Christliche Geschichtsdeutung in der Moderne: Eine Untersuchung zum Geschichtsdenken von Juan Donoso Cortés, Ernst von Lasaulx und Vladimir Solov'ev in der Zusammenschau christlicher Historiographieentwicklung [1 ed.] 9783428498864, 9783428098866

Jahrhundertelang war die biblisch-christliche Geschichtssicht bestimmend für die Deutung der Universalhistorie. Heute th

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Christliche Geschichtsdeutung in der Moderne: Eine Untersuchung zum Geschichtsdenken von Juan Donoso Cortés, Ernst von Lasaulx und Vladimir Solov'ev in der Zusammenschau christlicher Historiographieentwicklung [1 ed.]
 9783428498864, 9783428098866

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AXEL SCHWAIGER

Christliche Geschichtsdeutung in der Modeme

Philosophische Schriften Band 41

Christliche Geschichtsdeutung in der Modeme Eine Untersuchung zum Geschichtsdenken von Juan Donoso Cortes, Ernst von Lasaulx und Vladimir Solov' ev in der Zusammenschau christlicher Historiographieentwicklung

Von

Axel Schwaiger

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schwaiger, Axel: Christliche Geschichtsdeutung in der Modeme: eine Untersuchung zum Geschichtsdenken von Juan Donoso Cortes, Ernst von Lasaulx und Vladimir Solov'ev in der Zusammenschau christlicher Historiographieentwicklung I von Axel Schwaiger. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Philosophische Schriften ; Bd. 41) Zug!.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09886-2

Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany

© 2001

ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09886-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Jede religiöse Anschauung drängt zu einer Betrachtung des ganzen Weltgeschehens. Sie findet kein Genügen am einzelnen FaJl, sie verknüpft ihn mit dem Anfang und dem Ende aJlen Geschehens. Emil Menke-Glücken

Der christliche Historiker ist der einzige, der die Philosophie der Geschichte schreiben kann, denn er aJlein ist im Besitz einer Perspektive, die nicht den Begrenzungen seiner eigenen, endlichen SteJlung in der Geschichte unterworfen ist, weil sie ihm durch Offenbarung zur Verfügung steht. lohn Montgomery

Betrachtet einen bestimmten Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten aus, und er wird kaum noch als der gleiche erscheinen, obwohl sich nichts geändert hat als der Blickpunkt des Beschauers. Jean·Jacques Rousseau

Vorwort Dieser Studie liegt die gleichnamige Dissertation zugrunde, die ich im Januar 1998 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg einreichte. Zu danken habe ich besonders meinem Doktorvater, PD Dr. habil. Frank-Lothar Kroll, der diese Arbeit begleitete, mich ermutigte und in vielfacher Hinsicht zu den Rahmenbedingungen ihres Entstehens beitrug. Vor allem danke ich jedoch meiner Frau Heidrun, der ich mehr verdanke, als ich in Worten ausdrücken könnte. Ihr möchte ich die vorliegende Schrift widmen. Nürnberg, im Oktober 2000

Axel Schwaiger

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Untersuchungsanliegen und Forschungsstand ..........................

19

Teil I Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau 1. Geschichte im AT: Die Erfahrung von Heils- und Unheilszusammenhängen, von Verheißung und Erfüllung ..........................................................

32

a) Der Tun-Ergehen-Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

b) Die Entfaltung einer heils geschichtlichen Teleologie ............................

35

c) Die Apokalyptik als kosmische Erweiterung des historischen Horizonts .........

39

2. Der eschatologische und christozentrische Charakter der Geschichtssicht im NT ....

42

a) Zwischen ,schon' und ,noch nicht' .................................... . .........

43

b) Die Zwischenzeit der Kirche und das Ende......................................

46

3. Zusammenfassung..................................................................

48

Teil 11 Die Entwicklung christlicher Geschichtsbetrachtung bis-zum 18. Jahrhundert

I. Die Spätantike: Christliche Geschichtsschau als Apologetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

a) Erste geschichtstheologische Ansätze der Apologeten und die frühe Weltgeschichtsschreibung . . . . . .. .. . . . .. .. . . . . . . .. . . .. .. . . . .. .. .. .. . . .. . . . .. .. . .. .. . . .

54

aa) Zusammenfassung ..........................................................

68

b) Geschichte von der Ewigkeit her: Augustin und die Begründung christlicher Geschichtsphilosophie ..........................................................

70

bb) Zusammenfassung ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

2. Das Mittelalter: Christliche Geschichtsschreibung als Chronographie ...............

79

aa) Zusammenfassung..........................................................

91

10

Inhaltsverzeichnis

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Otto von Freising

93

4. Erste Zäsur: Scholastik, Symbolismus und Nominalismus..................... . ..... 102 5. Verwerfung, Erneuerung und Säkularisierung christlicher Weltgeschichtssicht als paralleles Geschehen derfTÜhen Neuzeit........ ............ ... ...... ...............

III

a) Statt Vorsehung Beherrschbarkeit des Schicksals: Niccolb Machiavelli ..........

III

b) Die Erneuerung christlicher Geschichtsbetrachtung: Philipp Melanchthon .......

115

c) Die Verbannung theologischer Deutungselemente aus der Geschichte: Jean Bodin ........................................................................... 127 6. Der Prozeß der Säkularisierung und der Rückzug christlicher Geschichtsdeutung ... 134 a) Die Aufteilung von sakraler und profaner Geschichtsschreibung und die Eliminierung theologischer Deutungskategorien und biblizistischer Weltära .... . . . . . .. 134 b) Bossuet und der Beginn säkularer Geschichtsphilosophie........................ 140 c) Konfessionalisierte Kirchengeschichtsschreibung, Württemberger Pietismus und der Rückzug in theologisch-heilsgeschkhtliche Verinnerlichung................. 149

Teil 111 Christliches Geschichtsdenken im Jahrhundert der Moderne Prolog: Das 19. Jahrhundert als geistesgeschichtliche Schlüsselzeit ................. 157 A. Geschichte als Schauplatz von menschlicher Rebellion und göttlichem Eingreifen: die politische Theologie des Juan Donoso Cortes ................................... 162 I. Der Forschungsstand ............................................................ 164

2. Leben und Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 170 3. Die Revolution und der Durchbruch zur eschatologischen Geschichtsdeutung . . .. 175 4. Donosos Geschkhtstheologie als Ausdruck biblisch-christlicher Geschichtssicht 179 a) Theologie als Schlüssel zur Deutung von politisch-historischem Geschehen .. 179 b) Urgeschichte, historischer Verlauf und eschatologische Dynamik. . . .. . . . . . . .. 184 c) Christozentrik, der Zusammenhang von religiösem Niveau und politischer Ordnung (,Therrnometergesetz') und die Rolle der Kirche .................... 192 5. Donosos Geschichtstheologie in Anwendung auf die Politik..................... 201 a) Der Kampf gegen den ~evolutionären Prozeß: die katholische gegen die philosophische Zivilisation ........................................................ 20 I

Inhaltsverzeichnis

Il

b) Deduktionismus als geschichtsphilosophische Methode............. . ......... 209 c) Proudhon und der Antichrist ................................................. 212 d) Die Rolle der Regierungen und Völker und Donosos politische Prophetie ..... 219 6. Zusammenfassende Bewertung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 228 B. Geschichte als providentiell gedeuteter organischer Ablauf: Ernst von Lasaulx .. . . .. 236 I. Der Forschungsstand ... . ....................... . . . . . ............................ 238 2. Leben und Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 240 3. Lasaulx' Geschichtsphilosophie und ihre geschichtstheologischen Anteile ....... 245 a) Der weltimmanente Erkenntnisansatz - oder: organische Analogie statt Offenbarung ....................................................................... 245 b) Die Weltgeschichte als organische Entfaltung - oder: die Naturhaftigkeit der göttlichen Providenz ......................................................... 250 c) Der Antagonismus der Kräfte und der Fortschritt der Freiheit - oder: Ausschaltung geschichtstheologischer Kategorien ................................ 259 d) Die Heroen - oder: eine Christozentrik ohne Inhalt ........................... 269 e) Physiognomie des Verfalls - oder: die Verkürzung der Eschatologie .......... 273 4. Zusammenfassende Bewertung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 280 C. Geschichte als Prozeß zur All-Einheit. Vom Utopismus zur Apokalyptik: Vladimir

Solov'ev ........................................................................... 283 I. Leben und Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. 284 2. Wirkungs geschichte und Forschungsstand ....................................... 290 3. Grundanliegen und Wandel seines Geschichtsbildes ............................. 295 a) Die eschatologische Grundstimmung ................................. . ....... 295 b) Die Philosophie der All-Einheit und ihre utopische Verwirklichung. . .. ... .... 297 c) Solov'evs Christozentrik: Der Gottmensch als Erstling und Vollender der AIIEinheit ....................................................................... 300 d) Die Entdeckung des Bösen und der Übergang vom Utopismus zur Apokalyptik ........................................................................... 303 4. Die ,Kurze Erzählung vom Antichrist' als Ausdruck eines biblisch-dezisionistisehen Geschichtsverständnisses ................................................. 306 a) Die Erzählung ............................................................... 306

12

Inhaltsverzeichnis b) Der fiktive historio-politische Rahmen ....................................... 309 c) Die biblischen, altkirchlichen und literarischen Antichrist-Anleihen .......... 318 aa) Die Anlehnung an biblische Aussagen ................................... 318 bb) Die Anlehnung an kirchliche Tradition................................... 320 cc) Literarische Vorbilder und Bezüge....................................... 324 d) Die Lösung der Kirchenfrage als endzeitIiches Geschehen .................... 327 5. Spurensuche eines geschichtstheologischen Aufrisses: Urgeschichte und historische Entfaltung ................................................................ 336 a) Solov'evs ästhetisches Entwicklungsverständnis und die Ersetzung der Urgeschichte durch den Prozeß ................................................. 336 b) Der Geschichtsverlauf als Gott-Mensch-Prozeß .............................. 341 aa) Der Weg vom Tiermenschen zum Gottmenschen, von der Schöpfung bis Christus. . .. .. . .. . .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. . . . . .. .. .. .. .. . . . . .. .. ... 341 bb) Der gottmenschliche Prozeß zwischen Auferstehung und Parusie ......... 346

6. Zusammenfassende Bewertung...................................................... 351 D. Zusammenfassung der Ergebnisse .................................................. 357

Epilog: Ein kurzer Ausblick auf Ausdrucksformen christlichen Geschichtsdenkens im 20. Jahrhundert .................................................... 364 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................... 377 Personenverzeichnis ............................ . . . . . .. .. .. .. . . . . .. .. .. .. . . . .. . .. .. . .. 414 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 422

Abbildungen Juan Donoso Cortes (1809-1853), in: Edition Maschke ............................... 163 Ernst von Lasaulx (1805 -1861), Bildnis (Maler unbekannt), München, Akademie der Wissenschaften, in: Geist und Gestalt, Bd. 3 (Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vornehmlich im zweiten Jahrhundert ihres Bestehens), München, 1959, Abbildung 112 ................................... 237 Vladimir Sergeevic Solov'ev (1853-1900), in: Fedor Stepun, Mystische Weltschau, S.81 ................................................................................ 285

Abkürzungen Abt.

Abteilung

Adv. Haeres.

Adversus Haereses (lrenäus)

adv. pag.

adversus paganos (Orosius)

AKuG Anm., Anmerk.

Archiv für Kulturgeschichte

AphKAW

Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften zu München Apokalypse

Apk. ARG Art.

Anmerkung

Archiv für Reformationsgeschichte

AT Aufl.

Artikel Altes Testament Auflage(n)

Ausg.

Ausgabe

Bd., Bde Bearb., bearb.

Band, Bände Bearbeitung, Bearbeiter, bearbeitet (von)

Beih., Bh. Beitr.

Beiheft Beitrag

BibI. Bibliogr.

Bibliothek Bibliographie

Biogr. BI. c., cap.

Biographie Blatt capitulum, Kapitel

CC Chron. mai.

Corpus Christianorum Chronica maiora et minora (lsidor von Sevilla)

Chronogr.

Chronographia (Sigebert von Gembloux)

col. CR

columna (,Sammlung'), Kolumne

CSEL

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866 ff. Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters

DA

Corpus Reformatorum, 25 Bde, Halle 1834 ff.

Deciv. Ders., ders.

De civitate dei (Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat)

De tempo rat.

De temporum ratione (Beda Venerabilis)

DG

Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew, biographischer Ergänzungsband

DG-Ergänz.

D(d)erselbe, D(d)ieselbe

Abkürzungen DHI Diss. dt(e). ebd. Ed, ed. Ein!. Erg. Erzählung f, ff FOG

fol. Forsch. FS Fußn. GCS GS GW H. Hieron. Hipp. Hist. eccl. HJb, HJB hl., hlg. Hrsg., hrsg. HThG HZ

J. Jahrb., Jb. Jg., Jahrg. Kap. KG laI. Lib. excerpt. Lit. LThK MA Mag. masch. m.E.

15

Deutsches Historisches Institut Dissertation deutsch(e) ebenda, an derselben Stelle Edition, editiert Einleitung Ergänzung(sband) Wladimir Solowjew, Kurze Erzählung vom Antichrist, übersetzt u. erläutert v. Ludolf Müller, München, 1968 (19907 ). folgende Seite(n) Forschungen zur deutschen Geschichte (1862 - 86) folio, Blattzahl Forschung Festschrift Fußnote Griechisch-christliche Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, Berlin, 1897 ff. Gesammelte Schriften Gesammelte Werke Heft Hieronymus Hippolyt Historia ecclesiastica Historisches Jahrbuch heilig Herausgeber,herausgegeben Handbuch Theologischer Grundbegriffe, hrsg. v. Heinrich Fries, München 1962/63. Historische Zeitschrift Jahr(e) Jahrbuch Jahrgang Kapitel Kirchengeschichte lateinisch Liber excerptionum (Hugo von St.- Viktor) Literatur Lexikon für Theologie und Kirche, 10 Bde, hrsg. v. J. Höfer u. K. Rahner, Freiburg 1957 - 65. Mittelalter Magisterarbeit Maschinengeschrieben meines Erachtens

Abkürzungen

16 MGH

Monumenta Germaniae Historica

MGHS

Monumenta Germaniae Historica Scriptores

MGHSAA

Monumenta Germaniae Historica Scriptores. Auctores antiquissimi

MGHSRG Mise.

Monumenta Germaniae Historica Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum Miscellanes, Miscellanies, Miszellen

Monatssehr.

Monatsschrift

Nachdr., Ndr.

Nachdruck, Neudruck

NDB

Neue Deutsche Biographie

NT

Neues Testament

ökonom.

ökonomisch

o.J.

ohne Jahr

p.

pagina

PG

Patrologiae cursus completus, Series Graeca, hrsg. v. J. P. Migne, Paris.

PL

Patrologiae cursus completus, Series Latina, hrsg. v. J. P. Migne, Paris 1844-55. Prolog

Pro!. RAC

Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. v. Theodor Klauser, Stuttgart.

RE

Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften

Rez.

Rezension

RG

Russische Gesamtausgabe der Werke Vladimir Solov'evs, 12 Bde (I-X, St. Petersburg 1911-14; XI-XII - Ergänzungsbände, BrüsseI1966-70).

RGG

Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., hrsg. v. K. Galling, Tübingen 1957 -1962 (6 Bde).

S.

Seite Sammlung

Samm!. Sign.

Signatur

SJ

Societas Jesu

s.o. Sp.

siehe oben Spalte

SpFGG

Spanische Forschungen der Görres-Gesellschaft

SS

Sommersemester

St.

Sankt, Saint

s.u.

siehe unten

Suppl.

Supplement

synchron.

synchronistisch

TA

Textausgabe

Theo!.

Theologie

Tit.

Titel

TRE

Theologische Realenzyklopädie, hrsg. v. G. Krause u. G. Müller, Berlinl New York 1978ff.

Abkürzungen

1RT

Taschenbuch Religion und Theologie, hrsg. v. E. Fahlbusch, Göttingen 1983.

Übers.

Übersetzung

unpag.

unpaginiert, ohne Seitenangabe

vol.

volume

Wiss.

Wissenschaft

WLk

Würzburger Lektionskatalog

WS

Wintersemester

WV

Werksverzeichnis

Z.

Zeile zu, zum, zur

z. ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

ZHF

Zeitschrift für historische Forschung

Zit., zit.

Z(z)itiert

ZKG

Zeitschrift für Kirchengeschichte

ZRGG

Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte

Ztschr., Zeitschr.

Zeitschrift

Ztg.

Zeitung

2 Schwaiger

17

Abkürzungen biblischer Bücher Am

Amos

I Kor

I. Korinther

Apg IChr 2Chr

Apostelgeschichte I. Chronik 2. Chronik

2Kor

2. Korinther

Lev

Levitikus (3. Mose)

Lk

Lukas

Dan

Daniel

Mal

Maleachi

Deu

Deuteronomium (5. Mose)

Mi

Micha

Eph

Epheser

Mk

Markus

Esr

Esra

Mt

Matthäus

Est Ex Ez Gal

Ester Exodus (2. Mose) Ezechiel (Hesekiel)

Nah

Nahum

Neh

Nehemia

Gen Hab Hag Hebr Hes

Galater Genesis (I. Mose) Habakuk Haggai Hebräer Hesekiel (Ezechiel)

Hld

Hoheslied

Hos

Hosea

Jak Jer

Jakobus Jeremia Jesaja

Jes Joh lJoh

Num

Numeri (4. Mose)

Obd

Obadja

Offb

Offenbarung

IPetr

I. Petrus

2Petr

2.Petrus

Phil

Philipper

Phlm

Philemon

Pred

Prediger

Ps

Psalm

Ri

Richter

Röm

Römer

Johannes

Sach

Sacharja

l. Johannes 2. Johannes

ISam

I. Samuel

2Sam

2. Samuel Sprüche

2Joh 3Joh Jos

3. Johannes Josua

Spr I Thess

I. Thessalonicher

Jud Klgl

Judas Klagelieder

2Thess

2. Thessalonicher

1Tim

I. Timotheus

IKö

l. Könige

2Tim

2. Timotheus

2Kö Kol

2. Könige

Tit

Titus

Kolosser

Zeph

Zephanja

Einleitung: Untersuchungsanliegen und Forschungsstand Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, drei Deutungsentwürfe von Universalgeschichte im 19. Jahrhundert, die sich selber als spezifisch christlich verstehen, auf ihre biblisch-geschichtstheologischen Grundlagen hin zu untersuchen und auszuwerten. Es geht dabei um die Geschichtsentwürfe des Spaniers Juan Donoso Cortes (1809-1853), des Rheinländers Ernst von Lasaulx (1805-1861) und des Russen Vladimir Solov'ev (1853-1900). Im Mittelpunkt steht eine doppelte Fragestellung: Auf der einen Seite soll untersucht werden, inwieweit die Entwürfe der genannten Autoren auf klassische geschichtstheologische Deutungskategorien zurückgreifen und sie in einer Traditionslinie offenbarungsbegründeten Geschichtsdenkens stehen. Es gilt, pointiert die Elemente eines biblisch-christlichen Geschichtsbildes in ihren Werken herauszuarbeiten. Auf der anderen Seite soll danach gefragt werden, wie die drei Denker dieses Geschichtsbild unter den Voneichen der Modeme jeweils umsetzen und in ihrer spezifischen Eigenart ausformulieren. Inwiefern unterscheiden sich ihre Entwürfe von zeitlich früheren Modellen christlichen Geschichtsdenkens und wie unterscheiden sie sich untereinander? Dieser im typologischen Vergleich angelegte Untersuchungsansatz erfordert allerdings ein breiter angelegtes Vorgehen: In aller Kürze wird - sozusagen in Vorarbeit - zu zeigen sein, was christliche Geschichtsanschauung im Kern beinhaltet und was ihr Wesen ausmacht. Die biblischen Deutungskategorien sollen herausgestellt und als Grundelemente und -merkmale christlichen Geschichtsdenkens definiert werden. Ferner will ein überblicksartiger Aufriß verfolgen, wie sich die so beschriebenen Deutungskategorien im Laufe der Jahrhunderte ausformulierten und in universalhistorische Darstellungen gossen. Auch auf die Frage, welche Entwicklungen vor allem seit der frühen Neuzeit dazu führten, daß diese Elemente aus dem Hauptstrom geschichtlichen Denkens verschwanden, wird hier einzugehen sein. Auf diesen etwas längeren Zugang zu dem eigentlichen Forschungsteil soll bewußt nicht verzichtet werden. Es ist ja ein Anliegen der vorliegenden Arbeit, gerade auf die Kontinuität christlichen Geschichtsdenkens hinzuweisen, die in unterschiedlicher Form in allen Zeiten zum Ausdruck kommt. Nur vor diesem Hintergrund läßt sich im Vergleich die spezifische Eigenart unserer drei Denker ermitteln. Schließlich untersucht der eigentliche Forschungsteil das Geschichtsbild von Cortes, Lasaulx und Solov'ev. Sie fanden als Denker des 19. Jahrhunderts zu 2'

20

Einleitung

universalhistorischen Deutungsentwürfen, die sie in Auseinandersetzung mit der Modeme als christlich definierten. Es gilt zu untersuchen, inwiefern sie es tatsächlich waren und wieweit Geistesströmungen ihrer Zeit ihr Geschichtsdenken maßgeblich beeinflußten. Dieser kurz skizzierte Forschungsansatz will einen Beitrag dazu leisten, modernes Geschichtsdenken in seiner historiographischen Absolutsetzung zur Diskussion zu stellen. Es gibt in der Modeme universalhistorische Entwürfe, die als originäre Dokumente christlichen Geschichtsdenkens neben säkularisierter Geschichtsphilosophie und Historismus sowie seinen diversen Überwindungsversuchen l weiterexistieren. Ihnen gilt das Interesse der vorliegenden Arbeit. Sie sind bisher weder in ihrer christlich-historiographischen Eigenart noch unter dem übergreifenden Gesichtspunkt einer geschichtstheologischen Traditionslinie mit größerer Aufmerksamkeit bedacht worden. Sicherlich hängt das damit zusammen, daß eine solche im christlichen Glauben begründete historiographische Tradition heute als nicht mehr existent angesehen wird. Und wo sie von der Historie aufgegriffen werden muß (z. B. in der Mediävistik) wird sie in ihrer überzeitlichen Eigenart nicht weiter wahrgenommen, sondern historisierend für eine überkommene Vorstellung gehalten, eine Art, Geschichte zu betrachten, über die die Geschichte selbst längst hinweggegangen ist. Diese historisierende Denkart, die alles einer geschichtlichen Bedingtheit unterwirft, mag heute selbst als historisch diskutiert werden, sie hat unser Denken dennoch bleibend verändert und eine beinahe absolutistische Herrschaft erlangt. Mit dem Abwerfen der eigenen Eierschale, dem der Aufklärung entsprungenen Fortschrittsgedanken, hat sich das modeme Geschichtsdenken weitgehend um seine letzten geschichtsphilosophischen Deutungskategorien gebracht. Die Geschichte der Menschheit erscheint losgelöst von Anfang und Ende als frei schwebende lineare Bewegung. Friedrich Meinecke benannte die Problematik, die der Historismus mitverursachte, ziemlich treffend, als er schrieb: "Der Historismus hat einen Relativismus hervorgebracht, der jedes geschichtliche Einzelgebilde, jede Institution, jede Idee und Ideologie nur als einen vorübergehenden Moment im unendlichen Flusse des Werdens anzusprechen vermag"?

Damit hat der bedeutende Ideenhistoriker die im Grunde noch heute bestehende geschichtliche Geisteshaltung umschrieben. Es ist von daher kein Zufall, daß die 1 Hier sind in erster Linie die verschiedenen Konzepte der ,Annales-Schule' (u. a. Fernand Braudel und Francois Furet), sowie von Gesellschaftsgeschichte und ,Historischer Sozialwissenschaft' (z. B. Hans-Ulrich Wehler) zu nennen. Auch KarllAmprechts ,kulturgeschichtlicher' Ansatz und die geschichtstheoretischen Schriften von Wilhelm Dilthey, Heinrich Ricken und Max Weber gehören dazu. Vgl. Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992. 2 Friedrich Meinecke, Geschichte und Gegenwart (1933), in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, Leipzig 1939, S. 9 f.

Einleitung

21

Beschäftigung mit Universalgeschichte nach dem Zusammenbruch der aufklärerischen Deutungsempfehlungen erstmal in die Krise kam. Bis in unser Jahrhundert hinein war sie eher Terrain kühner Propagandisten von Kulturverfall und Abendland-Untergang als Thema renommierter Historiker. Und bis heute hat die universalhistorische Perspektive in der Geschichtswissenschaft einen eher schweren Stand? Die Schwierigkeit liegt darin, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Weltgeschichte kaum möglich ist, ohne nicht auch die Frage nach dem telos in der Geschichte zu berühren. Und das bedeutet oft ein für den einzelnen Historiker heute als peinlich empfundenes Offenbarwerden seiner Einstellung zu den letzten Fragen, zu Sinn und Ziel der Menschheitsgeschichte. In der Praxis wird die Perspektive der überblickenden Universalgeschichte für gewöhnlich immer dann zurückgestellt, wenn es an Konsens zu diesen Fragen fehlt. Denn abgesehen von der ungeheuren, kaum zu bewältigenden Stoffülle, die bei einer welthistorischen Betrachtung selbst bei mutiger Auswahl zu verarbeiten sind, erscheint sie auch nur dann irgendwie nützlich, wenn sich Striche zu Linien und Linien zu Bildern und diese wiederum zu einem Gesamtbild fügen. Das allerdings setzt Kategorien und Kriterien zu einer über die bloße Darstellung hinausgehenden Deutung voraus. Natürlich hat es die Historiographie immer mit abgelaufenem Geschehen zu tun. Aber die Summierung solcher Geschehen schließt notwendigerweise auch den Gedanken an eine Richtung des Ganzen und an einen in die Zukunft weisenden Verlauf mit ein. Deshalb sind gerade für die universalgeschichtliche Betrachtung, die ohne eine teleologische Blickrichtung kaum auskommt, Erzählperspektive und Weltbild des Historikers evidenter, wo sie für einzelgeschichtliche Darstellungen weniger deutlich und auch nicht nötig sind. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, die modeme Geschichtswissenschaft unterscheide sich von der mittelalterlichen Geschichtssicht dadurch, daß ihr generell die teleologische Ausrichtung fehlt. Vielmehr bleibt die Ausrichtung unbestimmt und Näheres dazu wird dem einzelnen Historiker überlassen. Die durchaus unterschiedlichen Geschichtsbilder der Modeme sind eher ,verdeckt' teleologisch und suggerieren oftmals, ohne weltanschauliche Vorannahmen auszukommen.

Dennoch haben sich bestimmte Prämissen im allgemeinen Geschichtsdenken durchgesetzt. Die Geschichte, so wie sie sich für die meisten Europäer heute darstellt, beginnt im Dunkel eines anthropologischen Evolutionsgeschehens und läuft ins Verborgene einer unbestimmten Zukunft. In der Regel geht man davon aus, daß 3 Einen leider nicht mehr ganz taufrischen, aber immer noch lesenswerten Überblick bietet Ernst Schulin in seiner Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Artikelsammlung ,Universalgeschichte' (Neue wissenschaftliche Bibliothek Bd. 72), Köln 1973. Vgl. auch Herrmann Schmitz. Soziologische Geschichtsbetrachtung und Universalgeschichte, in: Konkrete Vernunft - Festschrift für Erich Rothacker, hrsg. von Gerhard Funke, Bonn 1958. Für unsere Perspektive besonders aufschlußreich: Amold Bergstraesser, Religiöse Motive des universalgeschichtlichen Denkens, in: Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes (Festschrift für Hans Rothfels, hrsg. von Werner Conze, Düsseldorf 1951).

22

Einleitung

menschliche Geschichte kein Ende hat, es sei denn, die Menschheit würde sich selbst zerstören, oder eine kosmische Katastrophe würde den Fortgang unserer Art frühzeitig beenden. Dieses unendlich lineare Geschichtsbild hat in unseren modernen Köpfen eine quasi naturwissenschaftliche Festschreibung erfahren und gilt als eine Art ,historisches Naturgesetz'. Stärker teleologisch akzentuierte Geschichtsbilder, seien sie idealistischer, marxistischer oder religiös-offenbarungs begründeter Art, werden hingegen als ideologisch beargwöhnt. Es haftet ihnen nicht nur der Makel einer engeren ,Weltanschauung' an, sondern zudem der einer für überkommen gehaltenen Vorstellung. Kaum wird dabei reflektiert, daß sich das moderne Geschichtsdenken damit im Grunde wieder den klassischen antiken Vorgaben nähert, - mit einer zeitlichen Ewigkeitsorientierung und einem linear-zyklischen Geschichtsverlauf. Doch das sich mit dem Historismus herausgebildete moderne Geschichtsdenken erweist sich auch in anderer Hinsicht als problematisch. Dadurch, daß es sich selbst, d. h. die historische Bedingtheit aller Phänomene und Anschauungen, zum Maß aller Dinge macht, setzt es im Grunde einen subjektivistischen Nihilismus zum Endpunkt jeglicher historischer Einordnung und Bewertung. Scharfsinnig erkannte der Theologe, Historiker und Philosoph Ernst Troeltsch den Konflikt, der aus dem Zusammenstoß dieses historischen Denkens und der notwendigen normativen Festsetzung von Wahrheiten und Werten erwuchs, als "das Lebensproblem der modernen Welt".4 Die Säkularisierung der neuzeitlichen Geschichtsauffassung, das heißt die schrittweise Infragestellung einer eschatologisch-geschichtstheologischen Weltgeschichtsdeutung vor allem im 16. und 17. Jahrhundert, ist von der historischgeistesgeschichtlichen Forschung als vielschichtiger Vorgang erkannt und transparent gemacht worden. 5 Die Trennung einer nur auf die Kirche bezogenen, eigenen ,sakralen' Geschichtsschreibung von einer am ,profanen' Weltgeschehen orientierten Historiographie war sowohl dem mittelalterlichen Denken als auch den Reformatoren fremd. Die Epigonen Melanchthons (Reiner Reineccius) auf deutscher und Jean Bodin auf französischer Seite begannen nahezu zeitgleich, die heilige / göttliche Geschichte von der weltlichen / menschlichen zu trennen. Zwar hielt sich wegen des Reichsgedankens gerade in Deutschland die Form der alten universalhistorischen Gesamtschau noch länger,6 jedoch die Kraft geschichtstheologischer Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung, Berlin 1924, S. 63 f. So z. B. von Emil Menke-Glückert (Die Geschichtsschreibung der Reformation und Gegenreformation. Bodin und die Begründung der Geschichtsmethodologie durch Bartholomäus Keckermann, Leipzig 1912) und Adalbert Klempt (Die Säkularisation der universalhistorischen Geschichtsauffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960). 6 Z. B. lernte noch Friedrich Wilhelm I. von Preußen die Geschichte anhand von Sleidans Chronik ,Oe quatuor summis imperiis' kennen. Das weltgeschichtliche Kompendium, 1556 zum ersten Mal gedruckt, hielt sich als Schulbuch mit seiner biblizistischen Weltära und 4

5

Einleitung

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Deutung war gebrochen. Unter dem Eindruck der Auflösung und Unhaltbarkeit geschichtstheologischer Konstruktionen des Mittelalters, die sich vor allem in der Anwendung der traditionellen Vier-Reiche-Lehre, der Abstammungsfrage für die neuentdeckten Völker, sowie der Uneinheitlichkeit biblischer Chronologie aufgrund unstimmiger Textlage ergab, zerbrach im 17. Jahrhundert die Einheit von Wissenschaft und biblizistischer Geschichtsschreibung, die Melanchthons und Sleidans historische Kompendien noch repräsentierten. Auch die seit dem 16. Jahrhundert zunehmend konfessionalisierte Historiographie trug zur inneren Auszehrung des alten Geschichtsbildes bei. Die theologische Deutung zog sich auf Heilsund Kirchengeschichte zurück und überließ den Bereich der allgemeinen Historie einer sich mehr und mehr von theologischen Axiomen befreienden, rein innerweltlichen Geschichtsschreibung. Dieser unter neuen Vorzeichen entstehenden Historiographie hatte die nachreformatorische orthodoxe Theologie von ihrer metaphysischen Höhe herab nichts mehr entgegenzusetzen. Nur selten wurde das Heraufziehen der säkularisierten Geschichtsbetrachtung von theologischer Seite als problematisch wahrgenommen. Wo es vorkam, fanden eher defensive Rückzugsgefechte statt, die sich mit dem Abkoppeln einer eigenen Kirchengeschichtsschreibung begnügten. Die Verdrängung christlich-theologischer Deutungsschemata aus der Geschichtsschreibung konnten sie nicht aufhalten. Das Feld der Geschichte, auf dem Israel Gott in seinem Wirken immer wieder wahrgenommen und erkannt hatte und das die Urgemeinde, die Kirchenväter und die Reformatoren als "Gottes Arena" für sein Heilshandeln ansahen, wurde in der Substanz weitgehend kampflos der Säkularisierung preisgegeben. Sah Luther die Historie noch in ihrer Ganzheit als "Gottes Werk" an - und nicht nur einen wie auch immer abgesonderten heiligen Bereich in ihr -, so werden der Geschichte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts alle theologischen Deutungen entzogen und das Geschehen allein auf den Menschen geworfen. Die Theologie dagegen, bislang Universal wissenschaft mit Deutungskompetenz auch für die weltgeschichtlichen Zusammenhänge, wird Spezialwissenschaft eines rein ontologischen Glaubensund Offenbarungssystems. Bereits vor Ende des 17. Jahrhunderts greift die rein innerweltlich orientierte Sichtweise auch auf das Gebiet der Kirchengeschichte als letzte Insel geschichtstheologischer Deutungsbestrebungen über? Kirchengeschichte bleibt zwar gesondertes Lehrfach der theologischen Fakultäten (1650 zuerst in Helmstedt, in Tübingen 1720), ordnet sich aber völlig der profanhistorischen Darstellungsweise unter. Vor allem in den protestantischen Kirchen wird weitgehend darauf verzichtet, noch von einem Handeln Gottes in der Geschichte zu reden. Diese Tendenz findet mit der aufgeklärten kritischen Rationalität des 18. Jahrhunderts noch ihre Verstärreichsbezogenen Danielinterpretation erstaunlich lange neben einer weitgehend säkularisierten Geschichtsschreibung. 7 Für den protestantischen Bereich hat dies Klaus Wetzel eingehender in seiner Dissertation ,Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 16601760' (Gießen 1983) untersucht.

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kung. Im deutschsprachigen Raum war es der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, der die Theologie auf das eingeschränkte Feld bloßer Glaubensaussagen verwies. Mit dem Siegeszug des Historismus an den theologischen Fakultäten wird dann nirgends mehr bestritten, daß sich auch die Kirchengeschichte auf dem Boden der kritischen Geschichtsforschung zu bewegen habe. 8 Der absolute Anspruch der modernen Wissenschaften auf Wirklichkeitserfassung wurde als derart übermächtig empfunden, daß die Theologie sich mehr und mehr genötigt sah, sich diesem Anspruch zu stellen und überkommenen Ballast abzuwerfen. Biblischer Offenbarungsanspruch und kirchliche Dogmen wurden von vielen Theologen nurmehr als ,Glaubenslehren' angeführt und das biblische Geschichtsbild dahinter verschwiegen. Die bisherige christliche Geschichtsschau wurde lieber als ,mittelalterlich', denn als ,biblisch' bezeichnet und somit mehr ihr zeitlicher Charakter als ihr überzeitlicher Offenbarungsanspruch betont. Damit verabschiedete man sich jedoch gleichzeitig von den Eckpfeilern einer biblischchristlichen Geschichtssicht. Biblische Urgeschichte und Eschatologievorstellungen fielen wie überreife Früchte von dem Baum der nun zu ,entmythologisierenden' Theologie. Die Mächtigkeit einer quasi-wissenschaftlichen Faktizität geschichtlicher Zusammenhänge und die damit verbundene Festlegung auf eine streng empirisch-wissenschaftliche Methodik wischte jegliche von der Transzendenz her begründete Geschichtsdeutung als unanständig, weil ,unwissenschaftlich' hinweg. Das hat in den Kirchen bleibenden Eindruck hinterlassen. Selbst verschiedene geschichtstheologische Versuche unserer Tage können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die beiden großen christlichen Kirchen der westlichen Hemisphäre es sich angewöhnt haben, vom modernen Welt- und Geschichtsverständnis auszugehen, dessen Säkularisierung grundsätzlich zu bejahen und erst auf dieser Basis einen Weg zu theologischen Aussagen zur Geschichte zu suchen. 9 "Es gibt", so formuliert der Theologe Gerhard Ebeling entgegen biblischer Quellenlage und augustinischer Tradition, "keine theologische Historiographie, die in der Geschichte die Spuren und Urteile Gottes aufdeckte.,,10 8 So z. B. Karl Heussi in seinem ,Kompendium der Kirchengeschichte' (1949): ,,Es gibt nur eine historische Methode, die Anwendung einer speziellen theologischen Methode auf die historischen Phänomene ist unmöglich". 9 Eine andere Stimme, die eine grundsätzliche Revision des modernen Geschichtsverständnisses fordert, ist z. B. der Theologe Karl-Heinz Michel mit dem provozierenden Hinweis, daß es eine ,Profan geschichte' in dem Sinne überhaupt nicht gebe. Ein säkulares Geschichtsverständnis verkürze die Wirklichkeit der Geschichte um ihre wesentlichste Seite. Die Theologie habe sich, in Revision der gesamten Entwicklung neuzeitlicher Geschichtsbetrachtung und in Anlehnung an reformatorische Wurzeln, wieder darum zu bemühen, die Erkennbarkeit Gottes in seinem geschichtlichen Wirken zu bezeugen. Karl-Heinz Michel, Gottes Wirken in der Geschichte, in: Helge Stadelmann (Hrsg.), Glaube und Geschichte. Heilsgeschichte als Thema der Theologie, Gießen-Basel 1988, S. 88 -133. 10 Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, Tübingen 1947.

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Christlich-theologische Aussagen zur Geschichte werden seitdem nur mehr als ,Glaubensinterpretation' gewagt. Es sind Deutungsversuche, die an ein objektiv dastehendes Geschichtsgefüge angelegt werden. Damit stehen sie immer im Verdacht, sich die Wirklichkeit gefügig machen zu wollen. Wen wundert es da, wenn im Zuge dieser geistes geschichtlichen Entwicklung nicht nur die Theologen, sondern auch das Gros der sich als christlich verstehenden Historiker weitgehend auf universalhistorische Deutungsversuche im augustinischen Sinn verzichten. Diese werden lediglich im Bereich einer ,übergeschichtlichen' nurmehr theologischen Kategorien entsprechenden ,Heilsgeschichte' angesiedelt, die bestenfalls bei besonderen heilsgeschichtlichen Ereignissen in die Profangeschichte ,hineinragt' . Doch über den Prozeß der Säkularisierung werden diejenigen Geschichtsentwürfe weitgehend übersehen, die am alten Geschichtsbild festhielten und sich bemühten, dieses in der Modeme fruchtbar zu entfalten. Auch nach Voltaire und dem Siegeszug säkularer Geschichtsschreibung gibt es eine dünne Linie christlicher Denker, die an einer eschatologisch-providentiellen Geschichtserfassung festhält und darauf zielt, den Geschichtsverlauf deutend zu interpretieren. Diese Linie schlängelt sich abseits der großen Entwicklungsstränge der Geistesgeschichte durch die Jahrhunderte und wirkt mal stärker, mal schwächer auf die Zeitgenossen ein. Naturgemäß begegnet sie uns vor allem von der Theologie her: Sie schimmert durch in den eschatologischen und geschichtstheologischen Entwürfen des Württemberger Pietismus,lI in der ,,Erlanger Schule", - vor allem im Werk Johannes von Hofmanns (1810 - 1877), dessen Konzeption von Heilsgeschichte den Versuch macht, Biblizismus und Historismus miteinander zu verknüpfen -, in manchen missions geschichtlichen Deutungsentwürfen, 12 sowie einigen neueren theologischen Ansätzen, die die Trennung von Heils~ und Profangeschichte zu überwinden suchen, wie der Kreis um den Theologen Wolfhart Pannenberg. 13 Aber Vertreter dieser Linie finden sich nicht nur in der Theologie. Entscheidend für die Untersuchungsintension ist ja, daß die Geschichtsentwürfe echte historische Fragestellungen aufgreifen und diese mit geschichtstheologischen Deutungskategorien verknüpfen. Wo das Augenmerk ausschließlich auf Gottes Heilshandeln 11 Vor allem bei Johann Albrecht Bengel (1687 -1752), Friedrich Christoph Oetinger (1702 - 1782) und später bei Johann Christoph Blumhardt (1805 - 1880) und Christian Gottlob Barth (1799-1862). Letzterer unternahm in seinem 1834 veröffentlichten Schulgeschichtsbuch ,Christliche Kirchengeschichte für Schulen und Familien' den Versuch, eine heilsgeschichtliche Deutung der gesamten Weltgeschichte vorzulegen. Bis an die Wende zum 20. Jahrhundert war - wenn auch nur vereinzelt - in universalhistorischen Tabellenwerken pietistischer Prägung die biblizistische Weltära in Gebrauch. Vgl. dazu Günther Felix, Das Lehrbuch der Universalgeschichte im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Geschichtsblätter 8 (1907), S. 263 - 278. 12 So z. B. der Amerikaner Kenneth Scott Latourette (Geschichte der Ausbreitung des Christentums, Göttingen 1956) und der Holländer Hendrik Berkhoj (Der Sinn der Geschichte: Christus, Zürich 1962). 13 Siehe dazu den betreffenden Abschnitt im Epilog: ,Ein kurzer Ausblick auf Ausdrucksformen christlichen Geschichtsdenkens im 20. Jahrhundert'.

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gelegt wird und historische Fragestellungen weitgehend ausgeklammert bleiben (wie in der Bundestheologie und der Heilsgeschichtlich-Theologischen Schule) oder andererseits historische Darstellungen auf christliche Deutungskategorien weitgehend verzichten, da kann man nicht von echten geschichtstheologischen Entwürfen zur Deutung von Geschichte reden. Auch Darstellungen, die lediglich kurz am Anfang und am Ende auf biblische Urgeschichte und Eschatologie eingehen (wie die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chroniken) oder eine ausschließlich eschatologische Ausrichtung haben und - auf historische Rückschau verzichtend - nur die ,,zeichen der Zeit" auszumachen bemüht sind, gehören dazu. Insbesondere das 19. Jahrhundert erweist sich als besonders fruchtbar für den skizzierten Untersuchungsgegenstand. Als geistesgeschichtliche SchlüsseIzeit der Moderne konstituierten sich in diesem Jahrhundert als Folge von Aufklärung und Säkularisierung die Natur- und ,Geisteswissenschaften'. Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus brachen sich Bahn und die Geschichtsschreibung erlebte den Siegeszug des Historismus. Damit setzte eine Vergeschichtlichung aller Wissenschaftsbereiche ein. Die geschichtsphilosophischen Ansätze unserer drei Denker stehen auch auf diesem Boden der Moderne. Sie entfalten sich unter Einbeziehung neuerer naturwissenschaftlicher, soziologischer und historischer Kenntnisse. Damit erhalten sie eine neue Qualität: Sie entstehen nicht mehr aus einer apologetischen Abwehrhaltung heraus - wie noch bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts - und sie verharren auch nicht im Schneckenhaus biblizistischer Bibelauslegung und Endzeitberechnung wie im württembergischen Pietismus. Wenn auch mit jeweils unterschiedlichen Ansätzen, sei es von der Politik (Donoso Cortes), der Philologie (Lasaulx) oder der Religionsphilosophie (Solov'ev) her, haben alle drei in einer Umgebung alternativer geschichtsphilosophischer Systeme und nahezu vollständig säkularisierter Geschichtswissenschaft zu einem Geschichtsbild gefunden, das sie selbst in Abhebung zur Moderne als christlich, ja als providentiell definierten. Wie eingangs bereits skizziert, wird im Folgenden zu klären sein, inwieweit sie dies in bewußter Anlehnung an traditionelle Geschichtstheologie taten und inwiefern sie bestimmte geschichtstheologische Kategorien verwertet und umgesetzt haben. Welche biblischen und welche antiken und mittelalterlichen Vorgaben übernehmen sie für ihren providentiell gedeuteten Geschichtsverlauf und worin unterscheiden sie sich von früheren Geschichtstheologien? Was sind die verbindenden Elemente zwischen dem anti liberalen Geschichtspessimismus des katholischen Staatsmannes Donoso, einem eher organischen Geschichtsdenken des deutschen Universitätsprofessors Lasaulx und der visionären apokalyptischen Geschichtsschau des Russen Solov'ev? Und was trennt sie voneinander? Die Frage nach der Wirkung der Geschichtssicht unserer drei Denker auf Zeitgenossen und Fachwissenschaft wird anzuschneiden sein, soll hier aber im Blick auf das Untersuchungs-

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anliegen - ebenso wie ihre Biographie und die geistes geschichtlichen Einflüsse nur am Rande genannt bleiben. Der typologisch-vergleichende Untersuchungsansatz will deutlich machen, daß biblisch-christliches Geschichtsdenken auf der Basis bestimmter überzeitlicher und offenbarungsbegründeter Kategorien steht und von daher in allen Zeiten seinen Ausdruck findet. D.h. auch nach dem ,Disco urs sur l'histoire universelle' von Jacques Bossuet, der gemeinhin als die letzte große Konzeption christlicher Universalhistorie gilt, gibt es Entwürfe zur Weltgeschichtsdeutung auf der Grundlage eines solchen biblisch-christlichen Offenbarungs- und Geschichtsverständnisses. Diese Entwürfe stehen aber nicht einfach in historiographischer Tradition antiker und mittelalterlicher Geschichtsschreibung, sondern konstituieren sich unter den Vorzeichen der Modeme neu. Sie leisten sozusagen Übersetzungsarbeit, indem sie das biblisch-christliche Geschichtsverständnis, das ja den Ausgangspunkt der gesamten abendländischen Historiographieentwicklung darstellt, in die heutige Zeit transferieren. Damit werden sie zu Dokumenten eines teleologischen, eschatologischen und providentiellen Geschichtsdenkens in der Modeme. Unter Einbeziehung und in Auseinandersetzung mit dem modemen Wissenschaftsbegriff erhalten sie eine besondere Qualität gegenüber ihren antiken und mittelalterlichen Vorgängern und sind als ernstzunehmendes Gegenüber neuzeitlichen Geschichtsdenkens wahrzunehmen. Während die großen Geschichtsphilosophien der Modeme längst als Umwandlungen und säkularisierte Fonnen der klassischen christlichen Geschichtstheologie herausgearbeitet wurden,14 hat die Forschung geschichtstheologischen Entwürfen in der Modeme keine weitere Beachtung geschenkt. Zwar gibt es auch zu unseren drei Denkern durchaus Einzeluntersuchungen, die deren Geschichtsbild im Auge haben, aber es fehlt m. E. die übergreifende Perspektive, die das einzelne Werk im Kontext eines in die Neuzeit reichenden klassisch-christlichen Geschichtsdenkens untersucht. 15 Ansätze für eine solche, stärker übergreifende Perspektive christlichen Geschichtsdenkens sind naturgemäß am ehesten bei den Mediävisten zu finden, da Herrschaftsideologie, Politik und gesellschaftliche Ordnung des Mittelalters untrennbar mit einem christlichen Welt- und Geschichtsbild verknüpft sind. 16 14 So von Karl Löwith (Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953) und Carl L. Becker (The Heavenly City of the 18th Century philosophers, New Haven 1932. Dt. = Der Gottesstaat der Philosophen des 18. Jahrhunderts, Würzburg 1946). Kritisch dazu: Walter Jaeschke (Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese, München 1976). IS Auf Forschungsstand und Literaturlage zu Donoso Cortes, Lasaulx und Solov'ev gehe ich in den betreffenden Kapiteln gesondert ein. 16 Für die frühchristliche Geschichtsdeutung und die Zeit der Spätantike genüge der Hinweis auf die Arbeiten von Robert L. P. Milburn (Early Christian Interpretation of History, New York 1952. Dt.: Auf daß erfüllt werde. Frühchristliche Geschichtsdeutung, München

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Grundlegend für die mittelalterliche Universalgeschichtsschreibung ist immer noch die umfassende Übersicht von Anna-Dorothee v. den Brincken über die Entwicklung der Weltchronistik bis Otto von Freising. 17 Eine Ergänzung dazu lieferte 1980 ihr Schüler Martin Haeusler, dem es insbesondere um das eschatologische Element innerhalb dieser Weltchronistik ging und der seine Untersuchung auch für die frühe Neuzeit fortführte. 18 Grundlegend sind auch die Arbeiten von Amos Funkenstein, der dem Verhältnis von apokalyptischen Elementen und Entwicklungsgedanken als den beiden Polen hochmittelalterlicher Geschichtserfassung nachspürt,19 sowie die des französischen Mediävisten Claude Carozzi.2° Zu nennen sind ferner Herbert Grundmann, Johannes Spörl und Heinz Löwe, die in verschiedenen Veröffentlichungen einen Überblick über Grundzüge und Eigenarten mittelalterlichen Geschichtsdenkens geben. 21 Darüberhinaus gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, die, obgleich meist Einzeluntersuchungen zu bestimmten Aspekten mittelalterlichen Geschichtsdenkens, doch auch wichtige Momentaufnahmen christlicher Historiographieentwicklung 1956) und Karl-Heinz Schwarte (Die Vorgeschichte der Augustinischen Weltalterlehre, Bonn 1966). Eine gute Übersicht über geschichtstheologisches und historisches Denken von frühchristlicher Zeit bis zur Moderne bietet der Aufsatz "Geschichte I Geschichtsschreibung I Geschichtsphilosophie" in: TRE Bd. XII (1984), S. 572-698. 17 Anna-Dorothee v. den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Otto von Freising, Düsseldorf 1957. 18 Martin Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik, Köln-Wien 1980. 19 Amos Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters, München 1965. 20 Claude Carrozi, Weltuntergang und Seelenheil. Apokalyptische Visionen im Mittelalter, Frankfurt 1996. 21 Genannt seien hier lediglich ihre Aufsätze in Walter Lammers Edition, die immer noch einen hervorragenden Überblick über mittelalterliches Geschichtsdenken bietet: Walter Lammers (Hrsg.), Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1933 bis 1959 (= Wege der Forschung, Bd. 21), Darmstadt 1961. Darin u. a. enthalten: Herbert Grundmann (,Die Grundzüge mittelalterlicher Geschichtsanschauungen' ; ,Die Eigenart mittelalterlicher Geschichtsanschauungen', S. 418 ff.), Johannes Spörl (,Das mittelalterliche Denken als Forschungsaufgabe', S. 1-29; ,Wandel des Welt- und Geschichtsbildes im 12. Jahrhundert? Zur Kennzeichnung der hochmittelalterlichen Historiographie'; ,Die "Civitas Dei" im Geschichtsdenken Ottos von Freising', S. 278 ff.) und Heinz Löwe (Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit, S. 91 -134). Aus der großen Fülle der zu nennenden Literatur (vgl. die die Veröffentlichungen bis 1961 umfassende Bibliographie von Sibylle Mähl, in: Lammers, S. 434ff.) sei hier lediglich noch hingewiesen auf den Artikel von Hubert Mordek (,Vergangenheit und Zukunft im Geschichtsdenken des Mittelalter') in der Edition von Heinz Löwe (Geschichte und Zukunft. Fünf Vorträge, Berlin 1978, S. 33 ff.), sowie die älteren Arbeiten von Heinz Müller (Die Hand Gottes in der Geschichte. Zum Geschichtsverständnis von Augustinus bis Otto von Freising, Hamburg 1949) und Ernst Wolf (Heilsgeschichte im Geschichtsbewußtsein und im geschichtlichen Ablauf des europäischen Mittelalters. Christentum und Geschichte. Vorträge, Düsseldorf 1955).

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sind. 22 Exemplarisch genannt seien die Untersuchungen von Gerhard Podskalsky, Horst Dieter Rauh und Harald Suermann, die einzelne Aspekte geschichtstheologischer Deutung hervorheben, nämlich die Periodisierung der Weltgeschichte nach Daniel in der byzantinischen Reichseschatologie, den Wandel der Antichristvorstellungen und die Reaktion der edessenischen Apokalyptik des 7. Jahrhunderts auf die einfallenden Muslime. 23 Die insbesondere auf den Zusammenhang von christlichem Geschichtsdenken und politischer Staats- und Herrschaftsideologie im Mittelalter eingehenden Arbeiten von Ernst Bemheim, Alois Dempf und Werner Goez sind trotz unterschiedlicher Ansätze immer noch wichtige Standardwerke zu diesem Bereich. 24 Während die historiographische Entwicklung des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit schon in wichtigen älteren Arbeiten in seiner Besonderheit gewürdigt wurde 25 und der sich anschließende Säkularisierungsprozeß der Geschichtsauffassung mit den schon genannten Arbeiten von Emil Menke-Glückert und Adalbert Klempt eingehend erforscht ist,26 bleibt die Zahl der Untersuchungen, die Aspekte geschichtstheologischen Denkens in der Neuzeit aufgreifen, auffallend gering. Meist 22 Die im folgenden genannten Arbeiten stellen natürlich nur eine kleine Auswahl der das Thema betreffenden Veröffentlichungen dar. Einen besseren Überblick bieten die schon genannte Bibliographie von Sibylle Mähl (Lammers, S. 434 ff.) sowie das Literaturverzeichnis am Ende dieser Arbeit. 23 Gerhard Podskalsky, Byzantinische Reichseschatologie. Die Periodisierung der Weltgeschichte in den vier Grossreichen (Daniei 2 und 7) und dem tausendjährigen Friedensreiche (Apk.20). Eine motivgeschichtliche Untersuchung, München 1972; Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum deutschen Symbolismus, Münster 1973 (eine gute Übersicht über die Entwicklung des Antichristbildes von frühchristlicher Zeit an bis zur Moderne sowie reichhaltige Literaturhinweise bietet zudem der Aufsatz "Antichrist" in: TRE Bd. 111, 1978, S. 20-50); Harald Suermann, Die geschichtstheologische Reaktion auf die einfallenden Muslime in der edessenischen Apokalyptik des 7. Jahrhunderts (Diss.), Frankfurt 1985. 24 Ernst Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung. Teil I: Die Zeitanschauungen. Die Augustinischen Ideen. Antichrist und Friedensfürst. Regnum und Sacerdotium, Tübingen 1918; Alois Dempf, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, 1929 (1962); Werner Goez. Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958. Vgl. auch die Aufsatzsammlung von Max Kerner (Hrsg.), Ideologie und Herrschaft im Mittelalter (= Wege der Forschung, Bd. 530), Darmstadt 1982. 25 U. a. von: Franz Xaver von Wegeie (Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München 1885), Paul Joachimsen (Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Leipzig-Berlin 1910) und Eduard Fueter (Geschichte der neueren Historiographie seit dem Humanismus, 1911,1936). 26 Vgl. darüberhinaus auch den neueren Aufsatz von Arno Seifert ,Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung', in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 68 (Köln-Wien 1986), S. 81117, sowie den von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin herausgegebenen ,Geschichtsdiskurs Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens', Frankfurt 1994.

