese Gegenüberstellung durch die chiastische Anordnung der Teilsätze noch unterstrichen. Während sowohl die beiden Verben !yb und [dy als auch die Gruppe der ~ylykfm in der Zukunftsvision und in den Rahmenteilen vorkommen, begegnet das Stichwort tma – „Wahrheit“ in der Schlussvision nur in Dan 10. 17
KRATZ, Visionen, 239, versteht das Fasten Daniels in Dan 10,2 als Konsequenz der Vision in Dan 8, auf die Dan 10 – 12 nach seiner Überzeugung ursprünglich folgte: „Der Anfang 10,2 schließt (...) nahtlos an 8,27 an: Daniel fastet, weil er Kap. 8 nicht verstanden hat (vgl. 10,12).“ Das in 10,12 erwähnte Bemühen Daniels zu verstehen bezöge sich dementsprechend ebenfalls auf 8,27.
2. Motivlinien
263
So wird die Offenbarung, die Daniel empfängt, noch in der Einleitung in 10,1b als „Wahrheit“ qualifiziert. Das Stichwort wird von dem himmlischen Boten kurz vor Beginn der eigentlichen Zukunftsansage noch zweimal wiederholt. In 10,21a kündigt der Bote an, er werde Daniel berichten, was im Buch der Wahrheit (tma btkb) aufgeschrieben sei. Diese Ankündigung wiederholt er in 11,2a in verkürzter Fassung: $l dyga tma ht[w – „Und nun will ich dir Wahrheit berichten“. Auf diese Weise wird die Schlussvision eng mit den beiden vorhergehenden Visionen Dan 8 und Dan 9 verknüpft, die ebenfalls das Stichwort tma – „Wahrheit“ verwenden.18 Dabei wird aus dem unmittelbaren Kontext der Vision nicht klar, was mit dem Begriff „Wahrheit“ gemeint ist. Wildberger versteht darunter, dass die Offenbarung, welche Daniel empfängt, ein „genaues Spiegelbild der kommenden Ereignisse ist“19. Das Buch der Wahrheit, von dem in Dan 10,21a die Rede ist, wird außerdem häufig als Parallele der aus dem babylonischen Bereich bekannten Schicksalstafeln verstanden.20 Allerdings ist auch eine innerbiblische Interpretation dieser Wendung möglich. So bemerkt Lacoque: „Ce ne sont pas seulement les tables célestes, mais aussi les Ecritures prophétiques.“21 Mit dem Buch der Wahrheit sind dann biblische Texte gemeint, die sich durch die Offenbarung, welche an Daniel ergeht, als wahr erweisen.22 Wildberger weist darauf hin, dass die Verwendung von tma im Danielbuch, verglichen mit den übrigen biblischen Belegen, singulär ist.23 Das Bedeutungsspektrum des Nomens umfasst die Aspekte der Festigkeit im Sinne von Beständigkeit, Sicherheit und Dauer, der Verlässlichkeit und der Treue.24 Darüber hinaus bezeichnet tma auch die Grundlagen der kosmischen Ordnung.25 Das Bedeutungsspektrum von tma berührt sich demnach mit der Bedeutung von ~lw[ – „Dauer“. Ausgehend vom biblischen Bedeutungsspektrum von tma liegt es somit nahe, dass die Qualifizierung der Offenbarung an Daniel als tma nicht nur deren Zuverlässigkeit im Sinne einer determinierten Zukunft
18 19 20
167. 21
Das Stichwort tma begegnet in Dan 8,12.26; 9,13. WILDBERGER, !ma, 208. Vgl. WILDBERGER, !ma, 208; so auch COLLINS, Daniel 1993, 376; SEOW, Daniel
LACOQUE, Livre de Daniel, 158. So versteht PLÖGER, Buch Daniel, 150, unter dem Buch der Wahrheit die Ankündigung der 70 Exilsjahre bei Jeremia. LACOQUE, Livre de Daniel, 158, bezieht die Formulierung auf die Ankündigung Deuterojesajas von der Wiederherstellung des Gottesvolkes und auf den Propheten Habakuk. 23 Vgl. WILDBERGER, !ma, 208. 24 Vgl. WILDBERGER, !ma, 201–209. 25 Vgl. WILDBERGER, !ma, 206. 22
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Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
meint26, sondern auch auf die verborgene Ordnung verweist, die mit einer Perspektive der Beständigkeit verbunden ist.27 Gleich die erste Verbform der Perikope verknüpft das Thema des Verstehens außerdem mit dem Thema der Offenbarung. Nach der einleitenden Zeitangabe ist in 10,1a davon die Rede, dass dem Daniel ein „Wort“ oder eine „Sache“ (rbd) „aufgedeckt wird“ (hlgn). Mit dieser Formulierung zeigt der Text gleich zu Beginn eine enge Verbindung zur prophetischen Tradition der Bibel: „The Hebrew verb gālāh, ‚to reveal‘, has a rich meaning in second Isaiah (40:5; 47:2; 53:1; 56:1). Lacoque (p. 152) is of the opinion that the present apocalypse is a midrash on Isaiah, and that the midrash begins here with the verb niglāh. He points out that the noun dābār has become practically a synonym for mystery, particularly when used in conjunction with the verb gālāh.“28
Die Motivlinie „Verstehen“ in den Rahmenteilen von Dan 10 – 12 ergänzt das semantische Feld „Verstehen“ in der Zukunftsansage somit in zweifacher Hinsicht. Erstens begegnen die beiden in der Zukunftsansage verwendeten Verben !yb und [dy in den Rahmenteilen in Bezug auf Daniel. Am Beispiel von Daniel wird das Thema „Verstehen“ bereits am Beginn der Perikope aufgegriffen. Er erscheint so zunächst als Prototyp des Ver26 So beispielsweise verstanden von COLLINS, Daniel 1993, 376; LEBRAM, Buch Daniel, 125. 27 Vgl. in diesem Zusammenhang auch KOCH, Geheimnis der Zeit, 61, der auf die Rolle des Wahrheitsbegriffs innerhalb der Zeitreflexionen in der sog. Gemeinderegel von Qumran hinweist: „Für die in Qumran gelesene Instruktion (...) läuft der ôlam trotz erschreckendem Leid und Unheil einer Vollendung von Wahrheit und Gerechtigkeit zu, und alles dem Menschen so oft chaotisch erscheinende Werden ist in seinem Gefälle schon in der Schöpfung vorherbestimmt worden. Was gegenwärtig als Wirklichkeit erlebt wird, ist geprägt durch die dualistische Spaltung eines guten und eines bösen Kraftfelds, dem von Wahrheit und dem von Bosheit, die ihre Wirkung je nach der anfallenden Zeit entfalten. Doch sie wird verschwinden. Die Erwählten werden zur künftigen Vollendung gelangen, wenn sie dem geheimnisvollen Werden – in der Geschichte und wohl auch in der Natur – nachspüren und es durch ihr Handeln in Wahrheit internalisieren.“ 28 HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 278. Neben den erwähnten Jesaja-Stellen begegnet hlg außerdem noch in Gen 35,7; 1 Sam 2,27; 3,7; Am 3,7, in der Bileam-Perikope in Num 24,4.16 sowie in Dtn 29,28 in Zusammenhang mit Offenbarungsgeschehnissen; vgl. WESTERMANN – ALBERTZ, hlg, 424f. Westermann und Albertz gehen jedoch nicht davon aus, dass hlg im Alten Testament „so etwas wie ein Terminus für Offenbarung geworden ist. Ein fester, häufiger und klar umrissener Gebrauch zeigt sich nicht. glh kann Gottes Sich-Zeigen oder Sich-Offenbaren in einem Reden und in einem Handeln bezeichnen, aber das geschieht nur selten und überwiegend im Abstand der Reflexion. Das Verbum ist so wenig auf spezifische Offenbarungsvorgänge festgelegt, daß es neben der Wortoffenbarung an Propheten (nur selten) oder einer Gotteserscheinung (nur Gen 35,7) auch das Wirken Gottes in der Geschichte und im Schicksal eines Menschen bezeichnen kann“; WESTERMANN – ALBERTZ, hlg, 425.
2. Motivlinien
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stehenden. Dieses Bild wird jedoch im hinteren Teil des Rahmens gebrochen, wenn Daniel von sich selbst sagt, dass er die Rede des himmlischen Boten nicht versteht. An dieser Stelle schwenkt die Perspektive des Textes um und richtet sich auf die ~ylykfm, welche ebenfalls bereits in der Zukunftsansage erwähnt wurden und so eine Klammer zwischen Rahmen und Mittelteil der Perikope bilden. Während Daniel in seinem Zustand des Nicht-Verstehens zurückgelassen wird, wird den ~ylykfm Verständnis verheißen. Zweitens fügen die beiden Begriffe tma und hlg dem Thema „Verstehen“ weitere Aspekte hinzu. Sie machen deutlich, dass die Erkenntnis, um die es in Dan 10 – 12 geht, eng mit Gott verbunden ist. Als Offenbarung wird der Erkenntnisprozess Daniels von Gott initiiert. Der Erkenntnisinhalt wird als Wahrheit qualifiziert, was sowohl dessen inhaltliche Zuverlässigkeit als auch die damit verbundene Perspektive der Beständigkeit meint. Beides kann nur von Gott zugesagt werden. 2.4 Die Motivlinie „Zeit“ Auch das Thema „Zeit“ verbindet Einleitung und Rahmen mit dem Mittelteil von Dan 10 – 12. Die Motivlinie besteht aus verschiedenen Gruppen von Zeitbegriffen oder Zeitangaben. Eine erste Gruppe bilden die Zeitangaben in 10,1a.2.3c.4a.12c.13a.14b.c, die den Visionsbericht strukturieren und in zeitliche Abläufe einordnen. Diese sind auf drei unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelt: auf der Ebene der Regierungszeiten der Könige, die das gesamte Danielbuch durchzieht, auf der Ebene von Daniels Zeiterfahrung und auf der Ebene der Zeit in der Welt des himmlischen Boten. Die Perikope beginnt, ähnlich wie Dan 1; Dan 2; Dan 7; Dan 8 und Dan 9, mit einer Zeitangabe, die das im Folgenden geschilderte Geschehen in ein bestimmtes Regierungsjahr eines Königs einordnet. Die Angabe am Satzanfang von 10,1a nennt das dritte Jahr des persischen Königs Kyros. Die nächste Zeitangabe am Anfang von 10,2 ~hh ~ymyb – „in jenen Tagen“ verweist auf die erste Angabe in 10,1a zurück und leitet gleichzeitig Daniels Visionsbericht ein. Auf diese Weise werden Daniels Erfahrungen mit der Ebene der Weltpolitik in Beziehung gesetzt. Die Angabe fungiert somit als Gelenk zwischen der Zeitebene der Könige und derjenigen Daniels. Die folgenden Zeitangaben in 10,3c und 10,4a greifen aus der Zeit Daniels eine kleinere Einheit heraus. Daniels Fasten wird in 10,3c auf drei Wochen begrenzt. Eine noch kleinere Zeiteinheit begegnet in der Angabe am Anfang von 10,4a, die das nachfolgende Geschehen auf den 24. Tag des ersten Monats datiert.29 In den Versen 10,1–4 vollzieht sich somit eine Art 29 Damit fastet Daniel während des Pessachfestes, das bis zum 21. Nisan dauert. Siehe dazu Kapitel I. 2.1.
266
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
„Zoom“ von der in Jahren gemessenen Zeitebene der Weltreiche und ihrer Könige bis zum individuellen, in Wochen und schließlich in Tagen gemessenen Erleben Daniels. Die dritte Zeitebene, nämlich die Zeit in der Welt des Boten, kommt in Dan 10,13a ins Spiel. Hier erwähnt der Bote, dass ihm der Fürst des Königreichs Paras 21 Tage lang gegenübergestanden sei. Diese Zeit entspricht genau den drei Fastenwochen, von denen Daniel in 10,3c berichtet hat.30 Damit wird deutlich, dass sich die Vorgänge in der Welt des Boten und die Vorgänge in der Welt Daniels parallel zueinander verhalten. Insgesamt verknüpfen die Zeitangaben in Dan 10,1–13 somit die Ebene der Weltpolitik, die Ebene von Daniels individuellem Erleben und die Ebene der Völkerengel miteinander. Während diese Zeitangaben das erzählte Visionsgeschehen strukturieren, ordnet die Wendung ~ymyh tyrxab – „in fernen Tagen/in den letzten Tagen“31 in 10,14b den Inhalt der ab 11,2b entfalteten Zukunftsansage ein. Dies verdeutlicht die Aussage in 10,14c ~ymyl !wzx dw[-yk – „denn die Dauer der Vision ist bis zu diesen Tagen“. Bei der Formulierung ~ymyh tyrxab handelt es sich um eine geprägte Wendung, die im biblischen Kanon Wendepunkte in der Geschichte Israels (Dtn 4,30; 31,29) oder eine definitive Transformation von Israel (Jes 2,2; Mi 4,1; Hos 3,5) in den Blick nimmt, teilweise auch in dezidiert eschatologischer Ausprägung (Ez 38,16).32 Collins versteht auch die Schlussvision des Danielbuches als Ankündigung einer solchen definitiven Wende. „In Daniel, too, the reference is to a definitive change in the future but not to an end of history.“33 Im hinteren Teil des Rahmens begegnet außerdem mehrfach das Stichwort #q – „Ende“ wieder, das auch die gesamte Zukunftsansage im Mittelteil durchzieht. #q bezeichnet in Dan 11 zum einen das Ende bestimmter Zeitabschnitte, zum anderen ein absolutes Ende, wobei jedoch offenbleibt, ob damit das Ende der Zeit und der Welt gemeint ist.34 Die mehrfache Ankündigung einer Frist, die noch bis zum Ende verbleibt, bewirkt, dass sich die gesamte Zukunftsansage immer deutlicher auf dieses Ende zuspitzt. Die Zeit des Endes beginnt schließlich in 11,40. Sie beinhaltet das persönliche Ende des letzten Königs in 11,45 und geht einher mit der in 12,1–3 30
COLLINS, Daniel 1993, 375: „The twenty-one days indicate the time during which Daniel was fasting.“ 31 COLLINS, Daniel 1993, 161, spricht sich gegen die häufig anzutreffende Übersetzung der Wendung mit „am Ende der Tage“ aus: „Even in these cases, however, the conventional translation ‚end of days‘ is questionable, since an end of the world or of history is not envisaged.“ 32 Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 161. 33 COLLINS, Daniel 1993, 161. 34 Vgl. COLLINS, Meaning of „The End“, 95f.
2. Motivlinien
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beschriebenen Zeit der Not und der Entscheidung über Bestand oder Untergang.35 Das Stichwort #q wird nun in den beiden hinteren Rahmenteilen 12,4 und 12,5–13 wieder aufgegriffen, und zwar sowohl aus der Perspektive Daniels als Visionsempfänger zur Regierungszeit des Kyros als auch auf der Ebene der Zukunftsansage, zu der nun verschiedene Rückfragen gestellt werden. Der Text wechselt somit zwischen der Zeitebene Daniels und der Zeitebene der Zukunftsansage hin und her. Indem der Begriff #q auf diesen beiden Zeitebenen verwendet wird, werden diese Ebenen miteinander verschränkt. In 12,4b, also dem Schlussvers des Monologs, fordert der Bote Daniel auf, die empfangene Offenbarung zu verschließen und zu versiegeln #q t[-d[ – „bis zur Zeit des Endes“. Während also in der Zukunftsansage das Ende bereits erreicht war, springt der Text in 12,4 wieder zur Position Daniels in der Zeit König Kyros’ zurück und blickt von dort erneut auf die Zeit des Endes. In der nun folgenden Fortsetzung der Vision beziehen sich eine Reihe von Rückfragen auf das angekündigte Ende. So hört Daniel in 12,6b eine weitere, am Fluss erschienene Gestalt fragen: twalph #q ytm-d[ – „Bis wann [dauert] das Ende des Außergewöhnlichen?“ Der Ausdruck alp – „Außergewöhnliches, Wunder“ spielt auf die Ankündigung in Dan 11,36d an: twalpn rbdy ~yla la l[w – „und über den Gott der Götter wird er Unerhörtes reden“. Die Antwort, die darauf von einer anderen Gestalt in 12,7d erteilt wird, enthält eine Zeitangabe und verweist auf ein Ereignis: vdq-~[-dy #pn twlkkw ychw ~yd[wm dwml – „nach einer Zeit und Zeiten und einer halben Zeit und nach der Beendigung des Zerstreuens der Macht eines heiligen Volkes“.36 Die Antwort erfolgt in Form eines Schwurs, wobei die Wendung ~lw[h yxb – „beim Lebenden der Ewigkeit“, mit der die Antwort in 12,7c eingeleitet wird, das Stichwort ~lw[ – „Dauer, Ewigkeit“ aus 12,1–3 aufnimmt. Dieser kurze Dialog ist ganz auf der Zeitebene der Zukunftsansage angesiedelt. Auch Daniel betritt noch einmal die Ebene der Zukunftsansage und nimmt mit der Frage hla tyrxa hm – „was ist das Letzte von diesem?“ in 12,8d Stellung zu dem eben erlebten Visionsgeschehen. Mit dem Stichwort tyrxa ruft er gleichzeitig die Wendung ~ymyh tyrxab – „in fernen Tagen/in den letzten Tagen“ in Erinnerung, mit der in 10,14 die gesamte Zukunftsansage qualifiziert wurde. Doch die Ebene der Zukunftsansage ist für Daniel nun verschlossen. Mit der Antwort „Geh, Daniel, denn verschlossen und versiegelt sind die Worte bis zur Zeit des Endes“ (#q t[-d[) in 12,9b.c 35 36
Vgl. COLLINS, Meaning of „The End“, 92. Vgl. COLLINS, Meaning of „The End“, 95.