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begrenzen sich derartige Arbeiten auf eine kirchengeschichtlich regionale Perspektive,27 auf Teilaspekte christlichen Geschichtsdenkens, wie z. B. die Eschatologie 28 oder auf die Säkularisierung der kirchlichen Geschichtsschreibung und ihre Beziehung zum Historismus. 29 Übergreifende Darstellungen, die auch geschichtstheologisches Denken in der Neuzeit beinhalten bzw. dieses in gesamthistorischer Perspektive thematisieren, bleiben die Ausnahme. Diese Perspektive wird ebenso von einigen Arbeiten zur Kirchengeschichtsschreibung nur am Rande gestreift. 3o Die Beiträge von Karl Löwith, Walter Nigg und Wilhelm Kamlah thematisieren christliches Geschichtsdenken zwar ganz ausdrücklich, dies aber vor allem im Hinblick auf Genese und Einfluß auf modeme Geschichtsvorstellungen. 31 Entweder richtet sich der Blick ganz allgemein auf die theologischen Voraussetzungen neuzeitlicher Geschichtsphilosophie (Löwith) oder auf die christlichen Wurzeln moderner Utopien und futuristischer Vorstellungen (Kamlah)32 bzw. die Entwicklung und Übertragung biblischer Chiliasmus-Vorstellungen durch die Jahrhunderte 27 So z. B. Hartmut Lehmann, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Gedenken des Württembergischen Pietismus, in: Heinz Löwe (Hrsg.), Geschichte und Zukunft. Fünf Vorträge, Berlin 1978, S. 51 -73. 28 U.a. Jacob Taubes (Abendländische Eschatologie, Bern 1947), Wilhelm Kamlah (Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futuristischen Denken der Neuzeit, Mannheim-Wien-Zürich 1969), Ernst Benz (Endzeiterwartung zwischen Ost und West. Studien zur christlichen Eschatologie, Freiburg 1973) und Erhard Kunz (Protestantische Eschatologie von der Reformation bis zur Aufklärung, Freiburg 1980). 29 U.a. Klaus Wetzel (Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660-1760, Gießen 1983), Erich Fülling (Geschichte als Offenbarung. Studien zur Frage Historismus und Glaube von Herder bis Troeltsch, Berlin 1956) und Michael Murmann-Kahl (Die entzauberte Heilsgeschichte: der Historismus erobert die Theologie 18801920, Gütersloh 1992). Als Einzeluntersuchung ebenfalls interessant: Carl Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, Göttingen 1954. Zur wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung zwischen neueren geschichtstheologischen Entwürfen und moderner Geschichtswissenschaft: Hans Reinhard Seeliger. Kirchengeschichte-GeschichtstheologieGeschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, Düsseldorf 1981 und Achim Dunkel, Christlicher Glaube und historische Vernunft. Eine interdisziplinäre Untersuchung über die Notwendigkeit eines theologischen Geschichtsverständnisses, Göttingen 1989. 30 U.a. Walter Nigg (Die Kirchengeschichtsschreibung. Grundzüge ihrer historischen Entwicklung, München 1934) und Peter Meinhold (Geschichte der kirchlichen Historiographie (Orbis Academicus), 2 Bde, Freiburg 1967). 31 Löwith beruft sich bei seiner Darstellung biblisch-neutestamentlicher Geschichtssicht vor allem auf die Darstellung Oskar Cullmanns (Christus und die Zeit, Zollikon-Zürich 1946). Walter Nigg, Das ewige Reich. Geschichte einer Hoffnung, München-Hamburg 1967; Wilhelm Kamlah, Apokalypse und Geschichtstheologie. Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim v. Fiore (Diss.), Göttingen 1935. 32 Kamlah, Utopie. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang eine neuere, eher Iiteraturgeschichtliche Untersuchung von G6mez Castro und R. Victor. die den Einfluß apokalyptischen Denkens in moderner deutscher Literatur untersucht. (G. Castro, R. Victor: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht" - Studien zur apokalyptischen Tradition und zu ihrer Ausgestaltung in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Diss., Erlangen 1992).

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bis hin zu Sozialismus und Marxismus (Nigg). Ganz ähnlich angelegt sind die Arbeiten des amerikanischen Historikers Reinhold Niebuhr, der allerdings mehr apologetisch die Auseinandersetzung mit modemen Geschichtsanschauungen im Blick hat. 33 Von amerikanischer Seite als hilfreich zu nennen sind vor allem das - leider immer noch nicht übersetzte - Standardwerk von Edwin Le Roy Froom, das in vier Bänden eine Übersicht zur Entwicklung prophetischer Geschichtsinterpretation leistet, sowie die ebenfalls nur in Englisch vorliegende Aufsatzsammlung zu christlichen Geschichtsdenkem der Modeme, die von C. T. MeIntire herausgegeben wurde. 34 Doch all die hier genannten Arbeiten füllen nicht die Lücke, die in der historiographischen Forschung zweifellos da ist: es gibt keine Untersuchung neuerer geschichtstheologischer Ansätze, die diese als Fortführung biblisch-christlichen Geschichtsdenkens in der Modeme thematisiert. Dabei finden sich im deutschsprachigen Raum z. B. für die Zeit unmittelbar nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges einige Veröffentlichungen, die die Universalgeschichte und historisches Geschehen wieder im Lichte göttlichen HandeIns interpretieren. 35 Als historiographische Erscheinung wurden sie jedoch bislang nicht wahrgenommen. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, biblisch-christliches Geschichtsdenken in der Modeme wieder als solches zu thematisieren.

33 Reinhold Niebuhr; Faith and History, New York 1951 (dt. = Glaube und Geschichte. Eine Auseinandersetzung zwischen christlichen und modemen Geschichtsauffassungen, München 1951); ders.: Jenseits der Tragödie. Betrachtungen zur christlichen Deutung der Geschichte, München 1947. Aus amerikanischer Sicht ferner: lohn Warwick Montgomery, Where is history going?, Minneapolis 1969 (dt. = Weltgeschichte wohin?, Neuhausen-Stuttgart 1977). 34 Edwin Le Roy Froom, The Prophetie Faith of our Fathers. Historical Development of Prophetie Interpretation, 4 Bde, Washington (D.C.) 1946-1954; C. T. Meintire (Hrsg.), God, History and Historians. An Anthology of Modem Christian Views of History, New York 1977 (behandelt werden u. a. die Historiker Dawson, Niebuhr; Latourette, Toynbee, Butterfieid, sowie die Theologen Brunner; Bultmann, Pannenberg, Ti/lieh, Barth, Maritain, Marrou). 35 So z. B.: Walter Künneth (Der große Abfall. Eine geschiehtstheologische Untersuchung der Begegnung zwischen Nationalsozialismus und Christentum, Hamburg 1947) und Friedrieh von der Ropp (Wandlung oder Chaos. Eine Geschichtsschau im Umbruch der Zeit, Karlsruhe 1950).

Teil I

Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau 1. Geschichte im AT: Die Erfahrung von Heils- und Unheilszusammenhängen, von Verheißung und Erfüllung l Der Ursprung der biblischen Geschichtssicht liegt in der besonderen Gotteserfahrung des Volkes Israel und seiner Patriarchen. Israel erfährt seinen Gott JHWH2 als den, der immer wieder in das historische und politische Geschehen eingreift. Anders als bei den umliegenden altorientalischen Völkern ist der hebräische Gottund Heilsglaube nicht mythisch, sondern durch und durch geschichtlich. Im Mittelpunkt stehen echte historisch identifizierbare Ereignisse. Und zweifellos war die I Aus der unübersehbaren Literaturfülle zum alttestamentlichen Geschichtsdenken sei zum Überblick besonders auf die einschlägigen lexikalischen Artikel hingewiesen: TRE Bd. 111, S. 189-289 (,Apokalyptik'), Bd. X, S. 254-363 (,Eschatologie'), Bd. XII, S. 565-698 (,Geschichte I Geschichtsschreibung I Geschichtsphilosophie'); RAC, Bd. III (,Chronologie'), Bd. XV, hrsg. von Ernst Danmann (,Historiographie'); LThK (,Geschichtsschreibung', ,Geschichtstheologie' , ,Heilsgeschichte'); HThG (,Heilsgeschichte'). Darüberhinaus sollen hier noch genannt sein: A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik (= Grundrisse zum Alten Testament Bd. 5), 1977; Wolfhart Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte (1959), in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1967; Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, hrsg. von J. Feiner und M. Löhrer, Bd. I: Die Grundlagen heilsgeschichtlicher Dogmatik, Zürich-Köln 1965; L. Köhler, Theologie des Alten Testaments, Tübingen (1953 3); Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde, München 1957; J. Hempel, Altes Testament und Geschichte, Gütersloh 1930; O. Eißfeld, Geschichtliches und Übergeschichtliches im AT, Berlin 1947; M. Noth, Das Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Apokalyptik, Köln 1954; W. Eichrodt, Heilserfahrung und Zeitverständnis im AT, Theologische Zeitschrift 12, Basel 1956, S. \03 - 125; F. Baumgärtei, Das alttestamentliche Geschehen als ,heilsgeschichtliches' Geschehen, Tübingen 1953; J. A. Soggin, Geschichte, Historie und Heilsgeschichte im AT, Theologische Zeitschrift 89, Basel 1964, S. 721-736; Hendrik Berkhof, Der Sinn der Geschichte: Christus, Göttingen-Zürich 1962 (insbes. S. 41-61); Helge Stadelmann (Hrsg.), Epochen der Heilsgeschichte. Beiträge zur Förderung heilsgeschichtlicher Theologie, Wuppertal 1984; Ders., Glaube und Geschichte. Heilsgeschichte als Thema der Theologie, Wuppertal 1986. 2 Im folgenden soll die Transkription ,JHWH' (gesprochen ,Jahweh') für den Gottesnamen verwendet werden, da sie durch das Fehlen der Umlaute dem Hebräischen am nächsten kommt.

1. Geschichte im AT

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Herausführung aus Ägypten dabei das entscheidende Geschehen, das sich unauslöschlich tief als Rettungserlebnis dem Volk Israel eingeprägt hat. Die große Befreiungstat des sich so offenbarenden Gottes JHWH kommt in zahllosen biblischen Zeugnissen zum Ausdruck 3 und die Erinnerung an dieses Eingreifen wurde im Passahfest zum Mittelpunkt des israelitischen Kultes. Alle Einrichtungen und Verordnungen für das Leben Israels stehen auf diesem historischen Erlebnisgrund. Jeder jüdische Vater soll seinem Sohn weitergeben "daß JHWH, der Gott Israels, derjenige ist, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat" (Deu 6,20 ff.). Das ist wohl einer der elementarsten und am häufigsten wiederholten Glaubenssätze im AT. Mit dem Exodusgeschehen begreift sich Israel nicht nur als zusammengehöriges, sondern als von JHWH erwähltes Volk und es erwächst die Überzeugung, daß Gott "Gedanken zum Heil und nicht zum Unheil sinnt, euch eine hoffnungsvolle Zukunft zu gewähren" (Jer 29,11). Damit ist der Begriff der "Heilsgeschichte", wenn auch nicht dem Wort, so doch der Sache nach, im Alten Testament begründet. 4 Das heilsgeschichtliche Handeln Gottes beschränkt sich dabei nicht auf irgendein gesondertes sakrales Geschehen. Vielmehr ist der weltgeschichtliche Horizont in JHWHs Handeln an Israel immer mithineingenommen. Seit dem Auszug aus Ägypten erfährt Israel nicht nur seine eigene Geschichte als Gottes Handeln an sich, sondern ordnet auch das Geschehen in seiner Umwelt, soweit es von ihm betroffen ist, diesem Handeln Gottes unter. Im Buch der Richter findet das seinen prägnanten Ausdruck: ,,Das sind die Völker, die der Herr im Lande ließ, um durch sie die Israeliten ( ... ) auf die Probe zu stellen ( ... ) um die Generationen der Israeliten, die das Kriegführen nicht mehr kannten, darin zu unterrichten ( ... ) Sie waren dazu da, daß die Israeliten durch sie auf die Probe gestellt würden und daß in Erfahrung gebracht würde, ob sie den Geboten des Herrn gehorchten, auf die er ihre Väter durch Mose verpflichtet hatte." (Ri 3,1-4)

Zwar beschäftigt sich die alttestamentliche Geschichtssicht vornehmlich mit Israel, daß sie aber jede Universalität vermissen läßt, wie Anna-Dorothee v. den Brincken meinte,5 stimmt so nicht. Zweifelsfrei bildet die jüdisch-nationale Perspektive den Kern; dieser ist jedoch eingerahmt von einer universalhistorischen Ausweitung am Anfang (Gen 1 - 11) und am Ende (z. B. Dan 7 -12). Zudem ist es JHWH selbst, der Israel schon mit den frühen Propheten klar macht, daß er auch die Geschicke der anderen Völker lenkt: "Seid ihr für mich mehr als die Kuschiter, ihr Israeliten? - Spruch des Herrn. Wohl habe ich Israel aus Ägypten heraufgeführt, aber ebenso die Philister aus Kaftor und die Aramäer aus Kir" (Am 9,7).6 Vgl. Ex 15,1- 18; Deu 5,15; 6,23 f.; Jos 24,16 f.; Am 9,7; Hos 13,4 ff. (u.v.a.) Im Folgenden soll der Begriff der ,Heilsgeschichte' losgelöst von der Bedeutungsschwere verwendet werden, die ihm die Theologie seit dem späten 19. Jahrhundert zugewiesen hat. ,Heilsgeschichte' meint ganz einfach: das Heil geschieht auf geschichtlichem Wege. S A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 44. 6 Am 9,7 (zit. nach der Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980). 3

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3 Schwaiger

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

a) Der nm-Ergehen-Zusammenhang Die geschichtliche Wirklichkeit wird dennoch, wie die oben zitierte Stelle aus Ri 3,1-4 zeigt, zunächst auf das eigene Volk bezogen gedeutet. Der Maßstab dafür ist das Verhalten gegenüber dem geschlossenen Bund Israels mit seinem Gott. Sowohl Mose als auch Josua legen Israel auf das Halten des Bundes fest. Darauf wird Segen verheißen, wohingegen der Bruch des Bundes mit JHWH Fluch und Unheil zur Folge haben (Deu 27 - 30; Jos 24). Der mit dem ganzen Volk am Sinai geschlossene Bund eröffnet so eine neue Dimension der Geschichtserfahrung: er fordert von jetzt an die betroffenen Menschen zur Stellungnahme auf. Entweder sie stellen sich im Glauben an das Gotteswort ,positiv' zu Gottes Geboten (Ex 4,1; 14,31; Num 14,11) oder ,negativ', was sich in Mißtrauen und Abkehr von JHWH äußert und das Fortschreiten der verheißenen Geschichte hemmt (Num 11,10; 14; 16; 22,22). Es liegt an den Menschen, wenn das verheißene Ziel, für Israel zunächst die Landeinnahrne, noch nicht erreicht ist. Man kann also mit dem holländischen Theologen Hendrik Berkhof sagen: "Die Untreue des Volkes und die Treue Gottes halten gemeinsam die Geschichte in Gang".7 Damit ist der entscheidende Grundzug der Geschichte Israels bestimmt: Sie ist Heils- und Unheilsgeschichte, je nachdem wie sich das Bundesvolk zu seinem Gott hält. Das alttestamentliche Interesse an der Geschichte begründet sich von diesem Tun-Ergehen-Zusammenhang her. Geschichte ist Handeln Gottes nach dem Verhalten der Menschen. Damit eng zusammen hängt auch die Auswahl der historischen Ereignisse, von denen die biblischen Schreiber berichten. Am deutlichsten wird das bei den Königsbüchern und den Chroniken. Berichtet wird, was für diesen Zusammenhang bedeutsam erscheint. Selbst historisch bedeutsamere Größen wie David und Salomo wirken nicht in erster Linie durch ihre politischen und militärischen Taten, sondern durch ihr positives oder negatives religiös-sittliches Verhalten im Hinblick auf den JHWH-Bund. Dieses Verhalten ist es, das vorrangig zurückwirkt, auf den Handelnden selbst, wie auf seine Umgebung. Der Kern der alttestamentlichen Geschichtssicht ist also ein Tun-ErgehenZusammenhang, den JHWH selbst fördert und aus dessen Verlauf er sich "erkennen" läßt, wie es am deutlichsten in der häufigen Formel zum Ausdruck kommt: "daß sie erkennen, daß ich JHWH bin".8 Biblische Geschichtssicht artikuliert sich von daher nicht historisch im modemen Sinne. Weder bemüht sie sich um quellenkritische Untersuchung, noch darum, Geschichte nach rein innerweltlichen Erklärungen von Ursache und Wirkung zu deuten. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Deutung des Geschehenen von einer transzendenten Wirklichkeit her, die JHWH als einen bestimmten Tun-Ergehen-Zusammenhang offenbart hat.

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Berkhof, S. 43. Z. B. IKö 8,43; 2Kö 19,19; Ps 83,19; Ps 100,3; Jes 52,6.

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b) Die Entfaltung einer heilsgeschichtlichen Teleologie

Das Bewußtsein um einen Heilsplan Gottes nimmt in den alttestamentlichen Büchern nach und nach zu und erfahrt schrittweise seinen Ausbau zu einer heilsgeschichtlichen Gesamtkonzeption. Der Zusammenhang von Exodus und Landnahme ist das erste Thema der Heilsgeschichte. Die Wegführung aus Ägypten war ja nicht Ziel in sich selbst, sondern zielte auf die Hineinführung in das gelobte Land. Damit ist Heilsgeschehen zielgerichtet. Der tragende Gedanke vom Bund, den JHWH seinem Volk am Sinai gewährt (Ex 24, I - 8; 34, 10- 28) wirft sein Licht auch auf die vorausgegangene Erzväterzeit. Deutlich wird dies z. B. in dem kleinen geschichtlichen Credo, das im 5. Buch Mose als kultische Bekenntnisformel genannt ist: "Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zu JHWH, dem Gott unserer Vliter, und JHWH hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. JHWH führte uns mit starker Hand und hocherhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen." (Deu 26,5 - 10)

Mit Bezug auf die Verheißungen Gottes an Abraham stellt sich die Besitzergreifung von Kanaan als die Erfüllung der an die Vater ergangenen Verheißungen dar (Deu 4,1; 6,18+23). Der oben genannte Tun-Ergehen-Zusammenhang ist in den teleologischen Rahmen von Verheißung und Erfüllung hineingestellt. Daß der Rückbezug des Volkes Israel auf die Verheißungen der Patriarchen aber keineswegs nur ein Konstrukt späterer deutend-redaktioneller Überarbeitung ist, sondern auf ältestes literarisches Material zurückgeht, hat u. a. der britische Archäologe P. J. Wiseman eindrucksvoll aufgezeigt. 9 Anhand der sogenannten "toledoth" -Formeln wies er nach, daß die biblischen Berichte des Exodusgeschehens an schriftlich vorliegendes, wesentlich älteres Material anknüpfen. Weite Teile des ersten Buches Mose sind demnach als genealogisch überlieferte Textsammlung zu verstehen, die als Tontafeln von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Diese Texte, die vor allem die ersten elf Kapitel des Genesis-Buches ausmachen, setzen die Historie von der Schöpfung an in einen Zusammenhang von religiös-sittlichem Handeln und Heil bzw. Unheil. Die frühe Menschheitsgeschichte wird bestimmt von Schuld und Gnade, Rebellion und Gerichtshandeln Gottes. Nach einer Periode anwachsender menschlicher Sündhaftigkeit (Sündenfall, Brudermord, geschlechtliche Verbindung mit ,Gottessöhnen') sowie härter werden9 P. J. Wiseman, Die Entstehung der Genesis. Das erste Buch der Bibel im Licht der archäologischen Forschung, Darmstadt, 1936 (1989). Zur Beziehung von altorientalischen und biblischen Texten vgl. die Arbeiten von J. B. Pritchard (The Ancient Near Eastem Texts relating to the Old Testament, 1955 2 ; The Ancient Near East in Pictures relating to the Old Testament, 1955) und S. M. Kramer (From the Tablets of Sumer, 1956).

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den göttlichen Reaktionen (Vertreibung aus dem Paradies, vom Ackerland, Sintflut) stabilisiert sich die Weltgeschichte schließlich durch Gottes ordnende Hand, indem JHWH die Auswirkungen menschlicher Übeltaten für die Zukunft begrenzt (Herabsetzen des menschlichen Alters, Babylonische Sprachverwirrung und Zerstreuung der Völker). In dieser Situation erwählt sich JHWH eine Person (Abraham), dessen Familie und das daraus entstehende Volk, um ein Heilshandeln zu beginnen, das darauf ausgerichtet ist, die ganze Menschheit miteinzubeziehen. IO Der Gott Israels ist - anders als die Stadt- und Stammesgottheiten der benachbarten orientalischen Völker - universal ausgerichtet. Schon das unbedingte und im Alten Orient einzigartige Bildnisverbot (Ex 20,4) unterstreicht diesen universalen Anspruch. In einen solchen welthistorischen Horizont bettet sich die auf einzelne Personen und eine Sippe eingeengte Erzvätergeschichte (Gen 9,21-50), die am Anfang der Erwählung Israels zum Eigentumsvolk JHWHs steht. Die Kontinuität zwischen welthistorischen Anfangen und der Erzväter- und Israelgeschichte wird insbesondere auch durch die durchgehende Genealogie und die chronologischen Angaben deutlich. Das Alte Testament liefert von Anfang an einen bis ins fünfte vorchristliche Jahrhundert stimmigen zeitlichen Rahmen und enthält damit die älteste und über einen so langen Zeitraum einzige durchgehende Chronologie, die es gibt. Auch dies unterstreicht die Geschichtsbezogenheit des JHWH-Glaubens gegenüber der mythischen Ausrichtung der anderen Religionen des Vorderen Orients. Die Chronologie verbindet die als streng historisch verstandene Urgeschichte mit der israelitischen Stammesgeschichte und der Welthistorie und bildete deshalb jahrhundertelang das Gerüst fast aller christlichen Universalgeschichtsschreibung. 11 Damit sind die beiden Kemmotive biblischer Geschichtsdarstellung genannt: Heil oder Unheil je nach Haltung zu Gott und seinen Geboten (Tun-Ergehen-Zusammenhang) und Verheißung und Erfüllung als teleologische Blickrichtung der providentia Gottes. 12 Diese beiden Motive finden in den alttestamentlichen Schriften ihre Entfaltung. Mit der Landeinnahme Kanaans war Gottes geschichtliches Heilshandeln noch nicht zu Ende. Schon zahlreiche Urverheißungen im Genesis-Bericht weisen darGen 12,3: "In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden". Darauf wird weiter unten in Teil 11 (,Die Entwicklung christlicher Geschichtsbetrachtung bis zum 18. Jahrhundert') noch gesondert einzugehen sein. 12 Bereits Gottes Selbstoffenbarung vor Mose als ,JHWH' (Ex 3, 14f.) macht die Geschichtsmächtigkeit von Verheißungen und deren Verwirklichung im äußeren, historisch erfassbaren Geschehen als JHWHs ganz eigenes Kennzeichen deutlich: ,JHWH' leitet sich ab vom hebr. Wort für ,sein' und die Übersetzung des Namens kann bedeuten "Ich bin" (Einheitsübersetzung, Züricher Bibel), "der Sich-gleich-Bleibende" oder "Ich bin da" (Martin Buber). Doch diese Übersetzungsmöglichkeiten werden dem zeitlichen Charakter, der auch in dem hebr. Verb ,sein' enthalten ist, nicht ganz gerecht. Angebrachter ist sicher eine Übersetzung, die alle Zeitformen umfaßt und die die Bibel selbst anbietet: "der da ist, und der da war, und der da kommt" (Offb 1,8). Der Luthertext drückt mit ,,Ich werde sein, der ich sein werde" vor allem den Aspekt des sich in der Zeit offenbarenden Gottes sehr prägnant aus. 10

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auf hin (Gen 3,15b; 9,25 - 27; 49). Der weltgeschichtliche Rahmen hat sich zunächst auf Israel eingeengt, dessen soteriologische Wiederausweitung steht aber noch aus. Der Sinai-Bund selbst und das Darlegen von Segen und Fluch als mögliche Auswirkungen je nach Israels weiterem Gehorsam (Deu 28) weisen schon über die Landeinnahme hinaus auf einen Fortgang der Heilsgeschichte hin. Die nächste Etappe nach der sich allmählich vollziehenden Landeinnahme stellt die Erwählung Davids und des Zion-Berges als feste Stätte für Gottes Heiligtum dar. Das von Gottes Handeln her verstandene Geschichtsbild nimmt neue konkrete Züge in sich auf und der Bundesgedanke erweitert sich nach der Einführung des zunächst umstrittenen Königtums (ISam 8) durch Gottes Zusage eines ewigen Bundes mit David und seinen Nachkommen (2Sam 7; 23,5; 2Chr 13,5; 21,7). Mit der Errichtung des Tempels durch Salomo ist die Spitze einer heilsgeschichtlich verstandenen Gottesführung Israels erreicht. Und wie am Sinai mit dem Volk, schließt JHWH nun mit der David-Dynastie einen Bund, der Wohl und Ergehen von der Gesetzeseinhaltung abhängig macht (lKön 9). Fortan tritt das Königtum als im besonderen Maße für die Geschichte Israels zum Heil oder Unheil verantwortlich hervor. Die späteren Chroniken betonen folgerichtig das Miteinander von göttlicher Huld und menschlicher Schuld (des Königs!) als eigentlichen Leitgedanken geschichtlicher Darstellung. Die nach Salomo absteigende Geschichte Israels (Teilung, zunehmende politische Bedeutungslosigkeit und Fremdbestimmung bis hin zur Eroberung und Auflösung durch die altorientalischen Großreiche) wird ganz im Sinne des Sinai-Bundes als Gottes gerechtes Urteil in der Geschichte gedeutet. Er erfüllt das Drohwort ebenso wie das Verheißungswort. Da die Könige mit wenigen Ausnahmen immer verwerflicher werden, Götzendienst und Gottlosigkeit zunehmen, bleibt nach dem Maßstab des geschlossenen Bundes die Zerstörung der nationalen Selbständigkeit als göttliches Strafgericht nicht aus. In dieser Zeit spielen die Propheten eine große Rolle für das weitere geschichtliche Denken. Neben dem Glauben an die göttliche Lenkung der Geschichte betonen sie stark den Menschen als Mitbestimmer der Geschichte. Und zwar in der Art, daß die Frevelhaftigkeit des menschlichen Tuns den von JHWH heil voll gewollten Lauf der Geschichte nicht nur hemmt, sondern (vorübergehend) unterbrechen kann. Israel selbst wird zeitweilig zum Widersacher der göttlichen Heilsbemühungen. Durch die Warnungen und Ankündigungen der Propheten und die ausbleibende Umkehr des Volkes und seiner Könige verstärkt sich Israels Schuld, die - übergroß geworden - schließlich das Gericht heraufbeschwört und zu Untergang und Exil führt. Vor allem in zwei Punkten geht die Verkündigung der Propheten über die bisherige Sicht hinaus und trägt so zu einem schärfer konturierten Geschichtsbild bei: Zum Einen betonen sie eindringlicher, daß Gott auch in das politische Umfeld eingreift und es gebraucht. Die Nachbarvölker treten deutlicher in den Gesichtskreis und werden entweder in das Gericht miteinbezogen, - allerdings nach einem

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anderen Maßstab, als nach dem ausschließlich für Israel verbindlichen Gesetz (Am 1) - , oder sie erscheinen als Werkzeuge für das Weltregiment Gottes und seinem Handeln an Israel. Besonders tiefgründig ist dies in Jes 10 im Hinblick auf Assur dargelegt. Assur, der ,Stock des Zorns' Gottes zur Läuterung Israels, überhebt sich seiner zugedachten Rolle und zieht nun seinerseits das Zorngericht auf sich. Ähnlich verkünden Jeremia und Hesekiel die Rolle Babyions. Durch die kritische Betrachtung Israels, das auch in seiner Erwählung wie jedes andere Volk zum Gegner von JHWHs Heilsplans werden kann, verliert Gottes Handeln endgültig jeden Schein einer nationalistischen Ausrichtung. Zum Anderen sprechen besonders die späteren Propheten von einem erneuten, besonderen Eingreifen Gottes. Angesichts der ,mißlungenen' Geschichte Israels und der Treue von JHWH zu seinem Volk - trotz dessen Vergehen -, wird es auch nach dem Untergang zu einer zweiten Wende kommen. Sie weissagen von einer Sammlung Israels "aus der Zerstreuung", einem zweiten Exodus, ähnlich der Herausführung aus Ägypten. Dabei gehen diese Weissagungen jedoch über eine bloße Herausführung aus Babyion weit hinaus. Es schließt sich eine eschatologische Zukunftsschau an, in der sich der Ausblick auf eine, nach allen Wechselfällen irdischer Geschichte zu erwartende, endgültige Heilszeit hin öffnet. In ihr erst werden die Verheißungen Gottes ihre letzte Erfüllung, alle Heilssehnsucht ihr Ziel und die Heilsgeschichte ihren endgültigen Abschluß finden. Die Propheten verwenden dabei alle schon bereit liegenden heilsgeschichtlichen Kategorien und fügen durch ihre Ankündigungen neue hinzu: der alte Bund wird in einem neuen ewigen Heilsbund vollendet (Jer 31,31 ff.; 32,40; Ez 16,60; 37,26 ff.); das davidische Königtum ersteht wieder in seinem messianischen Sproß (Jes 9,5 f.; 11,1 ff.; Am 9,11; Hos 2,1 f.); die mosaische Heilszeit erneuert sich (Jes 11,11- 16), ja das Paradies kehrt zurück (Hos 2,20; Am 9,13). Hier findet nun auch typologisches Denken verstärkt Eingang in das alttestamentliche Geschichtsverständnis: die ,letzte Zeit' ist in der frühen Heilszeit bzw. der Mosezeit vorgebildet, übertrifft diese aber noch. Im Endgeschehen findet eine Steigerung bisheriger Ereignisse statt. Den Anbruch der messianischen Zeit beschreiben die Propheten oft in Bildern, die der Rettung aus Ägypten entnommen sind. Dabei versäumen sie nicht, darauf hinweisen, daß die kommende Rettung aus Untreue und Schuld die erste aus Ägypten noch übertreffen wird (Vgl. Jes 4,5; 10,24-27; 43,16 ff.; Jer 16,14 f.; Sach 10,10-12). Trotzdem verliert Israel innerhalb dieser zunehmend universaleren eschatologischen Perspektive nicht seine besondere Bedeutung. Seit dem Auszug bleibt es von JHWH als sein ,Eigentum' erwählt, um einmal Mittelpunkt einer Welt zu werden, in welcher alle Völker Gott angehören sollen (Jes 19,23 - 25). Die neuen von den Propheten eingebrachten Elemente geschichtstheologischer Schau stellen keine Korrektur zu dem bisher Geoffenbarten dar, sondern sie vertiefen und entfalten es lediglich. Das Neue verkünden sie als Erfüllung und Überhöhung des Alten. Die heils geschichtliche Kontinuität bleibt gewahrt. So wird z. B. im Bild vom ,hei-

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ligen Rest' (Jes 6,13; 10,21) der Zusammenhang mit den Verheißungen an Abraham und Israel trotz des Abfalls des Gottesvolkes durchgehalten. Die Eigenart eschatologischer Ausweitung, - vom wiedervereinten Israel unter Hinzunahme der Heidenvölker zum Heil Zions für alle Welt -, korrespondiert mit einer sich verengenden Verheißungs- und Segenslinie von der Gesamtmenschheit auf Israel, den Rest von Israel und schließlich den ,Gottesknecht'. Insbesondere in den sogenannten ,Liedern vom Gottesknecht' bei Jesaja (z. B. Jes 53) klingt dann auch die Stellvertretung als heilsgeschichtliches Thema an. Die Propheten entfalteten durch die typologische Verknüpfung von Altem mit Neuem eine heilsgeschichtliche Geschichtsbetrachtung, die auch für das Verständnis christlicher Glaubensgrundlagen von größter Bedeutung ist. Hendrik Berkhof bringt sie treffend zum Ausdruck: "Ohne diese mit dem Auszug begonnene Geschichte sind die Person und das Werk Jesu Christi für uns nicht zu verstehen. Vor allem Matthäus, der für die Juden schreibt, läßt dies deutlich werden. Jesus wird aus Ägypten gerufen (2, 15), er geht durch das Wasser (3), er geht durch die Wüste (4), er schließt den Bund auf dem Berge (5), in seinem Tode gibt er sein Leben als das Passah-Lamm dahin, dessen Blut nicht nur Israel rettet, sondern nun, nachdem die Endzeit gekommen ist, für alle Völker den Auszug aus dem Sklavenhaus bedeutet. .. 13

c) Die Apokalyptik als kosmische Erweiterung

des historischen Horizonts

Mit der Verkündigung des ,Tages JHWHs' (Am 5,18-20; Jes 2,9 ff.; 13) proklamieren die Propheten noch eine weitere Dimension zukünftigen göttlichen Heilshandeins: die Ausweitung ins Kosmische. Das Eingreifen JHWHs betrifft nicht nur die menschliche Geschichte, sondern auch die geschöpflichen Ordnungen. Damit öffnen sie den Blick für eine chronographische Sicht, die die spätjüdische Apokalyptik weiter ausformuliert: die Weltgeschichte erscheint streng periodisiert und jedem Reich wird eine von Gott festgesetzte Zeit zugeteilt. Die sogenannte Apokalypse des Jesaja (Kap. 24-27) und die Zukunftsvisionen Hesekiels (Kap. 36-39), Sacharjas und Daniels enthalten historische Konkretisierungen von Gottes zukünftigem Heilshandeln, die von größter Bedeutung für das Selbstverständnis Jesu und der urchristlichen Gemeinde sind. Angesichts des Aufgehens Israels in einem politischen Umfeld altorientalischer Großreiche verändert sich auch der historische Gesichtskreis. Der Geschichtshorizont erweitert sich und wird universell, ja kosmisch, während das Betrachteranliegen zugleich individualistischer wird. Israel ist spätestens seit der Babylonischen Gefangenschaft keine souverän handelnde geschichtliche Größe mehr. Der Tempel als das zentrale Heiligtum JHWHs wurde zerstört, was einzig als Gerichtshandeln 13

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

Gottes gedeutet werden konnte. Deshalb richten sich die Apokalyptiker nicht, - wie noch die Propheten -, an König und Volk, sondern an den ausgewählten Kreis der Verständigen und Gesetzestreuen. Nicht das untreue Volk ist ihr Adressat, sondern der getreue Kern, der übriggebliebene Rest inmitten heidnischer Diaspora, der einzelne Gottesfürchtige. Diesem soll Mut zugesprochen werden, inmitten eines von Gott festgesetzten Weltverlaufs treu zu JHWH zu stehen. Damit entfaltet die Apokalyptik einen individualistischen Zug, der bisher immer hinter dem Volk als einheitlich behandelte Größe zurückgetreten war. Der bewußte Glaube an die Auferstehung der Toten, an ein Gericht und ein ewiges Leben erhalten nun ihr eigentliches Gewicht und betonen somit die Individualität des Einzelnen. Grob skizziert hat die spätjüdische (und ebenso die christliche) Apokalyptik folgenden Inhalt: Es gibt einen verborgenen Plan Gottes,14 den Gott selbst offenbart und unfehlbar zustandebringt. Die Weltgeschichte ist von vorneherein auf ein von Gott bestimmtes Ziel fest ausgerichtet. Es ist die Errichtung der Herrschaft Gottes mit den Heiligen in einer erneuerten Welt. Ihr Zentrum ist Israel, aber sie erstreckt sich über alle V6lker. Dieser Plan Gottes stößt mit den Kräften des Bösen zusammen, so daß es zu einem kosmischen Drama kommt, das mit der Niederlage Satans endet. In der Schilderung dieses Dramas hebt die Apokalyptik das dualistische Element der Heilsgeschichte stärker hervor. Die weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen der Reiche sind lediglich die irdischen Folien, unter denen die himmlischen Engelfürsten gegeneinander ringen (Dan 10). Dabei scheinen sich die Drangsale gegen Israel und JHWHs Auserwählte gegen Ende der von Gott zeitlich festgesetzten Historie immer mehr zu steigern, bis das direkte Eingreifen Gottes dem Ansturm der gottesfeindlichen Mächte und Reiche ein Ende bereitet. Überaus bedeutsam für das frühchristliche und mittelalterliche Geschichtsdenken ist in diesem Zusammenhang das Vier-Reiche-Schema, das sich an Sach 2, 1 - 4, vor allem aber an Dan 2 und 7 anlehnt. Es beinhaltet eine Folge von vier Weltreichen für die Zeit nach der Zerstörung von Tempel und israelitischem Königreich. Diese Reiche lösen einander ab und zeigen zunehmend bösartigere Züge. Besonders gilt dies für das vierte Reich und dessen letzten König, der Züge eines Antimessias annimmt. Dessen Hybris und Unmenschlichkeit führen zu einer letzten schweren Verfolgung der Getreuen JHWHs (Dan 2 u. 7).15 14 Apokalypsis (griech.), das Verborgene, bezieht sich auf den verborgenen Plan Gottes, aber ebenso auf die Art der Mitteilung dieses Plans. Die Apokalyptik richtet sich nicht an jedermann. Ihre Sprache ist bildhaft und knüpft stark an vorhandene biblische Metaphern an. Ohne genaue Kenntnisse der zitierten und verwendeten Texte ist der Sinn der apokalyptischen Sprache außerordentlich schwer zu ermitteln. Leider hat dieser Umstand oft genug wilden Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Besonders die apokalyptische Vorliebe für Zahlen und Zahlensymbolik förderte in der Kirchengeschichte immer wieder die Neigung zur Vorausberechnung des Endes. Vgl. dazu TRE III (1978), S. 189-281 (,Apokalyptik'). 15 Der Einwand, die Daniel-Prophezeihungen (Dan 7 u. 11) seien mit den Geschehnissen um die Auseinandersetzung zwischen Seleukiden und Ptolemäern bereits erfüllt, überzeugt nicht, da die Gesamtperspektive eindeutig auf ein geschichtliches Endereignis zielt. Zu bevorzugen ist hier tatsächlich die altkirchliche Auslegung, nach der biblische Prophezeihungen

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Bereits bei den älteren Propheten finden sich in ihren ,apokalyptischen Kapiteln' Typologisierungen historischer Ereignisse und Mächte, die auf diese endzeitliehe Auseinandersetzung abzielen. So sieht die sogenannte ,Jesaja-Apokalypse' bei der Schilderung des Gottesgerichtes der letzten Tage das transjordanische Moab, den historischen Feind Israels, als eschatologischen Widersacher in der Endzeit (Jes 24-27). Und Hesekiel weissagt von "Gog in dem Lande Magog", der als ,,Fürst von Rosch, Meschech und TubaI" "am Ende der Zeiten" an der Spitze eines großen Heeres von Norden her das aus der Zerstreuung zurückgekehrte Israel überfallen und dabei seinen Untergang finden wird (Hes 38 - 39). Die alte Figur des Gog wird als eschatologische Größe zur Verkörperung der heidnischen, widergöttlichen Weltmacht, die Gott selbst auf den Plan ruft, um an den Völkern Gericht zu halten. Auch die neutestamentliche Apokalypse des Johannes greift diese Figur wieder auf (Offb 20,8). Die Typisierung vergangener Ereignisse zu Elementen eschatologischen Geschehens ist ein Mittel der Apokalyptik, das auch Jesus gerne verwendet (z. B. Mt 24,38). Ebenso sind die Schriften der Apostel voller Typologien. Auf ihre Bedeutung für christliche Geschichtsschreibung wird im nächsten Kapitel noch stärker einzugehen sein. 16 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, daß durch die Apokalyptik grundlegende Begriffe für die christliche Welt- und Geschichtssicht aufgegriffen und entfaltet wurden. Dazu gehören der Typus des Retters und Messias, der Typus des Widersachers und Antichristen, der Typus des gottwidrigen Weltreiches und der Typus einer letzten Drangsalszeit. Alle diese Elemente finden sich in Jesu Rede über die kommenden Dinge wieder (Mt 24). Besonders beim Propheten Sacharja (Auftreten ca. 520 v. ehr.) wird der enge Bezug deutlich, in dem Altes und Neues Testament stehen. Auch Sacharja sieht einen großen und entscheidenden endzeitlichen Kampf voraus, fügt dem aber noch nähere Weissagungen hinzu. In Bedrängnis durch gottesfeindliche Mächte wird in Juda ein geheimnisvoller Hirte aufstehen, der im Namen Gottes für das bedrängte Volk eintritt. Aber sein Auftreten wird nicht entsprechend gewürdigt, darum wird gerade sein Werk das Gericht über Israel bringen (Sach 11,4 - 17). Der Augenblick kommt aber, wo Jerusalem erkennt, wie es gegen Gott gesündigt hat: "Und sie werden mich ansehen, den sie durchbohrt haben und sie werden um ihn klagen, wie man klagt um ein einziges Kind, und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt um den Erstgeborenen." (Sach 12,10)

Israel wird also selbst zu den Gegenmächten gehören, und das Werk Gottes findet in der Gestalt des ,durchbohrten Hirten' zu einer scheinbaren Bedeutungslosighäufig über Ereignisse in nächster oder näherer Zukunft hinaus auf ein letztes, noch kommendes endzeitliches Geschehen hinweisen. Die ,erste' Erfüllung dient sozusagen als Typus für die ,zweite', endzeitliche. Diese ,doppelte Erfüllung' prophetischer Verkündigung galt schon den Kirchenvätern als Hinweis auf die Weisheit der göttlichen Führung. 16 Siehe weiter unten, Teil II ,Die Entwicklung christlicher Geschichtsbetrachtung bis zum 18. Jahrhundert'.

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

keit. Hendrik Berkhof hat überzeugend aufgezeigt, weIche Bedeutung diese Kapitel für das Messiasbewußtsein und den Leidensweg Jesu haben: "In der Tat lebt das ganze Neue Testament in dem durch Sacharja geschaffenen Bereich. Der Friedefürst reitet auf einem Esel (Sach 9,9; Mt 21,5; Joh 12,15) ... Der Hirte wird geschlagen und die Schafe werden zerstreut (Sach 13,7; Mt 26,31; Mk 14,27). Er wird mit nur 30 Silberlingen bewertet (Sach 11,12; Mt 26,15; 26,27). Bald werden sie sehen, wen sie durchstochen haben, und dann werden alle Geschlechter auf der Erde über ihn trauern (Sach 12,10; Joh 19,37; Offb 1,7)".17

Die heilsgeschichtliche Konzeption, die am Ende des Alten Testaments vorliegt, fügt sich bis in Details in das Neue Testament ein. Während in den älteren Schriften des AT das Geschichtsbewußtsein vorerst noch nach rückwärts gerichtet erscheint, auf die Ur-Verheißungen Gottes und auf seine die Volksgeschichte begründende Tat des Auszuges aus Ägypten hin, verschiebt sich der Akzent später mehr in die gegenwärtige Heilszeit (Königspsalmen), in die nahe Zukunft (die älteren Propheten) und in eine die Weltgeschichte umfassende endzeitliche Zukunft (Apokalyptik). Von daher kann von einer teleologischen Verschiebung im Geschichtsbewußtsein Israels gesprochen werden. Der Glaubensabfall des eigenen Volkes, die Bedrohung von außen und die prophetischen Ankündigungen ließen die Überzeugung reifen, daß Gottes Heilsplan noch andere Wege, ja scheinbare Umwege beinhaltet.

2. Der eschatologische und christozentrische Charakter der Geschichtssicht im NT 18 Das Besondere an Jesu Verkündigung ist nicht nur die zentrale Botschaft vom unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes (Mk 1,15), sondern auch, daß dieses Reich mit seiner Person bereits seinen Anfang genommen hat: "Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, ist in der Tat die Gottesherrschaft zu Euch gelangt" (Lk 11,20).

Im gleichen Sinne wollen alle Wunder Jesu verstanden sein. Indem Krankheit und Tod überwunden werden, die Folgen des Sündenfalls und Zeichen dieses Äons sind, offenbart sich die umfassende und umgestaltende Kraft der Gottesherrschaft. Jesus selbst läßt seinem Herold, dem Täufer Johannes, auf dessen Anfrage, ob er der verheißene Heilsbringer der Endzeit sei, ausrichten: ,,Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird die frohe Botschaft verkündigt." (Lk 7,21 f.) Berkhof, S. 55/56. Zur Geschichtssicht des NT vgl. besonders die Arbeiten von Oskar Cullmann: ,Christus und die Zeit' und ,Heil als Geschichte'. Weitere Literaturangaben in: lRE, Bd. XII (1984), S.602-604. 17

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2. Der eschatologische und christozentrische Charakter der Geschichtssicht im NT

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Indem Jesus hier die Jesaja-Weissagung l9 zitiert, bringt er zum Ausdruck, daß die endgültige Heilszeit, die im AT verheißen ist, mit seinem Wirken begonnen hat. Durch seine Wunder offenbart er sich als der angekündigte eschatologische Heilsbringer, durch seinen Anspruch, Sünden in eigener Vollmacht vergeben zu können (Mk 2, 1-12), weist er sich selbst als die zentrale Figur der Gottesherrschaft aus. Mit Christus ist die ,Fülle der Zeit' da, die messianischen Verheißungen haben sich in ihm erfüllt und das Gottesreich ist angebrochen. Der griechische Begriff der basileia Gottes meint ein Handeln, mit dem Gott seinen Willen durchsetzt, indem er in die Geschichte eingreift und seine Herrschaft über die Welt aufrichtet. Und genau das verkündet Jesus und bringt es in zahlreichen Aussagen und Gleichnissen zum Ausdruck. In ihm ist das Handeln Gottes erfüllt, das von den Propheten für die ,letzte Zeit' verkündigt wurde.

a) Zwischen ,schon' und ,noch nicht' Doch damit ist die Geschichte nicht einfach zu Ende. Besonders die Wachstumsgleichnisse 20 des ,Menschensohnes,21 zeigen auf, daß die Gottesherrschaft mit seinem Kommen zum einen schon Gegenwart ist, zum anderen zugleich auch eine zukünftige Wirklichkeit, die noch nicht in endgültiger Weise da ist. Das Reich Gottes hat zwar mit ihm begonnen, aber noch in Verborgenheit - einmal wird es offenbar sein. Jetzt wirkt noch der Böse, obwohl er grundSätzlich schon überwunden ist. Erst bei der ,Ernte', am Ende der Geschichte, wird alles Böse vernichtet werden. Hier kommt die charakteristische eschatologische Spannung christlicher Geschichtsschau zum Ausdruck: die Erfüllung in Christus ist schon da, das Gottesreich ist angebrochen, es ist nur noch nicht für alle offenbar. Die Offenbarung des schon siegreichen Gottesreiches für alle Menschen steht erst noch aus. Diese nicht ganz leicht zu verstehende Zweiseitigkeit ist wesentlich für alle Geschichte seit Christus: die Zeit ist schon erfüllt, aber noch nicht vollendet. Jes 35,5 f. in Verbindung mit Jes 61,1. Die Wachstumsgleichnisse: Vom Säemann (Mt 13,1-23; Mk 4,1-20; Lk 8,19-21), vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30,36-43), vorn Senfkorn (Mt 13,31-32; Mk 4,30 - 32; Lk 13,18 - 19), vom Sauerteig (Mt 13,33 - 35), von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26 - 29). 21 Jesus nannte sich selbst vorzugsweise so (bei den Synoptikern rund 70 mal, bei Joh 12 mal). In Anknüpfung an Dan 7, 13 "Und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Der gab ihm Macht, Ehre und das Reich, daß ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht und sein Reich hat kein Ende. Ich, Daniei, war entsetzt, und dies Gesicht erschreckte mich." - stellte er sich damit bewußt in die jüdische Messiaserwartung (bes. Mk 14,62) und wurde deswegen auch der Gotteslästerung angeklagt (Mk 14,61-64). 19

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

Diese eschatologische Spannung trennt von nun an das christliche Geschichtsverständnis vom jüdischen Messianismus. Sehr anschaulich hat der französische Theologe Oskar Cullmann dies in einem Vergleich mit dem ,Victory-Day' erklärt: 22 Im Verlauf eines Krieges kann die Entscheidungsschlacht lange vor dem tatsächlichen Kriegsende geschlagen worden sein. Nur wer den entscheidenden Charakter dieser Schlacht erkennt, wird sicher sein, daß von nun an der Sieg feststeht. Die meisten werden es aber erst glauben, wenn er mit dem Victory-Day verkündet ist. So bringen Golgatha und die Auferstehung demjenigen, der an den alles entscheidenden Charakter dieses ,Tages des Herrn' für Gottes Heils- und WeItenplan glaubt, die Gewißheit über einen von nun an feststehenden Ausgang der Geschichte. Die Zukunftshoffnung nach Christus beruht auf dem Vertrauen in ein bereits geschehenes Ereignis. Die Spannung zwischen der Entscheidungsschlacht und dem schließlichen V-Day erstreckt sich über die ganze Zwischenperiode als letzte, aber nicht mehr entscheidende Kriegsphase. Das Ergebnis der Entscheidungsschlacht legt nahe, daß das Ende schon da sei, und doch liegt es noch in unbestimmter Ferne. Niemand kann vorhersagen, welche Anstrengungen der Feind noch macht, um seine endgültige und offenkundige Niederlage hinauszuschieben. Genau das ist der Ausgangspunkt der christlichen Geschichtsschreibung. Mit Christus ist die Zukunft, das Reich Gottes, bereits angebrochen. Und das hat Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Weltgeschichte, auch wenn vordergründig zunächst alles so weitergeht wie bisher. Zur noch ausstehenden Zukunft gehört das Mithineinnehmen der Welt in das Reich Gottes (durch die Mission der Kirche), der sich verschärfende Kampf gegen den geschlagenen Feind kurz vor dem Ende (die Endzeitgeschehnisse), die Offenbarwerdung des Sieges für alle Menschen (Parusie), das Gericht und die Neuschaffung der Welt. Die zahlreichen Aussagen Jesu, die sich darauf beziehen, sind als echte Zukunftsaussagen zu verstehen. 23 Umfaßt die Gottesherrschaft also Gegenwart und Zukunft zugleich, so ist sie jedoch abgesetzt gegenüber der Vergangenheit: ,,Bis zu Johannes hatte man nur das Gesetz und die Propheten. Seitdem wird das Evangelium vom Reich Gottes verkündigt, und alle drängen sich danach, hineinzukommen" (Lk 16,16).

Jesus unterscheidet deutlich zwischen der Verheißungszeit, zu der er auch den Taufer noch rechnet (Mt 11,11-15), und der schon anbrechenden Zeit der Gottesherrschaft. Vorher waren Verheißung und Vorbereitung, nun aber "ist die Zeit erfüllt und das Reich Gottes herbeigekommen" (Mk 1,15). Daß er dabei größten Wert auf die genaue Erfüllung der prophetischen Weissagungen legt ("auf daß die Schrift erfüllt sei ... ,,)24 und sich selbst als das Ziel aller Heilserwartungen benennt 22 Cullmann, Christus und die Zeit, S. 72f. Vgl. Löwith, S. 168ff., der sich in seiner Darstellung an Cullmann anlehnt. 23 Insbesondere die Endzeitreden: Mt 24-25; Mk 13; Lk 12,35 -56; Lk 21,5-36. 24 "Auf daß erfüllt würde ... " - Sowohl die Evangelisten, als auch Jesus selbst verwenden diesen Ausdruck auffallend häufig (z. B. Mt 1,22; 2,15; 4,14; 8,17; 12,17; 13,35; 21,4; Lk

2. Der eschatologische und christozentrische Charakter der Geschichtssicht im NT

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(Lk 10,23 f.), unterstreicht den vorbereitenden Charakter des AT und den Anbruch eines ganz neuen Äons. Daß mit Jesus von Nazareth die Zeit erfüllt ist, drückte die Urgemeinde schon dadurch aus, daß sie Jesus als Christus bezeichnete und beide Worte nebeneinander stellte. Hier liegt eine der ältesten christologischen Bekenntnisformeln vor: Jesus von Nazareth ist der Messias, der im AT verheißene Gesalbte Gottes, der die eschatologische Heilszeit bringt. Die ganze Heilsgeschichte ist nun im Lichte von Kreuzigung und Auferstehung zu sehen. Alle Geschichte deutet sich von Christus her, er ist die ,Mitte der Zeit'. Von ihm aus erhält das, was zurückliegt, wie das, was noch kommen wird, seine eigentliche Bedeutung. Diese Christozentrik ist Kern und Kennzeichen jeder echten christlichen Geschichtsbetrachtung. Die Zeit nach Christus ist damit aber auch eine qualitativ andere Zeit. Mit der Menschwerdung und Auferstehung Christi ist das ,Ende der Zeiten' gekommen, da Gottes Heilstat vollbracht ist. Das Entscheidende ist bereits geschehen: im Wort Christi die eschatologische Offenbarung Gottes (Hebr 1,2), in seinem Kreuzestod die vollzogene Erlösung (Hebr 9,26; IPetr 1,20), und in seiner Auferstehung der Sieg über den Tod und der Beginn der Heilszeit (Röm 1,4). Andererseits kann die Gemeinde von den ,letzten Tagen' auch als bevorstehender Zeit sprechen (2Tim 3,1), da sie noch eschatologische Anfechtung und Drangsal erwartet (Mt 24,90. Christus muß erst wiederkommen zum Gericht, dem ,Tag des Herrn' (lPetr 1,5; IThess 5,29; lKor 1,8), dann geschieht durch das Offenbarwerden seiner Hoheit die endgültige Vollendung der Heilsgeschichte und das Ende aller Geschichte überhaupt (Apg 3,21). Durch diese spezifische Spannung des ,schon und noch nicht' verwendet das NT eschatologische Aussagen sowohl für die gegenwärtige, mit Christus bereits angebrochene Heilszeit, wie auch für die Endphase der Geschichte, kurz vor der Parusie Christi. 25 21,22; Joh 12,38; 15,25; 17,12; 18,9.32; 19,24. 28. 36). Bis in die Details hinein sind das Abendmahl und der Verlauf der Kreuzigung als Ausführung und Erfüllung des jüdischen Pascha-Ritus geschildert, der als heilsgeschichtliches Urbild (Typus) auf das Christusgeschehen hinweist. Zu den auf Christus bezogenen Typen im AT vgl. Ada R. Habershon, The Study of the Types (dt.: Vorbilder: Christus im Alten Testament, Dillenburg 1989). 2S Die eschatologische Dimension des NT hat seit ihrer Wiederentdeckung in den letzten 70 Jahren zu zahlreichen Debatten in der neutestamentlichen Forschung geführt. Die unterschiedliche Betonung der ,präsentischen' und der ,futurischen' Eschatologie in den einzelnen neutestamentlichen Schriften hat zu einem Streit darüber geführt, welche von beiden für die Urchristenheit vorrangig und entscheidend war. Besonders zu nennen sind hier vor allem Albert Schweitzer (Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913) und der Engländer C. H. Dodd (The Parables of the Kingdom, London 1935). Ihre Namen stehen für zwei entgegengesetzte Richtungen, zwischen denen sich die Bandbreite der übrigen EschatologieDiskussionsbeiträge seit den zwanziger Jahren einordnen läßt. Schweitzer ist Vertreter der ,,konsequenten Eschatologie" und betont ihren rein futurischen Charakter. Die apokalyptische Hoffnung der urchristlichen Gemeinde auf das bald nach dem Tode Jesu hereinbrechende Reich Gottes sei enttäuscht worden. Jesus habe sich mit seinen Äußerungen über das Nahe-

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

b) Die Zwischenzeit der Kirche und das Ende Mit der Geistausgießung zu Pfingsten beginnen unwiederbringlich die ,letzten Tage' (Apg 2,17) als letzte Periode der Heilsgeschichte. In Christus ist der Plan Gottes zu seinem Ziel gelangt und in der Substanz erfüllt: Die Menschheit ist erlöst von ihrer Schuld durch den stellvertretenden Tod Christi. Damit bleiben sowohl die göttliche Liebe (Gnade der Hilfe), als auch die göttliche Gerechtigkeit (Notwendigkeit der Sühne und Heil durch Glauben) gewahrt. Zugleich wurde durch die Menschwerdung Gottes die menschliche Natur mit der göttlichen auf ewig verbunden und so hineingenommen in die volle Gottesgemeinschaft, dem letzten Ziel aller Schöpfung. Das, was im Wesen vollbracht ist, muß nun noch auf die Gesamtmenschheit ausgedehnt werden. Dies geschieht durch die Verkündigung. Deshalb beginnt mit Pfingsten auch die Zeit der Kirche, die zugleich eine eschatologische ,Zwischenzeit' ist, in der zwar der alte (Unheils-)Äon noch für eine Weile weiterexistiert, aber bereits vom neuen, in Christus gegenwärtigen und auf ewig kommenden Reich Gottes durchdrungen wird. Weltgeschichte nach Christus befindet sich in der besonderen Situation zwischen verborgenem, aber anwesendem Gottesreich und sichtbarer, aber zum Untergang bestimmter Welt. Die Schreiber der Evangelien und Briefe brachten diese neue Sicht vom Heilsplan Gottes mit jeweils unterschiedlicher Intention zum Ausdruck. Während Matthäus vor allem aufzeigen will, daß sich mit Jesus "die Schrift erfüllt" hat, zielt Lukas als der ,Historiker' unter den Evangelisten darauf ab, das irdische Wirken Jesu als ,Mitte der Zeit' darzustellen, nämlich zwischen der Periode der Geschichte Israels und der nun anbrechenden Periode der Kirche. Deshalb läßt der einzige nichtjüdische Schreiber in der Bibel zeitlich Raum für die Mission (Lk 14,23; 24,47; Apg 1,8) und denkt schärfer in heilsgeschichtlichen Epochen (Lk 16,16; Apg 10,37 - 42): Wahrend die Zeit Israels gekennzeichnet war durch Verheißung und Vorbereitung, ist die der Kirche durch den Heiligen Geist (pneuma) bestimmt, den Gott zum Pfand der Heilswirklichkeit als lebendige Gegenwart Christi durch die Zeiten und Völker wirksam sein läßt, bis sich die Wirklichkeit des Gottesreiches mit der Parusie endgültig offenbart. Paulus deutet besonders die Rolle des Gesetzes von Christus her und gibt so der heilsgeschichtlichen Anknüpfung an das AT die entscheidende theologische Tiefe. Da das Heil durch Christi Tod absolut und universal gilt, ist die Rolle des Gesetzes als Bewußtmachung und Steigerung der Sünde einzuordnen, keinesfalls aber als sündenverhindemd oder gar -tilgend. Das Gesetz ist nur für die Zeit bis Christus sein des Himmelreiches geirrt. Die Geschichte des Christentums sei deshalb als Geschichte der ausgebliebenen Parusie zu interpretieren. Demgegenüber behauptet Dodd, Jesus habe nur von dem schon realisierten Gottesreich gesprochen (,,realized eschatology"). Die zukunftsbezogenen Aussagen Jesu - so der Engländer - seien erst später eingefügt worden, als man wieder in die jüdische Erwartungshaltung zurückgefallen sei. Dodd wie Schweitzer erfassen jeweils eine Seite des Doppelcharakters neutestamentlicher Eschatologie, die für sich allein genommen jedoch am christlichen Zeitverständnis vorbeigeht. Vgl. dazu Berkhof, S. 73 f.

2. Der eschatologische und christozentrische Charakter der Geschichtssicht im NT

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gegeben (Gal 3,19), da es die Notwendigkeit der Sühne nicht vennindert, sondern verstärkt. Indem es zur ,,Erkenntnis" (Röm 3,20), d. h. zur praktischen Erkenntnis durch Tun der Sünde führt und so die Übertretungen geradezu vennehrt (Röm 5,20), mehrt es auch den Zorn Gottes und führt zum Tode (Röm 5,21). In dieser negativen Wirkung und Bestimmung des Gesetzes sieht Paulus aber die tiefere heilsgeschichtliche Absicht Gottes, denn "wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden" (Röm 5,20). Von daher legt Paulus das Gesetz und die alttestamentliche Geschichte typologisch auf Christus hin aus. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, die im Tode Jesu geschieht, löst die "Offenbarung des Zornes Gottes" ab, der nach Röm 1,18 über Heiden und Juden wirksam ist, weil alle gesündigt haben. Zwei grundverschiedene heils geschichtliche Perioden stehen sich gegenüber: die Zeit des Zornes und die Zeit der Gerechtigkeit Gottes, die mit Jesu Tod und Auferstehung angebrochen ist (2Kor 6,2; Röm 5,9; 5,11; 6,22). Geschichtstheologisch höchst interessant ist nun die Paulus tief bewegende Frage, wie die Stellung Israels angesichts seines Unglaubens gegenüber der Christusherrschaft heilsgeschichtlich zu bewerten sei. Seine Antwort: Die Untreue der Mehrheit Israels hebt die Treue Gottes zu seinen Verheißungen nicht auf (Röm 3,1-5; 11,1-12). Auch dieser Unglaube hat seinen Platz in den heilsgeschichtlichen Absichten Gottes, insofern "durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden kam" (Röm 11,11). Israels Unglaube dient so indirekt wieder der größeren Herrlichkeit Christi: "Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen" (Röm 11,32). Am Ende der Geschichte wird auch der größte Teil von Israel zum Glauben und damit zum Heil gelangen (Röm 11,25 - 33): "Wenn aber schon durch ihr Versagen die Welt und durch ihr Verschulden die Heiden reich werden, dann wird das erst recht geschehen, wenn ganz Israel zum Glauben kommt" (Röm 11,12). Und weiter: ,,Damit ihr euch nicht auf eigene Einsicht verlaßt, Brüder, sollt ihr dieses Geheimnis wissen: Verstockung liegt auf einem Teils Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift heißt" (Röm 11,25-26).

Geschichtstheologisch macht Paulus also zweierlei deutlich: Die göttlichen Heilswege führen bevorzugt über scheinbare Umwege (Rolle des Gesetzes, Israels Verstockung) - und: Israel verschwindet auch nach der Verwerfung des Messias nicht einfach aus dem Gesichtskreis seines Gottes. Zwar geht die entscheidende Bedeutung für die Zwischenzeit bis zur Parusie auf die Gemeinde als Leib Christi über, aber für die letzten Tage am Ende der Zeit hat JHWH dem Volk des ersten Bundes noch eine besondere Rolle zugedacht. Sowohl die Zukunftsprophetien Jesu (Mt 24 - 25, Mk 13), wie auch nicht wenige Stellen in den apostolischen Schriften (Tim 3; 1Thess 5,1 ff.; 2Thess2; IPetr 1,5; 2Petr 3,3 ff.; lJoh 2,28; 4,1 ff.) behandeln die Zukunft und die Zeit des Endes der Geschichte. Am konzentriertesten findet sich neutestamentliche Enderwartung

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

jedoch in der Offenbarung des Johannes?6 In ihr werden die spätjüdischen apokalyptischen Elemente, - Völkergericht, Bewahrung der Gläubigen, Ansturm der widergöttlichen Mächte, Anbruch der messianischen Heilszeit und endgültige Gottesherrschaft -, wieder aufgenommen und im Licht einer alles beherrschenden Christozentrik geschaut. Das Lamm Gottes hat den Sieg errungen und damit die Endzeit eingeleitet. Satan ist auf die Erde geworfen und "weiß, daß er nur noch wenig Zeit hat" (Offb 12,12). Die Zeit der Trübsal ist das letzte Aufbäumen der anti christlichen Mächte und ihrer verheerenden Wirkungen. Alles Kommende ist Folge und Erfüllung dessen, was in der Jesusgeschichte, in Christi Tod und Auferstehung schon stattgefunden hat. Die Kirche als der Leib Christi wird selbst ihre Verfolgung und Kreuzigung erfahren. Zwar liefert die Offenbarung des Johannes keinen chronologischen Ablauf oder eine Periodisierung der Kirchengeschichte, aber ihr Inhalt ist doch historisch zu erwartendes Geschehen. Und dieses zeichnet sie bildhaft in sich steigernder Intensität und von jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln aus. 27 Daß die Dauer der Zwischenperiode bis zum Ende bereits in apostolischer Zeit Unsicherheiten verursachte, dafür gibt es schon im NT Belege. 28 Erst mit dem Fortschreiten der Zeit und der damit einhergehenden Zurückstellung der unmittelbaren Parusieerwartung konnten sich geschichtstheologische Ansätze zur ,Interimszeit' herausbilden. Lukas ging dazu mit seiner Apostelgeschichte erste Schritte: Das Heilshandeln Gottes sprengt den jüdischen Rahmen und das Evangelium wird durch die Apostel zu den Völkern getragen. Von da an war abzusehen, daß unter einer missionsgeschichtlichen Perspektive die Berührungspunkte zur allgemeinen Historie bald eine stärkere Rolle spielen würden. Sie bildeten den Einstieg zur Umsetzung heilsgeschichtlicher Kategorien in eine ausgewiesen christliche Geschichtstheologie, wie sie uns dann spätestens im vierten nachchristlichen Jahrhundert vorliegt.

3. Zusammenfassung Am Ende unseres kurzen Überblicks gilt es noch einmal zusammenzufassen und die entscheidenden Charakteristika biblisch-christlicher Geschichtssicht festzuhalten: Heilsgeschichte ist die Geschichte der Taten Gottes, die mit der Schöpfung beginnen, über die Bundesschlüsse des Alten Testaments gehen bis zum zentralen Christus-Ereignis und sich von da ab, in stetem Einwirken des Heiligen Geistes auf 26 Offb I, I: "Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat, damit er seinen Knechten zeigt, was bald geschehen muß". 27 Einzelheiten der apokalyptischen Geschichtssicht werden uns im Teil III, insbesondere bei Vladimir Solov'ev, noch eingehender begegnen. 28 Z. B. 2Petr 3,3 -10; 2Thess 2,1-7.

3. Zusammenfassung

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das Weltgeschehen bis zum endgültigen ,Gottesreich' fortsetzen. Sie besteht aus einer Reihe von offenbarten Ereignissen, in denen Gottes erlösende Macht in die Profangeschichte ,einbricht', wie z. B. die Befreiung Israels aus Ägypten, die Rettung des Volkes am Schilfrneer vor den ägyptischen Verfolgern oder die Erlösungstat durch Christus auf Golgatha. Diese Ereignisse hat Gott als sein Heilshandeln kundgetan und so sind sie in der Bibel auch dokumentiert. Seinem Handeln liegt ein Heilsplan, die Vorsehung Gottes (providentia) zugrunde, die zwar unergründlich, aber nicht völlig uneinsehbar ist. Gott läßt sich teilweise in die Karten schauen, indem er durch Erwählung bzw. den Zusammenhang von einer gegebenen Verheißung und deren sicheren Erfüllung eine teleologische Blickrichtung gewährt. Erwählt hat Gott im AT z. B. die BabyIonier als "Zuchtrute" der Völker, den Perser Kyrus als "Werkzeug Gottes" und im gewissen Sinn ganze Völkerschaften durch die Segenssprüche der Patriarchen. 29 Mit der Kategorie der Erwählung beinhaltet der Heilsplan eine zeitliche Erwartungsspannung zwischen Verheißung und Eifüllung. Er kann aber auch Fluch und Unheilsgeschichte umfassen. Die Antwort des Menschen auf Gottes HeilshandeIn impliziert eine Entscheidungsfreiheit und kann ,positiv' oder ,negativ' ausfallen. Der Bundesschluß des Volkes Israel mit seinem Gott JHWH am Sinai besiegelte ein Miteinander von göttlichem und menschlichem Handeln, das sich in der Geschichte unmittelbar auswirkt. Das Einhalten der Bundesverpflichtungen (Gesetz) hat Segen, das Brechen des Bundes hat Fluch bzw. Strafe zur Folge. Gottes Handeln und das Handeln des Menschen darauf bilden miteinander einen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der sich unmittelbar auf die Geschichte auswirkt. Daher gibt es auch eine Geschichte der Negation auf Gottes Handeln mit a11 ihren Folgen. Dabei ist es aber ein Charakteristikium der göttlichen Heilsgeschichte, daß Gottes Handeln auch nach einer negativen Antwort des Menschen nicht aufhört, auf dessen Heil hin ausgerichtet zu sein. Diese heilsgeschichtliche Betrachtung beinhaltet jedoch eine a-priori-Vorstellung, mit der viele Menschen heute nichts mehr anfangen können, die jedoch wesentlich zum biblischen Geschichtsbild mit dazugehört: den Ur-Abfall (Sündenfall) des Menschen von Gott. Ohne die Vorstellung, daß der Mensch frei einen Weg wählte, der zur Aufkündigung einer ehemals "guten" Schöpfungsordnung führte, ist Begriffen wie ,Erlösung' und ,stellvertretender Opfertod Christi' jede Grundlage entzogen. Heilsgeschichte ist somit vor allem Handeln Gottes zum Heil des unheilen Menschen. Biblisches Geschichtsdenken ist universell und begründet einen weltgeschichtlichen Zusammenhang vom Anfang zum Ende. Von den Kategorien Erwählung, 29 Der Gedanke, von Gott zu einer bestimmten weltgeschichtlichen Mission erwählt zu sein, hat in der Geschichte oft Selbstverständnis und Handeln der verschiedenen christlichen Völker geprägt (vgl. dazu: Wolfhart Pannenberg, Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978). Das Bemühen, vom Gesichtspunkt göttlicher Erwählung aus nach der geschichtlichen RoHe bestimmter Völker oder Länder in einem bestimmten Zeitraum zu fragen, muß bei aHer gebotenen Vorsicht als grundsätzlich legitim für christliches Geschichtsdenken angesehen werden. 4 Schwaiger

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

Bund. Verheißung und Fluch her begreift Israel seine eigene Geschichte, wie auch die der gesamten Welt. Und dies sowohl von den Anfangen, als auch in die Zukunft hinein. Die Geschichte Israels ist eingebettet in ein Menschheitsgeschehen, dessen Beginn in einer Urgeschichte festgehalten wird. In dieser sind entscheidende Zusammenhänge geschichtlichen Werdens erzählt und gedeutet. Sie begründet eine weltgeschichtliche Kontinuität, die u. a. in genealogischen, ethnologischen und chronologischen Angaben ihren Ausdruck findet. Da Gottes entscheidende Heilstat in der späteren israelitischen Geschichte mehr und mehr von einer zukünftigen messianischen Zeit erwartet wurde, öffnete sich mit der Apokalyptik dieser welthistorische Horizont wieder. Beim Blick auf das Ende der Geschichte tritt die Völkerwelt erneut und verstärkt in den Gesichtskreis. Alle Reiche und Menschen, ja der ganze Kosmos sind hineingenommen in ein letztes großes Ringen zwischen widergöttlichen Mächten und Gottes Auserwählten.

Wahrend das alttestamentliche Israel zwischen der in der Vergangenheit gegebenen Verheißung und der in der Zukunft noch ausstehenden Erfüllung der messianischen Zeit lebte (wie das Judentum heute noch), ist mit Christus das entscheidende Heilsereignis geschehen und das Reich Gottes angebrochen. Als ,fleischgewordenes Wort' ist der Gottmensch Jesus Kreuzpunkt von Verheißung und Erfüllung, Vergangenheit und Zukunft, Heilsgeschehen und profaner Historie. Das Christusgeschehen wird zum Angelpunkt und entscheidenden Deutungsschlüssel aller Geschichte. Auch die ,letzten Dinge' (griech. eschata), - Tod, Auferstehung des Leibes, Weltgericht, Neuschöpfung und Parusie -, liegen nun in der Hand des in der Geschichte erschienenen Kyrios. Wie der Tod für den Einzelnen Ende des geschichtlichen Seins und Beginn der Transzendenz bedeutet, so ist die Parusie Christi das Ende der gesamten Weltgeschichte und der Beginn "eines neuen Himmels und einer neuen Erde". Unter historischem Gesichtspunkt ist die Parusie also das eschaton und Eschatologie meint die zeitlichen Ereignisse und Geschehnisse, die der Parusie vorausgehen. 3o Von diesen Charakteristika biblisch-heilsgeschichtlicher Schau her lassen sich nun Vorgaben für eine christliche Geschichtssicht ableiten, die die Weltgeschichte in mindestens vier Punkten grundlegend anders deutet, wie es antikes und modernes Geschichtsdenken tun: 30 Man unterscheidet für gewöhnlich die individuellen eschata (Tod, Gericht, Himmel, Hölle) und die kollektiven ischata (Parusie, Auferstehung des Leibes, Weltgericht, Neuschöpfung). In den kirchlichen Dogmatiken der letzten Jahrhunderte nahmen bei der Abhandlung der ,Eschatologie' die individuellen ischata stets den größten Teil ein. Der ,Endzeit' oder den ,letzten Tagen' wurden meist nur ein paar Zeilen eingeräumt. Dies hat sich theologiegeschichtlich im 20. Jahrhundert grundlegend geändert. Ausgehend von der Erkenntnis der liberalen Theologie - besonders ihrer Vertreter Johannes Weiß und Albert Schweitzer -, daß Jesu Gestalt und Aussagen nur aus einem uns ganz und gar fremden, apokalyptischen Geschichtsbild zu verstehen sind, fing die Theologie wieder an, die Botschaft Christi in ihrer eschatologischen Besonderheit zu sehen. Die Eschatologie als Grundcharakteristikum biblischen Daseins-und Geschichtsverständnisses wird heute nirgends mehr ernsthaft bestritten.

3. Zusammenfassung

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1. Der Beginn menschlicher Geschichte wird streng historisch gesehen - nicht mythologisch wie in der Antike und auch nicht ,prähistorisch' wie bei einer am ,evolutionären Prozeß' orientierten modernen Frühgeschichtsforschung. 31 2. Der Verlauf der Welthistorie wird weder als zyklischer Kreislauf, noch als organischer Wachstums- und Verfallsprozeß gedeutet. Vielmehr bestimmt er sich durch die auf ein Ziel ausgerichtete Vorsehung Gottes und durch einen religiösethischen Tun-Ergehen-Zusammenhang. 3. Das Geschehen um die historische Figur Jesus von Nazareth ist nicht nur ein Teilaspekt der Religions- und Kirchengeschichte, der lediglich in dem Sinne historisch relevant wird, als er das Gründungsereignis einer weltweiten Geistesbewegung darstellt. Sondern es ist ,Mitte der Zeit', Anbruch des Reiches Gottes in der Geschichte und damit auch welthistorisches Schlüsselgeschehen. D.h. alle Geschichte nach Christus interpretiert sich von ihm her, läuft auf ihn zu (Parusie) und wird in ihrem weiteren Verlauf u. a. durch einen Tun-Ergehen-Zusammenhang bestimmt, der sich an Christus ausrichtet (Christozentrik). Kurz gesagt, die Geschichte bestimmt sich durch die Antwort des Menschen auf Gottes Heilsangebot in ChristuS. 32 Deshalb werden Missions- und Kirchengeschehen, sowie die Haltung zum Evangelium als zutiefst geschichtsgestaltend verstanden. Es findet eine globale ,Verchristlichung' statt, die quantitativ wie qualitativ geschieht und zwar in dem Sinne, daß alle Kultur, alle Ideologie, ist sie einmal mit der christlichen Botschaft konfrontiert oder ,initiiert', nicht mehr einen vorchrist lichen ,neutralen' Stand einnehmen kann. 33 Sie kann fortan nurmehr christlich, säkularisiert oder a-christlich sein. In jedem Fall ist der Bezug zur christlichen Botschaft da. Damit spielt sich das Weltgeschehen zwischen zwei Polen ab: Auf der einen Seite die noch verborgene Herrschaft des Reiches Gottes, wirksam durch den Heiligen Geist und die Kirche als Leib Christi, auf der anderen Seite der untergehende Weltäon und die antichristlichen Mächte. Und es gibt zwei Wachstumsprozesse: das Wachstum der Saat des Himmelreiches (in diesem bestimmten Sinne tatsächlich ein ,Fortschritt') und das Wachstum des Unkrauts, der widerchristlichen Bewegungen, der sittlichen Verrohung, der normativen Degeneration der Gesellschaft bis hin zur völligen Entartung staatlicher Ordnung. 34 31 Vgl. dazu aus evolutionskritischer Sicht: Sigrid Harrwig Scherer, Paläanthropologie und Archäologie des Paläolithikums, in: Die Suche nach Eden, Wege zur alternativen Deutung der menschlichen Frühgeschichte (Hrsg. Siegfried Scherer), Neuhausen-Stuttgart 1991, S.55-11O. 32 Mt 24,14: ,,Aber dieses Evangelium vom Reich wird auf der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker es hören; dann erst kommt das Ende." 33 Jesus drückt das in den Wachstumsgleichnissen vorn Himmelreich ganz unmißverständlich aus (vgl. insbesondere das Gleichnis vom Sauerteig Mt 13,33, sowie Mt 10,34-39; Mt 12,30) Sie sind typisch für den zunächst unscheinbaren Anfang des Himmelreiches, das dann aber die ganze Welt durchdringt.

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Teil I: Die Grundkategorien biblisch-christlicher Geschichtsschau

4. Entgegen dem Ewigkeitscharakter antiker Zyklen und modemen linearen Geschichtsdenkens gibt es ein punktuelles historisches Ende menschlicher Geschichte. Die Welthistorie endet an einem bestimmten Tag mit der Parusie Christi und dem Einbruch des Reiches Gottes in die Welt ("vor aller Augen"). Dem gehen bestimmte in der Schrift vorhergesagte Entwicklungen und Geschehnisse voraus, die eine Globalisierung beinahe aller Lebensbereiche in der letzten Zeit voraussetzen. Während die Schrift zum genauen Verlauf der Geschichte kaum etwas sagt, wird der Zeitabschnitt unmittelbar vor der Wiederkunft Christi wie mit einer Lupe herangeholt und detailliert geschildert. Zunehmende wirtschaftliche und politische Schwierigkeiten, besondere Geschehnisse mit dem Volk Israel, auffallend häufige Naturkatastrophen und beobachtbare kosmische Veränderungen, vor allem aber ein allgemeines Absinken des religiösen, sittlichen und moralischen Niveaus, das mit einem Anwachsen einer christenfeindlichen Stimmung einhergeht, sieht die Bibel als deutliche Zeichen des nahenden Endes. 35 Diese Endzeitgeschehnisse haben insofern heilsgeschichtliche Bedeutung, als sie: a) der Parusie unmittelbar vorangehen, b) für das Heil vieler Menschen von ausschlaggebender Bedeutung sein werden (ganz stark wird in der Bibel das Moment der Prüfung und der Entscheidung betont), c) Gericht an den Völkern und Regierungen sind und d) der Gemeinde Christi inmitten zu erleidender Trübsal Trost zu geben vermögen, weil Jesus sie voraussagte und die Christen an ihnen erkennen können, daß Wiederkunft und das Offenbarwerden seiner Herrschaft nahe herbeigekommen sind.

Nicht der Verlauf der Geschichte insgesamt ist bekannt, aber deren Endstadium. Von diesem geoffenbarten Ende her ist der Christ gewappnet gegen falsche menschliche Utopien, die ein glanzvolles Zeitalter der Technik und Vernunft verheißen. Mit der Parusie Christi findet die Weltgeschichte ihr Ende. Dieser "Tag des 34 Vgl. das Gleichnis vorn Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24-30; 36-43). Der Vermengung von "Saat" und "Unkraut", die gemeinsam aufwachsen, entspricht der gleichzeitig mit der christlichen Gemeinde wachsende ,.Abfall" von Gott: ,,Da sagten die Knechte zu ihm: Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Laßt bei des wachsen bis zur Ernte" (Mt 13,28 - 30). 3S Vgl. Mt 24-25; Mk 13; Offb 6-19; 2Tim 3,1-5: ,,Das sollst du wissen: In den letzten Tagen werden schwere Zeiten anbrechen. Die Menschen werden selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, ungehorsam gegen die Eltern, undankbar, ohne Ehrfurcht, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, unbeherrscht, rücksichtslos, roh, heimtückisch, verwegen, hochmütig, mehr dem Vergnügen als Gott zugewandt. Den Schein der Frömmigkeit werden sie wahren, doch die Kraft der Frömmigkeit werden sie verleugnen". Als weitere Anzeichen für die nahe Parusie nennt das NT das Auftreten "falscher Propheten und Christuse" und damit einhergehend große religiöse Verwirrungen, die weltweite Verkündigung des Evangeliums und die Bekehrung von "ganz Israel" (Röm 11,25). Deutlichstes Zeichen wird aber das Auftreten des ,.Antichrist" sein, des "Menschen der Gesetzlosigkeit", des "Sohnes des Verderbens", "der sich über Gott und alle Heiligen erhebt" (2Thess 2,3 -12; vgl. lJoh 2,18 - 22). Er bedeutet für die Kirche die letzte und größte Verfolgung.

3. Zusammenfassung

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Herrn" fällt aber nicht mit einem natürlichen Ende zusammen; Christus kommt nicht, weil die Welt ein Ende gefunden hat, sondern weil er kommt, erfolgt das Ende. Die Parusie geschieht universell und von der Mehrheit der Menschen unerwartet, wie Jesus immer wieder herausstellt (z. B. Mt 24,27). Für das oft problematisierte Verhältnis von Heils- und Profangeschichte bleibt festzuhalten: Die Bibel kennt keine zwei völlig getrennten Bereiche, die auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen liegen. Heilsgeschichte ohne Bezug zur ,normalen' Geschichte ist undenkbar, Profangeschichte ohne heilsgeschichtliche Deutung ist sinnlos. Ein anderes Mißverständnis ist freilich, Heils- und Profangeschichte völlig gleichzusetzen. Allzu schnell besteht hier die Gefahr, daß geschichtliche Ereignisse ,heilig'-gesprochen werden oder eine unangemessene Bedeutungsüberhöhung als Marksteine auf dem Weg zum Reich Gottes erhalten. Sie sind auch nicht in irgendeiner Ausprägung identisch, wie z. B. Heilsgeschichte = Geistesgeschichte oder Heilsgeschichte = das "Werden Gottes im Bewußtsein".36 Aus christlicher Sicht ist die Zeit ,nach Christus' die Zeit der Kirche und des Wirkens des Heiligen Geistes. Deshalb haben Missions- und Kirchengeschichte ein besonderes Gewicht. Erweckungen, geistliche Aufbrüche und Umkehrbewegungen vermag eine profane Geschichtsbetrachtung nicht anders zu deuten als als geistesgeschichtliche Auswirkungen bestimmter aufeinandertreffender soziokultureller Faktoren. Für die christliche Geschichtsschreibung gilt es dagegen, sie als Manifestationen des Wirkens des Heiligen Geistes zu erkennen, die über die Gemeinde und über Einzelchristen oft direkt in die profane Geschichte einfließen. Die Wirksamkeit der Reformatoren und der Einfluß der pietistischen Erweckungsbewegungen sind hier bekannte Beispiele. Diese Auswirkungen ,geistgewirkten ' Geschehens auf Kultur, Kunst und andere Lebensbereiche zu erspüren, ist ein elementares Anliegen christlicher Historiographie. Die biblisch-christliche Geschichtssicht deutet Profangeschichte mit Hilfe ihrer heilsgeschichtlichen Kategorien (Tun-Ergehen-Zusammenhang, providenti elle Blickrichtung, weltgeschichtlicher Zusammenhang) und im Rahmen des neutestamentlichen Zeitverständnisses (Christozentrik, eschatologische Spannung, Wachstum aufs Endgeschehen hin). Wo sie auf diese Deutung generell verzichtet, hört sie auf Geschichtsbetrachtung im biblisch-christlichen Sinne zu sein. Wo sie das neutestamentliche Zeitverständnis des ,schon und noch nicht' aus den Augen verliert, deutet sie Geschichte ohne Bezug zur Mitte (Christozentrik) und steht in höchster Gefahr mißzudeuten.

36 So z. B. Schelling (Sämtliche Werke, 12 Bde, hrsg. v. M. Schröter, 1959-65, Bd. I, S. 198).

Teil II

Die Entwicklung christlicher Geschichtsbetrachtung bis zum 18. Jahrhundert Das folgende Kapitel will nun einen knappen Überblick geben über die Entwicklung christlicher Universalgeschichtsdeutung bis zum 18. Jahrhundert. Es soll darum gehen, die historische Ausgestaltung der eben definierten Kategorien nachzuzeichnen und Grundtendenzen, Eigenarten und Probleme biblisch-christlichen Geschichtsdenkens zu verschiedenen Zeiten deutlich zu machen. 1 Dabei wird am Rande auch auf die Säkularisierung der Historiographie einzugehen sein, die zu einer völlig anderen Ausgangssituation für christliche Geschichtsschreibung in der Modeme führte.

1. Die Spätantike: Christliche Geschichtsschau als Apologetik a) Erste geschichtstheologische Ansätze der Apologeten und die frühe Weltgeschichtsschreibung Die offenbarungsbegründeten Kategorien, die am Ende der Apostelzeit zur Verfügung standen, fanden ihre erste Anwendung zur Geschichtsdeutung in der Auseinandersetzung mit dem Judentum, der häretischen Gnosis und der heidnischen Philosophie, aber auch den apokalyptischen Strömungen innerhalb der Kirche. Da die frühchristliche Kirche zunächst noch ganz in der Erwartung der nahe bevorstehenden Wiederkunft Christi lebte, gab es keine Beschäftigung mit Geschichtsschreibung als Disziplin, wie sie etwa von Livius, Tacitus und den hellenistischen Historikern gepflegt wurde. Vielmehr galt das Interesse der frühen Christen ganz der Ausdeutung alttestamentlicher Geschichte im Lichte auf die Heilszeit mit Christus hin und dies umso mehr, als es galt, sich vom weiter bestehenden Judentum abzugrenzen. Erste geschichtstheologische Ausführungen sind deshalb stark typologisch gefärbt und berücksichtigen profane Geschichte nur insoweit als sie auf die Gemeinde einwirkt. Das aktuelle Geschehen seit Pfingsten wurde vor1 Berücksichtigung finden vor allem Geschichtsentwürfe, die die eingangs herausgestellten Kriterien christlichen Geschichtsdenkens aufgreifen oder zumindest in Ansätzen darzustellen suchen. Vor allem historiographische und geschichtsphilosophische Werke sind hier zu nennen, wohingegen z. B. theologische Abhandlungen, eschatologische Traktate, Dichtungen und mittelalterliche Weltspiele nur im Einzelfall zum Thema beitragen.

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nehmlich als Missionsgeschichte geschildert, bzw. - in Erwartung der vorausgesagten antichristlichen Wehen - als Verfolgungsgeschichte. Wohl gab es geschichtstheologisch weiterführende Fragen, wie die nach der Rolle des unbekehrten Israels in Gottes weiterem Heilsplan,2 aber für eine Beschäftigung mit dem profanen Weltgeschehen schien in dieser ,letzten Zeit' zunächst kein Raum und deshalb auch kein Bedarf. Die Naherwartung der Wiederkunft Christi war bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts in der frühchristlichen Kirche dominierend und ungebrochen, trotz erster früher Zweifel schon in apostolischer Zeit. 3 Erst die Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen und das Problem der ,ausbleibenden' Parusie, schufen den Bedarf zur Ausformulierung erster geschichtstheologischer Entwürfe. 4 Dies geschah das erste Mal mit [renäus von Lyon (ca. 140-202). Der Schüler des Johannesvertrauten Polykarp stellte in den fünf Büchern seines Hauptwerkes ,Adversus haereses ,5 nicht nur die Irrlehren der Gnosis dar, deren innere Widersprüche er aufzeigte und durch die Schrift zu widerlegen suchte, sondern er entfaltete dabei eine Geschichtstheologie, die er dem generell ahistorischen kosmologischen Denken der Gnosis mit seiner Vergeistlichung der neutestamentlichen Ereignisse gegenüberstellte. 6 Einem ungeschichtlichen mythologischen Dualismus von bösem Schöpfergott (Demiurg) und gutem Erlösergott steht die oikonomia salutis gegenüber, die Einheit des göttlichen Heilsplanes von der Schöpfung bis zur Vollendung. Durch die recapitulatio, Irenäus' Zentralbegriff der Zusammenführung und Wiederherstellung aller Dinge,7 wiederholt der Gottessohn, was am Uranfang geschah, wenn auch sozusagen in umgekehrter Richtung: die Schöpfung, durch den ersten Adam in den todbringenden Zustand der Sündhaftigkeit gefallen,8 wird mit Christus als dem ,zweiten Adam' wiederhergestellt und erneuert. 2 So schon Paulus im Römerbrief (9 - 11). Der Bamabasbrief Anfang des zweiten Jahrhunderts ging dazu bereits einen anderen Weg: Nachdem Israel offensichtlich seinen Messias nicht anerkannte, sollte die ecclesia die Rolle des ,neuen Volkes Gottes' übernehmen und Israel wurde jede weitere Bedeutung abgesprochen. 3 Vgl. 2Petr 3,3 -10. 4 Auf diesen Zusammenhang hat u. a. Oskar Cullmann (Heil als Geschichte) hingewiesen: die Entstehung der christlichen Heilsgeschichte ist eine Folge der Auseinandersetzung mit der Gnosis. 5 Irenäus von Lyon, Adversus Haereses, ed. E. Klebba, Des Heiligen Irenäus fünf Bücher gegen die Häresien, Kempten 1912. 6 Die gnostische Literatur ist größtenteils verlorengegangen. In koptischer Übersetzung erhalten geblieben sind die ,Pistis Sophia', das ,Thomas-Evangelium' und das ,Evangelium der Wahrheit'. Die Kenntnis der Gnosis stammt hauptsächlich aus den Abwehrschriften der Kirchenväter. Vgl. dazu: ,Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel', hrsg. von Erich Weidinger, Augsburg 1995. 7 Recapitulatio, der Hauptbegriff der irenäischen Geschichtstheologie, bezieht sich auf Eph 1,10, wo die Rede von Gottes Ratschluß ist, der ausgeführt würde, wenn die Zeit erfüllt sei, "daß alle Dinge zusammengefaßt (recapitulatio) würden in Christus, beides, was im Himmel und auf Erden ist". 8 Irenäus, Adv. Haeres. III, 21 (in Anlehnung an Röm 5,12-21).

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

Mit ihm beginnt eine zweite Entfaltung der Menschheitsgeschichte. Nach dem mangelhaften ersten Verlauf seit Adam wird nun der Mensch durch das göttliche Erlösungswerk zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückgeführt und erfährt durch die Vereinigung mit Gott in Christus zugleich einen qualitativ neuen Zustand, eine ,neue Schöpfung'. Die von Irenäus aus der Schrift übernommene und von ihm ausgiebig entfaltete Darstellungsform der Antithese (Christus und Adam entsprechen sich antithetisch ebenso wie Maria und Eva, Christus und AntichristuS)9 soll deutlich machen: ein und derselbe Gott lenkt die Menschheitsgeschichte nach einem bestimmten Muster. Eine solcherart aufgezeigte geschichtliche Heilsordnung verbindet Gottes Heilshandeln im AT mit der Erlösungstat durch Christus im NT und läuft grundsätzlich in der Weltgeschichte weiter, auch wenn Irenäus das nicht weiter ausführt. Denn: Wenn auch Satan eigentlich besiegt und die entscheidende Schlacht geschlagen ist, so geht der Kampf doch noch weiter und die Menschen müssen in den Sieg des Erlösers einbezogen werden. Und dies sei der historische Auftrag der Kirche, der durch Mission und Verkündigung der rechten Lehre erfüllt wird. Den zeitlichen Rahmen dafür entlehnte Irenäus dem Schöpfungsbericht: ,,In so viel Tagen nämlich die Welt geschaffen wurde, in so viel Jahrtausenden wird sie auch vollendet werden ( ... ) Das ist ein Bericht über die zuvor geschehenen Ereignisse und eine Weissagung der zukünftigen; denn ein Tag des Herrn ist so viel wie tausend Jahre. In sechs Tagen aber ist die Schöpfung vollendet worden; somit ist offenbar, daß die Vollendung das sechste Jahrtausend ist." 10

Diese noch ganz heilsgeschichtliche Konzeption einer oikonomia salutis füllten christliche Denker und Apologeten ab dem Ende des zweiten Jahrhunderts mit deutlich mehr Geschichtsbezug. So begnügte sich Clemens von Alexandrien (ca. 150-215) nicht mehr mit dem bloßen Aufzeigen der göttlichen Heilsordnung anhand der Schrift, sondern deutete auch ausführlich heidnische Geschichte und Kultur, indem er Schriften zeitgenössischer Historiker miteinbezog. Er verband so die christliche Geschichtsschau mit der Historienschreibung der griechischen Welt. Sein Hauptinteresse lag - ähnlich wie bei anderen jüdischen und christlichen Apologeten vor ihm 11 - darin, das hohe Alter der jüdischen Geschichte gegenüber den heidnischen Historien deutlich zu machen. In einem synchronistischen Vergleich stellte er das chronologische Gerüst 9 Interessant ist, daß Irenäus seine Antithesen nicht auf Christus beschränkt, sondern auch auf Maria ausweitet. Wie Christus ,zweiter Adam', so wird seine Mutter als ,zweite Eva' bezeichnet, die aber - im Gegensatz zur ersten Eva - aus Glaubensgehorsam handelte (Irenäus, Adv. Haeres. III, 22, 4). 10 Irenäus, Adv. Haeres. V, 28, 2-3. 11 Clemens selbst nennt seine Vorbilder: So die hellenistischen Juden Demetrios und Eupolemos (Clemens Stromata I, 153,4) im 3. bzw. 2. vorchristlichen Jahrhundert, ferner Flavius Josephus (I, 147,2) und Philon von Alexandrien (I, 72,4). Von christlicher Seite Tatian (I, 101,2) und Theophilus von Antiochien. Vgl. dazu B. Altaner, Patrologie, Freiburg 1958 6 , S.75-77.

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des AT neben die Angaben aus ägyptischen, assyrischen und griechischen Quellen. 12 Besonders gegenüber der als dominierend empfundenen griechischen Kultur sollte das göttliche Offenbarungshandeln hervorgehoben werden. Ganz nach antiker und mittelalterlicher Auffassung - je älter desto näher an der Quelle, desto frischer das Wasser und größer der Wahrheitsgehalt - entwickelte Clemens eine Theorie der Anlehnung, nach der die Griechen ihre Vorstellungen von den älteren Juden entlehnt hätten. 13 So habe z. B. Plato seine gesellschaftspolitische Philosophie von Mose übernommen 14 und die Philosophie wäre für die Griechen das, was das Gesetz für die Juden sei,15 aber eben von untergeordnetem Rang. Durch das Christentum geschehe nun als Teil des göttlichen Heilsplanes die Synthese von griechischer Philosophie und jüdischem Gesetz in einer höheren göttlichen Auflösung. Zwar floß in Clemens' Darstellung zum ersten Mal zeitgenössische Geschichtsschreibung hellenistischer Autoren mit ein, aber für die Zeit nach Christus fand das geschichtliche Geschehen noch keine Berücksichtigung. Beide, Irenäus wie Clemens, blieben mit ihren Entwürfen eng an ihrer apologetischen Intention: Zeitliche Heilsordnung contra ahistorischem Dualismus (Irenäus) und Beleg des höheren Alters der jüdischen gegenüber der griechischen Geschichte (Clemens). Auch Clemens ging es noch nicht um eine deutende Darstellung des profanen Geschichtsverlaufs oder um eine chronologische Einordnung heilsgeschichtlicher Ereignisse in einen gesamthistorischen Rahmen (wie z. B. die Festlegung des Geburtsjahres Jesu). Ebenso fehlen nähere eschatologische Erwägungen über die Zeit des Endes. Einen großen Schritt näher in diese Richtung ging Sextus Julius Africanus (ca. 165-240), der um 221 die erste christliche Weltchronik verfaßte. 16 In ungleich größerer Breite als Clemens, aber mit der gleichen apologetischen Absicht, die Überlegenheit der alttestamentlichen Überlieferung gegenüber den "Fabeleien" der Ägypter, Phönizier und Chaldäer aufzuzeigen,17 gebraucht Africanus die typologische Deutung als Stütze für seine Weltchronik. So sind für ihn die zeitlichen Angaben zur Passion Christi, die nach dem Johannes-Evangelium auf die sechste Stunde des 6. Wochentages fällt,I8 ein typologischer Hinweis auf die Mitte des sechsten 12 Clemens von Alexandrien, Stromata, hrsg. von o. Stähelin, L. Früchtel, Die griechischchristlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 52 (1960). Zu Clemens vgl. Art. ,Chronologie', in: RAC III (1957), Sp. 54 f. 13 Clemens, Stromata I, 101-147, 158 -164. 14 Clemens, Stromata I, 165 f. 15 Clemens, Stromata I, 28. 16 Die Chronologie ist nur in Bruchstücken erhalten: Julius Africanus, Chronographia, hrsg. von M. 1. Routh, in: Reliquiae sacrae 27 (1846). Dazu: Art. ,Africanus, Julius' von J. Crehan, in: TRE I (1977), S. 635-640. Lit.: Heinrich Gelzer, Sextus Julius Africanus und die byzantinische Chronographie, 2 Bde, Leipzig 1880-98; Schwarte, Vorgeschichte, S. 148 -152; zur Quellenlage: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 50ff. 17 Africanus, Chronographia 10, S. 245 f. 18 Joh 19,14.

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Jahrtausends 19 und würden seine chronologischen Untersuchungen bestätigen, nach denen Christi Geburt in das Jahr 5500 nach Weltschöpfung fällt. 2o Auch zur Ermittlung der Gesamtdauer der Geschichte bedient sich Africanus der Typologie. Da gemäß der Schrift (Gen 10,25) Pe leg, Sohn des Eber, rechnerisch 3000 Jahre nach der Schöpfung geboren wurde und sein Name "Teilung" bedeutet, da "zu seiner Zeit die Erde zerteilt wurde", - was Africanus als chronologische Teilung interpretiert -, betrage die Dauer der Menschheitsgeschichte insgesamt 6000 Jahre. Darauf folge analog zum Sabbatjahr das messianische Friedensreich von noch einmal 1000 Jahren. Über diese etwas eigenwillige typologische Chronologisierung 21 gelangte er zu der Annahme einer 7000-jährigen Weltdauer, wie sie bereits bei Irenäus belegt ist?2 Für den geschichtlichen Zeitraum nach Christus veranschlagte Julius Africanus also etwa 500 Jahre. Damit vermutete er aber die endzeitlichen Geschehnisse nicht in unmittelbarer Zukunft, sondern erst in 250 bis 300 Jahren. Der Grund für diese deutlich hinausgeschobene Endzeiterwartung mag in den verstrichenen Parusie-Terminen und den zahlreich umlaufenden eschatologischen Spekulationen der ersten beiden Jahrhunderte liegen. Ihnen wollte Africanus einen biblisch und historisch fundierteren Boden verschaffen,23 ohne eine Berechenbarkeit der Weltdauer grundsätzlich abzulehnen. 24 Jedenfalls ging es ihm nicht in erster Linie um die Einordnung eschatologischer Geschehnisse, sondern wie Clemens, um den Altersbeweis. Das zeigt sich schon daran, daß eine intensivere Gegenwartsbestimmung innerhalb seiner Chronologie, wie sie für spätere mittelalterliche Entwürfe Gang und Gäbe ist, kaum aufzuspüren ist. Genau darauf aber lag das Augenmerk seines Zeitgenossen Hippolyt von Rom (ca. 165 - 240). Seine Chronik (234/235), sein Danielkommentar und zwei Schriften über den Antichristen 25 machen ein Interesse an der Einordnung der eschatoloFragment nach Gelzer, Bd. 2, S. 25. Zum chronologischem System des Africanus: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 51 f.; lack Finegan, Handbook of Biblical Chronology. Principles of TIme Reckoning in the Ancient World and Problems of Chronology in the Bible, Princeton (NJ.) 1964, S. 140-146. 21 Karl-Heinz Schwarte (Vorgeschichte, S. 152) nimmt an, daß die neutestamentliche 'TYpologie wohl dem Daniel-Kommentar des Hippolyt entnommen ist (Hippolyt, In Danielem 4,24,5 in: GCS Hipp. 111, 1887, S. 246) wohingegen die Genesis-Typologie von Africanus selbst stammen dürfte. 22 lrenäus, Adv. Haeres. V, 28,3 - 36,3. 23 Kulminationspunkte solcher Parusietermine waren die Jahre 70 (Tempelzerstörung), die erste Jahrhundertwende und die montanistische Bewegung um 150. Dazu ausführlich: August Strobel, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem, Leiden-Köln 1961; Haeusler, S. 8-9, 182-183. 24 Dagegen in Apg 1,7: ,,Es gebührt euch nicht, zu wissen Zeit oder Stunde, welche der Vater in seiner Macht bestimmt hat". 2S Hippolyt, Chronik, in: GCS 46 (Berlin 1955), hrsg. von Rudolf Helm u. A. Bauer; Hippolyt, In Danielem, in: GCS I/I (1887), hrsg. v. G. Nathanael Bonwetsch u. Hans Achelis; Hippolyt, Demonstratio de Christo et de Antichristo, in: GCS Hipp. 1/2 (1897), S. 1-47, hrsg. von H. Achelis. Oder: Hippolyt, Buch über Christus und den Antichrist, übersetzt u. hrsg. v. Valentin Gröne, Kempten 1873. 19

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gischen Geschehnisse in den weltgeschichtlichen Gesamtrahmen deutlich. 26 Hippolyt ging es nicht mehr in erster Linie um den Altersbeweis, sondern um eine genauere Bestimmung der Gegenwart mit Hilfe der biblischen Chronologie. Auch er leitete aus der biblischen Schöpfungswoche und Psalm 90,427 eine 6000-jährige Dauer der Weltgeschichte ab und bestimmte die Geburt Christi darin als das Jahr 5500. 28 Die eigene Gegenwart, das 13. Regierungsjahr des Severus Alexander (234/235), legte er in diesem Gerüst als das Jahr 5738 nach der Schöpfung fest. Damit bietet Hippolyts Chronologie die erste eindeutige Gegenwartsbestimmung innerhalb eines biblisch-christlichen Zeitschemas. 29 Ein stärkeres Interesse an historischen Fragestellungen über die bloße chronologische Einordnung hinaus schien er allerdings nicht zu haben. 30 Weder der Darstellung der Zeitgeschichte noch einer Periodisierung des Geschichtsverlaufs maß er größere Bedeutung zu. Die Verbindung der profanen Historie der antiken Welt mit der des Judentums diente ihm in erster Linie zur Berechnung apokalyptischer Fristen. Dieses Bemühen um eine zeitliche Einordnung der eschatologischen Elemente der Bibel entsprang jedoch der Auseinandersetzung mit schwärmerischer Naherwartung,31 die infolge örtlicher Christenverfolgungen in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts wieder aufflammte. Hippolyt wandte sich insbesondere gegen eine auf ,Inspiration' 26 Dazu: Leonhard Atzberger (Geschichte der christlichen Eschatologie innerhalb der vornicänischen Zeit, Freiburg 1896, S. 282 ff.) und Schwarte, S. 128 ff. 27 Psalm 90,4: "Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache." 28 In seinem Daniel-Kommentar bestimmt Hippolyt Jesu Geburt mit dem 42. Jahr des Augustus, dem 5500. Weltenjahr (In Danielem, 4,23,1 ff., GCS Hipp. 1/ 1. 240-244). Er belegt dies vor allem durch drei typologisch gedeutete Bibelstellen: a) Joh 19,14, wonach Christi Passion auf die sechste Stunde des 6. Wochentages fällt Hinweis auf die Mitte des sechsten Jahrtausends (In Danielem 4,24,5; GCS Hipp. 1/1. 246; Africanus hat diesen ,Schriftbeweis' vermutlich von Hippolyt übernommen). b) durch Offb 17,10 ("Fünf sind gefallen; einer ist; der andere ist noch nicht gekommen") - Hinweis auf die Zahl der Jahrtausende der Weltgeschichte und dem Zeitpunkt der Lebenszeit Christi (In Danielem 4,23,4f., GCS Hipp. 1/1.242-244) c) Exodus 25, IOff., wo die Maße der anzufertigenden Bundeslade mit 2,5 Ellen Länge, 1,5 Ellen Breite und 1,5 Ellen Höhe angegeben werden (zusammen 5,5 Ellen), - Hinweis darauf, daß Christus als wahre Bundeslade nach fünfeinhalb Jahrtausenden gekommen sei (In Danielem 4,24,1-4, GCS Hipp. 1/1. 246). 29 Auf dieses Jahr kommt Hippolyt durch drei voneinander unabhängige Rechnungen: die Chronologie der Septuaginta (GCS 46.8-10, S. 70ff.), die Zahl der Paschafeiern seit Mose (GCS 46. 116 ff.) und die Zahl der Olympiaden (GCS 46.124). Zu den Einzelheiten der Chronologie vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 55 f. 30 So auch Haeusler, S. 10; Schwarte, S. 154-158; A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 56. Anders: Roderich Schmidt, Aetates mundi. Die Weltalter als Gestaltungsprinzip der Geschichte, in: ZKG 67 (1955156), S. 306 ff. 31 So auch Haeusler, S. 11 und Schwarte, S. 147. Zur Naherwartung im 3. Jahrhundert: Karl Johannes Neumann, Hippolytus von Rom in seiner Stellung zu Staat und Welt. Neue Funde und Forschungen zur Geschichte von Staat und Kirche in der römischen Kaiserzeit, Leipzig 1902, S. 73 f.; Karl-Heinz Schwarte, Das angebliche Christengesetz des Septimius Severus, in: Historia 12 (1963), S. 185-208.

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gestützte Naherwartung, die nicht auf biblischen Angaben basierte. 32 Nach seiner von der Schrift her typologisch ermittelten Berechnung sind es bis zur Parusie noch knapp 300 Jahre, da die Vollendung des sechstausendjährigen Weltenlaufes etwa um 500 n. Chr. geschehe. Die Ausformulierung einer eigenen Antichristologie bei Hippolyt ist von daher nicht Ergebnis einer gesteigerten Naherwartung, sondern eher das Bemühen, den apokalyptischen Elementen festere Konturen zu geben und sie in ein chronologisches Gerüst einzuordnen. Schon um 200 verfaßte der Römer mit seiner Schrift "De Antichristo" als erster eine systematische Abhandlung über den Antichristen, in der er neu- und alttestamentliche Stellen gegenläufig zu christologischen Aussagen zu einer Art ,Antichristologie' ausbaute. 33 Die Gestalt des Antichristen nimmt so - wieder typologisch ermittelt - konkretere Züge an. Auf eine verlogene und Christus nachäffende Weise ist er ebenfalls Löwe, König und Lamm; er sendet Apostel aus, sammelt die Zerstreuten und verleiht seinen Anhängern ein Siegel. Dieses durch Hippolyt mit stärkeren Konturen versehene Bild blieb über Jahrhunderte bestimmend für die kirchlichen Antichristvorstellungen. Obwohl Hippolyt die Parusie ein gutes Stück in die Zukunft hinein verschob und so grundsätzlich Raum schaffte für nachchristliche Geschichte, dauerte es noch fast hundert Jahre, bis Euseb von Caesarea (ca. 260-339), Bischof und Biograph Kaiser Konstantins, in seinen ,Zeittafeln' (chronicorum canones)34 diesen Raum auch erstmals füllte. Wie Africanus und Hippolyt erstellte auch er eine Chronologie auf der Grundlage der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta). Zwar ging es ihm auch um den Altersbeweis,35 den er chronographisch noch exakter und aufwendiger untermauerte als Africanus, Schwerpunkt war ihm jedoch das Aufzeigen der göttlichen Vorsehung im Zusammenfall 32 Hippolyt erwähnte den Fall eines syrischen Bischofs, der seine Gemeinde in die Wüste führte, um Christus entgegenzugehen. Ein anderer habe auf einen Traum hin den Tag des Gerichts für das folgende Jahr vorausgesagt, worauf die Gläubigen ihre Felder verlassen und ihre Habe verkauft hätten (In Danielem 4,18-20, GCS Hipp. 1/1.230-236). 33 Hippolyt, Demonstratio de Christo et de Antichristo. 34 Euseb, Chronik, aus dem Armenischen übersetzt u. hrsg. von]. Karst, GCS 20 (1911); Die von Hieronymus (ca. 348-420) weitergeführte, ins Lateinische übersetzte und überarbeitete Chronik (hrsg. von R. Helm, GCS 47, 1956) wurde zur hauptsächlichen Quellengrundlage mittelalterlicher Weltchronistik. Weiterführende Literatur zu Euseb bei J. Moreau (Art. ,Eusebius von Caesarea', in: RAC 6, 1966, Sp. 1083 - 1088), Heinrich Kraft (Hrsg., Eusebius von Caesarea. Kirchengeschichte, München 1981) und Friedhelm Winke/mann (Euseb von Kaisareia. Der Vater der Kirchengeschichte, Berlin 1991). 3S Hieronymus, Chronik, GCS 47, S. 9f. Da Euseb genauere Angaben über die Anfange des Menschengeschlechts mit Hinweis auf Apg 1,7 (!) für unmöglich hielt, zählte seine Chronik auch nicht von der Schöpfung an, sondern er synchronisierte die biblische Geschichte mit den antiken Dynastien und Olympiaden nach der Zeitrechnung seit Abrahams Geburt. Hier wird seine Orientierung an den antiken UniversaIchroniken besonders deutlich, die mit Ninos begannen, den Euseb als Zeitgenossen Abrahams benennt. Vgl. zu den antiken Vorbildern: Rudolf Helm, Eusebius' Chronik und ihre Tabellenform, Berlin 1924 (= Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, Heft 4) und A.-D. von den Brincken, Studien, S. 63 ff.

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von römischem Weltreich und Christi Geburt sowie die Darstellung von der Ausbreitung und dem Triumph des Christentums. 36 Damit verwendete Euseb erstmals die heilsgeschichtliche Kategorie der providentia für profanes Geschehen und unterstrich die Bedeutung der Christozentrik auch für die Weltgeschichte. Eine erste Tür zu christlicher Geschichtsphilosophie war geöffnet. Auf der anderen Seite hatten der starke Einfluß griechischen Geschichtsdenkens, sowie Eusebs optimistisch ausgerichtete Reichstheologie, die den Triumph des Christentums im Römischen Reich zum göttlichen Kulminationspunkt werden ließ, zur Folge, daß das Verhältnis des Bischofs zur Eschatologie sehr verhalten war. Eine apokalyptische Erwartungshaltung und endzeitliche Spekulationen lehnte er mit Hinweis auf Apg 1,7 ganz ab,37 ebenso wie ein lOOO-jähriges Reich. Auf dieser Linie liegen auch die großen Zweifel, die Euseb an der Kanonizität der Johannes-Apokalypse hegte. 38 Im Gegensatz zu den meisten apokalyptischen Entwürfen, die sich vor allem an die Offenbarung des Johannes anlehnten, spielte Rom bei Euseb eine positive heils geschichtliche Rolle. 39 Die Pax Augusta und der sich anbahnende Triumph der christlichen Kirche wiesen trotz aller zwischenzeitlichen Rückschläge eher auf einen fortschrittlichen Verlauf in der Geschichte hin.4o Durch diese geschichtstheologische Aufwertung des römischen Staates, bei gleichzeitigem Zurückweisen apo~ kalyptischer Befürchtungen, erhielt die Profangeschichte einen Eigenwert innerhalb des göttlichen Heilsplanes und wurde zum Feld der Überlegungen über Gottes Vorsehung. Ganz im Sinne der antiken Geschichtsschreibung, deren Form er weitgehend übernahm, begann nun Euseb damit, der Darstellung der eigenen Zeit größeres Gewicht einzuräumen. 41 Durch den starken Bezug auf das christliche Imperium nahm seine Geschichtstheologie einen politischen Charakter an und griff das alttestamentliche Verhältniss von politischer Geschichte und göttlichem Heilsgeschehen wieder auf. Anstelle der Geschicke Israels sind es nun jedoch die der Kirche, die er als Ausbreitung des Reiches Gottes innerhalb der Profangeschichte darstellt. In diesem Licht ist auch sein Hauptwerk, die Ekklesiastike histor{a, zu sehen, mit der er die Maßstäbe für das gesamte Mittelalter setzte. 42 In ihr stellte er ganz nach hellenistischem Vorbild enzyklopädisch alle möglichen Nachrichten über die Geschichte des Christentums 36 Ein Gedanke, den Euseb von Origines übernahm, in dessen Schule er seine Ausbildung erhielt. Vgl. Kraft, S. 25 ff. 37 Euseb, Chronik (armen.), GCS 20, S. 1 f. 38 So z. B. in seiner Kirchengeschichte: Euseb, Ekklesiastike historfa 3,39,11-13 (GCS 9/1.290). 39 Anders z. B. Hippolyt: In Danielem 4,9,2 f. (GCS Hipp. 1/1.206 - 208). 40 V gl. Funkenstein, S. 13 f. 41 A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 64. 42 Euseb, Ekklesiastike historfa, in: GCS 9, 1- 3, hrsg. von E. Schwartz u. Th. Mommsen, Leipzig 1903 - 1909.