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Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
scheint der himmlische Bote Daniel gleichsam wieder auf seine eigene Zeitebene zu verweisen. Dabei wird die Formulierung #q t[-d[ aus 12,4b erneut aufgegriffen. In der Fortsetzung seiner Rede verwendet der Bote in 12,11–12 zwei weitere Zeitangaben, die sich wieder auf der Ebene der Zukunftsansage finden: „Und seit der Zeit, dass entfernt wurde das tägliche Opfer und seit der Einrichtung der verwüstenden Abscheulichkeit: eintausendzweihundertundneunzig Tage. Selig der Harrende, der erreichen wird eintausenddreihundertundfünfunddreißig Tage.“ Der Verweis auf die „verwüstende Abscheulichkeit“ zielt auf die in Dan 11,31 geschilderten Ereignisse. Die Zeitangaben erscheinen somit als Präzisierungen der noch ausstehenden Zeitspanne nach diesen Ereignissen. Im Verlauf von Dan 12 wirken sie außerdem als vertiefende Erläuterung der dreieinhalb Zeiten, die nach 12,7d bis zum Ende des Außergewöhnlichen (12,6b) vergehen. Diese Zeitangaben haben zu zahlreichen Interpretationsversuchen Anlass gegeben. „It is generally agreed“, so Collins, „that all these figures bear a close relationship to the more schematic ‚three and a half years‘, or ‚half a week of years‘, of 7:25; 9:27; and 12:7.“37 Die meisten Exegetinnen und Exegeten folgen heute dem Vorschlag von Gunkel, der davon ausgeht, dass es sich bei der zweiten Zeitangabe um eine aktualisierte Berechnung nach dem Verstreichen des ersten Zeitpunkts handelt,38 wobei die Zahlen als realistische Zeitangaben verstanden werden. Eine deutlich andere Position vertritt demgegenüber Fournier Mathews. Sie weist darauf hin, dass die Summe der beiden Zahlen 1290 und 1335, 2625, den Tagen einer Jahrwoche aus Sonnenjahren (7 x 365 Tage) plus 70 Tage entspricht.39 Fournier Mathews identifiziert diese Zeitdauer mit der letzten Jahrwoche aus Dan 9, die sich dann durch besondere Fülle auszeichnet. Diese Jahrwoche wird in zwei ungleiche Hälften geteilt. Der erste Teil dieser Jahrwoche, die 1290 Tage in 12,11, sind bereits abgelaufen und entsprechen der ersten Hälfte der letzten Jahrwoche in Dan 9. Der zweite, heilvolle Teil, der in die Vollendung führt, dauert 1335 Tage lang und steht noch bevor. Fournier Mathews erklärt die beiden Zahlen 1290 und 1335 als gerundete pythagoreische Zahlen40, die möglichst nah an ein Siebener37
COLLINS, Daniel 1993, 400; vgl. auch FOURNIER MATHEWS, Numbers, 631. Vgl. GUNKEL, Schöpfung und Chaos, 269; COLLINS, Meaning of „The End“, 95f.; vgl. auch FOURNIER MATHEWS, Numbers, 631. 39 Vgl. FOURNIER MATHEWS, Numbers, 632f. 40 Den beiden Zahlen 1290 und 1335 liegen demnach die 36. Quadratzahl (1296) und die 36. Rechteckszahl (1332) zugrunde; vgl. FOURNIER MATHEWS, Numbers, 640f. Die n-te Quadratzahl entspricht der Summe aller ungeraden Zahlen von 1 bis n einschließlich n, die n-te Rechteckszahl der Summe aller geraden Zahlen von 1 bis n einschließlich n; vgl. FOURNIER MATHEWS, Numbers, 635f. 38
2. Motivlinien
269
bzw. Siebziger-Schema angeglichen werden, welches sich an der biblischen Sabbat-Idee orientiert41. In diesem Sinn versteht sie die Zeitangaben in 12,11–12 dezidiert nicht als historische Zeitangaben, sondern als symbolische Größen: „[T]he dates and numbers in Daniel are generally not meant to be literal or chronological indications of history. Thus, if none of the other dates or numbers in Daniel is meant to be mathematically or chronologically precise, then it is problematic to understand the numbers (dates) of Dan 12:11–12 as precise references to a specific historical event.“42
Unklar ist auch, was für den angekündigten Zeitpunkt zu erwarten ist. Die naheliegende Annahme, es gehe dabei um die Wiedereinweihung des Tempels und die Restitution des Opferbetriebs, deckt sich nicht mit der Zeitangabe der dreieinhalb Jahre. Da nach dem Bericht von 1 Makk der Tempel bereits nach drei Jahren wieder eingeweiht wurde, erwartet Daniel offenbar etwas anderes: „For the redactor, at least, the ‚end‘ was not the restauration of the temple but some more definitive event, most probably the resurrection that was described at the beginning of the chapter.“43
Ein letztes Mal begegnet das Stichwort #q im letzten Vers des Danielbuches. Die bereits in 12,9b ergangene Aufforderung „Geh, Daniel!“ wiederholt sich noch einmal in 12,13a. Hier fordert der Bote Daniel auf, #ql – „zum Ende“ zu gehen, und verbindet diese Aufforderung mit der Zusage !ymyh #ql $lrgl dm[tw – „du wirst aufstehen zu deinem Los am Ende der Tage“ in 12,13c. In diesem Vers laufen verschiedene Stränge zusammen. Die Aufforderung, zum Ende zu gehen, liegt zunächst auf der Zeitebene Daniels. Zum Ende gehen kann für Daniel nur heißen, zu seinem – biographischen – Ende zu gehen. Der Buchkontext macht dies plausibel: War Daniel in Dan 1 explizit als junger Mann an den Hof des babylonischen Königs gekommen, so steht er jetzt, viele Könige später, am Ende seines Lebens. Die Fortsetzung des Verses blickt jedoch über das Lebensende Daniels hinaus auf das „Ende der Tage“. Dann wird Daniel „zu seinem Los“ aufstehen. Es besteht somit ein Unterschied zwischen dem Ende, auf das Daniel zugehen soll, und dem „Ende der Tage“, an dem sich Daniels Los erfüllen wird. „It is the
41
Vgl. FOURNIER MATHEWS, Numbers, 639–643. FOURNIER MATHEWS, Numbers, 631f. 43 COLLINS, Daniel 1993, 401; vgl. auch COLLINS, Meaning of „The End“, 95f. Eine andere Position vertritt demgegenüber STAHL, Zeit, 493, der die Zeitangaben in 12,11–12 als Aktualisierung der in 8,14 als 2300 Abend-Morgen bezeichneten Zeitspanne von 1150 Tagen versteht und davon ausgeht, dass „[d]iese letzten Zusätze (...) sicher in die Spannung des Vorabends der Tempeleinweihung“ führen. 42
270
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
‚end of days‘ (...) when Daniel too will rise to his destiny.“44 Die Formulierung !ymyh #ql – „am Ende der Tage“ erinnert dabei an die Wendung ~ymyh tyrxab – „an den letzten Tagen“ in 10,14, welche die Zukunftsansage Dan 11 zeitlich einordnet. Daniels zukünftiges Los ist somit verknüpft mit den Ereignissen der Zukunftsansage in Dan 11, die ja ebenfalls auf die „Zeit des Endes“ (Dan 11,40a; 12,1a) zulaufen. Das Ende der Tage fällt dann auch zusammen mit dem Ende der außergewöhnlichen Ereignisse, nach dem in 12,6b gefragt wird, und mit der Zeit des Endes, die in 12,4b und 12,9c als Zeit, bis zu der die an Daniel ergangene Offenbarung versiegelt bleibt, beschrieben wird. Ferner greift die an Daniel gerichtete Zusage dm[t – „du wirst aufstehen“ sowohl auf die Bewegungsmuster in der Visionsschilderung in Dan 10 als auch in der Zukunftsansage in Dan 11 zurück. In Dan 10 fällt Daniel angesichts der überwältigenden Vision mehrfach zu Boden und wird aufgerichtet. Nun wird ihm zugesagt, dass er auch in letzter Hinsicht aufstehen wird. Damit ist Daniel gleichzeitig der Gegenentwurf zu den Königen, die aufstehen und andere zu Fall bringen, in letzter Hinsicht jedoch nicht stehen bleiben. Das Los Daniels wird in 12,13c nicht näher qualifiziert. Es liegt jedoch nahe, dass es dem Los der ~ylykfm, wie es in 12,3 beschrieben ist, gleichen wird. Daniel wird nicht nur bereits in Dan 1 als lykfm in das Buch eingeführt. Er verhält sich auch wie die ~ylykfm in Dan 11,33–35: Durch die Weitergabe der Zukunftsansage führt er „viele“ zur Erkenntnis – auch wenn er nach eigenen Angaben den Eindruck hat, nur ungenügend zu verstehen. Damit lassen sich insgesamt drei Gruppen von Zeitangaben und Zeitbegriffen unterscheiden, die in den Rahmenteilen von Dan 10 – 12 verschiedene inhaltliche Funktionen erfüllen. Am Anfang der Perikope begegnen als erste Gruppe mehrere Zeitangaben, die einerseits die unterschiedlichen Ebenen der Rahmenhandlung deutlich machen und diese andererseits miteinander verbinden. Zudem konstituiert jede dieser Ebenen, also die Ebene der Weltpolitik, der Biographie Daniels und der Welt der Völkerengel und himmlischen Boten, eine Verbindung zu den vorausgehenden Kapiteln des Buches. Zweitens stellt das Stichwort ~ymyh tyrxab – „an den letzten Tagen“ die Schlussvision des Danielbuches in einen gesamtbiblischen Horizont. Die in Dan 10 – 12 angekündigten Ereignisse und die damit verbundene Perspektive von Gericht und Rettung werden so verknüpft mit Wendepunkten in der Geschichte des Gottesvolkes Israel, wie sie in anderen biblischen Büchern
44
COLLINS, Meaning of „The End“, 96.
3. Narrative Einbindung durch das Setting
271
angekündigt werden, und können sogar als Erfüllung dieser Ankündigung gelesen werden. Durch den Begriff #q – „Ende“ werden drittens die Zeitebene Daniels und die Zeitebene der in der Zukunftsansage Dan 11 beschriebenen Ereignisse in ein Verhältnis gesetzt. Indem sich am Ende der Tage, auf das die Zukunftsansage zuläuft, auch Daniels persönliches Los entscheidet, werden beide Narrative miteinander verbunden. Daniels Verhalten in der Rahmenhandlung unterliegt damit den gleichen Kriterien wie das Verhalten der Könige und der ~ylykfm in Dan 11. Auf diese Weise wird der Abstand, der zwischen der Situation Daniels in der Rahmenhandlung und den in Dan 11 beschriebenen Ereignissen in vielfacher Hinsicht besteht, überbrückt. Die Narrative der Zukunftsansage und der Rahmenhandlung treten in ein wechselseitiges Deutungsverhältnis. Während einerseits Daniel vor dem Hintergrund von Dan 11 als lykfm erscheint, wird so andererseits deutlich, dass die Ereignisse der Zukunftsansage nicht nur auf eine eng umrissene historische Situation hinweisen, sondern wie ein Formular für vielfache Deutungen offen sind. Sogar Daniel, der lange vor dem historischen Eintreffen der Ereignisse lebt, kann sich darin wiederfinden.
3. Narrative Einbindung durch das Setting 3. Narrative Einbindung durch das Setting
Die Schlusskapitel des Danielbuches tragen die literarische Gestalt eines Visionsberichts, der die Erfahrungen eines Sehers namens Daniel dokumentiert, welcher in der Zeit des persischen Königs Kyros lebt. Während die Frage nach dem Realitätsgehalt dieses narrativen Settings zu Beginn der historisch-kritischen Auslegung des Textes ausgesprochen strittig war45, gilt der pseudoprophetische und fiktive Charakter des Visionsberichts heute nahezu als unumstritten.46 Sowohl die Gestaltung des Textes als Visionsbericht als auch die Datierung an das Ende des Babylonischen Exils transportieren jedoch auf der narrativen Ebene bestimmte Inhalte. Für die Funktion von Dan 10 und Dan 12 als Rahmen der Zukunftsansage Dan 11 sind diese narrativen Implikationen der Rahmenhandlung von Bedeutung. Die narrative Gestalt des Textes darf daher nicht nur unter einer enggeführten historischen Fragestellung betrachtet werden, sondern muss auch in inhaltlicher Hinsicht ausgewertet werden.
45
Siehe oben Kapitel II. 1.2. Vgl. aber BALDWIN, Some Literary Affinities, 96–99, die Argumente für die Entstehung des Buches im 6. Jahrhundert präsentiert. 46
272
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
3.1 Visionsbericht Die Frage, inwieweit mystische Erfahrungen wie das in Dan 10 und Dan 12 geschilderte Visionserlebnis für die Abfassung des Danieltextes eine Rolle gespielt haben, kann aus heutiger Sicht nicht beantwortet werden.47 In seiner vorliegenden Gestalt mit den zahlreichen innerbiblischen Anspielungen ist der Visionsbericht jedoch sicher ein Produkt literarischer Tätigkeit und nicht der direkte und ungefilterte Niederschlag eines visionären Erlebnisses. Mit der literarischen Gestalt des Textes als Visionsbericht sind jedoch auf narrativer Ebene verschiedene Implikationen verbunden. Der ausführliche Visionsbericht dient zunächst als großartiger, farbenprächtiger Vorhang, der die Bedeutung der nachfolgenden Offenbarung bereits vorwegnimmt. Durch die Einbettung in ein visionäres Geschehen wird die Zukunftsansage außerdem auf besondere Weise qualifiziert. Durch die Vision werden Himmel und Erde, die Sphäre Gottes und die Sphäre der irdischen Geschichte, miteinander verbunden. Meadowcroft spricht in diesem Zusammenhang von einer „apocalyptic cosmology of permeability between earth and heaven“48. In der Vision scheint die Perspektive Gottes durch, durch die Vision nimmt er Kontakt auf mit dem Seher und seiner Welt. Das erzählte Geschehen expliziert auf diese Weise, was durch die Verwendung der Wurzel hlg zum Ausdruck gebracht wird. Die innerhalb der Vision erhaltene Offenbarung erhält dadurch besondere Autorität.49 Mehr aber noch kommt dadurch die Anteilnahme Gottes an dem Geschehen auf Erden zum Ausdruck. Dementsprechend lässt Goldingay „Daniel“ sagen: „Heavenly beings (...) had been in touch with me. Their appearing may highlight the real gulf between earth and heaven, which makes it neccesary for revelation to be sought and granted, but it also highlights the real contact between earth and heaven, because revelation was sought and granted (...).“50
47
Vgl. COLLINS, Daniel 1993, 57f. MEADOWCROFT, Princes, 99. 49 So beispielsweise COLLINS, Daniel 1993, 403. Vgl. jedoch GOLDINGAY, Daniel 1989, 311, der darauf hinweist, dass der mit der Einbettung der Zukunftsansage in ein Visionsgeschehen verbundene Anspruch auf Autorität allein nicht ausreicht, um der Zukunftsansage Glaubwürdigkeit zu verleihen. So lässt Goldingay den Verfasser des Danielbuches sagen: „(...) even if I was inviting people to believe that the message was recieved through a revelatory experience, ‚translated‘ into – or experienced as – an experience of the exilic Daniel, I and they also knew that a claim to revelatory experience is not to be accepted purely on the basis of the claim.“ 50 GOLDINGAY, Daniel 1989, 310f. Goldingay legt den Teil „Explanation“ in seinem Kommentar zu Dan 10 – 12 „Daniel“ bzw. dem Verfasser des Danielbuches in den Mund. 48
3. Narrative Einbindung durch das Setting
273
Dies kommt auch durch die beiden Begriffe tma – „Wahrheit“ und hlg – „offenbaren“ zum Ausdruck, die die Motivlinie „Verstehen“ ergänzen. Die an Daniel ergehende Offenbarung wird mit diesen beiden Begriffen als von Gott gegeben qualifiziert. Auf die biblischen Bezüge der Rahmenhandlung wurde bereits zu Beginn von Kapitel IV im Zusammenhang mit der Einheit der Perikope eingegangen. Besonders deutlich sind dabei die Parallelen zu den Berufungsvisionen am Beginn des Ezechielbuches (Ez 1 – 3; 9 – 10).51 Ähnlich wie die Schlussvision des Danielbuches beginnt auch das Ezechielbuch in Ez 1,1–2 mit Zeitangaben, die sich sowohl auf die Situation Ezechiels als auch auf die weltpolitische Lage beziehen: Ezechiel empfängt am fünften Tag des vierten Monats im dreißigsten Jahr der Verschleppung eine Vision. Dieser Zeitpunkt entspricht dem fünften Jahr nach der Verschleppung des judäischen Königs Jojachin. Auch der Ort der Vision Ezechiels gleicht dem Ort, an dem Daniel seine Vision empfängt. In beiden Fällen handelt es sich um ein Flussufer (vgl. Ez 1,3). Auch die Schilderung des Mannes, der Daniel in seiner Vision erscheint, ist stark an Schilderungen im Ezechielbuch angelehnt.52 Darüber hinaus verweist auch Daniels Reaktion auf den Visionsempfang auf Ezechiel: Wie dieser in Ez 3,26 auf Gottes Geheiß verstummen muss, so verstummt (~la) auch Daniel in Dan 10,15.53 Dieselbe Vokabel begegnet außerdem im Vierten Gottesknechtslied in Jes 53,7.54 Als Visionsempfänger steht Daniel damit in der Reihe der großen biblischen Propheten, die ebenfalls von visionären Erlebnissen berichten.55 Durch die Gestaltung von Dan 10 – 12 als Visionsbericht wird also zum einen die Nähe Gottes zu seinem Volk und sein Engagement für die Abläufe der Geschichte deutlich. Zum anderen schlägt die narrative Gestalt des Textes eine Brücke zur prophetischen Tradition der Bibel mit ihren zahlreichen Visionsschilderungen und trägt so zur kanonischen Verankerung des Danielbuches bei.
51
Vgl. MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 94; DELCOR, Livre de Daniel, 206–208. 52 Vgl. GOLDINGAY, Daniel 1989, 284. 53 Vgl. auch Ez 24,27; 33,22. 54 Die bereits oben in Kapitel II. 4 beschriebene enge Verbindung zwischen dem Danielschluss und dem Vierten Gottesknechtslied Jes 52,13 – 53,12 wird so noch verstärkt; vgl. auch MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 94–96. 55 Vgl. in diesem Zusammenhang auch PLÖGER, Theokratie, der ausgehend von der religionsgeschichtlichen Frage nach der theologischen Herkunft der Apokalyptik die Verankerung des Danielbuches in der prophetischen Tradition der Bibel herausarbeitet. Plögers Ergebnisse wären im Rahmen kanonischer Bibelhermeneutik neu auszuwerten.