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

bis zur Gegenwart zusammen, führte Listen von Bischöfen und christlichen Autoren auf und gab Informationen über Häresien, die Verfolgungen der Kirche und das Schicksal der Juden. Hippolyt und Euseb markieren den Beginn einer Entwicklung, die christliches Geschichtsdenken auf zwei unterschiedlichen, aber oft einander bedingenden Wegen zum Ausdruck brachte. Auf der einen Seite stand das Bemühen um Einordnung der eigenen Zeit in einen von Gottes Vorsehung feststehenden Zeitrahmen mit Blick auf die endzeitlichen Geschehnisse (Hippolyt). Dazu wurde in Anlehnung an das Buch Daniel die Lehre von den vier Weltreichen (mit Rom als letztem) ausgeformt und immer wieder variiert. 43 Dazu gehörte auch, daß der Antichrist zum ,Forschungsobjekt' und zur zentralen Gestalt des mittelalterlichen Erwartungshorizontes avancierte. 44 Und schließlich bildete sich auch ohne biblischen Bezug die Sage vom ,Endkaiser' heraus, der vor dem Erscheinen des Antichristen zu erwarten sei. 45 Auf der anderen Seite gab es das Bemühen um stärker kompendiöse Erfassung reichs- und kirchengeschichtlicher Ereignisse in einem als gottgewollte Einheit verstandenen imperium christianum (Euseb). Für diese Richtung wurde der kaiserliche Biograph Euseb zum Vater aller reichsbezogenen Kirchengeschichtsschreibung.

In der mittelalterlichen, insbesondere der byzantinischen We1tchronistik verbanden sich beide Darstellungswege untrennbar miteinander und bedingten einander. 46 Dies ging allerdings im Westen nicht ohne Bruch vonstatten. Grund dafür war die offensichtliche Schwäche des weströmischen Reiches und schließlich dessen Niedergang. Der Untergang Roms forderte eine tiefer durchdachte Interpretation der Geschehnisse heraus. So kam es zur Ausbildung der ersten christlichen Geschichtsphilosophie durch Augustin, von der weiter unten noch die Rede sein soll. Die beiden im folgenden genannten Geschichtsentwürfe von Hilarian und Sulpicius Severus stellten zum Ausgang des vierten Jahrhunderts in gewissem Sinne Übergangsmodelle christlicher Historiographieentwicklung dar. 43 Zum römischen Endreich informiert (wenn auch teilweise überholt) lose! Adamek, Vom römischen Endreich der mittelalterlichen Bibelerklärung, Würzburg 1938. 44 Den besten Überblick (inklusive reichhaltigem Quellenmaterial) bietet nach wie vor das grundlegende Werk von Wilhelm Bousset, Der Antichrist in der Überlieferung des Judenthums, des neuen Testaments und der alten Kirche. Ein Beitrag zur Auslegung der Apokalypse, Göttingen 1895. Die klassische Quellensammlung zum Antichristen liefert F. Thomas Malvenda. De Antichristo Libri undecim, Rom 1604. Ein neuerer Überblick mit umfangreichen Literaturhinweisen, in: TRE III (1978), S. 20-50 (Art. ,Antichrist'). 45 Die zahlreichen Studien, die aus der Nationalbegeisterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts dazu verfaßt wurden, hat abschließend zusammengefaßt: Franz Kampers. Kaiserprophetieen und Kaisersagen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Kaiseridee, München 1895. 46 Für die byzantinische Geschichtsschreibung kommt das gut zum Ausdruck bei: Podskalsky. Byzantinische Reichseschatologie.

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Im Jahre 397 verfaßte der nordafrikanische Bischof Quintus Julius Hilarian mit seiner, Chronologia sive Libellus de duratione mundi' eine Abhandlung zur Widerlegung der antiken These von der ewigen Dauer der Welt. 47 In weitgehender Anlehnung an die Chronik des Africanus entwarf Hilarian ein knappes, an der Bibel orientiertes chronologisches Gerüst, das bis zum Propheten Daniel ohne profanhistorische Geschehnisse auskommt. Jesu Passion legte der nordafrikanische Bischof auf das Weltjahr 553048 und bestimmte demnach das Abfassungsjahr seiner Chronik auf das Jahr 5897. Bis zur Vollendung des sechsten Jahrtausends, der Wiederkunft Christi und dem Ende der Geschichte blieben deshalb - anders als noch bei Africanus - nur noch 103 Jahre. 49 Dieser relativ kurzen verbleibenden Zeit, die nach der Schrift zunehmend vom Widersacher Christi beherrscht sein würde, galt sein bevorzugtes Interesse. Unter Verzicht geschichtsdeutender Elemente gab er in seinen Ausführungen den apokalyptischen Visionen der JohannesOffenbarung und des Daniel-Buches breiten Raum. Besonders die Daniel-Vision von dem vierten Tier (Dan 7,19 ff.), die er ganz in apokalyptischer Tradition und gegen Euseb auf das Römische Reich anwandte, fand seine Aufmerksamkeit. Die dort erwähnten zehn Könige, die für die Zukunft noch ausstünden, würden bald die ,Tochter BabyIons', - eine gebräuchliche apokalyptische Bezeichnung für Rom"die sie jetzt noch stützen, aus der Mitte der Welt vertreiben".50 Erst danach werde ein übermächtiger Endherrscher einige von den zehn Königen stürzen und sich in dem endzeitlichen Reich als ,Sohn der Verderbtheit' und Antichrist offen zeigen. 51 Im Gegensatz zu frühchristlichen apokalyptischen Szenarien, nach denen mit dem vierten Reich (Rom) die widerchristliche Herrschaft grundsätzlich schon begonnen hätte, kündigte Hilarian also ein Ende Roms an und schaltete bis zum endgültigen antichristlichen Reich eine vorübergehende Herrschaft durch die ,zehn Könige' dazwischen. Es ist der späte Versuch, das alte romfeindliche apokalyptische Geschichtsbild im Blick auf ein inzwischen christliches, aber schwaches Imperium neu zu interpretieren. Damit nahm Hilarian ansatzweise eine Funktion vorweg, die später die Translatio-Idee 52 längerfristig lösen sollte: Die Modifizierung der traditionellen Auslegung der Vier-Reiche-Vision Daniels. Ganz ähnlich wie Hilarian beschäftigte sich auch der weniger bekannte Eremit Sulpicius Severus eingehend mit der Auslegung der Daniel-Visionen. Ziel war eben47 Hilarian, Chronica minora 1., hrsg. von Carl Frick, Leipzig 1892, S. 153 ff. (,,oe cursu temporum") - oder: Hilarianus, Chronologia sive Libellus de duratione mundi, in: PL 13 (1845), col. 1097 -1105. Zu Hilarian: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 57 ff. und Schwarte, S. 169-176. 48 Hilarian, Chronica, S. 170. 49 Als weiteren Beleg für ein nahes Ende verwendete Hilarian einen zusätzlichen typologischen ,Schriftbeweis': Wie das Volk Israels 470 Jahre auf die Landverheißung Abrahams habe warten müssen, so nun auch die Kirche auf Jesu Wiederkunft vom Zeitpunkt seiner Passion im Jahre 5530 seit Schöpfungsbeginn (Hilarian, Chronica, S. 170f.). so Hilarian, Chronica, S. 171. SI Hilarian, Chronica, S. 171. Vgl. auch Bousset, S. 104- 108. 52 Dazu Goez.

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falls die Einordnung der Rolle Roms in den göttlichen Weltenplan. 53 Die kurz nach 400 verfaßte ,Chronica' ist nicht in synchronistischen Listen angelegt, sondern bildet eine zusammenhängende Erzählung vorzugsweise biblischer Ereignisse. 54 Für die üblichen chronologischen Berechnungen schien Severus kein Interesse zu haben. Seine Originalität besteht in der bereits modifizierten Auslegung der Daniel-Vision vom vierten Weltreich. Danach sind die Reichsteilung und der Einbruch der Barbarenvölker für ihn Bestandteile des göttlichen Heilsplanes und als solche schon in der Vision enthalten. 55 Die eigene Gegenwart entspreche den teils eisernen und teils tönernen Füßen der Statue der Daniel-Vision. 56 Erstere seien Ausdruck des römischen Anteils des Reiches, letztere stünden für die ,barbarischen Nationen'. Damit ordnete Severus die ganze Problematik der Schwäche des spätantiken weströmischen Reiches und die empfundene Bedrohung der mehr und mehr ins Reichsgebiet eindringenden Germanen ein als Bestandteil göttlicher Vorsehung und Auftakt zur Endzeit. Da das Ende so unmittelbar bevorstehe,57 gehe es vor allem darum, den Glauben gegen Irrlehren recht zu bewahren. 58 Eine noch weiterlaufende Geschichte irdischer Reiche werde es nicht mehr geben. Es liegt auf der Hand, daß die stark apokalyptisch geprägten Chronikentwürfe von Hilarian und Sulpicius Severus keine Perspektive für eine christliche Geschichtsdeutung im angehenden Mittelalter boten. Die Ereignisse gingen einfach über ihre Prognosen und das berechnete Ende hinweg. Ihr Schicksal nahm somit schon das vorweg, was zwölfhundert Jahre später den letzten großen Chronikentwürfen, die auf der Vier-Reiche-Lehre nach Daniel operierten, auch passieren sollte. Eine andere Lösung boten die Geschichtsdeutungen von Augustin und Orosius, die nach der Eroberung Roms (410) vor der Situation standen, das Schicksal der Christenheit nicht mehr ohne weiteres an den politischen Bestand des Römischen Reiches binden zu können. Denn dies würde entweder den unmittelbaren Anbruch S3 Eine gute Übersicht über die Literatur zu Sulpicius Severus bietet G. K. van Andel, The Christian Conzept of History in the Chronic\e of Sulpicius Severus, Amsterdam 1976, S. 171-176. Bedeutsamer als seine Chronik wurde seine Lebensvita von Martin von Tours (Sulpicius Severus, Vita Martini, hrsg. von C. Halm, in: CSEL I, 1866, S. 109-137), die zum Vorbild fur die ganze Gattung wurde. 54 Sulpicius Severus, Chronica, hrsg. von C. Halm, in: CSEL I (1866), S. I-lOS. ss Severus, Chronica, 2,3,5 f. (CSEL 1.58 f.). 56 Dan 2,3lff. S7 Severus vermutete die eigene Zeit kurz vor dem Ende des sechsten Jahrtausend, wenn er auch zugab, daß es in dieser Frage eine gewisse "Uneinigkeit" bei den Chronographen gebe (Severus, Chronica, 1,1,1 - CSEL 1.4). Zu seiner Enderwartung siehe auch seine Schrift ,Dialogi', in: CSEL I (1866), S. 197, sowie lose! Fischer, Die Völkerwanderung im Urteil der zeitgenössischen kirchlichen Schriftsteller Galliens unter Einbeziehung des heiligen Augustinus, Heidelberg-Waibstadt 1948, S. 11 0 ff. S8 SO beendete er seine Chronik mit einer Warnung vor dem Priscillianismus, der - alles verwirrend - die Kirche verderbe und sogar im Episkopat Unordnung stifte. (Severus, Chronica, 2,46,1 ff., in: CSEL 1.99).

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der Endzeit und damit das Ende der Welt bedeuten (apokalyptische Tradition), oder aber man würde sich dem Vorwurf, die Christen trügen Schuld an Roms Niedergang, kaum entziehen können. Und eben dies war ja der Vorwurf der heidnischen Kritiker, daß die Gegenwart, in der die Verehrung der alten Götter abgeschafft wurde, schlechter dastünde als Roms Blütezeit, während der die Christen verfolgt wurden. 59 Diesem Vorwurf begegnete der spanische Presbyter und Augustin-Schüler Paulus Orosius indem er den zeitgenössischen Nöten Roms die vielen schlimmeren Schlechtigkeiten und Kriege der heidnischen Welt gegenüberstellte. Seine von Augustin beauftragte Schrift ,Historiarum adversum paganos libri septem', die er 417/418 noch vor Vollendung von Augustins ,De civitate Dei' in Nordafrika verfaßte, schildert die Weltgeschichte in sieben Bänden von der Schöpfung bis zum Jahr 417 weitgehend als Unheilsgeschichte. 60 Dabei blieb Orosius im wesentlichen der eusebisch-reichstheologischen Tradition verpflichtet, nach der durch die göttlich gelenkte Verbindung von Römischem Reich und Christentum die nachchristliche Zeit gegenüber der heidnischen grundsätzlich eine eher positive Tendenz aufweist. Die apologetische Absicht bewirkte, daß er als erster die Profanhistorie einer eingehenden Untersuchung unterzog und sie nicht nur als Beiwerk der biblischen Heilsgeschichte streifte. Nicht so sehr eine genaue chronologische Berechnung und die Genealogie lagen ihm am Herzen, sondern die Aufzählung von Kriegen und Katastrophen. Am Beispiel zahlreicher Quellen61 versuchte er zu belegen, daß die Bedrängnisse der Gegenwart verglichen mit denen der Vergangenheit nichts als Flohstiche seien und "daß die Tage der Vergangenheit nicht nur ebenso bedrückend waren wie die der Gegenwart, sondern, daß sie umso schrecklicheren Jammer brachten, je weiter sie von dem Trost wahrer Religion entfernt waren".62 Daß dies verdrängt werde, liege an der Verklärung der Vergangenheit, der gegenüber die Gegenwart stets als unangenehmer empfunden wer59 Zur Krise der Reichstheologie: Johannes Straub, Christliche Reichsapologetik in der Krisis des römischen Reiches, in: Historia I (1950), S. 52-81; Funkenstein, S. 36. Belege für die Auffassung, die Christen seien schuld, bei: Franz Georg Maier; Augustin und das antike Rom, Stuttgart-Köln 1955, S. 56. 60 Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII accedit eiusdem liber apologeticus, in: CSEL 5, Leipzig 1882, hrsg. von Carl Zangemeister, (zit. = Orosius, adv. pag.); eine neuere Übersetzung bietet Adolf Lippold, Orosius - Die antike Weltgeschichte in christlicher Sicht, 2 Bde, München-Zürich, 1985/6. Den Inhalt der sieben Bücher skizziert in aller Kürze A.-D. von den Brincken, Studien, S. 82-84. Zu Orosius siehe ferner: Dorothea Koch-Peters, Ansichten des Orosius zur Geschichte seiner Zeit, Frankfurt-Bem 1984; Hans-Wemer Goetz, Die Geschichtstheologie des Orosius, Darmstadt 1980; H.-J. Diesner; Orosius und Augustinus, in: Acta antiqua Academiae scientarum Hungaricae 11 (1963), S. 89 - 102; Kurt Arthur Schöndorf, Die Geschichtstheologie des Orosius (Diss.) München 1952; Adolf Lippold, Rom und die Barbaren in der Beurteilung des Orosius (Diss.), Erlangen 1952; Löwith, S. 160-167; Weitere Literatur in: TRE Bd. 25 (1995), S. 422-423. 61 Zu Orosius' Quellen: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 81 f.; TRE Bd. 25, S. 422. 62 Orosius, adv. pag. IV, 4. Vgl. auch II, 3,9f.; III, 2,12ff.; III, 20,13; IV, 12,5ff.; V, 1,11; VII, 6,8; VII, 43,15 ff.

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de. 63 Darüber hinaus seien die gegenwärtigen Barbaren gar nicht so schlimm. Sie hätten sich schnell zivilisiert, forderten eher wenig, böten sogar ihre Dienste zum Schutze des Reiches an und manche Römer würden bereits lieber unter ihner, als unter römischer Herrschaft leben. 64 Einen ganz neuen geschichtstheologischen Horizont eröffnete Orosius, indem er darauf hinwies, daß viele der barbarischen Stämme inzwischen Christen geworden seien. Durch die barbarische Invasion hätten viele Völker die Wahrheit kennengelernt, "wenn auch unter Erschütterung unserer Macht".65 Insgesamt erzählt seine Historia das Geschehen nicht in gleichmäßigem oder systematischem Fortlauf, sondern greift Einzelereignisse heraus, an denen apologetisches Anliegen und Gottes Gerichts- oder Heilshande1n besonders demonstriert werden kann. Der Gedanke, daß alle Geschichte - auch die der scheinbaren Niedergangszeiten - durch Gottes Willen und Heilsplan bestimmt sei, zieht sich wie ein roter Faden durch die Historia. Wahrend biblische Heilsgeschichte weitgehend ausgespart bleibt, bilden Kriege, Seuchen, Unwetter, Gotteslästerungen und Häresien den eigentlichen Stoff. Dazu paßt seine Betonung, daß alle Menschheitsgeschichte die eines sündigen Geschlechts sei, und von daher alle Weltreiche, sei es das babylonische oder das römische, auf das gleiche Schicksal zusteuern: Verfall und Ende. Ein ,ewiges Rom' kann es gar nicht geben und es ist deshalb müßig darüber zu streiten, "ob es mehr vor Altersschwäche zittert oder infolge der Stöße, die fremde Eindringlinge ihm versetzt haben".66 Sowohl den vergangenen wie den gegenwärtigen Bedrängnissen und Kriegen liegen "zweifellos entweder offenbare Sünden oder verborgene Bestrafungen der Sünder" zugrunde. 67 Orosius verstand die Geschichte als ein Geschehen um Abfall, Zucht und Strafe. Die Geschichtsschreibung hat für ihn die Aufgabe, die menschlichen Abirrungen und das göttliche Heils- und Strafhandeln in diesem ursächlichen Zusammenhang verständlich darzustellen. Nur darin liegt der tiefere Sinn aller Historiographie, da der Geschichtsprozeß auf einen einzigen Zweck hin geordnet ist, nämlich den Menschen innerhalb der Zeit zu seinem Schöpfer zurückzuführen. 68 Bedrängnisse habe es zu allen Zeiten gegeben - je nach sittlichem Gehorsam und Nähe zur göttlichen Wahrheit unterschiedlich. Die Bedrängnisse der gegenwärtigen Zeit seien von daher völlig normal und im Vergleich zu früheren Zeiten eher gering. Erst in den letzten Tagen, wenn der Antichrist erscheinen werde, "dann wird Bedrängnis sein wie nie zuvor".69 Orosius. adv. pag. IV, praefatio 4; III, 20, 10 ff.; V, 1,4. Orosius. adv. pag. I, 16,2 f.; VII, 41,7. 65 Orosius. adv. pag. VII, 41,7. Vgl. dazu Lippold. Trotz all dieser Erschütterungen wird das Römische Reich für Orosius erst mit dem Erscheinen des Antichristen untergehen. 66 Orosius. adv. pag. 11,6,14. 67 Orosius. adv. pag. I, 1,lOff. 68 Orosius. adv. pag. VII, 1. 69 Orosius. adv. pag. Prolog, 15. 63

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Zwar läßt Orosius die Weltgeschichte in vier aufeinanderfolgenden Reichen ablaufen, scheint sich dabei aber weniger auf die Daniel-Exegese zu berufen, als auf antike Tradition. 7o So herrschte zunächst das Babylonische Reich im Osten, dann das Afrikanische (d. h. Karthago) im Süden, das Griechisch-Mazedonische im Norden und schließlich das Römische als letztes im Westen. Während das Babylonische etwa zweimal 700 Jahre bestanden habe, brächten es die weniger bedeutenden Reiche Mazedoniens und Afrikas auf je 700 Jahre, wogegen das Römische Reich bis Christi Geburt bereits 700 Jahre existiere. 71 Daß sich die Dauer des Römischen Reiches am Babylonischen ennessen ließe, fonnulierte Orosius zunächst noch zögerlich - ..Es wird auch gesagt, daß das Römische Reich bis zum Einbruch der Goten von gleicher Dauer wäre, wie das Babylonische bis zur Verwüstung durch die Meder"n - an anderer Stelle aber umso deutlicher: Wie Babyion nach 1160 Jahren zerstört worden sei, so wäre Rom im 1164. Jahr seines Bestehens von Alarich erobert worden. 73 Diese Zahlentypologie, die nach Orosius' Worten dazu dient, das Walten der göttlichen Vorsehung deutlicher zu machen und anzuzeigen, daß ..ein Gott den Lauf der Zeiten gelenkt hat, im Anfang zugunsten der BabyIonier, am Ende zugunsten der Römer", verwendete der spanische Presbyter aber nicht für eine Berechnung der Endzeit. 74 Denn während Babyion seine Herrschaft verloren hätte, würde Rom auch über seine Frist hinaus Gnade gewährt .. um der Christen willen".75 Dies freilich um des Preises der politisch veränderten Fonn: entscheidend ist für Orosius nicht der Bestand Roms in seiner römisch und griechisch geprägten Reichsfonn und Kulturwelt, sondern sein Bestand als Träger des welthistorischen Auftrages, das Christentum gemäß göttlichem Ratschluß an die Barbaren weiterzugeben. In dieser einzigartigen Rolle liegt die besondere Sendung Roms nach der Christianisierung des Kaisertums. 76 An diesem Punkt wird deutlich, daß Orosius der eusebischen Reichstheologie deutlich näher stand als Augustin, der durch seine Trennung von ,civitas Dei' und ,civitas terrena' (auf die im folgenden Kapitel noch einzugehen sein wird) das Römische Reich ganz in den irdischen Bereich verwies So Schöndorf, S. 31 f. und A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 82/83. Orosius, adv. pag. 11, 1,3 f.; 11, 3,6; VII, 2,1 ff.; VII, 2,8 ff. 72 Orosius, adv. pag. VII, 2,7. 73 Orosius, adv. pag. 11, 3,3 f. 74 Orosius, adv. pag. VII, 2,8; 11, 2,10; 11, 3,5. Dennoch ordnete auch Orosius die Gegenwart in Anlehnung an die Zeitrechnung des Hieronymus als Jahr 5618 in die Schöpfungschronologie ein (5198 Jahre bis Christus), die für gewöhnlich eine 6000-jährige Geschichtsdauer annahm. Die Parallelität Babylon-Rom, die Orosius setzte, ist augenfällig. Wie Abraham im 43. Regierungsjahr des Ninos geboren wurde, so Christus im 43. Jahre des Augustus (Orosius, adv. pag. VII,2,l3 ff.). A. -D. v. den Brincken hat mit Recht darauf hingewiesen, daß schon hier der Gedanke einer Ost-West-Kultur- und Herrschaftswanderung angelegt sei (Studien, S. 83). 75 Orosius, adv. pag. 11, 3,5 f. 76 Orosius, adv. pag. 11, 3,7 ff. Anders urteilt A.-D. v. den Brincken: "Für Orosius gehören Römertum und Christentum zusammen" (Studien, S. 84). 70

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und ihm keine besondere heils geschichtliche Rolle zumaß. 77 Daß die ganze Welt durch römische Herrschaft und römisches Recht geeint wurde, war Gottes Wille und Vorbedingung für Christi Erscheinen und die Ausbreitung der Kirche: ,,Auch besteht kein Zweifel ( ... ), daß unser Herr Jesus Christus Rom, das durch seinen Willen vergrößert und verteidigt worden war, auf die Höhe der Macht führte, der er bei seiner Ankunft zugehören wollte. Daher kann man ihn durchaus einen römischen Bürger nennen".78

Die Mischung von echter an historischen Fakten orientierter Geschichtsschreibung79 und providentieller Geschichtsdeutung ließ Orosius' Geschichtswerk zum bedeutendsten des frühen Mittelalters werden. Auch Dante, Petrarca und Melanchthon haben es noch gelesen. 8o Es enthält zudem alle Kategorien einer prononciert christlichen Geschichtsbetrachtung: Eine Urgeschichte von Schöpfung an, den Hinweis auf das Ende der Geschichte, eine ausgeprägte Christozentrik, die sich im historischen Geschehen niederschlägt,81 und die Deutung des Geschichtsverlaufs nach providentiellen Gesichtspunkten. Deshalb kann man sein Werk wohl mit Recht als erste echte christliche Universalgeschichte bezeichnen. 82

aa) Zusammenfassung

Die frühen Christen erwarteten die Wiederkunft Christi in überschaubarer zeitlicher Nähe. Geschichtliche Deutung geschah ganz in den vorgegebenen heilsgeschichtlichen Bahnen von AT und neutestamentlichen Schriften. Wenn auch für die Dauer der Weltgeschichte mit 6000 Jahren ein zeitlicher Rahmen vorgegeben wurde (Irenäus) und Ereignisse der antiken heidnischen Geschichte Erwähnung fanden (Clemens, Africanus), so doch nur zum Zweck der apologetischen Auseinandersetzung. Doch das irenäische Schema der 6000 Jahre schuf die Möglichkeit, 77 So auch F. G. Maier, S. 209. Orosius, adv. pag. III, 8,8; VI, 1,8; VI, 22,8. 79 Zur Ungenauigkeit seiner historischen Recherschen vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 82, 84. 80 Nicht zu unrecht bemerkt A.-D. v. den Brincken dazu, daß gerade über Orosius dem Mittelalter ein sehr einseitiges und negatives Bild von der Antike vermittelt worden sei (Studien, S.84). 81 V gl. bes. Orosius, adv. pag. VI, 22,5 - 11. Freilich bleibt für Orosius auch die christliche Zeit - wegen der Sündhaftigkeit der Menschen - nicht frei von Kriegen und Unheil, jedoch in geringerem Maße. 82 A.-D. v. den Brincken begründet dies - mit Hinweis auf eine Orosius-Arbeit des Spaniers Francisco Elias de Tejeda - damit, daß Orosius erstmals den Versuch unternahm, auch weltliche Geschichte zu erklären (Studien, S. 85; F. Elias de Tejeda, Los dos primeros filosofos hispanos de la historia: Orosio y Draconcio, in: Anuario de historia dei derecho espanol XXIII, Madrid 1953, S. 193). Diese Begründung reicht jedoch meines Erachtens nicht aus: vielmehr ist es erst die Anwendung der genannten Kategorien christlicher Geschichtsdeutung auf die ,profane' Geschichte, die christliche Universalhistoriographie ausmacht. 78

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den weltgeschichtlichen Ablauf näher zu bestimmen, indem sich in ihm zwei Schlüsseldaten festmachen ließen: das Datum der Geburt Christi und das Datum des WeItendes (Africanus, Hippolyt). Mit diesen beiden Schlüsseldaten ließ sich die Gegenwart zeitlich bestimmen und in den Gesamtheilsplan einordnen. Fortan standen fast immer chronologische Erörterungen im Mittelpunkt christlicher Historiographie. Diese Berechnungsbemühungen waren aber zunächst nicht Ausdruck überspannter eschatologischer Erwartung, sondern eher nüchterner Abgrenzung gegen Kreise schwärmerischer Apokalyptiker im zweiten und dritten Jahrhundert, die die Parusie beinahe täglich erwarteten. Eine auf die Bibel (und zwar auf die Übersetzung der Septuaginta) gegründete Chronologie in Verbindung mit der Erwartung einer 6000-jährigen Weltdauer rückte die Wiederkunft Christi zunächst einmal aus dem unmittelbaren Erwartungshorizont. So entstand Raum, nachchristliche Zeit und politische Gegenwart geschichtstheologisch näher in Augenschein zu nehmen und zu deuten. Zwei Grundrichtungen christlicher Geschichtssicht lassen sich dabei für die Spätantike festmachen: Einmal das Bemühen, das Ende der Geschichte möglichst genau in einen biblisch ermittelten, chronologischen Rahmen einzubinden und die Ereignisse, die damit zusammenhängen, typologisch zu ermitteln (Hippolyt). An der eschatologischen Erwartung hält man fest, sie wird aber von der Schrift her ,rationalisiert' und berechenbar gemacht. Derart ist auch die beginnende ,Kanonisierung' der Antichrist-Vorstellungen, sowie eine modifizierte Interpretation der Danielschen Vier-Reiche-Visionen einzuordnen. Zum anderen begründet vor allem Euseb eine reichstheologisch ausgerichtete Geschichtssicht, die den Triumph des Christentums in einem ,imperium christianum' zu einem heilsgeschichtlichen Höhepunkt werden läßt und der nachchristlichen Zeit damit ein zusätzliches geschichtstheologisches Interesse entgegenbringt. Beide Richtungen wurden für das christliche Geschichtsdenken des Mittelalters von größter Bedeutung, wenn auch im lateinischen Westen in anderer Mischung als im byzantinischen Osten. Am Ende der Spätantike kommen alle eingangs skizzierten Kategorien christlichen Geschichtsdenkens für eine Deutung zum Einsatz: Mittels Chronologie wird ein weltgeschichtlicher Zusammenhang von der Urgeschichte bis zum eschatologischen Endgeschehen hergestellt, mittels Vier-Reiche-Interpretation ein providentieller Geschichtsverlauf und mittels reichstheologischer Deutung eine geschichtswirksame Christozentrik. Orosius schließlich bemühte den alttestamentlichen TunErgehen-Zusammenhang als Erklärung für das historische Auf und Ab bis in seine Gegenwart hinein.

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b) Geschichte von der Ewigkeit her: Augustin und die Begründung christlicher Geschichtsphilosophie Einen Schritt weiter ging der Bischof von Hippo, Aurelius Augustinus (354430).83 Er goß die vorangegangenen geschichtstheologischen Elemente in einen großen Entwurf philosophisch-christlicher Ewigkeits- und Zeitvorstellung und entfaltete darin eine Geschichtsphilosophie, die in ihrer Tiefe für ein halbes Jahrtausend einzigartig dastand und noch bis heute nachwirkt. Auch er schreibt zunächst mit apologetischer Intention. Es gilt, dem Vorwurf der Heiden zu begegnen, mit der Christianisierung des Reiches sei auch dessen Verfall einhergegangen. Augustins Schrift ,De civitate Dei contra paganos', deren 22 Bücher der afrikanische Bischof in den Jahren 412-426 verfaßte,84 wächst aber weit über die Frage nach der Rolle Roms in der Geschichte hinaus. In den ersten fünf Büchern widmet sich Augustin den heidnischen Anschuldigungen und der Rolle Roms, um daran anschließend die heidnischen Göttervorstellungen als solche zu kritisieren (6 - 10). In den Büchern 11- 22 entwickelt er seine eigentliche christliche Geschichtstheologie, die kosmologisch den Bogen spannt von der Entstehung der Engelwelt bis zur Hölle und der himmlischen Seeligkeit. In diese christliche Kosmologie hinein ist der engere geschichtstheologische Aufriß (14 - 18) und der irdische Verlauf der Geschichte (15 - 18) eingebettet. Dem folgen noch ein Buch "über das höchste Gut und den wahren Frieden", sowie drei Bücher (20 - 22), die Fragen zum Jüngsten Gericht, zur Ewigkeit der Höllenstrafen und zur ewigen Seeligkeit behandeln. Der rote Faden dieser ,Summa' ist der Dualismus von ,civitas Dei' und ,civitas terrena '. Diese "zwei Arten menschlicher Gemeinschaft, die wir mit unserer Heiligen Schrift sehr wohl zwei Staaten nennen können" ziehen sich für den Afrikaner durch die gesamte Geschichte. ,,Der eine besteht aus den Menschen, die nach dem Fleisch, der andere aus denen, die nach dem Geist leben wollen, jeder in dem seiner Art entsprechenden Frieden".85

Ja, im Grunde beginnen die beiden civitates schon vor der Erschaffung der Menschen. Bereits beim Fall der Engel erfolgte die transzendente Teilung der zwei Reiche, die sich durch den menschlichen Sündenfall in der Schöpfung fortsetzte. Augustins Geschichtstheologie ist sozusagen eine Parallelgeschichte von civitas Dei und civitas terrena, die mit den ersten Nachkommen Adams einsetzt: ,,zuerst wurde Kain geboren, der dem Menschenstaat angehört, darauf Abel, der Angehö83 Die Literatur über Augustin ist nicht zu überschauen. Einen guten Überblick (auch über Augustins Rezeptionsgeschichte) und weitere Literaturhinweise bieten die Artikel in TRE Bd. 4 (1979), S. 645-723 und RAC Bd. 1 (1955-1957), sowie Henri Marrou, Augustinus mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg, 1958 (1994). 84 Zit. nach der Ausgabe: Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei), 2 Bde, aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 1991 (= De civ.). 85 De civ. XIV 1 (S. 154).

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rige des Staates Gottes", der "auf Erden ein Fremdling (peregrinans)" bleibt. 86 Wie von Kain gesagt ist, daß er einen Staat gründete (De civ. XV 1), so ist die Geschichte der ciYitas terrena auch in erster Linie von Eigennutz und Berechnung, von politischen Herrschafts- und Reichsgründungen bestimmt, deren Friede stets unsicher und vorübergehend ist. Dagegen ist der Wesenszug der ciYitas Dei von Aufopferung, Gehorsam und Demut geprägt, verbunden mit politischer Fremdheit und einer Pilgerschaft (peregrinatio), die den wahren und ewigen Frieden anstrebt. Mit der Städtegründung Kains beginnt die Aufteilung der Menschen nach beiden Prinzipien und die eigentliche Geschichte. Während die ciYitas terrena durch natürliche Zeugung weiterbesteht, wächst die ciYitas Dei durch übernatürliche Wiedergeburt. Ihr Verhältnis zueinander ist stets geprägt vom Kampf zwischen Glauben und Unglauben. Die Geschichte der ciYitas Dei verläuft zunächst über die Nachfolgelinie Seths, dann nach der Sintflut über die Stammesgeschichte der Hebräer, des Judentums und schließlich der christlichen Kirche. An ihren historischen Persönlichkeiten - Abraham, Isaak, Jacob, Moses, David, Salomon und den Propheten - rühmt Augustin den unbeugsamen Willen zum Monotheismus als das Kennzeichen der Gottesbürgerschaft. 87 Dennoch ist Israel zur Zeit des Alten Testaments nicht einfach deckungsgleich mit der ciYitas Dei, ebensowenig wie das Christentum in nachchristlicher Zeit. Die Gottesbürgerschaft, die zu allen Zeiten aus den ,wahren Gläubigen' besteht, läßt sich für Menschen nicht eindeutig bestimmen, da die beiden civitates "von Anfang bis zu Ende miteinander vermischt" (pennixta) sind. 88 Erst am Jüngsten Tag wird sie offenbar werden, wenn sich die beiden Reiche endgültig voneinander trennen. Wie Israel und die Kirche gewissermaßen den Stamm der ciYitas Dei bilden, ohne vollständig mit ihr übereinzustimmen, so bilden alle übrigen Reiche, das Römische Imperium eingeschlossen, den Stamm der ciYitas terrena. Bei der näheren Charakterisierung und Darstellung des Verlaufs der beiden civitates hielt sich Augustin vor allen an den biblischen Stoff. Darüberhinaus verwendete er vergleichsweise wenig historischen Stoff, den er vornehmlich synchronistischen Chroniken, besonders der Eusebischen Chronik entnahm. Von der assyrischen Geschichte nennt er über die Liste der Herrschernamen hinaus lediglich Nimrod (im Zusammenhang mit dem Turmbau zu Babel), sowie einige der Kriegserfolge des Ninus. Die Zeit zwischen Assur und Rom bleibt völlig unbehandelt, und bei der Darstellung der römischen Geschichte beschränkt er sich auf die sagenhaften Anfange und die Königszeit. De civ. XV I (S. 213, 214). De civ. XVIII 54 (S. 515): ,,Der eine (Staat) von ihnen, der irdische, machte sich nach Belieben aus allem Möglichen, auch aus Menschen, falsche Götter, denen er mit Opfern diente. Der andere dagegen, der himmlische, der auf Erden pilgert, schafft sich keine falschen Götter, sondern ist selber vom wahren Gott geschaffen, um selber ein wahres Opfer zu sein." 88 De civ. XVIII 54 (S. 515); vgl. auch XV 22. 86 87

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Nicht nur der relativ bescheidene Umfang des eigentlich historischen Abschnittes (die Bücher 15-18), sondern auch die vielen theologischen Einschübe machen deutlich: Augustins primäre Zielsetzung war eine theologische. Mehr als die Einzeldeutung von Gottes Wirken geht es ihm um das Aufzeigen des transzendenten Grundes und des Zieles der Geschichte, von dem allein her ihr Sinnzusammenhang zu ermitteln sei. Carl Andresen hat Augustins geschichtstheologischen Aufriß im zweiten Teil seiner De civitate Dei (11 - 22) ganz treffend mit einer Brückenkonstruktion verglichen, deren massive Brückenpfeiler (die Bücher 11-14 und 1922) einen weit größeren Raum einnehmen, als die eigentliche Brücke, als das eigentliche historische Geschehen: "Sie markieren Vorgeschichte bzw. Endgeschichte, weil nur so die weite Spanne der Menschheitsgeschichte im freitragenden Brückenschlag dargestellt und verstanden werden kann. Nicht der Geschichtsverlauf (procursus) als solcher ist Augustin das wichtigste, sondern Zielrichtung und damit der Sinn der Menschheitsgeschichte".89

Dennoch soll an dieser Stelle vor allem Augustins Geschichtsaufriß als solcher näher betrachtet werden. Im fünfzehnten Buch stellt er den Werdegang der beiden civitates von Kain und Abel bis zur Sintflut dar. Bevorzugte Quelle seiner Darstellung ist die Bibel. Aber anders als Orosius ist Augustin kaum an dem aufeinanderfolgenden historischen Geschehen interessiert. Ihm geht es vielmehr darum, biblische Einzelereignisse beispielhaft herauszugreifen und theologisch im Sinne seiner civitas-Einteilung zu deuten. Nicht die Aufeinanderfolge von Reichen interessiert den Afrikaner vorrangig, sondern der typische Schicksalsweg der bei den civitates. Neben breiten Ausführungen über typologische Vorbilder (XV 2-5,18,26-27), geht Augustin auf die Frage nach Textunterschieden bei den biblischen Handschriften ein (XV 10,13), auf die besonders hohen biblischen Altersangaben (XV 10-14), und auf Stammbaum- und Auslegungsfragen (XV 15-17,20-24). Kain ist Stammvater der irdischen civitas, Seth der himmlischen. Die Vermischung der beiden civitates durch den Fall der Gottessöhne (Gen 6) wird zum Grund für die Sintflut (XV 22-23). Im sechzehnten Buch, in dem Augustin die Geschehnisse von Noah bis Abraham und von Abraham bis David skizziert, verfährt er nach gleichem Muster. Typologische Deutungen auf Christus und die Kirche (XVI 2,24,34,35,37,42) wechseln mit Abschnitten über Auslegungsfragen (XVI 27) und grundsätzlichen Überlegungen, z. B. wie Gott zu den Engeln spricht, woher die Tiere auffernen Inseln kommen oder ob es Antipoden gibt (XVI 5 - 9,ll). Der rote Faden zwischen solchen Einzelüberlegungen ist aber sein Bemühen, den weiteren Weg der beiden civitates nachzuzeichnen. Für die Zeit von Noah bis Abraham konstatiert Augustin das Fehlen zuverlässiger Informationen über die civitas Dei: 89 C. Andresen, AureJius Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei), 11, Einleitung,

S. XXIV.

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"Ob nach der Sündflut noch Spuren des sich weiter entwickelnden Staates sich erhielten, oder ob sie durch Einbruch von Zeiten der Gottlosigkeit dennaßen sich verloren, daß kein menschlicher Verehrer des wahren Gottes übrigblieb, ist aus den Angaben der Schrift schwer mit Klarheit zu ermitteln. ,,90

Der Gang der Ereignisse wird vornehmlich anhand der Schrift rekonstruiert, wie die Gründung der ersten Stadtkulturen durch Nimrod und der Turmbau zu Babyion mit anschließender Sprachverwirrung (XVI 3 - 5). Erst "mit jenem hochmütigen Unterfangen des himmelhohen Turmbaus, dem Sinnbild gottloser Überhebung" sieht Augustin die civitas terrena offen zutage treten. Für die Zeit vorher lassen sich beide civitates nicht ermitteln. Nach der Strafe der Sprachverwirrung bleibt der von Sem abstammende Heber als Urvater der Hebräer in der Erwählungslinie und wird damit zum Stammvater der mit Abraham neu begründeten civitas Dei. Die Kontinuität dieser civitas sieht Augustin darin gewahrt, daß Heber als einziger die ursprüngliche Einheitssprache beibehält, die dann nach ihm benannt wird: Hebräisch. 91 Mit Abraham beginnt ein neuer Zeitabschnitt, in dem sich die civitas Dei durch Gottes Verheißungen wieder deutlicher zeigt. Neben einer umfangreichen typologischen Deutung der Abraham- und Jacob-Geschichten auf das Evangelium hin, bemüht sich Augustin nun auch um eine nähere Synchronisation mit den zeitgleichen Weltreichen (XVI 17). Drei Weltreiche nennt er für Abrahams Zeit: die Ägypter in Afrika, die Assyrer, die in Asien unter Ninus zum mächtigsten Weltreich aufgestiegen wären, und die Sikyonier, Bewohner des gleichnamigen Stadtstaates am Golf von Korinth in Europa. Abraham wurde im 43. Regierungsjahr des Ninus geboren, "ungefahr im zwölfhundertsten Jahre vor der Gründung Roms".92 Anhand der Sem-Genealogie in der Bibel (Gen 11) ermittelt Augustin für die Zeit von der Sintflut bis Abraham 1270 Jahre. 93 Die Zeit Moses und des israelischen Aufenthalts in Ägypten streift er nur, indem er die Ereignisse wieder auf Christus hin deutet (XVI 43). Da es dem Bischof vor allem darum geht, den Jacob-Segen und die Verheißungslinie der civitas Dei über Abraham-Isaak-Jacob-Juda auf Christus aufzuzeigen (XVI 40-41), werden die Landeinnahme unter Josua, die Richterzeit und die frühe Königszeit unter Saul und David lediglich erwähnt. Historisches interessiert nicht weiter. Augustin begnügt sich mit dem Hinweis, daß mit David "gewissermaßen das Mannesalter des Gottesvolkes" beginne, während sein Jünglingsalter Oe civ. XVI I (S. 278). Oe civ. XVI 11 (S. 300- 304). 92 Oe civ. XVI 17 (S. 312/313). Augustin entnahm die Aufzählung und zeitliche Einordnung der Chronik des Hieronymus (GCS 47). 93 Oe civ. XVI 10 (S. 299). Augustin zählt nach der Textausgabe der Septuaginta, ist sich aber durchaus der Problematik der widersprechenden Jahresangaben zu den masoretischen Textüberlieferungen bewußt (vgl. Oe civ. XV 10-13, wo er sich ausführlich zu diesem Problem äußert). 90 91

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von Abraham bis David währte, sein Knabenalter von Noah bis Abraham und seine Kindheit von der Schöpfung bis zur Sintflut. 94 Im siebzehnten Buch behandelt er den Zeitraum VOn David bis zur Babylonischen Gefangenschaft. Diesen sieht er vor allem als Zeitalter der Propheten, deren Prophezeihungen ausgiebig auf Israel, noch mehr jedoch auf Christus und die Kirche ausgedeutet werden. Kapitelweise legt Augustin auch die Psalmen und Salomos Schriften in diesem Sinne aus (XVII 9 - 20). Die Teilung Israels deutet er zum einen ganz im alttestamentlichen Sinne als Strafe Gottes,. die sich trotz Prophetenmahnung durch die zunehmende Gottlosigkeit bis zur Zerschlagung und Wegführung nach BabyIon steigert (XVII 21-23), zum anderen aber auch wieder als typologischen Hinweis auf die Trennung von Juden und Christen (XVII 7). Den Kern VOn Augustins Geschichtssicht bildet zweifellos das achtzehnte Buch. Hier zeichnet er das Nebeneinander von Weltstaat und Gottesstaat, VOn civitas terrena und civitas Dei, für die Zeit VOn Abraham bis Christus und bis in seine Gegenwart nach. Hier widmet er sich nun ausgiebig der Synchronisation von biblischer und außerbiblischer Geschichte, geht Fragen der Entstehung heidnischer Religionen nach und bezieht erstmals außerbiblische Geschichte in nennenswertem Umfang mit ein. Freilich sind es wieder die Weissagungen auf Christus hin, die der afrikanische Bischof in besonderer Weise aufgreift, seien sie VOn heidnischer Seite (XVIII 23) oder VOn Seiten israelischer Propheten (XVIII 27 - 37) und älterer nichtkanonischer Weissagungen (XVIII 37 - 38). Wie die Apologeten verteidigt er die biblischen Texte als älter und stimmiger als das angeblich hohe Alter der Ägypter und die sich widersprechenden Philosophien der Griechen (XVIII 39-41). Er geht noch einmal auf die unterschiedlichen Textvarianten VOn Septuaginta und masoretischen Texten ein (XVIII 42-44) und behandelt dann die jüdische Geschichte von der Heimkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft bis Christus, sowie sie betreffende Fragen im Hinblick auf das Evangelium (XVIII 45 -48). Schließlich widmet er sich in sechs Kapiteln der Zeit der Kirche, den Verfolgungen und Häresien (XVIII 49-54). Ausdrücklich wendet er sich sowohl gegen christliche Endzeitberechnungen als auch heidnische Weissagungen zum angeblichen Ende der christlichen Religion. Insgesamt wird die nachchristliche Geschichte VOn ihm eher angedeutet als dargestellt. Politische Geschehnisse und historische Entwicklungen außerhalb der Gemeinde fehlen ganz .. Der providentielle Verlauf, den Augustin der Geschichte zumißt, orientiert sich nicht an der Daniel'schen Vision von den vier Reichen, sondern an einer Einteilung in sechs Weltalter (aetates) analog zu den Schöpfungstagen. Diese vergleicht er in Anlehnung an antike Tradition mit den sechs Lebensaltern des einzelnen Menschen (infantia, pueritia, adolescentia, juventus, gravitas, senectus). Überhaupt lehnt sich der Kirchenvater gern an griechisch-antikes Denken an, soweit es biblischen Aussagen nicht widerspricht. So ist nicht zu übersehen, daß seine 94

De civ. XVI 43 (S. 354).

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Geschichtsauffassung neuplatonische Züge enthält. 95 Die neuplatonisch-ontologische Auffassung einer Trennung alles Seienden in ein Veränderliches und Unveränderliches, wobei das Veränderliche vom Unveränderlichen abhängig ist, zieht sich auch durch Augustins Geschichtstheologie: dem unveränderlichen Gott steht der veränderliche Mensch gegenüber, dem unveränderlichen Geschichtsplan des Höchsten der veränderliche Bestand menschlichen Tuns und menschlicher Reiche, der unveränderlichen Ewigkeit in Gott die veränderliche Zeit in der Schöpfung. Es ist also nicht ganz zutreffend, Augustin als historisch denkenden Theologen zu sehen. Vielmehr versteht er seine Geschichtstheologie immer von der Ewigkeit her. Schon der Beginn der civitas Dei geschieht bei ihm ja nicht in der Zeit, sondern in gewissem Sinne bereits mit der Erschaffung der Engel im Ewigkeitsraum. 96 Nach dem Sündenfall formen sich civitas Dei und civitas terrena unter den besonderen Bedingungen der Zeit heraus. Über das Wesen der Zeit als geschaffene Größe (im Unterschied zur antiken heidnischen Zeitvorstellung) machte sich Augustin tiefsinnige Gedanken. 97 Sein Geschichtsverständnis entspringt seinem Zeitverständnis und jenes entwickelte er in neuplatonischer Abgrenzung von Zeit zu Ewigkeit, von Veränderlichem zu Unveränderlichem. Immer wieder setzte er sich mit dem biblischen Schöpfungsbericht auseinander, um dem Zeitproblem auf den Grund zu kommen. 98 Für Augustin wurde die geschaffene Welt von Gott in die Ordnung der Zeit gestellt, um eine Rückkehr der durch die Sünde Gefallenen zu Gott zu ermöglichen. Der von Ewigkeit her gefaßte Heilsplan trug von Anfang an bereits dem Sündenfall und dem Erlösungswerk Rechnung und mußte sich daher in einer zeitlichen Entfaltung verwirklichen. 99 Diesem positiven Heilszweckder Zeit korrespondiert bei Augustin aber auch eine negative Wirkung, die die Zeit für den Menschen haben kann und hat. In ihr geschieht der Abfall von Gott. Die Wirkungsgeschichte dieses Abfalls macht ganz wesentlich die Geschichte der Menschheit aus. Der gefallene Mensch 9S In den Confessiones gab Augustin unumwunden zu, wieviel er bei seiner Abwendung vom Manichäismus und seiner Annäherung an das Christentum der damals weitverbreiteten neuplatonischen Philosophie verdankte (Confessiones 7,26). Noch in seinen Spätschriften nannte er den Neuplatonismus "philosophia nostra christiana" und "vera" (Contra Julianum 4,72). Zum Verhältnis von Augustins Geschichtstheologie zum Platonismus vgl. Alois Wachtel, Geschichtstheologie des Aure1ius Augustinus, Bonn 1960. 96 De civ. XI 9. 97 In Anknüpfung an seine These vom Erschaffensein der Zeit (es ist dem Afrikaner unmöglich, sich eine Zeit ,vor' der Schöpfung dessen, was sich bewegt und verändert, vorzustellen -Oe civ. XI 5 -6) - bringt Augustin weitere Wesensmerkmale der wahren Zeitauffassung zur Sprache. die er scharf gegenüber dem zyklischen Zeitbegriff der heidnischen Philosophen kontrastiert. Vgl. Oe civ. XII 14, 18 und 21. 98 Zur Zeitproblematik bei Augustin siehe bes. E. A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin, Heidelberg 1985. Zu Augustins Ewigkeits-Begriff vgl. den Artikel "Aeternitas" von G. J. P. O'Daly, in: Augustinus-Lexikon. hrsg. von Cornelius Mayer, Base1-Stuttgart 1986, Sp. 159-164. 99 Oe civ. XII 15-17; Confessiones 10,29-43.

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soll seine historische Existenz als Verlust einer vor dem Sündenfall zeitentbundenen Existenz erfahren und so als Strafe empfinden. 100 Zwar sah Augustin durchaus auch einzelne Fortschrittsmomente der menschlichen Zivilisation, so z. B. in der Kunst, im Bauhandwerk und der Medizin, bei der Herstellung von Kleidung, Kriegsmaschinen, Schiffen, oder der Anhäufung von Wissen,101 aber dennoch war ihm die menschliche Geschichte mehr noch eine Kette schuldhafter Verstrickungen und Katastrophen. Historisches Dasein nach Christus hat seinen Wert allein darin, als es mithilft, Reich Gottes zu verwirklichen. Dasselbe gilt für menschliche Kulturen und Zivilisationsformen, denen Augustin darüberhinaus keinen Wert zumißt. Auch Christi Heilstat interpretiert er ganz nach diesem Zeitverständnis: ,,Mensch geworden ist Christus in der Zeit, durch den die Zeiten erschaffen wurden,,102

Und als solcher "Gott vor den Zeiten und Mensch in der Zeit" ist es sein Ziel, die "der Zeit verfallenen" Menschen wieder "von der Zeit zu befreien": "Denn nur von der Zeit befreit vermögen wir in jene Ewigkeit zu gelangen, wo es keine Zeit mehr gibt". 103

Die Zeit der Menschwerdung Christi ist daher in doppeltem Sinne "Fülle der Zeiten": Sie brachte das Ende des alten Äons und den Anbruch einer neuen Heilszeit, die für den vom Heil ErfaBten kein Ende hat und in die Ewigkeit hineinreicht. Der starke Ewigkeitsbezug und das daraus entspringende Zeitverständnis prägen Augustins Geschichtstheologie grundlegend. Alois Wachtel beschrieb diese Zeitauffassung, in der Kosmos und Geschichte als Einheit gesehen werden, treffend: "Das Entstehen des Kosmos ist der Beginn der Geschichte, die sich als einmaliger, zielgerichteter Vorgang vollzieht in einer ihr zugemessenen Zeitdauer. Am Ende der Bewegung erfüllt sich das Endziel: der erneuerte Kosmos wird in eine keinem Wandel und keiner Veränderung mehr unterworfene Seinsweise übergeführt. Die Wiedergewinnung des zeitenthobenen und daher leidlosen Lebens bewirkt der Gründer der Zeit bereits in der Zeit, indem er durch seine Menschwerdung und seinen Tod die Todeszeit überwindet, in welcher die Menschheit seit dem Sündenfall steht". 104

Die verbleibende Erdenzeit mit ihrer Geschichte dient letztlich dazu, die ursprünglich festgesetzte Zahl der erwählten Mitglieder der civitas Dei (certus 100 Vgl. dazu die Predigt Sermo 270,3, in: Augustinus, Sermones ad populum (PL 38/39). ,,Dies mali sunt - die Tage sind böse" - so lautet der Tenor vieler seiner Predigten (z. B. Sermo 16,2; 167,2, in: Augustinus, Sermones ad populum, PL 38/39). 101 De civ. XXII 24 (S. 811-812). 102 Augustinus, In Johannis Evangelium tractatus, hrsg. von D. R. Willems, CC 36 (1954), 23,12. 103 Augustinus, In Johannis Evangelium tractatus 31,5; Sermo Guelferbitanus 32,5, in: Augustinus, Sermones ad populum; Enarrationes in Psalmos, hrsg. von E. Dekkers u. J. Fraipont, in: CC 38-40 (1956),101,10. 104 Wachtel, S. 46 f.

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numerus praedestinatorum) in zeitlicher Erstreckung vollzumachen. Hier hängt auch Augustins Lehre von der Prädestination mit seinem Zeitverständnis zusammen. 105 Es liegt auf der Hand, daß sich daraus Schwierigkeiten für die eschatologischen Momente seiner Geschichtstheologie ergeben mußten. Zum einen steht der von Augustin gegen Pelagius vertretene Gedanke der fehlenden Willensfreiheit sowie einer festgesetzten Zahl von Erwählten in einem gewissen Widerspruch zu der von der Bibel beschriebenen Entscheidungssituation der Endzeit; zum anderen mußte es für den afrikanischen Bischof überhaupt schwer werden, die Entstehung des Bösen zu erklären, wenn eine echte Entscheidungsmöglichkeit doch nicht vorliegt (Theodizee-Problem). In beiden Fällen bemühte sich Augustin um Schriftgemäßheit. Und doch fallen seine eschatologischen Aussagen sehr zurückhaltend aus. Er hält an dem biblisch vorgegebenen ,Engels fall ' fest, stellt aber an manchen Stellen seiner Schriften das Böse als bloße Abwesenheit des Guten dar, so wie Finsternis nur die Abwesenheit von Licht ist. Er hält an der Wiederkunft Christi in der Zeit fest, lehnt aber jegliche Endzeitspekulationen oder -berechnungen ab, ja fast scheint es, als würde er am liebsten gar nicht darauf eingehen wollen. 106 Urchristlicher Apokalyptik und chiliastischen Erwartungen steht er fremd gegenüber. 107 Auch Andeutungen auf ein mögliches baldiges Erscheinen Christi finden wir bei ihm nicht, sieht man von der wagen zeitlichen Standortbestimmung von "noch nicht ganz sechstausend Jahren" einmal ab, die Augustin nach dem Schriftzeugnis für das Alter der Menschheit angibt. 108 Ebenso lehnte der afrikanische Bischof die traditionelle Auffassung von Rom als dem vierten Reich der Prophezeihung Daniels ab,I09 weil er jeder historisierenden Eschatologie skeptisch gegenüberstand - eine Haltung, die sich in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung nicht durchsetzen konnte, wie noch zu sehen sein wird.

105 Ausführlicher dazu: A. Zumkeller; Augustinus über die Zahl der Guten bzw. der Auserwählten, in: Augustinianum 10 (1970), S. 421-457. 106 Vgl.dazuDeciv.XXI3,18-l9,23. 107 Zum Verhältnis von Augustin zum Chiliasmus siehe vor allem: Nigg, Das ewige Reich, S. 116ff. sowie E. Lewalter; Eschatologie und Weltgeschichte bei Augustin, in: ZKG 53 (1934) und Taubes. Für Augustin hat das Tausendjährige Reich (Offb 20) bereits mit der Zeit der Kirche begonnen (De civ. XX, 9). 108 De civ. XII 1I (S. 75). Augustin verwendet diese Angabe gegen "gewisse verlogene Schriften" - insbesondere zur ägyptischen Geschichte -, die "von einer vieltausendjährigen Geschichte wissen wollen" und folgt auch hierin wieder der Chronologie des Hieronymus, nach der von der Schöpfung bis zur Einnahme Roms durch die Westgoten 5611 Jahre vergangen sind (vgl. De civ. XII 13). 109 De civ. XX 23. Augustin verweist hinsichtlich der Auslegung der vier Daniel'schen Reiche auf Hieronymus, beläßt es aber ansonsten bei ihrer Erwähnung.

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Teil II: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

aa) Zusammenfassung

Die Geschichtstheologie Augustins ist deutlich ewigkeitsorientiert. 110 Die Historie wird behandelt, um an exemplarischen Beispielen grob den Weg der bei den civitates in der ihnen verordneten Zeit aufzuzeigen. Diese sechs Zeiten oder Weltalter entsprechen den sechs Tagen der Schöpfung und zugleich den sechs Stadien des Menschenalters: Die erste reicht von Adam bis zur Sintflut, die zweite von Noah bis Abraham, die dritte bis David, die vierte bis zur Babylonischen Gefangenschaft, die fünfte bis zur Geburt Christi und die sechste und letzte Epoche erstreckt sich bis zu Christi Wiederkunft am Ende der Welt. "Von den Weltaltern ausführlich im einzelnen zu handeln wäre zu umständlich", schreibt er im letzten Kapitel des 22. Buches." 1 Es geht ihm auch nicht um eine Geschichtsdarstellung, sondern um das Aufzeigen der transzendenten Grundlagen, der Ursache und des Zieles in der Ewigkeit sowie deren zeitlicher Ausprägungen, den civitates, im begrenzten Raum der Geschichte. Den irdischen Lebensweg - des Einzelnen wie der Menschheit insgesamt - deutet er als Pilgerschaft auf ein geschichtstranszendentes Ziel hin. Um dieses Letztere geht es ihm vornehmlich. Da in der Zeit alles dem Wandel unterworfen ist, hat die profane Geschichte für den Glauben keine unmittelbare Bedeutung. Am zentralen Offenbarungsgeschehen, dem Mysterium der Fleischwerdung Gottes, kann Geschichte nichts ändern. Eine historische Darstellung des Christentums ist deshalb auch nicht sein Anliegen, ein echtes Interesse am realen Verlauf des Geschehens oder an einer Gesetzmäßigkeit bzw. providentiellen Durchschaubarkeit historischer Prozesse nicht spürbar. Die Weltgeschichte an sich ist für Augustin nur "Vorbereitungsphase, Wartezustand, Zwischenstadium"ll2 und ihr Verlauf - zumindest für die Zeit nach Christus - nicht weiter zielgerichtet. Zwar enthält seine Geschichtstheologie durchaus die Kategorien, die echte christliche Geschichtsschau ausmachen, aber sie sind eher nur rudimentär vorhanden. Er übernimmt den universalgeschichtlichen Gesamtrahmen des urgeschichtlichen Beginns und faßt diesen auch vom Paradies an als historisch auf,ll3 aber ihm liegt nicht an seinem weiteren Verlauf und er achtet nicht auf die Zusammenhänge darin; er rechnet mit einem historischen Ende der Geschichte, dem das Erscheinen des Antichristen vorausgehen wird, aber er sucht nicht nach Linien in der Geschichte, die auf das Ende hinweisen, sondern warnt lediglich vor Endberechnungen; 114 er bezieht viele Ereignisse der alttestamentlichen Geschichte zeichenhaft auf Christus, ohne dem nachchristlichen profanen Geschehen irgendeine weitere Bedeutung zuzumessen, wie das 110 So auch Comelius Mayer; "Die Zeiten alle hast du gewirkt". Zur Geschichtstheologie Augustins, in: Zeitwende 60, Heft 4 (Oktober 1989), S. 205. 111 De civ. XXII 30 (S. 835). 112 Emil Angehm, ,Geschichtstheologie und -philosophie bei Augustinus', in: Ders.: Geschichtsphilosophie, Stuttgart-Berlin-Köln 1991, S. 55. 113 De civ. XIII 21 (S. 139). 114 De civ. XVIII 49-54 (S. 502-516).

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Euseb und Orosius z. B. mit dem Zusammentreffen von Inkarnation und Römischen Reich und der Entstehung des imperium christianum taten. Typologisch ist alles auf Christus hin vorgezeichnet, aber eine weltgeschichtliche Evidenz für die nachchristliche Zeit beinhaltet seine Christozentrik nicht. Augustin als den Begründer christlicher Geschichtsphilosophie zu nennen, ist nur mit Einschränkungen gerechtfertigt. Zweifellos deutet er die Geschichte konsequent als Aktionsterrain von civitas Dei und civitas terrena. Aber gerade diese beiden Einteilungen haben zu sehr Ewigkeits- und Transzendenzbezug, als daß sie die einzigen Kategorien für eine der Geschichte gerecht werdende Deutung sein könnten. Vielmehr beinhalten sie eine Abwertung der säkularen Welt und behindern eher die Betrachtung historischer Geschehnisse und Entwicklungen. Augustins Geschichtstheologie als "Vorbild jeder Geschichtsauffassung, die christlich genannt werden kann" zu bezeichnen,1I5 geht deshalb fehl, da damit der christlichen Geschichtsauffassung das Interesse an der Geschichte abgesprochen und sie zu einer ,Zeitauffassung' reduziert wird.

2. Das Mittelalter: Christliche Geschichtsschreibung als Chronographie Seit dem 5. Jahrhundert bildeten germanische Völker in den ehemaligen römischen Provinzen eigene Reiche. In deren Folge entstanden eine Reihe von Geschichtswerken, die vornehmlich die Historie des einzelnen Volkes oder Stammes, sowie deren Herkunft und Reichsbildung im Auge hatten. 116 Zwar bemühten sich einige dieser Arbeiten, die Genealogie des jeweiligen Stammes in Beziehung zur antiken Überlieferung oder zur biblischen Völkertafel zu setzen und die jeweilige Stammesgeschichte in einen heils- und weltgeschichtlichen Rahmen einzubetten, aber es blieben doch Volksgeschichten mit Schwerpunkt auf dem Zeitgeschehen des unmittelbaren Lebensraumes. Eine größere, die Weltgeschichte deutende Perspektive fehlt, wenn auch ein gewisses universalhistorisches Anliegen festzustellen ist. 117 Dieses fand sich im Mittelalter ansatzweise in Viten und Liedern (z. B. das Anno-Lied), kam aber am stärksten in den Weltchroniken zum Ausdruck. 1l8 WähSo Löwith, S. 153. So z. B. die Ostgoten-Chronik ,Historia Getica' des Cassiodor (um 490-583), die ,Historia Gotorum, Vandalorum et Sueborum' des westgotischen Erzbischofs Isidor von Sevilla (um 560-636), die ,Historia ecclesiastica gentis Anglorum' des Angelsachsen Beda Venerabilis (um 673 -735) oder die ,Historia Langobadorum' des Langobarden Paul Warnefried (= Paulus Diaconus, um 720-797). 117 Hier sind vor allem die ,Historiarum libri X' des Bischofs Gregor von Tours (538594) und die sogenannte ,Fredegarchronik' (um 620/630) von fränkischer Seite zu nennen. A.-D. v. den Brincken nennt darüberhinaus noch die ,Historia Brittonum', die im 9. Jahrhundert von Nemnius überarbeitet wurde (vgl. Studien, S. 95 -102). 118 Wie maßgeblich die Berechnungen des christlichen Oster-Termins für die mittelalterliche Annalistik und Chronologie und damit auch für die Weltchronik waren (schon Hippolyt 115 116

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rend sich Augustins Einteilungsschema der Weltalter (aetates) seit Isidor von Sevilla (ca. 565 - 636) durchzusetzen begann, blieb sein geschichtstheologischer Aufriß der zwei civitates für die Universalgeschichtsschreibung zunächst ohne Wiederhall. Bestimmend waren vielmehr die Chronik des Euseb in ihrer Fortführung durch Hieronymus und die Chronik des OrosiUS. 119 Dementsprechend blieb für das Geschichtsbild des frühen Mittelalters zunächst die Stellung zum Römischen Reich entscheidend. Dies nicht zuletzt deswegen, weil sich die Sicht einer Abfolge von Reichen nach der Daniel'schen Vier-ReicheVision durchsetzte, selbst dort, wo sie nicht das Einteilungsschema für den historischen Stoff bestimmte. 120 Auch wenn sich der Chronist lieber für eine Einteilung in sechs Jahrtausende bzw. Weltalter entschied, blieb das politische Szenario eines noch bestehenden vierten (römischen) Reiches tief empfundene Wirklichkeit. Allerdings hatte sich diese Vier-Reiche-Auffassung bereits von der ursprünglichen apokalyptischen Naherwartung losgekoppelt. Auch ging der lateinische Westen einen anderen Weg bei der Deutung der ,Monarchienlehre' als der byzantinische Osten. In Ostrom blieb die eusebische Reichstheologie bestimmend. Ein Beispiel dafür ist die 551/52 verfaßte Chronik "Romana" des gotischen Adligen Jordanes. 121 Unbedenklich wurde von ihm das Römische Imperium als letztes der vier Reiche übernommen, ohne in Erwägung zu ziehen, daß es bald zu Ende gehen könnte. Vermutlich in Byzanz geschrieben,122 ist die Romana frei von Gegenwartspessimismus und Endzeitbewußtsein. Die Zukunft wird hier in der Integration der Goten ins weiter bestehende Römische Reich gesehen, das für Jordanes - anders als bei Orosius und Augustin - noch keineswegs aufs Ende zugeht. Sein Zentrum liegt im Osten, der Westen wird aber weiter als zugehörig gedacht. Die große Erschütterung des fünften Jahrhunderts über den Untergang Roms ist längst verflogen. Der Ostgotenkönig Theoderich galt Jordanes als römisch-byzantiund Hilarian verfaßten neben ihren Chroniken Abhandlungen zur Berechnung des Oster-Termins), soll hier nicht weiter vertieft werden. Fest steht, daß sich nahezu alle mittelalterlichen Chronisten damit beschäftigten. Näheres dazu bei: Hans Maier (Die christliche Zeitrechnung, Freiburg 1991) u. Bruno Krusch (Studien zur christlich-mittelalterlichen Chronologie. Die Entstehung unserer heutigen Zeitrechnung, Berlin 1938). 119 In der byzantinischen Chronistik ist darüberhinaus durch das ganze Mittelalter hindurch ein Festhalten an dem Inkarnationsjahr 5500 der Chronik des Africanus festzustellen. Vgl. dazu A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 89, sowie Podskalsky. 120 Und zwar in der Auslegung des Hippolyt, nach dem das vierte Reich mit dem Römischen zu identifizieren ist. Entscheidend für den Durchbruch war dazu wohl Hieronymus' Danielkommentar, wenn sich auch dessen Reichsabfolge (BabyIon, Makedonien, Afrika, Rom) wie seine skeptische Haltung zum Römischen Reich, verbunden mit der Erwartung eines baldigen Endes nicht durchsetzen konnte (Hieronymus, Daniel-Kommentar, in: PL 25, co!. 491 ff. (1884). 121 Jordanes, Romana (eigentlich: ,Oe summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum '), hrsg. und eingeleitet von Theodor Mommsen, in: MGHS AA 5/1 (1882), S. 1 - 52. Zu Jordanes vg!. A. -D. v. den Brincken, Studien, S. 88 f. 122 Dazu Haeusler, S. 22 (Fußn. 114).

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ni scher Untertan. 123 Überhaupt wurde der Gote nicht müde, die römische Perspektive einzunehmen und die römischen Siege gegen die germanischen Völker aufzuzählen. Der eigentlich römischen Geschichte stellte er einen universalen Rahmen bis zur Zeitenwende voran. Obwohl Jordanes von Africanus das Weltjahr 5500 als Geburtsjahr Christi übernahm, verband er mit dieser Jahreszahl keinerlei chiliastische Erwartungen - ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr sich Endberechnungen, wonach die Weltzeit 6000 Jahre dauert, im sechsten Jahrhundert schon selbst erledigt hatten. 124 Im lateinischen Westen, der sich chronologisch stärker an die Zeitangaben nach Hieronymus hielt, wurde die Vollendung des sechsten Jahrtausends erst um 800 erwartet. Aber die Ent-Eschatologisierung hatte auch hier eingesetzt. Als der Bischof von Sevilla Isidor (ca. 565-636) seine ,Chronica maiora' (615) schrieb, die er später in gekürzter Fassung (,Chronica minora', 627) seiner Wissenssammlung ,Etymologiae' einverleibte,125 erwähnte er die von Hieronymus festgelegte Weltdauer nicht einmal mehr, obwohl er sich bei seinen chronologischen Angaben weitgehend auf ihn bezog. Als erster verwendete Isidor die Sechs-Weltalterlehre Augustins mit ihrer an der Bibel orientierten heilsgeschichtlichen Unterteilung. Anders als die Gliederung der Geschichte in sechs Jahrtausende ist ihr zeitlicher Rahmen nach hinten offen. Fest steht lediglich, daß seit Christus das sechste Zeitalter angebrochen ist, aber dessen Ende läßt sich nicht berechnen. 126 Mit Isidor hielt die augustinische Weltalterlehre (aetates) in die Weltchronistik Einzug und blieb das ganze Mittelalter hindurch bestimmend. Und dennoch konnte sie die Einteilung der Weltgeschichte nach den vier Reichen (regna) der Daniel'schen Monarchienlehre nicht völlig verdrängen. Wahrend die Unterteilung nach den aetates mehr den zeitlichen Ablauf und die heilsgeschichtliche Ordnung im Blick hatte, war die Monarchienlehre mehr räumlich-geographisch bestimmt und zielte auf eine stärker politische Auslegung der Weltgeschichte. Dabei wurde gerade auch die Profanhistorie mehr berücksichtigt. In der Regel sind die regna daher in den weltgeschichtlichen Darstellungen zu finden, die auch geschichtsphilosophische Fragen berühren (Sulpicius, Orosius, Otto von Freising), wohingegen die reinen Chronographien ihren historischen Stoff eher nach den aetates einteilen. In einigen wenigen Fällen versuchten die Chronisten, beide Einteilungen miteinander zu verbinden. 127 Jordanes, Romana, MGHS AA 5/1, S. 45. Vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 89. 125 Isidor von Sevilla, Chronica maiora et minora, hrsg. und eingeleitet von Theodor Mommsen, in: MGHS AA 11, 1894 (195\), S. 394-488; Isidor; Etymologiae, hrsg. von W. M. Lindsay, 2 Bde, Oxford 1911. Zu Isidor: TRE 16 (1987), S. 310-315; Amo Borst, Das 123

124

Bild der Geschichte in der Enzyklopädie Isidors von Sevillas, in: DA 22 (1966), S. 1-62;

Hans-Joachim Diesner; Isidor von Sevilla und seine Zeit, Stuttgart 1973. 126 Isidor; Chronica maiora 418 (MGHS AA 11, S. 48\).

127 So die Chroniken von Bemold, Frutolf, Hugo von Fleury, Honorius und besonders die Chronik Otto von Freisings.

6 Schwaiger

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Isidor selbst erwähnte die vier Weltreiche bei der Gliederung der vorchristlichen Profangeschichte, ohne aber dabei auf Daniel Bezug zu nehmen. Die Gesamteinteilung der Weltgeschichte blieb den heilsgeschichtlich orientierten aetates vorbehalten. Von daher hatte er auch weniger Interesse an außerbiblischer Synchronistik als noch Euseb und Hieronymus. Er hielt sich vornehmlich an den biblischen Bericht über die Urzeit, die Sukzessionen der Patriarchen, Richter und Könige Israels und daran anschließend an die Perserkönige, Makedonen, Diadochen und römischen Kaiser. Da Isidor zu jedem Regierungsende eines Herrschers das Weltjahr angab, bietet sein Werk eine nahezu lückenlose Chronik. Danach falJt Christi Geburt in das Jahr 5196, seine Passion in das Jahr 5228 und die Entstehung der Chronica maiora (615) in das Weltenjahr 5813. 128 In das chronologische Herrschergerüst sind die einzelnen Ereignisse eingefügt. Der nachchristlichen Zeit räumt sie beinahe ebensoviel Raum ein, wie der vorchristlichen. Schon daran läßt sich die Abkehr vom apokalyptischen Geschichtsbild ablesen. Auch von einem Untergang des Römichen Reiches weiß Isidor nichts zu berichten. Den GermaneneinfälJen mißt er keine besondere Bedeutung bei, die Kaiser von Byzanz führen als römische Kaiser sein chronologisches Herrschergerüst weiter. 129 Dennoch ist unverkennbar, daß Isidor die eusebische Reichstheologie fremd war. Seine nachchristliche Historie hält sich stärker an die augustinische Trennung von Imperium Christi und Imperium Romanum. 130 Isidors Chronik weicht im Grundzug nicht wesentlich von seinen Vorbildern ab. Nur war der Spanier noch mehr der Sammler und Bewahrer antiker Überlieferungen und somit ein typischer Vertreter der kommenden mittelalterlichen Gelehrsamkeit. Als letzter hatte er noch einigermaßen Zugang zu den antiken QuelJen, obwohl er griechische Autoren schon nicht mehr heranzog. 131 Seine Nachfolger stützten sich mehr und mehr auf die Vorarbeiten ihrer Vorgänger und verzichteten auf älteres QuelJenmaterial. Die von Isidor eingeschlagene augustinische aetatesUnterteilung, die Beda Venerabilis fortsetzte und ausbaute, blieb von nun an für die mittelalterliche Weltchronistik bestimmend. 132 Da die Monarchienlehre im Westen bis ins 11. Jahrhundert fast völlig in den Hintergrund trat, ging die Weltlsidor, Chronica maiora 417 (MGHS AA 11, S. 480). Heinz Löwe weist darauf hin, daß Isidor in seiner Schrift ,Contra Judaeos' das römische Weltreich als letztes Weltgeschichtsreich bereits mit Christi Geburt zu Ende gehen läßt. Damit würde Isidor Primasius, Ambrosius, Autpertus und Julian von Toledo folgen, bei denen das Ende des vierten Weltreiches mit dem Beginn der christlichen Ära zusammenfällt (vgl. Borst, S. 43). Heim Löwe, Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen. Das Werden des Abendlandes im Geschichtsbild des frühen Mittelalters, in: DA (1952), S. 364. 130 So auch Löwe (Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen, S. 361, 364f., 368 f.) und Borst, S. 27, 46f. 13I Zu Isidors Quellen: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 93-94; Hugo Hertzberg, Die Chroniken Isidors von Sevilla, FOG, S. 330ff.; Theodor Mommsen, Einleitung zu lsidor, Chronica maiora et minora, S. 394 f. 132 Während das Geschichtswerk Bedas fast jedem mittelalterlichen Chronisten vorlag, blieb Isidors Chronik lediglich in Spanien bestimmend. 128

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chronistik hier einen anderen Weg als im byzantinischen Osten. Sie war nun stärker heils geschichtlich orientiert und vernachlässigte eine geschichtsphilosophische Einbeziehung profaner Geschichte. Ins Zentrum der ,letzten Dinge' rückte mehr das Individuum, seine Lebensführung, sein Tod und sein Heil. Die zahlreichen mittelalterlichen Viten sind dafür ausdrucksstarkes Zeugnis. Die Geschichtsbetrachtung diente mehr dem Aufzeigen der Heilsgeschichte, die mit Christus ihrem Höhepunkt zusteuert und danach vor allem Beispiel-, Lehr- und Warnungsgeschichte für den einzelnen darstellt. Bezeichnend dafür ist Isidors Appell am Ende seiner Chronica maiora, jederzeit bereit zu sein, da für jeden einzelnen mit dem Tod das Ende der Welt da sei. 133 Größte Bedeutung für die mittelalterliche Weltgeschichtsschreibung hatten die Schriften und Chroniken des Angelsachsen Beda Venerabilis (ca. 672-735). Für mehr als drei Jahrhunderte genießt seine Universalgeschichte kanonisches Ansehen und verdrängt die Chroniken seiner Vorgänger weitgehend. In Anlehnung an Isidors Etymologiae verfaßte Beda erst ein kleines weltgeschichtliches Kompendium, ein Schulbuch, das er später ausbaute und wissenschaftlich und theologisch vertiefte. 134 Für seine Chronik übernahm er das aetates-Schema, das er bei Isidor vorfand und schob kleine wissenschaftliche Exkurse ein. Zwar beschäftigten ihn nicht so viele Wissensgebiete wie den Spanier, dafür ging Beda gründlicher vor. So untersuchte er eingehend die Frage der differierenden Jahreszahlen in der biblischen Urgeschichte durch die unterschiedlichen Übersetzungstexte. Als erster großer Weltchronist entschied er sich dann gegen die bisher ausnahmslos verwendete Chronologie auf der Basis der Übersetzung der Septuaginta und für die Jahresangaben der hebräischen Übersetzung, des sogenannten ,masoretischen Textes'. 135 Durch die anderen Jahreszahlen ergab sich gegenüber den bisherigen Chronologien eine deutliche zeitliche Verkürzung. Das erste Zeitalter bis zur Sintflut dauerte nun nur noch 1656 Jahre anstatt 2242 nach Hieronymus und die Zeit von der Sintflut bis Abraham betrug nur noch 292 statt 942 Jahre. Dadurch verschob sich das Jahr der Menschwerdung Christi von bisher 5500 (Africanus) oder 5196 (lsidor) in das Weltjahr 3952. Die Folgen dieser neuen chronologischen Grundlage waren erheblich. Der bisherigen Annahme eines sechstausendjährigen Geschichtsverlaufs Isidor; Chronica maiora 418, (MGHS AA 11, S. 481). Bedas ,Oe temporibus liber' (703) und ,Oe temporum ratione' (725/26) sind Lehrbücher über Fragen zur Zeit (in: CC 123, S. 264-544; Oder in: Bedae opera de temporibus, hrsg. von Charles Wiliam Jones, Cambridge, Mass., 1943, S. 295 ff., S. 173 ff.; Oder in: MGHS AA 13, hrsg. v. Th. Mommsen, 1898, S. 223ff.). Die beiden Weltchroniken (Chronica minora et maiora) sind nur Teile dieser Schriften (,Cronica minora' in ,Oe temporibus liber' und ,Chronika maiora' in ,Oe temporum ratione '). Zur Literaturlage zu Beda vgl. 1RE 5 (1980), S. 401/402. 135 Schon Augustin hatte Zweifel gegenüber den Jahresangaben der Septuaginta angemeldet und den hebräischen Text alternativ überdacht, ohne sich jedoch verbindlich flir einen Text zu entscheiden (Oe Civ. 15, 10, 13). Beda berief sich ausdrücklich auf ihn (Oe temporum ratione, MGHS AA 13, S. 252) und lehnte sich auch hinsichtlich der Weltalter und der Ablehnung des Chiliasmus stark an Augustin an. 133

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in Analogie zu den Schöpfungstagen wurde damit erstmal der Boden entzogen. Denn eine Wiederkunft Christi erst für das Jahr 2048 nach Christus anzunehmen, war dem Denken des Mittelalters völlig abträglich und ist auch von niemanden dahingehend interpretiert worden. Bedas chronologisches Gerüst basierte allein auf der Bibel in der Textübersetzung der "hebraica veritas". Zeitlichen Analogieschlüssen entzog er sich. 136 Auch die Monarchienlehre spielte bei ihm keine Rolle, was wegen Bedas großer Wirkung maßgeblich zu deren Verschwinden beitrug. Wie Isidor führte auch der Angelsachse die Herrscherreihe mit den byzantinischen Kaisern bis zu seiner eigenen Zeit weiter (die ,Chronica minora' bis ins 5. Jahr des Tiberios III., die ,Chronica maiora' bis ins 9. Jahr Leos III.). Auch für ihn bestand Rom im Byzantinischen Reich fort und auch er erwähnte den Untergang des weströmischen Kaisertums mit keinem Wort. Bedas größere Chronik (chronica maiora), die sich im 66. Kapitel seiner Schrift De temporum ratione befindet, lehnt sich - abgesehen von den Jahreszahlen weitgehend an seine Vorgänger Hieronymus und Isidor an. In den ersten vier aetates stehen die biblischen Ereignisse und die Heilsgeschichte im Vordergrund, Profangeschichtliches ist nebensächlich. Der nachchristlichen Zeit wird mehr Raum eingeräumt als der vorchristlichen, wobei auch hier die Kirchengeschichte, insbesondere dogmatische Fragen, ganz im Vordergrund steht. Anders als Isidor ließ Beda seiner Chronik noch eschatologische Betrachtungen über das Ende der Geschichte folgen, wie sie zuletzt bei Hilarian zu finden waren, - freilich mit dem Hinweis, daß der Zeitpunkt des Endes verborgen und Gott zu überlassen sei. 137 Dennoch nannte er Vorzeichen für dieses Ende und zählte dazu die Bekehrung der Juden durch die Predigt der beiden Zeugen Elias und Henoch (nach Offb 11,3) und das sich daran anschließende Wüten des Antichristen. \38 Die knappen Schilderungen des Antichristen, den Beda entgegen der Hieronymus'schen Tradition nicht als Juden bezeichnete,139 lehnen sich ansonsten ganz an die biblischen Textvorlagen an (vor allem Offb 11 u. 13).140 Die Nachwirkungen von Bedas Weltgeschichtsdarstellung für das Mittelalter lassen sich wie folgt benennen: 136 Seda erregte mit seiner Chronologie erheblichen Anstoß und mußte sich sogar gegen den Vorwurf der Häresie verteidigen (,Epistola ad Pleguinam', in: Sedae opera de temporibus, hrsg. von C. W. Jones, S. 305 ff.). 137 Beda, De temporum ratione 67ff., in: MGHS AA 13, S. 321 ff. Auch hier lehnt sich Beda bis in die Formulierung hinein wieder stark an Augustin an (vgl. Haeus[er, S. 27, Fußn. 21). 138 Beda, De temporum ratione 69, 600, in: CC 123, S. 538. Sehr entschieden am biblischen Text orientiert, spielte der Untergang Roms - in welcher Form auch immer - für Seda keine Rolle als endzeitliches Zeichen. 139 Hieronymus, Danielkommentar, CC 75 A, S. 917ff. Dagegen Beda, De temporum ratione, 69,602, in: CC 123, S. 539. 140 Näheres dazu bei Haeusler, S. 28 - 30.

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• Aufgabe eines sechstausendjährigen Geschichtslaufes sowie des Versuches, das Ende über davon abhängige Fristberechnungen festzumachen. • Übernahme der augustinischen Einteilung in aetates, von denen das letzte jedoch zeitlich nach hinten offen ist. • Einführung einer neuen chronologischen Grundlage auf der Basis des masoretischen Bibeltextes (neben der die Chronologie der Septuaginta jedoch weiter verwendet wird). Die Weltchroniken im Anschluß an Beda sollen hier wegen ihrer untergeordneten Bedeutung nur kurz genannt werden. 141 Die Chronik des karolingischen Bischofs Frechulf von Lisieux (bis 852/53) greift stärker als Beda und Isidor die historisch-politischen Ereignisse auf. Im Vordergrund steht mehr das erzählende Moment und weniger Fragen zu Zeitrechnung und Chronologie. In einem Kompendium an Zitaten, auch zahlreicher profaner und heidnischer Autoren, zeichnete Frechulf die Weltgeschichte von Adam bis zu Papst Gregor I. und der langobardischen Herrschaftsgründung in Italien, also bis ca. 600. 142 Die eigene Gegenwart findet in der Chronik keine weitere Berücksichtigung. Auch eschatologische Spekulationen fehlen vollständig. Während Frechulf sich in Anlehnung an Orosius stärker um eine profanhistorische Sichtweise bemühte, war der Erzbischof Ado von Vienne (bis 874) wieder ganz der Historiograph des Heilsgeschehens, wie seine zahlreichen allegorischen Exkurse zeigen. Als erster rechnete er in seiner ,Chronik von den sechs Zeitaltern' die Zeit nach Christi konsequent nach den Inkarnationsjahren und als erster erwähnt er neben der traditionell geführten Herrscherliste der oströmisch-byzantinischen Kaiser auch Karl den Großen als ersten "imperator ex gente Francorum". 143 In der Weltchronik des Abtes Regino von Prüm (bis 915) fehlt die vorchristliche Zeit ganz. Sie setzt erst mit Christi Geburt ein und reicht bis 906, in die Zeit des Zerfalls des karolingischen Reiches, die den Schwerpunkt seiner Chronik ausmacht. l44 Das geschichtliche und chronologische Denken der abendländischen Weltchronistik blieb auf Jahrhunderte von Beda oder Isidor (in Spanien) bestimmt. Der verlorengegangene Bezug zu den antiken Quellen machte sich auch in einem Wissensrückgang hinsichtlich Geographie und Umfeld der antiken Reiche bemerkbar. Den Lebenskreis von Griechen, Persern oder BabyIoniern kannte man kaum noch und Näheres dazu bei A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 120ff. Frechulfvon Lisieux, Chronicon, in: PL 106, co\. 915 ff. Wemer Goez. Zur Weltchronik des Bischofs Frechulf von Lisieux, in: Festgabe für P. Kim (1961), S. 93 - 11 O. 143 Ado von Vienne, Chronicon, in: PL 123, co\. 23ff. (1879). 144 Regino von Prüm, Chronicon, in: MGHS RG 50, hrsg. v. Friedrich Kurze (1890). Näheres dazu bei Heinz Löwe (Regino von Prüm und das historische Weltbild der Karolingerzeit, Rheinische Vierteljahrblätter 17,1952, S. 151-179). 141

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verlor sie für die Weltgeschichtsschreibung zunehmend aus dem Gesichtsfeld. Dadurch ging der universale Bezug zwar nicht der Form, aber dem Inhalt nach verloren. Die Historiographie bekam mehr und mehr lokales Gepräge,145 eine tatsächliche Einordnung in die Universalgeschichte fand nicht mehr statt. Weltchronik wurde nunmehr als Annalistik betrieben. 146 Es fehlte das Interesse an weitergehenden geschichtstheologischen und -philosophischen Fragestellungen. Das karolingische Imperium erfuhr seine Einordnung in einen geschichtstheologischen Kontext erst zweihundert Jahre später. Erst ab Mitte des 11. Jahrhunderts, als die Reichspolitik wieder erstarkt war und mit der mönchisch-kirchlichen Reformbewegung in Konflikt geriet, und zudem die Kreuzzüge den Horizont wieder weiteten, setzte die Blütezeit hochmittelalterlicher Weltchronistik ein. Nach fünfeinhalb Jahrhunderten behandelte der Mönch Bemold als erster wieder die vier Weltreiche in seiner annalistischen Chronik (um 1100).147 Von daher räumte er der vorchristlichen Geschichte mehr Raum ein und widmete insbesondere der römischen Frühzeit größeres Interesse. Ganz klar ist in seiner Chronik die Fortdauer des Römischen Reiches formuliert. Zwar benennt sie die Deutschen nicht ausdrücklich als Erben, aber, daß dabei an das deutsche Kaisertum gedacht war, wird aus dem Text deutlich. 148 Bemolds Chronik entstand inmitten der Zeit des Investiturstreits und kaiserkritische Zwischentöne sind nicht zu überhören. 149 Mit ihm begann zaghaft eine Geschichtsinterpretation, die durch den Zusammenstoß von Kaiser und Papst angeregt, weit über die bloß annalistisch ausgerichtete Geschichtsschreibung der vorhergehenden zwei Jahrhunderte hinausging. Einen anderen Impuls setzten die Werke von Marianus Scottus (ca. 1028-1083) und Heimo von Bamberg (bis 1139).150 Ihre Weltchroniken waren die Ergebnisse 145 Als krasses Beispiel führt A.-D. v. den Brincken die einzige italienische Weltchronik des 10. Jahrhunderts an, das Chronicon des Mönchs Benedikt, der sein Kloster St. Andreas in Flumine bei Ponzano zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner welthistorischen Betrachtungen machte (Studien, S. 138-141). 146 Beispiele sind: ,Chronicon universale', ,Chronicon Vedastinum', die ,Annales Hersfeldenses', ,Annales Hildesheimenses', ,Annales Quedlinburgenses', ,Chronicon Suevicum universale', ,Epitome Sangallensis', die Chronik Hermanns von Reichenau, ,Chronicon Wirziburgense' u. a. (vgl. A.-D. v. den Brincken. Studien, S. 141 ff.). Ganz anders dagegen die Entwicklung im byzantinischen Osten. Hier konnte sich die Weltchronistik eine größere zeitliche und räumliche Universalität bewahren, nicht zuletzt wegen der räumlichen Nähe zu den Reichen der alten Geschichte. 147 Bemold von Sr. Blasien, Chronicon, hrsg. von Georg Heinrich Pertz, in: MGHS V (1844). Näheres bei A.-D. v. den Brincken. Studien, S. 158 f. 148 Bemold. Chronicon. MGHS V, S. 401. 149 Zu den kaiserkritischen Chroniken des Investiturzeitalters gehörten auch die ,Annales' von Lampert (hrsg. v. O. Holder-Egger, in: MGHS RG 38, 1894) und die Chronik des Huga von Flavigny (hrsg. v. G. H. Pertz, in: MGHS VIII, 1848. S. 280ff.). 150 Marianus Scottus. Chronicon. hrsg. von Georg Waitz (ab Buch III, d. h. ab Christi Geburt), in: MGHS V (1844), S. 481 ff. A.-D. v. den Brincken. Marianus Scottus als Universalhistoriker iuxta veritatem Evangelii, in: Heinz Löwe (Hrsg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, Teilband 2 (1982). Heimo von Bamberg. Chronographia seu de decursu

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eingehender Beschäftigung mit Fragen der Chronologie, genauer mit deren Revision. Als Mönch, der sich einmauern ließ, lebte der gebürtige Ire Marian ein völlig weitabgeschiedenes Inklusenleben in Fulda und Mainz. Sein Lebenswerk war dem Nachweis verpflichtet, daß die christliche Zeitrechnung nach Dionysius Exiguus in ihren Jahresangaben nicht stimme. Mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Belesenheit zeigte Marian die chronologischen Unrichtigkeiten der bisherigen Chronographie auf und gelangte über ausgedehnte Osterberechnungen sowohl zu neuen Passions- und Inkarnationsterminen, als auch zu einem neuen Weltschöpfungstag. 15l Seine Weltchronik, eingeleitet mit einem theoretischen Teil und ansonsten in annalistischer Form gehalten, ist die sehr genau vorgenommene Ausarbeitung einer neuen Chronologie. Marian versuchte die Unstimmigkeiten der bisherigen Inkamations- und Weltzeitrechnung mit den zur Verfügung stehenden Geschichtsdaten in Einklang zu bringen. 152 Unabhängig davon verfolgte der fränkische Geistliche Heimo von Bamberg das gleiche Anliegen. Da die hebräischen, griechischen und römischen Kalender und die Ostertermine nicht miteinander übereinstimmten, ging es auch ihm darum, anhand der biblischen und patristischen Aussagen die Ecktermine einer Chronologie (Schöpfung, Passion und Gegenwart) neu zu bestimmen, um darauf eine stimmige Zeitrechnung aufbauen zu können. Stärker als Marian schien Heimo dabei an der antiken Profangeschichte interessiert zu sein, die für ihn aus chronographischen Gründen wieder an Gewicht gewann. Doch dieses eifrige Bemühen um eine wissenschaftlich genauere Chronologie der Weltgeschichte fand bei der Nachwelt zunächst keine größere Aufmerksamkeit. Zumindest aber war es Teil eines neuen Interesses an alter Geschichte, das für die Zeit seit dem Ausgang des 11. Jahrhunderts verstärkt festzustellen ist. Auch die Lehre von den vier Weltreichen fand sich nun wieder in vielen Weltchroniken. Die Vorstellung, daß das Deutsche Reich Nachfolger und Teil des Römischen Reiches sei, hatte sich allgemein durchgesetzt. Damit rückte man als ,viertes Reich' der Daniel-Vision gedanklich wieder mehr in die Nähe der drei anderen vorangegangenen Weltreiche, von denen die Chronisten nun auch berichten wollten. Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren nicht zuletzt die Kreuzzüge, die die Geschehtemporum, hrsg. von Georg Heinrich Pertz (ab 1006), in: MGHS X (1852), S. 1 ff. Näheres bei: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 166-81. 151 Da nach Hieronymus der Kreuzigungstermin der 25.3. war, konnte nicht das Jahr 34 (nach Dionysius) das Passionsjahr sein, da nach den Ostertafelberechnungen in diesem Jahr der Karfreitag auf den 26.3. fiel. Marian ermittelte den 25.3. als Karfreitag für das dionysische Jahr 12 nach Christus. Da die Lebensdauer Christi von den Patriarchen mit 34 Jahren angegeben wurde, ergab sich somit das Jahr 22 v. Chr. als eigentliches Geburtsjahr. Marian fand sich in seinen Revisionsbemühungen von Beda bestätigt, der schon in seiner Schrift ,De temporum ratione' auf die Unstimmigkeiten der dionysianischen Zeitrechnung gestoßen war (De temporum ratione, c. 47). Dazu: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 168 f. 152 Die Wirkung Marians blieb sehr begrenzt. Als einziger Weltchronist übernahm der angelsächsische Mönch Florenz von Worcester (bis 1118) seine Chronologie vollständig (vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 173 -175).

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nisse im Vorderen Orient wieder ins Bewußtsein rückten. Die Kreuzzugteilnehmer berichteten, und all die vielen Namen der antiken Heils- und Profangeschichte bekamen durch die geographisch-räumliche Ausweitung der Sicht wieder neues Leben. Um Jerusalem, das ja als Mittelpunkt der Welt galt, entstand ein neues christliches Reich, das sich gerade bei den Geschichtsschreibern eines besonderen Interesses erfreute. Auch das Kaisertum von Konstantinopel, Zwischenstation auf dem Weg ins heilige Land, wurde wieder bewußter wahrgenommen. Diese Erweiterung des eigenen Horizonts förderte das historische Interesse ungemein. Man orientierte sich über die verschiedensten Reiche der Vergangenheit und Gegenwart und interessierte sich sehr für die Zusammenhänge der Völker untereinander und für ihre Herkunft. 153 Diesem verstärkten Interesse an profangeschichtlichen Zusammenhängen kam die weitergeführte Euseb-Chronik des Hieronymus mit ihrem Bemühen um Synchronisation von biblischer und heidnischer Geschichte weit mehr entgegen als Bedas eher heils- und kirchengeschichtlich orientierte Chronica maiora. Es ist von daher kein Zufall, wenn nach fast vierhundertjähriger Dominanz der Beda-Chronik, nun zum Ausgang des elften und Beginn des zwölften Jahrhunderts die Hieronymus-Chronik bei den Weltchronisten wieder mehr Beachtung fand. Im beginnenden 12. Jahrhundert kam es zu einer regelrechten "Hieronymusrenaissance". 154 So verstanden auch Sigebert von Gembloux (ca. 1030-1112) und FrutolJ von Michelsberg (bis 1103) ihre Weltchroniken als Fortführung des Hieronymus. Sigeberts Chronik begann gar erst ab 381, für die Geschichte bis dahin stellte er seinem Werk unverändert die Chronik des Kirchenvaters voran. Lediglich die Jahresangaben übernahm er von Beda. Das Hieronymus'sche Schema einer zeitlichen Synchronistik griff er als erster im Westen wieder auf und stellte ihm einige kurze Betrachtungen über die Herkunft der neueren Völker voran. 155 Die für die Jahrhunderte vorher typische zeitgeschichtliche Betonung, bei der der weltgeschichtliche Rahmen lediglich die Einleitung zur eigenen Zeit darstellte, findet sich bei Sigebert genausowenig, wie die Unterbewertung der eigenen Zeit in den frühchristlichen Weltchroniken. Die Stoffverteilung bleibt bis in die Gegenwart hinein konstant und die universalhistorische Blickrichtung gewahrt. Das zeigt sich auch bei der geographischen Auswahl. Die Chronik beginnt mit der synchronistischen Behandlung von acht Reichen des 4. Jahrhunderts und hält diese Breite mit wechselnden Reichen bis in Sigeberts Zeit durch. 156 Im Römischen Reich sah Sigebert das 153 Auch das Interesse für antike Gestalten wuchs wieder. So wurde zu Beginn des 12. Jahrhunderts Alexander der Große zu einer beliebten Sagengestalt (so z. B. das deutsche Alexanderlied von Lamprecht um 1130). 154 So Anna-Dorothee v. den Brincken (Studien, S. 187). ISS Sigebert von Gembloux, Chronographia, hrsg. von L. Conrad Bethmann, in: MGHS VI (1844), S. 300ff. 156 Berücksichtigung finden: Römer (später Byzantiner), Perser (später Sarazenen), Franken, Briten, Vandalen, West- und Ostgoten, Hunnen, Langobarden, Bulgaren und ab 1100 das Königreich Jerusalem (!). Die christlichen Königreiche in Spanien liegen außerhalb von Sigeberts Kenntnis.

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vierte Reich der Daniel-Vision, das noch fortbestand, aber unweigerlich seinem Ende zueilen würde. Mit der Kaiserkrönung Karls des Großen ist es von den Byzantinern auf die Franken übergegangen und spätestens seit Dtto I. mit dem Deutschen Reich identisch. 157 Zwar verzichtete Sigebert auf die Darstellung der biblischen Endzeitgeschehnisse, aber daß bei ihm ein eschatologisch ausgerichteter Zug vorhanden ist, verrät nicht nur die Enderwartung für das ,vierte Reich', 158 sondern ebenso seine besondere Aufmerksamkeit für Naturkatastrophen als Zeichen des bevorstehenden Endes. 159 Noch wesentlich umfassender als Sigebert schuf der Prior Frutolf von Michelsberg die wohl materialreichste Weltchronik des hohen Mittelaiters. 16O Auch er nahm neben zahlreichen anderen Quellen 161 vor allem die Euseb-Chronik in der Fortführung des Hieronymus zum Leitfaden. Von Beda übernahm er die aetates und dessen chronologische Angaben zu den ersten beiden Weltaltern. Für die Zeit ab Abraham hielt sich Frutolf an Hieronymus, der für die Darstellung der Antike höchste Autorität genoß. Zwar steht auch bei ihm die Heilsgeschichte im Mittelpunkt, jedoch nicht auf Kosten der Profangeschichte, an deren Zusammenhängen er sehr interessiert war. Die Daniel'sche Monarchienlehre findet Erwähnung,162 der Gedanke des Fortbestandes des Römerreiches im Deutschen Imperium ist ihm selbstverständlich und die Übertragung der Kaiserwürde von den Byzantinern auf die Franken läßt er ebenfalls mit der Krönung Karls des Großen geschehen. 163 Auch Nachrichten über die Kreuzzugbewegung finden sich bei ihm, mehr noch aber bei seinem Weiterführer Ekkehard von Aura, der die Geschichte der ersten Kreuzzüge unter dem Titel ,Hierosolymita' in einer eigenen Schrift zusammenfaßte. Da Frutolfs Werk alles bot, was man von einer Chronik erwarten konnte - Stoffülle, chronologische Übersicht, Genealogien, Fabeleien, Lesbarkeit und Übersichtlichkeit ohne zu hohen denkerischen Anspruch zu stellen, blieb es bis ins Spätmittelalter hinein von überragender Bedeutung für die deutsche Geschichtsschreibung. Dasselbe galt bei der französischen Geschichtsschreibung für Hugo von Fleuund etwas später auch für Richard von Cluny (bis nach 1174). Hugos Chronik

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157 Sigebert, Chronographia, MGHS VI, S. 336 u. 345 - 348. Sigebert ging es bei der Translatio imperii vor allem um die rechtliche Seite. Nicht die Herrschaft aUein, sondern die Krönung ist entscheidend (vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 186). 158 Sigebert, Chronographia, MGHS VI, S. 300. 159 Die biblische Begründung dafür liefern u. a.: Offb 8-9; Mt 24; Mk 13,8,24-25; Lk 21,11,25-26. 160 FrutolJ von Michelsberg, Chronicon, hrsg. von Georg Waitz (unter dem Namen Ekkehard von Aura), MGHS VI (1844), S. I ff. Die Chronik wurde von Frutolf bis 1101 geschrieben, danach von Ekkehard weitergeführt. 161 Dazu: A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 188/189. 162 Frutolf, Chronicon, MGHS VI, S. 53. 163 Frutolf, Chronicon, MGHS VI, S. 169. 164 Hugo von Fleury, Historia ecclesiastica. Bruchstücke hrsg. von Georg Waitz, MGHS IX (1851), S. 337 ff. Näheres zum Werk Hugos vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 193-196.

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ist der Frutolfs sehr ähnlich, verzichtet aber auf ein annalistisches Schema und hat so noch stärkeren erzählenden Charakter. Auch die Chronologie spielt nur eine Nebenrolle. Dafür nimmt die Geschichte der Reiche des Altertums, sowie ausgesprochen politische Gesichtspunkte eine bevorzugte Rolle ein. Noch mehr ist dies bei Richard von Cluny der Fall. 165 Der vorchristliche Zeitraum nimmt fast die Hälfte seiner Chronik ein und im Mittelpunkt steht dabei nicht Rom, sondern die großen Reiche des Orients. Überhaupt hatte Richard reges Interesse am eher Unbekannten. Bei ihm finden sich geographische Beschreibungen neben Mythen, Fabeln und Sagen. Er maß Konstantinopel große Beachtung bei und - erstmals für eine hochmittelalterliche Weltchronik - wußte er auch etwas über Spanien zu berichten. 166 Im Zusammenhang mit einer ausführlichen Behandlung Alexanders des Großen schilderte er sogar eingehend Indien (!). Auch die Kreuzzüge, über die er mehr schrieb als über die Zeit seit Karl dem Großen bis dahin, stehen bei ihm sehr im Vordergrund. Allen diesen letztgenannten Chroniken ist eine gewisse Wiederentdeckung und der Blick für feme Länder und das Profanhistorische zu eigen. Das Material, das sich in den spätmittelalterlichen Chroniken findet, wurde fast durchweg diesen Werken entnommen. Einen nennenswerten geschichtsphilosophischen Beitrag leisteten sie allerdings nicht. Den lieferte erstmals wieder nach Jahrhunderten der französische Theologe Hugo von St.-Viktor (1097 -1141), der deswegen den Beinamen ,alter Augustinus' erhielt und den man wohl etwas übertrieben als den Geschichtsphilosophen der Weltchronistik bezeichnet hat. 167 Hugos Schriften 168 berühren zahlreiche geschichtsphilosophische Gedanken, ohne daß er diese systematisch in einem Werk zusammengefaßt hätte. Dennoch verdienen sie nach Jahrhunderten annalistischer Geschichtsdarstellung als Ausdruck eines reflektierteren christlichen Geschichtsdenkens Beachtung. Für Hugo hatte die gesamte patristische Literatur, wie auch die christliche Weltchronistik kanonische Gültigkeit. Er sah sie als Fortsetzung der biblischen Geschichtsbücher. 169 Von daher entnahm er sowohl von Augustin, Orosius und Hieronymus als auch von Isidor und Beda 165 Richard von Cluny (oder Poitou), Chronicon, Bruchstücke hrsg. von Georg Waitz, MGHS XXVI (1882), S. 74ff.A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 205ff. 166 Das christliche Spanien war bis zum Ausgang des Hochmittelalters weitgehend isoliert. Erst durch die cluniaziensische Reformbewegung kam es zu ersten losen Kontakten, durch die Kenntnisse über diese Staaten ins Abendland drangen. Richard saß dafür in Cluny an der Quelle (vg!. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 134-136 u. 207 -211). 167 Wilhelm Schneider, Geschichte u. Geschichtsphilosophie bei Hugo von St.-Viktor, Münster 1933, S. 119. 168 Hugo von St.-Viktor, Excell'tionum Allegoricarum libri, Teil I, in: PL 177, co!. 191 ff.; Teil H, in: PL 175, co!. 633ff. (1879) (aus: Opera omnia Hugonis, Rouen, 1648). Ders., Liber de tribus maximis circumstanciis gestorum, i. e. personis, locis, temporibus (eine kleine Liste daraus hrsg. von Georg Waitz unter dem Titel ,Chronica quae dicitur Hugonis de Sancto Victore', in: MGHS XXIV, 1879, S. 88 ff.). Zur Quellenlage vg!. A.-D. v. den Brincken, Studien, S.196-201. 169 Vg!. Schneider, S. 31.

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geschichtsphilosophische Gedanken, die er in seinen Werken zusammenführte. Dazu gehörte die Einteilung der Geschichte in regna und aetates ebenso wie seine Gliederung in drei Weltalter: Unter dem Naturgesetz, unter dem mosaischen Gesetz und unter der Gnade. 170 Dazu gehörte die bei Augustin und Orosius erschienene Lehre der Wanderung von Macht und Kultur von Osten nach Westen, gleich dem Weg der Gestirne. Und dazu gehörte für den Theologen Hugo eine ausgeprägte Christozentrik. Den geschichtliche Teil seines Werkes l7l lehnte er an Hugo von Fleury an, gliederte aber den Stoff stärker und zeichnete die Trennungslinien zwischen den einzelnen Epochen schärfer. Die Betrachtung ist weniger chronologisch oder historisch erzählend, als vielmehr theologisch deutend. Hugo wollte nicht so sehr das Geschehen selbst darstellen, als vielmehr seinen Sinn. Im ersten Buch behandelte er die Geschichte von Adam bis Christus, die vor allem die jüdische Geschichte in den vier Sukzessionen - Patriarchen, Richter, Könige und Hohepriester - darstellt. Im zweiten Buch ging er auf die Geschichte der großen Weltreiche ein bis sie von Rom unterworfen wurden. Entsprechend den Himmelsrichtungen waren das für ihn die Skythen im Norden, die Assyrer im Osten, die Ägypter im Süden und die Sikyonier im Westen. l72 Das dritte und vierte Buch enthält die Geschichte der römischen Kaiser bis zu Konstantin, das fünfte und sechste Buch bis zum byzantinischen Kaiser Eirene und das siebte und letzte Buch widmet sich den Franken. Hugo setzte es durch eine knappe Liste französischer Könige bis in die eigene Zeit fort. Auch für ihn stand die Übertragung (translatio) des Römischen Imperiums von den Byzantinern auf Karl den Großen und die Franken fest. Die byzantinischen Kaiser nach Karl würden ihren Titel nur noch dem Namen nach tragen. 173 Da Hugo mit seinen ,lihri excerptionum allegoricarum' in erster Linie eine bibelexegetische Handreiche verfassen wollte, fehlte ihm - ähnlich wie Augustin - ein wenig der historische Sinn. Dennoch war es sein Verdienst, der Geschichtsdeutung wieder mehr zu ihrem Recht verholfen zu haben.

aa) Zusammenfassung

Die Geschichtsschreibung von Augustin bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts hatte den geschichtstheologischen Grundgedanken der Spätantike kaum Neues hinzuzufügen. Eine unmittelbare Naherwartung spielte nur noch eine sehr untergeordnete Rolle, was schon dadurch zum Ausdruck kam, daß die beiden traditioHugo, Excerptionum Allegoricarum libri, Teil 11, in: PL 176, col. 32, 312, 692. Vor allem die Bücher IV bis X. Die ,libri excerptionum allegoricarum' bildeten ein zweiteiliges enzyklopädisches Gesamtwerk. 172 Zu den vier Weltreichen bei Hugo vgl. Schneider, S. 111 ff. Im einzelnen behandelt Hugo die Skythen, Assyrer, Meder, Perser, Makedonen, Syrer, Asier, Ägypter, Sikyonier, Argiver, Athener, Spartaner, Korinther, Lyder, Parther, Numidier, BabyIonier, Latiner und Römer. 173 Hugo, Excerptionum Allegoricarum Iibri, IX, 23, col. 276. 170

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

nell gesetzten Endtermine (500 nach Africanus und Hippolyt und ca. 800 nach Hieronymus) keine nennenswerten Krisen hinsichtlich der Parusieverzögerung mehr hervorriefen. 174 Auch der Untergang Roms war kein Thema mehr. Rom als das vierte Reich der Daniel-Vision bestand weiter im oströmisch-byzantinischen Reich und mittels translatio durch päpstliche Autorität ab 800 im karolingischen und ab 962 im ottonischen Reich. Die gewachsene Bedeutung Roms als geistliches Zentrum und Sitz der geistigen Einheit - korrespondierend zur politischen Einheit des Kaisertums - unterstrich noch den Weiterbestand des Römischen Reiches in Form eines Imperium christianum. Mit dem Zurücktreten der eschatologischen Erwartung ging der Aufstieg des aetates-Schemas Augustins als heilsgeschichtliches Periodisierungsmodell einher. Die Zeit seit Christus galt als sechstes und letztes Zeitalter, dessen Endtermin rechnerisch nicht näher zu bestimmen war. Dennoch blieben die Elemente apokalyptischer Enderwartung sehr wohl bewahrt und es fand sogar eine Ausschmückung statt. Das Antichrist-Traktat des Adso von Montier-en-Der ist dafür ein gutes Beispiel. 175 953/54 verfaßte es der Mönch auf Wunsch von Königin Gerbera, der Schwester Ottos I. und Gattin König Ludwigs IV. von Frankreich, und schuf damit das Kompendium zum Thema Antichrist und endzeitliche Fragen. Dieses Traktat war aber nicht Ausdruck einer besonders erhöhten eschatologischen Spannung, sondern lediglich Zeugnis für das Weiterbestehen einer historischen Enderwartung, die es von den überlieferten Schriften her zu ordnen und zu systematisieren galt. Und so konnte Adso über die noch ausstehende Endzeit schreiben: ,,Diese Zeit ist noch nicht gekommen, denn obwohl wir das Römische Reich größtenteils zerstört sehen, wird doch, solange es Frankenkönige gibt, die es erhalten, die Würde des Römerreichs nicht ganz untergehen, weil sie in diesen Königen weiterlebt".176

Das gleiche galt für die Endzeitvisionen des 11. und 12. Jahrhunderts, wie z. B. die von Hildegard von Bingen (1098 -1179), die eher visionär-mystische Varianten endzeitlicher Kompilation darstellten. 177 Wenn auch nicht fürs Ende, so nahm die Berechnung der Zeiten dennoch einen vorrangigen Stellenwert ein. Weltgeschichtsschreibung war vor allem Chronogra174 Kurz vor 500 wußte eine Chronik aus der Umgebung Cassiodors von Gerüchten zu berichten, denen zufolge die Geburt des Antichristen bevorstehe. Und auch zu Kaiser Justinian (527 -565) gab es Spekulationen über dessen mögliche antichristliche Natur (vgl. dazu: Carozzi. S. 59/60). 175 Adso Dervensis. De ortu et tempore Antichristi necnon et tractatus qui ab eo dependunt. hrsg. von D. Verhelst. CC Continuatio Medievalis XLV. Turnholti 1976. Zu Adsos Antichrist-Traktat vgl. TRE 3 (1978), S. 24-28; Robert Konrad. De ortu et tempore Antichristi. Antichristvorstellungen und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der, München 1964; Carozzi. S. 17 - 30. 176 Adso. De ortu et tempore Antichristi. S. 26 (112-117). 177 H. Liebeschütz. Das allegorische Weltbild der Hl. Hildegard von Bingen (1930); Karl Rahner. Visionen und Prophezeihungen, Freiburg 1958; Sven Loerzer. Visionen und Prophezeihungen. Die berühmtesten Weissagungen der Weltgeschichte. Augsburg 1988. S. 204 f.

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Otto von Freising

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phie. Es ging darum, die verschiedenen Zeitrechnungen (die römische ,ab urbe condita', die traditionell kirchliche nach Euseb / Hieronymus und die christo zentrisehe nach Dionysius Exiguus) aufeinander abzustimmen und zusammen mit den biblischen Angaben, die je nach Übersetzung unterschiedlich ausfielen, in ein einheitliches chronologisches System zu bringen. Die Unstimmigkeiten, die dabei bereits bei den Patriarchen aufgetaucht waren, führten immer wieder zu Überprüfungen und alternativen Modellen (Beda, Marian, Heimo). Die für solche Berechnungen nötige Quellen- und Literaturkenntnis mag ein Grund dafür sein, daß großangelegte Chroniken mit langen Zeiträumen für Jahrhunderte die Ausnahme blieben ps Stattdessen kamen mehr und mehr historische Ausdrucksfonnen auf, die sich mit kleineren Zeiträumen und begrenzteren Räumen zufriedengaben, ohne dabei auf eine heilsgeschichtliche Perspektive verzichten zu müssen: die Annalen und Viten. 179 Erst mit den Kreuzzügen und dem damit entstandenen Interesse am Orient, trat ein zeitlich und räumlich weiterer historischer Horizont hervor, der in neuen weltgeschichtlichen Entwürfen Gestalt gewann.