274
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
3.2 Zeugnis aus dem Exil Die Schlussvision des Danielbuches spielt nicht nur generell auf die Tradition der biblischen Prophetie an, sondern greift mit Ezechiel auf einen Propheten zurück, der dezidiert im Exil verortet ist. Der Aspekt des Exils wird damit auch für die Danielvision besonders betont.56 Jenseits von der Frage, ob das Danielbuch in das 6. oder in das 2. Jahrhundert v.Chr. zu datieren sei, bewirkt die narrative Gestaltung als Zeugnis aus dem Exil, dass das Exil und seine Implikationen zum Deutungsmuster für den Inhalt von Daniels Vision werden. Die Erfahrung, dass fremde Völker über das Volk Israel herrschen und dabei das Zentrum der nationalen und religiösen Identität verletzen und zerstören, kulminiert in der hebräischen Bibel im Babylonischen Exil. Diese Erfahrung wiederholt sich aber auch nach dem Exil, als Israel in das Land der Verheißung zurückkehrt und den Tempel wieder aufbaut.57 Dan 9 versucht diese Erfahrung mit der Ankündigung Jeremias, das Exil werde 70 Jahre dauern, in Einklang zu bringen.58 Die Datierung von Dan 10 – 12 könnte ein Hinweis auf diese „Ausdehnung“ des Exils sein. Daniel befindet sich im dritten Jahr des persischen Königs Kyros. Damit ist die Zeitspanne, die in Dan 1,21 für Daniels Aufenthalt am Hof eines fremden Königs festgelegt wird, bereits überschritten. Dennoch macht die Schilderung in Dan 10 nicht den Eindruck, als sei das Exil für Daniel beendet und er nach Jerusalem zurückgekehrt. Vielmehr scheint das Exil über den erwarteten Zeitpunkt hinaus verlängert zu sein. Diese Rahmensituation deutet gleichzeitig den Inhalt der Offenbarung, welche Daniel unter diesen Bedingungen empfängt: Die Zukunftsansage Dan 11 handelt von der Verwüstung des Tempels und ordnet diese in ein weltgeschichtliches Muster ein. Sie greift damit auf ein Motiv zurück, das bereits in Dan 1 pars pro toto für die Erfahrung des Exils steht: Die Entwendung der Tempelgeräte aus dem Jerusalemer Heiligtum durch Nebukadnezzar. Die gewaltsamen Eingriffe in den Jerusalemer Tempelkult unter dem letzten König des Nordens werden so als Erfahrung eines verlängerten Exils charakterisiert.
56
Vgl. MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 93–96. Vgl. GREGORY, Postexilic Exile. 58 MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 93, merkt an, dass neben der Ankündigung des 70-jährigen Exils bei Jeremia auch die chronistische Deutung des Exils als Zeit der Reinigung im Danielbuch aufgenommen wird, und konstatiert: „Thus the writer takes both Jeremiah’s prophecy concerning the Exile and the Chronicler’s theological interpretation of its purpose and significance, and related that to the whole period from that time until his own day, a period which he sees as what we might term a continuing ‚Babylonian captivity of the people of God‘“; vgl. auch 99f. 57
4. Der Rahmen als Leseanleitung und Kommentar
275
Damit werden einerseits die konkreten historischen Ereignisse unter Antiochos IV. als Exilserfahrungen gedeutet. Die narrative Einbettung der Zukunftsansage Dan 11 als Vision und Audition Daniels während der Regierungszeit des Kyros ermöglicht, dass die gesamte Zeitspanne vom Ende des Exils bis zur Seleukidenzeit in einer Person zusammenfließt. Durch die Situierung Daniels im Exil wird die Exilserfahrung gleichzeitig zur Folie, vor der die Erfahrung während der Krise unter Antiochos interpretiert wird. Andererseits wird durch die Verbindung der Ereignisse aus der Seleukidenzeit mit den Exilsereignissen der schematische und damit formularhafte Charakter der Zukunftsansage weiter betont. Die Ereignisse unter Antiochos stehen nicht als individuelle Ereignisse für sich, sondern sind Beispiele einer für das Volk Israel paradigmatisch gewordenen Erfahrung der Unterdrückung und Bedrohung durch fremde Völker und ihre mächtigen Könige.
4. Der Rahmen als Leseanleitung und Kommentar 4. Der Rahmen als Leseanleitung und Kommentar „Indeed, rather than arguing for a prologue or introduction and epilogue, it is more accurate to see ch. 10 and 12.5–13 as forming the framework within which ch. 11 may be understood.“59
Diese Einschätzung von Meadowcroft findet Bestätigung durch die zahlreichen Bezüge, die zwischen den Rahmenteilen und der Zukunftsansage im Zentrum von Dan 10 – 12 bestehen. Rahmen und Zentrum werden so nicht nur formal miteinander verknüpft, sondern treten auch in ein Interpretationsverhältnis: Der Rahmen dient als Leseanleitung und Kommentar der Zukunftsansage. Diese Erkenntnis kann insbesondere an der Rolle der Danielfigur festgemacht werden. 4.1 Daniel als Gegenentwurf zu den Königen Die Wortfelder, mit denen das Agieren der Könige in Dan 11 beschrieben wird, beschreiben auch das Verhalten Daniels während des Visionsempfangs. Auf diese Weise erscheint Daniel als Spiegel der Ereignisse der großen Weltgeschichte. Insbesondere anhand der Motivlinien „Bewegung“, „Macht“ und „Verstehen“ wurde deutlich, dass Daniel in der Rahmenhandlung in vielfacher Hinsicht das Gegenteil der Könige in Dan 11 darstellt. Er fällt, wird aber aufgerichtet, während die Könige sich erheben, andere zu Fall bringen, letztlich aber nicht bestehen. Daniel ist angesichts der Visionserfahrung kraftlos und wird gestärkt, die Könige hingegen bemächtigen sich der Herrschaft, haben eine Vielzahl von Machtmitteln zu ihrer 59
MEADOWCROFT, Princes, 106.
276
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
Verfügung und sind am Ende doch ohne Helfer. Daniel strebt nach Verständnis, und ihm wird Einsicht geschenkt, während insbesondere der letzte König des Nordens dezidiert nicht versteht. Daniel erscheint somit als Projektionsfläche für die Prozesse, die den Lauf der Weltgeschichte bestimmen. An ihm wird im Kleinen deutlich, worauf es auch in den großen Zusammenhängen ankommt. Obwohl Daniel sowohl räumlich als auch zeitlich weit von den Ereignissen getrennt ist, die ihm der himmlische Bote offenbart, wird er doch mit seiner ganzen Existenz in sie hineingezogen. Durch die Parallelführung der weltgeschichtlichen Prozesse mit den Prozessen, denen Daniel während des Visionsempfangs unterliegt, changiert die Perspektive der Schlussvision zwischen der historisch-kosmischen Totale, welche die Welt der Könige der Völker sowie die Auseinandersetzungen zwischen den himmlischen Fürsten umfasst, und der Nahaufnahme des Individuums Daniel. Außerdem erscheint Daniel noch in einer weiteren Hinsicht als Projektionsfläche und als Gegenentwurf zu den Königen: Die Vokabel dwmx – „Kostbarkeit“60 bezieht sich sowohl auf ihn als Mensch, der für Gott kostbar ist (Dan 10,11b.19b), als auch auf die Kostbarkeiten, die der letzte König des Nordens dem „Gott, den seine Väter nicht kannten“, widmet (Dan 11,38b) bzw. die er während seines letzten Feldzuges an sich reißt (Dan 11,43a). Während also die Könige Kostbarkeiten aus Gold und Silber für ihre Macht einsetzen, ist aus der Perspektive Gottes Daniel die wahre Kostbarkeit. 4.2 Daniel als Schnittstelle für die Leserinnen und Leser Doch Daniel erscheint nicht nur in innertextlicher Hinsicht als Gegenbild der Könige und Projektionsfläche der weltgeschichtlichen Muster. Er ist auch alter ego der Leserinnen und Leser der Schlussvision. Bei der Betrachtung der Motivlinie „Verstehen“ in der Rahmenhandlung von Dan 10 – 12 wurde deutlich, dass Daniel einerseits nach Verständnis strebt und dieses auch erlangt, andererseits nach eigenen Angaben gerade am Ende der Schlussvision nicht versteht. Hier begegnen die beiden widersprüchlichen Strategien der Zukunftsansage Dan 11 wieder. Diese führt ihre Leserinnen und Leser einerseits durch ihre Inhalte und deren schematische Darstellung zur Einsicht. Andererseits verhindert die Tendenz der Darstellung, zu verschleiern und zu verdunkeln, gerade ein eindeutiges Verständnis, so dass sich nach der Lektüre ein ambivalenter Eindruck einstellt: Man hat verstanden und hat es doch nicht. Die Leserinnen und Leser können in Daniel daher ihr eigenes Spiegelbild erkennen. Durch die Lektüre des Textes befinden sie sich in einer ähn60 Die seltene Vokabel dwmx kommt fast nur im Danielbuch vor; siehe dazu oben die Erläuterungen zu Dan 10,11 in Kapitel I. 1.
4. Der Rahmen als Leseanleitung und Kommentar
277
lichen Situation wie Daniel in der Rahmenhandlung. Mit ihm haben sie die Offenbarung des Boten empfangen, wie er stehen sie dieser ratlos gegenüber. Daniel ist aber nicht nur Spiegel, sondern auch Vorbild für seine Leserinnen und Leser. In seinem Suchen nach Verständnis ähnelt er den ~ylykfm in Dan 11, die ja ebenfalls in erster Linie nach Einsicht und Verständnis suchen – und dadurch in Konflikt mit der bedrohlichen Macht der Könige geraten. In letzter Hinsicht wirkt sich dieses Streben nach Einsicht jedoch positiv aus. Es darf daher darauf gehofft werden, dass die Ankündigung aus 12,1 – die ~ylykfm werden leuchten wie die Sterne – auch für Daniel gilt, der sich ja wie ein lykfm verhält: Er strebt selbst nach Einsicht und verhilft vielen zur Einsicht – nämlich den Leserinnen und Lesern des Danielbuches.61 Die Danielfigur wird hier zur Schnittstelle für die Leserinnen und Leser: Wie Daniel kann der Leser seine persönliche Situation als Exil oder Diaspora deuten, wie Daniel kann die Leserin nach Einsicht streben und so versuchen, das Toben der Völker und Mächte um sich herum zu durchschauen. Mit Daniel teilen die Leserinnen und Leser die paradoxe Situation, zu verstehen und doch nicht zu verstehen. Durch ihn können sie sich ermutigt fühlen, trotz allem auf dem Weg der Erkenntnis zu bleiben, weiter zu versuchen, „im Dunkel zu lesen“, und schließlich die Zusage in 12,13 auf sich beziehen.62 Daniel schlägt auf diese Weise eine Brücke zu den ~ylykfm. Als alter ego der Leser einerseits und als vorbildlicher lykfm andererseits zeigt Daniel den Leserinnen und Lesern einen Weg auf, sich den ~ylykfm anzuschließen. Dies wird im Text noch einmal explizit in Dan 12,9–10 deutlich. Die Perspektive des Textes führt hier weg von Daniel, der mit den Worten „Geh, Daniel“ quasi von der Bühne geschickt wird. Stattdessen wendet sich der Text in Dan 12,10 drei Gruppen zu, die bereits aus Dan 11 bekannt sind: Den Vielen (~ybr), den Frevlern (~y[vr) und den Einsichtigen (~ylykfm). Während aber in Dan 11,35 die Einsichtigen, die die Vielen zur Gerechtigkeit führen, gereinigt werden, sind es jetzt „viele“ (Dan 12,10a. b.c). Gerade indem „viele“ nun das Schicksal der ~ylykfm teilen, wird deutlich, wie diese die Vielen zur Gerechtigkeit führen: indem „viele“ das 61
Eine beständige Perspektive wird auch dem Gerechten im Buch der Sprichwörter verheißen; vgl. KOCH, Geheimnis der Zeit, 38, zu Spr 10,25.30: „Wer den Lehren folgt und sich dadurch als Òaddîq erweist, dem wird allerdings ein Leben l e Ýôlam, also eine alle Ýittîm übergreifende Ýôlam-Zeit versprochen (...).“ Hier wird einmal mehr deutlich, wie sehr das Danielbuch auch mit der weisheitlichen Theologie des biblischen Kanons verknüpft ist; vgl. VON RAD, Daniel und die Apokalyptik. 62 In diesem Sinn wird Dan 12,13 auch im Ritus des jüdischen Begräbnisses verwendet; vgl. DE VRIES, Jüdische Riten, 293.306.
278
Kapitel IV: Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens
Verhalten der ~ylykfm nachahmen und ihnen so auf dem Weg der Erkenntnis folgen.63 An dieser Stelle öffnet sich der Text und wird für jede Leserin und jeden Leser zur Aufforderung, in das Dunkel der Geschichte hinein zum lykfm zu werden, nach Erkenntnis und Einsicht zu streben und so Beständigkeit zu erlangen. Die ~ylykfm werden so im Zusammenspiel mit Daniel zu Identifikationsfiguren für die Leserinnen und Leser. Die Situation der Verfolgung und Bedrängnis, welche in Dan 11,33–35 vorausgesetzt ist, wird so ausgeweitet – sie ist in der Zeit Daniels ebenso zu finden wie in der Seleukidenzeit und in jeder anderen Zeit, in der das Danielbuch gelesen wird. Dadurch wird die gesamte Darstellung zu einer Schablone, in der sich Leserinnen und Leser in unterschiedlichen Situationen wiederfinden können.
63
Vgl. aber COLLINS, Daniel 1993, 400: „This is a reference back to 11:35. There the
~ylykfm, who instructed the ~ybr, were purified. Here the distinction between the two groups seems to be lost, a possible sign for a different hand. In this passage, ~ybr is used without the article and indicates only that a goodly number will be purified.“
Kapitel V
Der Schluss als Schlüssel Am Ende dieser Studie soll der Blick nun vom Schluss des Buches aus auf das gesamte Danielbuch gerichtet werden. Als Buchschluss erfüllen die Kapitel Dan 10 – 12 eine besondere Funktion. Sie bündeln die Themen des Buches und legen eine Gesamtdeutung nahe. Vom Ende her ergibt sich auf diese Weise eine Schwerpunktsetzung für das gesamte Buch. Diese deckt natürlich nicht alle Aspekte der jeweils auch für sich stehenden Einzelkapitel ab. Indem aber die in den Schlusskapiteln sichtbaren Motivlinien auch in den übrigen Kapiteln des Buches begegnen, bindet der Schluss das gesamte Buch zusammen und trägt so zu seiner Einheit bei. Durch das close reading von Dan 11 wurden die Themen „Macht“, „Verstehen“ und „Zeit“ als inhaltliche Leitprinzipien der Zukunftsansage erkennbar (Kapitel III. 9.2). Diese inhaltlichen Schwerpunkte setzen sich auch in der Einleitung Dan 10,1 und den Rahmenteilen der Schlussvision Dan 10,2–19; 10,20 – 11,2a; 12,4 und 12,5–13 als Motivlinien fort (Kapitel IV. 2). Die Inhalte der Zukunftsansage werden auf diese Weise mit dem narrativen Setting der Schlussvision verbunden und so mit weiteren Deutungsebenen verknüpft. Die drei Motivlinien „Macht“, „Verstehen“ und „Zeit“ finden sich aber nicht nur in der Schlussvision, sondern ziehen sich durch alle Kapitel des Danielbuches. Ihre Spur durch das Danielbuch soll im Folgenden aufgezeigt und diskutiert werden, um die Funktion von Dan 10 – 12 als Buchschluss inhaltlich näher zu bestimmen.1
1 Auf Strukturen, die das gesamte Danielbuch durchziehen und so zusammenhalten, weisen auch ROWLEY, Unity of the Book of Daniel, und KRATZ, Visionen, hin. Allerdings versucht Rowley die Einheit des Danielbuches in produktionsästhetischer Hinsicht zu zeigen, während Kratz seine Beobachtung mit literar- und redaktionskritischen Thesen zum Wachstum des Danielbuches verbindet. Zu ROWLEY, Unity of the Book of Daniel, vgl. auch MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 90.