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Otto von Freising

Die geschichtsphilosophisch überragende Figur des ganzen Mittelalters war der österreichische Reichsbischof Otto von Freising (ca. 1112-1158). Mit Konrad m. und Friedrich Barbarossa unmittelbar verwandt, gehörte er dem höchsten Reichsadel an. Schon durch diese Herkunft, seine Ausbildung (Studium in Paris), seine Stellung und seinen Lebensgang wurde ihm eine besondere Einsicht in Geschichte und Politik zuteil, wie sie nur wenigen seiner Zeitgenossen gegeben war. ISO Als Theologe und Geschichtsphilosoph stand Otto Augustin nahe, ging aber als Historiker über den Kirchenvater hinaus. 1146 verfaßte er auf Bitten des Augsburger Abtes Isingrim eine Weltgeschichte, die er 1157 überarbeitete und seinem Neffen, Kaiser Friedrich Barbarossa, widmete. lsl Ein wesentliches Motiv für seine Vgl. Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (1990), S. 56 ff. Daß auch Viten eine z.T. ganz erstaunliche welthistorische und geschichtstheologische Perspektive aufweisen können, zeigt das frühmittelhochdeutsche ,Annolied ' aus dem 12. Jahrhundert. In 875 Versen deutet es die Menschheitsgeschichte vom Anbeginn der Welt bis Christus, um dann nach Köln zu schwenken (ab Vers 570) und den Erzbischof Anno zu besingen (Annolied, in: Monumenta Annonis, Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter, Ausstellungskatalog hrsg. von Anton Legner, Köln 1975, S. 77 - 85). 180 Für den knappen Überblick zu Ottos Leben u. weiterführende Literatur: TRE Bd. 25 (1995), S. 555. 181 Erhalten geblieben ist lediglich die Version von 1157: Olto Bischof von Freising, Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, Übers. von Adolf Schmidt, hrsg. von Walther Lammers, Darmstadt 19905 (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittel178

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

Chronik war der Versuch, aus der Krisenstimmung des durch den Konflikt zwischen Papst und Kaiser verursachten Investiturstreits die eigene Gegenwart im Verlauf der Gesamtgeschichte zu bestimmen und zu deuten. Dabei stellt Ottos Werk im Rückgriff auf spätantike Geschichtstheologie eine Synthese der Schriften Augustins und Orosius' dar. An beide knüpfte er an und erweiterte ihren geschichtstheologischen Ansatz, indem er auf einzigartige Weise Heils- und Weltgeschichte verband. Viel gründlicher und origineller als beispielsweise Hugo von St.-Viktor verstand er es, den durch die Materialsammlungen seiner Vorgänger vorgegebenen historischen Stoff zu erfassen, zu verarbeiten und geschichtsphilosophisch zu deuten. Gerade das Zusammenkommen dieser einzelnen Elemente machte ihn zu einem der wichtigsten Zeugen christlicher Geschichtsdeutung überhaupt. Schon mit dem ursprünglichen Titel ,Chronica mundi sive liber de duabus civitatibus' knüpfte Otto ausdrücklich an Augustin an. Und tatsächlich bemühte er sich darum, die Geschichte aus der Polarität der bei den civitates zu interpretieren. Damit führte er als erster Augustins Geschichtstheologie im Kern weiter und benutzte ihn nicht nur als Quelle zu Einzelfragen. 182 Otto glaubte, daß die beiden civitates seit Theodosius durch die Verbindung von christlicher Kirche und weltlicher Gesellschaft zur ,civitas permixta' zusammengefallen sind, um, wie der Sauerteig im Mehl (Mt 13,33), die ganze Welt zu durchsäuern, d. h. zu evangelisieren. Diese civitas permixta, die er mit dem Begriff der ecclesia gleichsetzt (bei Otto am besten mit Christenheit wiedergegeben), ist gekennzeichnet durch das Gleichgewicht von priesterlicher und königlicher Gewalt, von christlicher Kirche und christlichem Reich. In ihr leben gute und schlechte Christen, Gläubige und Ungläubige gleichermaßen. Sie ist der Zustand der größten irdischmöglichen Vollkommenheit. Dabei verteilte Otto die beiden civitates nicht einfach auf die Institutionen Kirche und Staat, die in der civitas permixta eine Einheit bilden, sondern verstand sie wie Augustin als während der irdischen Zeit unauflösbare metaphysische Größen, die nur Gott zu scheiden vermag. Anders als Augustin kam es Otto nun aber ganz auf die Einheit der civitas permixta an, die er seit dem Investiturstreit als im Kern zerbrochen ansah. 183 Als historischer und endzeitlicher Prozeß lösen sich Christentum und Gesellschaft, civitas Dei und civitas terrena wieder voneinander, wobei die endgültige Trennung freilich der Endzeit und dem jüngsten Gericht vorbehalten bleiben. Aber der Beginn der Trennung, als deren positive Begleiterscheinung Otto das Reformmönchtum sah,184 war für den Freisinger Bischof eindeutiges Zeichen des nahenalters - Freiherr von Stein-Gedächtnisausgabe Bd. 16). Daneben verfaßte Otto noch mehrere philosophische Schriften und die bekannte ,Gesta Friderici'. 182 Einzig Frechulf von Lisieux hatte zuvor ansatzweise versucht, die civitates zur konkreteren Deutung in die Weltchronik einzuführen, jedoch schon nach den ersten Seiten seiner Chronik davon wieder Abstand genommen (vgl. Frechulf, Chronicon, PL 106, col. 915 ff.). 183 Ouo, Chronica, VI, 36. 184 Ouo, Chronica, VII, 35; S. 561 ff.

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Otto von Freising

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den Endes. Damit rückte die eschatologische Spannung urchristlichen Geschichtsdenkens wieder in den Gesichtskreis geschichtstheologischer Deutung. Zusammen mit Augustins dualistischem civitas-Ansatz verband Otto die Darstellung der Johannes-Offenbarung und der Daniel'schen Weltreiche-Lehre mit dem Ablauf der Weltgeschichte in einer bisher einzigartigen historisch-heilsgeschichtlichen Komposition. Während bisher die augustinische Weltalter-Einteilung in der Chronistik dominierte, hielt sich Otto in Anlehnung an Orosius mehr an die regna, die ihm besser geeignet schienen, den politisch-profanen Geschichtsverlauf von der Vorsehung her zu deuten. Immer wieder kommt er auf sie zu sprechen und begnügt sich nicht - wie seine Vorgänger - mit ihrer bloßen Erwähnung. Entscheidend für Otto war die in seiner Gegenwart besonders erlebte Erfahrung der Veränderlichkeit und des Wandels (mutabilitas) der Welt. Alle Dinge sind nach göttlichem Ratschluß einem dauernden Wandel unterworfen, sowohl alles irdische Leben als auch die menschliche Geschichte. Und weil Gott für den Wandel in der Weltgeschichte einen bestimmten Ablauf vorgesehen hat (die regna), kann man aus deren Verlauf auch Gottes Plan mit der Volkerwelt herauslesen. Von daher geht Ottos Ansatz nicht von einem heilsgeschichtlichen Verlauf mit überwiegend biblischem Stoff aus (wie bei Augustin), sondern er bemüht sich als Christ und Histori" ker Gottes Spuren in der Weltgeschichte nachzuzeichnen. Damit freilich knüpft er eng an Orosius an. Als Otto seine ursprüngliche Chronik 1156/57 überarbeitete und seinem kaiserlichen Neffen Barbarossa widmete, gab er ihr in Anlehnung an Orosius' Kernthema die Überschrift ,De mutatione rerum'. Seine Chronik besteht aus acht Büchern, wobei sich die ersten sieben mit der eigentlichen Geschichte beschäftigen, wohingegen das achte der Zukunft und dem Reiche Christi gewidmet ist. Schon die Einteilung der Bücher zeigt, daß Otto nicht der heils geschichtlichen, sondern der politischen Linie folgte: Buch I: Buch 11: Buch III: Buch IV: Buch V: Buch VI: Buch Vll:

Von Adam bis zum Ende der Assyrerherrschaft. Vom Beginn der Mederherrschaft bis zu Julius Caesar. Von Augustus bis Konstantin. Von Konstantin bis zum Untergang des weströmischen Reiches. Von Theoderich bis zum karolingischen Imperium. Vom Ausgang der Karolingerzeit bis auf Gregor Vll. Vom Investiturstreit bis zur eigenen Zeit (1146).

Wie sehr Otto dabei das Aufzeigen der mutabilitas durch die regna-Lehre als "das entscheidende Gestaltungsprinzip"J85 seines Geschichtsablaufs am Herzen lag, zeigt sich schon daran, daß er jeweils im Prolog und Schlußkapitel eines jeden Buches diesen Faden wieder aufnahm. Und auch in seiner Darstellung suchte er immer wieder den Bezug zu den regna. Allerdings korrigierte er das eher fortschrittsoptimistische Bild des Orosius, für den die Geschichte im göttlich geführten 18S

A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 224.

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Teil II: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

Zusammenkommen von Pax Romana und christlicher Kirche kulminierte. Otto schloß seine Bücher bewußt mit krisen- und schicksalhaften Wenden, die die Veränderlichkeit zum Ausdruck bringen sollten. Das erste Buch der Chronik beschäftigt sich ganz mit Babyion, das für den Freisinger das Ur-Weltreich ist, von dem alles seinen Ausgang genommen hat. 186 Von hier aus wanderten religiöser Kult, Kultur, Wissenschaft und Macht von Ost nach West,187 über die beiden Zwischenweltreiche zum Römischen Reich, das ab dem dritten Buch die beherrschende Rolle spielt. Zwar besteht auch für Otto das Römische Reich nach göttlicher Ordnung als viertes und letztes der Daniel-Reiche weiter (obwohl er den Untergang des weströmischen Reiches ausdrücklich erwähnte), aber die Form seiner Herrschaft verändert sich und ist ebenfalls einem Wandel unterworfen. Über diesen Wandel gilt es zu berichten (,De mutatione rerum '). Schon gleich zu Beginn in der Vorrede an Barbarossa schreibt Otto davon, daß die Herrschaft von Rom zu den Griechen weitergegeben wurde. Von den Griechen dann zu den Franken, von den Franken über die Langobarden (!) zu den Deutschen. 188 Bemerkenswert ist, daß er das spoletinisch-italienische Kaisertum voll mit einbezieht. Dies tat Otto deshalb, weil er streng vom rechtlichen Status des Kaisertums als einer objektiven Macht her denkt, der zunächst unabhängig vom realpolitischen Gefüge besteht. Trotz der Veränderung und Übergabe (translatio) der kaiserlichen Macht bleibt die Kontinuität der römischen Herrschaft aber für ihn ungebrochen. So sieht er Karl den Großen als ,,69. Nachfolger des AugustuS".189 Wie bei Orosius, so ist auch bei Otto der Aufstieg Roms zur Weltmacht Voraussetzung für die Ausbreitung des Christentums und für die weitere heilsgeschichtliche Bedeutung der Tiberstadt als ,caput ecclesiae'. 190 Die Kirche selbst, seit Theodosius durch die Verbindung mit Gesellschaft und Staat Teil der civitas permixta geworden, enthält Gutes wie Schlechtes,191 ist also keineswegs fehlerfrei. Da für Otto die Universalgeschichte immer dort ihren Angelpunkt hat, wo das römische Kaisertum ausgeübt wird, stehen im fünften Buch die Kaiser von Byzanz im Vordergrund. Erst von der Kaiserkrönung Karls an, treten die Franken ins hellere Licht. Zwar bleibt der Bischof universal mit Interesse für das nachkarolingische Byzanz und den Vorderen Orient, für das Zeitgeschehen in Polen, Böhmen und Ungarn, aber er folgt doch dem roten Faden der Kaiserlinie, auf der der Weiterbestand des Römischen Reiches ruht. 186 Vgl. dazu: Karl Holzhey, Babylonisches bei Otto von Freising. Wissenschaftliche Festgabe zum 1200-jährigen Jubiläum des heiligen Korbinian, München 1924, S. 279ff. 187 Otto, Chronica, I (Vorwort an Isingrim) - S. 15; Prol. V; S. 375. 188 Otto, Chronica, I (Vorwort an Isingrim); S. 13. Die Deutschen bezeichnet Otto als "deutsche Franken". Zum Translationsgedanken bei Otto vgl. Goez. Translatio Imperii, S. 1II-19. 189 Otto, Chronica, V, 31 - S. 421. 190 Otto, Chronica, Prol. III; III, 6. 191 Otto, Chronica, Prol. V; Prol VII.

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Otto von Freising

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Das sechste und siebte Buch stehen ganz unter dem Eindruck der Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser. Otto verfolgte die Entwicklung der Kirche hierbei nicht ohne Sorge. Schon im Vorwort zu seinem vierten Buch verteidigte er zwar das Recht der Kirche auf irdische Güter, bemerkte jedoch, "daß ich durchaus nicht weiß, ob Gott die Erhöhung seiner Kirche, die wir jetzt erleben, besser gefällt als ihre frühere Niedrigkeit,,192 - eine ungewöhnliche Ansicht für einen hohen Geistlichen dieser Zeit. Ansonsten hielt sich Otto mit parteiischen Äußerungen zum Investiturstreit spürbar zurück. Geradezu spärlich sind seine Aussagen zu den aktuellen Konflikten, vergleicht man sie mit den Ausführungen über die Ereignisse im 11. und frühen 12. Jahrhundert. Auffallend zurückhaltend gab er sich auch bei der Kommentierung des Bannes Heinrichs IV. (immerhin Ottos Großvater) durch Papst Gregor, wie der Absetzung Papst Johannes Xll. durch den Kaiser. 193 Die politischen Tagesfragen erwähnt er sachlich, ohne in sie einzutauchen. Seine historische Perspektive betrachtet weit stärker als die seiner Vorgänger vom Ende her. So erblickte er beispielsweise im Wormser Konkordat einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte, da von hier an die nunmehr unabhängige Kirche zu einem gefährlichen Widerpart von Kaiser und Reich geworden war. Den Streit zwischen regnum und sacerdotium glaubte er in der Daniel-Vision vorgezeichnet zu finden: Die Kirche sei der Stein, der sich gelöst und die eiserne Statue, das Reich, an den Füßen (die die Endzeit bedeuten) getroffen habe. Dies sei aber geschehen, als die Kirche beschloß "den römischen König nicht als den Herrn des Erdkreises zu ehren, sondern ( ... ) mit dem Schwert des Bannes zu treffen". 194 Zwietracht und Krieg seien die Folge. Mit dem Wormser Konkordat wäre zwar der Friede wiederhergestellt worden, aber das Gleichgewicht zwischen den Mächten verlorengegangen, denn die Kirche "wuchs unter Papst Kalixt [ll.] zu einem gewaltigen Berge empor" .195 Auch Ottos Hinweis, daß vor Heinrich IV. noch nie ein Kaiser von einem Papst gebannt und abgesetzt worden sei,l96 ist in diesem Licht zu sehen. Das Auseinanderfallen der Einheit zwischen Kaiser und Papst, Kirche und Staatsgewalt war ihm das Zeichen des in der Daniel-Vision vorausgesagten und unabänderlichen Endes. Die entscheidende Hochzeit der Weltgeschichte ist vorbei. Die civitas permixta, die Vereinigung von civitas Dei und civitas terrena in einer politisch-geistlichen Einheit von Reich und Kirche, die von Konstantins Bekehrung bis zum Kaiserbann Gregors Vll. reichte, ist mit dem Investiturstreit zerfallen. Die eigene Zeit wurde von Otto nur noch als Nachspiel und Ringen um das Zerfallene betrachtet, dem auf kurz oder lang die Endzeit folgen würde. Auf den ersten Blick wirkt diese Geschichtssicht stark pessimistisch. Aber sie ist lediglich Ausdruck einer christlichen Welt- und Geschichtsauffassung, die vom 192 193 194

195 196

Otto, Otto, Otto, Otto, Otto,

7 Schwaiger

Chronica, Chronica, Chronica, Chronica, Chronica,

Prol. IV - S. 295 VI, 35; VI, 23. VI, 36 - S. 491, 493. VII, 16 - S. 527. VI, 35 - S. 491.

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

Ende her denkt. 197 Otto beobachtete zwar die politischen und kirchlichen Ereignisse seiner Zeit mit scharfem Blick - und die Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser beeinflußte zweifellos maßgeblich seine politische Wertung und geschichtliche Deutung - aber sein Denken vom Ende her entsprang letztlich einem christlichen Offenbarungs- und Geschichtsverständnis. Nicht deshalb, weil die Verhältnisse immer schlechter wurden, sah Otto apokalyptische Wolken aufziehen, sondern umgekehrt, - weil er vom Ende her dachte, meinte er auch die Ereignisse in dessen Licht sehen zu können: nämlich, daß das vorhergesagte Auseinanderfallen der christlichen Reichseinheit in vollem Gange sei. Ein feiner, aber bedeutsamer Unterschied. Wenn also Ottos zweites großes historisches Werk, die ,Gesta Friderici', scheinbar optimistischer endet, dann liegt das kaum daran, daß Otto sein Geschichtsbild inzwischen revidiert hatte und nun wieder nach vorne hin offen oder gar fortschrittsgläubig in die Zukunft blickte. Bestenfalls konnte er hoffen, daß sich die zerbrochene Einheit zwischen bei den Gewalten in den ersten Jahren Barbarossas noch einmal wiederherstellen ließe und der endgültige Bruch sich noch ein wenig hinausschieben würde. 198 Das beständige Element in dieser Welt sah Otto vielmehr allein im Gebet der Kirche und in den aufstrebenden Reformmönchsorden. l99 Sie würden die Geschehnisse der unmittelbaren Endzeit noch eine Weile aufhalten, weil sie selber jenseits der mutabilitas stünden?OO Es ist darum kein Zufall, daß Otto als erster Weltgeschichtsschreiber nach Beda seiner Chronik ein achtes Buch folgen ließ, das die endzeitlichen Ereignisse nach den Prophetien der Bibel behandelt. Die ersten sechs Kapitel haben den Antichristen zum Inhalt, sowie die Ereignisse. die der Parusie unmittelbar vorausgehen. Die Kapitel 7 - 9 handeln von der Parusie selbst und dem Weltenbrand und ab dem 10. Kapitel werden die übergeschichtlichen Geschehnisse thematisiert, die in die Ewigkeit hineinreichen (10- 14: Auferstehung der Toten, 15- 19: Jüngstes Gericht, 20 - 25: Ende der civitas terrena, 26 - 35: Vollendung der civitas Dei und 197 So auch Paul Lehl7Ulnn (Otto von Freising, sein Leben und seine geistesgeschichtliche Bedeutung, Freising 1934, S. 13), Johannes Spörl (Grundformen mittelalterlicher Geschichtsanschauung. Studien zum Weltbild der Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts, München 1935, S. 49), Anny Hartings (Civitas Dei - Civitas mundi in den Werken Ottos von Freising im Hinblick auf Augustins "Oe civitate Die", Bonn 1943, S. 101 ff.) und Werner Kaegi (Chronica Mundi, Einsiedein 1954, S. II f.). Dagegen wurde in den Lehrbüchern des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts OUos Geschichtsbild meist als Weltuntergangsstimmung, müde Resignation und Abkehr vom Diesseits bezeichnet. 198 Eine Hoffnung, die trügerisch war, da es nur wenige Jahre nach Ottos Tod zu einem neuen Bruch mit dem Papsttum kam, dem ein erneuter Kaiserbann folgte. 199 Otto, Chronica, VII, 21 - S. 539; VII, 35 - S. 561-567. Das Lob des Mönchtums, das für Otto dem Ideal der civitas Dei sehr nahekommt, steht am Ende des historischen Teils seiner Chronik. Was hier bei Otto noch Vorgeschmack des Reiches Gottes in der Welt ist, wird später bei Joachim von Fiore zur eigenen heilsgeschichtlichen Ära werden: Das dritte Zeitalter des Heiligen Geistes und des spirituellen Mönchtums. 200 Otto, Chronica, VII, 35 - S. 567.

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Otto von Freising

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Ewigkeit). Die Anlehnung an Augustin ist augenfällig: Die Geschichte läuft in die Ewigkeit hinein und hinsichtlich einer rechnerischen zeitlichen Bestimmung des Endes ist auch bei Otto größte Zurückhaltung angesagt. Allerdings rechnete der Freisinger Bischof deutlich spürbarer als Augustin mit einem solchen für die baldige Zukunft und brachte dies auch klar zum Ausdruck. 201 Er berechnete nicht, mühte sich aber doch um eine Einordnung der Gegenwart. In seiner Chronik geschieht dies in einer ausgewogenen Mischung von historischer Berichterstattung und deutender Reflexion. Für Otto ist klar: als letzter und stärkster Ausdruck der irdischen mutabilitas wird es zu einer Umkehrung der Ordnung, zu einer Erniedrigung der civitas Dei und einer Erhöhung der civitas terrena unter dem Antichristen kommen. 202 Diese pervertierte Umkehrung sei, so Otto, typologisch schon vorgebildet in den Verfolgungen durch die Tyrannen, Ketzer und Heuchler, denn der Antichrist werde die Gewalt der Tyrannis, den Betrug der Ketzer und die Heuchelei in seiner Person vereinigen?03 Die gegenwärtig verborgene und noch zurückgehaltene Bosheit werde sich dann, wie in der Schrift bezeugt, ungeheuerlich steigern und den Abfall von Gerechtigkeit und Glauben begleiten. 204 Letzteren sieht Otto für die Theologie auch in den Verlokkungen der Vernunft,205 die er wohl selbst während seiner Studienzeit in Paris in Gestalt besonders rationalistischer Strömungen der Scholastik kennengelernt hatte. Dem Weltgericht voraus gehen die Verfolgung der Kirche, das Erscheinen des Antichrist, dessen weltweite Gewaltherrschaft und Sturz, sowie der Untergang der irdischen Welt im Feuer. Darauf folgen die Auferstehung der Toten und das Gericht. Einen Chiliasmus lehnte er wie Augustin ab. Ottos Geschichtsdeutung wird also von drei Komponenten bestimmt: 1) Seine Perspektive geschieht vom Ende her: Für ihn ist das Auseinanderfallen

der Einheit von Reich und Kirche ein Geschehen, das nach seinem Verständnis in der Standbildvision Daniels (Dan 2) vorausgesagt war. An seinem Ende steht die Weltherrschaft des Antichristen. Von diesem Schlußszenario her gilt es, die Tendenzen dorthin wahrzunehmen.

201 Vgl. Otto, Chronica, VI, 36 - S. 493: ,,Mit diesem bedeutungsvollen Umschwung [Kaiserbannl, mit dem sich die Zeit von der Vollkommenheit zum Niedergang wendet, wollen wir ( ... ) rasch zur Schilderung des siebenten Tages und der Ruhe der Seelen (zu) kommen, die unmittelbar auf den Jammer des irdischen Lebens folgt." 202 Otto, Chronica, Pro!. VIII - S. 585. 203 Otto, Chronica, VIII, I - S. 589. Ottos Antichrist-Beschreibung hält sich im wesentlichen an die tradierte Antichrist-Überlieferung, ohne sonderlich ausschmückend zu sein. Er begnügt sich weitgehend mit den biblischen Aussagen und fügt nur wenige traditionelle Deutungen hinzu. Anders als Adso von Montier-en-Der verzichtet er auf eine ausgeprägte ,Antichristologie '. Interessanter sind ihm die Vorzeichen als die Person des Antichristen. 204 Otto, Chronica, VIII, 2- 3 - S. 589-593. ws Otto, Chronica, VIII, 4 - S. 595.

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

2) Zur Bewertung des Geschichtsverlaufes ist daher die orosische Ausrichtung an

den den politischen Wandel charakterisierenden regna bedeutsam und entscheidend. An sie schließt sich das endzeitliche Geschehen an.

3) Zur Ausdeutung der Geschichte greift Otto auf die augustinisch-theologische Unterscheidung der civitates zurück. Allerdings verwendet er sie mit deutlicheren Bezügen zur historisch-politischen Wirklichkeit als der Kirchenvater. Stärker als Augustin suchte Otto die beiden Bürgerschaften in ihrer spezifisch historischen Mischung auszumachen. Dabei unterschied er im Grunde drei Zeitalter: Die Zeit vor Christi Geburt, in der die Reiche dieser Welt herrschen und in der es nur wenige Bürger der civitas Dei gibt, - die Zeit von Christus bis Konstantin, in der das Reich Gottes sich mit der Kirche als beginnend konstituiert und in Konflikt mit dem herrschenden letzten regnum der civitas terrena tritt, - und schließlich die Zeit von Konstantin bis zum WeItende, in der sich civitas Dei und civitas terrena als civitas permixta in der Reichseinheit vereinen, um den weltweiten Dienst der Kirche zu ermöglichen. Der irdische Teil der civitas permixta, das Römische Reich, erleidet wohl schwere Erschütterungen und erlebt Veränderungen des Reichsvolkes (Translationen), bleibt aber in Reichseinheit mit der civitas Dei verbunden. Von dieser geistlichpolitischen Heilszeit der civitas permixta her, interpretiert Otto auch die Vorgeschichte der civitas Dei: "Um ihren Glauben an die Verheißung des Himmelreiches zu stärken, übertrug er ihr die oberste zeitliche Herrschaft über alle Reiche. So wuchs, wie gesagt, der Staat Christi allmählich und erhob sich schließlich zum höchsten Gipfel und zur Weltherrschaft". 206

Allerdings wußte Otto, daß in der civitas permixta - eben weil sie nur durchmischt ist, auch der Keim des Verfalls steckt. Mit Ketzern, politischen Unruhen und Streitigkeiten zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt macht sich dieser immer wieder bemerkbar. Im letzten Abschnitt der Zeit würde der Keim des Verfalls schließlich aufgehen, die Einheit' der civitas permixta sich wieder auflösen und eine von der civitas Dei losgelöste civitas terrena im antichristlichen Reich zu einer letzten Hybris drängen. In gewissem Sinne kann man also Ottos Zeit der civitas permixta als innergeschichtlichen Chiliasmus werten. Das Interesse des Reichsbischofs lag nicht in erster Linie darin, historisches Material zu sammeln, Herrscherlisten zusammenzustellen oder chronologische Annalistik zu betreiben,207 ihm ging es vielmehr um eine sinnvolle, deutende Anordnung der Geschehnisse. Zwar läßt sich auch das augustinische Einteilungsschema der aetates bei ihm finden - so z. B. in abgewandelter Form im siebengliedrigen Aufbau seiner Chronik - aber für die eigentliche Deutung spielen die 206

Ouo, Chronica, IV, 4 - S. 309.

Dennoch fügte Otto an das Ende des 7. Buches seiner Chronik einen bis in die eigene Zeit vollständigen Päpste- und Kaiserkatalog an (Chronica, VII - S. 568 - 581). W7

3. Die Hochzeit christlicher Geschichtsdeutung: Dtto von Freising

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Weltalter im Vergleich zu den regna keine entscheidende Rolle und werden nur peripher verwendet. 208 Rein chronographisch hatte Otto nicht sehr viel Neues zu bieten. Hier lehnte er sich weitgehend an die Vorarbeit von Frutolf von Michelsberg an. Jedoch erweiterte er seinen Fundus an theologischen und philosophischen Quellen aufs Reichhaltigste. 209 Hinsichtlich seiner Beurteilungs- und Kritikfähigkeit sowie exakter historischer Arbeit reichte Otto jedoch weit über seine Vorgänger hinaus. Sagen und Legenden mied er, die Silvesterlegende hielt er für apokryph,210 eine Herrschaftsübertragung des Westens an den Papst zumindest für unglaubwürdig 211 und die Erzählung, nach der der Märtyrer Thiemo von den moslemischen Türken zum Götzendienst gezwungen worden wäre, für Märchen, da der Islam selber eine monotheistische Religion sei. 212 Dennoch blieb Ottos Weltgeschichte eine Breitenwirkung im Mittelalter versagt. Die spärliche Rezeption seines Werkes, das Otto von St. Blasien weiterführte, macht deutlich, wie isoliert er "auf einsamer Höhe,,213 dastand. Die meisten Universalhistoriker des späten Mittelalters griffen lieber auf die stoffreichen Chronographien Frutolfs oder Sigeberts zurück, die weniger geschichtsphilosophisch und somit leichtere Kost waren. Die Masse der Handschriften von Ottos Chronik findet sich erst im 15. Jahrhundert. Doch auch die humanistischen Geschichtsschreiber der frühen Neuzeit verwendeten die Chronik vor allem als Quelle für Reichsgeschichtliches und bayrisch-österreichische Regionalhistorie und nicht so sehr ihrer Deutungen wegen. Erst die Moderne hat Ottos Weltchronik wieder als einziges Werk des Mittelalters erkannt, das Historiographie hohen Stils mit einem umfassenden geschichtstheologischen Konzept verbindet. Wenn man heute im Rückblick das Ringen zwischen Kirche und Reich vom 11. bis ins 15. Jahrhundert in seinen ganz Europa umfassenden Auswirkungen betrachtet, dann kommt man nicht umhin, zu bestätigen, daß der von Otto befürchtete Zerfall der civitas permixta, wie er sie definierte, schließlich tatsächlich eingetreten iSt. 214 Und wenn man seinen geschichtstheologischen Grundgedanken in etwas 208 Dtto erwähnte die aetates u. a. in: Chronica, Pro!. III - S. 209; VIII, 14 - S. 615. Wie Augustin stellte auch er die Zeitrechnungen der Septuaginta und des masoretischen Textes nebeneinander, ohne sich für einen zu entscheiden (Chronica, I, 3 ff. - S. 63 ff.). Bei den Jahreszahlen zur Antike hielt er sich weitgehend an Orosius, wobei die chronologische Einordnung für ihn keine entscheidende Rolle spielte. 209 Zur Quellenlage bei Dtto: Chronica, Einleitung Lammers, S. XXXIV - XXXVIII, sowieA.-D. v. den Brincken, Studien, S. 221-223. 210 Dtto, Chronica, IV, 1- S. 301. 211 Dtto, Chronica, IV, 3 - S. 307. 212 Dtto, Chronica, VII, 7 - S. 511. 213 So Anna-Dorothee v. den Brincken, Studien, S. 222. 214 So auch Dtto Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, in: Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1933 bis 1959, hrsg. von Walter Lammers, Darmstadt 1961, S. 448.

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erweitertem Sinne gelten läßt, ist nicht zu leugnen, daß nach einer Zeit der Durchdringung des Abendlandes mit christlichem Geist für die Modeme eine zunehmende Trennung von Christentum und Gesellschaft ebenfalls nicht zu übersehen ist.

4. Erste Zäsur: Scholastik, Symbolismus und Nominalismus Schon vor Otto von Freising kam die Weltchronistik zunehmend unter den Einfluß des Schulwesens. Für die auf ihn folgenden Chroniken galt das jedoch fast ausnahmslos. Die Werke waren kompendiös und suchten, die große Stoffmenge vor allem für den klösterlichen und höfischen Schulgebrauch möglichst knapp gegliedert darzustellen. Meist waren sie Teil einer größeren Enzyklopädie. Sie verdrängten seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mehr und mehr eine am orosischen Ideal angelehnte Chronographie und führten zu einer starken Schematisierung und Verflachung der Universalgeschichtsschreibung. 215 Weder bemühte man sich um präzise Chronologie, noch wurden tiefergehende Versuche zur Deutung von Geschichte unternommen. Eine geschichtstheologische bzw. -philosophische Perspektive spielte keine Rolle. Dafür aber entwickelten die Weltchronisten eine Vorliebe für fesselnde Fabeln und Erzählungen. 216 Statt Qualität folgte nun Quantität. Mit der meist minderen Qualität der Historiographie ging eine quantitative Steigerung der Zahl der entstehenden Weltchroniken einher. Nach Otto war der Zenit mittelalterlicher Geschichtsschau tatsächlich überschritten. 217 Den einflußreichsten Typus der Schulchroniken stellten die sogenannten ,Martins-Chroniken' dar. Sie beherrschten im Spätmittelalter das Feld der Universalgeschichtsschreibung. 218 Als Fortsetzung der synchronistischen Papst- und Kaiserchronik des Dominikaners Martin von Troppau (bis 1278)219 fanden diese rohen schematischen Chroniken, die jederzeit mit dürftigem Stoff gefüllt oder mit Anekdoten gewürzt werden konnten, weiteste Verbreitung und wurden bald auch in die Volkssprachen übersetzt. Mehr populär-lehrhaft als mit echtem historischen Anspruch haben sie den geschichtlichen Sinn wohl "eher erstickt als gefördert".22o Vgl. A.-D. v. den Brincken, Studien, S. 211-220. Ein typischer Vertreter dieser Richtung ist z. B. Gottfried von Viterbo (ca. 1125-1190), dessen anekdotische Weltgeschichte (,Pantheon') zahlreiche Fabeln enthält. 217 SoA.-D. v. den Brincken, Studien, S. 229. 218 ,Martins-Chroniken', in: MGHS 24. Lit.: A.-D. v. den Brincken, Zur Herkunft und Gestalt der Martinschroniken, DA 37 (1981), S. 694-735. 219 Martinus Polonus, Chronicon pontificum et imperatorum Romanorum, hrsg. von Ludwig Weiland, MGHS 22 (1868), S. 377 -475. Lit.: A.-D. v. den Brincken, Martin von Troppau, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hrsg. von H. Patze, Sigmaringen 1987, S. 155 -193. 220 So Herbert Grundmann, Geschichtsschreibung im Mittelalter. Gattungen-EpochenEigenart, Göttingen 1965, S. 23. 215

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Die lebendigere Geschichtsschreibung des Spätmittelalters beschränkte sich bald mehr auf kleinere Zeiträume, ohne eine weltgeschichtlich deutende Perspektive zu bemühen. Selbst die größeren Weltchroniken 221 waren weitgehend starr und gewannen als Ausdruck christlichen Geschichtsdenkens kaum eigenes Profil. Erst der Humanismus brachte eine Wiederbelebung weltgeschichtlicher Darstellung. Allerdings änderte sich mit ihm zwar der Stil, nicht aber die Grundform und der Gehalt der Chroniken. Im 13. Jahrhundert war die Weltchronik nicht mehr die Form, die christliches Geschichtsdenken in originärster Weise zum Ausdruck brachte. Interessanter formulierten dies die Vertreter eines vor allem in Deutschland anzutreffenden Geschichtssymbolismus. Diese Bewegung, die von der Theologie herkam, hatte mehr ein spirituelles als ein historiographisches Anliegen. Über die bloße Wiederholung patristischer Aussagen hinaus wollte sie die Bibel in einem neuen ,geistigen Verständnis' sehen. Es galt, in den Erzählungen des Alten und Neuen Testaments vornehmlich den heilsgeschichtlichen Sinn und Typus eines Ereignisses zu erfassen. Symbolische Zusammenhänge von Bibel und Historie sollten zur Erkenntnis einer Gesamtwirklichkeit des menschlichen Daseins führen. Dieser historisch-symbolischen Betrachtung von Schrift und Geschichte war eine starke Christozentrik zu eigen. Alle Ereignisse vor der Inkarnation galten als Vorbereitung auf dem Wege zur Erlösungstat, alle Ereignisse danach als Konsequenzen dieser Zäsur und als Überleitung zum Triumph des Jüngsten Gerichts. Die Geschehnisse und Personen vor Christus sahen die Symbolisten als Typen und Symbole dessen an, was sich im Umkreis des Lebens Jesu erfüllte und sich vor seiner Wiederkunft in der Weltgeschichte noch zu erfüllen hatte. In gewissem Sinne gehörte Otto von Freising dazu, mehr noch Hugo von St.-Victor, der als einer der Begründer des Geschichtssymbolismus gilt. Ferner Gerhoch von Reichersberg, Rupert von Deutz, Anselm von Havelberg222 und die Visionärin Hildegard von Bingen. 221 Z. B. die vielbenutzte Weltchronik des Dominikaners Heinrich von Herford (bis 1355), Liber de rebus memorabilioribus sive Chronicon, hrsg. von August Potthast, Göttingen 1859. 222 Gerhoch von Reichersberg (bis 1169) deutete den Lauf der Geschichte und seine eigene Zeit von der Johannes-Apokalypse und dem Psalter her (De quarta vigilia noctis, De investigatione Antichristi, ed. E. Sackur, MGH, Libelli de Iite III, 1897, S. 305 ff. u. 503 ff.). Rupert von Deutz (bis 1129) spekulierte darüber, wie die ,Werke der Trinität' sich nacheinander in drei Stufen des Weltprozesses entfalten und wie die sieben Gaben des Heiligen Geistes in sieben Phasen der Kirchengeschichte wirken (Commentaria in Apokalypsim, De victoria verbi Dei, PL 169, S. 827 ff. u. 1215 ff.). Und Anselm von Havelberg (bis 1155) setzte die geschichtlichen Wandlungen und Neuerungen in Kirche und Mönchtum samt ihren jeweiligen Widersachern in Beziehung zu den sieben Siegeln der Apokalypse und ihrer Öffnung als einer stufenweise fortschreitenden Offenbarung zur heilsamen Erziehung des Menschengeschlechts (Dialogi, PL 188, S. 1139 ff.). Lit.: E. Meuthen, Kirche und Heilsgeschichte bei Gerhoch von Reichersberg, Leiden-Köln 1959; P. Classen, Gerhoch von Reichersberg, Wiesbaden 1960; K. Fina, Anselm von Havelberg. Untersuchungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte des 12. Jahrhunderts (Diss.), Würzburg 1955; W. Berges, Anselm von Havelberg in der Geistesgeschichte des 12. Jahrhunderts, Jb. f. d. Gesch. Mittel- und Ostdeutschlands 5 (1956), S. 38 ff.

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Am weitreichendsten für das historische Denken wirkten jedoch die Gedanken und Spekulationen des kalabrischen Franziskanerabtes und Ordensgründers Joachim von Fiore (Il31 - 1202).223 In seiner Erklärung zur Johannes-Apokalypse sowie einer von ihm verfaßten Konkordanz kündigte er den baldigen Anbruch eines Zeitalters des Heiligen Geistes an. 224 Aufgrund der Parallelität der Gott-Vater zugeordneten alttestamentlichen und Gott-Sohn zugeordneten neutestamentlichkirchlichen Zeit von jeweils 42 Generationen Dauer, meinte er im Blick auf die Trinität auf ein drittes Zeitalter des Heiligen Geistes schließen zu können, das in seiner Gegenwart zum Durchbruch kommen würde?25 Diese neue Zeit würde von einer mönchischen Geist-Kirche geprägt sein. Das Revolutionäre dieses Systems historisch-allegorischer Deutung lag in der fortschrittlichen Erweiterung und Sprengung des traditionellen Geschichtsverständnisses. Während bisher Christus als Mittelpunkt der Zeiten galt und sich die Weltgeschichte auf die endzeitlichen Geschehnisse und seine Wiederkunft zubewegte, so galt für Joachim die Zukunft auch darüberhinaus als nach hinten offen für ein neues Zeitalter, das - der Trinität entsprechend - vom Heiligen Geist geprägt sein würde. Nicht eine weltlich gewordene priesterliche Hierarchie sollte diese neue spirituelle Zeit bestimmen, sondern die klösterliche Gemeinschaft von Heiligen in der Nachfolge des heiligen Benedikt. Ihre geschichtliche Bestimmung wäre die Heilung der im Verfall begriffenen Welt. Damit hatte Joachim zugleich auch ein neues Einteilungs- und Gliederungsschema für die Geschichte geschaffen: Die Zeit des Gottvaters (AT), die des Gottsohnes (NT bis ca. 1260) und die des Heiligen Geistes (ab ca. 1260). Die Quelle dieses trinitarischen und in gewisser Weise chiliastischen Geschichtsentwurfes meinte Joachim in der Offenbarung des Johannes zu finden. 226 Die Sprengkraft einer solchen Geschichtsschau liegt auf der Hand: Der Anspruch des Mönchtums, in einem 223 Auch zu Joachim von Fiore ist die Literatur reichhaltig. Die eindringlichsten deutschsprachigen Arbeiten stammen von: Herbert Grundmann (Studien über Joachim von Fiore, Leipzig 1927 (1966); Ders., Neue Forschungen über Joachim von Fiore, 1950) und Ernst Benz (Die Kategorien der religiösen Geschichtsdeutung Joachims, in: ZKG 3. Folge, I, 1931, S. 24 - 111; Ders., Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation, Stuttgart 1934). Ferner: J. Chr. Huck, Joachim von Fiore und die joachitische Literatur (1938); Löwith, S. 136-147; Nigg, Das ewige Reich, S. 131-152; Hans Martin SchaUer; Endzeit-Erwartung und Antichristvorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts, in: Max Kerner (Hrsg.), Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 1982, S. 303-331; Carozzi, S. 119-143. 224 Joachim von Fiore, Expositio in Apocalypsim, Venedig 1527 (Frankfurt 1964); Ders., Concordia Novi ac Veteris Testamenti, Venedig 1519 (Frankfurt 1964). Ferner: Ders., Enchiridion in Apocalypsim, in: Joachim von Aoris und die joachimitische Literatur, hrsg. v. J. C. Huck, Freiburg 1938. 225 Joachim von Fiore, Expositio in Apoca1ypsim, Einleitung u. Kap. 5; Concordia Novi ac Veteris Testamenti, V, Kap. 84. 226 Bes. Offb 14, 6-7, wo von einem "ewigen Evangelium" die Rede ist. Joachim (u. seine Anhänger) bezog das auf seinen Geschichtsentwurf. Als "ewiges Evangelium" wurde seine Lehre später auch bekannt.

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neuen Zeitalter die wahre Kirche der Zukunft zu sein, ging an die Grundfesten des katholischen Kirchenverständnisses. Viele Franziskaner des 13. Jahrhunderts hielten Joachim selbst für den in der Offenbarung erwähnten Verkünder des ,ewigen Evangeliums' und knüpften neue apokalyptische Erwartungen an den Beginn des proklamierten neuen Zeitalters. 227 Zudem fand die Neigung des geschichtssymbolischen Denkens, die Menschheitsgeschichte als einen Vervollkommnungsprozeß zu betrachten, der seinen Sinn vom Ziel her erhalte, in Joachim seinen intensivsten Ausdruck: Während in der ersten Zeit Schöpfung, Erwählung und Gesetzesanspruch entscheidend gewesen seien, so in der zweiten Gnade und Sündenvergebung. Aber erst die neue dritte Zeit des Geistes werde den wahren Sinn der beiden vorhergehenden Testamente enthüllen, zu einem Höchstmaß an Erkenntnis und Gottesliebe führen und von aller Mühsal und allem bislang Unvollkommenen befreien. Die Worte des Apostel Paulus, daß unser Wissen und Weissagen jetzt nur Stückwerk sei, -"wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören" (lKor 13, 9-10), - bezog Joachim nicht auf die Ewigkeit und auch nicht auf ein verklärtes Tausendjähriges Reich jenseits der Geschichte, sondern auf das dritte voll historische Zeitalter des Heiligen Geistes. Eine innerweltliche Fortschrittslinie ist hier unverkennbar. Die geschichtstheologische Kategorie der Christozentrik erfahrt dadurch eine nicht unbedeutende Verzerrung: Christi Inkarnation ist nur noch insofern ,Mitte der Zeit' als sie zwischen der Zeit des Vaters und der des Heiligen Geistes stattfindet. Sie ist es aber nicht mehr im Sinne einer göttlichen Offenbarungsfülle, von der her alle Geschichte seinen Sinn erhält. Auch steuert die nachchristliche Geschichte nicht mehr als ,letzte Zeit' auf die Parusie zu, sondern auf eine neue ,Zeit des Heiligen Geistes', die eine weitere und letzte Stufe des göttlichen Heilsplanes darstellt. Damit relativiert sich die urchristliche Christozentrik doch ganz erheblich. Ebenso verändert sich die Rolle der Kirche: Sie ist nicht mehr die Vermittlerin des mit der Inkarnation angebrochenen endgültigen Heilsangebotes, sondern sie gehört (als verfaßte Kirche) nurmehr der zweiten Zeit an und stellt damit lediglich eine vorübergehende Institution dar. Daß diese Folgerungen aus Joachims Lehre der damaligen Kirche höchst suspekt sein mußten, liegt auf der Hand. Seine geschichtstheologisch neue Leistung bestand nun darin, Ereignisse und Personen aller drei Zeiten, die sich beim Übergang von einer Epoche in die andere für eine gewisse Zeit überlappen,228 typologisch und allegorisch einander zuzuord227 So z. B. Gerhard von Borgo San Donnino, dessen Buch ,Liber introductorius ad Evangelium aeternum' (Paris 1254) das neue Zeitalter für 1260 ankündigte (Gerhard wurde später zu lebenslanger Haft verurteilt). Die Anhänger Joachims, meist franziskanische Spiritualen, erwarteten ferner, daß Kaiser Friedrich 11. sich dann als Antichrist offenbaren werde. 228 So setzt bei Joachim das zweite Zeitalter des Evangeliums ein, wenn das erste noch eine ganze Weile lang weiterbesteht, nämlich unter dem gläubigen König Usia. Das Christusgeschehen ist Abschluß und Erfüllung des ersten Zeitalters des Gesetzes und zugleich bereits Mitte des zweiten Zeitalters des Sohnes. Dieses läuft nach Meinung Joachims wie schon das erste Zeitalter nach vierzig Generationen (a 30 Jahre, d. h. im Jahre 1260) aus und das dritte

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nen und damit einen tieferen heilsgeschichtlichen Sinn von Geschichte zu ermitteln. Auch nach traditioneller Auffassung war das AT in vielerlei Hinsicht Typus auf das NT. Aber für Joachim entsprach jede Gestalt und jede Begebenheit des Alten Testaments, geistig verstanden, nicht nur einer entsprechenden Gestalt und Begebenheit des Neuen Testaments, sondern auch der Kirchengeschichte und des Zeitalters des Heiligen Geistes. So kann er sieben Perioden des AT mit sieben Perioden der Kirchengeschichte in Beziehung setzen. So entspricht Jakob dem neutestamentlichen Zacharias, Josua dem Evangelisten Johannes, David - Konstantin, Elias - Justinian und Hiskia Karl dem Großen. Die Babylonische Gefangenschaft entspricht der Gegenwart Joachims und die Zeit Maleachis der des Antichristen. Jede dieser Perioden steht auch für eines der sieben Siegel der Johannes-ApokaIypse, das Joachim zufolge als letztes Buch der Bibel alle anderen rekapituliert und den Schlüssel zur gesamten Heilsgeschichte enthält. Eine solche typologische und allegorische Deutung hat ein äußerst enges Miteinander von Weltgeschichte und Heilsgeschehen zur Folge. Das Charakteristische an dieser Weitsicht ist nicht nur die fehlende Trennung von Heils- und Profangeschichte, sondern vor allem, daß dem profanen Geschehen ein religiöser Offenbarungswert zugemessen wird. Weltund Heilsgeschichte sind in einem fortschreitenden Prozeß ineinander verwoben. Die Erwartung eines letzten Fortschritts in der Weltgeschichte zur Erfüllung des Heilsgeschehens ist etwas völlig Neues und weist bereits auf die modemen Messianismen hin. In gewisser Weise war Joachim der erste Vertreter eines innerweltlichen Fortschrittsdenkens,229 wenn dies bei ihm auch noch eingebettet blieb in einen providentiell-heilsgeschichtlichen Rahmen. Herbert Grundmann hat Joachims Denken wegen seiner Betonung der ständigen geschichtlichen Verwandlung seIbst von Kirche und Sakramenten einen "theologischen Historismus" genannt. 230 Während die offizielle Hochscholastik in solchen Spekulationen nur "menschliehe Konjekturen" sah (Thomas von Aquin),231 griffen chiliastische Strömungen die Verheißung des ,neuen Zeitalters' begierig auf, nicht ohne der Joachimschen Lehre ihr jeweils eigenes Gepräge zu geben. Sowohl Franziskaner als auch Dominikaner erhoben den Anspruch, die wahren Vertreter einer neuen geistgewirkten Kirche zu sein, ohne sich freilich deswegen von der Amtskirche trennen zu wollen. Hatte Joachim das Erscheinen eines messianischen Führers prophezeiht, der um des Reiches Christi Willen die geistliche Erneuerung des dritten Zeitalters bringen werde, so deuteten die franziskanischen Spiritualen Joachim selbst als Taufer Johannes des dritten Evangeliums und den heiligen Franziskus als den novus dux, Zeitalter des Heiligen Geistes, das noch während des zweiten mit dem heiligen Benedikt begonnen hat, kommt zur vollen Reife. Der Antichrist wird beim Auslaufen des Zeitalters des Sohnes erwartet (also etwa um 1260), das Jüngste Gericht und die allgemeine Auferstehung dagegen erst am Ende des dritten Zeitalters. 229 Siehe dazu: Löwith, S. 190-195 (Anhang I: Verwandlungen der Lehre Joachims). 230 Grundmann. Studien über Joachim von Fiore, S. 96 ff. 231 Thomas von Aquin. Summa theologica 11, 106 -108, hrsg v. A. Pegis, New York 1945. Dazu: Ernst Benz, Thomas von Aquin und Joachim de Fiore, ZKG LIII (1934), S. 52 ff.

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als den ,neuen Christus' des letzten mönchischen Zeitalters. Und da Joachim angenommen hatte, daß binnen zweier Generationen die letzte Schlacht zwischen der neuen Ordnung und den Mächten des Bösen geschlagen würde, konnten seine Nachfolger mit umso größerer Entschiedenheit Kaiser Friedrich n. als den Antichristen deuten. 232 Dieser würde als Henker wirken für eine sich ihrer Erneuerung widersetzende antichristliche Kirche, während er zugleich die wirklichen Nachfolger Christi verfolge. 233 Die politischen Folgewirkungen der von Joachim und seinen Anhängern verbreiteten Lehre überlebten das 13. Jahrhundert kaum, sieht man einmal von einern kurzen Intennezzo des römischen Tribuns Cola di Rienzo im 14. Jahrhundert ab, der den Joachimismus wiederbeleben und mit einer nationalen Erneuerung Italiens verbinden wollte. 234 Aber Joachims messianische Begriffswelt überlebte ihn erheblich und tauchte noch im zwanzigsten Jahrhundert in rechtskonservativen und faschistischen Kreisen wieder auf. 235 Doch der Geschichtssymbolismus gehörte schon nicht mehr zum Hauptstrom historischen Denkens im Abendland. In den sechziger Jahren des 12. Jahrhunderts waren die Aristoteles-Übersetzungen soweit rezipiert, daß die Maxime des Philosophen, Erkenntnis- und Seinsordnung müßten übereinstimmen, dem Geschichtssymbolismus die Grundlage entzog. Ein Fortschreiten der menschlichen Erkenntnis vorn veränderlichen Verlauf der Geschichte zum unveränderlichen Sein des Göttlichen schien nicht mehr möglich. Das hatte für die Beschäftigung mit Geschichte weitreichende Folgen. Hatten die Schulen in Frankreich schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts damit begonnen, das Schwergewicht der geistigen Betätigung von der Grammatik (zu der nach antikem Bildungssystem auch die 232 Friedrich 11., vom Papst exkommuniziert, krönte sich selbst in Jerusalem zum König und nahm den messianischen Titel "dominus mundi" an - eine Handlung, die als antichristIiche Anmaßung empfunden wurde. Allerdings starb er unerwartet 1250, zehn Jahre vor dem entgegengefieberten Jahr 1260, für das die Spiritualen das Offenbarwerden des Antichristen erwarteten. Dazu: E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich 11. (1928); SchaUer; Endzeit-Erwartung und Antichristvorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts, S. 308 ff. 233 Die Verfolgung der Franziskaner-Spiritualen verlief teils unnachgiebig, teils integrierend, wo die Gegensätze zur verfaßten Kirche nicht unüberwindlich waren. Vgl. SchaUer; S. 320ff. und Nigg, Das ewige Reich, S. 144ff. 234 Der Volksführer Cola di Rienzo (1313 - 1354) gab sich selbst als der verheißene ,novus dux' aus und errichtete 1347 in Rom einen Freistaat nach altrömischen Muster. Noch im gleichen Jahr mußte er allerdings abdanken und floh zu franziskanischen Eremiten, die noch den verbotenen Lehren Joachims anhingen. Selbst Kaiser Karl IV. und den Erzbischof von Prag versuchte er in seinem Briefwechsel von der Wahrheit der prophetischen Voraussagen Joachims zu überzeugen (Cola di Rienzo, Briefe in 5 Bänden, hrsg. von K. Burdach und p. Piur, 1912-1919). Vgl. Bem, Ecclesia spiritualis, S. 387f. 23S Italienische Faschisten bemühten sich in den zwanziger Jahren um Parallelen zwischen dem messianischen ,novus dux' und dem ,Duce' Mussolini. In Deutschland griffen Arthur MoeUer van den Bruck (1876-1925) und die Nationalsozialisten den Begriff des ,Dritten Reiches' auf (letztere sogar in Verbindung mit dem chiliastischen Terminus des ,Tausendjährigen Reiches').

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Teil II: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

Geschichte gehörte) zur Logik bzw. Dialektik innerhalb der artes liberales zu verlagern, so machte der Siegeszug von Scholastik und Aristotelismus einen ontologischen Rationalismus zu dem Erkenntnisprinzip schlechthin. Historische Deutungen lagen da ganz außerhalb dieses Prinzips. So verlor die Geschichte ihren Standort im Wissensgefüge der aufstrebenden Universitäten. Drei Jahrhunderte lang führte die Beschäftigung mit der Historie ein akademisches Schattendasein, bis Philipp Melanchthon bei seiner Wittenberger Antrittsrede 1518 u. a. auch die Einführung der Geschichte als reguläres Studienfach forderte. Zwar gab es im Spätmittelalter und beginnendem Humanismus weiterhin Weltchroniken. Sie knüpften aber lediglich an das starre Schulschema der ,MartinsChroniken' an, ohne geschichtstheologisch oder -philosophisch tiefer zu gehen. Zudem lockerte die fortschreitende Differenzierung der Wissensgebiete die Einbindung in den mittelalterlichen ordo, was sich auch auf die Geschlossenheit des Geschichtsbildes auswirken mußte. Der weltgeschichtliche Rahmen wurde bei den Geschichtswerken dieser Zeit zwar noch oft am Anfang bemüht, in der erzählerischen Folge aber nicht mehr ausgefüllt. Stattdessen entstanden zahlreiche Landund Stadtgeschichten in weltgeschichtlichem Gewand. 236 Überhaupt mehrten sich seit dem 12. Jahrhundert die Arbeiten, die historiographisch einen von der Sache her begrenzten Gegenstand ins Auge zu fassen suchten, wie Kreuzzugs-, Missions-, und Stadthistorien oder Adels- und Papstchroniken. Entscheidende Bedeutung für den weiteren Fortgang von Welt- und Geschichtsbild hatte die innertheologische Geistesentwicklung. Die über arabische und jüdische Philosophen vermittelte Aristoteles-Rezeption der Scholastik237 lieferte zunächst eine philosophische Grundlage für die Harmonisierung der Welt- und Gesellschaftsordnung, die dem augustinischen Dualismus von civitas Dei und civitas terrena entgegengesetzt war. Die Welt wurde weniger zum Ort der Auseinandersetzung zwischen göttlicher und irdischer Bürgschaft, wie bei Otto von Freising, sondern eher zum Ort der geordneten Hierarchie der Stände und der göttlichen Weltordnung. Dieses Konzept einer hierarchischen Harmonie, eindrucksvoll in Thomas von Aquins ,Summa theologica' vorgeführt, griff umsomehr, als die Kirche insbesondere seit dem 10. Jahrhundert einen immensen Zuwachs an weltlicher Macht und finanziellen Mitteln erfahren hatte. Dagegen betonten die aufkommenden mönchisch-chiliastischen Bewegungen das Armutsideal und griffen zurück auf die vorkonstantinische kritische Distanz des Christentums zur herrschenden Welt- und Gesellschaftsordnung. Auf der einen Seite stand also eine politisch übermächtig gewordene Kirche, die die weltliche Ordnung zu usurpieren trachtete 238 und mit 236 So das ,Chronicon mundi' des Spaniers Lucas von Tuy oder die ,Istorie fiorentine' des Italieners Giovanni Villani. 237 Dempf, Sacrum Imperium, S. 339 ff. 238 Höhepunkt des päpstlichen Machtanspruches stellte die Bulle ,Unam Sanctam' (1302) dar, in der Papst Bonifaz VIII. erklärte, jede menschliche Kreatur habe um ihres Seelenheiles willen dem römischen Pontifex untertan zu sein. Schon zuvor hatte Thomas v. Aquin die weltliche Gewalt den geistlichen Machtansprüchen unterstellt:

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ihrem überzogenen päpstlichen Suprematieanspruch das traditionelle Gleichgewicht zwischen Kaiser und Reich und damit die tragenden Fundamente der bisherigen christlichen Ordnung bedrohte; auf der anderen Seite standen die chiliastischen Bewegungen und Teile des Reformmönchtums, die nicht nur Reichtum und weltliche Macht der verfaßten römischen Kirche kritisierten, sondern deren Bedeutung überhaupt in Frage stellten und stattdessen anstelle der herrschenden Kirchenordnung eine neue Mönchsherrschaft innerhalb der Zeit erwarteten. Beides hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Geschichtsbild, wie an den Beispielen Otto von Freising und Joachim von Fiore deutlich wurde. Doch noch weitreichendere Folgen hatte der innere Fortgang der Scholastik selbst. Die von ihr so entschieden vorangetriebene Vermählung christlicher Dogmatik und aristotelischer Philosophie, von Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) in seiner Summa theologica zum Programm erhoben, barg den Keim des eigenen Niedergangs in sich. Die rege Aristoteles-Rezeption setzte nämlich Fragen der Seinsordnung in Gang,239 die im Extremfall philosophische Positionen zur Folge hatten, die mit einem christlichen Welt- und Geschichtsverständnis völlig unvereinbar waren. Bald schon leugneten die gegen Thomas auf die arabische Aristoteles-Rezeption aufbauenden ,lateinischen Averroisten' Siger von Brabant (ca. 1235 -1281) und Boethius von Dakien die Unsterblichkeit der Seele und behaupteten die Ewige keit der Welt. 240 Der Niederländer Siger, zweimal vor einem Ketzergericht verurteilt und schließlich am päpstlichen Hof ermordet, trat sogar für die Unabhängigkeit der philosophischen Lehre von den kirchlichen Dogmen ein. Den entscheidenden Frontalangriff gegen die Grundlagen der Scholastik mit ihrer Synthese aus Vernunft und Glauben, Aristoteles und Offenbarung, Philosophie und Theologie führten jedoch die franziskanischen Scholastiker Roger Bacon (ca. 1214 - 1294), Johannes Duns Scotus (ca. 1265 - 1308) und Wilhelm von Ockham (ca. 1285 - 1349). Die drei lehnten die scholastische Erkenntnismethode ab, die darin bestand, sich in allen Fragen auf die Autoritäten (Bibel, Aristoteles, Kirchenväter) zu berufen, bzw. von diesen ausgehend durch logische Deduktion Lösungen zu ermitteln. Stattdessen proklamierten sie die Trennung von Theologie und Philosophie, die Naturbeobachtung und das Experiment als neue Erkenntnismethode (Bacon) und einen theologischen Absolutismus, der die Dinge geschehen und sein läßt, allein weil Gott es eben so will (und nicht weil es vernunftmäßig notwendig sei, wie Thomas von Aquin es von Aristoteles her begründete).

,,Im Neuen Testament ( ... ) steht das Priestertum ( ... ) höher, und im Gesetz, das Christus gab, müssen die Könige den Priestern unterworfen sein". (Über die Herrschaft der Fürsten, I, 14 - hrsg. v. F. Schreyvogel, Stuttgart 1975, S. 36). 239 Insbesondere Aristoteles' Metaphysik (Aristoteles, Werke, hrsg. v. Ernst Grumach und Hellrnut Flashar, Darmstadt 1975 ff.) bewirkte Auseinandersetzungen in der Frage, in welcher Beziehung Form (morphi) und Materie (h'yle) zueinander stünden, die die spät-mittelalterliche Philosophie nachhaltig erschütterten. 240 Dempf, Sacrum Imperium, S. 342 ff.

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Duns Scotus unterzog die Scholastik einer radikalen Methodenkritik und richtete so die Aufmerksamkeit von den Inhalten scholastischer Lehrsätze weg zur philosophischen Methode der Beweisführung. Sie wollte er aus dem scholastischen ,Dienstverhältnis' lösen. 241 Ockhams Position eines erneuerten Nominalismus erschütterte dagegen die Grundfesten scholastischen Denkens von innen heraus. In dem alten Streit, ob die Allgemeinbegriffe (Universalien) mehr Realität gegenüber dem einzelnen haben, wie es die ,realistischen' Scholastiker behaupteten, vertrat der Engländer mit Berufung auf Aristoteles eine radikale nominalistische Position, nach der dem Allgemeinen überhaupt keine Wirklichkeit zukomme, sondern nur das einzelne wirklich sei. Die Folgen dieser heute nur schwer nachvollziehbaren Auseinandersetzung hatten größte Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geistesgeschichte. Die christlichen Dogmen, die von den Scholastikern und ihrer ,realistischen' Universalienposition per Vernunft erklärt wurden, entzogen sich durch Wilhelms Nominalismus jeglicher vernunftmäßigen Erfaßbarkeit. Dementsprechend bestritt Wilhelm auch jede Möglichkeit einer mit exakten Beweisen arbeitenden ,theologischen Wissenschaft' und forderte die völlige Trennung von offenbarungsbegründeter (,unvernünftiger') Theologie und weltlicher exakter Wissenschaft. Für die kirchliche Praxis forderte er konsequent die Trennung von weltlichen und kirchlichen Aufgaben. Ockham wurde wegen seiner Lehre vom Papst in Avignon eingekerkert und floh daraufhin nach München, wo er 1349 unter dem Schutz des bayerischen Königs starb. An der führenden Pariser Universität wurde seine Lehre schon 1339 verboten und noch 1473 mußten sich alle Lehrer per Edikt gegen den Nominalismus auf den scholastischen Realismus verpflichten, zu einer Zeit, als sich der Nominalismus Ockhams allgemein längst durchgesetzt hatte. Mit dem Nominalismus zerbrach die von Thomas von Aquin zelebrierte ,Metaphysik-Theologie' der Scholastik und mit ihr jene Synthese aus Aristoteles und Offenbarung, Philosophie und Theologie, Vernunft und Glauben. 242 Die Philosophie und die sich ihr gegenüber allmählich verselbständigende Wissenschaft entließen sich selbst aus dem Dienst der Theologie. Mehr und mehr wandelten sie auf eigenen Bahnen mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich nach dem Postulat Roger Bacons auf die unmittelbare äußere Erfahrbarkeit als Erkenntnisquelle stützten. Insgesamt lief Ockhams Nominalismus zunächst darauf hinaus, den Glauben an eine Erkennbar- und Erklärbarkeit weltlicher Zusammenhänge von der Theologie her zu erschüttern. Denn ein Gott, der in seinem Willen absolut autonom ist und sich durch keine natürliche oder vernünftige Gesetzmäßigkeit in seiner Allmacht beschneiden läßt, ist in keinerlei philosophisches System zu packen. So wurde Ockhams Nominalismus denn auch von seinen Zeitgenossen nicht als Revolution 241 Vgl. dazu: Johann EdUßrd Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Berlinl Zürich 1930, S. 261. 242 Vgl. Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Stuttgart 19799 , S. 2 ff.

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der Logik, sondern als Irrationalisierung der Welt begriffen. Zu Recht bemerkt Herfried Münkler, daß weniger die Trennung von Glauben und Wissen, als vielmehr "die Destruktion jeder Möglichkeit eines gesicherten Wissens überhaupt" den Kern von Ockhams Philosophie und deren Folgen ausmacht. 243 Damit bedeutete der Nominalismus nicht nur die Vorwegnahme "aller wesentlichen Resultate des abendländischen Kritizismus", der "den Weg für eine kritische und empirische Naturwissenschaft" freigelegt habe, wie Alois Dempf feststellte,244 sondern auch eine Unsicherheit des geschichtlichen Seins des einzelnen, das "von jedem Augenblick in den nächsten von Sein in Schein, aus der Wirklichkeit in Nichtigkeit umschlagen kann" (Hans Blumenberg)245 und in dem der Mensch nur noch "Objekt göttlicher Caesarenlaune" ist (Rudolf Stadel mann). 246 Während die Weltgeschichtsschreibung in dem starren Schema der MartinsChroniken vor sich hin dümpelte, hatte sich das Grundgefühl des Menschen in seinem Bezug zu Gott, Welt und geschichtlichem Dasein verändert. Neue Deutungskriterien für politisches und historisches Geschehen wurden nun jenseits eines christlich heilsgeschichtlichen Kosmos' gesucht und gefunden. Als erstes geschah dies im politisch zersplitterten und ökumenisch fortgeschrittenen Italien, - dort, wo päpstliche Herrschaftsambitionen sozusagen vor der Tür spürbar waren: in der um Unabhängigkeit kämpfenden Republik Florenz, in der Person Niccolo Machiac vellis.

s. Verwerfung, Erneuerung und Säkularisierung christlicher Weltgeschichtssicht als paralleles Geschehen der frühen Neuzeit a) Statt Vorsehung Beherrschbarkeit des Schicksals: Niccolo Machiavelli In das Loch, das ein scholastisch erstarrtes Weltalterschema und ein entrationalisierender Nominalismus gerissen hatten, trat das Bemühen, das Geschehen um einen herum innerweltlich durchschaubar und erklärbar zu machen. Zugleich entfernten sich die spätmittelalterlichen und humanistischen Historiographen immer mehr vom Typologischen. Das Bedürfnis, den historischen Einzelgegenstand unabhängig von einer universalgeschichtlichen Perspektive in seiner unverwechselbaren Perspektive zu erfassen, trieb sie zu größerer Quellennähe und bewußterer 243 Herjried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Aorenz, Frankfurt 1984, S. 85. 244 Dempt Sacrum Imperium, S. 506. 24S Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, S. 121. 246 Rudolf Stadelmann, Vom Geist des ausgehenden Mittelalters. Studien zur Geschichte der Weltanschauung von Nicolaus Cusanus bis Sebastian Franck (= Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Bd. 15), Halle 1929, S. 32.

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Quellenkritik.247 Vor allem die antiken, insbesondere römischen Geschichtsschreiber waren es, die dem neu erwachten Sinn fürs Individuelle und einem rational ausgerichteten Erklärungsansatz entgegenkamen. Schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verwendete der für den Außenverkehr der Stadt Florenz verantwortliche Kanzler Coluccio Salutati Argumente aus Ciceros Reden zur Stützung der eigenen republikanischen Stadtverfassung in Abwehr gegen das monarchistische Mailand. 248 Sein Nachfolger Leonardo Bruni (ca. 1370-1444) wandte sich mit seiner Florentiner Geschichte 249 in ähnlicher Weise gegen die Stadt Rom, indem er Florenz als Erbe der römischen Republik nachzuweisen und alle anderen Verfassungs formen als verwerflich abzuwerten suchte. Er eliminierte in seiner Historie alle rational nicht erklärbaren Elemente, die seine Vorgänger zur Darstellung der Stadtgeschichte noch gebraucht hatten, wie Fabeln, Wunderberichte oder den Eingriff der göttlichen Vorsehung. 25o Geschichte ist für Bruni bereits allein das Werk des Menschen. Doch am radikalsten verbannte der Florentiner Jurist und Staatstheoretiker Niccolo Machiavelli (1469-1527) die göttliche Vorsehung aus der Geschichte. 251 Indem sich seine Gedanken zu politischer Führung, Staat und Geschichte weder an einem vorgegebenen providentiellen Geschichtsablauf noch an einem sittlich begründeten politischen Handeln orientierten, sondern allein der Dauerhaftigkeit, der inneren Stabilität und äußeren Expansionsfähigkeit eines Staatswesens verpflichtet waren, wurde er der erste politische Theoretiker der Neuzeit. 252 Aber weniger der politische Paradigmenwechsel mit dem Staat (und nicht mehr Gott) im Mittelpunkt und die damit verbundene ,,Entdeckung der Eigenständigkeit des Politischen,,253 soll uns hier interessieren, als vielmehr, daß Machiavelli als erster ein alternatives Deutungssystem historischer Vorgänge schuf. Seine ganz eigene Koppelung von antikem zyklischen Geschichtsbild mit einer prae-wissenschaftlichen Kausalität stellte den Versuch dar, in all den Auf- und Abstiegen politischer Geschichte 247 Vgl. Werner Goez, Die Anfange der historischen Methoden-Reflexion in der italienischen Renaissance und ihre Aufnahme in der Geschichtsschreibung des deutschen Humanismus, AKuG 56 (1974), S. 25-48. 248 Eckhard Kessler, Das Problem des frühen Humanismus, Seine philosophische Bedeutung bei Coluccio Salutati (= Humanistische Bibliothek, Abh. u. Texte 1/1), 1968. 249 Leonardo Bruni, Historiarum Florentini populi libri, hrsg. von E. Santini, Rerum italicarum scriptores, Milano 1723-1885, 19/3. Lit.: H. Baron, Leonardo Bruni, Humanistischphilosophische Schriften (1928). 250 So z. B. noch Giovanni Villani (ca. 1275 -1348) in seiner Florentiner Geschichte. Dazu: Ernst Mehl, Die Weltanschauung des Giovanni Villani. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Italiens im Zeitalter Dantes (= Beitrag zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 33), 1927. 251 Eine gute Auswahlbibliographie zu Machiavelli bieten: Wilhelm Totok (Handbuch der Geschichte der Philosophie, Bd. III Renaissance, Frankfurt 1980, S. 122 -148) und Münkler, S. 483 -504. Vgl. auch TRE 21 (1991), S. 642-48. m Münkler, S. 97. 253 Alfred A. Strnad, Art. "Machiavelli/Machiavellismus", in: TRE 21 (1991), S. 642.

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eine gewisse Gesetzmäßigkeit zu erkennen. Diese Gesetzmäßigkeit, die der Italiener mit den Begriffen necessitii, fortuna und virm zu umschreiben suchte, sollte dem Historiker helfen, Geschichte zu verstehen, mehr aber noch sollte sie dem Politiker helfen, sie zu berücksichtigen und dementsprechend erfolgreich zu agieren. Dabei ist es fast schon eine Ironie der Geschichte, daß es vor allem der Papstsohn Cesare Borgia war, der Machiavellis machtpolitisches Idealbild am nachhaltigsten prägte. In seinen bei den Hauptwerken "Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio" (Betrachtungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius) und ,,/l Principe" (Der Fürst)254 entwirft der Florentiner anhand von Beispielen aus der Geschichte, insbesondere der römischen, Regeln des politischen Handeins, die sich je nach historischer Notwendigkeit (necessitii) eher republikanisch-integrativ ausdrücken (so in den Discorsi) oder autoritär-diktatorisch (im Principe). Necessitii - zentraler Topos Machiavellis - entspricht der Notwendigkeit dessen, was zur staatlichen Selbsterhaltung innerhalb eines von Machiavelli zugrunde gelegten zyklischen Geschichtsmodells getan werden muß. Die staatliche Existenz - und auf sie allein kommt es Machiavelli an - schwankt zwischen den Zuständen der Ordnung (ultima perfezione) und des Verfalls (ultima bassezza). Kulturelle Entwicklung, individuelle Freiheiten oder Religion spielen für Machiavelli nur insoweit eine Rolle, als sie staatliche Stabilität stützen oder unterhöhlen und sind dementsprechend zu beurteilen. Die Kenntnis des jeweiligen zyklischen Standes (qualitii dei tempi) ermöglicht es Menschen und Staat, sich dem Schicksal (fortuna), dem zweifelhaften Glück, partiell zu entziehen. Machiavellis theoretische Überlegungen zielen also auf eine Beherrschbarkeit der Geschichte durch die Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeit - eine Formel, die später auch die Enzyklopädisten der Aufklärung unter dem Banner der Fortschrittsidee für sich beanspruchten. ,Fortschritt' spielt im Denken Machiavellis allerdings keine Rolle. Im Gegenteil - noch fest im anthropologischen Pessimismus des Mittelalters verwurzelt und die ständigen politischen Krisen Italiens vor Augen, begreift er seine Zeit im zyklischen Verfall (ultima bassezza). Ein Fortschreiten des Menschengeschlechtes zu immer Höherem wäre ihm ein abwegiger und törichter Gedanke. Allein darum geht es, die staatliche Existenz für möglichst lange Zeit dem ständigen politischen Auf und Ab, dem corso und ricorso zu entziehen. Die Beständigkeit ist höchstes Ziel, die Staatsräson oberstes Maß und normatives Fundament, dem sich die Mittel dazu unterzuordnen haben. Und da neben dem zyklischen Geschichtsverlauf die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur als wankelmütiges, manipulierbares und vor allem vergeßliches Wesen die zweite Konstante in Machiavellis Weltbild darstellt, ist es auch möglich, die Historie als Studienobjekt 254 Niccolo Machiavelli, Discorsi, Gedanken über Politik und Staatsführung, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Rudolf Zorn, Stuttgart 1977 2; ,Il Principe' (Der Fürst), übersetzt und hrsg. von Rudolf Zorn, Stuttgart 1972 4; Oder: Der Fürst, übersetzt von Ernst MerianGenast, hrsg. u. eingeführt von Hans Freyer, Stuttgart 1965; Niccolo Machiavelli, Gesammelte Schriften in 5 Bänden, hrsg. von Hanns Floerke, München 1925. 8 Schwaiger

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politischer Entwicklungen heranzuziehen. Daß man aus der Geschichte lernen kann, ja lernen muß, ist der Tenor in allen Schriften des Florentiners. Neben den berechenbaren Größen, dem zyklischen Stand (qualita dei tempi) und der Konstanz der menschlichen Natur, sieht Machiavelli - ganz RenaissanceMensch - auch die unberechenbare Komponente des Auf und Abs, das Schicksal (fortuna), in seinem System vor. Diese Macht des Glücks oder Unglücks ist die irrationale Komponente in seiner Theorie. Fortuna kann alles durcheinanderwirbeln und alles unvorhersehbar und unbeherrschbar machen. Damit fortuna politisch einigermaßen beherrschbar wird und nicht zuviel Schaden anrichtet, bedarf es Männer, die genügend virtit besitzen. Virtit ist die Fähigkeit, die Notwendigkeit eines bestimmten politischen Handeins (necessita) gemäß dem zyklischen Stand der staatlichen Existenz (qualita dei tempi) zu erkennen und die Gelegenheit (occasione), die sich zu diesem Handeln bietet, zu ergreifen. Der altrömische Tugendbegriff virtil wird also bei Machiavelli zu einer Art politischem Instinkt, zur rechten Zeit das politisch Richtige zu tun, auch ohne sich um ethische Normen oder moralische Bedenken zu kümmern. Der Mann, der das am besten kann, weil er über genügend virtit verfügt, ist der uomo virtuoso. Ihm gelingt es, sich fortuna gefügig zu machen, "denn", so Machiavelli: ,,Fortuna ist ein Weib, und wer sie bezwingen will, muß sie schlagen und stoßen".255 Dementsprechend ist es auch mehr das schnelle rücksichtslose Handeln, das den uomo virtuoso auszeichnet und nicht Zaudern oder Bedachtsamkeit. Je mehr sich der geschichtliche Zyklus dem Zustand des Verfalls (ultima bassezza) nähert, desto entschiedener, ethisch unabhängiger und rigoroser muß ein Fürst die occasiones ergreifen, die fortuna ihm gewährt und mit dem richtigen Instinkt die richtigen Mittel - und sei es Waffengewalt (armi) - zum Machterwerb, Machterhalt oder Machtausbau einsetzen. In der Geschichte sei Roms Mischverfassung das beste staatliche System gewesen, um den staatlichen Bestand auf lange Zeit zu sichern. Es war eine Zeit auf dem Höhepunkt des Zyklus (ultima perfezione) mit viel virtu, in der die chaotische Kraft der fortuna dementsprechend gebändigt war. Für diese Zeit, die Machiavelli in seinen Discorsi vor Augen hatte, lobt der Florentiner durchaus Elemente von Machtteilung, von Frömmigkeit und Rücksichtnahme auf das Volk. Er wertet sie als politische Mittel, die der Stabilität dienen. Doch die eigene Zeit ist für ihn die Situation des politischen Chaos und des Verfalls, des ultima bassezza. Und hier muß erst ganz neu politische Aufbauarbeit geleistet werden. Es bedarf eines besonderen uomo virtuoso, eines ,neuen Fürsten' (nuovo principe), der losgelöst von allen moralischen Bedenken überhaupt erst einen politischen Zustand herstellt, in dem Rechte wieder eingefordert werden können. Der Fürst selbst steht aber außerhalb eines einklagbaren Rechtsbereichs. Machiavellis Schrift Principe wendet sich vor allem an eben diesen Fürst und will ihn beraten. In seinem Fall war es Lorenzo Medici, von dem er sich eine Einigung Italiens erhoffte. m Machiavelli, Principe, XXV, Edition Freyer, S. 138.

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Dolf Sternberger hat eindrucksvoll auf die Ähnlichkeit von Machiavellis nuovo principe mit dem klassischen Tyrannen- und dem neutestamentlichen AntichristBild hingewiesen. 256 Allerdings mit dem einen Unterschied, daß Machiavelli seine Figur emanzipierte und - losgelöst von einem positiven Gegenpart - jedweder ethisch negativen Beurteilung entzog. Die geschichtsphilosophischen Implikationen des Florentiners sind offensichtlich: An die Stelle der providentia Dei tritt bei ihm ein Dualismus von Berechenbarem (necessita und qualita dei tempi) und Unberechenbarem (fortuna), den ein ,politisches Urgestein' (uomo virtuoso) mit genügend politischem Instinkt (virtU) ein wenig beherrschbarer machen kann. Anstelle der politischen Bewahrung göttlicher Ordnungen zur Förderung des kirchlichen Heilsdienstes, tritt das Ziel, für möglichst langanhaltende politische Stabilität zu agieren. Und anstelle der providentiellen Geschichtsschau, die den Verlauf der Historie mittels geoffenbarter Kategorien zu deuten versucht, tritt eine exemplarische Sicht, die aus der Geschichte Handlungsanweisungen für eine Technik der Macht zur Beherrschbarkeit des Schicksals herleitet.

b) Die Erneuerung christlicher Geschichtsbetrachtung: Philipp Melanchthon

Anders als die der Antike verpflichteten Stadthistoriker Italiens griffen die Reformatoren das im Mittelalter rezipierte biblisch-augustinische Geschichtsbild auf, das insbesondere im Reich ungebrochen in Geltung stand, ohne vom Humanismus nennenswert säkularisiert worden zu sein. 257 Philipp Schwartzert (14971560), genannt Melanchton, systematisierte es und brachte es auf eine noch nicht dagewesene Höhe methodischer Erforschung. 258 Melanchthon gliederte den weltgeschichtlichen Stoff nicht einfach in dem vorgegebenen annalistischen Rahmen der ,Martins-Chronik', wie die Universalhistoriker vor ihm und wie auch noch seine Zeitgenossen Hartmann Schedei (14401514) und Johannes Naueeier (1425-1510),259 sondern brachte ihn in einen oft sachlich begründeten, deutenden Zusammenhang. Das ,Chronicon Carionis', das Dolf Stemberger. Drei Wurzeln der Politik, München 1978, S. 157 - 265. Fueter führte dies insbesonders auf das von den vier Weltreichen her legitimierte politische Kaisertum zurück. Diese Legitimationsgrundlage wiederum steht in engstem Zusammenhang mit der theologischen Interpretation der Universalhistorie (Fueter. S. 281). 258 Lit.: Menke-Glückert; Gotthard Münch, Das ,Chronicon Carionis Philippicum'. Ein Beitrag zur Würdigung Melanchthons als Historiker (Diss.), Breslau 1923, in: Sachsen und Anhalt 1 (1925), S. 199-283; E. C. Scherer. Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Freiburg 1927; Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung; Hein, Scheible, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997. 259 Hartmann Schedel, Liber Chronicarum, Nürnberg 1493; Johannes Nauclerus, Chronicon universale, Köln 1544. 256

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in seiner vorliegenden Form maßgeblich von Melanchthon gestaltet wurde,260 war aber auch hinsichtlich der Aufarbeitung von historischem Material wegweisend, wie Emil Menke-Glückert zu Recht bemerkte: "Sie ist die erste deutsche Weltchronik, die ihren Stoff nicht mehr kompilatorisch sekundären Quellen entnimmt, sondern die in der alten Geschichte unmittelbar auf die ersten Quellen zurückgeht".261

Ausgehend von der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre unterscheidet die Chronik zwischen Gottes Heils- und seiner Erhaltens-Ordnung. Es ging dem Reformator darum, aufzuzeigen, daß Gott in beiden dieser von ihm selbst konstituierten Ordnungsgefügen in universaler Weise wirksam ist. Durch das geistliche Regiment offenbart er die Stationen seines Heilsplans (AT), das Heil der Erlösung durch Christus (NT) und die Vermittlung dieses Heils innerhalb der zeitlichen Ordnung (Kirche); durch das weltliche Regiment erhält er die gesamte Völkerwelt in einer zeitlich begrenzten Ordnung. Diese scheinbare Aufteilung in zwei Historien wurde fälschlicherweise als Beginn der Trennung von Kirchen- und Profangeschichte gesehen. 262 In Wirklichkeit ist sie nur die konsequente Anwendung eines reformatorischen Schriftverständnisses auf die Behandlung der Weltgeschichte. Melanchthon hat nicht "zur Säkularisierung der Historie hinübergeleitet", wie MenkeGlückert meinte,263 sondern indem er der Geschichte einen selbständigen Wert neben der Theologie zuerkannte und damit begann, Vorlesungen über Universalgeschichte zu halten, räumte er der Welthistorie als Erhaltensordnung Gottes lediglich den Stellenwert ein, der ihr gemäß der Zwei-Regimenten-Lehre zweifellos zukam. 264 Adalbert Klempt hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Melanchthons Geschichtsbehandlung eine im Glauben begründete Gesamtdeutung darstellte und 260 Die Chronik, die 1532 erstmals in deutscher Sprache in Druck erschien, geht auf das Manuskript des brandenburgischen Hofastronomen Johannes Carion zurück, das Melanchthon überarbeitete (= ,Chronica durch Magistrum Johan Carion vleissig zusamengezogen, wenigklich nützlich zu lesen', Wittenberg). Wie groß der Anteil Carions und Melanchthons im einzelnen war, läßt sich kaum mehr definitiv klären. Der allergrößte Teil dürfte aber wohl der des Reformators sein, wofür Menke-Glückert überzeugende Indizien nannte (MenkeGlückert, S. 21-35). 1558 und 1560 wurde die Chronik von Melanchthon noch einmal bearbeitet, wissenschaftlich erweitert und ins Lateinische übertragen. Zit. wird hier nach: Melanchthon, Chronicon Carionis (Wittenberg 1537 u. 1580), in: Philipp Melanchthonis Opera omnia, hrsg. von C. B. Bretschneider, CR Bd. XII, S. 711-1094 (wenn die deutsche Ausgabe von 1532 gemeint ist: Chronica). 261 Menke-Glückert, S. 21. 262 So E. C. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, S. 120; Ferner: Hanns Lilje, Luthers Geschichtsanschauung, in: Furche-Studien, Bd. 2, Berlin 1932, S. 34; Hans Walter Krumwiede, Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers. Untersuchung zum Entstehen des geschichtlichen Denkens in Deutschland, Berlin I Göttingen 1953, S. 46. 263 Menke-Glückert, S. 11. 264 E. C. Scherer hat in seiner Untersuchung ausführlich den Nachweis dafür erbracht, daß auf Melanchthons Initiative hin die methodische Behandlung der Universalgeschichte im akademischen Unterricht begründet wurde.

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erst seine Nachfolger anfingen, die Kirchengeschichte vollständig von der Profangeschichte zu trennen. 265 Der Refonnator selbst hatte dies unmißverständlich zum Ausdruck gebracht: "Ut libri propehetici melius intelligantur, omnium temporum historia complectenda est,,266 - die Weltgeschichte solle in ihrer Gesamtheit gesehen werden, damit die in der Schrift geoffenbarten Prophezeihungen besser verstanden würden. Für Melanchthon ist die Heilige Schrift sowohl das einzigartige Zeugnis der göttlichen Heilsoffenbarung als auch oberste Geschichtsquelle. Sie legt für die alte Zeit den Faden, der durch außerbiblische Historie weitergeführt werden kann. Und sie gibt die entscheidenden Deutungskategorien für die Gesamtgeschichte vor. Schon in der Vorrede zur Chronik von 1532 schrieb Melanchthon: ,,Die Schrift leret uns von Gottes willen und wort und von dem ewigen Reich Christi. Doch leret sie daneben auch vom weltlichen Reich und stellet uns fur viel schöner exempel im regiment nützlich und dienstlich die Fürsten zu leren und zu vermanen zu rechter fürstlicher tugende. Und sollen derhalben ( ... ) alle Christen der heiligen Schrift historien zu unterricht und sterckung des Glaubens lernen: erstlich, wie Gott dagegen sein Reich eingesetzt hat, sein Wort geben und Christum verheissen und gesandt hat, die sund zu vergeben und selig zu machen. Item wie Gott fur und fur das Reich Christi erhalten hat, item wie das Reich Christi das ist die Heiligen, von Anfang gelitten haben. Item wie Gott uns zu stercken allerley Prophezeien, auch von weltlichen Reichen gegeben hat, dadurch wir ein Zeugnis hetten, so solche eusserliche weissagung erfüllet würden, das gewisslich dieses wort, das wir haben, von Gott kommen. Item das wir erinnert würden, wenn Christus hat kommen sollen, und wenn sich das ende der Welt nahen wird. Item so wir befünden, das alles geschehen, wie es prophezeit ist, dass wir uns gewisslich versehen, was die schrift meldet das noch künfftig sein soll, das werde auch geschehen ... 267

Die Einheit von heils- und weltgeschichtlichem Handeln Gottes, von Kirchenund Profangeschichte ist in diesen Zeilen offenkundig. So sehr Melanchthon auch die Unterschiede des göttlichen Wirkens in den bei den Regimenten herausstellte, so betonte er doch immer wieder, daß beide in innigstem Zusammenhang miteinander stehen: "Und ist kein zweifel, historien sind erstlich bei den Heiligen als Moses und zuvor aus zwei ursachen geschrieben: von wegen der Religion und der Königreiche, das man wüsste, welches die rechte wahre Religion alle zeit gewesen, item, das man sähe wie die weltliche regierung erstlich auch von Gott geordnet, und aus was für Ursach danach die regiment gestraft und verändert ... 268

Das geistliche Regiment Gottes vollzieht sich in der Geschichte Israels und der Kirchengeschichte als Zeugnis für die göttliche Heilsordnung. Als zeitliche GlieKlempt, S. 20. Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 714 (dt.: Man muß die Geschichte aller Zeiten umfassend darstellen, um die prophetischen Bücher besser verstehen zu können). 267 Chronica (1532), Vorrede (unpag.). Vgl. Gotthard Münch, der den Nachweis führt, daß Melanchthon der Verfasser der Einleitung zu Carions Chronik von 1532 ist. 268 Melanchthon, Brief-Vorrede zu Teil 11 der ,Auserlesenen Chronik' des Caspar Hedio (1539), CR 111, S. 879. 265

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derung dafür gebrauchte Melanchthon nicht das traditionelle aetates-Schema, das z. B. noch Schedel und Naucler verwendeten und das bei den katholischen Universalhistorikern sogar bis zu Bossuet in Geltung blieb, sondern er hielt sich an das sogenannte, Vaticinium Eliae' .269 Diese angebliche Weissagung des Propheten Elia schätzte der Reformator hoch und verwendete sie als erster für eine universalhistorische Einteilung. Nach dieser jüdischen Spekulation teilt sich die 6ooo-jährige Dauer der Weltgeschichte in drei große Zeitalter, die jeweils 2000 Jahre dauern: die Zeit vor der Verkündigung des Gesetzes, die Zeit unter dem Gesetz und das Zeitalter des Messias. Das erste Jahr der christlichen Datierung entspricht bei Melanchthon dem Weltjahr 3944. Das Jahr 6000 als Ende von Zeit und Geschichte wäre demnach das Jahr 1944 nach christlicher Zählung?70 Doch soweit in die Zukunft hinein dachte Melanchthon nicht. Wie Luther erwartete er den Anbruch des Jüngsten Gerichtes schon früher. Die vollen zweitausend Jahre würden es wegen der zunehmenden Verderbnis und Gottlosigkeit nicht werden, wie ja die Elia-Prophezeihung selbst schon andeute, "denn Gott wird eilen zum ende, wie Christus spricht Matthei XXiiii: wo diese zeit nicht verkürzet würde, würde niemand selig" .271 Das erste Zeitalter des geistlichen Regiments reicht bis zur Berufung Abrahams, das zweite bis zur Geburt Christi mit der Geschichte Israels als einzigartigem Anschauungsgeschehen für Gottes Heilshandeln, das dritte beginnt mit Christus und der sich konstituierenden Kirche und dauert bis zum Ende der Zeit. Melanchthon gliederte den Stoff der Chronik genau nach diesem Einteilungsschema in drei Bücher. Den geringsten Umfang hat dabei das erste Buch, dessen einzige verwendete Geschichtsquelle für die beschriebene Zeit die Bibel ist. Für den Reformator haben sich Sprache, Schrift, Kunst und Wissenschaft nicht nach und nach entwickelt, sondern traten in einem verhältnismäßig fertigen Zustand in die Ge269 Chronica (1532), Vorrede (unpag.). Melanchthon lehnte das aetates-Schema der sechs Zeitalter ausdrücklich ab: ,,Etliche haben die Welt geteilet in sechs oder sieben aetates und rechnen dieselben mancherlei, machen damit mehr ein Unordnung denn ein Ordnung." Das ,Vaticinium Eliae' findet sich im Talmud (Sanhedrin 97 a, Awoda Sara 9a) und wird als Weissagung des Propheten Elia bezeichnet (Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, München 1963 7 , S. 639). 270 Melanchthon wich hier deutlich von der rabbinischen Zählung ab (die auch heute noch als jüdische Zeitrechnung gilt), nach der das erste Jahr der christlichen Datierung dem Weltjahr 3761 entspricht. Demnach fant das Weltenjahr 6000 auf das christliche Jahr 2239. Martin Luther wich ebenfalls von dieser rabbinischen Zählung ab, aber auch etwas von der Melanchthons: er sah das Weltjahr 3954 als Geburtsjahr Christi an. Dementsprechend würde sich der Parusietermin zehn Jahre nach hinten verschieben. Vgl. Martin Luther. Supputatio annorum mundi, Wittenberg 1541 (in deutscher Übersetzung durch Joh. Aurifaber unter dem Titel: ,Chronica des ehmwirdigen Herrn D. M. Luther deudsch', Wittenberg 1551), hrsg. von F. Cohrs, Martin Luther-Weimarer Ausgabe 53, 1920, S. 1 ff. 271 Chronica (1532), Vorrede (unpag.); ebenso Melanchthon. Chronicon Carionis, CR XII, S.717.

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schichte ein, da sie den Menschen unmittelbar von Gott her gegeben wurden. Im zweiten Buch für die Zeit bis Christus gesellen sich als Quelle der Berichte neben die Bibel die klassischen heidnischen Schriftsteller. In dieser Zeit entstanden die vier großen Monarchien. Die letzten 2000 Jahre, Inhalt des dritten Buches, stehen unter den Zeichen der sich ausbreitenden Weltkirche, des vierten Reiches der Daniel-Vision und des sich abzeichnenden WeItendes. Während der ganzen Weltzeit ist das wahre Gottesvolk (vera Ecclesia) für Melanchthon (und auch für Luther)272 stets nur eine kleine Schar. Wie Noah und Abraham gegen Ende im ersten Zeitabschnitt des geistlichen Regiments und Simeon, Zacharias und Marias Eltern am Ende des zweiten Abschnittes, so werde auch am Ende der Weltenzeit die Menge der Gläubigen, die die Parusie erwarten, eher gering sein. 273 Kennzeichen des geistlichen Regiments sind nicht die geschichtlichen Entscheidungen der Menschen innerhalb einer institutionellen Kirche, sondern die von Gott inszenierte Offenbarungs- und Heilsordnung, die mit seiner vollen Offenbarung in der Ankunft des verheißenen Messias gipfelt. Wie von Daniel prophezeiht, errichtet Christus zur Zeit der vierten Weltmonarchie des weltlichen Regiments sein ,geistliches' regnum Christi, das bis zum Jüngsten Gericht fortbestehen wird. 274 Unter diesem eschatologischen Aspekt deutet Melanchthon die Geschichte des geistlichen Regiments 275 in ihrem dritten Zeitabschnitt (seit Christus) als das Zeugnis von der göttlichen Erhaltung der wahren Gläubigen in allen Anfechtungen und Verfolgungen der Endzeit. Das Papsttum hat seine tyrannische Herrschaft auf falsche Lehre, Aberglauben und Gewalt gegründet und beansprucht den Titel Ecclesia für sich allein. Aber die Strafe Gottes für diesen Abfall bleibt nicht aus. Die biblischen Völker der Endzeit, Gog und Magog, für 272 Wenn es auch Unterschiede im Geschichtsdenken von Luther und Melanchthon gibt, so treten sie doch im Blick auf die großen Gemeinsamkeiten in den Hintergrund. Anders als von Melanchthon gibt es jedoch von Luther keine geschlossene Gesamtdeutung der Universalgeschichte. Ein grober Grundriß seines universalhistorischen Denkens läßt sich eigentlich nur seiner Schrift ,Supputatio annorum mundi' entnehmen. Darüberhinaus ist noch die Vorrede interessant, die er zur ,Historia Galeatii Capellae' geschrieben hatte, da er dort seine Gedanken zu Nutzen und Bedeutung der Geschichtsschreibung mitteilte (in: Ausgewählte Schriften, 6 Bde, hrsg. von K. Bornkamm u. G. Ebeling, Bd. 5, Frankfurt 1982, S. 176-180). Zu Luthers Geschichtsdenken: Lilje; Heinz Zahmt, Luther deutet Geschichte. Erfolg und Mißerfolg im Licht des Evangeliums (1952); Krumwiede, Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers; Hermann Dörries, Luthers Verständnis in der Geschichte, in: Ders., Wort und Stunde III - Beiträge zum Verständnis Luthers (1970), S. 1-83; Gerhard May, ,,Je länger, je ärger"? Das Ziel der Geschichte im Denken Martin Luthers, in: Zeitwende 60 /4 (1989), S. 208-218. 273 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 897,900. 274 Melanchthon, In Danielem prophetarn commentarius (1543), CR XIII, S. 832. 275 Melanchthon nannte die Geschichte des geistlichen Regiments zwar historia Ecclesiae, meinte damit aber mehr als die spätere ,Kirchengeschichte'. Die historia Ecclesiae war ihm die Erhaltens- und Bewahrungsgeschichte Gottes mit den Gläubigen und keinesfalls eine Theologie- und Institutionengeschichte. Die Ausrichtung des Reformators blieb immer geschichtstheologisch und -deutend.

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Melanchthon die Türken und die anderen Mohammedaner, haben die Waffen gegen das Abendland erhoben, um diese falsche Kirche für die Schändlichkeit ihres Götzendienstes zu bestrafen. Dessen Höhepunkt sah der Reformator in der Transsubstantiationslehre, jenes "horribilern idolomaniam, factum est anno 1215, Innocentio In. Pontifice".276 Ansonsten bleibt Melanchthons Betrachtung weitgehend exemplarisch ausgerichtet. Durch die Betrachtung der Beispiele göttlichen Heilswirkens in der Vergangenheit sollen die Gläubigen in den Anfechtungen und Wirren der Endzeit gestärkt werden und erkennen, daß Gott seine vera Ecclesia zu allen Zeiten erhält, auch wenn sie nur noch aus einem kleinen Häuflein besteht. Zudem soll anhand der prophetischen Weissagungen der eigene Standort deutlich werden, damit die Bedrängten der Endzeit wissen, daß der Triumph Christi und seiner Treuen nahe bevorsteht. 277 Neben Gottes Heilsordnung im geistlichen Regiment stellt Melanchthon die Erhaltensordnung des ordo politicus. Neben der historia Ecclesiae steht die historia ethnicae. Zwar ist es von der Darstellung her ein Nebeneinander, aber Melanchthon wurde nicht müde, seine Leser immer wieder zu ermahnen, stets den Blick auf beide Wirkensweisen Gottes zu richten. Eine separat voneinander betriebene, den christlichen Deutungselementen entzogene Kirchen- oder Profangeschichte war ihm im Hinblick auf den weltgeschichtlichen Zusammenhang eine Unmöglichkeit. Denn während die historia Ecclesiae die Reihenfolge der göttlichen Heilsoffenbarungen bezeugen und die Gebote der ersten Tafel des Dekalogs für das rechte Gottesverhältnis erläutern, enthält die historia ethnicae die Beispiele für die Gebote der zweiten Tafel, die das Gemeinschaftsleben in der menschlichen Gesellschaft ordnet. 278 Beide Historien gehören also zusammen wie die beiden Gesetzestafeln des Mose gemeinsam den Dekalog bilden. Die politische Erhaltensordnung Melanchthons ist nun ganz auf die se ries imperio rum, ausgerichtet: "Die Historien beweisen auch, daß die Reiche Gottes Werk sind, wie Daniel spricht: ,Gott erhält und zerstöret die Reiche'. Welches also geschieht, als Gott gerechte Reiche erhält. Und so Tyrannen dieselben zerreißen, wie straft er sie und macht andere Reiche. Darum ist es nützlich zu sehen, wie die Reiche nacheinander angefangen, gewachsen, bestanden, gefallen, darin zu betrachten Gottes Zorn und Hülf, das auch heide, Herren und Unterthanen, lernen die Regiment als göttliche Ordnung ehren".279 276 Dt.: jenes "greuliche Götzenbild, entstanden im Jahr 1215 im Pontifikat Innozenz' III.", Melanchtlwn, Chronicon Carionis, CR XII, S. 760, 900, 901; Melanchtlwn, In Danielern prophetam commentarius (1543), CR XIII, S. 864, 874. Innozenz III. (1198 -1216) gilt als der mächtigste Papst des Mittelalters. Auf dem 4. Laterankonzil 1215 wurde neben der Transsubstantiationslehre u. a. auch die Einführung der Inquisition beschlossen. 277 Melanchthon, Chronicon Carionis CR XII, S. 718, 901. 278 Melanchthon, Chronicon Carionis (Widmung 1558), CR IX, S. 534. 279 Melanchthon, Brief-Vorrede zu Teil 11 der ,Auserlesenen Chronik' des Caspar Hedio (1539), CR III, S. 883.

5. VelWerfung, Erneuerung und Säkularisierung

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Das Ehren der Obrigkeit von Seiten der Untertanen und das Recht der Bestrafung auf Seite der Obrigkeit sind für Melanchthon die Grundpfeiler jeder staatlichen Ordnung. Denn während Gott im geistlichen Regiment sein Heilshandeln allein wirkt, beruft er im weltlichen Regiment die Menschen zu Mitwirkenden seiner Erhaltensordnung innerhalb der Völkerwelt. Gott gab den entstehenden Völkern zu ihrer Sicherung gegen Raub und Plünderung machtvolle Anführer, die durch Rechtsspruch und Waffengewalt die von Gott konstituierte gerechte Ordnung aufrechterhalten sollten. 28o Durch Menschen des einen Volkes bestraft er die des anderen, durch Menschen in der Obrigkeit bestraft er Verbrechen und Aufstand und durch Menschen als Untertanen wird die Obrigkeit gestützt oder gestürzt. Entscheidend ist immer, daß Gott es ist, der die weltgeschichtlichen Ereignisse in Gang setzt. Die zur Mitwirkung berufenen Fürsten und Obrigkeiten bleiben bei der Erhaltung der Ordnung stets auf Gott angewiesen und sind ihm auch verantwortlich. Wo sie ihre Herrschaft allein auf eigene Macht und Autorität begründen, hat sie keinen Bestand und wo sie ihre Pflicht sündhaft verletzen, entzieht ihnen Gott die Herrschaftsgewalt wieder. In Melanchthons Geschichtsdeutung ist Gottes Eingreifen die wahre Ursache aller plötzlichen Veränderungen in den Reichen. Diese mutationes imperiorum sind Zeugnisse göttlichen Strafhandelns und nicht in erster Linie Ergebnisse menschlicher Entscheidungen oder eines welthaften Wirkzusammenhanges. 281 Zur Erhaltung des Ordnungsgefüges der Völkerwelt hat Gott jeweils für eine bestimmte Zeit eine Weltmonarchie zur universalen Herrschaft bestimmt. Ihre Aufgabe ist es, die von der Gewalt einzelner Tyrannen bedrohten kleineren Staaten und Völker in einem übergreifenden schützenden Herrschaftsverband zusammenzufassen. Zuerst kam die Menschheit ohne diese Imperien aus und stand direkt unter Gottes Herrschaft. Als die Zahl der Menschen aber wuchs und mit ihr die Übeltäter und Schlechtigkeiten, da griff Gott von neuem ein und erwählte sich Führer, die für Recht und Gerechtigkeit sorgen sollten. Der erste dieser Herrscher war Nimrod in Babyion, der zum Gewaltherrscher wurde?82 Um die Menschen vor der Tyrannei eines solchen Führers zu schützen, setzte Gott die Institution der vier Weltmonarchien ein. Diese umfassen eine Anzahl verschiedener Völker und wenn der Herrscher selber zum Tyrannen wird, dann überträgt Gott die Herrschaft auf ein anderes Herrscherhaus oder ein anderes Volk?83 So steht jeder Herrscher in Verantwortung vor Gott. Handelt er gegen diese Verantwortung, dann wird seine Macht einem anderen gegeben. Die Geschichte ist für Melanchthon weitgehend die Geschichte der Herrscher und Könige, eine Historie über die Taten einzelner Individuen, die die Obrigkeit bilden: 280 281

282 283

Melanchthon, Melanchthon, Melanchthon, Melanchthon,

Chronicon Carionis, CR XII, S. Chronicon Carionis, CR XII, S. Chronicon Carionis, CR XII, S. Chronicon Carionis, CR XII, S.

739. 718, 776, 1024. 739. 739.

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

"Ursach der grossen Veränderungen in Königreichen sind alle Zeit gewesen ihre [der Herrscher] Untugend, Mord, Ohnzucht, Verfolgung göttlicher Wahrheit".284

Dies gilt ebenso für die Weltmonarchien. Dabei versteht Melanchthon den Begriff ,Weltmonarchie' so, daß es sich dabei um die Herrschaft des jeweils größten Teiles des bewohnten Erdkreises handelt, bzw. daß ihre Autorität so groß ist, daß sie andere Herrscher und Könige in Schranken halten kann?85 Die Anzahl und Herrschaftsdauer dieser dominierenden Monarchien ist von Gott vorherbestimmt und den Gläubigen durch die Weissagungen des Propheten Daniel offenbart. Melanchthon übernahm die traditionelle Exegese der Daniel-Visionen von dem Standbild aus vier Metallen (Dan 2) und den vier Tieren (Dan 7), wie sie aus den Daniel-Kommmentaren der Kirchenväter Hippolyt und Hieronymus durch Orosius in die christliche Historiographie übernommen worden war. Die vier aufeinanderfolgenden Weltreiche waren die der Chaldäer, Perser, Griechen und Römer. Nach diesen vier Weltmonarchien gliederte Melanchthon seine historia ethnicae in vier große Weltherrschaftsperioden durch die Gott sein weltliches Regiment bezeugt. Den Beginn der ersten Weltmonarchie setzt er etwa hundert Jahre nach der Sintflut und nach der Völkerzerstreuung mit der Reichsgründung unter Nimrod an (Gen 10, 8-12). Diese Weltmonarchie der Chaldäer dauerte, bis Belschazzar, der dritte Nachfolger des frommen Nebukadnezar, den Götzendienst wieder einführte. Das über ihm schwebende ,,Mene mene tekel u_parsin,,286 beendete die Weltherrschaft der Chaldäer, die nun auf die Perser überging. Das Daniel'sche ,Mene-tekel' gilt dem Reformator als Ausdruck göttlicher Rechenschaftsforderung, denn die Herrschaft bleibt nur so lange in den Händen der jeweiligen Könige, als sie eine gerechte göttliche Ordnung aufrechterhalten. Sobald sie davon abweichen, wird ihnen die Herrschaft genommen und auf ein anderes Volk übertragen: ,,Regnum a gente in gentem transfertur propter injustitiam".287

Diese mutatio imperii geschieht dreimal: dem abgefallenen Chaldäer Belschazzar wird die Herrschaft genommen und auf den Perser Cyrus als ,Knecht Gottes' gelegt. Ebenso werden die Perser verworfen, nachdem Xerxes und Darius ihre 284 Melanchthon, Brief-Vorrede zu Teil 11 der ,Auserlesenen Chronik' des Caspar Hedio (1539), CR III, S. 881. 285 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 718, 740, 776. Ausdrücklich verwahrt sich Me1anchthon dabei gegen das mögliche (und ihm später von Bodin vorgehaltene) Mißverständnis, daß die Weltmonarchie universal zu sein hätte: "Intelligas autem Monarchiam non quidem complexam omnes regiones et gentes ... " (CR, S. 718). 286 Dan 5, 25 ff. Die aramäischen Worte (mene gezählt, tekel gewogen, peres geteilt), in denen sich auch die orientalischen Münz- oder Gewichtsbezeichnungen Mine, Schekel und Halbmine (paras) wiederfinden, bilden ein Wortspiel, in dem der Begriff der Teilung mit dem Namen der Eroberer (Perser) verknüpft ist. 287 Dt.: "Wegen der Ungerechtigkeit wird die Königsherrschaft von einem Geschlecht auf das andere übertragen", Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 740.

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Macht zur Tyrannei mißbrauchten und die Weltherrschaft auf den Griechen Alexander übertragen. 288 Und schließlich habe Gott den Augustus zur Herrschaft berufen, um mit dem Römischen Reich als vierter Weltmonarchie die Erfüllung für die Daniel'sche Prophezeihung zu schaffen, nach der der Messias in der Zeit der vierten Monarchie erscheinen werde. 289 Das Römische Reich stellt die vierte und letzte Monarchie der Weltgeschichte dar. Christus erschien an ihrem Anfang zur Zeit des Augustus und wird an ihrem Ende zum Völkergericht zurückkehren?90 Das ,Heilige Römische Reich Deutscher Nation' ist für Melanchthon ganz unzweifelhaft Teil der vierten Monarchie. 291 Dieses vierte Reich ist in besonderer Weise auch ,Herberge der Kirche' und von Gott so eingerichtet, daß sich das Evangelium schneller ausbreiten kann?92 Zwar fand die historische Darstellung nach den vier Reichen auch schon in Spätantike und Mittelalter ihre Anwendung (z. B. bei Orosius und Otto von Freising), aber erst bei Melanchthon wurde das einzelne Weltreich zum Leitfaden und Mittelpunkt der Darstellung. Von der Universalmonarchie aus nehmen alle Erzählungen über andere untergeordnete Reichen ihren Ausgang. Am Beispiel der Darstellung des zweiten Reiches mag das deutlich werden. Der Hauptbericht gilt dem Perserreich. Aber die Regierung des Cyrus bietet den Anlaß von der jüdischen Geschichte zu erzählen, sowie vom Beginn der Philosophie in Griechenland und der Gesetzgebung des Solon. Bei Xerxes' Regierung wird die Erzählung der Perserkriege eingeschoben, bei Artaxerxes der Beginn des Peloponnesischen Krieges und die frühe Entwicklung Roms?93 Manchmal eilt Melanchthon in einer Erzählung der Zeitgeschichte des jeweilgen Weltreiches etwas voraus, um einen besseren Überblick zu gewährleisten,294 kehrt dann aber wieder zurück und setzt den Bericht fort. So hangelt er sich in seiner Darstellung an den vier Reichen entlang, deren letztes bis in die Gegenwart andauert. Der offensichtliche Verfall des Römischen Reiches in seiner gegenwärtigen Form stellt für den Reformator die überlieferte Auslegung der Daniel-Prophetie über dessen Fortdauer bis zum Ende nicht in Frage, sondern bestätigt sie sogar aufs Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 718, 835, 836. Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 903. 290 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 718, 901. 291 Martin Haeusler hat darauf hingewiesen (Haeusler, S. 163), daß Melanchthon als Nachfolger der Seleukiden (als Teil des dritten Reiches) die Parther nennt, danach die Perser und die Türken. Er meinte daraus ableiten zu können, daß der Reformator damit das vierte Weltreich genau genommen in eine abendländisch-westliche und eine heidnisch-türkischöstliche Hälfte unterteilte. Für Melanchthons Auslegung der Daniel-Vision dürfte das jedoch nicht zutreffend sein, da er an anderer Stelle auf Einwände gegen seine Definition der Weltmonarchie ausdrücklich die Türken auschließt (z. B. CR XII, S. 83). 292 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XVI, S. 139. 293 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 778 ff. 294 SO Z. B. bei der Aufzählung der Vandalenkönige (Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 1032. 288

289

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allerdeutlichste. Denn bei Daniel selbst wird ja die Vision so ausgelegt, daß das vierte Reich zuletzt durch Teilung und Verfall der höchsten Gewalt immer schwächer werden wird (Dan 2, 42_43).195 Melanchthon übernimmt also auch den translatio-Gedanken, doch ohne ihn an den Papst zu binden. Karl erwirbt das Imperium aufgrund des Kriegsrechts, nicht vom Papst. Gott selber hat nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches die vierte Monarchie an Karl den Großen übertragen, um unter dessen Herrschaft die Länder Europas zum Schutze der Kirche wieder zu vereinigen. 296 Danach wurden die deutschen Kaiser dazu berufen, das schwächer gewordene, aber noch bestehende Römische Reich gegen die Angriffe des Papsttums und der Mohammedaner zu verteidigen. 297 Der Reformator deutet diese Zeit in engster Anlehnung an die Daniel-Vision (Dan 2,41-43): Die kraftvolle kaiserliche Herrschaft von Karl dem Großen bis zu den Ottonen entspräche dem eisernen Teil der Füße des Traumbildes, während der brüchige Ton der Füße und Zehen die schwächeren Nachfolger danach meine. Kein bißchen Verlegenheit - oder gar ein Erklärungsnotstand - ist bei ihm zu spüren, wenn es um die Anwendung des vierten Daniel'schen Reiches auf die gegenwärtige Herrschaft Karls V. geht. Im Gegenteil, die kirchliche Zerrissenheit, die innenpolitische Schwäche und die außenpolitischen Angriffe scheinen ihm die von Daniel prophezeihte Situation des vierten Reiches kurz vor der Parusie Christi treffend wiederzugeben. 298 Das Auftreten der Sarazenen und Türken, deren Tyrannei von Gott zur Strafe für das Übermaß der Sünden zugelassen wurde, mache ersichtlich, daß die letzte Phase der Erhaltensordnung auf ihr Ende zugehe. 299 Melanchthon vermeidet jedoch nähere Spekulationen über einen Endtermin, wenn auch die gesteigerte eschatologische Erwartung angesichts der jüngeren Geschehnisse deutlich zu spüren ist. 300 Bei aller endzeitlichen Verschlechterung bleibt der Mensch jedoch Mitwirkender von Gottes Heilshandeln. Das Ende wird kommen, aber der einzelne ist aufgerufen, seinen Teil zum Bestand der Erhaltensordnung beizutragen. Sie kann entweder Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 714. ,,Deus transfert et stabilit regna" - ist ein Ausspruch, den Melanchthon häufig gebraucht (Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 777, 779, 870,992, 1023 u. a.). 297 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 719. Ausdrücklich bringt Melanchthon die zunehmende Schwäche in Verbindung mit dem Machtzuwachs der Päpste. Sie würden in Deutschland Bürgerkriege erregen und damit das Reich zugrunde richten (CR XII, S_ 1092). 298 So heißt es z. B. über die kirchliche Spaltung: ,,Die spaltung inn der kirchen sind auch für ein zaichen zu halten/wolche auch zu besorgen I durch krieg und unfleiß der Prelaten I weiter außjebrayttetl und grosser werden." (Chronicon Carionis, Augsburg 1540, fol. 146). 299 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 719. 300 Die erste Ausgabe der Chronik (1532) erschien, als Karl V. mitten in den Vorbereitungen zum Feldzug gegen die Türken steckte, dessen Ausgang noch ungewiß war. Einerseits wurden in der Chronik Prophezeihungen zitiert, die alle zum Inhalt hatten, daß ein Endkaiser die Türken besiegen würde, andererseits ging sie angesichts der zu erwartenden Auseinandersetzungen auch auf zwei Kometenerscheinungen ein, die Unglück anzukündigen schienen (Chronica, Augsburg 1540, fol. 144-145). 295

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im Gehorsam bewahrt oder zu eigenem Schaden gestört werden. Der Ungehorsam gegenüber göttlichen Geboten und die zunehmende Sünde bewirken, daß Gott selbst ,störend' darin eingreift (z. B. durch die Türken). Deutlich kommt der biblische Tun-Ergehen-Zusammenhang bei Melanchthon zur Anwendung. Zwar sei es "eitel Gottes Werk / der die hohen Monarchen einsetzet und schützet / und das die Regiment durch göttliche Hilff und macht widder den Teufel in der Welt angericht werden" und" wo ein gewis Regiment auff erden bliebe",301 aber zur Ausübung der Erhaltensordnung beruft Gott in besonderem Maße einzelne, durch Abstammung oder Fähigkeit ausgezeichnete Fürsten, "sozusagen Heroen,,?02 Solche ,Heroen' waren für den Reformator in früheren Zeiten Herkules, Cyrus, Alexander, Julius Cäsar, Augustus, Konstantin, Karl der Große und Otto der Große. Es waren Fürsten, "die Gott also hoch begabet hat ( ... ) hohe Gottesgaben / dadurch Gott der Welt hat helffen wollen/Zucht, Friden und Recht auff erden angericht".303 Gerade die deutschen Fürsten sah er in einer besonderen Verantwortung als Sachverwalter der letzten Monarchie der göttlichen Erhaltensordnung: "Und hat Gott die Deutschen vor anderen Nationen zu dieser Ehre und Hoheit der welt auffs Letzte gezogen. Denn wiewol sie nicht das ganze Römische Reich innehaben, so bleibt doch die Hoheit bei dem Reiche. Denn Gott hat verkündigt, er wolle die Monarchie zuletzt geringer machen. Es ist wahrlich viel an dieser Monarchie, wiewohl sie gering scheinet, gelegen, und sollten billig die Fürsten Zwietracht zwischen ihnen selbst verhüten, damit sie nicht ursach geben, dass sie reich zerrissen und das rechte Haupt der ganzen Weltordnung zerstöret werde, dadurch hernach unordnung folgen müsste in ganzer Christenheit, als ich leider besorge, das geschehen werde. Gott gebe nur Gnad, das als dann der Jüngste Tag bald komme".304 Me1anchthon betrachtete die Historie vornehmlich als Anschauungsobjekt zur Herausstellung von Gottes geschichtlichem Handeln und als Sammlung von Beispielen, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang deutlich machen. Bereits 1518 bezeichnete er es als die entscheidende Aufgabe des Historikers, sein Augenmerk ganz auf die Lehre zu richten, die die einzelne Geschichte für das ethische Handeln des Menschens veranschauliche. 305 Ähnlich wie Machiavelli wählte der Reformator den historischen Stoff nach Begebenheiten aus, die als vorbildliches oder abschreckendes Beispiel dienen konnten. 306 Ihre tiefere geschichtstheologische Bedeutung erhalten sie durch den providentiellen Gesamtzusammenhang in dem sie stehen, nämlich der Aufeinanderfolge der Reiche, sowie der in der Bibel vorhergesagten Ereignisse. 307 Die Offenbarungen Gottes sind in einer bestimmten 301 CR XXI, S. 546. 302 CR XXI, S. 545. 303 Chronica (1532), 32a, 56b, 79, 93, 116, 126. 304 Chronica (1532), Vorrede unpag. 305 CR XI, S. 22. 306 Zu dem starken exemplarischen Charakter von Melanchthons Geschichtsschreibung siehe Menke-Glückert, S. 42-44. 307 CR III, S. 217.