280
Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
1. Die Motivlinie „Macht“ 1. Die Motivlinie „Macht“
Bereits die erste Szene stellt klar: Die Frage der Macht spielt im Danielbuch eine wichtige Rolle. Das Danielbuch beginnt in Dan 1 mit der Schilderung des entscheidenden Umschlags im Verhältnis zwischen Israel und den fremden Völkern: König Nebukadnezzar von Babylon erobert Jerusalem, überwältigt den judäischen König Jojakim2 und bringt ihn samt einiger Geräte aus dem Tempel3 nach „Schinar“4. Das Thema der Macht wird so von Anfang an gesetzt. Es steht dabei unter einem bestimmten Fokus. Macht ist im Danielbuch die Macht der fremden, heidnischen Völker und ihrer Könige, die als überwältigend erfahren wird und die letztendlich Israels Identität im Kern bedroht, weil sie sich negativ auf die Beziehung zwischen dem Volk und seinem Gott auswirkt. Dies wird in Dan 1,2 durch die Erwähnung der Tempelgeräte verdeutlicht. Nebukadnezzar führt nicht nur König Jojakim in die Verbannung, er bemächtigt sich auch einiger Tempelgeräte und greift damit verletzend in den Jerusalemer Kult ein. Die Geräte sind dabei nicht nur Bestandteil dieses Kultes, sondern repräsentieren
2
Diese Angabe entspricht am ehesten 2 Chr 36,5, wonach Nebukadnezzar Jerusalem erstmals im elften Regierungsjahr von Jojakim belagert. Die Datierung der Belagerung Jerusalems in das dritte Jahr Jojakims in Dan 1,1 stimmt jedoch auch mit der chronistischen Zeitangabe nicht überein. So konstatiert KOCH, Daniel 1 – 4, 25f.: „Was über einen Angriff Nebukadnezzars auf Jerusalem im 3. Regierungsjahr Jojakims mit nachfolgender Verschleppung von König und Tempelgeräten erzählt wird, widerspricht allen verfügbaren historisch zuverlässigen Quellen, israelitischen wie babylonischen. (…) Genauere historische Forschung hat inzwischen ergeben, daß die Eingangsnotiz V. 1f. historisch nicht haltbar ist. Die Einnahme Jerusalems mit anschließender Wegführung des Königs Jojachin wird irrtümlich ca. acht Jahre vordatiert und mit seinem Vater Jojakim verbunden.“ MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 92f., weist aber darauf hin, dass die in Dan 1,2 erwähnte Verschleppung der Tempelgeräte ebenfalls in 2 Chr 36,7 berichtet wird. Die historisch falsche Zeitangabe bewirkt damit eine Verknüpfung der machtpolitischen Überlegenheit des fremden Königs mit der Verletzung der Gottesbeziehung Israels. Diese Konstellation zieht sich durch das gesamte Danielbuch. Zur Frage, ob die Angabe auf den Versuch zurückgeht, ein 70-jähriges Exil in Anlehnung an die auch für Dan 9 relevante Prophezeiung in Jer 25,11 zu konstruieren, vgl. die Diskussion bei COLLINS, Daniel 1993, 130–133. 3 Vgl. ACKROYD, Temple Vessels, 180f. 4 HAAG, Daniel, 23f., macht deutlich, dass es sich bei der Ortsbezeichnung „Schinar“ um eine metahistorische Angabe handelt: „Denn Schinar (…) ist nach der biblischen Urgeschichte das Land, wo sich der ‚Anfang‘ einer Weltherrschaft mit Babel als deren Träger (Gen 1010) und auch der Gegenpol zu der mit Abraham beginnenden Heilsgeschichte gebildet hat (Gen 1112). Ähnlich verweist auf Schinar als einen dem ‚Haus Jahwes‘ (Hos 81 915) entgegengesetzten Herrschaftsbereich (Sach 511) auch die auf Nebukadnezzar bezogene Ortsangabe ‚Haus seines Gottes‘.“
1. Die Motivlinie „Macht“
281
ihn insgesamt.5 Nebukadnezzar erscheint also als Vorläufer und Vorbild des letzten Königs des Nordens, dessen Truppen in Dan 11,30–32 ebenfalls den Jerusalemer Tempelkult verletzen. Eröffnung und Schluss des Buches korrespondieren auf diese Weise miteinander.6 Die Macht der Könige berührt und verletzt auch in Dan 11 den Tempel als Mitte der Gottesbeziehung Israels.7 Während aber am Beginn des Buches dieser Vorgang mit einem König, seinem Namen und seiner individuellen Geschichte verbunden wird, treten am Ende des Buches die anonymisierten ptolemäischen und seleukidischen Könige an Nebukadnezzars Stelle. Ihre Reihe kulminiert in der Gestalt des letzten Königs des Nordens, der die Züge des Seleukiden Antiochos IV. Epiphanes trägt. Seine schemenhafte Gestaltung lässt ihn und seine Vorgänger zum Formular für alle Mächte und Gewalten werden, die Israel überwältigen und bedrohen und auf diese Weise auch seine Gottesbeziehung gefährden. Betrachtet man die Eröffnungsszene des Buches vom Ende her, so erscheint Nebukadnezzar als ein konkretes Beispiel für einen Vorgang, der sich mehrfach wiederholt und sich, in der Perspektive der Schlussvision, auch weiter wiederholen wird, bis die Macht der Könige schließlich zu Grunde geht. Allgemeines Schema und individuelle Ausprägung erläutern sich so gegenseitig. Ein weiterer Aspekt verbindet den Anfang des Danielbuches mit dem Schluss: Die Macht der Könige ist nicht souverän, sie ist nicht unabhängig von Gottes Macht. Auch wenn die mächtigen Könige scheinbar ungehindert agieren, ist ihr Handeln doch eingebunden in Gottes Handeln. Was am Ende des Danielbuches durch die Perspektive der Rettung und des Gerichts (Dan 12,1–3) und der Überwindung der begrenzten Zeit durch Dauerhaftigkeit (~lw[) zum Ausdruck kommt, ist bereits am Anfang deutlich. Nicht Nebukadnezzar bringt König Jojakim und die Tempelgeräte in seine Macht, sondern Gott gibt sie in seine Macht (Dan 1,2)8. Gott stößt die Reihe der fremden Könige im Übergang zum Exil an und fängt sie am Ende wieder in seiner Hand auf. Er wird letztlich auch über sie richten.
5
ACKROYD, Temple Vessels, 170: „The temple vessels as essential component parts of the temple itself would then have the same function, that of depicting the order to which practice must conform the order which is itself linked to what the deity himself ordains.“ 6 Vgl. HARTMAN – DI LELLA, Book of Daniel, 277, die neben der Datierung auch die Nennung von König Kyros sowie von Daniels Exilsnamen „Beltschazzar“ als Elemente erwähnen, welche die erste und die letzte Erzählung des Buches im Sinn einer inclusio miteinander verbinden. 7 Siehe oben Kapitel III. 7. 8 Zur Idee der Übertragung der politischen Herrschaft über Israel an fremde Mächte vgl. KRATZ, Translatio imperii.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
Darüber hinaus betont der Anfang des Buches noch eine weitere Nuance, die für die Thematisierung der Macht im Danielbuch von Bedeutung ist. Die erste Szene in Dan 1 legt das narrative Setting des gesamten Buches fest: Es spielt im Babylonischen Exil. Wie bereits gezeigt wurde, greift die Schlussvision vor allem mit Hilfe der Einleitung Dan 10,1 die Exilsthematik auf. Das Exil ist für das Danielbuch jedoch weit mehr als ein bestimmtes historisches Ereignis. Insbesondere in Dan 9 wird deutlich, dass das Exil als Zeit der Verwüstung des Tempels und der Auslieferung an fremde Mächte längst zur Chiffre für die Situation der Gottesferne und der Auslieferung auch nach der Rückkehr aus der Gola geworden sind. In diesem Zusammenhang bemerkt Mason: „The writer of the book of Daniel also calls on Jeremiah’s ‚seventy years of exile‘ prophecy. […] But to which period is the writer now referring? Not, as the Chronicler did, to the literal period of the historical Babylonian Exile, but to the whole period from the fall of Jerusalem to the present events of his own time.“9
Indem Dan 10 – 12 durch die Datierung in das dritte Regierungsjahr des Kyros einerseits die Exilssituation dezidiert aufgreift, sie andererseits gegenüber Dan 1,21 aber ausdehnt, wird angedeutet, dass auch die in der Zukunftsansage beschriebenen Vorgänge als Exilserfahrungen interpretiert werden. Der Schluss weist so auf die am Anfang beschriebene Ur-Situation des Exils zurück und verbindet die formularhaft-schematische Zukunftsankündigung in Dan 11 mit dem Exil. Dieses wird dadurch noch einmal als Deutungsmuster für alle zukünftigen Situationen der Unterdrückung und Gottesferne ausgeweitet. In den folgenden Kapiteln begegnet die zerstörerische Macht der fremden Könige in verschiedenen Variationen. Dabei korrespondieren jeweils die Kapitel Dan 2 und Dan 7, Dan 3 und Dan 6 sowie Dan 4 und Dan 5 miteinander, so dass sich im aramäischen Teil des Buches eine konzentrische Struktur ergibt.10 In Dan 2 und Dan 7 wird die Frage der Macht auf der Ebene der Weltpolitik diskutiert. Jeweils vier Weltreiche treten hier in Erscheinung.11 Dem statischen Bild der aus vier unterschiedlichen Materialien bestehenden großen Figur in Dan 2 entsprechen in Dan 7 vier Tiere aus dem Meer. Während in Dan 2 Daniel das Traumbild von König Nebukadnezzar deutet, ist es in Dan 7 ein himmlischer Bote, der Daniel hilft, seine Vision zu ver9
MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 93; Hervorhebung: im Original. Vgl. dazu NIEHR, Buch Daniel, 508f. Zu Verbindungslinien innerhalb des aramäischen Buchteils Dan 2 – 7 vgl. KRATZ, Visionen, 227–233. 11 Zum Vier-Reiche-Schema und seiner Verbreitung im antiken Denken vgl. KOCH, Dareios, 130–137; KOCH, Weltgeschichte; KOCH, Daniel 1 – 4, 124–138; KOCH, Auserwähltes Volk. 10
1. Die Motivlinie „Macht“
283
stehen. „Die Rolle Daniels für den König übernimmt einer aus dem Kreis der Himmlischen für Daniel.“12 Vom Ende aus betrachtet werden in diesen Kapiteln vor allem zwei Aspekte der Macht erkennbar. Dies ist zum einen ihre zerstörerische Ausprägung. Insbesondere in Dan 7 tritt der aggressive Zug der vier Reiche deutlich zu Tage. In Dan 2 zeichnet sich vor allem das vierte, eiserne Reich durch Härte und Brutalität aus. Diese Qualifizierung der Weltreiche wird am Schluss des Buches in Dan 11 wieder aufgegriffen. Das semantische Feld „Zerstörung“ prägt die Geschichte der Könige in Dan 11 und lässt ihre Macht so als destruktiv erscheinen. Zum anderen ist bereits in Dan 2 und Dan 7 zu erkennen, dass die so übermächtig erscheinenden Weltreiche letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Während die Bewegungen der Könige in Dan 11 einander aufheben und die Zeit des Endes den Einflussbereich der Könige grundsätzlich begrenzt, wird der Untergang der vier Reiche im Bild von Dan 2 durch einen Stein symbolisiert, der die gesamte Statue zertrümmert. In Dan 7 werden die Tiere aus dem Meer von einem himmlischen Gericht entmachtet.13 Eine andere Facette der Macht wird in Dan 3 und Dan 6 thematisiert. Die Erzählungen von den Jünglingen im Feuerofen und von Daniel in der Löwengrube stellen einzelne Israeliten in den Mittelpunkt, die in der Situation des Exils ihrem Gott die Treue halten und deshalb die Könige der Völker als existenzielle Bedrohung erfahren. Das Verhalten der drei Jünglinge und Daniels spiegelt sich im Verhalten der ~ylykfm in Dan 11. Auch diese halten an dem von ihnen als richtig erkannten Weg des Verstehens gegen alle Anfechtungen fest (Dan 11,33–35). Wie die Jünglinge aus dem Feuerofen und Daniel aus der Löwengrube gerettet werden, so erfahren auch die ~ylykfm letztlich Gottes rettendes Handeln (Dan 12,1–3): Sie „werden glänzen wie der Glanz der Himmelswölbung und (…) wie die Sterne für Ewigkeit und alle Zeit“. Die beiden als Diptychon gestalteten Kapitel Dan 4 und Dan 514 in der Mitte des aramäischen Teils Dan 2 – 7 betonen besonders die Hybris als Charakterzug der fremden Könige. Dabei erinnert vor allem der frevlerische König Belschazzar in Dan 5 an den letzten König des Nordens in Dan 11. Ähnlich wie sich Belschazzar gegen den Gott Israels und seinen Tempel vergeht, indem er die Geräte aus dem Tempel für ein Festmahl 12
KRATZ, Visionen, 232. Zur Veränderung der Danielfigur im Verlaufe des Buches vgl. auch NIEHR, Buch Daniel, 511f. 13 Vgl. auch KRATZ, Visionen, 228, der auf die Bezüge zwischen Dan 2; 7 und 11 hinweist: „Der Gegensatz von viertem Reich und Gottesreich beherrscht auch die Vision in Dan 7, den Zehen in 2,40–44 entsprechen die Hörner in Kap. 7 – 8 und die Könige des Nordens und des Südens in Kap. 11.“ Zur Verkörperung irdischer Macht durch die Weltreiche und zu ihrem Scheitern vgl. 231. 14 Vgl. WILDGRUBER, Missionare, 119f.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
missbraucht, vergeht sich auch der letzte König des Nordens gegen den Gott der Götter (Dan 11,36–39).15 In beiden Fällen macht die Gewalt der Könige auch vor dem Heiligen nicht Halt. Das Motiv der Hybris steht zudem im Mittelpunkt von Dan 4, wo von König Nebukadnezzars Traum vom Weltenbaum, von seiner Erniedrigung und Restitution durch Gott erzählt wird. Während sich aber Nebukadnezzar am Ende von Dan 4 zum Gott des Himmels bekehrt, bleiben Belschazzar in Dan 5 und der letzte König des Nordens in Dan 11 bei ihrer Haltung und fallen deshalb aus der Rettung Gottes heraus: Belschazzar wird ermordet, der letzte König des Nordens steht am Ende ganz ohne Helfer da. Die Aspekte der Aggressivität, der existenziellen Bedrohung des einzelnen Israeliten sowie der Hybris charakterisieren die Macht der fremden Könige in den aramäischen Kapiteln Dan 2 – 7.16 Die Aggressivität der Strukturen der Macht und ihre bedrohliche Ausrichtung gegen das Gottesvolk und den Tempel als Mittelpunkt seiner Gottesbeziehung prägt auch die beiden hebräischen Visionsschilderungen Dan 8 und Dan 9. Dabei ist eine enge Verbindung der Visionen Daniels Dan 7 – 12 zu erkennen, in deren Verlauf eine Zuspitzung auf die Zeit erfolgt, welche in Dan 7 dem letzten „Tier aus dem Meer“ bzw. dem „kleinen Horn“ zugeschrieben wird.17 Diese Konzentration wird bereits in der Anlage von Dan 8 deutlich. Daniel sieht nicht vier Tiere wie in Dan 7, sondern nur noch zwei: einen Ziegenbock, der das Reich Alexanders re-präsentiert, und einen Widder, der für das persische Reich steht.18 Ähnlich wie in Dan 7,8 wächst auch aus dem Horn des Ziegenbocks ein kleines Horn. Dessen aggressives Verhalten kulminiert in seinem Agieren gegen den Tempel: „[V]on ihm wurde eingestellt das beständige Opfer, und hingeworfen die Stütze seines Heiligtums. Und eine Kriegeswache wurde gestellt wider das beständige Opfer im Übermute; und es warf die Wahrheit zu Boden, und war glücklich in seinem Beginnen“ (Dan 8,11–12).19 Eine vergleichbare Formulierung findet sich auch in Dan 9, wo Gabriel einen Fürsten ankündigt, der Opfer und Speiseopfer aufheben wird und „neben den Flügel“ einen entsetzlichen Gräuel stellt (Dan 9,27). In Dan 10 – 12 verengt sich der Fokus im Vergleich mit den vorhergehenden Visionsschilderungen noch weiter. Zwar repräsentieren die in Dan 11,2b 15 Vgl. ACKROYD, Temple Vessels, 180; MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 89. 16 Vgl. GZELLA, Cosmic Battle, 7f. 17 Zu den zahlreichen intertextuellen Verbindungslinien zwischen den Danielvisionen Dan 7 – 12 vgl. ausführlich KRATZ, Visionen. 18 So die generelle Annahme; vgl. COLLINS, Daniel 1993, 330; KOCH, Auserwähltes Volk, 16. Vgl. jedoch kritisch dazu GZELLA, Cosmic Battle, 130–141. 19 Übersetzung: Zunz.
1. Die Motivlinie „Macht“
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erwähnten vier persischen Könige das persische Reich, das in Dan 2 und Dan 7 jeweils dem dritten Reich20, in Dan 8 dem Widder entspricht, der Schwerpunkt der Zukunftsansage liegt jedoch auf der Zeit des vierten Reiches aus Dan 2 und Dan 7. Diese wird im Vergleich mit Dan 8 und Dan 9 ungleich ausführlicher geschildert. Die Darstellung des letzten Königs des Nordens in der Schlussvision und die damit verbundene Verletzung von Israels Gottesbeziehung durch die bedrohliche Macht der Völker ist somit der Höhepunkt einer Auseinandersetzung mit der Weltpolitik, die bereits in Dan 2 beginnt und sich ab Dan 7 immer weiter fokussiert.21 Aus der Perspektive von Dan 10 – 12 sind somit zwei Spuren zu erkennen, die die Auseinandersetzung mit der Frage der Macht durch das Danielbuch zieht. Zum einen wird Macht erfahren als Macht der fremden Völker und ihrer Könige, die sich in aggressiver Weise gegen das Gottesvolk und die Mitte seiner Gottesbeziehung, den Tempel, richtet. Zum anderen richtet sich die Macht gegen den einzelnen Israeliten, der treu zum Gott seiner Väter und Mütter steht. Die erste Linie der Macht begegnet gleich zu Beginn in Dan 1 und zieht sich über Dan 2; Dan 4; Dan 5; Dan 7; Dan 8 und Dan 9 bis zur Schlussvision Dan 10 – 12. Sie ist einerseits greifbar in den erzählerischen Aufnahmen der mit dem Babylonischen Exil verbundenen Eingriffe in den Tempelkult, wie sie in Dan 1 und Dan 5 vorliegen. Andererseits begegnet die aggressive Macht der Völker und ihrer Könige in der verhüllenden Form der Zukunftsansagen in Dan 7; Dan 8 und Dan 9. Die Aussagen über die Eingriffe in den Opferkult und die Errichtung des Gräuels spielen dabei auf die exilischen Geschehnisse an. Sie sind aber auch transparent für die Eingriffe in den Jerusalemer Tempelkult unter Antiochos IV. Epiphanes. Nebukadnezzars Traum in Dan 2 und Daniels erste Vision in Dan 7 eröffnen dabei einen universalgeschichtlichen Horizont, in den die Erfahrungen Israels mit der Macht der Könige eingeordnet werden. Die zweite Linie der Macht liegt insbesondere in Dan 3 und Dan 6 vor, wobei die Auswirkungen der Macht der Könige auf den Einzelnen durchaus auch in Dan 2; Dan 4 und Dan 5 spürbar sind. Was in Dan 2 und Dan 7 auf der Ebene der Weltpolitik und der Geschichte reflektiert wird, wird hier auf die Ebene des Einzelnen und seiner Lebensführung heruntergebrochen. Die Treue der Jünglinge im Feuerofen und die Treue Daniels an20
Vgl. KOCH, Dareios, 130–132; KOCH, Auserwähltes Volk, 16f. Vor diesem Hintergrund greift die jüngst von KEEL, Geschichte Jerusalems, § 1657, 1176, geäußerte Einschätzung, das Danielbuch nehme eine „rabiat antiseleuk.[idisch]-antihellenist.[ische] Position ein“, zu kurz. Es geht nicht um eine Auseinandersetzung mit der Brutalität des seleukidischen Regimes an sich, sondern um eine grundsätzliche Reflexion über die Macht der fremden Völker, in deren Abfolge die seleukidische Herrschaft einen Höhepunkt an Grausamkeit und Unterdrückung darstellt. 21
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
gesichts der Löwengrube sind die Antwort des Einzelnen auf die bedrohliche Macht der Könige. Die Schlussvision Dan 10 – 12 führt diese beiden Linien der Macht zusammen. Die Linie der politischen Macht wird in ihrer zweifachen Ausprägung wieder aufgegriffen. Insbesondere die Einleitung der Schlussvision spielt noch einmal deutlich das Thema des Exils ein und ruft auf diese Weise die Exilsgeschichten in Dan 1; Dan 2; Dan 4 und Dan 5 in Erinnerung. Die Zukunftsansage Dan 11 kulminiert in der Regierungszeit des letzten Königs des Nordens, in der die bereits in Dan 7; Dan 8 und Dan 9 angedeuteten Eingriffe in den Tempelkult besonders ausführlich geschildert werden. Auch das Motiv der Hybris des Königs, das bereits in Dan 4 thematisiert wird, erscheint hier erneut im Verhalten des Königs gegenüber Gott und Göttern (Dan 11,36–39). Die Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Macht der Könige, wie sie besonders in Dan 3 und Dan 6 vorliegt, begegnet wieder im Verhalten der ~ylykfm, die ihrem Weg des Verstehens treu bleiben. Die Schlussvision Dan 10 – 12 bündelt somit die Auseinandersetzung mit der Macht der Völker und weitet diese gleichzeitig noch einmal aus. Die schematische Darstellung in Dan 11 macht die dort geschilderten und entlarvten Prozesse der Macht übertragbar auf alle Situationen, in denen Mächte und Gewalten die Beziehung des Gottesvolkes, aber auch der Einzelnen zu Gott gefährden. Dabei spitzt sich das Deutungsangebot auf die konkrete Ermutigung für jede Einzelne und jeden Einzelnen zu. Dies wird besonders im hinteren Teil des narrativen Rahmens der Schlussvision deutlich, der einerseits die ~ylykfm als Modell herausstellt und andererseits mit einer Aufforderung an das Individuum Daniel endet. Jede Leserin und jeder Leser ist damit eingeladen, in ihrem und seinem eigenen Kampf gegen die bedrohlichen Mächte und Gewalten den Weg Daniels und damit den Weg der ~ylykfm einzuschlagen. In diesem Sinn kann Dan 10 – 12 insgesamt als Glaubensbekenntnis und Lebensanweisung in Feuerofen und Löwengrube gelesen werden.
2. Die Motivlinie „Verstehen“ 2. Die Motivlinie „Verstehen“
Der Weg des Verstehens wird in Dan 10 – 12 als Weg präsentiert, der zu einer dauerhaften Perspektive führt. Den ~ylykfm wird ~lw[ – „Dauer, Ewigkeit“ verheißen (Dan 12,3). Damit wird ebenfalls ein Thema gebündelt, das bereits seit dem ersten Kapitel des Buches präsent ist. In Dan 1,4 wird als Auswahlkriterium für die an den babylonischen Königshof zu bringenden Israeliten festgelegt, dass diese hmkx lkb ~ylykfm – „aller Weisheit kundig“ sein sollen, ferner [dm ynybmw t[d y[dyw – „voller Erkennt-
2. Die Motivlinie „Verstehen“
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nis und Verständnis”. Damit begegnet in Dan 1 nicht nur das Motiv des Verstehens, sondern es werden sogar alle drei Begriffe genannt, die in Dan 11 das semantische Feld „Verstehen“ konstituieren. Das Verstehen ist in Dan 1 und in den folgenden „Hofgeschichten“ Dan 2 – 622 der Schlüssel zum Erfolg für die Judäer am Hof des fremden Königs. Was sich bereits in Kapitel 1 abzeichnet, dass Daniel und seine Gefährten den einheimischen Weisen bei weitem überlegen sind, findet in Dan 2, Dan 4 und Dan 5 eine Fortsetzung. Daniel tritt jeweils in Konkurrenz mit den babylonischen Weisen. Während diese angesichts der ihnen gestellten Aufgaben ratlos sind, ist Daniel jeweils in der Lage, die erforderliche Deutung der Träume und Zeichen zu geben. Schließlich sichert Daniels Fähigkeit zu verstehen sogar die Existenz im Bereich der fremden, bedrohlichen Macht. Dies wird besonders in Dan 2 deutlich, wo Daniel einerseits die Weisen Babylons bei weitem übertrifft, aber seine Fähigkeit, den Traum des Königs wiederzugeben und zu deuten, ihm und seinen Gefährten auch das Leben rettet. Im Unterschied zur Motivlinie „Macht“, die sich vor allem anhand der Inhalte des Danielbuches abzeichnete, spiegelt sich die Bedeutung des Themas „Verstehen“ auch in der sprachlichen Gestaltung. In Dan 2 bilden die Begriffe dgn Hif’il – „künden“ (Dan 2,2), [dy – „verstehen“ (Dan 2,3.30), rvp – „Deutung“ (Dan 2,4.5.6[2x].7.9.16.24.25.26.30.36.45), hwx – „eröffnen, verkünden“ (Dan 2,4.6[2x].7.9.10.11.16.24.27), [dy – „wissen, erkennen“ (Pe’al) bzw. „wissen lassen, kundtun“ (Haf’el) (Dan 2,5.8.9[2x].15.17.21. 22.23[2x].25.26.28.29.30[2x].45), ~ykx – „Weiser“ (Dan 2,12.13.14.18.21. 24[2x].27.48), hmkx – „Weisheit“ (Dan 2,20.21.23.30) und hlg Pe’il – „enthüllt werden“ (Dan 2,19.22.28.29.30.47[2x]) ein semantisches Feld, das leitwortartig das gesamte Kapitel prägt. Dass das „Verstehen“ Daniels dabei in Konkurrenz zur Kompetenz der babylonischen Weisen steht, wird durch die Begriffe ~ymjrx – „Zeichendeuter“, ~ypva – „Sternseher“, ~ypkm – „Zauberer“ und ~ydfk – „Chaldäer“ und deren aramäische Parallelbegriffe deutlich, welche in unterschiedlichen Kombinationen ebenfalls leitwortartig wiederholt werden (Dan 2,1.10.27). Sowohl das Thema als auch das Wortfeld „Verstehen“ begegnet wieder in Dan 4 und Dan 5. In beiden Kapiteln ist Daniel, inzwischen schon als Weiser am Hof des Königs bekannt, als Deuter von Träumen (Dan 4) und Zeichen (Dan 5) gefragt. Dabei wiederholen sich in Dan 4 die Begriffe rvp – „Deutung“ (Dan 4,3.4.6.15[2x].16[2x].21) sowie [dy – „wissen, erkennen“ (Pe’al) bzw. „wissen lassen, kundtun“ (Haf’el) (Dan 4,3.4.6.14. 15.22.23.29), in Dan 5 begegnen erneut die Begriffe rvp – „Deutung“ 22 Zu den Hofgeschichten in Daniel vgl. HUMPHREY, Lifestyle; SMITH-CHRISTOPHER, Prayers and Dreams; PACE, Diaspora Dangers.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
(Dan 5,7.8.12[2x].15[2x].16[3x].17.26) sowie hwx – „eröffnen, verkünden“ (Dan 5,7.12.15). Auch die babylonischen Weisen werden wieder mehrfach erwähnt (Dan 5,7.11). Die Motivlinie „Verstehen“ setzt sich auch in Dan 7 – 9 fort, allerdings unter anderen Vorzeichen. Während in den Hofgeschichten der Erfolg des lykfm Daniel im Vordergrund stand, thematisieren die Visionskapitel die Verunsicherung und die Erfahrung der scheinbaren Erfolglosigkeit. Daniel, der nun nicht mehr die Träume der Könige deutet, sondern selbst Visionen empfängt, konstatiert sowohl in Dan 7 als auch in Dan 8, dass diese Erfahrung ihn erschreckt (Dan 7,15.28; 8,27). Er ist auch nicht in der Lage, seine Visionen zu deuten, sondern ist selbst auf Verständnishilfen angewiesen (7,16.19; 8,19). Dabei begegnen die Begriffe rvp – „Deutung“ (Dan 7,16), [dy – „wissen lassen, kundtun“ (Haf’el) (Dan 7,16) wieder. In Dan 9 schließlich lässt sich Daniel nicht nur beim Verstehen helfen, sondern sucht selbst aktiv Verständnis (!yb Dan 9,2). Auf dieses Streben hin kommt in Dan 9,21 der „Mann Gabriel“ zu Daniel, der ihn verstehen lässt (!by; Dan 9,22), hnyb $lykfhl – „um dich Einsicht zu lehren“23. Mit den Wurzeln !yb und lkf begegnen damit wiederum zwei der drei Wurzeln, die dem semantischen Feld in Dan 11 zugrunde liegen und die bereits in Dan 1 zur Qualifizierung der Judäer am Hofe des Königs verwendet werden. Von seinem Schluss her gelesen erscheint das Danielbuch somit als exemplarische Auseinandersetzung mit dem Thema „Verstehen“. Es stellt die Haltung des lykfm in verschiedenen Situationen dar und zeigt die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. In jedem Fall führt das Verstehen zum Erfolg. Dieser kann als direkte Konsequenz als innerweltlicher Erfolg auf das verständige Handeln folgen (Dan 1 – 6).24 Doch auch wenn das Streben nach Verständnis nicht unmittelbar zum Erfolg zu führen scheint, wie das insbesondere in den Visionskapiteln Dan 7 – 9 der Fall ist, wird vom Ende des Buches her deutlich, dass der Weg des Verstehens der einzige ist, der zu nachhaltigem Erfolg führt. Während die scheinbar Mächtigen am Ende ohnmächtig und hilflos ihr Ende erreichen (Dan 11,45) und die Frevler der ewigen Schmach entgegensehen (Dan 12,2), schenkt Gott den ~ylykfm dauerhaften Bestand (Dan 12,3). Durch den Buchschluss wird das Danielbuch also zu einer Ermutigung für seine Leserinnen und Leser, in ihrer jeweiligen Situation dem Weg des Verstehens zu folgen, auch gegen Widerstände und sogar aller existenziellen Bedrohung zum Trotz. Das Verhalten der ~ylykfm in Dan 11 erinnert in dieser Hinsicht an die Haltung der Jünglinge in Dan 3, die ja von Dan 1 her ebenfalls als ~ylykfm qualifiziert werden. Angesichts des lodernden Feuerofens bekennen Schadrach, Meschach 23 24
Zitate aus Dan 1 – 9 sind der Übersetzung von Zunz entnommen. Vgl. WILDGRUBER, Missionare, 118f.
3. Die Motivlinie „Zeit“
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und Abed Nego in Dan 3,17–18: „Siehe, es ist unser Gott, dem wir dienen, vermögend, uns zu retten. Wenn aber nicht, so sei dir, o König, kund, dass wir nie dienen werden deinen Göttern, und vor dem goldenen Bilde, das du aufgestellt hast, nicht anbeten werden.“25 Dabei gilt auf der Ebene des gesamten Danielbuches, was bereits für Dan 11 gezeigt wurde. Die Lektüre des Buches selbst führt die Leserinnen und Leser zum Verstehen. Es ist Lebensanweisung, indem es Daniel und seine Gefährten im ersten Buchteil als vorbildliche ~ylykfm darstellt. Und es gewährt tieferen Einblick in die Strukturen der Macht und über Gottes Haltung dieser Macht gegenüber. Durch die Lektüre des Danielbuches beschreiten seine Leserinnen und Leser damit bereits anfanghaft den Weg der ~ylykfm.
3. Die Motivlinie „Zeit“ 3. Die Motivlinie „Zeit“
Auch der dritte inhaltliche Schwerpunkt der Zukunftsansage Dan 11 lässt sich als Motivlinie im gesamten Danielbuch verfolgen. Ähnlich wie das Thema „Macht“ wird auch das Thema „Zeit“ bereits mit dem ersten Vers des Buches gesetzt. Dan 1 beginnt mit einer Zeitangabe, die das im Folgenden Geschilderte in das elfte Regierungsjahr des judäischen Königs Jojakim einordnet. Vergleichbare Zeitangaben finden sich am Anfang von Dan 2; Dan 7; Dan 8; Dan 9 und Dan 10. Auf diese Weise entsteht ein chronologisches Raster, das das gesamte Buch durchzieht und zusammenhält. Was in Dan 10 – 12 zu beobachten ist, findet sich somit auch im Maßstab der Weltreiche wieder: Die Ereignisse sind von Anfang an eingeordnet in das Raster der Zeit, das von ihnen unabhängig ist.26 Neben der formalen Gestaltung des Buches durch Zeitangaben spielt das Thema „Zeit“ vor allem in Verbindung mit dem Thema „Macht“ eine wichtige Rolle. So erfolgt die Auseinandersetzung mit der Macht in Dan 2, Dan 4 und Dan 7 nach den Kriterien der Zeit. Die Entwicklung der Macht wird in den beiden parallelen Kapiteln Dan 2 und Dan 7 in ihrem zeitlichen Nacheinander dargestellt; ebenso ihre Begrenzung.27 In Dan 2 deutet Daniel das statische Bild, das Nebukadnezzar im Traum sieht, als dynamische, zeitliche Abfolge von Reichen (Dan 2,37–45). Diese Reihe endet in 2,44 mit der Errichtung des Gottesreiches. Die Zeitangabe ayklm yd !whymwyb !wna – „in den Tagen dieser Könige“ am Anfang von V. 44 verdeutlicht dabei noch einmal die konkrete zeitliche Begrenzung der Weltreiche und 25 26 27
Übersetzung: Zunz. Siehe oben Kapitel III. 8 und III. 9.2.3. Vgl. STAHL, Zeit.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
ihrer Macht. Im Gegensatz dazu wird das Reich Gottes beschrieben als „Reich, das in Ewigkeiten nicht zerstört wird“ (lbxtt al !yml[l yd wklm; V. 44). Ähnlich wie in Dan 11,2b – 12,3 stehen sich also auch in Dan 2 begrenzte Zeit und Dauer gegenüber. Während in Dan 2 aber das Reich Gottes als ewiges Reich qualifiziert wird, bezieht sich dieses Prädikat in Dan 12,1–3 auf das Schicksal einzelner Personen. In Dan 4 kommt die Macht Gottes über den hochmütigen König Nebukadnezzar ebenfalls in Form von zeitlichen Fristen zum Ausdruck. Viermal begegnet in der Erzählung über Nebukadnezzars zeitlich befristeten Wahnsinn der Verweis auf „sieben Zeiten“, die „über“ dem König ablaufen werden (Dan 4,13.20.22.29). So lange dauert die Zeit des Wahnsinns, in der Nebukadnezzar aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen wird und wie ein Tier leben muss. Die zeitliche Komponente kommt auch in Dan 7 zum Tragen. Auch hier besteht ein deutlicher Gegensatz zwischen den „auf Zeit und Stunde“ (!mz-d[ !d[w; Dan 7,12) begrenzten Fristen der vier Tiere und ihrer Reiche einerseits und der „ewigen Herrschaft“ (~l[ !jlv; Dan 7,14) des Reiches des Menschensohnes andererseits. Die bereits in Dan 2 beobachtete Begrenzung der Weltreiche durch einen konkreten Zeitpunkt begegnet auch in Dan 7 wieder (Dan 7,22). Darüber hinaus qualifiziert der Umgang mit der Zeit auch das Reich, welches durch das kleine Horn symbolisiert wird, das dem vierten Tier entwächst (Dan 7,8.20–25). Dieses „wird meinen, Zeiten und Gesetz zu ändern“ (Dan 7,25). Es verletzt somit die Ordnung der Zeit, die ja im gesamten Danielbuch als von jeder anderen Macht unabhängiges Ordnungssystem fungiert.28 Neben der Änderung von Zeiten und Gesetz führt das kleine Horn Reden „gegen den Höchsten“ und bringt „die Heiligen des Höchsten“ in Bedrängnis. Die beiden letzten Motive kehren in Dan 11 im Verhalten des letzten Königs gegen die ~ylykfm in Dan 11,33–35 und in seinem Verhalten gegen den Gott der Götter und alle anderen Götter in Dan 11,36–39 wieder. Der Frevel gegen die Zeit steht damit in Dan 7 in einer Reihe mit dem Frevel gegen Gott und seine Getreuen. Das System der Zeit erscheint auf diese Weise nicht nur als von der Macht der Weltreiche und Könige unabhängig, sondern auch als mit dem Gott Israels verbundenes Ordnungssystem. Doch auch das gegen Gott und seine Ordnung gerichtete Handeln des kleinen Horns ist zeitlich begrenzt: „auf eine Zeit und Zeiten und eine halbe Zeit.“ Diese Zeitangabe begegnet ebenfalls im Buchschluss wieder. In Dan 12,7d erhält Daniel als Antwort auf seine in Dan 12,6b gestellte Frage: „Bis wann das Ende des Außergewöhnlichen?“ die Auskunft: „Nach einer Zeit und Zeiten und einer halben Zeit“. 28
Vgl. ALBANI, Wechsel der Zeiten.
3. Die Motivlinie „Zeit“
291
Die Frage der Begrenzung und der noch ausstehenden Dauer der Zeit der Bedrängnis steht in Dan 8 im Vordergrund. Nach der Vision vom Widder und vom Ziegenbock (Dan 8,3–12) hört Daniel in V. 13 einen „Heiligen“ die Frage stellen: „Bis wann ist das Gesicht über das beständige Opfer und der entsetzliche Übermut, ist preisgegeben Heiligtum und Heer der Zertretung“? Diese Frage bezieht sich auf das Ende der Vision, wo ein kleines Horn, das dem Horn des Ziegenbocks entwächst (Dan 8,9), gegen das Himmelsheer agiert (Dan 8,10–11) und das „beständige Opfer“ einstellt (Dan 8,11.12). Die Antwort in V. 14 lautet: „Bis zweitausend Abende (und) Morgen, dann siegt das Heiligtum.“29 Während also in Dan 2; Dan 4 und Dan 7 die Macht, auch in ihrer zerstörerischen und aggressiven Ausprägung, als begrenzt geschildert wird, ist der Blick auf das Ende dieser Macht in Dan 8 mit einer Haltung der Erwartung verbunden. Die Überzeugung, dass die Zeit der Macht begrenzt ist, reicht allein nicht aus angesichts dessen, was durch die Ausübung der Macht geschieht. Dieser Akzentverschiebung entspricht, dass bereits in Dan 8, wie später in Dan 11, das Stichwort „Ende“ verwendet wird.30 Gabriel, der Daniel ab Dan 8,17 das Gesehene und Gehörte erklärt, betont zweimal, dass sich Daniels Vision auf die Zeit des Endes bezieht (Dan 8,17.19). Diese Zeit des Endes wird außerdem in Dan 8,19 als „Ende des Zorns“ qualifiziert. Ein viertes Mal begegnet das Stichwort „Ende“ in Dan 8,23, wo es das Ende der vier Reiche, die dem durch den Ziegenbock repräsentierten Reich von Jawan nachfolgen, bezeichnet. In Dan 9 schließlich wird das Thema „Zeit“ mit der Frage nach der Bedeutung der von Jeremia vorhergesagten 70 Exilsjahre verbunden. Daniel sucht in dieser Frage Verständnis (Dan 9,2) und wendet sich im Gebet an Gott. Daraufhin erscheint ihm Gabriel (Dan 9,21), der ihn über die Bedeutung der von Jeremia angekündigten 70 Jahre aufklärt. Die siebzig Jahre bedeuten siebzig Jahrwochen, also 490 Jahre, die in einzelne Abschnitte unterteilt sind. Dabei entsprechen die Geschehnisse in der ersten Hälfte der letzten Jahrwoche den Ereignissen, die in Dan 7 und Dan 8 während der Herrschaft des kleinen Hornes und in Dan 11 während der Herrschaft des letzten Königs des Nordens eintreffen. Mit der Einteilung der Zeit seit Beginn des Babylonischen Exils in Jahrwochen liegt in Dan 9 eine Strukturierung der Zeit vor, die die einzelnen Ereignisse in ein übergeordnetes und unabhängiges Raster einordnet, das von den Kundigen erkannt werden kann. Damit ähnelt die Funktion der siebzig Jahrwochen der Funktion der Geschichtsschemata und der unabhängig von den Akteuren der Macht ablaufenden Zeit in Dan 10 – 12. 29 30
Übersetzung bei allen vorangehenden Zitaten: Zunz. Vgl. COLLINS, Meaning of „The End“, 93f.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
Das Thema Zeit fungiert somit im gesamten Danielbuch als Struktur, die Ordnung in den vielfältigen Bewegungen der Macht gewährleistet. Mit dieser Ordnungsfunktion, wie sie beispielsweise durch die chronologischen Angaben zu Beginn von Dan 1; Dan 2; Dan 7; Dan 8; Dan 9 und Dan 10 erfüllt wird, geht jedoch gleichzeitig eine Begrenzung der Macht einher. Dies wird insbesondere durch die beiden vom Vier-Reiche-Schema geprägten Kapitel Dan 2 und Dan 7 deutlich, aber auch in der Erzählung von Nebukadnezzars Hochmut und Fall in Dan 4. Im Verlauf des Danielbuches wird die Erwartung des Endes der bedrohlichen Macht dabei immer dringender. Dies wird deutlich an der Verwendung der Vokabel #q – Ende, die in Dan 8 mit der Frage „Wie lange noch?“ verbunden wird. In Dan 10 – 12 begegnet dieser Begriff am häufigsten, wobei eine besondere Häufigkeit in Dan 11,21–45 vorliegt, der Regierungszeit des letzten Königs des Nordens.31 Auf diese Weise verbindet das Thema „Zeit“ die beiden anderen, das gesamte Buch durchziehenden Motivlinien „Macht“ und „Verstehen“. Als unbestechliches Ordnungsprinzip erschließt sich die Struktur der Zeit den Verstehenden und begrenzt gleichzeitig die zerstörerische Macht der Völker und ihrer Könige. Die Schlussvision des Danielbuches lenkt dabei den Blick vom universalen auf das individuelle Ende. Das Ende der zerstörerischen Macht, das in Dan 2 durch den Zusammenbruch der von Nebukadnezzar im Traum geschauten Statue und in Dan 7 durch die Verurteilung und Vernichtung der Tiere aus dem Meer markiert wird, fällt in Dan 11,45 mit dem Ende des letzten Königs zusammen (wcq). Doch der Text bleibt nicht bei diesem individuellen Ende stehen. Vielmehr richtet sich der letzte Satz des Buches an Daniel und fordert ihn auf, seinem Ende (wcq) entgegenzugehen. Da Daniel durch den narrativen Rahmen der Schlussvision als Identifikationsangebot für die Leserinnen und Leser des Buches erscheint, richtet sich diese Aufforderung an alle, die sich zu ihrer jeweiligen Zeit mit diesem Buch auseinandersetzen. Dan 10 – 12 bündelt somit nicht nur die Linien der Zeit als Ordnungsprinzip, als Mittel der Machtbegrenzung und als Gegenstand der Erwartung, sondern ermöglicht außerdem, dass die Leserinnen und Leser des Buches hier anknüpfen können.
31 Vgl. auch GZELLA, Cosmic Battle, 7–9, der die Begrenzung weltlicher Macht als durchgehendes Thema des Danielbuches betont.
4. Zusammenfassung
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4. Zusammenfassung 4. Zusammenfassung
Von seinem Ende her gelesen erscheint das Danielbuch als komplexe Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem Gottesvolk Israel und den fremden Völkern. Diese werden im Danielbuch durch ihre Könige repräsentiert, aber auch durch die unterschiedlichen Materialien des Standbildes in Dan 2 sowie durch Mischwesen und Tiere in Dan 7 und 8. Die Völker erscheinen so als aggressive Mächte, die Israel in seiner Gottesbeziehung und damit in seiner Identität bedrohen. Dabei nimmt das Danielbuch nicht nur die kollektive Bedrohung Israels, sondern auch die Gefährdung jeder und jedes Einzelnen in den Blick (Dan 2; Dan 3; Dan 6). Die Situierung des gesamten Buches im Babylonischen Exil lässt das Exil als Ur-Situation der Auslieferung Israels an die Macht der Völker erscheinen, die gleichzeitig alle anderen Situationen der Bedrohung der Gottesbeziehung durch Mächte und Gewalten repräsentiert. Dabei erscheinen die in Dan 7; Dan 8; Dan 9 und Dan 10 – 12 angedeuteten Eingriffe in den Tempelkult unter Antiochos IV. Epiphanes als Aktualisierung der in Dan 1 – 6 geschilderten Exilserfahrungen. Die Schlussvision des Danielbuches Dan 10 – 12 führt die verschiedenen Ebenen des Buches zusammen. Es verbindet die weltgeschichtliche Perspektive, repräsentiert durch die sich nacheinander erhebenden Könige, mit dem Blickwinkel des Einzelnen in Gestalt von Daniel und den ~ylykfm. Was im übrigen Buch auf unterschiedliche Kapitel aufgeteilt wird, verknüpft der Buchschluss miteinander. Im Unterschied zu Dan 7; Dan 8 und Dan 9, wo Daniel die Position des unbeteiligten Betrachters der weltgeschichtlichen Bühne einnimmt, werden die ~ylykfm in Dan 11 in das Geschehen hineingezogen. Die ~ylykfm in Dan 11,33–35 befinden sich dabei in einer vergleichbaren Situation wie Daniel und seine Gefährten angesichts von Nebukadnezzars Hinrichtungsbefehl in Dan 2, wie die Jünglinge angesichts des Feuerofens in Dan 3 und wie Daniel angesichts der Löwengrube in Dan 6. Dan 2 und Dan 3 erscheinen so gleichzeitig als Beispielgeschichten, die das Verhalten und Ergehen der ~ylykfm in Dan 10 – 12 illustrieren. Die Schlussvision steht also mit den Hofgeschichten Dan 2; Dan 3 und Dan 6 in einem wechselseitigen Interpretationsverhältnis. Gleichzeitig schließt Dan 10 – 12 die Reihe der weltgeschichtlichen Reflexionen ab, wie sie in Dan 2; Dan 7; Dan 8 und Dan 9 vorliegen. Die schematische Darstellung der Ereignisse in Dan 11 knüpft dabei an die narrativen Schemata in Dan 2 (Materialien); Dan 7 und Dan 8 (Tiere) sowie Dan 9 (Jahrwochen) an. So wird vom Schluss des Danielbuches her deutlich, dass es sich bei Israels Erfahrungen mit der Macht der Völker und ihrer Könige um universale und immer wieder begegnende Muster im Verlauf der Weltgeschichte handelt.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
Die schematische Darstellung der Ereignisse in Dan 11 erfolgt mit Hilfe von rekurrenten Begriffen, die sich in semantischen Feldern verdichten. Aus diesen kristallisieren sich drei Felder heraus, die die inhaltliche Schwerpunktsetzung der gesamten Schlussvision bestimmen. Neben dem semantischen Feld „Macht“ sind dies die Felder „Verstehen“ und „Zeit“. Diese finden sich nicht nur im narrativen Rahmen der Schlussvision wieder, sondern ziehen sich durch das gesamte Danielbuch. Wie in einem Brennglas werden diese sprachlichen und thematischen Linien in Dan 10 – 12 gebündelt. Indem die Schlussvision Dan 10 – 12 die individuelle mit der weltgeschichtlichen Perspektive verknüpft, präsentiert sie gleichzeitig zwei Strategien gegen die bedrohliche Macht der Völker. Die Strategie des Verstehens und das Ablaufen der Zeit, die in Dan 11 als Gegenstrategie zur alles beherrschenden Macht der Völker präsentiert werden, haben diese Funktion auch auf der Buchebene inne. Der Buchschluss hebt dies im Sinn einer abschließenden Bündelung hervor. Der Erfolg des als lykfm geschilderten Daniel und seiner Gefährten in Dan 1 – 6 unterstreicht dabei den Vorbildcharakter der ~ylykfm in Dan 10 – 12. Der Weg der ~ylykfm führt zu nachhaltigem Erfolg, obwohl er gleichzeitig den Konflikt mit der Macht der Könige auf die Spitze treibt und die Bedrohung verschärft. Damit greift die Schlussvision die Konstellation von Dan 2; Dan 3 und Dan 6 auf, wo Daniel und seine Gefährten in einer ähnlichen Situation sind wie die ~ylykfm. Auch sie lesen – in Anspielung an die Formulierung von Pyper32 – „im Dunkeln“, insofern sie keine Garantie auf Rettung durch Gott besitzen. Ähnlich folgen die ~ylykfm in Dan 11 und auch Daniel selbst in Dan 12 dem Weg des Verstehens, auch wenn sie nicht wissen, was das für ihr persönliches Schicksal bedeutet, wenn sie sogar – wie Daniel in Dan 12,8 – den Eindruck haben, nicht zu verstehen. Die Zeit, die bereits in Dan 2; Dan 7; Dan 8 und Dan 9 die bedrohliche Macht der Völker begrenzt, tritt in Dan 11 umso deutlicher unter dem Aspekt der Befristung und des Endes hervor. Während aber in Dan 2 und Dan 7 das Ende der Reiche der Welt mit dem Anbruch des Gottesreiches einhergeht, buchstabiert Dan 12,1–3 das Ende der Macht der Könige für die Ebene des Einzelnen. Rettung und Erfolg, wie sie in Dan 2; Dan 3 und Dan 6 als Rettung aus tödlicher Gefahr und Erfolg im Sinne einer höfischen Karriere beschrieben werden, liegen dabei in Dan 12 auf einer grundsätzlicheren Ebene. Rettung und Erfolg der ~ylykfm überdauern die Zeit des Endes, die die Macht der Könige in letzter Hinsicht begrenzt: Ihnen wird ~lw[ – „Dauer“ verheißen. Die Perspektive des Gottesreiches wird
32
Vgl. PYPER, Reading in the Dark.
4. Zusammenfassung
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vor dem Hintergrund von Dan 10 – 12 somit als Perspektive für jede und jeden Einzelnen zugespitzt. Der Gott Israels ist im Danielbuch einerseits derjenige, der die Zeit in seinen Händen hält – und damit das entscheidende Mittel zur Eindämmung und Begrenzung der Macht der Könige. Er ist andererseits derjenige, der Erkenntnis und Einsicht gewährt. Dabei ist die Gegenwart Gottes im Danielbuch eher indirekt: als Gegenüber des Betens, als Quelle und Ziel des Erkennens, als Horizont der Zeit. In Dan 10 – 12 wird abschließend deutlich, dass Gott sowohl auf der universalen Ebene der Weltreiche als auch auf der individuellen Ebene der ~ylykfm gegenwärtig ist. Die Bewegungen der Macht finden ihr Ende im individuellen Ende der Könige. Am Ende kommen für die Könige wie für die ~ylykfm Gericht und Rettung vom Gott Israels. Neben dieser inhaltlichen Bündelung bewirkt die Schlussvision des Danielbuches aber auch eine pragmatische Zuspitzung. Der Buchschluss lässt das gesamte Buch als Lebensanleitung für seine Leserinnen und Leser erscheinen. In diesem Zusammenhang ist noch einmal die Gestaltungsstrategie der Verdunkelung von Belang, die für Dan 11 herausgestellt wurde. Die verschleiernden Formulierungen von Dan 11 sind im Verlauf des Danielbuches die letzte Steigerung einer zunehmenden Rätselhaftigkeit. Während Daniel noch in Dan 2 als souveräner Deuter das Rätsel zu lösen vermag, welches der Traum Nebukadnezzars für diesen darstellt, ist dies ab Kapitel 7 immer weniger der Fall. Die Leserinnen und Leser teilen die wachsende Ratlosigkeit Daniels angesichts der Visionen. Diese Ratlosigkeit steht in einem Spannungsverhältnis mit dem Weg der ~ylykfm, der sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass sie verstehen und viele zu tieferem Verständnis führen. Die Ratlosigkeit der Leserinnen und Leser erscheint dadurch gerechtfertigt, dass sie der Ratlosigkeit Daniels entspricht. Entscheidend ist, dass es bei dieser Ratlosigkeit nicht bleibt. Auch wenn Daniel am Ende des Buches nicht hinreichend versteht (Dan 12,8) – die ~ylykfm werden verstehen (10). Der Blick auf die zukünftigen Umherschweifenden, auf die Frevler und die ~ylykfm (Dan 12,10) entlässt die Leserinnen und Leser in ihre je eigene Zukunft (Dan 12,11). Sie können sich daher am Schluss des Buches von ihrem alter ego Daniel emanzipieren und sich in ihren je eigenen Ratlosigkeiten und Dunkelheiten dem Weg der ~ylykfm anschließen. Die Aufforderung, sich auf den Weg zu machen, teilen sie wiederum mit Daniel (12,13). Von seinem Schluss her wird somit deutlich, dass das Danielbuch nicht nur gelesen und bedacht werden will, sondern dass es seine Leserinnen und Leser je einzeln in den Blick nimmt und sie ermutigt, in ihren persönlichen
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
Ratlosigkeiten und Dunkelheiten dem Weg der ~ylykfm zu folgen. Beispiele dafür, was das in konkreten Situationen bedeutet, liefert das Danielbuch.
5. Kanonischer Ausblick: Der Weg des Weisen und das Toben der Völker 5. Kanonischer Ausblick
Die Verortung des Danielbuches im biblischen Kanon ist über lange Zeit hinweg vor allem unter der Fragestellung der innerbiblischen Herkunft der Apokalyptik und ihrem Verhältnis zu theologischen Großströmungen in der Bibel thematisiert worden. So plädiert Plöger für einen engen Zusammenhang mit der Prophetie in Abgrenzung von theokratischen Strömungen33, während von Rad die weisheitliche Theologie als Hauptquelle apokalyptischer Literatur ansieht34. Ob diese kategorisierenden Überlegungen geeignet sind, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen, erscheint aus heutiger Perspektive eher fraglich. So weist Mason eine Vielzahl biblischer Anspielungen im gesamten Danielbuch nach, die sich nicht einer innerbiblischen theologischen Richtung zuordnen lassen. Dementsprechend konstatiert Mason in Anspielung auf Plöger: „In the book of Daniel the ideals and hopes of theo-cracy and eschatology merge completely.“35 Der kanonische Ausblick am Ende dieser textorientierten Lektüre des Danielbuches fragt daher nicht nach der Verortung des Danielbuches in bestimmten biblischen Großgattungen. Stattdessen soll das von seinem Ende her gelesene Danielbuch mit einem Textzusammenhang in Beziehung gesetzt werden, der die in der theologischen Auseinandersetzung der Bibel enorm relevante Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gottesvolk Israel und den anderen Völkern in ähnlicher Zuspitzung aufgreift wie das Danielbuch: die beiden vielfach miteinander verknüpften Psalmen 1 und 2, die Zenger als „Proömium zum Psalmenbuch“36 bezeichnet. Ps 1 zeichnet zu Beginn des Psalters das Bild eines Menschen, der der Tora Gottes folgt und sich darin von den Frevlern unterscheidet. Der Weg dieses Menschen gelingt, während der Weg der Frevler in den Abgrund führt. Ps 2 hingegen entwirft das chaotische Bild der gegen Gott rebellierenden Völker und ihrer Könige37, die von Gott zu Ordnung und Einsicht (lkf!; V. 10) gerufen werden. 33 34 35 36 37
Vgl. PLÖGER, Theokratie; vgl. ferner KOCH, Ist Daniel auch unter den Profeten?. Vgl. VON RAD, Daniel und die Apokalyptik. MASON, Treatment of Earlier Biblical Themes, 100. Vgl. ZENGER, Psalm 1, 45. Vgl. ZENGER, Psalm 2, 49.
5. Kanonischer Ausblick
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Das Proömium des Psalters und der Schluss des Danielbuches verknüpfen auf ähnliche Weise die große, weltpolitische Bühne mit der Frage nach dem Lebensweg des Einzelnen. So wird in Ps 2 durch die Stichwortaufnahmen aus Ps 138 deutlich, dass der Lebensweg der Könige denselben Kriterien unterliegt wie der Weg der Einzelnen – Frevler oder Gerechte – in Ps 1. „Wenn die Könige der Völker die Tora Jahwes zu ihrem Handlungsprinzip machen, wird ‚ihr Weg sich nicht verlieren‘ wie der Weg der ‚Gottlosen‘ von Ps 1, sondern er wird gelingen, wie der Weg der ‚Gerechten‘. Vor allem aber: In der Annahme der Tora Jahwes durch die Völker nimmt das universale Gottesreich Jahwes sichtbare Gestalt an. Dazu will die sich an ‚alle‘ wendende Schlußformel von Ps 2, die den Bogen zum Beginn von Ps 1 schlägt, bewegen.“39
Auch das Danielbuch eröffnet vor allem in den aramäischen Kapiteln Dan 2 – 6 den Königen der Völker eine heilsame und rettende Perspektive durch die Anerkennung des Gottes Israels.40 Im Verlauf des Buches gerät jedoch immer mehr das „Toben“ der Völker, ihre zerstörerische Macht, die die Gottesbeziehung Israels gefährdet, in den Blick. Das Toben der Völker ist in Dan 10 – 12 auf seinem Höhepunkt angelangt, insofern die Strukturen der Macht in ihrem ganzen, aggressiven Ausmaß hier besonders ausführlich dargestellt werden. Genau an diesem Punkt schwenkt die Perspektive um und fokussiert auf den einzelnen lykfm Daniel, der – allen Absurditäten zum Trotz – dem Weg des Verstehens folgt und so in der Lage ist, „die der Welt innewohnende Ordnung, die von Gott gesetzt ist und das Leben bestimmt, wahrzunehmen und zu befolgen und so ‚erfolgreich‘ zu sein“41. Daniel erscheint hier als Parallelfigur des qydc – des „Gerechten“ aus Ps 1. Wie dieser geht auch Daniel einer nachhaltigen und dauerhaften Perspektive entgegen. Die motivliche Verbindung zwischen dem Proömium des Psalters und dem Danielschluss wird dabei auch auf der lexikalischen Ebene deutlich. So begegnet der Makarismus yrva, der Ps 1 eröffnet und Ps 2 beschließt, auch in Dan 12,12, wo sich dieser Ausruf auf den „Harrenden“ bezieht. Aus der Wurzel lkf, mit der die Könige in Ps 2,10 zur Einsicht gerufen werden, leiten sich die ~ylykfm in Dan 11 ab. Auch die Wurzel [dy – „erkennen“ findet sich in Ps 1: In V. 6 wird hier Gott als derjenige beschrieben, der den Weg der Gerechten erkennt. Die Könige begegnen nicht nur sowohl in Ps 2 als auch in Dan 11, sie verhalten sich in beiden Texten auch 38
Vgl. insbesondere Ps 1,2 mit Ps 2,1 (Stichwort hgh – „nachsinnen, Pläne machen“), Ps 1,6 mit Ps 2,12 (Weg führt in den Abgrund) sowie den Makarismus yrva in Ps 1,1 und Ps 2,12; vgl. auch ZENGER, Psalm 1, 45. 39 ZENGER, „Wozu tosen die Völker ...?“, 509. 40 Vgl. WILDGRUBER, Missionare, 121–123. 41 ZENGER, Psalm 2, 54.
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Kapitel V: Der Schluss als Schlüssel
ähnlich. Der Gegensatz zwischen Frevlern (~y[vr) und Gerechten in Ps 1 erinnert an den Gegensatz zwischen Frevlern und ~ylykfm in Dan 11,32–35 und Dan 12,10. Die Erwähnung des heiligen Berges Zion in Ps 2,6 klingt ferner an die Formulierung vdq ybc rh – „Berg der heiligen Zierde“ in Dan 11,45a an. Schließlich ähnelt die Kombination der beiden Begriffe ywg – „Volk“ und ~al – „Volk, Nation“ in Ps 2,1 der Verwendung von ywg und ~[ in Dan 12,1. Durch die intertextuellen Verknüpfungen zwischen Dan 10 – 12 und Ps 1 – 2 wird deutlich, dass das Danielbuch als ein Bestandteil des innerbiblischen Diskurses über das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern zu sehen ist. Während aber das Proömium des Psalters im Zusammenspiel mit dessen Finale eine universale Perspektive des Toragehorsams und des Gotteslobs für alle Völker eröffnet, wählt das Danielbuch eine andere Strategie. Von seinem Ende her gelesen nimmt es die Totale der Weltgeschichte in den Blick. Die hier sichtbaren „Bewegungen der Macht“ erscheinen zwar als omnipräsent und übermächtig. Dem „Einsichtigen“ erschließt sich aber, dass diese Bewegungen einander aufheben und sie daher nicht zu nachhaltigem Erfolg führen. Das chaotische Toben der Völker und ihrer Könige führt nach Dan 10 – 12 in den Abgrund wie der Weg des Frevlers in Ps 1,6. Die Drohung an die Könige in Ps 2,12 ist für Dan 10 – 12 damit schon Wirklichkeit geworden. Vor diesem Hintergrund verengt sich der Blickwinkel in Dan 10 – 12 von der weltgeschichtlichen Totale auf die Perspektive des Individuums.42 Der Weg der ~ylykfm, der inmitten der zerstörerischen Bewegungen der Macht als subtiler Widerstand erscheint, verspricht nachhaltigen Erfolg. Dieser Weg wird in den letzten Versen des Danielbuches als Weg präsentiert, der für jede und jeden Einzelnen offensteht. Die – im Kontext zwar an Daniel gerichtete, jedoch ohne Namensnennung formulierte – Aufforderung „Und du, geh zum Ende, und du wirst ruhen und aufstehen zu deinem Los am Ende der Tage“ in Dan 12,13 spricht zugleich mit Daniel jede Leserin und jeden Leser an, dem Weg der ~ylykfm zu folgen. Diese Aufforderung unterliegt keinen Begrenzungen. Sie richtet sich an jede und jeden – und damit an alle. Das Danielbuch entwirft damit eine universale Perspektive des Heils – für Israel und die Völker.
42 Vgl. auch ROTH, Israel und die Völker, 291–303, der einen ähnlichen Zusammenhang von Universalisierung und Individualisierung im Zwölfprophetenbuch nachweist.
Kapitel VI
Schluss „Die Bibel bezeugt nicht nur eine Geschichte der Gottesbegegnung Israels als vergangenes Geschehen, sondern setzt sie gegenwärtig, eröffnet sie als Raum der Gottesbegegnung der Späteren. Genau darin unterscheidet sie sich von einem ‚Geschichtsbuch‘ jeweder Art; darin liegt die Differenz von ‚Quelle‘ und ‚Zeugnis‘.“1
Was Steins hier als Spezifikum der Bibel beschreibt, gilt besonders pointiert für die Schlussvision des Danielbuches. Auch wenn Dan 10 – 12, bei allen Einschränkungen, Quellenwert für die historische Aufarbeitung der Ereignisse in Jerusalem am Vorabend der makkabäischen Revolte besitzt, ist die Funktion des Textes im Danielbuch keineswegs darauf begrenzt, Licht in die Umstände seiner Abfassung zu bringen. Die vorliegende Untersuchung konnte zeigen, dass eine eindimensional historische Auseinandersetzung mit Dan 10 – 12 in mehrfacher Hinsicht in Unstimmigkeiten gerät. Der hier demonstrierte, literarische Zugang ist somit nicht nur als Versuch einer alternativen Lesart zu sehen, sondern stellt auch angesichts der internen Probleme einer enggeführten, historisch-kritischen Lektüre des Textes eine echte Alternative dar. Die aufgezeigten schematischen Strukturen des Textes machen ihn in hohem Maße anschlussfähig an vielfältige Situationen, in denen die Treue zum Gott Israels in Konflikt mit zerstörerischen und universal agierenden Mächten und Gewalten tritt. Dabei wird der Entstehungskontext des Textes im 2. Jahrhundert v.Chr. nicht verleugnet. Seine Bedeutung für die Auslegung des Textes relativiert sich jedoch: Die Ereignisse am Jerusalemer Tempel unter Antiochos IV. Epiphanes fügen sich ein in universal erfahrbare Muster. Sie sind ein Beispiel für die wiederkehrenden Strukturen des – ebenfalls als Formular verstandenen – Exils. Die narrative Form von Dan 10 – 12 als vaticinium ex eventu unterstreicht so dessen Funktion als „erinnerte Zukunft“.2 Eine textorientierte Lektüre von Dan 10 – 12 kann somit auch eine Antwort auf den mit der historisch-rekonstruktiven Leseweise des Textes einhergehenden theologischen Relevanzverlust geben. Dan 10 – 12 erschließt das Danielbuch nicht nur in seiner historischen Pragmatik als Trostbuch 1 2
STEINS, Kanon und Anamnese, 121. Vgl. STEINS, Bibelkanon, 192.
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Kapitel VI: Schluss
einer bedrängten Gemeinde im 2. Jahrhundert v.Chr. Von seinem Ende her gelesen erscheint das Buch insgesamt vielmehr als in hohem Maß anschlussfähiger und interaktiver Text. Der Unterschied zwischen einer verengten historischen und einer textorientierten Lektüre kristallisiert sich auf besonders deutliche Weise in der Funktion, die den ~ylykfm in den beiden Paradigmen zukommt. Die Konzentration auf die Rolle der ~ylykfm als mutmaßliche Verfasser des Danielbuches rückt die „Einsichtigen“ in weite Ferne zur Lebenswelt heutiger Leserinnen und Leser. Dies verstellt den Blick auf ihre Funktion als ermutigendes Modell. Ohne die bleibende Fremdheit biblischer Texte – und insbesondere auch des Danielschlusses – in Abrede stellen zu wollen: Als Bestandteil des biblischen Kanons ist das Danielbuch gerade in seiner zeitgeschichtlichen Entgrenztheit von Belang3. Auf diese Weise wird deutlich, wie sich das Danielbuch in das Gesamt des biblischen Kanons einfügt und an welche thematischen Linien biblischer Theologie es anknüpft. Es erscheint so nicht länger als eher randständiges, apokalyptisches Buch, das mehr mit der apokryphen, zwischentestamentlichen Literatur verbindet als mit den Büchern der Bibel. Die Lektüre des Danielbuches von seinem Ende her macht vielmehr die Stimme des Buches im innerbiblischen Diskurs über das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern deutlich – einem Thema, das die gesamte Bibel, angefangen in Gen 12, durchzieht und die beiden Teile der christlichen Bibel miteinander verbindet. Von seinem Ende her gelesen ist das Danielbuch somit ein Buch in der Mitte der Bibel.
3 Vgl. STEINS, Bibelkanon, 192; BALLHORN, Das historische und das kanonische Paradigma, 13.
Bibliographie Abkürzungen richten sich nach SCHWERTNER, S., IATG2, Berlin 1994. Die Literatur wird in den Anmerkungen in Kurztiteln zitiert. Diese bestehen aus dem Nachnamen des Autors und Teilen des Titels.
1. Nachschlagewerke GESENIUS, W., Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin – Göttingen – Heidelberg 171962.
2. Elektronische Hilfsmittel Bibleworks 6
3. Quellen Quellen
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Bibliographie
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4. Sekundärliteratur Sekundärliteratur
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Register 1. Bibelstellen Bibelstellen Gen 2,14 10,10 14,1.9 Ex 29,38.42
27 27 27 215
1 Sam 2,27 3,7 2 Sam 13
152
1 Kön 9,28 10,11 22,49
8 8 8
1 Chr 16,40 29,1.19 29,4
215 21 8
2 Chr 8,18 9,10 20,25 36,5 36,7
8 8 9 280 280
264 264
Lev 6,13 19,30 26,2 26,30
215 215 215 210
Num 18,29 25,12–13 24,4.16 24,24 28 – 29 33,52
215 214 264 20 215 210
Dtn 4,30 16,1–8 22,25 29,28 31,29
266 27 151 264 266
Esra 1,1 3,5 4,5–7 7,1 8,27
97 215 97 97 9
Jos 7,12 7,21
210 27
Ri 19 19,25.29
151 152
Neh 2,1 2,8 7,3 10,34 12,22
97 126 126 215 97
316
Register
1 Makk 1,11 1,11–13 1,11–15 1,11–15.41–53 1,14–15 1,15.63 1,17–19 1,20–24 1,29–32 1,29–40 1,39.45 1,41–42 1,41–51 1,45 1,46 1,47 1,48 1,50 1,54 1,54–64 1,56–57 1,59 1,60 2,42 2,44–46 2,54 3,5–8 3,36 4,41–64 4,60 6,7 7,13 14,6
72, 119 70 72, 119 139 70, 72 214 70 70 124 70, 72 26 70, 73, 125 119, 121, 127 71, 73, 145 71 71, 73 71, 73 119 71, 78 140 71, 74 71 71, 74 79 131 214 131 148 79 126 78, 126 79 79
2 Makk 3,1 – 4,7 4,7 4,7–9 4,7–10 4,7–22 4,9 4,9–17 4,21–22 4,23–24 4,23–26 4,23–28 4–5 4–6 5
110 70 119 118 139 119 70, 72, 79 70 111 70 118 125 69 72, 115, 117
5,1 5,5–10 5,6 5,11–14.23b–27 5,11–21 5,24–26 6 6,1 6,2 6,4 6,5 6,6 6,7 6,10 6,11 6,18–31 6–7 14,6
70, 72 70 118 124 70 70, 72 73 70 71, 73 71 71, 73 71, 73 71, 74 71, 74 71, 74 71 139 129
Ijob 7,1 14,14 28,16
7 7 8
Ps 1 2 17,4 18,42 45,10 78,31
296f. 163, 240, 296–298 15 23 8 19
Spr 10,25.30
277
Sir 45,24
214
Jes 2,2 8,7–8 8,8 10 10,16 10,28–34 11,1 11,11 14,24–25 14,25 19
266 163 104 163 19 133 14 27 163 133 163
Bibelstellen (Fortsetzung: Jes) 31 163 35,9 15 36 – 39 133 40,2 7 52,13 244 52,13 – 53,12 163 53,7 273 66,3 215 Jer 4,1 7,30 10,9 13,27 16,18 29,10 32,34 43,8–13 46
215 215 8 215 215 240 215 163 163
Ez 1,1–2 1,3 1–3 3,26 5,11 7,19–27 7,20 7,22 7,22–24 7,26 9 – 10 11,16 11,18.21 14,14.20 17,9 18,10 18,10–14 20,7.8.30 24,27 29 – 32 30,5 33,22 38,16 38 – 39 39,4
273 273 273 273 215 163 163, 215 15, 163 163 163 273 215 215 27 202 15 15 215 273 163 163 273 266 133, 163 133
Dan 1,1
25, 96, 280
1,2 1,4 1,7 1,21 1–6 2 2,1 2,37–45 2,44 2–4 2–6 2–7 3 3,17–18 4 5 5,12 6 6,1 7 7,1 7,3–7 7,8 7,8.11.20 7,13 7,21 7,25 7–9 7 – 12 8 8,1 8,2 8,3–12 8,4 8,8 8,9 8,10 8,10–11 8,10–14 8,11 8,11–12 8,12 8,13
317 27, 280f. 286 32 26, 33, 274, 282 46, 288 46–48, 228, 243, 248f., 252, 265, 282–287, 289–295 25, 32 289 289 25 287, 297 284 5, 282–289, 293f. 289 282–287, 289–292 25, 282–288 32 25, 46, 282–286, 293f. 97 32f., 48, 50, 55f., 58, 64, 248–251, 265, 282– 293 25, 32 48 284 48 59 49 48f. 25, 288 42f., 46f., 74, 249, 284 32f., 43, 47f., 50, 55f., 166, 248, 251, 263, 265, 284–289, 291–294 32 27 291 132 99 48, 212, 291 132 291 48 49, 126, 132, 212, 215, 291 284 212, 291 78, 128, 212, 215
318
Register
(Fortsetzung: Dan) 8,17 291 8,18 257 8,19 291 8,23 291 8,23–25 251 8,24 49 8,25 48 8,27 262 8–9 29 9 35, 43, 59, 240, 246, 263, 265, 268, 274, 282, 284–294 9,1 32 9,17 212 9,23 7, 9 9,26 111 9,27 49, 212, 215, 284 10,1 6, 8, 25–29, 261, 265, 279, 282 10,2 262, 265 10,3 9, 35, 258, 265f. 10,4 34, 265 10,5 34, 257 10,6 34, 38, 260 10,7 8, 29, 34f., 257 10,8 29, 34, 259f. 10,9 29, 34, 257 10,10 29, 33ff., 261 10,11 34f., 40, 257, 260ff., 276 10,12 34f., 40, 258, 262, 265 10,13 35, 257, 258, 265f. 10,14 35, 40, 42, 258, 262, 265f. 10,15 34, 257, 273 10,16 34f., 258, 260 10,17 260 10,18 34, 260 10,19 31, 34, 260 10,20 11, 31, 35ff., 41, 258, 260, 262 10,21 36, 41, 260, 263 11,1 11, 24, 36f., 258, 260 11,2 11, 31, 36f., 41, 47, 54, 97f., 174, 190, 194, 196f., 206, 263 11,3 37, 85, 97f., 172, 175, 179ff., 195ff., 198
11,4 11,5 11,6
11,7 11,8 11,9 11,10 11,11
11,12 11,13
11,14 11,15 11,16
11,17 11,18 11,19 11,20
60, 174f., 181, 195– 198, 208f. 14, 85, 99–103, 143, 155, 190f., 193, 196, 198, 221, 229 42, 55, 85, 101f., 109, 143, 145f., 150–155, 158, 172f., 176, 180f., 189–193, 195f., 200f., 203, 207, 219f., 222– 225, 237f. 102f., 171, 176, 180, 190–193, 200–204 103, 172, 182f., 212f., 216f., 237, 242 103f., 176ff., 187, 237 104f., 110, 158, 163, 173, 176ff., 187, 199– 202, 204f. 85, 105, 156, 172f., 181, 184, 186f., 190, 194, 196, 199, 200f., 204, 228f. 105, 184ff., 190, 193, 200f., 205, 229 85, 105, 153, 172f., 176ff., 181, 184, 186f., 196, 200f., 204ff., 219– 225, 237 106, 163, 172, 174f., 181–186, 196, 219, 221ff., 234, 237 89, 108, 153, 158, 172, 174–177, 181, 186, 190, 195–204, 242 108, 153, 156, 163, 172ff., 176, 180f., 186, 190, 194, 209, 212ff., 234, 242 109, 153, 172–177, 180f., 189f., 194, 196f., 207, 209, 237f. 42, 109, 177ff., 199, 204 109f., 152f., 177f., 185f., 196, 200, 202, 204, 243, 247, 259, 276 110, 157, 172, 181, 196f., 199, 201, 208f., 219, 221f., 224f.
319
Bibelstellen (Fortsetzung: Dan) 11,21 53f., 56f., 90, 110f., 172f., 176f., 181, 186, 190f., 193f., 196f., 206, 221f., 244 11,22 111f., 123, 199–202, 208f., 214, 212 11,23 111f., 180, 184ff., 190, 193, 196, 206f., 11,24 112f., 176f., 179, 200, 202, 204ff., 219, 223 11,25 113f., 156, 159, 172f., 181, 186, 190, 193, 195f., 199ff., 204ff. 11,26 114, 156, 185, 199ff., 205, 208f. 11,27 42, 114, 156, 196, 205f., 219–224, 264 11,28 76, 115ff., 123, 177– 180, 206, 212ff., 217 11,29 116, 176, 178, 187, 219, 221ff. 11,30 88, 116, 124ff., 176– 180, 186f., 191, 210– 214, 217f., 244 11,31 39, 49ff., 76, 78, 116, 126f., 172, 182f., 191, 200ff., 212, 215ff., 237, 268 11,32 42, 116, 129, 179f., 190–193, 206, 210– 214, 216ff., 245 11,33 79f., 116, 129f., 185f., 210ff., 218f., 224f., 244f., 270 11,34 116, 130f., 185, 206, 212 11,35 129f., 185f., 210ff., 218–224, 244f. 11,36 41f., 55ff., 131f., 149, 179f., 184ff., 196, 212f., 216–219, 244 11,37 131, 149, 191, 210– 213, 216ff., 244 11,38 131, 149, 200, 202, 210–213, 216ff., 244, 276 11,39 76, 132, 143, 147ff., 195f., 198ff., 202, 204, 212f., 216ff.
11,40
13 14
62ff., 143, 163, 176, 196, 199f., 202, 219, 221–225, 266, 270 58, 62, 132f., 144, 163, 165, 221, 233, 238 176, 185, 190, 194, 212, 214, 219 163, 190, 194, 234 163, 195, 198f., 234, 276 163, 176, 187, 199, 209f. 163, 176, 212, 214, 219, 224, 244, 247, 259, 266, 288, 292, 298 172, 174, 219, 221f., 225f., 277 37, 219, 221, 225f., 288 37, 210f., 219, 221, 226, 244, 247, 286, 288 38, 262, 267f. 38, 258 41, 267, 290 39, 258, 267f., 290 39, 42, 262, 267f. 39, 42, 262, 267 39, 262, 277, 295 39, 42, 78, 268f., 295 39, 268f., 295 39, 258, 269f., 277, 295, 298 5f. 5f.
Hos 3,5
266
Joël 2,20 4,2
163 133
Am 3,7 8,12
264 24
Mi 4,1
266
Nah 3,9
163
11,40–45 11,41 11,42 11,43 11,44 11,45 12,1 12,2 12,3 12,4 12,5 12,6 12,7 12,8 12,9 12,10 12,11 12,12 12,13
320
Register
Sach 5,11 9,10 14 14,2
280 198 163 133
Mt 24,15 24,15–16 24,20–27 24,24
49 49 55 49
Mk 13,14
49
Lk 21,20
49
Joh 10,1–21
15
2 Thess 2,3–4
49
1 Joh 2,18.22 4,3
48 48
2 Joh 1,7
48
Offb 13 13,1 13,5 13,6 13,7
48 48 48 48 48
2. Antike Autoren Antike Autoren Appian von Alexandria 87, 90f. App. Syr. 65,344–346 102
contra Apionem 2, 83–84 Hieronymus
Ephraem der Syrer 58f. in Danielem 59 Flavius Josephus Ant 12,3,129–153 12,3,133 12,3,138–146 12,5,237 12,5,238 12,5,239 12,5,241 12,5,242 12,5,246 12,5,252 12,5,253 12,5,254 12,5,255 12,5,256
55, 69, 72f., 75ff., 81, 86ff., 106ff., 139 106 108 107 70 70 70 70 70 70 70 71 71 71 71
comm. in Dan. Prologus, 1–8 Prologus, 12–19 Prologus, 25–27 Prologus, 86–93 III, XI,2b, 844–848 III, XI,2b, 848–853 III, XI,4b, 863–875 III, XI,5b, 904–907 III, XI,6, 941f. III, XI,13,14a, 1028–1049
86 52–56, 76, 85f., 87– 93, 97, 99, 101ff., 106, 108, 114f., 137ff., 148f. 52, 88 53 53 88 97 98 99 100 101 106
321
Moderne Autoren III, XI,14b, 1050–1054 III, XI,15, 910 [IV], XI,21, 10–12 [IV], XI,21, 18–20 [IV], XI,21, 20–39 [IV], XI,27,28a, 105–112 [IV], XI,28b–30a, 119–144 Hippolyt von Rom In Danielem IV, 45–47 IV, 48–55 IV, 51 IV, 53 Polyaenos VIII 50 Polybios Pol. 5,107
26,10 28,19.22.23 29,27
113 86 116
53
Pol. fr. 73
101
54
Porphyrios
106 89
52f., 58–61, 88–92, 114, 132, 138, 148
54 114 115 46, 50f., 53f., 59 51 51 51 51
Theodoret von Cyrus 54ff., 111 Daniel 281.283 55 283.285 55 291.293 55 295 111 305 55 327 54f. Titus Livius Liv. XXXI,43,4 XXXI,44,1 XLV 11
102
89, 114 89 89 115
68, 84–87, 106, 116 106
3. Moderne Autoren Moderne Autoren Ackroyd, P. 280f., 284 Albani, M. 252, 290 Ballhorn, E. 2, 161f., 300 Baumgartner, W. 47, 61, 63f., 66ff. Bedenbender, A. 81f. Bentzen, A. 125, 133f., 142, 151, 154f., 183 Bickermann, E. 69, 74f., 77, 120, 127f., 135f., 140, 250 Blasius, A. 1, 69, 83, 94, 135f., 138, 248ff. Bringmann, K. 64, 75, 77f., 88, 94, 136, 235 Cancik-Kirschbaum, E. 231f.
Caragounis, C. 248f. Clifford, R. 83, 110, 143, 164 Collins, J.J. 28, 37, 47, 54, 59, 77, 81, 107ff., 111, 113, 118, 120, 125f., 128–131, 140, 142, 146f., 157ff., 164f., 175, 221, 260, 266–270, 278 Delcor, M. 105, 132, 140, 143f., 147, 153, 155, 183, 231, 245, 252, 273 Fournier Mathews, S. 268f. Geier, M. 58 Gera, D. 73, 86, 105–108, 118f., 122ff., 137, 148 Ginsburg, H.L. 163
322
Register
Goldingay, J.E. 37, 99f., 111, 113, 127, 143f., 163f., 167f., 188f., 208, 214, 234f., 239, 245, 259, 261, 272 Gregory, B. 274 Gretler, T. 220 Grotius, H. 59f., 94 Gruen, E.S. 120f., 125 Gunkel, H. 63, 268 Gzella, H. 248, 284, 292 Haag, E. 27f., 35, 37, 257, 280 Hartman, L.F. 26, 33f., 104, 107, 124f., 131f., 144, 146, 157, 264, 281 Hasslberger, B. 105, 143, 155f., 164, 166f., 171, 174, 181, 191, 198, 221, 237f. Hempel, C. 79, 81f., 140 Hengel, M. 74, 80, 82f., 94, 120, 134– 137 van Henten, J.W. 250f. Hieke, T. 226 Hitzig, F. 147f. Hölbl, G. 89, 114f. Humphrey, W.L. 287 Jenni, E. 8, 16, 18f., 23, 220 Kampen, J. 81, 140 Keel, O. 69, 74, 77ff., 117f., 123ff., 128f., 140, 215, 285 Keil, C.F. 66 Kelly, F.T. 12, 171, 173 Kessler, R. 117, 121 Kliefoth, T. 58 Knabenbauer, J. 56, 58 Koch, K. 48, 58, 61, 66ff., 76, 79, 96f., 137f., 144, 160, 227, 229, 237f., 240, 259, 264, 277, 280, 282 van der Kooij, A. 214 Kratz, R.G. 33, 43, 49, 255, 262, 279, 281ff. Lacoque, A. 81, 124, 140, 142, 263 Lebram, J.C.H. 1f., 80, 94, 107f., 124f., 127, 129, 133f., 140, 142f., 217f., 230, 250f. di Lella, A.A. 26, 33f., 104, 107, 124f., 131f., 144, 146, 157, 264, 281 Longman, T. 231f. Luther, M. 56f., 65
Mason, R.A. 81, 163, 255, 273f., 279f., 282, 284, 296 Meadowcroft, T. 35, 96, 144, 161, 165, 168, 209, 224, 233f., 238, 259, 272, 275 Michaelis, C.B. 58 Michel, D. 245 Mittag, P.F. 69, 73, 76, 87, 138 Montgomery, J.A. 57ff., 62, 66, 68, 76, 91f., 97, 99, 104, 106f., 111ff., 126, 129, 132, 136, 140, 143, 149, 155, 159, 183 Mørkholm, O. 73, 77, 110, 131, 137, 139 Nestle, E. 127f. Niehr, H. 6, 64, 282f. Niskanen, P. 251 Oßwald, E. 63 Pace, S. 43, 84, 108, 133, 183, 255 Plöger, O. 80ff., 100, 126, 129f., 132f., 144, 155f., 263, 273, 296 Porteous, N.W. 74, 105, 112f., 142, 145f., 150–155, 158, 228f. Prince, J.D. 64 Pyper, H.S. 164, 238ff., 245f., 294 von Rad, G. 228, 233, 245, 277, 296 Rappaport, U. 91, 140 Reaburn, M. 53, 59, 88 Redditt, P.L. 81, 140, 232 Rist, J. 52f., 61, 88 Roth, M. 298 Rowley, H.H. 64, 279 Sacchi, P. 111, 118, 122 Schlatter, A. 15, 107 Seow, C.L. 27, 31, 94, 98ff., 102f., 107, 114, 124, 130f., 133, 151, 155 Sparkes, S., 65 Steck, O.H. 226 Steins, G. 2, 162, 230, 299f. Szold, B. 64 Tcherikover, V. 74, 76ff., 80, 82, 117f., 121ff., 126ff., 137 Walbank, F.F. 68, 84f., 87
Stichworte Weitz, M. 166 Welten, P. 230 Wolter, M. 82f., 245
323
Yarbro Collins, A. 48, 160 Zenger, E. 296f.
4. Stichworte Stichworte Alexander d.Gr. 54, 85, 97, 98f., 143 Antichrist 48–66, 253 Antiochos – siehe Seleukiden Apokalyptik 67, 82f., 217, 226, 228, 233, 245, 248, 252, 273, 296 Baal Schamem 127f. – siehe auch Gräuel der Verwüstung Babylonisches Exil – als Entstehungszeit 46, 50, 52f., 58, 61, 65f., 88, 95, 160, 235 – als erzählte Zeit 7, 27, 263, 271f., 274f., 277, 280–283, 285f., 291, 293, 299 Berenike 85, 101ff., 145, 150ff., 155 Bote 11, 28f., 31–41, 144, 236, 240f., 255–270, 276, 282 Close Reading 162–170, 183, 226f., 236f., 248, 252f., 255, 261, 279 Diadochen 97–100, 117, 252f. – siehe auch Ptolemäer – siehe auch Seleukiden Dynastische Prophezeiung 231ff. Endzeit 48–60, 133, 220f. Engel 28 – siehe auch Bote Erstleser 63, 75, 235f.
Gottesknecht 163, 246, 273 Gräuel der Verwüstung 49, 51, 78, 127f., 284f. – siehe auch verwüstende Abscheulichkeit Hasidäer 79–82, 129–131 Hellenismus – Hellenisierung 79, 125f. – Hellenisten 123, 125 – siehe auch Jüdische Reformbewegung Hermeneutik 42, 46f., 61, 93–96, 133f., 138, 165, 167, 243 Hidekkel/Tigris 27, 33f. Hohepriester – Amt 117f. – Konflikt um das Amt des H. 72, 117–126 – siehe auch Jason – siehe auch Menelaos – siehe auch Onias III. Identifikationsfigur 278 Jason 72, 117–126 Jüdische Reformbewegung 120f., 127, 139f.
Formular 134, 239, 253, 271, 275, 281f., 299 Fundamentalistische Lesart 2, 66f., 95f., 139, 161, 253
Kambyses 103, 133 – Seth in Gestalt von K. 251 Kanon 5, 162, 164, 169, 273, 277, 296– 300 kleines Horn 48ff., 55, 290 Kyros 6, 25f., 32f., 47, 54, 96ff., 265, 267, 274f.
Geschichte – siehe Schema – siehe Supra history – siehe Typus
Laodike 101f., 145, 152, 158 Leerstelle 106, 153, 160 Literaturwissenschaftlicher Zugang – siehe Close Reading
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Register
Makkabäer – Makkabäeraufstand 69–82, 121ff., 130f. – Makkabäerthese 61ff. Maskilim 79–82, 129–131, 140, 163, 185, 210ff., 218, 244f., 247, 262, 265, 270f., 277f., 283, 286, 288f., 290, 293–298, 300 – siehe auch Hasidäer – siehe auch Jüdische Reformbewegung – siehe auch Weise Menelaos 72, 118, 121 Michael 9, 11, 28f., 35ff., 174, 225, 260 Muster 168, 182f., 186ff., 195, 203, 228, 230, 233–238, 244, 246, 248, 252f., 257f., 270, 274, 282, 293, 299 – siehe auch Schema Onias III. 20, 111f., 118, Opfer 73, 76, 116, 119, 126ff., 191, 215, 269, 284f., 291 – siehe auch Tamid Perser – Perserzeit 117 – persische Könige 50, 54, 84f., 96ff. – siehe auch Kambyses – siehe auch Kyros Pragmatik 94f., 161, 164f., 167, 231ff., 236, 299 – siehe auch Erstleser – siehe auch Formular – siehe auch Identifikationsfigur Prophetie – biblische Prophetie 163, 255, 274, 296 – Daniel als prophetisches Buch 45ff., 53ff., 59, 65, 68, 95, 134, 233, 253 – siehe auch Dynastische Prophezeiung – siehe auch Uruk-Prophetie – siehe auch Vaticinium ex eventu Ptolemäer 98, 99–106, 114, 117, 131 – Ptolemaios I. Soter 100, 102, 155, 229 – Ptolemaios II. Philadelphos 99, 102– 104, 155, 229 – Ptolemaios III. Euergetes 101–103, 229
– Ptolemaios IV. Philopator 55, 85, 104f., 156, 229 – Ptolemaios V. Epiphanes 55, 86, 105, 156, 229 – Ptolemaios VI. Philometor 86, 113– 115, 156, 229 Schema – schematische Darstellung 37, 182, 192, 195f., 203f., 206, 208, 226–237, 241f., 252, 256, 275f., 282, 286, 294, 299 – siehe auch Typus Schinar 27f., 280 Seleukiden 76f., 99–106, 120, 131, 231, 275 – Antiochos II. Theos 85, 102f., 145, 155, 229 – Antiochos III. Megas 55, 85, 90f., 104–110, 153, 155–158, 229 – Antiochos IV. Epiphanes 58, 64, 74, 76ff., 86, 111–133, 229, 250ff. – Seleukos I. Nikator 99–102, 155, 229 – Seleukos II. Kallinikos 102–104, 229 – Seleukos III. Keraunos 104, 154 – Seleukos IV. Philopator 91, 110, 157, 229 – siehe auch Berenike – siehe auch Laodike Supra history 83, 248–253 Syrische Kriege – 3. Syrischer Krieg 102–104, 182 – 4. Syrischer Krieg 85, 104 – 5. Syrischer Krieg 89f., 105–108 – 6. Syrischer Krieg 113, 118 Tamid 212, 215f. – siehe auch Opfer Tempel – Eingriffe in den Tempelkult 72, 83, 117, 120f., 126f., 274, 285f., 293 – Entweihung des T. 64, 68, 73, 76, 78, 121f., 217 – Tempelgeräte 274, 280f., 283 – siehe auch Opfer – siehe auch Tamid Textimmanente Interpretation – siehe Close Reading Typus 54, 56, 217, 230, 251f.
Stichworte Uruk-Prophetie 231ff. Vaticinium ex eventu 45, 52f., 61ff., 66f., 74f., 95, 134, 138, 143, 157, 160, 165, 226f., 233, 235–238, 243, 299 – siehe auch Dynastische Prophezeiung – siehe auch Uruk-Prophetie verwüstende Abscheulichkeit 127, 212, 215, 268 – siehe auch Gräuel der Verwüstung
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Weise 42, 210, 247, 271, 287f. – siehe auch Maskilim Weisheit 286f. Weisheitliche Theologie 83, 245, 277, 296 Zadokiden 117f.