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Teil 11: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

Reihenfolge geschehen, der Welt ist ein Ziel gesetzt und die Weltreiche folgen in einer festgesetzten Weise aufeinander. Bei Melanchthon erhält das Werk Gottes eine unmittelbare Geschichtsmächtigkeit. Irdische Zusammenhänge haben zwar auch Bedeutung und werden genannt, entscheidend ist jedoch immer die Deutung von Gottes Handeln her. Sie steht ganz im Vordergrund und nicht etwa die menschlichen Leidenschaften, die bei den italienischen Humanisten und Machiavelli die Triebfedern geschichtlicher Handlungen sind. Das zu erkennen, ist für den Reformator der Zweck des historischen Studi ums. 308 Aus heutiger Sicht ließ es Melanchthon freilich an historischem Gespür fehlen. Innerweltliche Entwicklungszusammenhänge kennt er nicht, einen Fortschritt gibt es nicht, auch nicht in Medizin oder Wissenschaft. Diese Künste habe es bereits von Adam an gegeben, weil sie den ersten Menschen von Gott gezeigt worden seien. Das Gros der Wissenschaft wird einfach nur weitergegeben, von den Chaldäern zu den Phöniziern und Ägyptern. Mit der Schiffahrt kam sie zu den Griechen und von da zu den Römern. Die Übernahme des römischen Rechts verhalf der Wissenschaft in Italien und den anderen europäischen Ländern zu neuem Leben. 309 Für den Humanisten Melanchthon gibt es für den Bildungsschatz, wie er in der Bibel und aus der Antike vermittelt wurde, keine qualitative Steigerung mehr. Die größte Schwäche seiner historischen Darstellung liegt aber wohl im völlig individualistischen Grundzug. Zu Recht bemerkte Emil Menke-Glückert: ,,Für Massenbewegungen, etwa den Kampf zwischen Patriziern und Plebejern in Rom, für den gemeinsamen geistigen Inhalt einer Zeit, für eine historische Kontinuität in der Wissenschaft, die durch ein gemeinsames Arbeiten vieler an den gleichen Problemen gegeben wird, hat er keinen Sinn,,?l0

In Melanchthons Chronik handeln Gott und der einzelne Mensch - letzterer je nach guten oder schlechten Motiven und Eigenschaften. Ein differenzierteres Ineinander verschiedenster Ursachen kommt nicht vor. Es gibt schwarz und weiß, aber keine Mischtöne. Dennoch fanden die eingangs skizzierten biblisch-christlichen Deutungskategorien in seiner Universalgeschichte ihre Anwendung, und er hat zu Beginn der Neuzeit noch einmal christliche Geschichtsschreibung in einer einzigartigen Dichte zum Ausdruck gebracht.

308 ,,Deus vult nos seire historias" - so Melanchthon in einer seiner Vorlesungen zur Weltgeschichte (zit. nach Menke-Glückert, S. 37: Melanchthons Vorlesungen über Weltgeschichte von Samuel Berger, Nachschrift der öffentlichen Vorlesungen aus der Zeit vom 13. 7. 15559.4. 1560, in: Theologische Studien und Kritiken, 1897, S. 781). 309 Melanchthon, Chronicon Carionis, CR XII, S. 775; CR XVI, S. 446. 310 Menke-Glückert, S. 53.

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c) Die Verbannung theologischer Deutungselemente aus der Geschichte: Jean Bodin Die Zukunft sollte bei den nicht gehören: nicht den alternativen, an die heidnische Antike angelehnten Deutungskategorien eines Machiavelli, aber auch nicht einer providentiellen biblischen Geschichtsdeutung, die noch einmal in ausgefeilter Form die Vier-Reiche-Lehre zum Mittelpunkt weltgeschichtlicher Betrachtung machte. Mochte Melanchthon auch zur Entwicklung der historischen Wissenschaften Bedeutsames geleistet haben, der Art seiner Interpretation von Geschichte blieb eine bleibende Bedeutung verwehrt. Hier schuf ein anderer eine neue Grundlage, an historisches Geschehen heranzugehen, die alle biblisch-christlichen Deutungskategorien nicht nur in Frage stellte, sondern ihnen schon von der Methode her den Boden unter den Füßen entzog. Während Machiavelli seine politische Theorie noch unreflektiert darstellte, ohne über das bisherige Geschichts- und Politikverständnis generell zu resümieren, verabschiedete sich der französische Jurist Jean Bodin (1529-1596) sozusagen höchstoffiziell von der bisherigen Geschichtstheologie und forderte eine Darstellung der Geschichte in ihren rein innerweItlichen Zusammenhängen. 311 In seiner Schrift ,Methodus ad facilem historiarum cognitionem' (1566)312 ver~ warf Bodin alle geschichtstheologischen Konstruktionen, die christlichem Geschichtsdenken bis dahin ihren Rahmen gaben: die Berechnung nach dem ,Vaticini um Eliae', die die Welthistorie in sechs Jahrtausende unterteilte,313 ebenso wie alle anderen chiliastischen und eschatologischen Vorstellungen von einem nahenden Ende der Welt mit der Gegenwart als letzter Zeit. Insbesondere kritisierte er 311 Jean Bodin, Über den Staat, Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Gottfried Niedhart, Stuttgart 1976; Jean Bodin. Sechs Bücher über den Staat, übersetzt von Bernd Wimmer, München 1981-86. Aus der reichhaltigen Literatur zu Bodin sei hier neben den schon genannten Arbeiten von Adalbert Klempt und EmU Menke-Glückert noch hingewiesen auf: Bruno Dennewitz. Machiavelli, Hobbes, Bodin. Hamburg 1948; Max Imboden. Johannes Bodinus und die Souveränitätslehre, Basel 1963; G. Roellenbleck, Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. Eine Interpretation des Heptaplomeres, Gütersloh 1964 und Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen BodinTagung in München, München 1973 (dort findet sich auch eine reichhaltige Bodin-Bibliographie). 312 Zit. wird nach: Johannes Bodinus. Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Straßburg 1607, 1650 (Aalen 1967). Die Schrift findet sich ferner in lat. und franz. Fassung in: (Euvres philosophiques de Jean Bodin, Bd. 1, hrsg. von P. Mesnard, Paris 1951. 313 Dem Irrtum, das ,Vaticinium Eliae' stamme von dem biblischen Propheten Elia, hält Bodin zu Recht die tatsächliche Quelle entgegen: Es handele sich dabei nur um einen Orakelspruch aus dem Talmud, in dem die beiden Rabbiner Elia und Catina das Alter der Welt auf 6000 Jahre angesetzt hätten (Bodin. Methodus, cap. VIII, S. 358). Eine ausführliche Widerlegung des prophetischen Charakters der ,Elia-Weissagung' lieferte Ende des 17. Jahrhunderts Paul Pezron in seinen beiden antijüdischen Streitschriften ,L' Antiquite des Tems retabIie et defendue contre les Juifs et les Nouveaux Chronologistes' (Paris 1687) und ,Defense de L' Antiquite des Tems ou I' on soutient la tradition des Peres et des Eglises contre ce1les du Talmud et ou I'on fait voire la corruption de I'hebreu des Juifs' (Paris 1689).

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die regna-Lehre von den vier Weltreichen in ihrer traditionellen Interpretation als "altüberlieferten Irrtum" und ihre Verwendung durch die deutschen Historiker unter Melanchthons Führung als Ausdruck "deutscher Ruhmsucht".314 Denn die Behauptung, es gäbe bis zum Ende der Geschichte nur vier Imperien, von denen das Römische als letztes von den Deutschen beherrscht werde, sei nicht nur gegen alle offensichtliche historische Wirklichkeit,315 sondern vor allem eine irrige Bibelauslegung. Ohne die Daniel-Vision an sich in Frage zu stellen,316 verwies Bodin auf anderslautende Auslegungen "von gelehrten und bibelkundigen Männern", die ihm zutreffender zu sein schienen, insbesondere auf Josephus, "der zuverlässigste aller jüdischen Exegeten des Danielbuches", der das Römische Reich in seiner Auslegung gar nicht genannt hätte, sondern Babyionier, Meder, Perser und Griechen. 317 Bodin kritisierte also die traditionelle Monarchien-Auslegung, insbesondere wie Melanchthon sie verwendet hatte. Doch er stellte ihr seinerseits keine Alternativdeutung entgegen. Er hielt formell am Wahrheitsgehalt der Daniel-Vision fest, verweigerte aber jede Deutung, die die Geschichte betrifft. Stattdessen kritisierte er die mit der traditionellen Auslegung verbundene Verfallsvorstellung und eschatologische Ausrichtung mit dem profanhistorischen Argument, daß bei objektiver Erforschung des Verlaufs der Menschheitsgeschichte in Wahrheit gar kein fortschreitender Verfall zu erkennen sei. Im Gegenteil, es sei vielmehr klar zu erkennen, daß die Völker erst ganz allmählich von einem ursprünglichen Zustand der Wildheit und Barbarei zur Ausbildung gesitteter Ordnung im gesellschaftlichen Leben gekommen seien. 318 Ganz ähnlich wie Machiavelli bewertete Bodin Niedergang und Verfall in der Geschichte nicht mehr als geradlinigen einmaligen Prozeß, Bodin, Methodus, cap. VII, S. 310. Für den französischen Juristen ist nur ein kleiner Teil des ehemaligen Römischen Reiches in der Gewalt der Deutschen. Von einem Weltimperium zu reden sei daher absurd. Sowohl Spanien, als auch die Türken hätten mehr Grund sich als Imperium zu bezeichnen. Ebenso hätte es im Laufe der Menschheitsgeschichte deutlich mehr als vier Imperien gegeben, die zudem teilweise mächtiger waren als das Babylonische Reich (Bodin, Methodus, cap. VII, S. 310). 1581, einige Jahre nach Erscheinen des ,Methodus', warf der MelanchthonSchüler Mathäus Dresser Bodin ein völlig falsches Verständnis des Begriffs ,Weltreich' vor: der bemesse sich eben nicht an räumlicher Ausdehnung oder Bevölkerungszahl, sondern allein an Gottes Auszeichnung (Mathäus Dresser, Oratio de quatuor Monarchiis sive summis Imperiis, a Daniele Propheta expressis contra veterem Judaeorum errorem, hoc tempore a Joanne Bodino Gallo renovaturn, Leipzig 1581). Vgl. E. C. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. 316 Bodin, Methodus, cap. VII, S. 311: ,,Auch achte ich die geheimnisvolle Weissagung Daniels, deren Glaubwürdigkeit anzuzweifeln ein Verbrechen und deren Autorität zu erschüttern eine Gotteslästerung ist, ...... 317 Bodin, Methodus, cap. VII, S. 311. Bodin bezieht sich dabei auf Josephus' Schrift ,Die jüdischen Altertümer' (93/94 n. ehr.), z. B. Buch XI, 331 (Flavius Josephus, gekürzte Ausgabe der ,Jüdischen Altertümer' und des ,Jüdischen Krieges', hrsg. von Paul L. Maier, übersetzt von Silvia Lutz, Neuhausen 1994, S. 202). 318 Bodin, Methodus, cap. VII, S. 312. 314

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sondern als sich wiederholenden Vorgang, an den sich stets wieder eine Erneuerung anschließen kann. Zwar wandte sich Bodin scharf gegen Machiavelli, dem er "Verachtung der heiligen Naturgesetze" vorwarf und berief sich ausdrücklich auf Gott, der "die Mißstände rächt und sein ewiges, von ihm selbst eingerichtetes Gesetz zur Geltung bringt, indem er die König- und Kaiserreiche den weisesten und tugendhaftesten Fürsten überträgt ... ",319 dennoch führte der Franzose vor dem Hintergrund der verheerenden Religionskriege in seinem Land de facto eine methodische Trennung von profanhistorischer Geschichtsbetrachtung und theologischer Deutung durch, die Schule machen sollte. In Anlehnung an die juristische Einteilung des Rechtsstoffes in jus divinum, jus humanum und jus naturale, teilte er auch die Geschichte in die Bereiche historia divina, historia humana und historia naturalis ein und beschränkte die Geschichte im engeren Sinne ausdrücklich auf den Bereich des menschlichen HandeIns. 320 Die historia divina, die Bodin als Lehre von Gott und seinen Offenbarungen verstand, solle den Theologen vorbehalten sein, so wie die historia naturalis den Gelehrten der philosophischen Fakultät. Dabei leugnete Bodin zwar keineswegs die Möglichkeit göttlicher Einwirkung auf die menschliche Geschichte, aber er versuchte nicht mehr dieses Wirken deutend aufzuzeigen. Sein Bemühen war allein darauf gerichtet, empirische Gesetzmäßigkeiten im universalhistorischen Zusammenhang zu erforschen. Von daher lehnte er die bisherigen theologischen und offenbarungsbegründeten Deutungsschemata ab. Machiavelli hatte die theologischen Kategorien einfach durch neue, der Antike entlehnte Deutungselemente ersetzt (necessita, fortuna, virm), ohne dies methodisch näher zu reflektieren; Bodin dagegen verbannte die geschichtstheologischen Momente höchstoffiziell aus der Geschichte, verwies sie auf das Feld der Theologie und hielt sich bei der Geschichtsdarstellung methodisch allein an Vernunft und Empirie. Zwar wußte auch Bodin um die Willensfreiheit menschlichen Handeins, dem keine Gesetzmäßigkeit abgerungen werden kann,321 um so mehr hätte sich ein Historiker aber an den empirisch ermittelbaren Vorgaben zu orientieren, die menschliches Handeln in der Geschichte verständlicher machen, wenn auch nicht determinieren können. Das sind vor allem die natürlichen Faktoren, wie Klimazonen und geographische Umwelt, die auf die Wesensart der Völker (natura populorum) erheblich einwirken. Und dann besonders die erkennbaren Regeln für das Entstehen und Vergehen der Staatswesen, denen er sich in seiner Hauptschrift ,Sechs Bücher über den Staat' widmete. Bodin war von den Vorzügen der eigenen Zeit gegenüber der Vergangenheit überzeugt und blickte erwartungsvoll in die Zukunft. Nichts lag ihm ferner als die theologisch-eschatologische Deutung der Weltgeschichte mit ihrer Vorstellung Bodin, Über den Staat (Edition Niedhart), Vorwort, S. 6. Bodin, Methodus, cap. I, S. 11 ("Historiae verbum late patens, angustis hominum actionibus et ad popularem loquendi modum rerum ante gestarum vera narratione definiamus"). 321 Bodin, Methodus, cap. I, S. 10. 319

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9 Schwaiger

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vom endzeitlichen Verfall menschlicher Gesittung. Stattdessen bezog er als erster das kulturelle Schaffen der Völker in seine Betrachtungen mit ein und stellte einen Zusammenhang menschlicher Kulturleistungen her. Dieser trug zwar noch nicht eindeutig das Gepräge fortschrittlichen Stufendenkens, aber ließ doch, entgegen dem christlichen Geschichtspessimismus, die Zukunft wieder offen. Anders als noch für den Renaissance-Menschen Machiavelli stellte die Antike für Bodin keineswegs das unübertroffene Vorbild dar, dem es nachzueifern galt. Mit aller Entschiedenheit wandte er sich gegen die noch von Zeitgenossen vertretene Auffassung, die Menschen der Frühzeit hätten den höchsten Kulturstand gehabt und als Erfinder aller Künste zu gelten. Stattdessen unterstrich er die Bedeutung der Erfindungen und Entdeckungen der Gegenwart, wie Kompass, Erdumseglungen und die Entdeckung Amerikas, durch die überhaupt erst ein universaler Zusammenhang der Menschheit hergestellt worden sei. 322 Durch die vergleichende Betrachtung der Geistes- und Kulturgeschichte erschloß sich für Bodin der Gang der Menschheitsgeschichte nicht mehr als stetiger Abfall von Gottes Heilsordnung in Richtung auf die Endzeit und das Jüngste Gericht, sondern, wie Adalbert Klempt es ausdrückte, "als ein dauerndes Wechselspiel verschiedener welthaft-geschichtlicher Faktoren".323 Aufstieg und Verfall lösen einander ab. Wo ein Zerfall stattfand, hat das nichts mehr mit Schuld oder Überhebung eines Herrschers zu tun, sondern der Jurist Bodin erklärt diesen rein innerweltlich durch von Kriegen verursachter Zerrüttung oder Vernachlässigung und Mißbrauch der Geisteskräfte. 324 Wahrend sich Machiavelli innerhalb eines Zyklus im Verfallsstadium sah (ultima bassezza), wähnte sich Bodin in einer Zeit des Aufstiegs. Denn wenn es auch jeweils in der Vergangenheit Zeiten des Verfalls gegeben habe, so seien die Menschen eben nicht auf dem Weg des Verderbens bis zum Ende fortgeschritten, sondern stets nach einiger Zeit wieder umgekehrt, weil sie sich schämten und einsahen, daß es so nicht weitergehen könne und weil Gott in seiner Güte sie auf den rechten Weg wies?2S Auf Zeiten des Niedergangs folgen dann solche des Wiederaufbaus, der Bildung und Gesittung, in denen das kulturelle Erbe der Menschheit fortgebildet werde. So hätten die germanischen Völker die Leistungen der Antike nicht nur erreicht, sondern in der Gegenwart sogar übertroffen. 326 Den wechselnden Phasen sommerlicher Fruchtbarkeit und winterlichen Ausruhens in der Natur entsprechend, gebe es auch in der menschlichen Geistesgeschichte Zeiten der Blüte und des Verfalls, wobei letztere von Bodin als ,schöpferische Pausen' gesehen wurden, aus denen die Geisteskräfte zu neuem Aufstieg gestärkt erwachsen. 327 Auf der Basis dieser 322

Bodin, Methodus, cap. VII, S. 310.

m Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung, S. 66. 324 325 326 327

Bodin, Bodin, Bodin, Bodin,

Methodus, cap. Methodus, cap. Methodus, cap. Methodus, cap.

VII, S. 313. VII, S. 312. V, S. 146. VII, S. 312.

5. Verwerfung. Erneuerung und Säkularisierung

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Hypothese von einem allmählichen Aufstieg menschlicher Kultur und Gesittung, der nur zeitweilig durch einen Kräfteverfall der kulturschaffenden Völker unterbrochen wird. entwarf Bodin seine neuartige Gliederung der Menschheitsgeschichte. 328 Sie kann wohl als erster universal historischer Entwurf gelten, der zwar an biblisch-christliche Vorstellungen anknüpft, diese aber nicht mehr in einen geschichtstheologischen Deutungszusammenhang stellt. Der knappe historische Abriß in seinem ,Methodus' kann im Grunde als erste säkularisierte Geschichtsschau gelten: In Anlehnung an die biblische Urgeschichte breiten sich auch bei Bodin die Völker nach der Sintflut erneut über die Erde aus. 329 Dabei geraten sie unter den umgestaltenden Einfluß der natürlichen Faktoren ihrer unterschiedlichen Umwelten und es bilden sich gemäß den drei großen Klimazonen (südliche, mittlere, nördliehe) drei große Gruppen von Völkertypen heraus, die für eine Periode von jeweils 2000 Jahren geistes- und kulturgeschichtlich die Führung der Menschheitsentwicklung übernehmen. 33o In den ersten zweitausend Jahren waren die Völker der südlichen Klimazone führend, d. h. die Kulturvölker des Alten Orients mit ihrer besonderen natürlichen Begabung für die Geistesgebiete der kontemplativen Wissenschaften, wie Himmelskunde, Religion und Philosophie. 331 In der zweiten Periode lag der Schwerpunkt der Geschichte bei den Völkern der mittleren Klimazone, bei Griechen und Römern, die gemäß ihrer natürlichen Begabung große Staatswesen und Kolonien gründeten und vorbildliche Verfassungen und Rechtsordnungen schufen. Die dritte Periode schließlich, die Bodin vom Tode Christi an rechnete, ist die Zeit der Völker des Nordens, der kriegerischen Germanen, Hunnen, Tartaren und Türken, deren Beitrag für die Menschheitsgeschichte vor allem in der Vervollkommnung des Kriegswesens und der mechanischen Fertigkeiten liegt. 332

Die Ähnlichkeit dieser Dreiteilung a 2000 Jahre mit Melanchthons Anwendung des ,Vaticinium Eliae' ist nur eine oberflächliche. Vermutlich hatte Bodin die Dreiteilung übernommen, weil sie ihm zweckmäßig erschien und seiner Einteilung in Klimazonen und Hauptvölkergruppen entsprach. Geschichtstheologische Implikationen oder eine eschatologische Zielrichtung enthält sie jedenfalls nicht. Auch hat sie sachlich gesehen einige Schwächen und entspricht nicht dem historischen 328 Vgl. Karl Heussi. Altertum. Mittelalter und Neuzeit in der Kirchengeschichte. Tübingen 1921. S. 12. 329 Interessanterweise hielt Bodin an der biblischen Weltchronologie ohne Vorbehalt fest. wogegen er jede Spekulation über ein bevorstehendes WeItende ablehnte. Während die biblische .Endgeschichte· für ihn schon außerhalb des Geschichtshorizontes liegt. ist die biblische Frühgeschichte für ihn noch fester Bestandteil. 330 Über Bodins Lehre vom Einfluß der Klimazonen auf die geschichtliche Ausbildun! der verschiedenen Staatsformen vgl. J. W. Allen. A History of political Thought in the 16 Century. London 1928. S. 431 ff. 331 Bodin. Methodus, cap. V. S. \08 ff. 332 Bodin. Methodus. cap. V. S. \08. 120. Bodin bezeichnete diese Völker mit dem herkömmlichen ethnographischen Sammelbegriff seiner Zeit als .Scythae'.



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Kenntnisstand seiner Zeit. Bodins Ausführungen zu dieser Einteilung werden stark von seinem eigenen Erlebnishorizont gefärbt. Bei der Hervorhebung der ,mechanischen Fertigkeiten' der Nordvölker z. B. spielt der tiefe Eindruck, den die frühneuzeitlichen Erfindungen auf ihn gemacht haben, eine unübersehbare Rolle. Doch auch wenn Bodins Entwurf über eine knappe Skizzierung nicht hinausgeht, so ist dennoch der geistes- und kulturgeschichtliche Horizont des Juristen zu würdigen, der sich selbst ja nicht als Historiker verstand und an eine ausführlichere Darstellung der Menschheitsgeschichte nicht gedacht hatte. Als bewußte Begründung neuzeitlicher Geschichtsphilosophie kann sein Werk nicht angesehen werden, wie Adalbert Klempt zu Recht betonte. 333 Dennoch, die Ausschaltung des eschatologischen Horizontes mit Öffnung der Zukunft, die methodische Festlegung auf eine empirisch innerweltiiche Erschließbarkeit und die daraus folgende Neueinteilung des weltgeschichtlichen Rahmens - so grob sie auch sein mag - muß als deutlicher Schritt hin zu einer säkularisierten Universalgeschichtsauffassung wahrgenommen werden. 334 Dafür spricht zudem seine Forderung, die Geschichte der Antike aus ihrer Einbindung in die Entstehungsgeschichte des Christentums zu lösen und mitsamt der übrigen außerbiblischen Völkerwelt selbständig zur Geltung zu bringen. Zwar wurde Bodins Geschichtsentwurf - anders als seine Souveränitätslehre zu seiner Zeit nicht weiter beachtet und erfuhr erst im 17. Jahrhundert bei den Geschichtsschreibern Anklang, aber seine Unterscheidung von drei getrennt zu behandelnden Historien fand breite Aufnahme, gerade auch bei deutschen Historikern und Theologen. 335 Gegen seine Kritik der Auslegung der Vier-Reiche-Lehre regte sich freilich von lutherischer Seite schon bald Widerstand. In zwei Streitschriften verteidigte der Melanchthon-Schüler Mathäus Dresser die für die theologisch-eschatologische Gesamtdeutung der Geschichte so wichtige Lehre. 336 Weder Bodins Verständnis vom Begriff ,Weltreich' sei zutreffend, noch wären seine profanhistorischen Argumente gegen die bisherige Auslegung der Vier-Reiche-Lehre stimmig. Zudem müsse man mit schrecklichster Verwirrung sowohl im kirchlichen als auch im politischen Leben rechnen, würde die Überzeugung, das ,Römische Reich Deutscher Klempt, Säkularisation, S. 69. Anders die Positionen von Robert Flint (History of the philosophy of history, Part I, 1893), der Bodin in der Historie lediglich Material für staatsrechtliche Untersuchungen suchen sieht, und Jean Moreau-Reibel (Jean Bodin et la Droit Public compare dans ses rapports avec la philosophie de I' histoire, Paris 1933), der ihn für den Begründer der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie hält. 33S Vgl. dazu Klempt, Säkularisation, S. 44ff. 336 Mathäus Dresser, Oratio de quatuor Monarchiis sive summis Imperiis, a Daniele Propheta expressis contra veterem Judaeorum errorem, hoc tempore a Joanne Bodino Gallo renovatum, Leipzig, 1581; Ders., Oratio de Monarchia quarta Romano-Germanica, quam Joh. Bodinus cum Judaeis convellere nondum desistit, in: M. Dresser, Isagoge historica pars 11, Leipzig 1599. 333

334

5. Verwerfung, Erneuerung und Säkularisierung

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Nation' sei noch Teil des antiken Römischen Reiches, allgemein verloren gehen. Reich, Kaiser und Kurfürsten würden dadurch jede Autorität einbüßen. Und auch die Einordnung der Kirchensituation für die Zeit bis zur Wiederkunft Christi wäre nicht mehr möglich. 337 Dressers Verteidigung der Vier-Reiche-Lehre blieb zunächst die Linie an den deutschen Universitäten. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts mehrten sich dann allerdings die Stimmen, die zu einer Revision der Daniel-Interpretation im Sinne Bodins aufriefen. 338 In den Darstellungen der Universalgeschichte dieser Zeit waren einzelne Historiker - ganz ohne polemische Erörterung - bereits dazu übergegangen, auf das alte Schema zu verzichten und neue Wege der Einteilung zu gehen?39 Schließlich ersetzte Christoph Cellarius in seinem Lehrbuch der Weltgeschichte die alte Einteilung durch die Gliederung in die drei großen Epochen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, die sich überall verbreitete und alle alten Schemata verdrängte. 340 Eindringlich hat Adalbert Klempt darauf hingewiesen, daß mit der Beseitigung der eschatologischen Gliederung und Begrenzung der Weltgeschichte schließlich auch die Auflösung einer theologisch-eschatologischen Gesamtdeutung besiegelt wurde, die gerade erst durch Melanchthon ihre systematische Ausprägung gefunden hatte. 341 Daß dies gerade im Bereich der protestantischen Universitäten mit Hilfe von Melanchthons Nachfolgern geschah, ist eine der Ironien der Geschichte. Mit seinem kritischen Ansatz zur Erforschung der empirisch erkennbaren Strukturen der Menschheitsgeschichte leitete der Katholik Bodin nicht nur die Destruktion bisheriger theologischer Deutungskategorien ein, sondern überhaupt jeder Dresser, Oratio de Monarchia quarta Romano-Gerrnanica (ohne Paganierung). Zu nennen sind besonders die Historiker Hermann Conring (De finibus Imperii Gerrnanici et Tractatus de Germanorum Imperio Romano, Leiden 1654), Christian Becmann und sein Schüler Godfried Keckerbart (Dissertatio de quarta Monarchia quam disputandam proponit Godofredus Keckerbart, praeside Joh. Christ. Becmanno, Frankfurt/Oder, 0.1.) und Caspar Abelius (Epitome monarchiarum, quarum non quatuor, sed multo plures fuisse evincitur, Frankfurt 1706; Ders., Gründlicher Bericht von den nacheinander emporgekommenen und wieder gestürzten vielen Monarchien zu desto besserer Erläuterung der Heil. Schrift Altes Testament und vieler weltlicher Autoren, Frankfurt 1707). Dagegen unternahmen Tobias Wagner (Institutionum historicarum libri septem, Ulm 1656) und loh. Wilh. lan (Antiquae et pervulgatae de quatuor Monarchiis sententiae, contra recentiorum quorundam objectiones plenior et uberior assertio, Frankfurt u. Leipzig 1728) die Verteidigung der Vier-Reiche-Lehre im Dresser'schen Sinne. Zum Streit um die Lehre von den vier Monarchien siehe E. C. Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten, Klempt, Säkularisation, S. 50ff. und Karl Rauch, Kaiser und Reich im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (Diss.), München 1933, S. 19ff. 339 So z. B. Georg Hornius mit einer geographisch-ethnographischen Gliederung der Menschheitsgeschichte (Brevis introductio in historiam universalem, Leiden 1655). 340 Christoph Cellarius, Historia universalis in antiquam et medii aevi ac novam divisa, Jena 1696 (1704). 341 Klempt, Säkularisation, bes. S. 59. 337 338

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Geschichtsdeutung auf biblischer Basis. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte sich der Hauptstrom der Historiographie vom christlichen Geschichtsbild verabschiedet. Und die meisten der damaligen Historiker, die sich selbst als Christen verstanden, waren sich dessen nicht bewußt.

6. Der Prozeß der Säkularisierung und der Rückzug christlicher Geschichtsdeutung a) Die Aufteilung von sakraler und profaner Geschichtsschreibung und die Eliminierung theologischer Deutungskategorien und biblizistischer Weltära

Das Chronicon Carionis Melanchthons, das den biblischen Geschichtsaufriß mit einer humanistischen Sinngebung (historia magistra vitae) verband, blieb bis ins 18. Jahrhundert in seiner Breitenwirkung unübertroffen. Seine geschichtsphilosophischen Grundlagen waren allerdings längst vorher zerfallen. Schlag auf Schlag folgten der Chronik Abhandlungen, die diese Grundlagen nachhaltig erschütterten. Dies geschah im wesentlichen in vier Schritten: 1. Durch die Begründung und Festigung einer eigenen historischen Methodologie, die geschichtstheologische Deutungskategorien ausschloß. 2. Durch die Widerlegung der traditionellen Auslegung der Vier-Reiche-Vision Daniels und damit einhergehend die Verwerfung jeder eschatologischen Begrenzung der Universalgeschichte. 3. Durch die zunehmende Verwendung der christlichen Zeitrechnung und die Neueinteilung der Geschichte, da die Verwendung der biblizistischen Weltära wegen ihrer Uneinheitlichkeit immer problematischer wurde. 4. Durch die Destruktion dieser Weltära durch eine immer verfahrener werdende Auseinandersetzung ihrer Verteidiger, die schließlich mit der literaturhistorischen Quellenkritik Richard Simons beendet wurde. (1) Bodins Forderung nach einer Trennung von historia humana und historia divina und einer methodisch innerweltlichen Erschließbarkeit der ersteren fand schon bald lebhaftes Echo?42 Emil Menke-Glückert und Adalbert Klempt haben bereits aufgezeigt, wie es gerade die evangelischen Historiker in der Nachfolge Melanchthons waren, die z.T. zeitgleich mit Bodin diese Trennung vOllzogen. 343 342 1579 erschienen in Basel zwei Bände ,Artis historicae penus', in denen alle bis dahin erschienenen geschichtsmethodologischen Schriften enthalten waren, darunter auch Bodins ,Methodus ad facilem historiarum cognitionem' (vgl. Menke-Glückert, S. 122). Dazu: Friedrich von Bezold, Zur Entstehungsgeschichte der historischen Methodik, in: Internationale Monatsschrift f. Wissenschaft, Kunst u. Technik, VIII (1914), S. 274ff. 343 Menke-Glückert, S. 122ff.; Klempt, Säkularisation, S. 34ff.

6. Säkularisierung und Rückzug

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1610 erschien mit Bartholomäus Keckermanns ,De natura et proprietatibus' eine erste systematische Abhandlung, die versuchte, Historiographie theoretisch zu begründen und zu einer Bestimmung der eigentlichen Disziplin und ihrer Hilfswissenschaften zu kommen. 344 Geschichtsschreibung sei dem Wesen nach Darstellung des Individuellen, das sich an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit abspiele und von bestimmten Personen abhängig sei, und müsse den Gesetzen der Logik entsprechen. Von daher gebe es nicht die Geschichte, sondern je nach Gesichtspunkt eine ganze Reihe von Geschichten und jede Behandlung des Individuellen müsse wegen der Unendlichkeit der Perspektivmöglichkeiten immer unvollständig bleiben. 345 Eine Historie, die eindeutig und unbezweifelbar gewiß sei, könne es darum nicht geben. Zwar nimmt der Danziger Historiker Keckermann die historia sacra davon ausdrücklich aus, da in ihr der Mangel der sinnlichen Wahrnehmung durch die Inspiration des Heiligen Geistes ergänzt werde,346 aber sein völliges Schweigen zu den Triebfedern der Geschichte und den Ursachen des historischen Auf und Abs, läßt bereits erkennen, wohin die Entwicklung geht: Gott wird noch pro forma als Herr der Geschichte erwähnt, auf die profangeschichtliche Darstellung hat das jedoch keine Auswirkungen mehr. In den Lehrbüchern zur Universalhistorie der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird das offensichtlich: eine eigene profanhistorische Betrachtungsweise der politischen Geschichte trennte sich von der theologischen Deutung der Kirchengeschichte, die aber in ihrem Rahmen durchaus noch Anwendung fand. 347 Doch nicht lange danach wurde die Forderung wurde laut, auch die Kirchengeschichtsschreibung der profanhistorischen Betrachtungsweise unterzuordnen. Christoph Cellarius (1634-1707) führte dieses in seiner bekannten Universalhistorie von 1685 durch. 348 Da für ihn die beiden Historien einander bedingen und nicht ohne einander auskommen, behandelte er die Kirchengeschichte nur noch im Sinne eines Berichts von den inenschlichen Handlungen im Bereich der institutionellen Kirche und unterstellte sie der gleichen profanhistorischen Betrachtung wIe der Vgl. Menke-Glückert. S. 125 -132. Keckennann nahm damit im Grunde bereits die Lehre vom "Sehepunkt" von Johann Martin Chladenius (1710-1759) vorweg, nach der die Abhängigkeit des historischen Betrachters von seiner persönlichen und historischen Situation nicht nur eine unaufhebbare Grenze, sondern ebenso die notwendige Bedingung jeder historischen Erkenntnis darstellt (Johann Martin Chladenius. Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelehrtheit gelegt wird, Leipzig 1752 (Neudruck hrsg. von Christoph Friedrich, Wien-Köln-Graz 1985); Auszüge aus dem ersten, fünften und sechsten Kapitel bei: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Über das Studium der Geschichte. Juli 1990, S.12-17. 346 Bartholomäus Keckermann. De natura et proprietatibus historiae commentarius, in: Opera omnia, Genf 1614, 11,1318. 347 So z. B. Johannes Micraelius (1596-1658) in seiner ,Syntagma historiarum mundi' und Georg Hornius (1620-1670) in seiner .Historia ecclesiastica'. Dazu näher: E. C. Scherer; S.135-273. 348 Cellarius. Historia universalis in antiquam et medii aevi ac novam divisa, Jena 1696. 344

34S

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politischen Geschichte. Schließlich vollzog sich die Anpassung an die säkularisierte profanhistorische Darstellung auch an den gerade erst konstituierten kirchenhistorischen Instituten der deutschen Universitäten. 349 (2) Die Vier-Reiche-Lehre war in ihrer klassischen Ausprägung schon von Bodin kritisiert worden. Doch gestützt auf die bereits erwähnten Entgegnungsschriften von Mathäus Dresser,35o blieben die meisten deutschen Historiker zunächst bei dem Einteilungsschema Melanchthons für die Universalgeschichte, auch nachdem sich die methodische Trennung von der Kirchengeschichte bereits allgemein durchgesetzt hatte. Das änderte sich jedoch, nachdem Godfried Keckerbart von historischer und Caspar Abelius von theologischer Seite die traditionelle Daniel-Auslegung einer vernichtenden Kritik unterzogen. 351 Beide bemühten sich nachzuweisen, daß mit dem Daniel'schen vierten Reich nicht Rom, sondern die hellenistischen Diadochenreiche gemeint seien. Diese wären nämlich - ganz wie es die Vision sagte - tatsächlich zu der Zeit untergegangen, als Christus geboren wurde, während das Römische Reich zu diesem Zeitpunkt gerade in voller Blüte stand. Alles, was Daniel über den Verfall des vierten Weltreiches vorhergesagt habe, decke sich völlig mit der Aufteilung des hellenistischen Weltreiches unter den Diadochen. 352

Während der Historiker Keckerbart die traditionelle Auslegung vor allem aufgrund des biblischen Textes bei Daniel kritisierte, verwendete der Theologe Abelius in erster Linie profanhistorische Argumente: Wenn man sich die Geschichte ansehe, habe es bisher entweder noch gar kein Weltreich im universalen Sinne gegeben, oder aber viele, - in jedem Fall mehr als vier. 353 Die Konsequenz einer Ablehnung der bisherigen Daniel-Auslegung lag auf der Hand: Die Vier-ReicheLehre konnte damit mehr zu einer eschatologischen Deutung des Gegenwartsgeschehens herangezogen werden, wie dies Melanchthon noch tat. Damit fiel aber zugleich die letzte verbliebene Säule für eine eschatologische Einordnung. Der schöpfungsorientierte sechstausendjährige Geschichtsverlauf nach der Textüberset349 Kirchenhistorische Institute bildeten sich zuerst an den Universitäten Helmstedt (1650), Gießen (1651), Heidelberg (1654), Marburg und Jena (1656). Vgl. E. C. Scherer; S. 213 ff. Den Verlust der geschichtstheologischen Deutung in der deutschen protestantischen Kirchengeschichtsschreibung untersuchte Klaus Wetzel, Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660-1760, Gießen-Basel 1983. 350 Dresser; Oratio de quatuor Monarchiis sive summis Imperiis; Ders.: Oratio de Monarchia quarta Romano-Gennanica. 1656 lieferte Tobias Wagner (Institutionum historicarum Iibri septem) noch einmal eine ausführliche Verteidigung der Vier-Reiche-Lehre im Sinne Melanchthons. 351 Keckerbarts Arbeit wurde von seinem Lehrer, dem Frankfurter Historiker Johann Christian Becmann, als Dissertation veröffentlicht (Dissertatio de quarta Monarchia quam disputandam proponit Godofredus Keckerbart); Abelius, Gründlicher Bericht von den nacheinander emporgekommenen und wieder gestürzten vielen Monarchien zu desto besserer Erläuterung der Heil. Schrift Altes Testament und vieler weltlicher Autoren, Frankfurt 1707. 352 Becmannl Keckerbart, S. 141; Abelius, § 4-6. 353 Abelius, § 2.

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zung der Septuaginta war bereits im Mittelalter aufgegeben worden, die Berechnung nach dem ,Vaticinium Eliae' mit seiner dreimal 2000 Jahr-Einteilung hatte durch Bodins Quellenkritik schwer an Glaubwürdigkeit eingebüßt und war vor Melanchthon sowieso nie verwendet worden und für einen sechstausendjährigen Weltenlauf nach der Textübersetzung der Masoreten, wonach das Ende der Geschichte erst nach dem Jahr 2000 zu erwarten wäre, hatte sich schon im Mittelalter wegen der zeitlichen Entfernung kaum ein Chronist erwärmen können. Eine eschatologische Gliederung, Deutung oder Begrenzung der Universalgeschichte war damit für den Hauptstrom der Historiographie erledigt. Daran konnte auch ein letzter Rettungsversuch der Vier-Reiche-Lehre durch den Wittenberger Theologen und Historiker fohann Wilhelm fan zu Anfang des 18. Jahrhunderts nichts mehr ändern. 354 (3) Etwa zeitgleich mit der Demontage der Vier-Reiche-Lehre ging die Destruktion der biblizistischen Weltchronologie einher. Diese Chronologie, die auf den zeitlichen Angaben des AT gründete und in synchronistischer Zusammenschau mit außerbiblischen Ereignissen einen zeitlichen Gesamtrahmen ermöglichte, hatte von Anfang an eine nicht unerhebliche Schwierigkeit: Sie beruhte nicht auf einer einzigen eindeutigen Berechnungsweise, sondern ihr lagen mindestens zwei verschiedene Textübersetzungen der Bibel zugrunde, die griechische Septuaginta und der hebräische Text der Masoreten. Beide Textversionen weichen gerade bei der Urgeschichte in ihren Zahlenangaben zum Teil so sehr voneinander ab, daß sich bei Addition eine zeitliche Differenz von etwa 1300 Jahren ergibt. Hatten bereits die Kirchenväter mit dieser Uneinheitlichkeit der Textlage zu kämpfen,355 so wurde sie im 16. Jahrhundert von den Verfassern der immer zahlreicher werdenden Weltchroniken als nicht weiter hinnehmbar angesehen. Man konnte es nicht mehr bei der Zurückhaltung der kirchlichen Autoritäten in dieser Frage belassen, sondern begann die Zahlenangaben der verschiedenen Bibeltexte kritisch zu überprüfen, um doch noch zu einer einheitlichen Weltära zu gelangen. Aber genau das 354 Johann Wilhelm Jan, Antiquae et pervulgatae de quatuor monarchiis sententiae, contra recentiorum quorundam objectiones plenior et uberior assertio, Frankfurt-Leipzig 1728. Vgl. E. C. Scherer; S. 69f. Zum Streit um die Lehre von den vier Reichen siehe auch Rauch, S.19ff. m Euseb, der als erster auf die Widersprüche der beiden Textvorlagen näher einging (Chronik, GCS 20, Leipzig 1911) entschied sich für den Text der Septuaginta, Augustin ging einer Entscheidung aus dem Weg (Oe civitate Dei XV 10,13,14,20). Die mittelalterlichen Chronisten entschieden sich meist für die Septuaginta (lsidor) oder ließen die Frage offen bzw. unberührt. Erst Beda bevorzugte eindeutig die "veritas hebraica" (Oe temporum ratione), führte aber die Jahresangaben der Septuaginta daneben weiter an. Darin folgten ihm die meisten mittelalterlichen Chronisten. Die Problematik wurde nicht weiter behandelt und aus Ehrfurcht vor dem biblischen Text nicht entschieden. Zwar sei für die Differenzen kein zureichender Grund zu erkennen, man habe sie jedoch einfach als ein Geheimnis des Heiligen Geistes zu betrachten, der sie gewiß zur Demütigung der Christen fortbestehen lassen wolle (so noch Antonius Florentinus in seiner 1458 verfaßten ,Chronicon universale', I, 1, § 4). Zur Frage der christI. Chronographie vgl. den Art. ,Chronologie' in: RAC 3, S.30-59.

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gelang nicht. Ergebnis dieser Bemühungen war nur eine heillose Verwirrung, die jede allgemeingültige Datierung vorchristlicher Ereignisse unmöglich machte. 356 Nicht zuletzt das war der Grund dafür, daß sich die christliche Zeitrechnung gegenüber der Schöpfungsära im 17. und im Reichsgebiet endgültig im 18. Jahrhundert durchsetzte. 357 Damit hatte sich die Zeitlinie der Weltgeschichte de facto nach beiden Seiten hin geöffnet. Die eschatologische Begrenzung zum Ende hin war im wesentlichen durch die Widerlegung der traditionellen Daniel-Auslegung aufgehoben. Nun öffnete sich auch der bisherige universalhistorische Rahmen an seinem Beginn durch die Ablehnung der biblizistischen Weltära. Der Form nach kam das nicht zuletzt durch die generelle und ausschließliche Verwendung der christozentrischen Zeitrechnung zum Ausdruck. Doch die inhaltliche Infragestellung biblischer Darstellungskompetenz für historisches Geschehen hatte schon vorher eingesetzt. (4) Sie wurde Mitte des 17. Jahrhunderts angestoßen von der etwas seltsam anmutenden ,Präadamiten-These' des französischen Bibliothekars Isaae de La Peyrere (1594-1676).358 Dieser unterschied die beiden Schöpfungsberichte der Genesis voneinander und bezog den einen auf die Schöpfung der Menschheit (Gen 1, 26 - 30) und den anderen, der von Adam und Eva handelt, lediglich auf die Erschaffung der Stammeseltern des auserwählten jüdischen Volkes (Gen 2, 5-25). Demnach gäbe es eine ,präadamitische Menschheit', die schon vor Adam und Eva gelebt habe. Diese Hilfskonstruktion ermöglichte es La Peyrere, den Nachrichten über Völker, die in der Bibel nicht genannt wurden, aber immer häufiger in den europäischen Gesichtskreis traten (z. B. Indien, China und die neue Welt), Rechnung zu tragen. Auch die Widersprüche zwischen den eher kürzeren biblischen Zeitangaben und auffallend höheren Zahlen anderer altorientalischer Völker (z. B. die Angaben Manethos für die ägyptische oder die des Berossos für die babylo356 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts führte A. de Vignolles in seiner ,Chronologie de I' Histoire Sainte' (Paris 1728) rund 200 verschiedene Datierungsweisen auf, von denen die höchste Angabe 6894 Jahre und die niedrigste 3483 Jahre von der Schöpfung bis Christi Geburt zählte. Zu den verschiedenen alternativen Chronologien, die es seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab, siehe: Franz Rühl (Chronologie des Mittelalters und der Neuzeit, 1897) und F. K. Ginzel (Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie, Bd. III, 1914). 357 Noch 1772 schrieb August Luwig Schlözer dazu: ,,Ich zähle von Christi Geburt an rückwärts ( ... ) Der Vorteil ist sehr groß ( ... ) daß man dadurch die Verschiedenheit der hebräischen und griechischen Zeitrechnung vermeidet und der unendlich ungewissen Berechnung ,von Erschaffung der Welt' her größtenteils überhoben ist, die fast in jedem Handbuch anders sind und folglich durchaus eine andere Chronologie geben." (Vorstellung der Universalhistorie, Göttingen 1775 2 , S. 262). 358 Issac de La Peyrere (Anonymus), Praeadamitae sive exercitatio super versibus 12,13, 14, V. Cap. Epistol. Div. Pauli ad Rom. quibus inducuntur primi homines ante Adamum conditi (1655); Ders., Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi (1655). Lit.: Otto Zöckler. La Peyr~res Präadamiten-Hypothese, in: Zeitschrift für lutherische Theologie und Kirche, Jg. 39 (1878); Hans-Joachim Schoeps, Philosemitismus im Barock, Tübingen 1952; Klempt, Säkularisation, S. 89-105.

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nische Geschichte) ließen sich so besser auflösen. Die außerbiblischen Angaben seien nämlich keineswegs nur als unglaubwürdig und lügenhaft zu bezeichnen, wie es die Kirchenväter bisher taten. Die Sintflut hätte auch nicht weltweit stattgefunden, sondern sei als Strafaktion Gottes allein gegen die Nachkommen Adams nur auf den vorderasiatischen Raum beschränkt gewesen. Zwar stieß die Präadamiten-These fast auf einhellige Ablehnung,359 aber die Diskussion um die Zuverlässigkeit biblischer Angaben zur Ur- und Frühgeschichte war damit angestoßen und kam von nun an nicht mehr zur Ruhe. Aus dem gemeinsam begonnenen Abwehrkampf gegen die Spekulationen La Peyreres entstand sehr bald schon ein heftiger Streit seiner orthodoxen Gegner untereinander, die sich aufgrund der divergierenden Textüberlieferungen auf keine "wahre Weltära" mehr einigen konnten. Auf die diesbezüglichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Historikern Isaac Vossius (Septuaginta) und Georg Homius (hebr. Text), sowie der Fortführung ihres Streites mit wechselnden Personen, soll hier nicht weiter eingegangen werden. 360 Fest steht, daß an ihrem Ende eine noch größere Verwirrung herrschte und der Streit die Autorität der biblizistischen Weltchronologie tiefer und endgültiger erschüttert hatte als die Präadamiten-These selbst. 361 Denn durch die vielen Streitschriften war offensichtlich geworden, daß es nicht mehr genügte, Fragen an die historische Glaubwürdigkeit der Bibel lediglich mit dem Hinweis auf deren Autorität als Offenbarungsquelle zu beschwichtigen. Die biblische Textlage schien ja selber nicht einheitlich zu sein. Eine ,Lösung' aus diesem Dilemma bot die ,historische Bibelkritik' des Richard Simon (1638-1712). La Peyrere hatte noch ohne jede wissenschaftliche Fundierung mit seiner ,Fragmenten-Hypothese' die Vermutung geäußert, der Pentateuch sei das Produkt einer langen literargeschichtlichen Entwicklung. Simon ging es nun darum, diesen Gedanken wissenschaftlich zu belegen, um die Autorität der Heiligen Schrift als Offenbarungsquelle gegen offenbarungsfeindliche philosophische Ansätze zu untermauern. 362 In seiner Schrift ,Histoire Critique du Vieux Testament' versuchte er mittels literarhistorischer Quellenkritik, den Nachweis dafür zu bringen, daß die Pentateuch-Schriften tatsächlich nur Auszüge aus älterer Überlieferung und deshalb als lückenhaft zu betrachten seien. 363 Doch damit sei 3S9 Daß die Schriften La Peyr~res sofort nach ihrer Veröffentlichung größte Aufregung verursachten, läßt sich schon daran erkennen, daß es noch im gleichen Jahr zu ersten Entgegnungen kam (z. B.: loh. Hilpertus, Disquisitio de Prae-Adarnitis anonymo ,Exercitationis et Systematis Theologici' auctori opposita, Amsterdam 1656; I. Pythio, Responsio exetastica ad tractatum, cuius titulus Prae-Adarnitae, Leiden 1656). 360 [saae Vossius, Dissertatio de vera aetate mundi, Hagae Comitis 1659; Georg Hornius, Dissertatio de vera aetate mundi, Leiden 1659. 361 So auch Klempt, Säkularisation, S. 97. 362 So z. B. gegenüber Spinozas ,Tractatus theologico politicus'. Vgl. dazu: Friedrieh Stummer, Die Bedeutung Richard Simons für die Pentateuch-Kritik, in: Alttestamentliche Abhandlungen, Bd. III/4, Münster 1912; Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1946 2, S. 220ff. 363 Riehard Simon, Histoire Critique du Vieux Testament, Paris 1678.

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Teil II: Die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert

die göttliche Autorität der Bibel keineswegs eingeschränkt, denn die von Gott inspirierten Verfasser hätten aus der riesigen Fülle der geschichtlichen Überlieferung eben nur das Material ausgewählt, das ihnen als Glaubenszeugnis von Gottes Heilsoffenbarung und Heilshandeln besonders geeignet erschien. Keine der vorhandenen Textüberlieferungen enthalte aus diesem Grunde vollständige Zahlenangaben über die Genealogie der Urgeschichte. Ein Streit über die verschiedenen Bibelversionen sei deshalb müßig und überflüssig. Man könne einfach keine absolute Weltchronologie aus der Bibel errechnen und es würde dem christlichen Glauben nicht schaden, das auch zuzugeben. 364

b) Bossuet und der Beginn säkularer Geschichtsphilosophie Simon zeigte mit seiner Textkritik den Weg auf, den die Theologie zur Lösung des unentwirrbaren Weltära-Dilemmas in Zukunft gehen würde. Doch dies wurde von theologischer Seite zunächst nicht gesehen. Zu einem völligen Verzicht auf eine biblisch ermittelte Weltchronologie war man noch nicht bereit. Es war der Bischof von Meaux, Jacques Benique Bossuet (1627 -1704), der ein Verbot gegen Simons bereits erschienene ,Histoire Critique du Vieux Testament' erwirkte, so daß diese Schrift als Nachdruck in Leiden (1680) und Amsterdam (1685) herausgegeben werden mußte (von wo aus sie dennoch wieteste Verbreitung fand). In diese Jahre fiel die Veröffentlichung von Bossuets ,Discours sur l'histoire universelle' (1681)?65 Als Darlegung für den französischen Thronfolger Ludwig XlV. hatte der Discours die klassische Zielbestimmung, zur politischen Klugheit zu bilden. Zugleich war er eine Apologie geschichtstheologischer Deutung angesichts einer erstarkenden welthaft-historischen Betrachtungsweise. Der Bischof wandte sich scharf gegen die Tendenz, auch die Heilige Schrift wie einen profanen Text kritisch zu untersuchen und zu prüfen. Schon in der Einleitung vertritt er die absolute Zuverlässigkeit der biblizistischen Weltchronologie. Doch konnte er über die Unsicherheiten der differierenden Textüberlieferungen nicht mehr einfach hinweggehen und war gezwungen, auf die Widersprüche bei den Jahresangaben einzugehen. 366 Der Discours teilt sich in drei Teile. Im ersten Teil beschreibt Bossuet allgemein die ,Folgen der Zeiten' von Adam bis Karl dem Großen. Er zeichnet das Geschehen in zwölf Epochen und sieben Weltzeitaltem, ohne zunächst zwischen Heiligem Simon, Histoire Critique, S. 235. Zit. wird nach der Ausgabe: Jacques Binique Bossuet, Discours sur l'histoire universelle, in: